Heidis Lehr- und Wanderjahre

By Johanna Spyri

The Project Gutenberg EBook of Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri

This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll have
to check the laws of the country where you are located before using this ebook.

Title: Heidis Lehr- und Wanderjahre

Author: Johanna Spyri

Posting Date: September 1, 2014 [EBook #7511]
Release Date: February, 2005
First Posted: May 12, 2003

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***




Produced by Gunther Olesch.  HTML version by Al Haines.









This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
(http://www.gutenberg2000.de/spyri/heidi/heidi.htm), prepared by Gerd
Bouillon.




Johanna Spyri

Heidis Lehr- und Wanderjahre




Inhalt

Zum Alm-Öhi hinauf

Beim Großvater

Auf der Weide

Bei der Großmutter

Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat

Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge

Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag

Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat

Eine Großmama

Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

Im Hause Sesemann spukt's

Am Sommerabend die Alm hinan

Am Sonntag, wenn's läutet



Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne,
baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß
und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt, beginnt
bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem
Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu
den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein
großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind
an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass sie selbst
die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammend rot
durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der
heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes
zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was
aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es
hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen
und drüberhin ein großes, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so
dass die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in
zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß
und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts
mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der
auf halber Höhe der Alm liegt und >im Dörfli< heißt. Hier wurden die
Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster,
einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war
in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern
erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne still
zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten
Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür: »Wart einen
Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.«

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand
los und setzte sich auf den Boden.

»Bist du müde, Heidi?«, fragte die Begleiterin.

»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig
anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde
oben«, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und
gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte
nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes
Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des >Dörfli< und vieler
umherliegender Behausungen.

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?«, fragte jetzt
die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das
hinterlassene.«

»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es
muss dort bleiben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht
recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird
dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!«

»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich habe
das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel,
dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten
lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das Seinige tun.«

»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«, bestätigte die
kleine Barbel eifrig; »aber du kennst ja den. Was wird der mit einem
Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's nicht aus
bei ihm! Aber wo willst du denn hin?«

»Nach Frankfurt«, erklärte Dete, »da bekomm ich einen extraguten
Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich
habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon
damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen,
und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will
auch gehen, da kannst du sicher sein.«

»Ich möchte nicht das Kind sein!«, rief die Barbel mit abwehrender
Gebärde aus. »Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist!
Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt
er keinen Fuß in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im
Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor
ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren
Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, dass man froh
ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.«

»Und wenn auch«, sagte Dete trotzig, »er ist der Großvater und muss
für das Kind sorgen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er's zu
verantworten, nicht ich.«

»Ich möchte nur wissen«, sagte die Barbel forschend, »was der Alte auf
dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein
da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lässt. Man sagt
allerhand von ihm; du weißt doch gewiss auch etwas davon, von deiner
Schwester, nicht, Dete?«

»Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so käme ich schön
an!«

Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem
Alm-Öhi verhalte, dass er so menschenfeindlich aussehe und da oben
ganz allein wohne und die Leute immer so mit halben Worten von ihm
redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch
nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte
von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, er konnte doch
nicht der wirkliche Oheim von den sämtlichen Bewohnern sein; da aber
alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders
als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim ist. Die Barbel hatte
sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet, vorher
hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch nicht so
ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persönlichkeiten
aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute
Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da gelebt mit
ihrer Mutter bis vor einem Jahr; da war diese gestorben, und die Dete
war nach dem Bade Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als
Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem
Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie
auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr
heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. - Die Barbel wollte also
diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt
vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte:
»Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute
darüber hinaus sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte.
Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so
gefürchtet und ein solcher Menschenhasser war.«

»Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht präzis wissen, ich bin
jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; so hab ich ihn
nicht gesehen, wie er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich
aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so
könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm; meine Mutter war aus
dem Domleschg und er auch.«

»A bah, Dete, was meinst denn?«, gab die Barbel ein wenig beleidigt
zurück; »es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau, und
dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss. Erzähl
mir's jetzt, es muss dich nicht gereuen.«

»Ja nu, so will ich, aber halt Wort!«, mahnte die Dete. Erst sah sie
sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre, was sie
sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon
seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein,
diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete
stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige
Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter
übersehen, es war aber niemand darauf sichtbar.

»Jetzt seh ich's«, erklärte die Barbel; »siehst du dort?«, und sie
wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. »Es klettert die Abhänge
hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der heut so spät
hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerad recht, er kann nun zu
dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzählen.«

»Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen«,
bemerkte die Dete; »es ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es tut
seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an
ihm, und es wird ihm einmal zugut kommen, denn der Alte hat gar nichts
mehr als seine zwei Geißen und die Almhütte.«

»Hat er denn einmal mehr gehabt?«, fragte die Barbel.

»Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat«, entgegnete
eifrig die Dete; »eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er
gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der
war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte nichts tun, als den
Herrn spielen und im Lande herumfahren und mit bösem Volk zu tun
haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und
verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter
hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der nun auch
am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiß kein
Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als einen
bösen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann
vernahm man, er sei unter das Militär gegangen nach Neapel, und dann
hörte man nichts mehr von ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann
auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen
Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen.
Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr
etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg
setze er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte
da mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er
dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste
noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein
Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und
wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner,
man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es wäre ihm sonst
schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natürlich nicht im
Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber
die Verwandtschaft, da meiner Mutter Großmutter mit seiner Großmutter
Geschwisterkind gewesen war. So nannten wir ihn Öhi, und da wir
fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her,
so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm
hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der >Alm-Öhi<.«

»Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?«, fragte gespannt die
Barbel.

»Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen«,
erklärte Dete. »Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels, und
sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine Schwester
zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt,
und auch wie sie nun verheiratet waren, konnten sie's sehr gut
zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, wie er
an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug
ihn tot. Und wie man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel
die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte
sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kräftig und hatte
manchmal so eigene Zustände gehabt, dass man nicht recht wusste,
schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias
tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit
und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut
sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein
gottloses Leben, und ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr
Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun, aber
er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem
mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi
sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und
seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das
kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war
ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im
Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der
alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich konnte auch im
Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen
und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die Herrschaft aus
Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich
mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das
kann ich dir sagen.«

»Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es nimmt
mich nur wunder, was du denkst, Dete«, sagte die Barbel vorwurfsvoll.

»Was meinst du denn?«, gab Dete zurück. »Ich habe das Meinige an dem
Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich
kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt
nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon
halbwegs auf der Alm?«

»Ich bin auch gleich da, wo ich hinmuss«, entgegnete die Barbel; »ich
habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb
wohl, Dete, mit Glück!«

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese
der kleinen, dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige Schritte
seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind
ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben Höhe der Alm,
vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des
Berges stand, war gut, denn sie sah so baufällig und verfallen aus,
dass es auch so noch ein gefährliches Darinwohnen sein musste, wenn
der Föhnwind so mächtig über die Berge strich, dass alles an der Hütte
klapperte, Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten
und krachten. Hätte die Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm
gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.

Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden
Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm
hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu
lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen
Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen schrillen
Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiß auf dem
Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn die friedlichen
Geißen waren nicht zu fürchten, und das war denn den ganzen Sommer
durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen
verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er hatte zwar daheim
seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen
sehr früh fortmusste und am Abend vom Dörfli spät heimkam, weil er
sich da noch so lange als möglich mit den Kindern unterhalten musste,
so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine
Milch und Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und dann
sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon
der Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren
in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim
Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde
von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt,
und die blinde Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur
unter dem Namen Großmutter.

Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten
umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu sehen seien;
als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig höher,
wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen konnte, und guckte
nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen großer Ungeduld
auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die Kinder
auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo
allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen
war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem
Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in seiner schweren
Rüstung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte
anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den
Peter, der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle
Mühe hin und her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen,
schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile
Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den
Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe
aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte
sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins
auszuhäkeln, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über
das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit niemand es
tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg, und nun
stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den
kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann
legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte
es hinter den Geißen und neben dem Peter her, so leicht als nur eines
aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was
das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen
Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze
Gesicht auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein
Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander,
und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber
nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein
Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf
vielerlei antworten, denn das Kind wollte wissen, wie viele Geißen er
habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme.
So langten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte
an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die
herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: »Heidi,
was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den
zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft
auf den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles
fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?«

Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: »Dort!« Die Base
folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein
roter Punkt, das musste das Halstuch sein.

»Du Unglückstropf!«, rief die Base in großer Aufregung. »Was kommt dir
denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?«

»Ich brauch es nicht«, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus
über seine Tat.

»Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch
gar keine Begriffe?«, jammerte und schalt die Base weiter. »Wer sollte
nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf
du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht
dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt.«

»Ich bin schon zu spät«, sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu
rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände in die
Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.

»Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk
ich, nicht weit auf die Art!«, rief ihm die Base Dete zu. »Komm her,
du musst etwas Schönes haben, siehst du?« Sie hielt ihm ein neues
Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er
auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in
ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte
sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base rühmen musste
und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es
schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in
voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

»Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja
auch den Weg«, sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte,
den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des
Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und folgte
der Voranschreitenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um sein Bündel
geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend. Das Heidi und
die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte
der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem
Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden
ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen
Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen
mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten ging es
nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst
noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und
endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan.

An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine
Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf
seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen
und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und
nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging
geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte:
»Guten Abend, Großvater!«

»So, so, wie ist das gemeint?«, fragte der Alte barsch, gab dem Kinde
kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick
an, unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen
Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern,
denn der Großvater mit dem langen Bart und den dichten, grauen
Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie
eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn
recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen
samt dem Peter, der eine Welle stille stand und zusah, was sich da
ereigne.

»Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi«, sagte die Dete hinzutretend, »und
hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet
es wohl nicht mehr kennen, denn seit es jährig war, habt Ihr es nie
mehr gesehen.«

»So, was muss das Kind bei mir?«, fragte der Alte kurz; »und du dort«,
rief er dem Peter zu, »du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist
nicht zu früh; nimm meine mit!«

Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn
angeschaut, dass er schon genug davon hatte.

»Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi«, gab die Dete auf seine Frage
zurück. »Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre
durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu
tun.«

»So«, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete.
»Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie
kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?«

»Das ist dann Eure Sache«, warf die Dete zurück, »ich meine fast,
es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen
anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen
alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt
muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind; wenn
Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt
Ihr's zu verantworten, wenn's verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht
nötig haben, noch etwas aufzuladen.«

Die Dete hatte kein recht gutes Gewissen bei der Sache, darum war
sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt
hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute
sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann streckte er den
Arm aus und sagte befehlend: »Mach, dass du hinunterkommst, wo du
heraufgekommen bist, und zeig dich nicht so bald wieder!« Das ließ
sich die Dete nicht zweimal sagen. »So lebt wohl, und du auch, Heidi«,
sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins
Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts wie eine
wirksame Dampfkraft. Im Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr
angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja
alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehörte und alles, was
mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern
tönte: »Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?«, rief
sie immer unwilliger zurück: »Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi,
ihr hört's ja!«

Sie wurde aber so maßleidig, weil die Frauen von allen Seiten ihr
zuriefen: »Wie kannst du so etwas tun!«, und: »Das arme Tröpfli!«,
und: »So ein kleines Hilfloses da droben lassen!«, und dann wieder
und wieder: »Das arme Tröpfli!« Die Dete lief, so schnell sie konnte,
weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht
wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch
übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher
wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und
so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr
dreinredeten, weg- und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.



Beim Großvater

Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die
Bank hingesetzt und blies nun große Wolken aus seiner Pfeife; dabei
starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das
Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geißenstall, der an die Hütte
angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts drin. Das Kind setzte
seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten
Tannen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es sauste und
brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es
ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die kommende Ecke der Hütte
herum und kam vorn wieder zum Großvater zurück. Als es diesen noch in
derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es
sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn.
Der Großvater schaute auf. »Was willst du jetzt tun?«, fragte er, als
das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.

»Ich will sehen, was du drinnen hast, in der Hütte«, sagte Heidi.

»So komm!«, und der Großvater stand auf und ging voran in die Hütte
hinein.

»Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit«, befahl er im Hereintreten.

»Das brauch ich nicht mehr«, erklärte Heidi.

Der Alte kehrte sich um und schaute durchdringend auf das Kind, dessen
schwarze Augen glühten in Erwartung der Dinge, die da drinnen sein
konnten. »Es kann ihm nicht an Verstand fehlen«, sagte er halblaut.
»Warum brauchst du's nicht mehr?«, setzte er laut hinzu.

»Ich will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte
Beinchen.«

»So, das kannst du, aber hol das Zeug«, befahl der Großvater, »es
kommt in den Kasten.« Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür
auf und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich großen Raum ein,
es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und ein Stuhl
daran; in einer Ecke war des Großvaters Schlaflager, in einer anderen
hing der große Kessel über dem Herd; auf der anderen Seite war eine
große Tür in der Wand, die machte der Großvater auf, es war der
Schrank. Da hingen seine Kleider drin und auf einem Gestell lagen ein
paar Hemden, Strümpfe und Tücher und auf einem anderen einige Teller
und Tassen und Gläser und auf dem obersten ein rundes Brot und
geräuchertes Fleisch und Käse, denn in dem Kasten war alles enthalten,
was der Alm-Öhi besaß und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie
er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und
stieß sein Zeug hinein, so weit hinter des Großvaters Kleider als
möglich, damit es nicht so leicht wieder zu finden sei. Nun sah es
sich aufmerksam um in dem Raum und sagte dann: »Wo muss ich schlafen,
Großvater?«

»Wo du willst«, gab dieser zur Antwort.

Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und
schaute jedes Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre. In
der Ecke vorüber des Großvaters Lagerstätte war eine kleine Leiter
aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an.
Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde
Luke sah man weit ins Tal hinab.

»Hier will ich schlafen«, rief Heidi hinunter, »hier ist's schön! Komm
und sieh einmal, wie schön es hier ist, Großvater!«

»Weiß schon«, tönte es von unten herauf.

»Ich mache jetzt das Bett!«, rief das Kind wieder, indem es oben
geschäftig hin und her fuhr; »aber du musst heraufkommen und mir ein
Leintuch mitbringen, denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und
darauf liegt man.«

»So, so«, sagte unten der Großvater, und nach einer Weile ging er an
den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen
Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas sein wie
ein Leintuch. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden
ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen
musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu
liegen, dass es gerade auf das offene, runde Loch traf.

»Das ist recht gemacht«, sagte der Großvater, »jetzt wird das Tuch
kommen, aber wart noch« - damit nahm er einen guten Wisch Heu von dem
Haufen und machte das Lager doppelt so dick, damit der harte Boden
nicht durchgefühlt werden konnte -; »so, jetzt komm her damit.« Heidi
hatte das Leintuch schnell zuhanden genommen, konnte es aber fast
nicht tragen, so schwer war's; aber das war sehr gut, denn durch das
feste Zeug konnten die spitzen Heuhalme nicht durchstechen. Jetzt
breiteten die beiden miteinander das Tuch über das Heu, und wo es zu
breit und zu lang war, stopfte Heidi die Enden eilfertig unter das
Lager. Nun sah es recht gut und reinlich aus, und Heidi stellte sich
davor und betrachtete es nachdenklich.

»Wir haben noch etwas vergessen, Großvater«, sagte es dann.

»Was denn?«, fragte er.

»Eine Decke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwischen das
Leintuch und die Decke hinein.«

»So, meinst du? Wenn ich aber keine habe?«, sagte der Alte.

»Oh, dann ist's gleich, Großvater«, beruhigte Heidi, »dann nimmt man
wieder Heu zur Decke«, und eilfertig wollte es gleich wieder an den
Heustock gehen, aber der Großvater wehrte es ihm.

»Wart einen Augenblick«, sagte er, stieg die Leiter hinab und ging an
sein Lager hin. Dann kam er wieder und legte einen großen, schweren,
leinenen Sack auf den Boden.

»Ist das nicht besser als Heu?«, fragte er. Heidi zog aus
Leibeskräften an dem Sacke hin und her, um ihn auseinander zu legen,
aber die kleinen Hände konnten das schwere Zeug nicht bewältigen. Der
Großvater half, und wie es nun ausgebreitet auf dem Bette lag, da sah
alles sehr gut und haltbar aus, und Heidi stand staunend vor seinem
neuen Lager und sagte: »Das ist eine prächtige Decke und das
ganze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könnte ich
hineinliegen.«

»Ich meine, wir könnten erst einmal etwas essen«, sagte der Großvater,
»oder was meinst du?« Heidi hatte über dem Eifer des Bettens alles
andere vergessen; nun ihm aber der Gedanke ans Essen kam, stieg ein
großer Hunger in ihm auf, denn es hatte auch heute noch gar nichts
bekommen als früh am Morgen sein Stück Brot und ein paar Schlucke
dünnen Kaffees, und nachher hatte es die lange Reise gemacht. So sagte
Heidi ganz zustimmend: »Ja, ich mein es auch.«

»So geh hinunter, wenn wir denn einig sind«, sagte der Alte und folgte
dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kessel hin, schob den
großen weg und drehte den kleinen heran, der an der Kette hing, setzte
sich auf den hölzernen Dreifuß mit dem runden Sitz davor hin und blies
ein helles Feuer an. Im Kessel fing es an zu sieden, und unten hielt
der Alte an einer langen Eisengabel ein großes Stück Käse über das
Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war.
Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen; jetzt musste ihm
etwas Neues in den Sinn gekommen sein; auf einmal sprang es weg und an
den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Großvater mit einem
Topf und dem Käsebraten an der Gabel zum Tisch heran; da lag schon
das runde Brot darauf und zwei Teller und zwei Messer, alles schön
geordnet, denn das Heidi hatte alles im Schrank gut wahrgenommen und
wusste, dass man das alles nun gleich zum Essen brauchen werde.

»So, das ist recht, dass du selbst etwas ausdenkst«, sagte der
Großvater und legte den Braten auf das Brot als Unterlage; »aber es
fehlt noch etwas auf dem Tisch.«

Heidi sah, wie einladend es aus dem Topf hervordampfte, und sprang
schnell wieder an den Schrank. Da stand aber nur ein einziges
Schüsselchen. Heidi war nicht lang in Verlegenheit, dort hinten
standen zwei Gläser; augenblicklich kam das Kind zurück und stellte
Schüsselchen und Glas auf den Tisch.

»Recht so; du weißt dir zu helfen; aber wo willst du sitzen?« Auf dem
einzigen Stuhl saß der Großvater selbst. Heidi schoss pfeilschnell zum
Herd hin, brachte den kleinen Dreifuß zurück und setzte sich drauf.

»Einen Sitz hast du wenigstens, das ist wahr, nur ein wenig weit
unten«, sagte der Großvater; »aber von meinem Stuhl wärst auch zu
kurz, auf den Tisch zu langen; jetzt musst aber einmal etwas haben, so
komm!« Damit stand er auf, füllte das Schüsselchen mit Milch, stellte
es auf den Stuhl und rückte den ganz nah an den Dreifuß hin, so dass
das Heidi nun einen Tisch vor sich hatte. Der Großvater legte ein
großes Stück Brot und ein Stück von dem goldenen Käse darauf und
sagte: »Jetzt iss!« Er selbst setzte sich nun auf die Ecke des Tisches
und begann sein Mittagsmahl. Heidi ergriff sein Schüsselchen und trank
und trank ohne Aufenthalt, denn der ganze Durst seiner langen Reise
war ihm wieder aufgestiegen. Jetzt tat es einen langen Atemzug - denn
im Eifer des Trinkens hatte es lange den Atem nicht holen können - und
stellte sein Schüsselchen hin.

»Gefällt dir die Milch?«, fragte der Großvater.

»Ich habe noch gar nie so gute Milch getrunken«, antwortete Heidi.

»So musst du mehr haben«, und der Großvater füllte das Schüsselchen
noch einmal bis oben hin und stellte es vor das Kind, das vergnüglich
in sein Brot biss, nachdem es von dem weichen Käse darauf gestrichen,
denn der war, so gebraten, weich wie Butter, und das schmeckte ganz
kräftig zusammen, und zwischendurch trank es seine Milch und sah sehr
vergnüglich aus. Als nun das Essen zu Ende war, ging der Großvater in
den Geißenstall hinaus und hatte da allerhand in Ordnung zu bringen,
und Heidi sah ihm aufmerksam zu, wie er erst mit dem Besen säuberte,
dann frische Streu legte, dass die Tierchen darauf schlafen konnten;
wie er dann nach dem Schöpfchen ging nebenan und hier runde Stöcke
zurechtschnitt und an einem Brett herumhackte und Löcher hineinbohrte
und dann die runden Stöcke hineinsteckte und aufstellte; da war es auf
einmal ein Stuhl, wie der vom Großvater, nur viel höher, und Heidi
staunte das Werk an, sprachlos vor Verwunderung.

»Was ist das, Heidi?«, fragte der Großvater.

»Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf einmal war er fertig«,
sagte das Kind, noch in tiefem Erstaunen und Bewunderung.

»Es weiß, was es sieht, es hat die Augen am rechten Ort«, bemerkte der
Großvater vor sich hin, als er nun um die Hütte herumging und hier
einen Nagel einschlug und dort einen und dann an der Tür etwas zu
befestigen hatte und so mit Hammer und Nägeln und Holzstücken von
einem Ort zum anderen wanderte und immer etwas ausbesserte oder
wegschlug, je nach dem Bedürfnis. Heidi ging Schritt für Schritt
hinter ihm her und schaute ihm unverwandt mit der größten
Aufmerksamkeit zu, und alles, was da vorging, war ihm sehr kurzweilig
anzusehen.

So kam der Abend heran. Es fing stärker an zu rauschen in den alten
Tannen, ein mächtiger Wind fuhr daher und sauste und brauste durch die
dichten Wipfel. Das tönte dem Heidi so schön in die Ohren und ins Herz
hinein, dass es ganz fröhlich darüber wurde und hüpfte und sprang
unter den Tannen umher, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt. Der
Großvater stand unter der Schopftür und schaute dem Kind zu. Jetzt
ertönte ein schriller Pfiff. Heidi hielt an in seinen Sprüngen, der
Großvater trat heraus. Von oben herunter kam es gesprungen, Geiß um
Geiß, wie eine Jagd, und mittendrin der Peter. Mit einem Freudenruf
schoss Heidi mitten in das Rudel hinein und begrüßte die alten Freunde
von heute Morgen einen um den anderen. Bei der Hütte angekommen, stand
alles still, und aus der Herde heraus kamen zwei schöne, schlanke
Geißen, eine weiße und eine braune, auf den Großvater zu und leckten
seine Hände, denn er hielt ein wenig Salz darin, wie er jeden Abend
zum Empfang seiner zwei Tierlein tat. Der Peter verschwand mit seiner
Schar. Heidi streichelte zärtlich die eine und dann die andere von den
Geißen und sprang um sie herum, um sie von der anderen Seite auch zu
streicheln, und war ganz Glück und Freude über die Tierchen. »Sind
sie unser, Großvater? Sind sie beide unser? Kommen sie in den Stall?
Bleiben sie immer bei uns?«, so fragte Heidi hintereinander in seinem
Vergnügen, und der Großvater konnte kaum sein stetiges »Ja, ja!«
zwischen die eine und die andere Frage hineinbringen. Als die Geißen
ihr Salz aufgeleckt hatten, sagte der Alte: »Geh und hol dein
Schüsselchen heraus und das Brot.«

Heidi gehorchte und kam gleich wieder. Nun melkte der Großvater gleich
von der Weißen das Schüsselchen voll und schnitt ein Stück Brot ab
und sagte: »Nun iss und dann geh hinauf und schlaf! Die Base Dete hat
noch ein Bündelchen abgelegt für dich, da seien Hemdlein und so etwas
darin, das liegt unten im Kasten, wenn du's brauchst; ich muss nun mit
den Geißen hinein, so schlaf wohl!«

»Gut Nacht, Großvater! Gut Nacht - wie heißen sie, Großvater, wie
heißen sie?«, rief das Kind und lief dem verschwindenden Alten und den
Geißen nach.

»Die Weiße heißt Schwänli und die Braune Bärli«, gab der Großvater
zurück.

»Gut Nacht, Schwänli, gut Nacht, Bärli!«, rief nun Heidi noch mit
Macht, denn eben verschwanden beide in den Stall hinein. Nun setzte
sich Heidi noch auf die Bank und aß sein Brot und trank seine Milch;
aber der starke Wind wehte es fast von seinem Sitz herunter; so machte
es schnell fertig, ging dann hinein und stieg zu seinem Bett hinauf,
in dem es auch gleich nachher so fest und herrlich schlief, als nur
einer im schönsten Fürstenbett schlafen konnte. Nicht lange nachher,
noch eh es völlig dunkel war, legte auch der Großvater sich auf sein
Lager, denn am Morgen war er immer schon mit der Sonne wieder draußen,
und die kam sehr früh über die Berge hereingestiegen in dieser
Sommerszeit. In der Nacht kam der Wind so gewaltig, dass bei seinen
Stößen die ganze Hütte erzitterte und es in allen Balken krachte;
durch den Schornstein heulte und ächzte es wie Jammerstimmen, und in
den alten Tannen draußen tobte es mit solcher Wut, dass hier und da
ein Ast niederkrachte. Mitten in der Nacht stand der Großvater auf und
sagte halblaut vor sich hin: »Es wird sich wohl fürchten.« Er stieg
die Leiter hinauf und trat an Heidis Lager heran. Der Mond draußen
stand einmal hell leuchtend am Himmel, dann fuhren wieder die jagenden
Wolken darüber hin und alles wurde dunkel. Jetzt kam der Mondschein
eben leuchtend durch die runde Öffnung herein und fiel gerade auf
Heidis Lager. Es hatte sich feuerrote Backen erschlafen unter seiner
schweren Decke, und ruhig und friedlich lag es auf seinem runden
Ärmchen und träumte von etwas Erfreulichem, denn sein Gesichtchen sah
ganz wohlgemut aus. Der Großvater schaute so lange auf das friedlich
schlafende Kind, bis der Mond wieder hinter die Wolken trat und es
dunkel wurde, dann kehrte er auf sein Lager zurück.



Auf der Weide

Heidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es
die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch
hereingeflossen auf sein Lager und auf das Heu daneben, dass alles
golden leuchtete ringsherum. Heidi schaute erstaunt um sich und wusste
durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draußen des Großvaters
tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: Woher es gekommen
war und dass es nun auf der Alm beim Großvater sei, nicht mehr bei der
alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und meistens fror, so dass
sie immer am Küchenfenster oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann
auch Heidi hatte verweilen müssen oder doch ganz in der Nähe, damit
die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hören konnte.
Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber
hinausgelaufen. So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung
erwachte und sich erinnerte, wie viel Neues es gestern gesehen hatte
und was es heute wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli
und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig
Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es
war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die
Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der
Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, dass
sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm
und den Geißen guten Tag zu sagen.

»Willst mit auf die Weide?«, fragte der Großvater. Das war dem Heidi
eben recht, es hüpfte hoch auf vor Freude.

»Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus,
wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist;
sieh, dort ist's für dich gerichtet.« Der Großvater zeigte auf
einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand.
Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.
Unterdessen ging der Großvater in die Hütte hinein und rief dem Peter
zu: »Komm hierher, Geißengeneral, und bring deinen Habersack mit.«
Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem
er sein mageres Mittagessen bei sich trug.

»Mach auf«, befahl der Alte und steckte nun ein großes Stück Brot und
ein ebenso großes Stück Käse hinein. Der Peter machte vor Erstaunen
seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die beiden Stücke
waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als eignes Mittagsmahl
drinnen hatte.

»So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein«, fuhr der Öhi fort, »denn
das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg, es kennt
das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das
Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst;
gib Acht, dass es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?« -

Nun kam Heidi hereingelaufen. »Kann mich die Sonne jetzt nicht
auslachen, Großvater?«, fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit
dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber aufgehängt
hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so
erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem Großvater stand. Er
lachte ein wenig.

»Nein, nun hat sie nichts zu lachen«, bestätigte er. »Aber weißt was?
Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den
Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da bekommt
man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.«

Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen
Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne und
schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen
darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen.
Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da
waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen beieinander,
und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall
lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Cystusröschen in
der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden winkenden Blümchen
vergaß Heidi sogar die Geißen und auch den Peter. Es sprang ganze
Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es rot und
da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten. Und überall brach Heidi
ganze Scharen von den Blumen und packte sie in sein Schürzchen ein,
denn es wollte sie alle mit heimnehmen und ins Heu stecken in seiner
Schlafkammer, dass es dort werde wie hier draußen. - So hatte der
Peter heut nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen,
die nicht besonders schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit,
als der Peter gut bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie
das Heidi: Sie liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin
pfeifen und rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die
Verlaufenen zusammenzutreiben.

»Wo bist du schon wieder, Heidi?«, rief er jetzt mit ziemlich
grimmiger Stimme.

»Da«, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen
Zügen ein.

»Komm nach!«, rief der Peter wieder. »Du musst nicht über die Felsen
hinunterfallen, der Öhi hat's verboten.«

»Wo sind die Felsen?«, fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
Kinde lieblicher entgegen.

»Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben
am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt.«

Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.

»Jetzt hast genug«, sagte dieser, als sie wieder zusammen
weiterkletterten; »sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
nimmst, hat's morgen keine mehr.« Der letzte Grund leuchtete Heidi
ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da wenig
Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein. So
zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun alle
geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen Weideplatz
schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz,
wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen und sein Quartier
für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen Felsen, die, erst
noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff
zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich
Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte Recht, davor zu
warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, nahm Peter seinen
Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung des Bodens
hinein, denn der Wind kam manchmal in starken Stößen dahergefahren,
und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg
hinunterrollen sehen; dann streckte er sich lang und breit auf den
sonnigen Weideboden hin, denn er musste sich nun von der Anstrengung
des Steigens erholen.

Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und
links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite
derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Bläue
hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder.
Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher
war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind
über die zarten, blauen Glockenblümchen und die goldnen, strahlenden
Cystusröschen, die überall herumstanden auf ihren dünnen Stängelchen
und leise und fröhlich hin und her nickten. Der Peter war entschlafen
nach seiner Anstrengung, und die Geißen kletterten oben an den Büschen
umher. Dem Heidi war es so schön zumute, wie in seinem Leben noch
nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den
zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts mehr, als so
dazubleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft
und so lange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun
war, als hätten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz
bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.

Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen
ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel,
wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten
Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen kehrte er immer
wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidis Kopf.

»Peter! Peter! Erwache!«, rief Heidi laut. »Sich, der Raubvogel ist
da, sieh! Sieh!«

Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der
sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich
über grauen Felsen verschwand.

»Wo ist er jetzt hin?«, fragte Heidi, das mit gespannter
Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.

»Heim ins Nest«, war Peters Antwort.

»Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum schreit er
so?«, fragte Heidi weiter.

»Weil er muss«, erklärte Peter.

»Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist«,
schlug Heidi vor.

»Oh! oh! oh!«, brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
Missbilligung hervorstoßend; »wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen.«

Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der anderen
kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grünen
Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen Halmen, die
anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig gegeneinander
stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen
und rannte mitten unter den Geißen umher, denn das war ihm ein neuer,
unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Tierlein durcheinander
sprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum
anderen und machte mit jedem ganz persönliche Bekanntschaft, denn
jedes war eine ganz besondere Erscheinung für sich und hatte seine
eigenen Manieren. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und
alle vier Stücke, die drin waren, schön auf den Boden hingelegt in ein
Viereck, die großen Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die
seinige hin, denn er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann
nahm er das Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom
Schwänli und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn das
Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge und
Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah und
nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich zu
machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und nun
erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, dass es um
sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.

»Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen«, sagte Peter, »jetzt sitz
und fang an.«

Heidi setzte sich hin. »Ist die Milch mein?«, fragte es, nochmals
das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
betrachtend.

»Ja«, erwiderte Peter, »und die zwei großen Stücke zum Essen sind auch
dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen
vom Schwänli und dann komm ich.«

»Und von wem bekommst du die Milch?«, wollte Heidi wissen.

»Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an«, mahnte
Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es sein leeres
Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei.
Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und das ganze übrige
Stück, das immer noch größer war, als Peters eigenes Stück gewesen,
das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war, reichte es diesem hinüber
mit dem ganzen großen Brocken Käse und sagte: »Das kannst du haben,
ich habe nun genug.«

Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können. Er
zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass es
dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke hin, und
da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun sah er, dass
es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk, nickte in Dank und
Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie
in seinem Leben als Geißbub. Heidi schaute derweilen nach den Geißen
aus. »Wie heißen sie alle, Peter?«, fragte es.

Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in seinem
Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing
also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen, immer je mit
dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte mit gespannter
Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte gar nicht lange, so
konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen
nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich
im Sinne bleiben mussten; man musste nur allen genau zusehen, und das
tat Heidi. Da war der große Türk mit den starken Hörnern, der wollte
mit diesen immer gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen
davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden
wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich
ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe Hörnchen.
Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so eindringlich und
flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen
war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt sprang das
Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme hatte eben wieder
flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um den Hals des Geißleins
und fragte ganz teilnehmend: »Was hast du, Schneehöppli? Warum rufst
du so um Hilfe?« Das Geißlein schmiegte sich nahe und vertrauensvoll
an Heidi an und war jetzt ganz still. Peter rief von seinem Sitz aus,
mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu
schlucken: »Es tut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben
sie verkauft nach Maienfeld vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf
die Alm.«

»Wer ist die Alte?«, fragte Heidi zurück.

»Pah, seine Mutter«, war die Antwort.

»Wo ist die Großmutter?«, rief Heidi wieder.

»Hat keine.«

»Und der Großvater?«

»Hat keinen.«

»Du armes Schneehöppli du«, sagte Heidi und drückte das Tierlein
zärtlich an sich. »Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen,
und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen.«

Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter und
meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl
beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran,
das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.

Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit
betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem
zudringlichen Türk abweisend und verächtlich begegneten. -

Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen
leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich die guten
Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine Angriffe
probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und leicht hinan und
fanden oben sogleich die schönsten Büsche, stellten sich geschickt
daran auf und nagten sie zierlich ab. Heidi stand mit den Händen auf
dem Rücken und schaute dem allen mit der größten Aufmerksamkeit zu.

»Peter«, bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden, »die
schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli.«

»Weiß schon«, war die Antwort. »Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie und
gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall.«

Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas begegnet
sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang durch den
Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und
kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein, wenn es dorthin
ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte
gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft
war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang das Geißlein dem
Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben packen, da stürzte er
auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins
erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn
und Überraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsetzen
seines fröhlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig
vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er
konnte nicht aufstehen und riss dem Distelfink fast das Bein aus.
Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden.
Es riss schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt
sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:

»Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
weh.«

Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine
Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an
welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi erfasste
diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreißer
zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber Peter hier
in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe
tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu zurück, denn er
merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: »Nein, Peter,
nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh, wie er sich fürchtet!«

»Er verdient's«, schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: »Du darfst ihm nichts
tun, es tut ihm weh, lass ihn los!«

Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen
ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute niederhielt. »So
kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst«, sagte
dann der Peter nachgebend, denn eine Entschädigung wollte er haben für
den Schrecken.

»Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
brauche ihn gar nicht«, sagte Heidi zustimmend, »und Brot gebe ich dir
auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar
nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine Geiß.«

»Es ist mir gleich«, bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde hinein.
-

So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi saß
wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die
Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles
Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen an zu
schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und schrie:
»Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der große
Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh! Der hohe Felsenberg
ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige Schnee! Peter, sieh auf,
sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh
die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!«

»Es war immer so«, sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
seiner Rute fort, »aber es ist kein Feuer.«

»Was ist es denn?«, rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön
war's auf allen Seiten. »Was ist es, Peter, was ist es?«, rief Heidi
wieder.

»Es kommt von selbst so«, erklärte Peter.

»O sieh, sieh«, rief Heidi in großer Aufregung, »auf einmal werden sie
rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen
Felsen! Wie heißen sie, Peter?«

»Berge heißen nicht«, erwiderte dieser.

»O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben
sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh! Nun ist
alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!« Und Heidi setzte sich
auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu
Ende.

»Es ist morgen wieder so«, erklärte Peter. »Steh auf, nun müssen wir
heim.«

Die Geißen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt
angetreten.

»Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?«,
fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend,
als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.

»Meistens«, gab dieser zur Antwort.

»Aber gewiss morgen wieder?«, wollte es noch wissen.

»Ja, ja, morgen schon!«, versicherte Peter.

Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es nun
ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Großvater
unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und
am Abend seine Geißen erwartete, die von dieser Seite herunterkämen.
Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwänli und Bärli hinter ihm
drein, denn die Geißen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter
rief dem Heidi nach: »Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!« Denn es
war ihm sehr daran gelegen, dass das Heidi wiederkomme.

Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die Hand
und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang es
mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: »Schlaf wohl,
Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass du
nie mehr so jämmerlich meckern musst.«

Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und
sprang dann fröhlich der Herde nach.

Heidi kam unter die Tannen zurück.

»O Großvater, das war so schön!«, rief es, noch bevor es bei ihm war.
»Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen,
und sieh, was ich hier bringe!« Und damit schüttete Heidi seinen
ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Großvater
hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht
mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr
offen.

»O Großvater, was haben sie?«, rief Heidi ganz erschrocken aus. »So
waren sie nicht, warum sehen sie so aus?«

»Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
hinein«, sagte der Großvater.

»Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum hat
der Raubvogel so gekrächzt?«, fragte Heidi nun angelegentlich.

»Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
dann sag ich dir's.«

So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam das
Kind gleich wieder mit seiner Frage: »Warum krächzt der Raubvogel so
und schreit immer so herunter, Großvater?«

»Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele zusammensitzen
in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er hinunter: >Würdet
ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg und auf eine Höhe steigen
wie ich, so wär's euch wohler!<« Der Großvater sagte diese Worte fast
wild, so dass dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch
eindrücklicher wurde in der Erinnerung.

»Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?«, fragte Heidi wieder.

»Die haben Namen«, erwiderte dieser, »und wenn du mir einen so
beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
heißt.«

Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau so,
wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig: »Recht
so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen gesehen?«

Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war
und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.

»Den erkenn ich auch«, sagte der Großvater, »das ist die Schesaplana;
so hat es dir gefallen auf der Weide?«

Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
gewusst.

»Siehst du«, erklärte der Großvater, »das macht die Sonne, wenn sie
den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten
Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen
wiederkommt.«

Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und roten
Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen Sprüngen.



Bei der Großmutter

Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der Weide
hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem
Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm gar nie
etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag
zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf allen Bäumen im
grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen
anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der Großvater: »Heut
bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit
einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen.«

Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm
war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die
Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte Mühe mit ihnen
hatte; denn die waren nun auch so an Heidis Gesellschaft gewöhnt, dass
sie nicht vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle
Seiten rannten. Heidi wurde niemals unglücklich, denn es sah immer
irgendetwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon mit Hirt
und Geißen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so
mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all den verschieden gearteten
Geißen; aber auch das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters
war sehr unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade
die schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser merkwürdigen
Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme bloß machte und
damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor allem anziehend war
für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei
alten Tannen hinter der Hütte. Da musste es immer von Zeit zu Zeit
hinlaufen von allem anderen weg, was es auch sein mochte, denn so
schön und wunderbar war gar nichts wie dieses tiefe, geheimnisvolle
Tosen in den Wipfeln da droben; da stand Heidi unten und lauschte
hinauf und konnte niemals genug bekommen, zu sehen und zu hören, wie
das wehte und wogte und rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt
gab die Sonne nicht mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine
Strümpfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn nun wurde es
immer frischer, und wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es
durchblasen wie ein dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder
hin und konnte nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen
vernahm.

Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er früh
am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel über Nacht
ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweiß und kein
einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum und um. Da kam der
Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und Heidi schaute ganz
verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu
schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der
Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster hinaufreichte, und dann
noch höher, dass man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und
man ganz verpackt war in dem Häuschen. Das kam dem Heidi so lustig
vor, dass es immer von einem Fenster zum anderen rannte, um zu sehen,
wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Hütte
zudecken wollte, dass man müsste ein Licht anzünden am hellen Tag. Es
kam aber nicht so weit, und am anderen Tag ging der Großvater hinaus -
denn nun schneite es nicht mehr - und schaufelte ums ganze Haus herum
und warf große, große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier
ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber
nun waren die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut,
denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes
auf seinem Dreifuß - denn der Großvater hatte längst auch einen für
das Kind gezimmert -, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die
hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war von
Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und auf
ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte nicht
nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht
Tage lang nicht gesehen.

»Guten Abend«, sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als
möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein ganzes
Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute ihn sehr
verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es überall an ihm
zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war wie ein gelinder
Wasserfall.

»Nun, General, wie steht's?«, sagte jetzt der Großvater. »Nun bist du
ohne Armee und musst am Griffel nagen.«

»Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?«, fragte Heidi sogleich
mit Wissbegierde.

»Im Winter muss er in die Schule gehen«, erklärte der Großvater;
»da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
General?«

»Ja, 's ist wahr«, bestätigte Peter.

Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und zu
hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel
Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen musste,
so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten. Es war immer
eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in die Worte
zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er's
besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort zustande gebracht,
so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen
zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort
erforderten.

Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.

»So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm, halt
mit!« Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen aus dem
Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch. Unterdessen
war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Großvater; nun er
nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu zweien
eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, dass es sich überall nah zum
Großvater hielt, wo er ging und stand und saß. So hatten sie alle
drei gut Platz zum Sitzen und der Peter tat seine runden Augen ganz
weit auf, als er sah, welch ein mächtiges Stück von dem schönen
getrockneten Fleisch der Alm-Öhi ihm auf seine dicke Brotschnitte
legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das
vergnügte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln, und Peter schickte
sich zur Heimkehr an. Als er nun »Gute Nacht« und »Dank Euch Gott«
gesagt hatte und schon unter der Tür war, kehrte er sich noch einmal
um und sagte: »Am Sonntag komm ich wieder, heut über acht Tag, und du
solltest auch einmal zur Großmutter kommen, hat sie gesagt.«

Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: »Großvater, jetzt
muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.«

»Es hat zu viel Schnee«, erwiderte der Großvater abwehrend.

Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter hatte
es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag mehr, an
dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: »Großvater, jetzt muss
ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf mich.«

Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
Sprüchlein: »Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es währt
ihr sonst zu lange.« Da stand der Großvater auf vom Mittagstisch,
stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der
Heidis Bettdecke war, und sagte: »So komm!« In großer Freude hüpfte
das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den alten
Tannen war es nun ganz still und auf allen Ästen lag der weiße Schnee
und in dem Sonnenschein schimmerte und funkelte es überall von den
Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi hoch aufsprang vor Entzücken und
ein Mal übers andere ausrief: »Komm heraus, Großvater, komm heraus!
Es ist lauter Silber und Gold an den Tannen!« Denn der Großvater war
in den Schopf hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten
Stoßschlitten: Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen
Sitz konnte man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den
Schneeboden stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich
der Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte
beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schoß, wickelte es um und
um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es fest
mit dem linken Arm an sich, denn das war nötig bei der kommenden
Fahrt. Dann umfasste er mit der rechten Hand die Stange und gab einen
Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon die Alm hinab
mit einer solchen Schnelligkeit, dass das Heidi meinte, es fliege in
der Luft wie ein Vogel, und laut aufjauchzte. Auf einmal stand der
Schlitten still, gerade bei der Hütte vom Geißenpeter. Der Großvater
stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus
und sagte:

»So, nun geh hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm
wieder heraus und mach dich auf den Weg.« Dann kehrte er um mit seinem
Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.

Heidi machte die Tür auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah
es schwarz aus, und ein Herd war da und einige Schüsselchen auf einem
Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder eine Tür,
die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn
das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater, wo ein
einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein
kleines, uraltes Häuschen, wo alles eng war und schmal und dürftig.
Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran
saß eine Frau und flickte an Peters Wams, denn dieses erkannte Heidi
sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und spann.
Heidi wusste gleich, woran es war; es ging geradaus auf das Spinnrad
zu und sagte: »Guten Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir; hast du
gedacht, es währe lang, bis ich komme?«

Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie
ausgestreckt war, und als sie diese erfasst hatte, befühlte sie
dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie:
»Bist du das Kind droben beim Alm-Öhi, bist du das Heidi?«

»Ja, ja«, bestätigte das Kind, »jetzt gerade bin ich mit dem Großvater
im Schlitten heruntergefahren.«

»Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag, Brigitte,
ist der Alm-Öhi selber mit dem Kind heruntergekommen?«

Peters Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war
aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis
unten; dann sagte sie: »Ich weiß nicht, Mutter, ob der Öhi selber
heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das Kind wird's
nicht recht wissen.«

Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei
es im Ungewissen, und sagte: »Ich weiß ganz gut, wer mich in die
Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittelt ist; das ist
der Großvater.«

»Es muss doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer
durch vom Alm-Öhi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht«, sagte
die Großmutter; »wer hätte freilich auch glauben können, dass so etwas
möglich sei; ich dachte, das Kind lebte keine drei Wochen da oben. Wie
sieht es auch aus, Brigitte!« Diese hatte das Kind unterdessen so von
allen Seiten angesehen, dass sie nun wohl berichten konnte, wie es
aussah.

»Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war«, gab sie zur
Antwort; »aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es
der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den
zweien gleich.«

Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und
alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: »Sieh,
Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der
Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, dass er wieder
fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein; sieh, sieh,
wie er tut!«

»Ach, du gutes Kind«, sagte die Großmutter, »sehen kann ich es nicht,
aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden;
da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt, und er kann
überall hereinblasen; es hält nichts mehr zusammen, und in der Nacht,
wenn sie beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es
falle alles über uns zusammen und schlage uns alle drei tot; ach, und
da ist kein Mensch, der etwas ausbessern könnte an der Hütte, der
Peter versteht's nicht.«

»Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden tut, Großmutter?
Sieh jetzt wieder, dort, gerade dort.« Und Heidi zeigte die Stelle
deutlich mit dem Finger.

»Ach Kind, ich kann ja gar nichts sehen, gar nichts, nicht nur den
Laden nicht«, klagte die Großmutter.

»Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, dass es recht
hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?«

»Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir niemand mehr hell machen.«

»Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es dir
gewiss hell; komm nur mit mir, Großmutter, ich will dir's zeigen.«
Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie fortziehen, denn
es fing an, ihm ganz ängstlich zumute zu werden, dass es ihr nirgends
hell wurde.

»Lass mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir,
auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine
Augen.«

»Aber dann doch im Sommer, Großmutter«, sagte Heidi, immer ängstlicher
nach einem guten Ausweg suchend; »weißt, wenn dann wieder die Sonne
ganz heiß herunterbrennt und dann >gute Nacht< sagt und die Berge alle
feuerrot schimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir
wieder schön hell?«

»Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die
goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie
mehr.«

Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es
fortwährend: »Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es niemand?
Kann es gar niemand?«

Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr
nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing,
dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübnis herauskommen.
Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu
beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, dass es so jämmerlich
schluchzen musste. Jetzt sagte sie: »Komm, du gutes Heidi, komm hier
heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man nichts sehen
kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort, und ich höre es
gern, wenn du redest; komm, setz dich da nahe zu mir und erzähl mir
etwas, was du machst da droben und was der Großvater macht, ich habe
ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab ich seit manchem Jahr nichts
mehr gehört von ihm als durch den Peter, aber der sagt nicht viel.«

Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Tränen
weg und sagte tröstlich: »Wart nur, Großmutter, ich will alles dem
Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, dass die
Hütte nicht zusammenfällt, er kann alles wieder in Ordnung machen.«

Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit großer
Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater und von
den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem
Großvater, was er alles aus Holz machen könne, Bänke und Stühle und
schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das Heu hineinlegen
könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden im Sommer, und ein
neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi wurde immer eifriger im
Beschreiben all der schönen Sachen, die so auf einmal aus einem Stück
Holz herauskommen, und wie es dann neben dem Großvater stehe und ihm
zuschaue und wie es das alles auch einmal machen wolle. Die Großmutter
hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie
dazwischen: »Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Öhi
sagt?«

Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes
Gepolter an der Tür, und herein stampfte der Peter, blieb aber
sogleich stille stehen und sperrte seine runden Augen ganz
erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die
allerfreundlichste Grimasse, als es ihm sogleich zurief: »Guten Abend,
Peter!«

»Ist denn das möglich, dass der schon aus der Schule kommt«, rief die
Großmutter ganz verwundert aus. »So geschwind ist mir seit manchem
Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit
dem Lesen?«

»Gleich«, gab der Peter zur Antwort.

»So, so«, sagte die Großmutter ein wenig seufzend, »ich habe gedacht,
es gäbe vielleicht eine Änderung auf die Zeit, wenn du dann zwölf
Jahre alt wirst gegen den Hornung hin.«

»Warum muss es eine Änderung geben, Großmutter?«, fragte Heidi gleich
mit Interesse.

»Ich meine nur, dass er es etwa noch hätte lernen können«, sagte die
Großmutter, »das Lesen mein ich. Ich habe dort oben auf dem Gestell
ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe ich so lange
nicht mehr gehört, und im Gedächtnis habe ich sie auch nicht mehr; da
habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so könne er mir
etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht lernen, es ist ihm zu
schwer.«

»Ich denke, ich muss Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel«,
sagte jetzt Peters Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte;
»der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne dass ich's merkte.«

Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine Hand
aus und sagte: »Gut Nacht, Großmutter, ich muss auf der Stelle heim,
wenn es dunkel wird«, und hintereinander bot es dem Peter und seiner
Mutter die Hand und ging der Tür zu. Aber die Großmutter rief besorgt:
»Wart, wart, Heidi; so allein musst du nicht fort, der Peter muss
mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, dass es nicht
umfällt, und steh nicht still mit ihm, dass es nicht friert, hörst du?
Hat es auch ein dickes Halstuch an?«

»Ich habe gar kein Halstuch an«, rief Heidi zurück, »aber ich will
schon nicht frieren«; damit war es zur Tür hinaus und huschte so
behend weiter, dass der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter rief
jammernd: »Lauf ihm nach, Brigitte, lauf, das Kind muss ja erfrieren,
so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf schnell!« Die Brigitte
gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg
hinan getan, so sahen sie von oben herunter den Großvater kommen, und
mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor ihnen.

»Recht so, Heidi, Wort gehalten!«, sagte er, packte das Kind wieder
fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg
hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das Kind
wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg angetreten
hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein und erzählte der
Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese musste
sich sehr verwundern und ein Mal über das andere sagen: »Gott Lob und
Dank, dass er so ist mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er es nur
auch wieder zu mir lässt, das Kind hat mir so wohl gemacht! Was hat es
für ein gutes Herz und wie kann es so kurzweilig erzählen!« Und immer
wieder freute sich die Großmutter, und bis sie ins Bett ging, sagte
sie immer wieder: »Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch
noch etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!« Und die
Brigitte stimmte jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe
sagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und
zog seinen Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: »Hab's
schon gewusst.«

Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den
Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen
Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er:
»Wart ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's.«

Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und
Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: »Großvater,
morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den
Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel
einschlagen, denn es kracht und klappert alles bei ihr.«

»Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?«, fragte der
Großvater.

»Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst«, entgegnete Heidi,
»denn es hält alles nicht mehr fest und es ist der Großmutter angst
und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so tut, und sie
denkt: >Jetzt fällt alles ein und gerade auf unsere Köpfe<; und der
Großmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weiß gar nicht,
wie man es könnte, aber du kannst es schon, Großvater; denk nur, wie
traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch
angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen als du! Morgen
wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Großvater, wir wollen?«

Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit
zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Welle
auf das Kind nieder, dann sagte er: »Ja, Heidi, wir wollen machen,
dass es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das können wir;
morgen tun wir's.«

Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief ein
Mal ums andere: »Morgen tun wir's! Morgen tun wir's!«

Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe
Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte
das Kind vor der Tür der Geißenpeter-Hütte nieder und sagte: »Nun geh
hinein, und wenn's Nacht wird, komm wieder.« Dann legte er den Sack
auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.

Kaum hatte Heidi die Tür aufgemacht und war in die Stube
hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: »Da kommt
das Kind! Das ist das Kind!«, und ließ vor Freude den Faden los und
das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde aus. Heidi
lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an sie
heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter schon wieder eine
große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu erfragen. Aber auf
einmal ertönten so gewaltige Schläge an das Haus, dass die Großmutter
vor Schrecken so zusammenfuhr, dass sie fast das Spinnrad umwarf, und
zitternd ausrief: »Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es fällt alles
zusammen!« Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte tröstend:
»Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater
mit dem Hammer, jetzt macht er alles fest, dass es dir nicht mehr
angst und bang wird.«

»Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns doch
der liebe Gott nicht ganz vergessen!«, rief die Großmutter aus. »Hast
du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig, es ist ein
Hammer! Geh hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm-Öhi ist, so sag ihm,
er soll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, dass ich ihm
auch danken kann.«

Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm-Öhi mit großer Gewalt
neue Kloben in die Mauer; Brigitte trat an ihn heran und sagte: »Ich
wünsche Euch guten Abend, Öhi, und die Mutter auch, und wir haben
Euch zu danken, dass Ihr uns einen solchen Dienst tut, und die Mutter
möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es hätte uns das
nicht gerad einer getan, wir wollen Euch auch dran denken, denn sicher
-«

»Macht's kurz«, unterbrach sie der Alte hier; »was Ihr vom Alm-Öhi
haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find ich
selber.«

Brigitte gehorchte sogleich, denn der Öhi hatte eine Art, der man
sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das ganze
Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter
das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel
eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon
die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und
hatte seinen Schlitten hinter dem Geißenstall hervorgezogen, als auch
schon Heidi aus der Tür trat und vom Großvater wie gestern verpackt
auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein
da drauf sitzend, wäre die ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und
es wäre fast oder ganz erfroren. Das wusste der Großvater wohl und
hielt das Kind ganz warm in seinem Arm.

So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage
waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte
sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen konnte. Vom frühen
Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden Schritt, und
ging dann die Tür auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann
rief sie jedes Mal in lauter Freude: »Gottlob! Da kommt's wieder!«
Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzählte so lustig von
allem, was es wusste, dass es der Großmutter ganz wohl machte und ihr
die Stunden dahingingen, sie merkte es nicht, und kein einziges Mal
fragte sie mehr so wie früher: »Brigitte, ist der Tag noch nicht um?«,
sondern jedes Mal, wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie:
»Wie war doch der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?«
Und diese sagte: »Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller
vom Essen weggestellt.« Und die Großmutter sagte wieder: »Wenn mir nur
der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen! Sieht
es auch gesund aus, Brigitte?« Und jedes Mal erwiderte diese: »Es
sieht aus wie ein Erdbeerapfel.«

Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter, und
wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch der
Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer wieder eine
große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer wieder, dass sie
am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi kam auch an
jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf seinem Schlitten. Der
Großvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren, hatte jedes
Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen
Nachmittag durch an dem Geißenpeter-Häuschen herumgeklopft. Das hatte
aber auch seine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die
ganzen Nächte durch, und die Großmutter sagte, so habe sie manchen
Winter lang nicht mehr schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie
vergessen.



Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat

Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer darauf
vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem Ende zu.
Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels und freute
sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage, da der warme
Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen würde und dann
die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein hervorlocken und die
Tage der Weide kommen würden, die für Heidi das Schönste mit sich
brachten, was es auf Erden geben konnte. Heidi stand nun in seinem
achten Jahre; es hatte vom Großvater allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit
den Geißen wusste es so gut umzugehen als nur einer, und Schwänli und
Bärli liefen ihm nach wie treue Hündlein und meckerten gleich laut vor
Freude, wenn sie nur seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter
schon zweimal vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der
Alm-Öhi solle das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken,
es habe schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter
kommen sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke
er nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
überbracht.

Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und dann
wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel größer das
Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei, und gleich
nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht erwarten,
dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer mit Grün und
Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.

Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt wohl
zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor Schrecken
fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal stand es vor
einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft anblickte. Als
er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich: »Du musst nicht
erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib mir die Hand! Du
wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?«

»Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz«, erklärte Heidi
und machte nun die Tür wieder auf.

Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: »Guten Morgen, Nachbar.«

Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und entgegnete:
»Guten Morgen dem Herrn Pfarrer.« Dann stellte er seinen Stuhl vor den
Herrn hin und fuhr fort: »Wenn der Herr Pfarrer einen Holzsitz nicht
scheut, hier ist einer.«

Der Herr Pfarrer setzte sich. »Ich habe Euch lange nicht gesehen,
Nachbar«, sagte er dann.

»Ich den Herrn Pfarrer auch nicht«, war die Antwort.

»Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen«, fing der Herr
Pfarrer wieder an; »ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
will, was Ihr im Sinne habt.«

Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür stand
und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.

»Heidi, geh zu den Geißen«, sagte der Großvater. »Kannst ein wenig
Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme.«

Heidi verschwand sofort.

»Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter die
Schule besuchen sollen«, sagte nun der Herr Pfarrer; »der Lehrer hat
Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf gegeben; was habt
Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?«

»Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken«, war die
Antwort.

Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit gekreuzten
Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig aussah.

»Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?«, fragte jetzt der Herr Pfarrer.

»Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen.«

»Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein Menschenkind.
Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen Kameraden, so lernt es
auch sonst nichts von ihnen; es soll aber etwas lernen, und die Zeit
dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch zeitig zu sagen, Nachbar, damit
Ihr Euch besinnen und einrichten könnt den Sommer durch. Dies war der
letzte Winter, den das Kind so ohne allen Unterricht zugebracht hat;
nächsten Winter kommt es zur Schule, und zwar jeden Tag.«

»Ich tu's nicht, Herr Pfarrer«, sagte der Alte unentwegt.

»Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun beharren
wollt?«, sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig. »Ihr seid weit
in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und vieles lernen
können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut, Nachbar.«

»So«, sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch in
seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; »und meint denn der Herr
Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen Morgen durch
Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg hinunterschicken,
zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder heraufkommen lassen, wenn's
manchmal tobt und tut, dass unsereiner fast in Wind und Schnee
ersticken müsste, und dann ein Kind wie dieses? Und vielleicht kann
sich der Herr Pfarrer auch noch der Mutter erinnern, der Adelheid; sie
war mondsüchtig und hatte Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen
mit der Anstrengung? Es soll mir einer kommen und mich zwingen wollen!
Ich gehe vor alle Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer
mich zwingt!«

»Ihr habt ganz Recht, Nachbar«, sagte der Herr Pfarrer mit
Freundlichkeit; »es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb; tut
um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen, kommt
wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen. Was ist
das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen Gott und
Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben, wer würde
Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass Ihr den Winter
durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie das zarte Kind es
nur aushalten kann!«

»Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer darf
in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner Hütte geht
das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr Pfarrer mit dem
Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die Menschen da unten
verachten mich und ich sie auch, wir bleiben voneinander, so ist's
beiden wohl.«

»Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt«, sagte
der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. »Mit der Verachtung der Menschen
dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar: Sucht Frieden
mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung, wo Ihr sie nötig
habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die Menschen ansehen
und wie wohl es Euch noch werden kann.«

Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
und sagte nochmals mit Herzlichkeit: »Ich zähle darauf, Nachbar, im
nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten,
guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein Zwang
gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf,
dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesöhnt
mit Gott und den Menschen.«

Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
bestimmt: »Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht.«

»So helf Euch Gott!«, sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Tür
hinaus und den Berg hinunter.

Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: »Jetzt
wollen wir zur Großmutter«, erwiderte er kurz: »Heut nicht.« Den
ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
fragte: »Gehen wir heut zur Großmutter?«, war er noch gleich kurz von
Worten wie im Ton und sagte nur: »Wollen sehen.« Aber noch bevor die
Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein
Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schönen
Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein Kleid, das alles
mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da allerlei, das
nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute sie an von oben bis unten
und sagte kein Wort. Aber die Base Dete hatte im Sinn, ein sehr
freundliches Gespräch zu führen, denn sie fing an zu rühmen und sagte,
das Heidi sehe so gut aus, sie habe es fast nicht mehr gekannt und
man könne schon sehen, dass es ihm nicht schlecht gegangen sei beim
Großvater. Sie habe aber gewiss auch immer darauf gedacht, es ihm
wieder abzunehmen, denn sie habe ja schon begreifen können, dass ihm
das Kleine im Weg sein müsse, aber in jenem Augenblick habe sie es
ja nirgends sonst hintun können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht
nachgesonnen, wo sie das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen
komme sie auch heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da
könne das Heidi zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht
habe glauben wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache
nachgegangen, und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in
Richtigkeit, das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden
nicht eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem Lehrer,
und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern eine
Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die Dame
beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre Herrschaft
habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein eine gute
Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt, sie wolle so
ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das nicht sei wie alle,
die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst denn auf der Stelle an
das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen und habe der Dame alles
so beschrieben vom Heidi und so von seinem Charakter, und die Dame
habe sogleich zugesagt. Nun könne gar kein Mensch wissen, was dem
Heidi alles an Glück und Wohlfahrt bevorstehe, denn wenn es dann
einmal dort sei und die Leute es gern mögen und es etwa mit dem
eigenen Töchterchen etwas geben sollte - man könne ja nie wissen, es
sei doch so schwächlich -, und wenn eben die Leute doch nicht ohne ein
Kind bleiben wollten, so könnte ja das unerhörteste Glück -

»Bist du bald fertig?«, unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
Wort dazwischengeredet hatte.

»Pah«, gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, »Ihr tut gerade, wie
wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch durchs
ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im Himmel
dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch gebracht
habe.«

»Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon«, sagte der Öhi
trocken.

Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: »Ja, wenn Ihr
es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich es
meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und weiß
nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in keine
Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt unten
im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab es zu
verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück erlangen
kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein, dem es um
alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht. Aber ich
gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe ich alle für
mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht mir hilft und
gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht kommen lassen,
so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die Euch dann könnten
aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet, denn wenn man's einmal
mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch manches aufgespürt, an das
keiner mehr denkt.«

»Schweig!«, donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
Feuer. »Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm, ich
will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im Mund wie
dich heut!«

Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.

»Du hast den Großvater bös gemacht«, sagte Heidi und blitzte mit
seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.

»Er wird schon wieder gut, komm jetzt«, drängte die Base; »wo sind
deine Kleider?«

»Ich komme nicht«, sagte Heidi.

»Was sagst du?«, fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein wenig
und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: »Komm, komm, du
verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar nicht
weißt.« Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen hervor und
packte sie zusammen: »So, komm jetzt, nimm dort dein Hütchen, es sieht
nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal, setz es auf und mach,
dass wir fortkommen.«

»Ich komme nicht«, wiederholte Heidi.

»Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du hast's
ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor Augen
kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und jetzt musst
du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht, wie schön es ist
in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und gefällt es dir dann
nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin ist der Großvater dann
wieder gut.«

»Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?«, fragte
Heidi.

»Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim, wann
du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und morgen früh
sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im Augenblick
wieder daheim, das geht wie geflogen.«

Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.

Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier und
da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu gehen,
das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren und große
Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen. So kam er
eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit sichtlichem Erfolg
seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein ungeheures Bündel
langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er stand still und starrte
die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei ihm ankamen; dann sagte er:
»Wo willst du hin?«

»Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base«, antwortete
Heidi, »aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
auf mich.«

»Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät«, sagte die Base
eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; »du kannst
dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!« Damit zog die Base
das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn sie fürchtete,
es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen, es wolle nicht
fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen. Der Peter sprang
in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen Bündel Ruten so
furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte und die Großmutter
vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut aufjammerte. Der Peter
hatte sich Luft machen müssen.

»Was ist's denn? Was ist's denn?«, rief angstvoll die Großmutter, und
die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen war bei
dem Knall, sagte in angeborener Langmut: »Was hast, Peterli; warum
tust so wüst?«

»Weil sie das Heidi mitgenommen hat«, erklärte Peter.

»Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?«, fragte die Großmutter jetzt mit
neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging, die
Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete gesehen
zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die Großmutter
das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: »Dete, Dete, nimm uns das
Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!«

Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: »Die Großmutter hat
gerufen, ich will zu ihr.«

Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind, es
solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät kämen,
sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja dann sehen,
wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie mehr fortwolle
dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja gleich gehen und
dann erst noch der Großmutter etwas mit heimbringen, was sie freue.
Das war eine Aussicht für Heidi, die ihm gefiel. Es fing an zu laufen
ohne Widerstreben.

»Was kann ich der Großmutter heimbringen?«, fragte es nach einer
Welle.

»Etwas Gutes«, sagte die Base, »so schöne, weiche Weißbrötchen, da
wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze Brot
fast nicht mehr essen.«

»Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: >Es ist mir zu
hart<; das habe ich selbst gesehen«, bestätigte das Heidi. »So wollen
wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir vielleicht heut noch
nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin mit den Brötchen.«

Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf dem
Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es so rasch
ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom Dörfli, und
da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben, die das Heidi
wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief sie stracks durch,
und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer Hand, dass alle Leute
es sehen konnten, wie sie um des Kindes willen so pressieren musste.
So rief sie auf alle die Fragen und Anrufungen, die ihr aus allen
Fenstern und Türen entgegentönten, nur immer zurück: »Ihr seht's ja,
ich kann jetzt nicht still stehen, das Kind pressiert und wir haben
noch weit.«

»Nimmst's mit?« - »Läuft's dem Alm-Öhi fort?« - »Es ist nur ein
Wunder, dass es noch am Leben ist!« - »Und dazu noch so rotbackig!« So
tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne Verzug
durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi kein Wort
sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer. -

Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen
so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: »Gib
Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch etwas tun!«

Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im
Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zusammen,
und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi gesehen hatte,
wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem Menschen mehr
auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin überein, dass es ein
großes Glück sei, dass das Kind habe entweichen können, und man habe
auch wohl gesehen, wie es fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der
Alte sei schon hinter ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde
Großmutter hielt unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um
bei ihr spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte
sie es immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen
Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe
gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch diese Berichte
ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann,
die Großmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl
nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut
hören, weil sie nichts mehr sehe.

Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es war
gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie blieb
für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre
Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht
klagend sagte: »Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von
uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das
Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!«



Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge

Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich
aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde. Jetzt saß es
im so genannten Studierzimmer, das neben der großen Essstube lag und
wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und -lagen, die das Zimmer
wohnlich machten und zeigten, dass man hier gewöhnlich sich aufhielt.
An dem großen, schönen Bücherschrank mit den Glastüren konnte man
sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte und dass es wohl der Raum
war, wo dem lahmen Töchterchen der tägliche Unterricht erteilt wurde.

Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit
ziemlicher Ungeduld in der Stimme: »Ist es denn immer noch nicht Zeit,
Fräulein Rottenmeier?«

Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen feierlichen
Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art von hoch
gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein Rottenmeier war
schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses gestorben war,
im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht
über das ganze Dienstpersonal.

Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen
Wunsch geschehen dürfe.

Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fräulein
Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die Erwarteten
erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die Dete mit Heidi an
der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen gestiegen
war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät noch stören dürfe.

»Das ist nicht meine Sache«, brummte der Kutscher; »klingeln Sie den
Sebastian herunter, drinnen im Korridor.«

Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.

»Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
stören dürfe«, brachte die Dete wieder an.

»Das ist nicht meine Sache«, gab der Bediente zurück; »klingeln Sie
die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel«, und ohne weitere
Auskunft verschwand der Sebastian.

Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes
und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.

»Was ist?«, fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
wieder und rief von der Treppe herunter: »Sie sind erwartet!«

Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich an
der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war gar
nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so fremden
Boden.

Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam näher,
um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der
Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte sein einfaches
Baumwollröckchen an und sein altes, zerdrücktes Strohhütchen auf dem
Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor und betrachtete mit
unverhehlter Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.

»Wie heißest du?«, fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge
von ihr verwandte.

»Heidi«, antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.

»Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist
du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe
erhalten?«, fragte Fräulein Rottenmeier weiter.

»Das weiß ich jetzt nicht mehr«, entgegnete Heidi.

»Ist das eine Antwort!«, bemerkte die Dame mit Kopfschütteln. »Jungfer
Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?«

»Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden
für das Kind, denn es ist sehr unerfahren«, sagte die Dete, nachdem
sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für die
unpassende Antwort. »Es ist aber nicht einfältig und auch nicht
schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie es
redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt
die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn
die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft
worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig.«

»Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann«, bemerkte
Fräulein Rottenmeier. »Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch sagen,
dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen
mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in ihrem Alter
sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und überhaupt
ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das zwölfte Jahr
zurückgelegt; wie alt ist das Kind?«

»Mit Erlaubnis der Dame«, fing die Dete wieder beredt an, »es war mir
eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es ist
wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's so ganz
genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch etwas
dazu sein, nehm ich an.«

»Jetzt bin ich acht, der Großvater hat's gesagt«, erklärte Heidi. Die
Base stieß es wieder an, aber Heidi hatte keine Ahnung, warum, und
wurde keineswegs verlegen.

»Was, erst acht Jahre alt?«, rief Fräulein Rottenmeier mit einiger
Entrüstung aus. »Vier Jahre zu wenig! Was soll das geben! Und was hast
du denn gelernt? Was hast du für Bücher gehabt bei deinem Unterricht?«

»Keine«, sagte Heidi.

»Wie? Was? Wie hast du denn lesen gelernt?«, fragte die Dame weiter.

»Das hab ich nicht gelernt und der Peter auch nicht«, berichtete
Heidi.

»Barmherzigkeit! Du kannst nicht lesen? Du kannst wirklich nicht
lesen!«, rief Fräulein Rottenmeier im höchsten Schrecken aus. »Ist es
die Möglichkeit, nicht lesen! Was hast du denn aber gelernt?«

»Nichts«, sagte Heidi der Wahrheit gemäß.

»Jungfer Dete«, sagte Fräulein Rottenmeier nach einigen Minuten, in
denen sie nach Fassung rang, »es ist alles nicht nach Abrede, wie
konnten Sie mir dieses Wesen zuführen?« Aber die Dete ließ sich nicht
so bald einschüchtern; sie antwortete herzhaft: »Mit Erlaubnis der
Dame, das Kind ist gerade, was ich dachte, dass sie haben wolle; die
Dame hat mir beschrieben, wie es sein müsse, so ganz apart und nicht
wie die anderen, und so musste ich das Kleine nehmen, denn die
Größeren sind bei uns dann nicht mehr so apart, und ich dachte, dieses
passe wie gemacht auf die Beschreibung. Jetzt muss ich aber gehen,
denn meine Herrschaft erwartet mich; ich will, wenn's meine Herrschaft
erlaubt, bald wieder kommen und nachsehen, wie es geht mit ihm.« Mit
einem Knicks war die Dete zur Tür hinaus und die Treppe hinunter mit
schnellen Schritten. Fräulein Rottenmeier stand einen Augenblick noch
da, dann lief sie der Dete nach; es war ihr wohl in den Sinn gekommen,
dass sie noch eine Menge von Dingen mit der Base besprechen wollte,
wenn das Kind wirklich dableiben sollte, und da war es doch nun einmal
und, wie sie bemerkte, hatte die Base fest im Sinn, es dazulassen.

Heidi stand noch auf demselben Platz an der Tür, wo es von Anfang an
gestanden hatte. Bis dahin hatte Klara von ihrem Sessel aus schweigend
allem zugesehen. Jetzt winkte sie Heidi: »Komm hierher!«

Heidi trat an den Rollstuhl heran.

»Willst du lieber Heidi heißen oder Adelheid?«, fragte Klara.

»Ich heiße nur Heidi und sonst nichts«, war Heidis Antwort.

»So will ich dich immer so nennen«, sagte Klara; »der Name gefällt mir
für dich, ich habe ihn aber nie gehört, ich habe aber auch nie ein
Kind gesehen, das so aussieht wie du. Hast du immer nur so kurzes,
krauses Haar gehabt?«

»Ja, ich denk's«, gab Heidi zur Antwort.

»Bist du gern nach Frankfurt gekommen?«, fragte Klara weiter.

»Nein, aber morgen geh ich dann wieder heim und bringe der Großmutter
weiße Brötchen!«, erklärte Heidi.

»Du bist aber ein kurioses Kind!«, fuhr jetzt Klara auf. »Man hat dich
ja express nach Frankfurt kommen lassen, dass du bei mir bleibest und
die Stunden mit mir nehmest, und siehst du, es wird nun ganz lustig,
weil du gar nicht lesen kannst, nun kommt etwas ganz Neues in den
Stunden vor. Sonst ist es manchmal so schrecklich langweilig und der
Morgen will gar nicht zu Ende kommen. Denn siehst du, alle Morgen um
zehn Uhr kommt der Herr Kandidat, und dann fangen die Stunden an und
dauern bis um zwei Uhr, das ist so lange. Der Herr Kandidat nimmt auch
manchmal das Buch ganz nahe ans Gesicht heran, so, als wäre er auf
einmal ganz kurzsichtig geworden, aber er gähnt nur furchtbar hinter
dem Buch, und Fräulein Rottenmeier nimmt auch von Zeit zu Zeit ihr
großes Taschentuch hervor und hält es vor das ganze Gesicht hin, so,
als sei sie ganz ergriffen von etwas, das wir lesen; aber ich weiß
recht gut, dass sie nur ganz schrecklich gähnt dahinter, und dann
sollte ich auch so stark gähnen und muss es immer hinunterschlucken,
denn wenn ich nur ein einziges Mal herausgähne, so holt Fräulein
Rottenmeier gleich den Fischtran und sagt, ich sei wieder schwach, und
Fischtran nehmen ist das Allerschrecklichste, da will ich doch lieber
Gähnen schlucken. Aber nun wird's viel kurzweiliger, da kann ich dann
zuhören, wie du lesen lernst.«

Heidi schüttelte ganz bedenklich mit dem Kopf, als es vom Lesenlernen
hörte.

»Doch, doch, Heidi, natürlich musst du lesen lernen, alle Menschen
müssen, und der Herr Kandidat ist sehr gut, er wird niemals böse,
und er erklärt dir dann schon alles. Aber siehst du, wenn er etwas
erklärt, dann verstehst du nichts davon; dann musst du nur warten und
gar nichts sagen, sonst erklärt er dir noch viel mehr und du verstehst
es noch weniger. Aber dann nachher, wenn du etwas gelernt hast und es
weißt, dann verstehst du schon, was er gemeint hat.«

Jetzt kam Fräulein Rottenmeier wieder ins Zimmer zurück; sie hatte
Dete nicht mehr zurückrufen können und war sichtlich aufgeregt davon,
denn sie hatte dieser eigentlich gar nicht einlässlich sagen können,
was alles nicht nach Abrede sei bei dem Kinde, und da sie nicht
wusste, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu machen,
war sie umso aufgeregter, denn sie selbst hatte die ganze Sache
angestiftet. Sie lief nun vom Studierzimmer ins Esszimmer hinüber, und
von da wieder zurück, und kehrte dann unmittelbar wieder um und fuhr
hier den Sebastian an, der seine runden Augen eben nachdenklich über
den gedeckten Tisch gleiten ließ, um zu sehen, ob sein Werk keinen
Mangel habe.

»Denk Er morgen Seine großen Gedanken fertig und mach Er, dass man
heut noch zu Tische komme.«

Mit diesen Worten fuhr Fräulein Rottenmeier an Sebastian vorbei und
rief nach der Tinette mit so wenig einladendem Ton, dass die Jungfer
Tinette mit noch viel kleineren Schritten herantrippelte als sonst
gewöhnlich - und sich mit so spöttischem Gesicht hinstellte, dass
selbst Fräulein Rottenmeier nicht wagte, sie anzufahren; umso mehr
schlug ihr die Aufregung nach innen.

»Das Zimmer der Angekommenen ist in Ordnung zu bringen, Tinette«,
sagte die Dame mit schwer errungener Ruhe; »es liegt alles bereit,
nehmen Sie noch den Staub von den Möbeln weg.«

»Es ist der Mühe wert«, spöttelte Tinette und ging.

Unterdessen hatte Sebastian die Doppeltüren zum Studierzimmer mit
ziemlichem Knall aufgeschlagen, denn er war sehr ergrimmt, aber sich
in Antworten Luft zu machen durfte er nicht wagen Fräulein Rottenmeier
gegenüber; dann trat er ganz gelassen ins Studierzimmer, um den
Rollstuhl hinüberzustoßen. Während er den Griff hinten am Stuhl, der
sich verschoben hatte, zurechtdrehte, stellte sich Heidi vor ihn hin
und schaute ihn unverwandt an, was er bemerkte. Auf einmal fuhr er
auf. »Na, was ist denn da Besonderes dran?«, schnurrte er Heidi an in
einer Weise, wie er es wohl nicht getan, hätte er Fräulein Rottenmeier
gesehen, die eben wieder auf der Schwelle stand und gerade hereintrat,
als Heidi entgegnete: »Du siehst dem Geißenpeter gleich.«

Entsetzt schlug die Dame ihre Hände zusammen. »Ist es die
Möglichkeit!«, stöhnte sie halblaut. »Nun duzt sie mir den Bedienten!
Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!«

Der Stuhl kam herangerollt und Klara wurde von Sebastian
hinausgeschoben und auf ihren Sessel an den Tisch gesetzt.

Fräulein Rottenmeier setzte sich neben sie und winkte Heidi, es sollte
den Platz ihr gegenüber einnehmen. Sonst kam niemand zu Tische, und
es war viel Platz da; die drei saßen auch weit auseinander, so dass
Sebastian mit seiner Schüssel zum Anbieten guten Raum fand. Neben
Heidis Teller lag ein schönes, weißes Brötchen; das Kind schaute mit
erfreuten Blicken darauf. Die Ähnlichkeit, die Heidi entdeckt hatte,
musste sein ganzes Vertrauen für den Sebastian erweckt haben, denn
es saß mäuschenstill und rührte sich nicht, bis er mit der großen
Schüssel zu ihm herantrat und ihm die gebratenen Fischchen hinhielt,
dann zeigte es auf das Brötchen und fragte: »Kann ich das haben?«
Sebastian nickte und warf dabei einen Seitenblick auf Fräulein
Rottenmeier, denn es wunderte ihn, was die Frage für einen Eindruck
auf sie mache. Augenblicklich ergriff Heidi sein Brötchen und steckte
es in die Tasche. Sebastian machte eine Grimasse, denn das Lachen kam
ihn an; er wusste aber wohl, dass ihm das nicht erlaubt war. Stumm und
unbeweglich blieb er immer noch vor Heidi stehen, denn reden durfte
er nicht, und weggehen durfte er wieder nicht, bis man sich bedient
hatte. Heidi schaute ihm eine Zeit lang verwundert zu, dann fragte es:
»Soll ich auch von dem essen?« Sebastian nickte wieder. »So gib mir«,
sagte es und schaute ruhig auf seinen Teller. Sebastians Grimasse
wurde sehr bedenklich, und die Schüssel in seinen Händen fing an
gefährlich zu zittern.

»Er kann die Schüssel auf den Tisch setzen und nachher wiederkommen«,
sagte jetzt Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht. Sebastian
verschwand sogleich. »Dir, Adelheid, muss ich überall die ersten
Begriffe beibringen, das sehe ich«, fuhr Fräulein Rottenmeier mit
tiefem Seufzer fort. »Vor allem will ich dir zeigen, wie man sich am
Tische bedient«, und nun machte die Dame deutlich und eingehend alles
vor, was Heidi zu tun hatte. »Dann«, fuhr sie weiter, »muss ich dir
hauptsächlich bemerken, dass du am Tisch nicht mit Sebastian zu
sprechen hast, auch sonst nur dann, wenn du einen Auftrag oder eine
notwendige Frage an ihn zu richten hast; dann aber nennst du ihn nie
mehr anders als _Sie_ oder _Er_, hörst du? Dass ich dich niemals mehr
ihn anders nennen höre. Auch Tinette nennst du _Sie_, Jungfer Tinette.
Mich nennst du so, wie du mich von allen nennen hörst; wie du Klara
nennen sollst, wird sie selbst bestimmen.«

»Natürlich Klara«, sagte diese. Nun folgte aber noch eine Menge
von Verhaltungsmaßregeln, über Aufstehen und Zubettegehen, über
Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschließen, und
über alledem fielen dem Heidi die Augen zu, denn es war heute vor fünf
Uhr aufgestanden und hatte eine lange Reise gemacht. Es lehnte sich an
den Sesselrücken und schlief ein. Als dann nach längerer Zeit Fräulein
Rottenmeier zu Ende gekommen war mit ihrer Unterweisung, sagte sie:
»Nun denke daran, Adelheid! Hast du alles recht begriffen?«

»Heidi schläft schon lange«, sagte Klara mit ganz belustigtem Gesicht,
denn das Abendessen war für sie seit langer Zeit nie so kurzweilig
verflossen.

»Es ist doch völlig unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!«, rief
Fräulein Rottenmeier in großem Ärger und klingelte so heftig, dass
Tinette und Sebastian miteinander herbeigestürzt kamen; aber trotz
allen Lärms erwachte Heidi nicht, und man hatte die größte Mühe, es
so weit zu erwecken, dass es nach seinem Schlafgemach gebracht werden
konnte; erst durch das Studierzimmer, dann durch Klaras Schlafstube,
dann durch die Stube von Fräulein Rottenmeier zu dem Eckzimmer, das
nun für Heidi eingerichtet war.



Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag

Als Heidi am ersten Morgen in Frankfurt seine Augen aufschlug, konnte
es durchaus nicht begreifen, was es erblickte. Es rieb ganz gewaltig
seine Augen, guckte dann wieder auf und sah dasselbe. Es saß auf einem
hohen, weißen Bett und vor sich sah es einen großen, weiten Raum, und
wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße Vorhänge, und dabei
standen zwei Sessel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein Sofa an
der Wand mit denselben Blumen und ein runder Tisch davor, und in der
Ecke stand ein Waschtisch mit Sachen darauf, wie Heidi sie noch gar
nie gesehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, dass es in
Frankfurt sei, und der ganze gestrige Tag kam ihm in Erinnerung und
zuletzt noch ganz klar die Unterweisungen der Dame, soweit es sie
gehört hatte. Heidi sprang nun von seinem Bett herunter und machte
sich fertig. Dann ging es an ein Fenster und dann an das andere; es
musste den Himmel sehen und die Erde draußen, es fühlte sich wie im
Käfig hinter den großen Vorhängen. Es konnte diese nicht wegschieben;
so kroch es dahinter, um an ein Fenster zu kommen. Aber dieses war so
hoch, dass Heidi nur gerade mit dem Kopf so weit hinaufreichte, dass
es durchsehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief
von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber
immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder
Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es
früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzustehen auf der Alm
und dann sogleich hinauszulaufen vor die Tür und zu sehen, wie's
draußen sei, ob der Himmel blau und die Sonne schon droben sei, ob die
Tannen rauschen und die kleinen Blumen schon die Augen offen haben.
Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön glänzenden
Gefängnis sitzt, hin und her schießt und bei allen Stäben probiert, ob
es nicht dazwischen durchschlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen
könne, so lief Heidi immer von dem einen Fenster zum anderen, um zu
probieren, ob es nicht aufgemacht werden könne, denn dann musste man
doch etwas anderes sehen als Mauern und Fenster, da musste doch unten
der Erdboden, das grüne Gras und der letzte schmelzende Schnee an den
Abhängen zum Vorschein kommen, und Heidi sehnte sich, das zu sehen.
Aber die Fenster blieben fest verschlossen, wie sehr auch das Kind
drehte und zog und von unten suchte, die kleinen Finger unter die
Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb
alles eisenfest aufeinander sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi
einsah, dass alle Anstrengungen nichts halfen, gab es seinen Plan auf
und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und
hintenherum, bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte sich,
dass es gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
klopfte es an seiner Tür und unmittelbar darauf steckte Tinette den
Kopf herein und sagte kurz: »Frühstück bereit!«

Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf dem
spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung, ihr
nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben,
und das las Heidi deutlich von dem Gesicht und richtete sich danach.
Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch empor, stellte ihn in eine
Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen
würde. Nach einiger Zeit kam etwas mit ziemlichem Geräusch, es war
Fräulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung geraten war und
in Heidis Stube hineinrief: »Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du
nicht, was ein Frühstück ist? Komm herüber!«

Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Esszimmer saß
Klara schon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich, machte
auch ein viel vergnügteres Gesicht als sonst gewöhnlich, denn sie
sah voraus, dass heute wieder allerlei Neues geschehen würde. Das
Frühstück ging nun ohne Störung vor sich; Heidi aß ganz anständig
sein Butterbrot, und wie alles zu Ende war, wurde Klara wieder ins
Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von Fräulein Rottenmeier
angewiesen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr
Kandidat kommen würde, um die Unterrichtsstunden zu beginnen. Als
die beiden Kinder allein waren, sagte Heidi sogleich: »Wie kann man
hinaussehen hier und ganz hinunter auf den Boden?«

»Man macht ein Fenster auf und guckt hinaus«, antwortete Klara
belustigt.

»Man kann diese Fenster nicht aufmachen«, versetzte Heidi traurig.

»Doch, doch«, versicherte Klara, »nur du noch nicht, und ich kann dir
auch nicht helfen; aber wenn du einmal den Sebastian siehst, so macht
er dir schon eines auf.«

Das war eine große Erleichterung für Heidi zu wissen, dass man doch
die Fenster öffnen und hinausschauen könne, denn noch war es ganz
unter dem Druck des Gefangenseins von seinem Zimmer her. Klara fing
nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hause sei, und Heidi
erzählte mit Freuden von der Alm und den Geißen und der Weide und
allem, was ihm lieb war.

Unterdessen war der Herr Kandidat angekommen; aber Fräulein
Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, ins Studierzimmer, denn
sie musste sich erst aussprechen und geleitete ihn zu diesem Zweck ins
Esszimmer, wo sie sich vor ihn hinsetzte und ihm in großer Aufregung
ihre bedrängte Lage schilderte und wie sie in diese hineingekommen
war.

Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris
geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter habe längst
gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie ins Haus aufgenommen
werden, und auch sie selbst glaube, dass eine solche in den
Unterrichtsstunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende
Gesellschaft für Klara sein würde. Eigentlich war die Sache für
Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern, dass
jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme,
wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr Sesemann hatte
geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner Tochter, doch mit der
Bedingung, dass eine solche Gespielin in allem ganz gehalten werde wie
jene, er wolle keine Kinderquälerei in seinem Hause - »was freilich
eine sehr unnütze Bemerkung von dem Herrn war«, setzte Fräulein
Rottenmeier hinzu, »denn wer wollte Kinder quälen!« Nun aber erzählte
sie weiter, wie ganz erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem
Kinde, und führte alle Beispiele von seinem völlig begriffslosen
Dasein an, die es bis jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der
Unterricht des Herrn Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse,
sondern dass auch sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit
dem Uranfang zu beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie
nur ein Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden ohne
großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn Sesemann
ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und so würde er
zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin zurückgeschickt würde,
woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung aber dürfte sie das nicht
unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass das Kind angekommen sei.
Aber der Herr Kandidat war behutsam und niemals einseitig im Urteilen.
Er tröstete Fräulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Ansicht,
wenn die junge Tochter auf der einen Seite so zurück sei, so möchte
sie auf der anderen umso geförderter sein, was bei einem geregelten
Unterricht bald ins Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein
Rottenmeier sah, dass der Herr Kandidat sie nicht unterstützen,
sondern seinen Abc-Unterricht übernehmen wollte, machte sie ihm die
Tür zum Studierzimmer auf, und nachdem er hereingetreten war, schloss
sie schnell hinter ihm zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor
dem Abc hatte sie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten
im Zimmer auf und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die
Dienstboten Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja
geschrieben, sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses
Wort musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im Studierzimmer
ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände und dann ein
Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag auf dem Boden
alles übereinander, die sämtlichen Studien-Hilfsmittel, Bücher, Hefte,
Tintenfass und obendrauf der Tischteppich, unter dem ein schwarzes
Tintenbächlein hervorfloss, die ganze Stube entlang. Heidi war
verschwunden.

»Da haben wir's«, rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
»Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch nie
geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!«

Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
Verwüstung, die allerdings nur _eine_ Seite hatte und eine recht
bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun erklärend:
»Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es muss gewiss
nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig, fortzukommen,
und riss den Teppich mit, und so fiel alles hintereinander auf den
Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander vorbei, darum ist es so
fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie eine Kutsche gesehen.«

»Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht _einen_
Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen
wäre! Was würde mir Herr Sesemann -«

Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter
der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft die
Straße auf und ab.

»Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so davonlaufen!«,
fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.

»Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
stehen, und höre sie nicht mehr«, antwortete Heidi und schaute
enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt
war, das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
war.

»Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm herauf
und sieh, was du angerichtet hast!« Damit stieg Fräulein Rottenmeier
wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun sehr
verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt, was
es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu hören.

»Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder«,
sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; »zum Lernen sitzt
man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst
fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl festbinden. Kannst du
das verstehen?«

»Ja«, entgegnete Heidi, »aber ich will schon festsitzen.« Denn jetzt
hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer Unterrichtsstunde
still zu sitzen.

Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der weitere
Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war heute gar
keine Zeit gewesen.

Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte
alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte Fräulein
Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch Klara sich in
ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier nach
ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da war, da es seine
Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem Heidi sehr erwünscht,
denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu unternehmen; es musste
aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum vor das Esszimmer
mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit, die es zu beraten
gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach kurzer Zeit kam
Sebastian die Treppe herauf mit dem großen Teebrett auf den Armen,
denn er brachte das Silberzeug aus der Küche herauf, um es im Schrank
des Esszimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der
Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit großer
Deutlichkeit: »Sie oder Er!«

Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
sagte ziemlich barsch: »Was soll das heißen, Mamsell?«

»Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses wie
heute Morgen«, fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es merkte, dass
Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der
Tinte am Boden her.

»So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich zuerst
wissen«, gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.

»Ja, so muss ich jetzt immer sagen«, versicherte Heidi; »Fräulein
Rottenmeier hat es befohlen.«

Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber Sebastian
hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte,
und sagte nun sehr erlustigt: »Schon recht, so fahre die Mamsell nur
zu.«

»Ich heiße gar nicht Mamsell«, sagte nun Heidi seinerseits ein wenig
geärgert; »ich heiße Heidi.«

»Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich Mamsell
sage«, erklärte Sebastian.

»Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen«, sagte Heidi mit
Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen musste,
wie Fräulein Rottenmeier befahl.

»Jetzt habe ich schon drei Namen«, setzte es mit einem Seufzer hinzu.

»Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?«, fragte Sebastian jetzt,
indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank
zurechtlegte.

»Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?«

»So, gerade so«, und er machte den großen Fensterflügel auf.

Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können; es
langte nur bis zum Gesims hinauf.

»Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
unten ist«, sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und
konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit
dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf wieder
zurück.

»Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts«, sagte
das Kind bedauerlich; »aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was
sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?«

»Gerade dasselbe«, gab dieser zur Antwort.

»Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
kann über das ganze Tal hinab?«

»Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so
einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt
man von oben herunter und sieht weit über alles weg.«

Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die
Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem
Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die
Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die
ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch
nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Straße hinein und
weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es gingen
viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi
dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es
an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine
Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug.
Heidi lief zu ihm hin und fragte: »Wo ist der Turm mit der goldenen
Kugel zuoberst?«

»Weiß nicht«, war die Antwort.

»Wen kann ich denn fragen, wo er sei?«, fragte Heidi weiter.

»Weiß nicht.«

»Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?«

»Freilich weiß ich eine.«

»So komm und zeige mir sie.«

»Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst.« Der Junge hielt seine Hand
hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen
hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt war;
erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi
ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber
hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge! »Da«, sagte Heidi und
hielt das Bildchen hin, »willst du das?«

Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.

»Was willst du denn?«, fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen
wieder ein.

»Geld.«

»Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel
willst du?«

»Zwanzig Pfennige.«

»So komm jetzt.«

Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege
fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er
erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine
prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.

Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
Junge stand still und sagte: »Da.«

»Aber wie komm ich da hinein?«, fragte Heidi, als es die fest
verschlossenen Türen sah.

»Weiß nicht«, war wieder die Antwort.

»Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?«

»Weiß nicht.«

Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen
Kräften daran.

»Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß
jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen.«

»Was gibst du mir dann?«

»Was muss ich dir dann wieder geben?«

»Wieder zwanzig Pfennige.«

Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tür
geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann
ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an: »Was untersteht ihr
euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der
Klingel steht: >Für solche, die den Turm besteigen wollenmiauFräulein
Klara<, wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein Klara zu tun?«,
fragte Sebastian barsch.

»Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig«, erklärte der Junge.

»Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, dass
ein Fräulein Klara hier ist?«

»Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder
zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.«

»Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht
niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo du
hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!«

Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich
stehen und sagte trocken: »Ich habe sie doch gesehen auf der Straße,
ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist
schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie
kann nicht reden wie wir.«

»Oho«, dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, »das ist
die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt.« Dann sagte er,
den Jungen hereinziehend: »'s ist schon recht, komm mir nur nach und
warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann
einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern.«

Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

»Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu
bestellen hat«, berichtete Sebastian.

Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.

»Er soll nur gleich hereinkommen«, sagte sie, »nicht wahr, Herr
Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss.«

Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort
seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc
auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf
einmal horchte sie auf. - Kamen die Töne von der Straße her? Aber so
nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und
dennoch - wahrhaftig - sie stürzte durch das lange Esszimmer und riss
die Tür auf. Da - unglaublich - da stand mitten im Studierzimmer
ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter
Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen,
aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz
erfreuten Gesichtern der Musik zu.

»Aufhören! Sofort aufhören!«, rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer
hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf
den Jungen zu - aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen,
sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr
zwischen den Füßen durch - eine Schildkröte. Jetzt tat Fräulein
Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren
keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften: »Sebastian!
Sebastian!«

Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme
die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb offenen Tür
und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung
vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf
einen Stuhl niedergesunken.

»Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian,
sofort!«, rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig,
zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte,
drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: »Vierzig für Fräulein
Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht«; damit
schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es wieder
ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fräulein
Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch
ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte
sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so
bestrafen, dass er daran denken würde.

Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals Sebastian
mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden, der
sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.

»An mich?«, fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das sein
möchte; »zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht.«

Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann
eilig wieder.

»Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb
ausgepackt«, bemerkte Fräulein Rottenmeier.

Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie
schaute sehr verlangend nach dem Korb.

»Herr Kandidat«, sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren
unterbrechend, »könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu
wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?«

»In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein«,
entgegnete der Herr Kandidat; »_dafür_ spräche der Grund, dass, wenn
nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist -«;
die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes saß nur
lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder
zwei und immer noch mehr junge Kätzchen darunter hervor und ins Zimmer
hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie
überall herum, dass es war, als wäre das ganze Zimmer voll solcher
Tierchen. Sie sprangen über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen
an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier
empor, krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel
hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara
rief immerfort voller Entzücken: »Oh, die niedlichen Tierchen! Die
lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!« Heidi
schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Kandidat stand
sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in
die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein
Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann
fing sie an aus Leibeskräften zu schreien: »Tinette! Tinette!
Sebastian! Sebastian!«, denn vom Sessel aufzustehen konnte sie
unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die kleinen
Scheusale an ihr emporspringen.

Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe
herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen
Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem
Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.

Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der Unterrichtsstunden
stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein Rottenmeier sich von
den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich erholt hatte, berief
sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer herauf, um hier eine
gründliche Untersuchung über die strafwürdigen Vorgänge anzustellen.
Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die
sämtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigeführt hatte. Fräulein
Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung da und konnte erst keine Worte für
ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, dass Sebastian und
Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das
neben Klaras Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen
hatte.

»Adelheid«, begann sie mit strengem Ton, »ich weiß nur _eine_ Strafe,
die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir
wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten
nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen
lässt.«

Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem
schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum in
der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen
Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und
einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen.

Aber Klara erhob einen lauten Jammer: »Nein, nein, Fräulein
Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja
geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzählen,
und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll.«

Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts einwenden,
umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie stand auf
und sagte etwas grimmig: »Gut, Klara, aber auch ich werde ein Wort mit
Herrn Sesemann sprechen.« Damit verließ sie das Zimmer.

Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein Rottenmeier
kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat ihr die
Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit erlebt hatte,
und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause Sesemann
alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara
war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr, denn in den
Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen; die
Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie
kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklären und
Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und
als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel sprach
dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: »Es ist eine Geiß!«,
oder: »Es ist ein Raubvogel!« Denn die Beschreibungen weckten in
seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den
späteren Nachmittagsstunden saß Heidi wieder bei Klara und erzählte
ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange,
bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, dass es immer zum
Schluss versicherte: »Nun muss ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich
gewiss gehen!« Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfälle
und bewies Heidi, dass es doch sicher dableiben müsse, bis der Papa
komme; dann werde man schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi
alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half
ihm eine fröhliche Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit
jedem Tage, den es noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die
Großmutter wieder um zwei größer würde, denn mittags und abends lag
immer ein schönes Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es
gleich ein, denn es hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken,
dass die Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast
nicht mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar
Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn
dass es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf
der Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit
Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch
nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette
eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr
immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in höhnischem Ton mit
ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi verstand ihre Art ganz
gut, und dass sie es nur immer ausspottete. So saß Heidi täglich da
und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die Alm wieder grün war
und wie die gelben Blümchen im Sonnenschein glitzerten und wie alles
leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze
weite Tal, und Heidi konnte es manchmal fast nicht mehr aushalten vor
Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es
könne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines
Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen
in das große rote Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf
und zog aus. Aber schon unter der Haustür traf es auf ein großes
Reisehindernis, auf Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem
Ausgang zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen
Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem
gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.

»Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich dir
nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du's
doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine Landstreicherin.«

»Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen«,
entgegnete Heidi erschrocken.

»Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?« Fräulein Rottenmeier
schlug die Hände zusammen vor Aufregung. »Fortlaufen! Wenn das Herr
Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, dass er das
je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst
du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an
irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen
Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? Sag!«

»Nein«, entgegnete Heidi.

»Das weiß ich wohl!«, fuhr die Dame eifrig fort. »Nichts fehlt dir,
gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!«

Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
hervor: »Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet mich,
und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter keinen Käse
bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne gute Nacht
sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt obenüber
fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass so viele
Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und nicht auf den
Felsen gehen, wo es einem wohl ist.«

»Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!«, rief Fräulein
Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
»Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!«, rief sie
ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.

»Ja, ja, schon recht, danke schön«, gab Sebastian zurück und rieb sich
den seinen, denn er war noch härter angefahren.

Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

»Na, schon wieder was angestellt?«, fragte Sebastian lustig; als
er aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: »Pah! Pah! Das muss
sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist
die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf
gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na? Immer noch auf
demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's befohlen.«

Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu sehen;
er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: »Nur
nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer darauf zu!
Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen, hat noch gar nie
geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwölfmal im Tag in
dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind auch lustig droben, die
springen auf dem ganzen Estrich herum und tun wie närrisch. Nachher
gehen wir mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame
drinnen weg ist, ja?«

Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.

Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
Tasche gesteckt.

Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden,
was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und beruhigte
Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die
Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings
eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand,
so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung
das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was er im Auge habe; er
finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht über das Abc
hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande
sei.

Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf,
und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor Herr
Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber an Klara
mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge
Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte, verfügte sich die Dame in
Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen,
was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber
in wenig Minuten kam sie wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. »Was
muss ich entdecken, Adelheid!«, rief sie aus. »Es ist nie dagewesen!
In deinem Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß
dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot,
sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
aufspeichern!« - »Tinette«, rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
»schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und
den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!«

»Nein! Nein!«, schrie Heidi auf; »ich muss den Hut haben, und die
Brötchen sind für die Großmutter«, und Heidi wollte der Tinette
nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.

»Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört«,
sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich Heidi
an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an,
immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums andere in
seinem Jammer auf: »Nun hat die Großmutter keine Brötchen mehr. Sie
waren für die Großmutter, nun sind sie alle fort und die Großmutter
bekommt keine!«, und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz
zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst
und bange bei dem Jammer. »Heidi, Heidi, weine nur nicht so«, sagte
sie bittend, »hör mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich verspreche
dir, ich gebe dir gerade so viel Brötchen für die Großmutter, oder
noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und
weich, und die deinen wären ja ganz hart geworden und waren es schon.
Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!«

Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber
es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es gar
nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch mehrere Male
seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten Anfälle von
Schluchzen unterbrochen, fragen: »Gibst du mir so viele, viele, wie
ich hatte, für die Großmutter?«

Und Klara versicherte immer wieder: »Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
sei nur wieder froh!«

Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es
sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen.
Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich
am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die
merkwürdigsten Gebärden, wenn er in Heidis Nähe kam; er deutete bald
auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff
die Augen zu, so als wollte er sagen: »Nur getrost! Ich hab's schon
gemerkt und besorgt.«

Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt;
er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese
gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er
Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit
ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er schnell dieses
weggenommen und ihr zugerufen: »Das will ich schon forttun.« Darauf
hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim
Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.



Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört
hat

Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn eben
war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem bepackten
Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der anderen
hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge schöner
Sachen mit nach Hause.

Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten, um
sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des späten
Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara begrüßte ihren
Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn sehr, und der gute
Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte
er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich leise in eine Ecke
zurückgezogen hatte, und sagte freundlich: »Und das ist unsre kleine
Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So ist's recht! Nun sag
mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen, Klara und du? Nicht
zanken und böse werden, und dann weinen und dann versöhnen, und dann
wieder von vorn anfangen, nun?«

»Nein, Klara ist immer gut mit mir«, entgegnete Heidi.

»Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa«, warf Klara
schnell ein.

»So ist's gut, das hör ich gern«, sagte der Papa, indem er aufstand.
»Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße; heute
habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu dir und du
sollst sehen, was ich mitgebracht habe!«

Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem Herr
Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen
hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte sich der
Hausherr zu ihr: »Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich denken?
Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht
aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter.«

»Herr Sesemann«, begann die Dame mit gewichtigem Ernst, »Klara ist mit
betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden.«

»Wieso?«, fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen Schluck
Wein.

»Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie sehr
Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte
ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem
ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen
ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen,
sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.«

»Ich glaube zwar«, bemerkte hier Herr Sesemann, »dass auch die
Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße.«

»Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl«, fuhr das Fräulein
fort; »Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns
vorüberziehen.«

»Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
Fräulein Rottenmeier?«

»Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
getäuscht worden.«

»Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht
mir das Kind nicht aus«, bemerkte ruhig Herr Sesemann.

»Sie sollten nur _eines_ wissen, Herr Sesemann, nur das _eine_, mit
was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit
bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen.«

»Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?«

»Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem _einen_ Punkte, dass es
Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat.«

Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig gehalten;
aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja für seine
Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute
Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst
versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken
sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der Herr Kandidat
angemeldet.

»Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!«,
rief ihm Herr Sesemann entgegen. »Kommen Sie, kommen Sie, setzen
Sie sich zu mir!« Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
entgegen. »Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee mit
mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich - keine
Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist mit dem
Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen ist und das
Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit den Tieren, die
es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem Verstand?«

Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr
Kandidat: »Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel
der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlässigte
Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten Unterricht verursacht
und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder
Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten Seiten unstreitig
dartuende Abgeschiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher,
wenn er nicht eine gewisse Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine
gute Seite -«

»Mein lieber Herr Kandidat«, unterbrach hier Herr Sesemann, »Sie geben
sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind
einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten
Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?«

»Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten«, begann
der Herr Kandidat wieder, »denn wenn es auch auf der einen Seite in
einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr
oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das junge Mädchen bis zu
dem Augenblick seiner Versetzung nach Frankfurt sich bewegte, welche
Versetzung allerdings in die Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch
völlig, wenigstens teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht
zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet
-«

»Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
stören, ich werde - ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
sehen.« Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht wieder.
Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Töchterchen hin;
Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um:
»Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell - wart einmal - hol mir mal« -
(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber
ein wenig ausgeschickt werden) - »hol mir doch mal ein Glas Wasser.«

»Frisches?«, fragte Heidi.

»Jawohl! Jawohl! Recht frisches!«, gab Herr Sesemann zurück. Heidi
verschwand.

»Nun, mein liebes Klärchen«, sagte der Papa, indem er ganz nah an sein
Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte, »sag du
mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine Gespielin ins
Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier denken, sie sei
zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das sagen?«

Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis
sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle einen
Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von der
Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis Reden,
welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr Sesemann
herzlich. »So willst du nicht, dass ich das Kind nach Haus schicke,
Klärchen, du bist seiner nicht müde?«, fragte der Vater.

»Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!«, rief Klara abwehrend aus.
»Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi
erzählt mir auch so viel.«

»Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin schon
wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?«, fragte Herr Sesemann,
da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.

»Ja, frisch vom Brunnen«, antwortete Heidi.

»Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?«, sagte Klara.

»Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße ganz
hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in
die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit
den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen.«

»Na, die Expedition ist gut«, lachte Herr Sesemann, »und wer ist denn
der Herr?«

»Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: >Weil
du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst
du dein Glas Wasser?< Und ich sagte: >Herrn Sesemann.< Da lachte er
sehr stark, und dann sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann
solle sich's schmecken lassen.«

»So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der
Herr denn weiter aus?«, fragte Herr Sesemann.

»Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes
Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf seinem Stock ist
ein Rosskopf.«

»Das ist der Herr Doktor« - »Das ist mein alter Doktor«, sagten Klara
und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch
ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen
Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich zuführen
zu lassen.

Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein
mit Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
angenehmer als jede andere. »Ich wünsche daher«, setzte Herr Sesemann
sehr bestimmt hinzu, »dass dieses Kind jederzeit durchaus freundlich
behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet
werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden,
Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe für Sie in Aussicht,
da in nächster Zeit meine Mutter zu ihrem längeren Aufenthalt in mein
Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig, wie er
sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?«

»Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann«, entgegnete die Dame, aber nicht
mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte
Hilfe. -

Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause, schon
nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach Paris,
und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise nicht
einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der
Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.

Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten
Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den
folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt
würde, um sie abzuholen.

Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
dass Heidi auch anfing, von der >Großmama< zu reden, worauf Fräulein
Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was aber das Kind auf
nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich unter fortdauernder
Missbilligung der Dame. Als es sich dann später entfernte, um in sein
Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier es erst in das
ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe niemals den Namen
>Großmama< anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es
sie stets >gnädige Frau< anzureden. »Verstehst du das?«, fragte die
Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen
so abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.



Eine Großmama

Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen
im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, dass die
erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und
dass jedermann großen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz
neues, weißes Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte
eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden
Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen
finde, wohin sie sich auch setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging
zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um
anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die
ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei.

Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau
Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein
Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn
die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein
sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte seine
Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte die Tinette den Kopf
ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und sagte kurz angebunden wie
immer: »Hinübergehen ins Studierzimmer!«

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der
Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn
es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und nachher den
Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tür
zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher
Stimme entgegen: »Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und
lass dich recht ansehen.«

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich:
»Guten Tag, Frau Gnädige.«

»Warum nicht gar!«, lachte die Großmama. »Sagt man so bei euch? Hast
du das daheim auf der Alp gehört?«

»Nein, bei uns heißt niemand so«, erklärte Heidi ernsthaft.

»So, bei uns auch nicht«, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi
freundlich auf die Wange. »Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich
die Großmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten,
wie?«

»Ja, das kann ich gut«, versicherte Heidi, »vorher hab ich schon immer
so gesagt.«

»So, so, verstehe schon!«, sagte die Großmama und nickte ganz lustig
mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu
Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in
die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi
ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi so, dass es
sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schöne weiße Haare, und
um den Kopf ging eine schöne Spitzenkrause, und zwei breite Bänder
flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer irgendwie, so als
ob stets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz
besonders anmutete.

»Und wie heißt du, Kind?«, fragte jetzt die Großmama.

»Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will ich
schon Acht geben -«; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein wenig
schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
Rottenmeier unversehens rief: »Adelheid!«, indem es ihm noch immer
nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.

»Frau Sesemann wird unstreitig billigen«, fiel hier die eben
Eingetretene ein, »dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
Dienstboten willen.«

»Werteste Rottenmeier«, entgegnete Frau Sesemann, »wenn ein Mensch
einmal >Heidi< heißt und an den Namen gewöhnt ist, so nenn ich ihn so,
und dabei bleibt's!«

Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da
war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege,
und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne
hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was
im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.

Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
schon wieder auf - denn sie war gleich wieder munter - und trat ins
Esszimmer hinaus; da war niemand. »Die schläft«, sagte sie vor sich
hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte
kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr
erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.

»Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte
ich wissen«, sagte Frau Sesemann.

»In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann sollte
nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt
und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum
erzählen könnte.«

»Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie dieses
Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie Sie mein
Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir
das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube, ich will ihm
einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe.«

»Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!«, rief Fräulein
Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. »Was sollte das Kind
mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das
Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur _einen_
Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser
treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besäße, er
hätte diesen Unterricht längst aufgegeben.«

»So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das
Abc nicht erlernen kann«, sagte Frau Sesemann. »Jetzt holen Sie mir's
herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen.«

Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann
hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste
sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis Beschränktheit
und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn
Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr
schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf,
überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite,
um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu werden, denn seine
Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah, welche
die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als
die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick
schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm plötzlich die hellen
Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die
Großmama schaute das Bild an. Es war eine schöne, grüne Weide, wo
allerlei Tierlein herumweideten und an den grünen Gebüschen nagten. In
der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestützt, der schaute
den fröhlichen Tierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn
hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. »Komm, komm, Kind«, sagte sie in
freundlichster Weise, »nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl
an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte
dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schöne
Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzählen.
Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen, trockne schön deine
Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht
ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir wieder fröhlich.«

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur
sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: »So, nun ist's gut, nun sind
wir wieder froh zusammen.«

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: »Nun musst du mir
was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?«

»O nein«, antwortete Heidi seufzend; »aber ich wusste schon, dass man
es nicht lernen kann.«

»Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?«

»Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer.«

»Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?«

»Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.«

»So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss
nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss
selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken
dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben angesehen.«

»Es nützt nichts«, versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung
in das Unabänderliche.

»Heidi«, sagte nun die Großmama, »jetzt will ich dir etwas sagen: Du
hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun
aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du
in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge von Kindern,
die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du
wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst - du hast den
Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide -; sobald du nun lesen
kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte
vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte, alles, was er
macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge
begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?«

Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: »Oh, wenn ich nur
schon lesen könnte!«

»Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann ich
schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen; komm,
die schönen Bücher nehmen wir mit.« Damit nahm die Großmama Heidi bei
der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.

Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie
schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und
wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem
Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es nicht
heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern
dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für
immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr undankbar
von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich
aus, dass die Großmama und Klara auch so denken würden. So durfte
es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen möchte, denn dass die
Großmama, die so freundlich mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein
Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in
seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es
konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher.
Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald
es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig
vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen;
und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten
Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der
Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller
Freude hinausspringen aus der Hütte - da war es auf einmal in seinem
großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr
heim. Dann drückte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte
lang, ganz leise, dass niemand es höre.

Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ einige
Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und das Kind
sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es aber gleich
blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon sehen konnte,
dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das Kind wieder
in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit großer
Freundlichkeit: »Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast du einen
Kummer?«

Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich
so undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: »Man kann es nicht sagen.«

»Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?«, fragte die Großmama.

»O nein, keinem Menschen«, versicherte Heidi und sah dabei so
unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.

»Komm, Kind«, sagte sie, »ich will dir was sagen: Wenn man einen
Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem
lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann
allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht wahr? Du
betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und dankst ihm für
alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem Bösen behüte?«

»O nein, das tu ich nie«, antwortete das Kind.

»Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?«

»Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
lang, und jetzt habe ich es vergessen.«

»Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar
niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das
tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und quält und
man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles
sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen
kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh
macht.«

Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: »Darf man ihm alles, alles
sagen?«

»Alles, Heidi, alles.«

Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
»Kann ich gehen?«

»Gewiss! Gewiss!«, gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
Großvater. -

Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem Tage,
als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine Aufwartung zu
machen, indem er eine Besprechung über einen merkwürdigen Gegenstand
mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde auf ihre Stube berufen, und
hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau Sesemann sogleich freundlich
die Hand entgegen: »Mein lieber Herr Kandidat, seien Sie mir
willkommen! Setzen Sie sich her zu mir, hier« - sie rückte ihm den
Stuhl zurecht. »So, nun sagen Sie mir, was bringt Sie zu mir; doch
nichts Schlimmes, keine Klagen?«

»Im Gegenteil, gnädige Frau«, begann der Herr Kandidat; »es ist etwas
vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner, der einen
Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn nach allen
Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine völlige
Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich geschehen ist und
in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleichsam im Gegensatz
zu allem folgerichtig zu Erwartenden -«

»Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?«,
setzte hier Frau Sesemann ein.

In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.

»Es ist ja wirklich völlig wunderbar«, sagte er endlich, »nicht nur,
dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen, und
ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern auch
und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich
entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne
alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten
Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozusagen
über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit einer
Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten
vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die Wahrnehmung, dass
die gnädige Frau gerade diese fern liegende Tatsache als Möglichkeit
vermutete.«

»Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben«, bestätigte
Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; »es können auch einmal zwei
Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue
Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt
wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten
Fortgang hoffen.«

Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las
dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen
und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm
aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben
Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu
herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben Abend, als man sich
zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen
mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte,
sagte diese freundlich nickend: »Ja, ja, nun gehört es dir.«

»Für immer? Auch wenn ich heimgehe?«, fragte Heidi ganz rot vor
Freude.

»Gewiss, für immer!«, versicherte die Großmama; »morgen fangen wir an
zu lesen.«

»Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi«, warf Klara
hier ein; »wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst du erst
recht bei mir bleiben.«

Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes
Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem
Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen
die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: »Nun
liest uns Heidi vor«, so war das Kind sehr beglückt, denn das Lesen
ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas,
so kamen sie ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die
Großmama erklärte dann noch so vieles und erzählte immer noch mehr
dazu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide und
den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen
langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen
Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach,
weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus
weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten musste
und ganz mager geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu
essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so
golden, da war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild
zu der Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus
dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen,
um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da
waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei dem
Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell
dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer
Abreise bestimmt hatte.



Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf Minuten
war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihre Stube
berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei Weise beschäftigt
und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte
dem Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzchen macht, und ganz
unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen
Frauenzimmern die schönsten Röcke und Mäntelchen, denn die Großmama
hatte immer Zeugstücke von den prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen
konnte, durfte es auch immer wieder der Großmama seine Geschichten
vorlesen; das machte ihm die größte Freude, denn je mehr es seine
Geschichten las, desto lieber wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles
ganz mit durch, was die Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es
zu ihnen allen ein sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder,
bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine
lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit seinem
großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es ganz nahe
zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: »Nun komm, Kind, und
sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du immer noch denselben
Kummer im Herzen?«

»Ja«, nickte Heidi.

»Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?«

»Ja.«

»Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
mache?«

»O nein, ich bete jetzt gar nie mehr.«

»Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du denn
nicht mehr?«

»Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube es
auch wohl«, fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, »wenn nun am Abend
so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so kann der
liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiss gar
nicht gehört.«

»So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?«

»Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
liebe Gott hat es nie getan.«

»Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du,
der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß, was
gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas
von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt er uns das
nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht
herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles
Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten
wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich; der liebe
Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf einmal anhören
und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe Gott und nicht ein
Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl wusste, was für dich gut
ist, dachte er bei sich: >Ja, das Heidi soll schon einmal haben, wofür
es bittet, aber erst dann, wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber
recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es
merkt nachher, dass es doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen
Willen nicht getan, dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch
der liebe Gott nur nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so
gut, wie ich gemeint habe.< Und während nun der liebe Gott auf dich
niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm kommest
und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt, da bist
du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet und hast
den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn einer es so macht
und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr unter den Betenden,
so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen, wohin er will. Wenn es
ihm dabei aber schlecht geht und er jammert: >Mir hilft aber auch gar
niemand!<, dann hat keiner Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu
ihm: >Du bist ja selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen
konnte!< Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder ein
frohes Herz bekommen kannst?«

Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel in
sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.

»Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen«, sagte Heidi
reumütig.

»So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei
nur getrost!«, ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort in sein
Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und
bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder zu ihm
niederschauen möge. -

Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass sie
gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein trauriger Tag
sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute Großmama im
Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als wäre
alles vorüber, und solange noch der Tag währte, saßen Klara und Heidi
wie verloren da und wussten gar nicht, wie es nun weiter kommen
sollte.

Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
Buch unter dem Arm herein und sagte: »Ich will dir nun immer, immer
vorlesen; willst du, Klara?«

Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte schon
wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen
begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als es auf
einmal laut aufschrie: »Oh, nun ist die Großmutter tot!«, und in ein
jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las, war dem Heidi
volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun sei die
Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer lauterem
Weinen: »Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr
gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!«

Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war, dem
aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es sich
doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter, denn
der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter könne ja
sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater auch noch, und
wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so sei alles still
und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und könne niemals mehr
die sehen, die ihm lieb waren.

Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte
noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären, mit
angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte zu
schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: »Adelheid, nun ist des
grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch ein
einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen den Lauf
lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für immer!«

Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch war
sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine Tränen und
schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter, so dass
kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi
weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte es
solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und nicht
aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: »Heidi, du machst
so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.« Aber die
Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame Rottenmeier nicht
auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit
niedergerungen hatte, kam alles wieder ins Geleise für einige Zeit
und war tonlos vorübergegangen. Aber seinen Appetit verlor Heidi so
sehr und sah so mager und bleich aus, dass der Sebastian fast nicht
ertragen konnte, das so mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie
Heidi bei Tisch die schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und
nichts essen wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn
er ihm eine Schüssel hinhielt: »Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!«, und
dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi aß fast
gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen legte, so
hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war, und nur ganz
leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen hinein, so dass es
gar niemand hören konnte.

So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer oder
Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen Fenstern des
Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und hinaus kam es
nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit
ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara
konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern
und Steinstraßen heraus, sondern kehrte gewöhnlich vorher wieder um
und fuhr immerfort durch große, schöne Straßen, wo Häuser und Menschen
in Fülle zu sehen waren, aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen
und keine Berge, und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen
gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt
nur den Namen eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen
brauchte, so war schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi
hatte mit aller Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter
vergangen, und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen
Mauern am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe,
da der Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen die
Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht sehe; und
so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos niederkämpfend,
bis Klara wieder nach ihm rief.



Im Hause Sesemann spukt's

Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens schweigend
und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit der Dämmerung
von einem Zimmer ins andere oder über den langen Korridor ging,
schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und auch schnell
einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte jemand leise hinter
ihr herkommen und sie unversehens am Rock zupfen. So allein ging sie
aber nur noch in den bewohnten Räumen herum. Hatte sie auf dem oberen
Boden, wo die feierlich aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in
den unteren Räumen etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal
war, in dem jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und
die alten Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas von
dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette ihrerseits
machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten irgendein
Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und sagte ihm,
er habe sie zu begleiten, es möchte etwas herbeizubringen sein, das
sie nicht allein tragen könnte. Wunderbarerweise tat auch Sebastian
akkurat dasselbe; wurde er in die abgelegenen Räume geschickt, so
holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall
er nicht herbeischaffen könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte
immer ganz willig dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen
war, so dass jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als
denke der Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch
bald für denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben
zutrug, stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen
und schüttelte den Kopf und seufzte: »Dass ich das noch erleben
musste!«

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames und
Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft herunterkam,
stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war niemand zu
sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte. In
den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich mit Schrecken
alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu sehen, was alles
gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken
können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen entflohen; aber da war
gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hause nicht ein einziges
Ding. Abends wurde nicht nur die Tür doppelt zugeriegelt, sondern
es wurde noch der hölzerne Balken vorgeschoben - es half nichts:
Am Morgen stand die Tür weit offen; und so früh nun auch die ganze
Dienerschaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte - die
Tür stand offen, wenn auch ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und
Fenster und Türen an allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren.
Endlich fassten sich der Johann und der Sebastian ein Herz und machten
sich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht
unten in dem Zimmer, das an den großen Saal stieß, zuzubringen und zu
erwarten, was geschehe. Fräulein Rottenmeier suchte mehrere Waffen
des Herrn Sesemann hervor und übergab dem Sebastian eine große
Liqueurflasche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen
könne, wo sie nötig sei.

Die beiden setzten sich an dem festgesetzten Abend hin und fingen
gleich an, sich Stärkung zuzutrinken, was sie erst sehr gesprächig
und dann ziemlich schläfrig machte, worauf sie beide sich an die
Sesselrücken lehnten und verstummten. Als die alte Turmuhr drüben
zwölf schlug, ermannte sich Sebastian und rief seinen Kameraden an;
der war aber nicht leicht zu erwecken; sooft ihn Sebastian anrief,
legte er seinen Kopf von einer Seite der Sessellehne auf die andere
und schlief weiter. Sebastian lauschte nunmehr gespannt, er war nun
wieder ganz munter geworden. Es war alles mäuschenstill, auch von der
Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebastian entschlief nicht wieder,
denn jetzt wurde es ihm sehr unheimlich in der großen Stille, und er
rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an und rüttelte ihn
von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es droben schon ein Uhr
geschlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum klaren
Bewusstsein gekommen, warum er auf dem Stuhl sitze und nicht in seinem
Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal sehr tapfer empor und rief: »Nun,
Sebastian, wir müssen doch einmal hinaus und sehen, wie's steht; du
wirst dich ja nicht fürchten. Nur mir nach.«

Johann machte die leicht angelehnte Zimmertür weit auf und trat
hinaus. Im gleichen Augenblick blies aus der offenen Haustür ein
scharfer Luftzug her und löschte das Licht aus, das der Johann in
der Hand hielt. Dieser stürzte zurück, warf den hinter ihm stehenden
Sebastian beinah rücklings ins Zimmer hinein, riss ihn dann mit,
schlug die Tür zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüssel um,
solang er nur umging. Dann riss er seine Streichhölzer hervor und
zündete sein Licht wieder an. Sebastian wusste gar nicht recht, was
vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann stehend, hatte er den
Luftzug nicht so deutlich empfunden. Wie er aber jenen nun bei Licht
besah, tat er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß
und zitterte wie Espenlaub. »Was ist's denn? Was war denn draußen?«,
fragte der Sebastian teilnehmend.

»Sperrangelweit offen die Tür«, keuchte Johann, »und auf der Treppe
eine weiße Gestalt, siehst du, Sebastian, nur so die Treppe hinauf -
husch und verschwunden.«

Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt setzten sich
die beiden ganz nah zusammen und regten sich nicht mehr, bis dass der
neue Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig zu werden.
Dann traten sie zusammen hinaus, machten die weit offen stehende
Haustür zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein Rottenmeier Bericht zu
erstatten über das Erlebte. Die Dame war auch schon zu sprechen, denn
die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen
lassen. Sobald sie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, setzte
sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sesemann, wie er noch
keinen erhalten hatte; er möge sich nur sogleich, ohne Verzug,
aufmachen und nach Hause zurückkehren, denn da geschähen unerhörte
Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgeteilt sowie auch die
Nachricht, dass fortgesetzt die Tür jeden Morgen offen stehe; dass
also keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei dergestalt
allnächtlich offen stehender Hauspforte und dass man überhaupt nicht
absehen könne, was für dunkle Folgen dieser unheimliche Vorgang noch
nach sich ziehen könne. Herr Sesemann antwortete umgehend, es sei
ihm unmöglich, so plötzlich alles liegen zu lassen und nach Hause zu
kommen. Die Gespenstergeschichte sei ihm sehr befremdend, er hoffe
auch, sie sei vorübergehend; sollte es indessen keine Ruhe geben, so
möge Fräulein Rottenmeier an Frau Sesemann schreiben und sie fragen,
ob sie nicht nach Frankfurt zu Hilfe kommen wollte; gewiss würde seine
Mutter in kürzester Zeit mit den Gespenstern fertig, und diese trauten
sich nachher sicher so bald nicht wieder, sein Haus zu beunruhigen.
Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieses Briefes;
die Sache war ihr zu wenig ernst aufgefasst. Sie schrieb unverzüglich
an Frau Sesemann, aber von dieser Seite her tönte es nicht eben
befriedigender, und die Antwort enthielt einige ganz anzügliche
Bemerkungen. Frau Sesemann schrieb, sie gedenke nicht, extra von
Holstein nach Frankfurt hinunterzureisen, weil die Rottenmeier
Gespenster sehe. Übrigens sei niemals ein Gespenst gesehen worden im
Hause Sesemann, und wenn jetzt eines darin herumfahre, so könne es nur
ein lebendiges sein, mit dem die Rottenmeier sich sollte verständigen
können; wo nicht, so solle sie die Nachtwächter zu Hilfe rufen.

Aber Fräulein Rottenmeier war entschlossen, ihre Tage nicht mehr in
Schrecken zuzubringen, und sie wusste sich zu helfen. Bis dahin hatte
sie den beiden Kindern nichts von der Geistererscheinung gesagt, denn
sie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und Nacht keinen
Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte sehr unbequeme
Folgen für sie haben. Jetzt ging sie stracks ins Studierzimmer
hinüber, wo die beiden zusammensaßen, und erzählte mit gedämpfter
Stimme von den nächtlichen Erscheinungen eines Unbekannten. Sofort
schrie Klara auf, sie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa
müsse nach Hause kommen und Fräulein Rottenmeier müsse zum Schlafen in
ihr Zimmer hinüberziehen, und Heidi dürfe auch nicht mehr allein sein,
sonst könne das Gespenst einmal zu ihm kommen und ihm etwas tun; sie
wollten alle in _einem_ Zimmer schlafen und die ganze Nacht das Licht
brennen lassen, und Tinette müsste nebenan schlafen und der Sebastian
und der Johann müssten auch herunterkommen und auf dem Korridor
schlafen, dass sie gleich schreien und das Gespenst erschrecken
könnten, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte. Klara war sehr
aufgeregt und Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, sie
etwas zu beschwichtigen. Sie versprach ihr, sogleich an den Papa zu
schreiben und auch ihr Bett in Klaras Zimmer stellen und sie nie mehr
allein lassen zu wollen. Alle konnten sie nicht in demselben Raume
schlafen, aber wenn Adelheid sich auch fürchten sollte, so müsste
Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufschlagen. Aber Heidi fürchtete sich
mehr vor der Tinette als vor Gespenstern, von denen das Kind noch
gar nie etwas gehört hatte, und es erklärte gleich, es fürchte das
Gespenst nicht und wolle schon allein in seinem Zimmer bleiben.
Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren Schreibtisch und
schrieb an Herrn Sesemann, die unheimlichen Vorgänge im Hause, die
allnächtlich sich wiederholten, hätten die zarte Konstitution seiner
Tochter dergestalt erschüttert, dass die schlimmsten Folgen zu
befürchten seien; man habe Beispiele von plötzlich eintretenden
epileptischen Zufällen oder Veitstanz in solchen Verhältnissen, und
seine Tochter sei allem ausgesetzt, wenn dieser Zustand des Schreckens
im Hause nicht gehoben werde.

Das half. Zwei Tage darauf stand Herr Sesemann vor seiner Tür und
schellte dergestalt an seiner Hausglocke, dass alles zusammenlief und
einer den anderen anstarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun
lasse der Geist frecherweise noch vor Nacht seine boshaften Stücke
aus. Sebastian guckte ganz behutsam durch einen halb geöffneten Laden
von oben herunter; in dem Augenblick schellte es noch einmal so
nachdrücklich, dass jeder unwillkürlich eine Menschenhand hinter dem
tüchtigen Ruck vermutete. Sebastian hatte die Hand erkannt, stürzte
durchs Zimmer, kopfüber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf
die Füße und riss die Haustür auf. Herr Sesemann grüßte kurz und stieg
ohne weiteres nach dem Zimmer seiner Tochter hinauf. Klara empfing den
Papa mit einem lauten Freudenruf, und als er sie so munter und völlig
unverändert sah, glättete sich seine Stirn, die er vorher sehr
zusammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr selbst
hörte, sie sei so wohl wie immer und sie sei so froh, dass er gekommen
sei, dass es ihr jetzt ganz recht sei, dass ein Geist im Haus
herumfahre, weil er doch daran schuld sei, dass der Papa heimkommen
musste.

»Und wie führt sich das Gespenst weiter auf, Fräulein Rottenmeier?«,
fragte nun Herr Sesemann mit einem lustigen Ausdruck in den
Mundwinkeln.

»Nein, Herr Sesemann«, entgegnete die Dame ernst, »es ist kein Scherz.
Ich zweifle nicht daran, dass morgen Herr Sesemann nicht mehr lachen
wird; denn was in dem Hause vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das
hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden
sein.«

»So, davon weiß ich nichts«, bemerkte Herr Sesemann, »muss aber
bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen.
Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will allein mit
ihm reden.«

Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn
Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich
nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine Gedanken.

»Komm Er her, Bursche«, winkte er dem Eintretenden entgegen, »und sag
Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst
gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?«

»Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist
mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache«, entgegnete Sebastian
mit unverkennbarer Ehrlichkeit.

»Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen
Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich,
Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern
davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor
Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut Abend neun Uhr
bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu
konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er
solle sich richten! Verstanden, Sebastian?«

»Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich's gut
mache.« Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu
seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu
benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.

Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein
Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter
seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft
und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas ängstlich aus,
brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und
sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: »Nun, nun, für einen,
bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter.«

»Nur Geduld, Alter«, gab Herr Sesemann zurück; »derjenige, für den
du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst
abgefangen haben.«

»Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden
muss?«

»Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei
mir spukt's!«

Der Doktor lachte laut auf.

»Schöne Teilnahme das, Doktor!«, fuhr Herr Sesemann fort; »schade,
dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist fest
überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten
abbüßt.«

»Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?«, fragte der Doktor noch
immer sehr erheitert.

Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie
noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der Angabe
der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle Fälle
vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in das
Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr
unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der
Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des
Hausherrn zu erschrecken - dann könnte ein kleiner Schrecken, wie
ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein -; oder auch
es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an
Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu sein,
dass niemand sich herauswage - in diesem Falle könnte eine gute Waffe
auch nicht schaden.

Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe
hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und
Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen
schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte
nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden musste.
Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht
verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im
Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten.

Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht
in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst verscheuchen.
Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen
an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch hier und da dazwischen
einen guten Schluck, und so schlug es zwölf Uhr, eh sie sich's
versahen.

»Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht«, sagte
der Doktor jetzt.

»Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen«, entgegnete der Freund.

Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war
es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen. Auf
einmal hob der Doktor den Finger empor.

»Pst, Sesemann, hörst du nichts?«

Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie
der Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss
umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der
Hand nach seinem Revolver.

»Du fürchtest dich doch nicht?«, sagte der Doktor und stand auf.

»Behutsam ist besser«, flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit
der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den
Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und
Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.

Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein und
beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.

»Wer da?«, donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den ganzen
Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen
an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei.
Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute
mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und
zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten. Die
Herren schauten einander in großem Erstaunen an.

»Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine Wasserträgerin«,
sagte der Doktor.

»Kind, was soll das heißen?«, fragte nun Herr Sesemann. »Was wolltest
du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?«

Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos:
»Ich weiß nicht.«

Jetzt trat der Doktor vor: »Sesemann, der Fall gehört in mein Gebiet;
geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor
allem das Kind hinbringen, wo es hingehört.«

Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind
ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.

»Nicht fürchten, nicht fürchten«, sagte er freundlich im
Hinaufsteigen, »nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes
dabei, nur getrost sein.«

In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf
den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und
deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett
und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an
allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte
begütigend: »So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo
wolltest du denn hin?«

»Ich wollte gewiss nirgends hin«, versicherte Heidi; »ich bin auch gar
nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.«

»So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass du
deutlich etwas sahst und hörtest?«

»Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich sei
beim Großvater, und draußen hör ich's in den Tannen sausen und denke:
Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe geschwind
und mache die Tür auf an der Hütte und da ist's so schön! Aber wenn
ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.« Heidi fing schon an zu
kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufstieg.

»Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im
Rücken?«

»O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort.«

»Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher
lieber wieder zurückgeben?«

»Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte.«

»So, so, und weinst du denn so recht heraus?«

»O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.«

»Dann schluckst du's herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig!
Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?«

»O ja«, war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher
das Gegenteil.

»Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?«

»Immer auf der Alm.«

»So, da ist's doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig
langweilig, nicht?«

»O nein, da ist's so schön, so schön!« Heidi konnte nicht weiter; die
Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene
Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam stürzten ihm die
Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen
aus.

Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen
nieder und sagte: »So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts
schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen; morgen wird
alles gut.« Dann verließ er das Zimmer.

Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem harrenden
Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem mit
gespannter Erwartung Lauschenden: »Sesemann, dein kleiner Schützling
ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir allnächtlich
als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft
die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind
vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum Geripplein
abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also schnelle
Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade stattfindende
Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich, dass du sofort
das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzest; für das zweite
gibt's ebenfalls nur _eine_ Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach
reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept.«

Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das
Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: »Mondsüchtig! Krank! Heimweh!
Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand
sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind,
das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und
abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannst du nicht
verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das
Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach
es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will;
aber erst hilf du!«

»Sesemann«, entgegnete der Doktor ernsthaft, »bedenke, was du tust!
Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen
heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt
gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es
gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht - du willst
nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr
zurückkomme?«

Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: »Ja, wenn du so
redest, Doktor, dann ist nur _ein_ Weg, dann muss sofort gehandelt
werden.« Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes
und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu
besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen, denn
es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür, die
diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon der
helle Morgenschimmer herein.



Am Sommerabend die Alm hinan

Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und
wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier.
Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die
Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte
die Stimme des Hausherrn draußen: »Bitte sich zu beeilen und im
Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet
werden.«

Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf
des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie
aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und
angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam
durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht
hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.

Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller
Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen Glieder der
Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der betreffenden Zimmer
eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider
fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst habe
irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein Hilferuf. So kamen
sie nach und nach, einer schauerlicher aussehend als der andere,
herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin,
denn dieser ging frisch und munter im Esszimmer auf und ab und sah
keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde
sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie
nachher vorzuführen. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi
aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten.
Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base
im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war
unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es
musste, nur die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem
aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann
schrieb den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging
unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame, sie
habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die sämtliche
Habe des Schweizerkindes hineinzupacken - so nannte Herr Sesemann
gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war -, dazu
noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was Rechtes
mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor
sich gehen.

Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden
eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet,
er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen
Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie
eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte;
stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen
Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewältigen.
Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.

Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame
stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er
vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause
wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.
Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen
Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors
Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine
nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen
würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also
beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung
könne er nicht auf sich nehmen, und Klara müsse sich dareinfinden, sie
sehe ja ein, dass es nicht anders sein könne.

Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte
erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb
fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit
Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei
und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche,
begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi in ihr Zimmer
gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken könne, was ihr
Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte
Klara noch, dem Kinde eine schöne Aussteuer zurechtzumachen.
Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in großer Erwartung
im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewöhnliche Zeit einberufen
worden war, musste etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann
trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass
er wünsche, sie möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause
bringen. Die Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie
nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die
ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr vor
die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und
dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten
zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit großer
Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise
anzutreten, und morgen könnte sie noch weniger daran denken, und die
Tage darauf wäre es am allerunmöglichsten, um der darauf folgenden
Geschäfte willen, und nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr
Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base ohne weiteres.
Nun ließ er den Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich
unverzüglich zur Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach
Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich
wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den
Großvater werde diesem alles erklären.

»Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian«, schloss Herr Sesemann,
»und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich
Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte
vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden für das Kind;
für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes
Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollständig, dass nur
große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist das Kind zu Bett, so geht
Er und schließt von außen die Tür ab, denn das Kind wandert herum in
der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa
hinausginge und die Haustür aufmachen wollte; versteht Er das?«

»Ah! Ah! Ah! Das war's? So war's?«, stieß Sebastian jetzt in größter
Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen
über die Geistererscheinung.

»Ja, so war's! Das war's! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann kann
Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine lächerliche
Mannschaft.« Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich
hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.

Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und
wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: »Hätt ich mich
doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube
hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen,
was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!«, denn jetzt beleuchtete
die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit.

Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntagsröckchen
und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur
aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und
das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit
dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.

Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das
Frühstück bereitstand, und rief: »Wo ist das Kind?«

Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm >guten
Morgen< zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: »Nun, was sagst
du denn dazu, Kleine?«

Heidi blickte verwundert zu ihm auf.

»Du weißt am Ende noch gar nichts«, lachte Herr Sesemann. »Nun, heut
gehst du heim, jetzt gleich.«

»Heim?«, wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine
kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein
Herz von dem Eindruck gepackt.

»Nun, willst du etwa nichts wissen davon?«, fragte Herr Sesemann
lächelnd.

»O ja, ich will schon«, kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot
geworden.

»Gut, gut«, sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte
und Heidi winkte, dasselbe zu tun. »Und nun tüchtig frühstücken und
hernach in den Wagen und fort.«

Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch
zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung,
dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es vielleicht
wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustür stehen
werde.

»Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen«, rief Herr Sesemann
Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; »das Kind kann nicht essen,
begreiflicherweise. - Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt«,
setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.

Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war
ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.

»Komm, Heidi, komm«, rief ihm Klara entgegen. »Sieh, was ich dir habe
einpacken lassen, komm, freut's dich?«

Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und
Schürzen, Tücher und Nähgerät, »und sieh hier, Heidi«, und Klara hob
triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang
hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne, weiße,
runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in
ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen
mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: »Der Wagen ist
bereit!« - da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in
sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der Großmama liegen,
niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen,
weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde
in den Korb auf die Brötchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank
auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht
eingepackt hatte. Richtig - auch das alte rote Tuch lag noch da,
Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt
zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte
es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur
Erscheinung kam. Dann setzte es sein schönes Hütchen auf und verließ
sein Zimmer.

Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr
Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein
Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden.
Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte, nahm sie es schnell
aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.

»Nein, Adelheid«, sagte sie tadelnd, »so kannst du nicht reisen
von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht
mitzuschleppen. Nun lebe wohl.«

Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder
aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem
Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.

»Nein, nein«, sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, »das Kind
soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge
Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns darüber
nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.«

Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und
Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr
Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten,
sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte
ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle
Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es:
»Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch
vielmals danken.« Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern
Abend gesagt hatte: »Und morgen wird alles gut.« Nun war es so
gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.

Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die
Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch
einmal freundlich: »Glückliche Reise!«, und der Wagen rollte davon.

Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen
Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick
aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die Großmutter
waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von Zeit zu
Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi saß
mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es recht
zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater, auf
die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles vor
Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie alles
aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue Gedanken auf,
und auf einmal sagte es ängstlich: »Sebastian, ist auch sicher die
Großmutter auf der Alm nicht gestorben?«

»Nein, nein«, beruhigte dieser, »wollen's nicht hoffen, wird schon
noch am Leben sein.«

Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da guckte
es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der Großmutter
auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit sagte es
wieder: »Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen könnte, dass
die Großmutter noch am Leben ist.«

»Jawohl! Jawohl!«, entgegnete der Begleiter halb schlafend; »Wird
schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht.«

Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach
der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so
schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es
tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: »Erwachen! Erwachen! Gleich
aussteigen, in Basel angekommen!«

Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß
wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem
Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr, denn
nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal,
als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: »Maienfeld!«
Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch
überrascht worden war. Jetzt standen sie draußen, der Koffer mit
ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal hinein. Sebastian sah
ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber so sicher und ohne Mühe
weitergereist, als dass er nun eine Fußpartie unternehmen sollte, die
dazu noch mit einer Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich
und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch
halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig
um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach
dem >Dörfli<. Unweit des kleinen Stationsgebäudes stand ein kleiner
Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf diesen wurden von
einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit
der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und
brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dörfli vor.

»Hier sind alle Wege sicher«, war die kurze Antwort.

Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen könne,
ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen Koffer nach
dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann schaute nach dem
Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn
das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen,
da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so gab noch ein Wort das
andere, und endlich kamen die beiden überein, der Mann solle Kind und
Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne
das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt werden.

»Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die
Alm«, sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung
zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als
er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt
sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und überreichte
ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater und
erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die müsse
aber zuunterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die Brötchen,
und darauf müsse genau Acht gegeben werden, dass sie nicht verloren
gehe, denn darüber würde Herr Sesemann ganz fürchterlich böse und sein
Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das Mamsellchen nur ja
bedenken.

»Ich verliere sie schon nicht«, sagte Heidi zuversichtlich und steckte
die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein. Nun wurde
der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem
Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum
Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den
Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Führer war noch in der
Nähe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wusste, er
hätte eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der
Führer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der
Wagen rollte den Bergen zu, während Sebastian, froh über seine
Befreiung von der gefürchteten Bergreise, sich am Stationshäuschen
niedersetzte, um den zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.

Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine
Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie
jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi
gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich
vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu tun
haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder
heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespräch
an: »Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war, beim
Großvater?«

»Ja.«

»So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit her
heimkommst?«

»Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man
es in Frankfurt hat.«

»Warum läufst du denn heim?«

»Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht
heimgelaufen.«

»Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man
dir's erlaubt hat, heimzugehen?«

»Weil ich tausendmal lieber heimwill zum Großvater auf die Alm als
sonst alles auf der Welt.«

»Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst«, brummte der Bäcker;
»nimmt mich aber doch wunder«, sagte er dann zu sich selbst, »es kann
wissen, wie's ist.«

Nun fing er an zu pfeifen und sagte nichts mehr, und Heidi schaute
um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es
erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des
Falknis-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es wie
gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem Schritt
vorwärts wurde Heidis Erwartung gespannter, und es meinte, es müsse
vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz
oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte sich nicht, aber
alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli ein, eben schlug die
Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine Gesellschaft von
Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten
auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen
hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und
jeder wollte wissen, woher und wohin und wem beide zugehörten. Als
der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: »Danke, der
Großvater holt dann schon den Koffer«, und wollte davonrennen. Aber
von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen
fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit
einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, dass man ihm
unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und einer sagte zum
anderen: »Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle
Ursache.« Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der
Alm-Öhi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei als vorher und
mit keinem Menschen mehr ein Wort rede und ein Gesicht mache, als
wolle er am liebsten jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und
wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüsste wohin, so liefe es nicht
in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das
Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie alle, und
erzählte dann sehr geheimnisvoll, wie ein Herr das Kind bis nach
Maienfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und auch
gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein
Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher sagen, dass es
dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es selbst begehrt
habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht brachte eine
große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dörfli so
verbreitet, dass noch am gleichen Abend kein Haus daselbst war, in
dem man nicht davon redete, dass das Heidi aus allem Wohlleben zum
Großvater zurückbegehrt habe.

Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu
Zeit musste es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den
Atem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu
ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte
nur noch einen Gedanken: »Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben
unterdessen?« Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung
an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr,
immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. Jetzt war es oben -
vor Zittern konnte es fast die Tür nicht aufmachen - doch jetzt - es
sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da, völlig
außer Atem, und brachte keinen Ton hervor.

»Ach du mein Gott«, tönte es aus der Ecke hervor, »so sprang unser
Heidi herein, ach, wenn ich es noch ein Mal im Leben bei mir haben
könnte! Wer ist hereingekommen?«

»Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja«, rief Heidi jetzt und
stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Knie zu der Großmutter
heran, fasste ihren Arm und ihre Hände und legte sich an sie und
konnte vor Freude gar nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter so
überrascht, dass auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr
sie mit der Hand streichelnd über Heidis Kraushaare hin, und nun sagte
sie ein Mal über das andere: »Ja, ja, das sind seine Haare und es ist
ja seine Stimme, ach du lieber Gott, dass du mich das noch erleben
lässt!« Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudentränen
auf Heidis Hand nieder. »Bist du's auch, Heidi, bist du auch sicher
wieder da?«

»Ja, ja, sicher, Großmutter«, rief Heidi nun mit aller Zuversicht,
»weine nur nicht, ich bin ganz gewiss wieder da und komme alle Tage
zu dir und gehe nie wieder fort, und du musst auch manchen Tag kein
hartes Brot mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?«

Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brötchen nach dem andern aus,
bis es alle zwölf auf dem Schoß der Großmutter aufgehäuft hatte.

»Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!«, rief
die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brötchen und
immer noch eines folgte. »Aber der größte Segen bist du mir doch
selber, Kind!« Dann griff sie wieder in Heidis krause Haare und strich
über seine heißen Wangen und sagte wieder: »Sag noch ein Wort, Kind,
sag noch etwas, dass ich dich hören kann.«

Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe
ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe
nun gar nie die weißen Brötchen bekommen, und es könne nie, nie mehr
zu ihr gehen.

Jetzt trat Peters Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich
stehen vor Erstaunen. Dann rief sie: »Sicher, es ist das Heidi, wie
kann auch das sein!«

Heidi stand auf und gab ihr die Hand, und die Brigitte konnte sich gar
nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um das
Kind herum und sagte: »Großmutter, wenn du doch nur sehen könntest,
was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es aussieht; man
kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem Tisch gehört
dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin
aussiehst.«

»Nein, ich will nicht«, erklärte Heidi, »du kannst es haben, ich
brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes.« Damit machte
Heidi sein rotes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen daraus
hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt,
noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; es
hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim Abschied nachgerufen
hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi
sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer ans
Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte sagte, so einfältig müsse
es nicht sein, es sei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht;
man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen
und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle.
Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen leise
hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war.
Dann zog Heidi auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das
Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das
rote Halstuch, und nun fasste es die Hand der Großmutter und sagte:
»Jetzt muss ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu
dir; gute Nacht, Großmutter.«

»Ja, komm auch wieder, Heidi, komm auch morgen wieder«, bat die
Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das
Kind fast nicht loslassen.

»Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?«, fragte die
Brigitte.

»Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich vielleicht
nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin.«

Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Tür hinaus, und hier sagte
sie ein wenig geheimnisvoll zu ihm: »Den Rock hättest du schon
anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst musst du
dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm-Öhi sei jetzt immer bös
und rede kein Wort mehr.«

Heidi sagte >gute Nacht< und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am
Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war
auch drüben das große Schneefeld an der Schesaplana sichtbar geworden
und strahlte herüber. Heidi musste alle paar Schritte wieder stille
stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken beim
Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein roter Schimmer vor seinen Füßen auf das
Gras, es kehrte sich um, da - so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr
im Sinn gehabt und auch nie so im Traum gesehen - die Felshörner am
Falknis flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und
rosenrote Wolken zogen darüber hin; das Gras rings auf der Alm war
golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten
schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold. Heidi stand mitten
in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen
Tränen die Wangen herunter, und es musste die Hände falten und in den
Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, dass er es
wieder heimgebracht hatte und dass alles, alles noch so schön sei und
noch viel schöner, als es gewusst hatte, und dass alles wieder ihm
gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all der großen
Herrlichkeit, dass es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu
danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von
der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg hinan, dass es gar
nicht lange dauerte, so erblickte es oben die Tannenwipfel über dem
Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und auf der Bank an der
Hütte saß der Großvater und rauchte sein Pfeifchen, und über die Hütte
her wogten die alten Tannenwipfel und raschelten im Abendwind. Jetzt
rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Öhi nur recht sehen
konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn hin, warf
seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung
des Wiedersehens konnte es nichts sagen, als nur immer ausrufen:
»Großvater! Großvater! Großvater!«

Der Großvater sagte auch nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum
erstenmal wieder die Augen nass geworden, und er musste mit der Hand
darüber fahren. Dann löste er Heidis Arme von seinem Hals, setzte das
Kind auf seine Knie und betrachtete es einen Augenblick. »So, bist du
wieder heimgekommen, Heidi«, sagte er dann; »wie ist das? Besonders
hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?«

»O nein, Großvater«, fing Heidi nun mit Eifer an, »das musst du nicht
glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama und der
Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es fast gar nicht
mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein könnte, und ich
habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so hat es mich
gewürgt; aber ich habe gewiss nichts gesagt, weil es undankbar war.
Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz
früh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran - aber es
steht vielleicht alles in dem Brief« - damit sprang Heidi auf den
Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und
legte beide in die Hand des Großvaters.

»Das gehört dir«, sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf
die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu
sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.

»Meinst, du könntest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?«,
fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte
einzutreten. »Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein
ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.«

»Ich brauch es gewiss nicht, Großvater«, versicherte Heidi; »ein Bett
hab ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, dass ich
gewiss nie mehr andere brauche.«

»Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal
brauchen können.«

Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein,
wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und
die Leiter hinauf - aber da stand es plötzlich still und rief in
Betroffenheit von oben herunter: »Oh, Großvater, ich habe kein Bett
mehr!«

»Kommt schon wieder«, tönte es von unten herauf, »wusste ja nicht,
dass du wieder heimkommst; jetzt komm zur Milch!«

Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten
Platze, und nun erfasste es sein Schüsselchen und trank mit einer
Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in seinen Bereich
gekommen, und als es mit einem tiefen Atemzug das Schüsselchen
hinstellte, sagte es: »So gut wie unsere Milch ist doch gar nichts auf
der Welt, Großvater.«

Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoss Heidi
zur Tür hinaus. Da kam die ganze Schar der Geißen hüpfend, springend,
Sätze machend von der Höhe herunter, mittendrin der Peter. Als er
Heidi ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt
stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: »Guten Abend, Peter!«,
und stürzte mitten in die Geißen hinein: »Schwänli! Bärli! Kennt
ihr mich noch?«, und die Geißlein mussten seine Stimme gleich
erkannt haben, denn sie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen
an leidenschaftlich zu meckern vor Freude, und Heidi rief alle
nacheinander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und
drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf
und über zwei Geißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und sogar
das schüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigensinnigen
Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die
Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, dass
er es sei.

Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu
haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und wieder
und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor großer Liebe
und Zutraulichkeit der Geißen hin und her gedrängt und geschoben, bis
es nun ganz in Peters Nähe kam, der noch immer auf demselben Platze
stand.

»Komm herunter, Peter, und sag mir einmal guten Abend!«, rief ihm
Heidi jetzt zu.

»Bist denn wieder da?«, brachte er nun endlich in seinem Erstaunen
heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidis Hand, die dieses ihm
schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer
getan hatte bei der Heimkehr am Abend: »Kommst morgen wieder mit?«

»Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muss ich
zur Großmutter.«

»Es ist recht, dass du wieder da bist«, sagte der Peter und verzog
sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheurem Vergnügen, dann schickte
er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch
nie mit seinen Geißen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen
so weit gebracht hatte, dass sie sich um ihn sammelten, und Heidi,
den einen Arm um Schwänlis und den andern um Bärlis Kopf gelegt,
davonspazierte, da kehrten mit einem Male alle wieder um und liefen
den dreien nach. Heidi musste mit seinen zwei Geißen in den Stall
eintreten und die Tür zumachen, sonst wäre der Peter niemals mit
seiner Herde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte zurückkam,
da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und
duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber
hatte der Großvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet.
Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie
es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Während der Nacht
verließ der Großvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter
hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig
werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidis
Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft
hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen.
Aber Heidi schlief in einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt
herum, denn sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: Es
hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte
die Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.



Am Sonntag, wenn's läutet

Heidi stand unter den wogenden Tannen und wartete auf den Großvater,
der mitgehen und den Koffer vom Dörfli heraufholen wollte, während
es bei der Großmutter wäre. Das Kind konnte es fast nicht erwarten,
die Großmutter wieder zu sehen und zu hören, wie ihr die Brötchen
geschmeckt hatten, und doch wurde ihm wieder die Zeit nicht lang, denn
es konnte ja nicht genug die heimatlichen Töne von dem Tannenrauschen
über ihm und das Duften und Leuchten der grünen Weiden und der
goldenen Blumen darauf eintrinken.

Jetzt trat der Großvater aus der Hütte, schaute noch einmal rings um
sich und sagte dann mit zufriedenem Ton: »So, nun können wir gehen.«

Denn es war Sonnabend heut, und an dem Tage machte der Alm-Öhi alles
sauber und in Ordnung in der Hütte, im Stall und ringsherum, das war
seine Gewohnheit, und heut hatte er den Morgen dazu genommen, um
gleich nachmittags mit Heidi ausziehen zu können, und so sah nun
alles ringsherum gut und zu seiner Zufriedenheit aus. Bei der
Geißenpeter-Hütte trennten sie sich, und Heidi sprang hinein. Schon
hatte die Großmutter seinen Schritt gehört und rief ihm liebevoll
entgegen: »Kommst du, Kind? Kommst du wieder?«

Dann erfasste sie Heidis Hand und hielt sie ganz fest, denn immer noch
fürchtete sie, das Kind könnte ihr wieder entrissen werden. Und nun
musste die Großmutter erzählen, wie die Brötchen geschmeckt hätten,
und sie sagte, sie habe sich so daran erlabt, dass sie meine, sie sei
heute viel kräftiger als lang nicht mehr, und Peters Mutter fügte
hinzu, die Großmutter habe vor lauter Sorge, sie werde zu bald fertig
damit, nur ein einziges Brötchen essen wollen, gestern und heut
zusammen, und sie käme gewiss noch ziemlich zu Kräften, wenn sie so
acht Tage lang hintereinander jeden Tage eines essen wollte. Heidi
hörte der Brigitte mit Aufmerksamkeit zu und blieb jetzt noch eine
Zeit lang nachdenklich. Nun hatte es seinen Weg gefunden. »Ich weiß
schon, was ich mache, Großmutter«, sagte es in freudigem Eifer; »ich
schreibe der Klara einen Brief und dann schickt sie mir gewiss noch
einmal so viel Brötchen, wie da sind, oder zweimal, denn ich hatte
schon einen großen Haufen ganz gleiche im Kasten, und als man mir sie
weggenommen hatte, sagte Klara, sie gebe mir gerade so viele wieder,
und das tut sie schon.«

»Ach Gott«, sagte die Brigitte, »das ist eine gute Meinung; aber denk,
sie werden auch hart. Wenn man nur hier und da einen übrigen Batzen
hätte, der Bäcker unten im Dörfli macht auch solche, aber ich vermag
kaum das schwarze Brot zu bezahlen.«

Jetzt schoss ein heller Freudenstrahl über Heidis Gesicht: »Oh, ich
habe furchtbar viel Geld, Großmutter«, rief es jubelnd aus und hüpfte
vor Freuden in die Höhe, »jetzt weiß ich, was ich damit mache! Alle,
alle Tage musst du ein neues Brötchen haben und am Sonntage zwei, und
der Peter kann sie heraufbringen vom Dörfli.«

»Nein, nein, Kind!«, wehrte die Großmutter; »das kann nicht sein, das
Geld hast du nicht dazu bekommen, du musst es dem Großvater geben, er
sagt dir dann schon, was du damit machen musst.«

Aber Heidi ließ sich nicht stören in seiner Freude, es jauchzte und
hüpfte in der Stube herum und rief ein Mal übers andere: »Jetzt kann
die Großmutter jeden Tag ein Brötchen essen und wird wieder ganz
kräftig, und - oh, Großmutter«, rief es mit neuem Jubel, »wenn du
dann so gesund wirst, so wird es dir gewiss auch wieder hell, es ist
vielleicht nur, weil du so schwach bist.«

Die Großmutter schwieg still, sie wollte des Kindes Freude nicht
trüben. Bei seinem Herumhüpfen fiel dem Heidi auf einmal das alte
Liederbuch der Großmutter in die Augen, und es kam ihm ein neuer
freudiger Gedanke: »Großmutter, jetzt kann ich auch ganz gut lesen;
soll ich dir einmal ein Lied lesen aus deinem alten Buch?«

»O ja«, bat die Großmutter freudig überrascht; »kannst du das auch
wirklich, Kind, kannst du das?«

Heidi war auf einen Stuhl geklettert und hatte das Buch mit einer
dicken Staubwolke heruntergezogen, denn es hatte lange unberührt
gelegen da oben; nun wischte es Heidi sauber ab, setzte sich damit auf
seinen Schemel zur Großmutter hin und fragte, was es nun lesen solle.

»Was du willst, Kind, was du willst«, und mit gespannter Erwartung saß
die Großmutter da und hatte ihr Spinnrad ein wenig von sich geschoben.

Heidi blätterte und las leise hier und da eine Linie: »jetzt kommt
etwas von der Sonne, das will ich dir lesen, Großmutter.« Und Heidi
begann und wurde selbst immer eifriger und immer wärmer, während es
las:

    »Die güldne Sonne
    Voll Freud und Wonne
    Bringt unsern Grenzen
    Mit ihrem Glänzen
    Ein herzerquickendes, liebliches Licht.

    Mein Haupt und Glieder
    Die lagen darnieder;
    Aber nun steh ich,
    Bin munter und fröhlich,
    Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

    Mein Auge schauet,
    Was Gott gebauet
    Zu seinen Ehren,
    Und uns zu lehren,
    Wie sein Vermögen sei mächtig und groß.

    Und wo die Frommen
    Dann sollen hinkommen,
    Wenn sie mit Frieden
    Von hinnen geschieden
    Aus dieser Erde vergänglichem Schoß.

    Alles vergehet,
    Gott aber stehet
    Ohn alles Wanken,
    Seine Gedanken,
    Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.

    Sein Heil und Gnaden
    Die nehmen nicht Schaden,
    Heilen im Herzen,
    Die tödlichen Schmerzen,
    Halten uns zeitlich und ewig gesund.

    Kreuz und Elende -
    Das nimmt ein Ende,
    Nach Meeresbrausen
    Und Windessausen
    Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

    Freude die Fülle
    Und selige Stille
    Darf ich erwarten
    Im himmlischen Garten,
    Dahin sind meine Gedanken gericht'.«

Die Großmutter saß still da mit gefalteten Händen, und ein Ausdruck
unbeschreiblicher Freude, so wie ihn Heidi nie an ihr gesehen hatte,
lag auf ihrem Gesicht, obschon ihr die Tränen die Wangen herabliefen.
Als Heidi schwieg, bat sie mit Verlangen: »Oh, noch einmal, Heidi,
lass es mich noch einmal hören:

    >Kreuz und Elende
    Das nimmt ein Ende< -«

Und das Kind fing noch einmal an und las in eigener Freude und
Verlangen:

    »Kreuz und Elende -
    Das nimmt ein Ende,
    Nach Meeresbrausen
    Und Windessausen
    Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht.

    Freude die Fülle
    Und selige Stille
    Darf ich erwarten
    Im himmlischen Garten,
    Dahin sind meine Gedanken gericht'.«

»O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen! Oh, wie hast du
mir wohl gemacht, Heidi!«

Ein Mal ums andere sagte die Großmutter die Worte der Freude, und
Heidi strahlte vor Glück und musste sie nur immer ansehen, denn so
hatte es die Großmutter nie gesehen. Sie hatte gar nicht mehr das alte
trübselige Gesicht, sondern schaute so freudig und dankend auf, als
sähe sie schon mit neuen, hellen Augen in den schönen himmlischen
Garten hinein.

Jetzt klopfte es am Fenster, und Heidi sah den Großvater draußen, der
ihm winkte, mit heimzukommen. Es folgte schnell, aber nicht ohne die
Großmutter zu versichern, morgen komme es wieder, und auch wenn es
mit Peter auf die Weide gehe, so komme es doch im halben Tag zurück;
denn dass es der Großmutter wieder hell machen konnte und sie wieder
fröhlich wurde, das war nun für Heidi das allergrößte Glück, das es
kannte, noch viel größer, als auf der sonnigen Weide und bei den
Blumen und Geißen zu sein. Die Brigitte lief dem Heidi unter die Tür
nach mit Rock und Hut, dass es seine Habe mitnehme. Den Rock nahm es
auf den Arm, denn der Großvater kenne es jetzt schon, dachte es bei
sich; aber den Hut wies es hartnäckig zurück, die Brigitte sollte ihn
nur behalten, es setze ihn nie, nie mehr auf den Kopf. Heidi war so
erfüllt von seinen Erlebnissen, dass es gleich dem Großvater alles
erzählen musste, was ihm das Herz erfreute, dass man die weißen
Brötchen auch unten im Dörfli für die Großmutter holen könne, wenn man
nur Geld habe, und dass es der Großmutter auf einmal so hell und wohl
geworden war, und wie Heidi das alles zu Ende geschildert hatte,
kehrte es wieder zum Ersten zurück und sagte ganz zuversichtlich:
»Gelt, Großvater, wenn die Großmuttter schon nicht will, so gibst du
mir doch alles Geld in der Rolle, dass ich dem Peter jeden Tag ein
Stück geben kann zu einem Brötchen und am Sonntag zwei?«

»Aber das Bett, Heidi?«, sagte der Großvater; »ein rechtes Bett für
dich wäre gut, und nachher bleibt schon noch für manches Brötchen.«

Aber Heidi ließ dem Großvater keine Ruhe und bewies ihm, dass es auf
seinem Heubett viel besser schlafe, als es jemals in seinem Kissenbett
in Frankfurt geschlafen habe, und bat so eindringlich und unablässig,
dass der Großvater zuletzt sagte: »Das Geld ist dein, mach, was dich
freut; du kannst der Großmutter manches Jahr lang Brot holen dafür.«

Heidi jauchzte auf: »O juhe! Nun muss die Großmutter gar nie mehr
hartes, schwarzes Brot essen, und, o Großvater! Nun ist doch alles so
schön wie noch gar nie, seit wir leben!«, und Heidi hüpfte hoch auf
an der Hand des Großvaters und jauchzte in die Luft hinauf wie die
fröhlichen Vögel des Himmels. Aber auf einmal wurde es ganz ernsthaft
und sagte: »Oh, wenn nun der liebe Gott gleich auf der Stelle getan
hätte, was ich so stark erbetete, dann wäre doch alles nicht so
geworden, ich wäre nur gleich wieder heimgekommen und hätte der
Großmutter nur wenige Brötchen gebracht und hätte ihr nicht lesen
können, was ihr wohl macht; aber der liebe Gott hatte schon alles
ausgedacht, so viel schöner, als ich es wusste; die Großmama hat es
mir gesagt, und nun ist alles so gekommen. Oh, wie bin ich froh, dass
der liebe Gott nicht nachgab, wie ich so bat und jammerte! Aber jetzt
will ich immer so beten, wie die Großmama sagte, und dem lieben Gott
immer danken, und wenn er etwas nicht tut, das ich erbeten will, dann
will ich gleich denken: Es geht gewiss wieder wie in Frankfurt, der
liebe Gott denkt gewiss etwas viel Besseres aus. Aber wir wollen auch
alle Tage beten, gelt Großvater, und wir wollen es nie mehr vergessen,
damit der liebe Gott uns auch nicht vergisst.«

»Und wenn's einer doch täte?«, murmelte der Großvater.

»Oh, dem geht's nicht gut, denn der liebe Gott vergisst ihn dann auch
und lässt ihn ganz laufen, und wenn es ihm einmal schlecht geht und er
jammert, so hat kein Mensch Mitleid mit ihm, sondern alle sagen nur:
Er ist ja zuerst vom lieben Gott weggelaufen, nun lässt ihn der liebe
Gott auch gehen, der ihm helfen könnte.«

»Das ist wahr, Heidi, woher weißt du das?«

»Von der Großmama, sie hat mir alles erklärt.«

Der Großvater ging eine Weile schweigend weiter. Dann sagte er, seine
Gedanken verfolgend, vor sich hin: »Und wenn's einmal so ist, dann ist
es so; zurück kann keiner, und wen der Herrgott vergessen hat, den hat
er vergessen.«

»O nein, Großvater, zurück kann einer, das weiß ich auch von der
Großmama, und dann geht es so wie in der schönen Geschichte in meinem
Buch, aber die weißt du nicht; jetzt sind wir aber gleich daheim, und
dann wirst du schon erfahren, wie schön die Geschichte ist.«

Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die letzte Steigung
hinan, und kaum waren sie oben angelangt, als es des Großvaters Hand
losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb
von seinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem Koffer
hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer heraufzubringen wäre
ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich nachdenklich auf die Bank
nieder. Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem
Arm: »Oh, das ist recht, Großvater, dass du schon dasitzt«, und mit
einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte
aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder
gelesen, dass das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las
Heidi mit großer Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo
draußen auf des Vaters Feldern die schönen Kühe und Schäflein weideten
und er in einem schönen Mäntelchen, auf seinen Hirtenstab gestützt,
bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte,
wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. »Aber auf einmal wollte er
sein Hab und Gut für sich haben und sein eigener Meister sein und
forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verprasste alles. Und
als er gar nichts mehr hatte, musste er hingehen und Knecht sein bei
einem Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines
Vaters Feldern waren, sondern nur Schweinlein; diese musste er hüten,
und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern,
welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie
er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen
war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er
musste weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: >Ich will zu meinem
Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten und ihm sagen, ich bin nicht
mehr wert, dein Sohn zu heißen, aber lass mich nur dein Tagelöhner
bei dir sein.< Und wie er von ferne gegen das Haus seines Vaters kam,
da sah ihn der Vater und kam herausgelaufen - was meinst du jetzt,
Großvater?«, unterbrach sich Heidi in seinem Vorlesen; »jetzt meinst
du, der Vater sei noch böse und sage zu ihm: >Ich habe dir's ja
gesagt!Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und
vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.< Aber der Vater
sprach zu seinen Knechten: >Bringt das beste Kleid her und zieht es
ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße,
und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns
essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder
lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden
worden.< Und sie fingen an, fröhlich zu sein.«

»Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?«, fragte Heidi,
als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet hatte, er
werde sich freuen und verwundern.

»Doch, Heidi, die Geschichte ist schön«, sagte der Großvater; aber
sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine
Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Großvater
hin und sagte: »Sieh, wie es ihm wohl ist«, und zeigte mit seinem
Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben
dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn.

Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg
der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben
Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel.
Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht
vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des
Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden musste,
denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein
Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände,
und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: »Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu
heißen!« Und ein paar große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.
-

Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der
Alm-Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der
Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne
Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen
sangen die Vögel ihre Morgenlieder.

Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. »Komm, Heidi!«, rief er
auf den Boden hinauf. »Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röcklein an,
wir wollen in die Kirche miteinander!«

Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater,
dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen
in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb
Heidi vor seinem Großvater stehen und schaute ihn an. »O Großvater,
so hab ich dich nie gesehen«, brach es endlich aus, »und den Rock mit
den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so
schön in deinem schönen Sonntagsrock.«

Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: »Und du
in dem deinen; jetzt komm!« Er nahm Heidis Hand in die seine, und so
wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten
jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je
weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken und sagte: »Hörst
du's, Großvater? Es ist wie ein großes, großes Fest.«

Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben
zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf
der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen stieß der
zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte:
»Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in der Kirche!«

Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in kürzester
Zeit flüsterte es an allen Ecken: »Der Alm-Öhi! Der Alm-Öhi!«, und die
Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die
meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass der Vorsänger die
größte Mühe hatte, den Gesang schön aufrechtzuerhalten. Aber als dann
der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz
vorüber, denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten,
dass alle Zuhörer davon ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen
allen eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war,
trat der Alm-Öhi mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem
Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen
standen, schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her,
um zu sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann
sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer
Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen
war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der Öhi
wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und Hader oder im Frieden
mit dem Herrn Pfarrer, denn man wusste ja gar nicht, was den Alten
heruntergebracht hatte und wie es eigentlich gemeint sei. Aber doch
war schon bei vielen eine neue Stimmung eingetreten, und einer sagte
zum andern: »Es wird wohl mit dem Alm-Öhi nicht so bös sein, wie man
tut; man kann ja nur sehen, wie sorglich er das Kleine an der Hand
hält.« Und der andere sagte: »Das hab ich ja immer gesagt, und zum
Pfarrer hinein ginge er auch nicht, wenn er so bodenschlecht wäre,
sonst müsste er sich ja fürchten; man übertreibt auch viel.« Und der
Bäcker sagte: »Hab ich das nicht zuallererst gesagt? Seit wann läuft
denn ein kleines Kind, das zu essen und zu trinken hat, was es will,
und sonst alles Gute, aus alledem weg und heim zu einem Großvater,
wenn der bös und wild ist und es sich zu fürchten hat vor ihm?« Und
es kam eine ganz liebevolle Stimmung gegen den Alm-Öhi auf und nahm
überhand, denn jetzt nahten sich auch die Frauen herzu, und diese
hatten so manches von der Geißenpeterin und der Großmutter gehört, das
den Alm-Öhi ganz anders darstellte, als die allgemeine Meinung war,
und das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, dass es mehr und
mehr so wurde, als warteten sie alle da, um einen alten Freund zu
bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.

Der Alm-Öhi war unterdessen an die Tür der Studierstube getreten
und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem
Eintretenden entgegen, nicht überrascht, wie er wohl hätte sein
können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte
Erscheinung in der Kirche musste ihm nicht entgangen sein. Er ergriff
die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der größten
Herzlichkeit, und der Alm-Öhi stand schweigend da und konnte erst kein
Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er nicht
vorbereitet. Jetzt fasste er sich und sagte: »Ich komme, um den Herrn
Pfarrer zu bitten, dass er mir die Worte vergessen möchte, die ich zu
ihm auf der Alm geredet habe, und dass er mir nicht nachtragen wolle,
wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rat. Der Herr
Pfarrer hat ja in allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich
will jetzt seinem Rate folgen und auf den Winter wieder ein Quartier
im Dörfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist nichts für das Kind
dort oben, es ist zu zart, und wenn auch dann die Leute hier unten
mich von der Seite ansehen, so wie einen, dem nicht zu trauen ist, so
habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja
nicht tun.«

Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor Freude. Er nahm noch
einmal des Alten Hand und drückte sie in der seinen und sagte mit
Rührung: »Nachbar, Ihr seid in der rechten Kirche gewesen, noch eh Ihr
in die meinige herunterkamt; des freu ich mich, und dass Ihr wieder zu
uns kommen und mit uns leben wollt, soll Euch nicht gereuen, bei mir
sollt Ihr als ein lieber Freund und Nachbar alle Zeit willkommen sein,
und ich gedenke manches Winterabendstündchen fröhlich mit Euch zu
verbringen, denn Eure Gesellschaft ist mir lieb und wert, und für das
Kleine wollen wir auch gute Freunde finden.« Und der Herr Pfarrer
legte sehr freundlich seine Hand auf Heidis Krauskopf und nahm es bei
der Hand und führte es hinaus, indem er den Großvater fortbegleitete,
und erst draußen vor der Haustür nahm er Abschied, und nun konnten
alle die herumstehenden Leute sehen, wie der Herr Pfarrer dem Alm-Öhi
die Hand immer noch einmal schüttelte, gerade als wäre das sein bester
Freund, von dem er sich fast nicht trennen könnte. Kaum hatte dann
auch die Tür sich hinter dem Herrn Pfarrer geschlossen, so drängte die
ganze Versammlung dem Alm-Öhi entgegen, und jeder wollte der Erste
sein, und so viele Hände wurden miteinander dem Herankommenden
entgegengestreckt, dass er gar nicht wusste, welche zuerst ergreifen,
und einer rief ihm zu: »Das freut mich! Das freut mich, Öhi, dass Ihr
auch wieder einmal zu uns kommt!«, und ein anderer: »Ich hätte auch
schon lang gern wieder einmal ein Wort mit Euch geredet, Öhi!« Und so
tönte und drängte es von allen Seiten, und wie nun der Öhi auf alle
die freundlichen Begrüßungen erwiderte, er gedenke, sein altes
Quartier im Dörfli wieder zu beziehen und den Winter mit den alten
Bekannten zu verleben, da gab es erst einen rechten Lärm, und es war
gerade so, wie wenn der Alm-Öhi die beliebteste Persönlichkeit im
ganzen Dörfli wäre, die jeder mit Nachteil entbehrt hatte. Noch weit
an die Alm hinauf wurden Großvater und Kind von den meisten begleitet,
und beim Abschied wollte jeder die Versicherung haben, dass der
Alm-Öhi bald einmal bei ihm vorspreche, wenn er wieder herunterkomme;
und wie nun die Leute den Berg hinab zurückkehrten, blieb der Alte
stehen und schaute ihnen lange nach, und auf seinem Gesichte lag ein
so warmes Licht, als schiene bei ihm die Sonne von innen heraus. Heidi
schaute unverwandt zu ihm auf und sagte ganz erfreut: »Großvater, heut
wirst du immer schöner, so warst du noch gar nie.«

»Meinst du?«, lächelte der Großvater. »Ja, und siehst du, Heidi, mir
geht's auch heut über Verstehen und Verdienen gut, und mit Gott und
Menschen im Frieden stehen, das macht einem so wohl! Der liebe Gott
hat's gut mit mir gemeint, dass er dich auf die Alm schickte.«

Bei der Geißenpeter-Hütte angekommen, machte der Großvater gleich
die Tür auf und trat ein. »Grüß Gott, Großmutter«, rief er hinein;
»ich denke, wir müssen einmal wieder ans Flicken gehen, bevor der
Herbstwind kommt.«

»Du mein Gott, das ist der Öhi!«, rief die Großmutter voll freudiger
Überraschung aus. »Dass ich das noch erlebe! Dass ich Euch noch einmal
danken kann für alles, das Ihr für uns getan habt, Öhi! Vergelt's
Gott! Vergelt's Gott!«

Und mit zitternder Freude streckte die alte Großmutter ihre Hand aus,
und als der Angeredete sie herzlich schüttelte, fuhr sie fort, indem
sie die seinige fest hielt: »Und eine Bitte hab ich auch noch auf dem
Herzen, Öhi: Wenn ich Euch je etwas zuleid getan habe, so straft mich
nicht damit, dass Ihr noch einmal das Heidi fortlasst, bevor ich unten
bei der Kirche liege. Oh, Ihr wisst nicht, was mir das Kind ist!«,
und sie hielt es fest an sich, denn Heidi hatte sich schon an sie
geschmiegt.

»Keine Sorge, Großmutter«, beruhigte der Öhi; »damit will ich weder
Euch noch mich strafen. Jetzt bleiben wir alle beieinander und, will's
Gott, noch lange so.«

Jetzt zog die Brigitte den Öhi ein wenig geheimnisvoll in eine Ecke
hinein und zeigte ihm das schöne Federnhütchen und erzählte ihm, wie
es sich damit verhalte, und dass sie ja natürlich so etwas einem Kinde
nicht abnehme.

Aber der Großvater sah ganz wohlgefällig auf sein Heidi hin und sagte:
»Der Hut ist sein, und wenn es ihn nicht mehr auf den Kopf tun will,
so hat es Recht, und hat es ihn dir gegeben, so nimm ihn nur.«

Die Brigitte war höchlich erfreut über das unerwartete Urteil. »Er ist
gewiss mehr als zehn Franken wert, seht nur!«, und in ihrer Freude
streckte sie das Hütchen hoch auf. »Was aber auch dieses Heidi für
einen Segen von Frankfurt mit heimgebracht hat! Ich habe schon
manchmal denken müssen, ob ich nicht den Peterli auch ein wenig nach
Frankfurt schicken solle; was meint Ihr, Öhi?«

Dem Öhi schoss es ganz lustig aus den Augen. Er meinte, es könnte dem
Peterli nichts schaden; aber er würde doch eine gute Gelegenheit dazu
abwarten.

Jetzt fuhr der Besprochene eben zur Tür herein, nachdem er zuerst mit
dem Kopf so fest dagegen gerannt war, dass alles erklirrte davon; er
musste pressiert sein. Atemlos und keuchend stand er nun mitten in der
Stube still und streckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereignis,
das noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufschrift an das
Heidi, den man ihm auf der Post im Dörfli übergeben hatte. Jetzt
setzten sich alle voller Erwartung um den Tisch herum, und Heidi
machte seinen Brief auf und las ihn laut und ohne Anstoß vor. Der
Brief war von der Klara Sesemann geschrieben. Sie erzählte Heidi, dass
es seit seiner Abreise so langweilig geworden sei in ihrem Hause, sie
es nicht lang hintereinander so aushalten könne und so lange den Vater
gebeten habe, bis er die Reise ins Bad Ragaz schon auf den kommenden
Herbst festgestellt habe, und die Großmama wolle auch mitkommen, denn
sie wolle auch das Heidi und den Großvater besuchen auf der Alm. Und
weiter ließ die Großmama noch dem Heidi sagen, es habe Recht getan,
dass es der alten Großmutter die Brötchen habe mitbringen wollen, und
damit sie diese nicht trocken essen müsse, komme gleich der Kaffee
noch dazu, er sei schon auf der Reise, und wenn sie selbst nach der
Alm komme, so müsse das Heidi sie auch zur Großmutter führen.

Da gab es nun eine solche Freude und Verwunderung über diese
Nachrichten und so viel zu reden und zu fragen, da die große Erwartung
alle gleich betraf, dass selbst der Großvater nicht bemerkte, wie
spät es schon war, und so vergnügt und fröhlich waren sie alle in der
Aussicht auf die kommenden Tage und fast noch mehr in der Freude über
das Zusammensein an dem heutigen, dass die Großmutter zuletzt sagte:
»Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder
die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches
Gefühl ins Herz, dass wir einmal alles wieder finden, was uns lieb
ist. Ihr kommt doch bald wieder, Öhi, und das Kind morgen schon?«

Das wurde der Großmutter in die Hand hinein versprochen; nun aber war
es Zeit zum Aufbruch, und der Großvater wanderte mit Heidi die Alm
hinan, und wie am Morgen die hellen Glocken von nah und fern sie
heruntergerufen hatten, so begleitete nun aus dem Tale herauf das
friedliche Geläut der Abendglocken sie bis hinauf zur sonnigen
Almhütte, die ganz sonntäglich im Abendschimmer ihnen entgegenglänzte.

Wenn aber die Großmama kommt im Herbst, dann gibt es gewiss noch
manche neue Freude und Überraschung für das Heidi wie für die
Großmutter, und sicher kommt auch gleich ein richtiges Bett auf den
Heuboden hinauf, denn wo die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge
bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach
innen.










End of Project Gutenberg's Heidis Lehr- und Wanderjahre, by Johanna Spyri

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HEIDIS LEHR- UND WANDERJAHRE ***

***** This file should be named 7511-8.txt or 7511-8.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/7/5/1/7511/

Produced by Gunther Olesch.  HTML version by Al Haines.
Updated editions will replace the previous one--the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
specific permission. If you do not charge anything for copies of this
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
performances and research. They may be modified and printed and given
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
trademark license, especially commercial redistribution.

START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
Gutenberg-tm electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.