Die Masken Erwin Reiners

By Jakob Wassermann

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Title: Die Masken Erwin Reiners

Author: Jakob Wassermann

Release date: July 26, 2025 [eBook #76567]

Language: German

Original publication: Berlin: S. Fischer Verlag, 1910

Credits: Markus Brenner, Martin Oswald and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MASKEN ERWIN REINERS ***





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[Illustration: Signet des S. Fischer Verlags]




                   Die Masken Erwin Reiners

                             Roman
                              von
                       Jakob Wassermann




                  S. Fischer, Verlag, Berlin
                             1910




  Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
          Copyright 1910 S. Fischer, Verlag, Berlin.




Virginia


Um die Mitte des Oktober fiel die Entscheidung. Der Arzt, von dessen
Spruch Manfred Dalcroze alles abhängig gemacht, sagte ihm, daß er zwei
Jahre lang auf die See gehen müsse, um die erkrankte Lunge wieder
herzustellen. Manfred war darauf vorbereitet; dennoch war ihm zumute,
wie einen Sommer vorher in Castrovillari, als er während des Erdbebens
die Mauern seines Hotels zwanzig Schritte vor sich zusammenstürzen sah.

Er schrieb vom Semmering aus an seinen Bruder, den Professor Ernst
Dalcroze in Berlin, und erinnerte ihn an sein Versprechen, daß er
sich, falls die Dinge den gefürchteten Verlauf nehmen würden, an den
Professor Uchatius wenden würde, der mit der Ausrüstung einer deutschen
Tiefseeexpedition betraut war.

»Wie ich höre, verläßt das Schiff Mitte November den Hafen von
Kiel«, schrieb Manfred; »ich glaube, du kannst mich dem Professor
Uchatius mit gutem Gewissen empfehlen und ihm sagen, daß ich trotz
meiner dreiundzwanzig Jahre schon manches Ersprießliche im Fach
der Mikrobiologie geleistet habe. Wenn er mich als Mitarbeiter
aufnähme, bliebe ich in der Linie meiner Studien und im Kreis einer
zweckvollen Tätigkeit. Ich kann mich unmöglich zwei Jahre lang auf
Vergnügungsdampfern und unter gleichgültigen Weltbummlern herumtreiben;
das würde mich zur Beute unendlicher Grübeleien machen. Der ›Phönix‹
bleibt meines Wissens über anderthalb Jahre weg, was ja ungefähr mit
der ärztlichen Vorschrift übereinstimmen würde, die ich befolgen muß.«

Kaum in Wien angelangt, erhielt Manfred ein Telegramm seines Bruders:
»Uchatius stimmt zu. Sei am fünften November in Berlin.«

Manfred seufzte. Er sah sich zur Eile getrieben. Aber nichts von Eile
war in seinem Wesen, als er sich gleich danach auf den Weg in die
Josefstadt begab. Sich zu hasten, lag nicht in seiner Konstitution.
Langaufgeschossene Menschen mit blonden, glatten Haaren neigen eher zum
Phlegma. Manfreds bartloses Gesicht verriet eine mädchenhafte Zartheit.
Wären einige seiner Bewegungen nicht so schüchtern gewesen, so hätte
man sagen können, er nehme sich elegant aus. Jedoch die eleganten Leute
besitzen nicht oder verraten nicht eine so träumerische Befangenheit,
wie sie in den Augen dieses hübschen jungen Mannes wohnte, dessen
Erscheinung Neugier und Teilnahme hervorrief.

Ein blauer Herbsthimmel wölbte sich über der Stadt. Der Herbst ist
für die Jugend vielleicht die lyrischeste Zeit. Manfred war voll von
Erinnerungen. Das schnelle Vorüberfließen des Lebens hatte schon etwas
Gespensterhaftes für ihn; es gab Augenblicke, wo er das Blut in seinem
Herzen ungern pochen fühlte, weil jeder Schlag eine unwiederbringliche
Frist besiegelte. Selbst jetzt auf dem Weg zu Virginia war ihm die
Zeit zu geschwind, weil die Botschaft, die er brachte, seinen Schritt
beschwerte.

In einer alten Gasse ein altes Haus mit weitem Torbogen; dunkler Flur,
menschenleerer Hof und ein zweiter Bogen wie ein Schattenspiel; dann
kletterte die weiße Wendelstiege zu jenen Räumen empor, von welchen
aus, seit einem halben Jahr etwa, Manfred das Treiben der Menschen
betrachtet hatte wie einer, der mit umgekehrtem Opernglas auf die Bühne
blickt.

Virginia hatte ihn erwartet. Wie stets bewältigte ihn ein Gefühl der
Unwürdigkeit in ihrer Nähe. Glück und Schmerz einten sich in seinem
Innern, und es war ihm deutlich bewußt, daß die Leidenschaft, die er
für dieses Wesen empfand, alle Wünsche und Ziele des Lebens in sich
aufgenommen hatte.

Umschweife waren seine Sache nicht. In einem einzigen Satz war das
Betrübende gestanden.

Virginias Mutter war ausgegangen, sie waren allein. Virginia legte die
Hände auf seine Schultern und sah ihn schweigend an. Sein ernster Blick
ließ sie trauriger werden. Sie setzte sich an den Tisch und stützte den
Kopf in die Hand. Aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein Abglanz
von Sonne auf ihr braunes Haar und ließ es kupfrig erschimmern.

Wie traulich ihm alles war; das Haus, die Nachmittagsstille, das Zimmer
mit den Tüllgardinen, dem riesigen Spind, den rundlehnigen Stühlen,
dem Sofa aus geblümtem Stoff, der Uhr mit den zwei zerbrochenen
Alabastersäulchen!

Am andern Abend brachte er sein Tagebuch mit, das kennen zu
lernen Virginia schon oft gewünscht hatte. Er las ihr vor. Diese
Aufzeichnungen formten das sympathische Bild eines um Klarheit und
Sachlichkeit redlich bemühten Geistes. Die verhängnisvollen Fehler der
Epoche, unreife Nörgelei und anmaßende Selbstzerfaserung, gewannen
kraft einer natürlichen Bescheidenheit keinen Raum. Das eingestandene
Gefühl, unzulänglich zu sein, war echt. Das Leben war zu reich und
zu verworren; die Menschen der Zeit wurden einer großen Gesellschaft
verglichen, in der jeder dem andern fremd ist, jeder sich einsam weiß,
wo alles ruhelos, bestürzt und blind von Saal zu Saal aneinander
vorübereilt und niemand den Namen des Gastgebers kennt.

Es war die vorherrschende Stimmung eines jungen Mannes vom Anfang des
Jahrhunderts. Er glaubt sich in umfriedetem Bund und ist verloren wie
in der Wüste; ehrwürdiges Herkommen scheint ihn zu verpflichten, und er
findet sich führerlos und unberaten; viele reden, doch keiner spricht;
wer ruht, hat schon verzichtet, und der Tanzende scheint im nächsten
Augenblick zu sterben.

Wie keinem war es Manfred notwendig, einen Freund zu besitzen. Als
der Name Erwin Reiners zum erstenmal in dem Tagebuch auftauchte,
verwandelte sich der Ton der Erschöpfung in den der Zuversicht. »Erwin
hat mich vor dem Selbstmord bewahrt,« hieß es da treuherzig, »er hat
mir Geduld und Einsicht geschenkt. Ihm verdanke ich den Glauben an die
Schönheit des Lebens, denn für ihn ist das Leben ein Wunder, das sich
täglich wiederholt. So wächst meine Schuld gegen ihn mit jedem Tag.«

Als die Stelle kam, wo die erste Begegnung mit Virginia geschildert
war, schüttelte das Mädchen lachend den Kopf und sagte, das möge sie
nicht hören. »Wenn wir mal alt sind,« sagte sie, »kannst du mir das
vorlesen.«

So blieben sie schweigend, Hand in Hand, und während es zu dämmern
begann, irrten Manfreds Augen zerstreut über die engbeschriebenen
Seiten, auf welchen jene natürlichen Erlebnisse wie Mirakel behandelt
wurden.

»Täglich führt mich mein Weg durch dieselben Straßen, und ich beachte
nicht die Menschen, die mir begegnen. Aber gestern hab ich ein Mädchen
gesehen ... eine Sekunde lang standen wir voreinander, unsere Blicke
trafen sich, dann rief sie den ihren so hastig zurück, wie man die
Hand von einem glühenden Eisen zurückzieht. Ich kehrte um und folgte
ihr wie behext. Ihr Gang hatte etwas edel Schleichendes, so daß ich
mich ganz einfältig fragte, ob sie eigentlich Beine und Füße habe. Ich
sah beständig den Kontur der linken Wange, der dem sanft geschwungenen
Bogen einer Banane glich. Über den Schultern erhoben sich die fernen
bläulichen Hügel, die den Prospekt der Straßenzeile bildeten. Ich
versuchte auf dieselben Pflastersteine zu treten, die ihr Fuß berührt
hatte, mir war, als ob die Luft, durch die wir beide gingen, links und
rechts in festen Mauern wüchse, es war mir angst und bang, ich fühlte
mich gedemütigt, ich zitterte vor dem Moment, wo ich sie aus dem Auge
verlieren mußte, und als sie endlich draußen in einem Vorstadthaus
verschwand, blieb ich zwei Stunden lang in gedankenlosem Kummer am Tor
dieses Hauses stehen.«

Manfred hatte viel inneres Gesetz; deshalb war in seinen Empfindungen
Stetigkeit und Mark. Halbe Tage hindurch promenierte er vor dem
Hause in der Piaristengasse mit einem geregelten Eifer, der die
Aufmerksamkeit der Nachbarn und den Argwohn der Polizeileute erweckte.
Einmal, gegen Abend, trat Virginia mit ihrer Mutter aus dem Tor; wie
einer, der sich in ein tiefes Wasser zu stürzen anschickt, schritt er
vor die zwei Frauen hin, grüßte, nannte seinen Namen, entschuldigte
seine Kühnheit mit allen Zeichen der Feigheit und stammelte etwas von
Eindruck, von Ehrerbietung, von Begleitenwollen, kurz, ganz banales und
nichtswürdiges Zeug.

Virginia maß ihn von oben bis unten. Manfred spürte beklommen, daß
dieses nach seiner Kleidung dem Mittelstand zugehörende Mädchen etwas
vom Adel einer Fürstin an sich hatte; jedenfalls verriet ihr Benehmen,
ihre Haltung, die Art, mit einer Bewegung des Kopfes Mißachtung, Stolz
oder Verwunderung auszudrücken, eine nicht gewöhnliche Charakterstärke.

Anders die Mutter, deren Unsicherheit gegen Fremde leicht den Ton
verfrühter Zutraulichkeit annahm. Doch ohne dieses Fehlgreifen, das
Manfred mißfiel, weil er wahrnahm, daß es Virginia mißfiel, hätten die
beiden schwebenden Naturen sich nicht so schnell zueinandergefunden.
Frau Geßner pries die Manieren des Jünglings mit einem Enthusiasmus,
der Virginia nervös machte. Die alte Dame war über seine anständigen
Absichten sofort im klaren; sie zog unter der Hand Erkundigungen ein,
erfuhr, daß die Dalcroze eine renommierte Gelehrtenfamilie waren, und
hätte über Virginias Zukunft keine Sorgen mehr gehabt, wenn Manfred um
zehn Jahre älter gewesen wäre.

Solche Bedenken lagen Virginia fern. Als sie Vertrauen gewonnen hatte,
war ihr Herz zu lieben bereit. Aber ein vorsichtigeres Herz als das
ihre ließ sich nicht denken. Sie setzte den Verlockungen des Glücks
ein Widerstreben entgegen, das aus verschiedenartigen Umständen
Nahrung zog, einmal aus der ganzen Lebensluft dieser Stadt, in der sie
aufgewachsen war, der Luft der Sinnlichkeit und des unbedenklichen
Genießens, vor deren Einflüssen sie durch eine klösterliche, nicht
immer froh empfundene Abgeschiedenheit geschützt war; sodann aus den
strengsten und durchaus eingefleischten Grundsätzen über Sitte und
Tugend, die mit erlesener Schönheit zuweilen im Bunde sind, als ob es
in den Absichten der Natur selbst beschlossen wäre, ihr Meisterwerk
nicht ohne Wehr und Waffe auszuliefern.

Erst als von ihren Lippen das abwartende und schwer deutbare Lächeln
geschwunden war, durch welches sie ihrer tiefen Zurückhaltung den Glanz
von Liebenswürdigkeit gab, als die Augenlider zögernd sich senkten,
der Blick zögernd wieder aufstieg, um durch Befremdung, Frage und
Erschütterung hindurch das verwandelte Gemüt zu offenbaren, erst dann
hatte Manfred gesiegt. Im Mai, während eines Spaziergangs im Walde,
entriß er ihr ein Geständnis. Sie küßten einander. Manfred erbebte vor
der Wirkung dieses Kusses, und Virginia beschwor ihn, sie ähnlichen
Gefühlen nicht mehr preiszugeben.

Er versprach es; er war stark genug, das Versprechen zu halten. Sie
einmal so völlig außer sich gesehen zu haben, so im Sturm, in der
kurzen Raserei, die aus ihr hervorgebrochen war wie ein Element, unter
der sie litt wie in einem Todeskampf und die wieder ausgelöscht war
wie eine Flamme, die man ins Wasser taucht, das war Stoff für dauernde
Träume und erfüllte ihn mit dauernder Dankbarkeit. Und dieses wieder
dankte ihm Virginia in zarter Weise. Ihre Liebe hatte nichts Lockendes,
nichts Werbendes, nichts Verlangendes, nichts Hinschmelzendes; nichts
von den hundert Listen, die sonst, gewöhnlich oder apart verwendet,
zum Kriegs- und Eroberungsarsenal der Mädchen gegen ihre Anbeter
gehören. An ihr war alles Gleichmaß; sie war voll Ruhe und voll von
sanfter Scheu. Mehr als alles fürchtete sie die unfruchtbare Glut
des aufgeweckten Blutes. Darin lag Ehrlichkeit gegen sich selbst und
überlegte Rücksicht gegen den Geliebten.

Alles Frohe und Erschlossene in ihrem Gebaren hatte den Charakter
von Urwüchsigkeit und Kindlichkeit. Sie spottete gern und besaß ein
Talent zur Nachahmung, das eine starke Beobachtungsgabe verriet. Ihre
Mutter hatte deswegen daran gedacht, sie für die Bühne ausbilden zu
lassen, aber Virginia hatte eine sehr geringe Meinung vom Beruf einer
Komödiantin. Frau Geßner bezog eine kleine Witwenpension, die im Verein
mit den Zinsen von zwanzigtausend Kronen, welche Virginia von einem
Verwandten geerbt hatte, den beiden Frauen nur ein kärgliches Auskommen
sicherte, hart an der Grenze der Bedürftigkeit. Virginia hatte niemals
an eine Versorgung durch Heirat gedacht, sie wollte sich auf eigene
Füße stellen, und so hatte sie sich vor zwei Jahren entschlossen,
bei einem billigen Lehrer Mal- und Zeichenstunden zu nehmen; aber es
war ein ziemlich hilfloses Treiben, und es machte ihr Kummer, daß
sie ein ersprießliches Ziel nicht absehen konnte. Manfred, in seinem
hohen Respekt vor der Kunst, entmutigte sie vollends, und obwohl sie
ihm deswegen nicht zürnte, verletzte es doch ihren Stolz, als sie
ahnend begriff, daß er wie alle ganz jungen Menschen insgeheim ein
orientalisches Frauenideal von Trägheit und Sichtragenlassen hegte.

Ihre Schönheit entschuldigte freilich den Gedanken, der sie in einer
häßlich aufgeregten Welt als ruhend träumte. Es war eine Schönheit,
deren Vollendung dem flüchtigen Beschauer entgleiten mochte; in der
Tat konnte Virginia durch eine belebte Straße gehen, ohne wie minder
ausgezeichnete Frauen zudringliche Blicke zu alarmieren. Ihre Schönheit
bedurfte gleich den echten Dichtungen des Studiums und der Vertiefung,
um gewürdigt zu werden. Das Ebenmaß ihres hochschenkeligen Körpers
triumphierte durch jede Kleiderhülle, und in den Begrenzungslinien
entzückte die rhythmisch verteilte Bewegung; ihre Haltung erinnerte an
die selbstverständliche Anmut der edlen Tiere und an die Beherrschtheit
einer großen Tänzerin. Ihre Hände waren weiß, lang, durchsichtig und
kräftig; ihre Haut war glatt wie japanisches Papier, leuchtend, aber
nicht feucht; ihre Lippen hatten die Frische und Narbenlosigkeit wie
bei dreijährigen Kindern; die Augen waren weitgehöhlt, kunstvoll
gebogen, seltsam grau bewimpert, zwischen Lid und Stern war ein
wunderlicher Bernsteinglanz, der Augapfel schwamm köstlich ruhevoll
auf der perlmutterschimmernden Wölbung, und dieses Schauspiel des
Lebens unter einer Stirn, die nicht flüchtete, die stille war, die zu
schlummern schien und deren Helligkeit von den Haaren beschwichtigende
Schatten erhielt, verlieh dem ganzen Antlitz eine bezaubernde Wahrheit
und Gegenwärtigkeit.

Sie litt es nicht, wenn Manfred sie bewunderte; es kam ihr wie
ein Mißverständnis vor. Sie suchte freien Anschluß, Freundschaft,
Entgegenwirkung. Doch Manfred errichtete Altäre, und der Überschwang
des Glücks lenkte seinen Sinn oft ins Dunkle, denn er stand nicht
vertrauensvoll zu seinem Genius.

So zeigen sich die beiden Menschenkinder als beschlossene und gütige,
dem Weltlärm entrückte Gestalten, von denen zu beklagen ist, daß sie
der Schicksalswind auseinanderreißen und in verwunschene Bezirke des
Lebens wirbeln wird.




Eine Vision


Die Dalcroze stammten aus Polen und waren am Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts nach Deutschland gekommen. Manfred hatte die erste
Kindheit in Berlin verlebt, wo sein Vater ein angesehener
Universitätslehrer gewesen war. Als beide Eltern gestorben waren,
nahm ihn die Großmutter zu sich, die in Wien wohnte. Sie war eine
reiche Frau und eine Sonderlingin; sie liebte das Hasardspiel und
verlor einmal in einer einzigen Nacht an ein paar zweifelhafte
Kavaliere fünfzigtausend Gulden. Darüber erfaßte sie ein ungeheurer
Schrecken, sie warf sich vor, den Enkel beraubt zu haben, und zog sich
für den Rest ihres Lebens nach Salzburg zurück, wo sie sich in eine
eigensinnige Einsamkeit vergrub, in ihren Gedanken nur noch mit dem
vergötterten Manfred beschäftigt, bei dessen Glück und Gesundheit sie
geschworen hatte, nie mehr eine Karte zu berühren.

Vor seiner großen Reise mußte Manfred noch zu der alten Dame fahren,
um ihr Lebwohl zu sagen. Er wählte einen Nachtzug, und im Schlafkupee
schrieb er, unbeirrt durch die beschwerlichen Umstände, an Virginia
folgenden Brief:

»Geliebte Virginia! Das Schicksal hat beschlossen, daß wir uns trennen
müssen. Wenn ich diesen Gedanken zu Ende denken will und die Zeit
ermesse, die vorübergehen wird, bis wir uns wiedersehen, ist es mir,
als könnt ich so nicht weiter leben, wie ich bisher gelebt, als wäre
dieses Leben fern von dir nur ein Schlaf. Es werden viele Tage sein,
fünfhundert oder sechshundert, und viele, viele Nächte, an denen ich
nicht wissen werde, was du sprichst und wo du bist und was du träumst.
Ich habe zu viel Phantasie, oder vielleicht auch zu wenig Phantasie,
jedenfalls zu wenig Vertrauen in die Fügungen, um die Unruhe meines
Herzens wirksam zu bekämpfen. Ich weiß nicht, wie du es fühlst und ob
du lernen wirst, dich darein zu finden, ob ich wünschen soll, daß du
es mit Fassung trägst, oder lieber wünschen soll, daß du bangst; was
mich betrifft, mir graut mit jeder Stunde mehr, und ich zittere vor dem
Augenblick, der uns trennen wird. Seit ich dich habe, scheinen mir alle
Menschen mit Geheimnissen erfüllt; die Verräter riechen nach Verrat und
die Mißgünstigen nach ihrem Neid. Ich sage mir freilich: das Geschick
muß es ehrlich mit mir meinen, sonst wäre es ja sinnlos gewesen, daß
es dich mir gab; ich sage mir: was bedeutet es am Ende, wie weit ich
von dir sein werde, ich lebe ja, es ist ja nur die Luft zwischen uns,
Wasser, Erde, zählbare Meilen, eine Einbildung von Ferne. Trotzdem ist
schon jetzt alles aufgewühlt in mir, und ein böser Geist flüstert mir
zu: was jetzt? was morgen? Ich fürchte die unbekannten Drohungen des
Daseins, ich fürchte die Menschen, all diese Namenlosen, die einen
heimlichen Krieg gegen die Namenlosen führen, die wider uns sind, weil
sie eben sind, und weil das Menschenwesen finster ist. Vieles kann
geschehen. Zwischen zwei Schritten kann ein Abgrund sein, zwischen zwei
Stunden ein Tod.

Ich glaube an mich. Es ist mir die schwere, aber beglückende Aufgabe
geworden, eine Existenz zu gründen, welche deiner würdig ist. Darauf
will ich meine Kräfte und Gedanken richten, was mir ganz natürlich sein
wird, da es ja dein Bild ist, welches meine Kräfte und Gedanken bewegt
und leitet. Die Unschlüssigkeit und der Wankelmut, denen ich verfallen
war bis zu dem Tag, wo es mir vergönnt war, deine Hand zu fassen,
hatten ihre Ursache darin, daß ich mir nur halb erschaffen schien,
bevor ich dich kannte, und daß ich erst durch dich Wahrheit gewann über
meine Fähigkeiten, meine Bestimmung und meine Zukunft. Ich kann nicht
wie im Traum durch die Dinge und die Ereignisse leben, mich greift
alles hart an; meine Vorsätze, das was mir zu tun notwendig ist, um
dich glücklich zu machen, beschäftigt mich unausgesetzt, und wenn auch
einerseits damit eine gewisse Ruhe in mein Wesen kommt, die Ruhe der
Entschlossenheit, so erkenne ich doch andererseits, daß die Tröstungen,
die ich mir vorsage, um die Trennung von dir erträglicher zu machen,
nur Scheintröstungen sind, denn ich bin eben doch ein zu schwacher
Mensch, um ohne Furcht, sei es auch nur die Furcht vor der Sehnsucht,
einer solchen Prüfung ins Auge zu blicken.

Aber es ist nicht die Furcht vor der Sehnsucht allein; nicht nur diese
egoistische Furcht. Es ist, klipp und klar gesagt, die Furcht vor
Unglück, vor den tückischen Zufälligkeiten des Lebens, und die Erwägung
deiner Schutzlosigkeit, deiner Einsamkeit, deiner Unkenntnis der
Menschen und der Welt. Vielleicht sollte ich dich nicht aufstören aus
Deinem Zutrauen, vielleicht sollte ich selber Zutrauen daraus schöpfen,
wenn ich mir gegenwärtig halte, daß diese Einsamkeit und Arglosigkeit
dir angemessen ist und vielleicht zur Vollendung deiner inneren und
äußeren Gestalt dient. Findest du mich töricht? Aufgeweckt und selbst
den schattenhaften Befürchtungen preisgegeben, die mich zu ihrem
Spielball machen, erklärst du mich vielleicht für den Störer deines
Seelenfriedens; oder du verurteilst mich als einen, der sich anmaßt,
den bisher so stillen und heitern Verlauf deines Daseins verändert zu
haben dadurch, daß er, doch nur vom Glück begünstigt, in deinen Kreis
getreten ist. Dies alles fühle und denke ich mit dir. Doch ich kann
nicht anders, mir wird kalt, wenn ich ans Scheiden denke, und schon bei
dieser Fahrt jetzt und kurzen Abwesenheit ist mir, als seiest du von
schrecklichen Gefahren umgeben. Deshalb, liebste, teuerste Virginia,
laß mich eine Bitte tun, erfülle sie mir, zürne mir nicht, überlege
nicht viel, sag ja und du nimmst einen Stein von meiner Brust.

Du weißt, was mir Erwin Reiner bedeutet. Du mußt wissen, was er mir
war, was er mir ist. Er, er kennt dich, ohne daß ich je nötig hatte,
viel zu reden. Er verehrt dich, weil er mich liebt, und er hat es
mir noch nicht verargt, daß ich ihn nicht zu dir geführt, weil er
zartfühlend genug ist, um sich zu sagen, daß ein Verhältnis wie das
unsre vorläufig Abgeschiedenheit braucht.

Ich will dich unter seinen Schutz stellen. Ich will, daß er über
dich wacht. Welchen stärkeren Beweis meines Vertrauens zu ihm, deines
Vertrauens zu mir kann ich Erwin liefern, als wenn ich ihm sage: hier,
Freund, ist das Gut und Glück meines Lebens, hüte es. Er wird es hüten,
als sei es sein eigenes. Er ist viel zu ehrenhaft, um eine solche
Pflicht zu unterschätzen, wenn er sie auf sich nimmt. Ob er sie auf
sich nehmen wird, ist meine einzige Angst, denn seine Person ist viel
gefordert und sein Leben weitversponnen. Du mußt auch nicht glauben,
daß er dir in irgendeiner Weise zur Last fallen wird; dazu ist er viel
zu delikat. Du wirst ihn lieben, du wirst ihn bewundern, denn alle,
die ihn kennen, lieben und bewundern ihn. Ich habe das Gefühl, daß der
Kreis meines Glückes erst geschlossen sein wird, wenn zwischen dir und
Erwin Freundschaft entsteht.

Überleg es dir! Gib mir diese Hoffnung auf größere Seelenruhe, und nun
gute Nacht, Liebste, es ist spät geworden. Der Zug fliegt durch den
winterlichen Nebel – zu dir, immer nur zu dir, denn jede vergangene
Minute kürzt die Trennung. Wenn ich die Augen schließe oder offen
halte, immer seh ich dein Gesicht, deinen Mund, dein Lächeln. Alles ist
erfüllt von dir, alles spricht von dir. Gute Nacht!«

       *       *       *       *       *

Am Abend des dritten Tages hatte Manfred wieder in Wien zu sein
versprochen. Um Virginia zu überraschen, kam er schon mit dem
Nachmittagszug. Nachdem er gebadet und die Kleider gewechselt hatte,
fuhr er mit einem Fiaker in die Piaristengasse. Zu seinem Verdruß fand
er Virginia nicht zu Hause.

Frau Geßner öffnete ihm die Türe. »Gina wird bald kommen«, sagte
sie, belustigt über die schlecht verhehlte Enttäuschung des sonst so
ausgezeichnet höflichen Jünglings. »Leisten Sie halt mir ein bißchen
Gesellschaft.«

Manfred nahm Platz mit der Miene eines Hungrigen, dem man einen Knochen
vorsetzt. Das Gespräch sickerte mühselig. Manfred langweilte sich. Er
hörte nur oberflächlich zu, und erst allmählich entdeckte er etwas
Bedrücktes und Verhaltenes im Wesen der Frau. Er hatte eigentlich nie
den Ton der Freiheit gegen sie gefunden; ihr Wächteramt hatte sie
in seinen Augen vielleicht nicht erniedrigt, aber der persönlichen
Unmittelbarkeit beraubt.

»Sie reisen jetzt fort«, sagte Frau Geßner, indem sie mit mechanischer
Geschäftigkeit das Tischtuch glattstreifte. »So weit! Für so lange
Zeit! Zwei Jahre! Wer weiß, ob ich noch am Leben bin, wenn Sie
zurückkommen. Gewiß, ich bin ja noch nicht so alt, aber wozu bin ich
nütze? Bloß um zu essen und zu trinken, dazu ist die liebe Sonne fast
schade. Wenn man sich überflüssig erscheint, denkt man viel an den Tod!«

Manfred war um eine Antwort in Verlegenheit. Er lächelte und brachte
ein paar dumpfe Laute eifrigen Widerspruchs heraus. Er lauschte
sehnsüchtig, ob nicht bald die wohlbekannten und geliebten Schritte
erklingen würden.

»Daß Sie und Gina ein Paar werden, das ist wunderschön«, fuhr Frau
Geßner mit jener eintönigen Stimme fort, die seine Ungeduld und Unruhe
steigerte. »Sie sind zwar noch furchtbar jung und bis zur Hochzeit wird
noch viel Wasser in die Donau fließen, man muß ja erst eine Stellung
haben, ein Ansehen, ein Auskommen, aber ich hab’ einen festen Verlaß
auf Sie. Und weil ich den Verlaß habe, will ich Ihnen was erzählen. Die
Sache ist nicht leicht; ich hab mir’s lang überlegt, doch Sie sollen
die Wahrheit erfahren.«

Jetzt wurde Manfred aufmerksam. Er beugte den Kopf vor und starrte
ängstlich auf die rastlos das Tischtuch glättende Hand der Frau.

»Ich war guter Leute Kind,« begann Frau Geßner im Tonfall einer
Beichtenden; »mein Vater war ein bekannter Porträtmaler und verdiente
ziemlich viel. Als er plötzlich starb, waren wir jedoch arm, und die
Mutter mußte von Unterstützungen leben. Es wurde für mich ein Mann
gesucht, und ich nahm den ersten, der mich haben wollte. Geßner war
ein kleiner Beamter im Ministerium mit sechzehnhundert Gulden Gehalt
und den üblichen Zulagen. Ich war achtzehn, er dreiundvierzig Jahre
alt. Er war ein auskömmlicher Mann und war zufrieden, wenn das Haus
in Ordnung und alles hübsch gemütlich blieb. Jeden Sonntag nachmittag
sind wir in die Praterauen gegangen, andere Spaziergänge hat er nicht
leiden mögen. Vom Theater war er auch kein Freund; er war sehr sparsam
und sein zweites Wort war: das ist für die Faulpelze. Die Bücher
sind für die Menschen, die Zeit und Geld haben, sagte er, wenn du
dich bilden willst, dafür hast du ja die Zeitung. Unser Verkehr war
ein uralter Hofrat, der sich in den Kopf gesetzt hatte, sein Vermögen
aufzuzehren, damit seinen Kindern nichts mehr bleiben sollte, und eine
bucklige Tante von Geßner, die früher Kammerfrau bei der Großherzogin
von Toskana gewesen war und uns immerfort Hofgeschichten erzählte.
Sonst keine Seele, jahraus, jahrein. Meine Mutter war tot, mein Bruder,
derselbe, von dem Gina geerbt hat, in Amerika, Kinder bekam ich nicht,
und wie nun so ein Sommer um den andern, ein Winter um den andern
verstrich, da ist mir immer öder und öder ums Herz geworden. Auf einmal
war ich fünfundzwanzig, auf einmal war ich dreißig, – wenn das Leben
leer ist, wird man am schnellsten alt. Wie ich zweiunddreißig war, hab’
ich mir die ersten grauen Haare ausgerissen.

Um die Zeit nun, im vierzehnten Jahr unserer Ehe, hat da unten im
zweiten Stock eine Frau von Ermenhofer gewohnt, eine hübsche, junge,
lebenslustige Person. Mit der bin ich öfter beisammengestanden, und
eines Tages sagt sie zu mir: ›heut ist Opernredoute, mein Mann ist
verreist, kommen Sie mit.‹ ›Ei, wo denken Sie hin,‹ antwort’ ich,
›da käm’ ich bei meinem schön an, dafür gibt er kein Geld.‹ ›Was,
Geld,‹ sagt sie, ›wir brauchen kein Geld, ich hab’ zwei Karten, und
den Domino kann ich Ihnen leihen.‹ ›Ich bin doch schon zu ramponiert
für dergleichen‹, sag’ ich. Sie schlägt die Hände zusammen und macht
mir ein halb Dutzend Komplimente. Kurz und gut, das Herz schlug mir
schon vor Verlangen, ich rede mit Geßner, der brummt zuerst, aber
schließlich, weil’s nichts kosten soll und weil die Nachbarin eine Frau
›von‹ war, gibt er seinen Segen.

Am Abend war ich also in der Oper. Meine Begleiterin war auf Ja und
Nein verschwunden; ich, geblendet von dem Glanz, drücke mich eine
Weile jämmerlich herum, da spricht mich ein fremder Herr an, folgt mir
immerzu, führt mich zum Champagner, neckt mich, fragt mich aus und
war so lieb, Manfred, so lieb, sag’ ich Ihnen! Ob er hübsch war oder
elegant oder gescheit, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß er lieb
war, und das eben war’s, was mir fehlte. Wir haben auch noch getanzt
miteinander, und dann wollt’ er mein Gesicht sehen, und dann hat er
mich zum Wagen gebracht und ist mit mir gefahren, und auf einmal waren
wir in seiner Wohnung. Ich bin bei ihm gewesen bis zum Morgen. Seitdem
hab’ ich ihn nie wieder gesehen.«

Ihre Stimme ermattete; ihr Blick verlor sich; ihre Haltung wurde
aufrechter; und etwas an dieser Haltung, etwas an der stillen Tiefe des
Blicks erinnerte Manfred an Virginia. Er ahnte alles, und er war bewegt.

»Ich kenne seinen Namen nicht,« schloß Frau Geßner leise; »ich weiß
nicht, wo das Haus war, im Morgennebel bin ich von ihm fortgegangen,
und er hat mich im Wagen noch ein Stück begleitet. Nachher war alles
wieder wie vorher. Nur das Kind, das Mädchen, das ist von jener Nacht.«

In einer Aufwallung, die seinem Gefühl zur Ehre gereichte, ergriff
Manfred Frau Geßners Hand und drückte seine Lippen darauf. Sie schaute
ihn dankbar und erleichtert an. »Ihr jungen Leute seid wenigstens
großmütig«, sagte sie seufzend. »Aber Sie begreifen doch, daß Gina nie,
nie etwas davon wissen darf? Das sehen Sie doch ein, nicht wahr?«

Manfred nickte überzeugt. »Es wäre ein Verbrechen«, bestätigte er; »man
würde ihr die Unbefangenheit rauben. Schließlich, gegen die Umstände,
die einem das Leben verschafft haben, kann sich kein Mensch auflehnen,
doch wir wollen es lieber nicht auf die Philosophie ankommen lassen.«

»Niemand weiß es«, sagte Frau Geßner; »niemand außer mir und ihm und
Ihnen.«

»Wie ist’s nur möglich, daß Sie den Mann nie wieder gesehen, daß Sie
sich so vollständig damit abgefunden haben?« fragte Manfred.

»Das, Manfred, war der Vertrag, den ich mit mir selber gemacht habe.
Die eine Nacht, das war meine Jugend. Und wie das Mädel geboren war,
bin ich wirklich gleich eine alte Frau geworden. Geßner, den hab’ ich
dann bald hernach begraben.«

Frau Geßner erhob sich, um die Lampe anzuzünden. Mit nachdenklicher
Miene schaute ihr Manfred zu. Wenn jene im Dunkel der Zeiten
verschollene Frau von Ermenhofer nicht auf den Maskenball hätte gehen
wollen, wäre dann Virginia ungeboren geblieben? dachte er und war
selbst erstaunt über die Ungeheuerlichkeit einer so naheliegenden
Betrachtung. Ein ungewöhnliches Wesen verdankt sein Dasein dem Zufall
eines ziemlich gewöhnlichen Abenteuers; das Abenteuer erhält den
Nimbus von Heiligkeit; der Zufall wird Schicksal, und das seiende
Geschöpf beschämt durch seine siegreiche Gegenwart den ganzen Kodex der
Moral.

In diese Gedanken war er noch versunken, als Virginia kam. Sie brachte
das Feuer des scheidenden Tages mit. Die unerwartete Freude, den
Verlobten zu sehen, lähmte ihren Fuß. Die Überraschung enthüllte ihre
Liebe; in den metallisch glänzenden Augen war ein leidenschaftliches
Entzücken. Als sie ihm die Hand reichte, glaubte Manfred zu spüren,
daß die Zurückhaltung diesmal fast über ihre Kraft ging: ihr Arm
zitterte, die Finger lagen zuckend in den seinen. Sie schauten sich
wie verzaubert an, indes Frau Geßner am Tische saß und zu erlauschen
schien, was sie einander verschwiegen.

Bald kam die Rede auf den Brief. Virginia mißbilligte Manfreds
Verlangen. Sie wollte nicht gestört, durch Beobachtung nicht gehemmt
werden. Des Schutzes glaubte sie entraten zu können. »Wer hat mich
beschützt, bevor du da warst?« fragte sie. »Was soll mir dein Freund?
Bin ich ohne dich, wozu brauch ich ihn?«

Die Mutter stand Manfred so lebhaft zur Seite, daß Virginia ärgerlich
wurde. Vielleicht war es nur die bevorstehende Trennung, die ihr
so schwer im Gemüte lag, daß sie kaum wußte, was sie redete, als
sie verstimmt und beunruhigt immer von neuem widersprach. Aber
Manfreds enttäuschte Miene weckte ihr Mitleid, und sie fühlte, daß
sie ihm unrecht tat, wenn sie den bewunderten Freund zum Heer der
Gleichgültigen zählte. »Nimm’s doch nicht so tragisch,« lenkte sie ein,
»wozu sollen wir uns streiten? So bring ihn halt her, deinen berühmten
Erwin Reiner.«

»Na, Gott sei Dank!« antwortete Manfred freudig. »Du ahnst gar nicht,
wie glücklich mich das macht. Den berühmten Erwin Reiner«, wiederholte
er lachend; »das ist gar kein Spott, Virginia. Erwin fängt wirklich an,
berühmt zu werden.«

»Um so schlimmer.«

»Wieso?«

»Dann ist er also nicht nur reich, nicht nur anspruchsvoll und über
die Maßen gebildet, sondern auch berühmt. Um so schlimmer. Der paßt
schlecht in unsere vier Wände.«

Manfred hatte es schon oft gewittert, und durch diese Bemerkung wurde
es ihm klarer als zuvor, daß Virginia an der Engigkeit der Verhältnisse
litt. Er verzieh es gern. Ein Urtrieb zwingt die Schönheit gegen die
Welt; die Schönheit muß sich stellen. Einsam zu sein ziemt ihr nicht
und nährt sie nicht. Das Unbewußte des Instinkts vergröbert die Gefahr;
ein Feld für böse Ahnungen. Doch Manfred hatte den Willen, hell zu
sehen, und seine Sanftmut erstickte die Kritik.

Zum Abendessen blieb er nicht, er wollte noch zu Erwin. Die Villa
Erwins lag in Pötzleinsdorf, und bis er mit der elektrischen Bahn
hinauskam, war es halb zehn Uhr. »Der gnädige Herr hat einen Vortrag
besuchen müssen,« sagte der Diener im Vestibül, »er wird aber um zehn
Uhr hier sein.«

Es reute Manfred, daß er sich und Virginia um eine unwiederbringliche
Stunde gebracht. Er begab sich in die Bibliothek und wartete. Er setzte
sich in einiger Entfernung vor den prunkvollen Marmorkamin und blickte
ins Feuer. Eine unendliche Bangigkeit stieg in ihm auf, und plötzlich
hatte er ein seltsames Gesicht.

Ihm war, als sehe er Virginia vor dem Kamin, kauernd, wie Mägde kauern,
wenn sie Feuer schüren, kauernd, aber bewegungslos. Nie hatte er ihre
Haare offen gesehen; jetzt waren ihre Haare offen; sie fielen auf den
Teppich und bildeten große Ringe. Nie hatte er sie mit nackten Füßen
gesehen; jetzt waren ihre Füße nackt. Sie trug ein grünes Gewand, das
er an ihr nicht kannte, eine Art Schlafrock, und ihre bloßen Arme waren
mit einer Gebärde der vertieften Verzweiflung zu beiden Seiten des
Hauptes angepreßt.

So kauerte sie.

Manfred beugte sich unwillkürlich weit vor, ohne daß die nebelhafte
Erscheinung gänzlich entschwand. Erst nach und nach löste sie sich
auf wie eine Wolke, die von der Atmosphäre verzehrt wird. Manfred
schüttelte über sich selbst den Kopf, und er beschuldigte seine
gespannten Nerven für eine Verwirrung, welche die Qualen der Sehnsucht
im voraus malte, ohne das Glück des Besitzes und der Wiederkehr zu
wägen. Sein zärtliches Herz war voller Vertrauen, und das Gefühl, mit
dem er dem Freund entgegenharrte, war durch die erschreckende Vision um
desto zweifelloser geworden.




Abschied


Erwin Reiner führte das Leben eines jener drei- oder viertausend
Bevorzugten, die es in jeder großen Stadt gibt, ein Leben, das, auf
dem Fundament eines unerschütterlichen Reichtums ruhend, nur mit
Rechten ausgerüstet und keinen Pflichten unterworfen scheint. In einem
solchen Dasein spielt der Luxus dieselbe Rolle wie die Repräsentation
im Dasein eines regierenden Herrn. Die Söhne reichgewordener Bürger
genießen nach jeder Richtung hin eine schrankenlosere Freiheit als
etwa die Sprößlinge adliger Familien, die sich durch Erziehung,
Vorurteile, persönliche und Standesrücksichten eingeschränkt und
befehligt finden. Dies ist bezeichnend für die vorherrschende und
stetig anwachsende Macht des Bürgertums, und ob die jungen Leute, die
seinem Schoß entwachsen, als Gelehrte und Künstler figurieren, oder
ob sie als Müßiggänger, Dandies und Genüßlinge einer frech erklärten
Ungebundenheit huldigen, so sind sie doch eines der wesentlichen
Hindernisse für die Bildung eines blutvollen und harmonischen
Gesellschaftskörpers, ja eines Staates in humanem Sinn, und der
Sozialforscher des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird vielleicht
nachweisen können, in welchem Maße sie zur Zersplitterung und
Verstümmelung der Völker, der Ideen und der Ideale beigetragen haben.
Jede große Stadt zählt unter ihren Bewohnern drei- bis viertausend
Menschen von einer absoluten Einsamkeit, von einer unheimlichen
Verführungskraft zur Einsamkeit und geistigen Anarchie.

Der Vater Erwin Reiners hatte sein Vermögen durch
Grundstückspekulationen größten Stils erworben. Zu einer Zeit, wo noch
niemand daran gedacht hatte, daß die im Westen der Stadt befindlichen
Ländereien der Anlage einer umfangreichen Villegiatur günstig seien,
hatte er die Mitgift seiner Frau dazu verwendet, um ein respektables
Gebiet von Gärten, Äckern und Wiesen aufzukaufen, das beständig im
Werte stieg. Die Frau, eine Gutsbesitzerstochter aus der Gegend
von Linz, eine einfache Natur, die nichts von den weittragenden
Geschäften begriff und die Verwendung ihres Geldes für einen an den
Kindern geübten Frevel betrachtete, war nicht geschaffen, um das
Leben eines Spekulanten zu teilen. Hypochondrischer Kummer zerstörte
ihre Gesundheit, die beiden ersten Kinder, die sie gebar, siechten an
allgemeiner Schwäche hin, eines kam tot zur Welt, Erwin war das letzte,
und die Mutter starb ein Jahr nach seiner Geburt.

Ihm wandte sich die ganze Zärtlichkeit, Sorgfalt und geängstigte Liebe
des Vaters zu. Ein hygienisch abgerichteter Koch mußte die Nahrung
des Kindes bereiten, und wie für einen Prinzen war beständig ein
Leibarzt zu seiner Verfügung. Aus Furcht vor ansteckenden Krankheiten
unterließ man es, ihn in die öffentliche Schule zu schicken; als er
mit fünfzehn Jahren ins Gymnasium trat, erregte er Befremden durch
seine Fremdheit, Spott durch seine Verwöhntheit, Ärger und Übelwollen
durch sein launenhaftes und tyrannisches Wesen. Aber im Wetteifer
mit den Gleichstrebenden traten seine angeborenen Geistesgaben
alsbald in erstaunlicher Weise ans Licht. Er überflügelte alle.
Lehrer und Mitschüler fügten sich einer Überlegenheit, die für jene
zu augenfällig, für diese oft zu nützlich war, um bestritten werden
zu können. Er hatte ein Gedächtnis wie der Kardinal Mezzofanti, eine
Geschicklichkeit in der Aneignung der verschiedensten Disziplinen,
die selbst bei Fachleuten Verwunderung hervorrief. Die Schularbeiten
waren ihm ein Spiel; er kannte alle Daten der Geschichte, als ob er
sie aus einem unsichtbaren Buch läse, übersetzte aus bloßer Liebe zur
klassischen Philologie die entlegensten griechischen Schriftsteller
und erschloß sich aus eigenem Trieb die höhere Mathematik und die
mathematische Geographie. Schon mit achtzehn Jahren grenzte seine
Belesenheit ans Unglaubliche; daneben dichtete und musizierte er;
er ritt und focht, er turnte, schwamm, spielte Tennis und Fußball,
und dank diesen Übungen kräftigte sich sein Körper; seine Muskulatur
wurde zäh, seine Haut fest, seine Gestalt gedrungen, seine Bewegungen
erhielten Energie, seine Haltung Anmut und seine Manieren eine
außerordentliche Elastizität und Schmiegsamkeit.

Auf der Universität hörte er naturwissenschaftliche, philosophische
und kunstgeschichtliche Kollegien, und im sechsten Semester verfaßte
er seine große Doktorarbeit: Über das Individuelle und das Historische
in der Porträtmalerei, eine Schrift, welche ihm die Anerkennung der
Gelehrten erwarb und sogar im Publikum einigen Widerhall fand. Er
verfolgte damals zwei Ziele: die Dozentur und seine Aufnahme in den
Jockeyklub. Jenes war nur eine Frage der Zeit; dieses zu erreichen war
ihm durch eine planvolle Ausnützung seiner aristokratischen Beziehungen
möglich; er pochte gern darauf, daß seine Mutter eine Schanz, Edle von
Jagstburg war, eine bekannte Familie, die während der Gegenreformation
den Adelsbrief erhalten hatte. Solchen Bestrebungen entsprechend, waren
seine Stunden genau eingeteilt, um den Pflichten der Arbeit und denen
zu genügen, die ihm die Gesellschaft auferlegte; wie er denn überhaupt
ein Mann der gründlichen Ordnung und der sorgfältig ausgeführten
Programme war.

Der alte Reiner, der für seine eigene Person anspruchslos wie
ein kleiner Kaufmann lebte, hatte dem Sohne ein Jahrgehalt von
hunderttausend Kronen zugewiesen. Die Villa und der Haushalt kosteten
den vierten Teil davon. Erwin rechnete mit der Köchin monatlich ab
wie eine Ehefrau, die ihrem Gatten verantwortlich ist, und er kannte
genau die Preise von Fleisch, Mehl, Zucker, Gemüse, Kaffee, Milch,
Holz und Kohlen. Ihn zu betrügen war fast unmöglich. Er war weder ein
Verschwender noch ein Knicker; er war der souveräne Herr seines Geldes,
gab mit Anstand aus und hielt mit Anstand zurück. Die praktische
Klarheit und Umsicht waren es auch gewesen, die Manfred zuerst für
den um fünf Jahre älteren Erwin eingenommen hatten. Seine romantische
Gemütsart fand in ihm einen bedeutenden Halt. Die Äußerungen einer
tiefen Kenntnis der Menschen, eines kühnen und raschen Urteils, einer
profunden Bildung, eines erlesenen Geschmacks wirkten auf Manfred
unwiderstehlicher als die vollendet liebenswürdigen und geistreichen
Umgangsformen des Freundes.

Erprobt war diese Freundschaft in keiner Weise. Dem Leben moderner
junger Menschen, das sich gleichsam in gebrochenen Linien hinzieht, wo
unter schamhaften Verkleidungen und beziehungsvoller Verschwiegenheit
die Aktion zerschmilzt, sind Erprobungen so unbekannt wie dem Theater
die Mordtaten alten Stils. Man kommt zueinander und redet; man hat auch
unberedet dieselben Meinungen; man streitet nur, um zu finden, daß man
dieselbe Meinung hat. Man ist immer weit vom Schuß, weit vom Geschehen,
es ist, als ob die Zeit hoch über den Köpfen ihre Wirbel triebe, als ob
das Schicksal weit unter den Füßen seine Gesänge heulte. Das Jahr ist
umfriedet, eine undurchdringliche Mauer umfriedet Tag und Jahr, und vor
den Toren wacht die Polizei. O Mann am warmen Ofen, scheinen bisweilen
bleiche, zerwühlte Gesichter zu sprechen, die aus dem Unterirdischen
auftauchen, von dort, wo das Schicksal seine Gesänge heult, stiller,
verwerflicher Mann am warmen Ofen, steig nieder zu uns, horch und
schaue!

Als Manfred den nahenden Schritt des Freundes vernahm, war es ihm
eine Sekunde lang zumute, als ob er den Freund kaum kenne. Was weiß
ich eigentlich von ihm? dachte er voll Unruhe; sein Gesicht ist mir
vertraut, seine belebte Stirn, seine beschäftigten Augen, seine
flinken Hände, seine angenehme Gestalt, seine bald helle, bald dunkle
Stimme, aber was weiß ich von ihm? Er gibt sich nicht. Was er gibt, ist
sein abgemessener Wille.

Das Bedenkliche solcher Skrupel mag sich aus dem angespannten
Seelenzustand des Grüblers und aus der Furcht erklären, eine dauernde
Hingebung nicht mit gleicher Glut und Offenheit erwidert zu sehen. Als
Erwin ins Zimmer trat, lächelnd und heiter angeregt, füllte er wie
jedesmal den Raum mit Sympathie, und Manfred machte eine Gebärde, wie
um sich der Erinnerung an einen häßlichen Traum zu entschlagen. »Wo
warst du?« fragte er.

»Wärst du nicht so faul und so verliebt, du hättest den Abend
nützlich verbringen können«, antwortete Erwin. »Arensen, der dänische
Südpolfahrer, hat in der Geographischen Gesellschaft Vortrag gehalten.
Es war mir wichtig, ihn zu hören. Ich glaube nicht daran, daß Alexander
den Diogenes beneidet, aber Diogenes ist in meinen Augen ein Schwein,
wenn er Alexander nicht von ganzem Herzen bewundert. Alles kann ich
fassen: höllische Strapazen erleiden, Hunger und Durst ertragen,
zweimal eine sechs Monate lange Nacht durchleben, in erstickenden
Schneestürmen über die Gletscherabgründe des antarktischen Eises
klettern, im Tran- und Kohlenstank einer schneebegrabenen Bretterhütte
wissenschaftliche Arbeit heikelster Art verrichten, eine Einsamkeit
mit Gefährten teilen, die einem alsbald ekel werden wie ein Hemd,
das man nie vom Leibe ziehen darf; gut, ich kann’s fassen. Aber den
Entschluß dazu, den faß ich nicht. Der Entschluß zu solchen Dingen
muß eine Raserei sein. Der Entschluß hält ja die Taten, er ist der
eiserne Tragbalken, der das Gebäude des Willens vor dem Zusammenbruch
bewahrt. Ich hab’ mir den Mann genau angesehen; harmlos, denkt man
sich, ein Schulmeister. Aber zwischen Stirn und Nase war jene fixe Idee
kenntlich, von der die Menschen der Tat besessen sind. Diese Leute
sind die Dramen, die Gedichte, die Lieder Gottes, das Dargestellte,
das Offenbarte, das, was Unbegreiflichkeiten und Hintergründe hat. Wir
aber, wir sind die langweiligen Kompendien, die flachen Schilderungen,
das naturalistische Quiproquo, die Makulatur.«

Das alles sagte er ziemlich hastig und sehr gestenreich, während der
Diener das Abendbrot servierte. Manfred schaute gebannt auf diese
flatternden, flackernden Lippen, diese eindringlichen Augen mit dem
festen Blick, diese entschieden geeckte Stirn unter braunen und
sorgfältig gescheitelten Haaren, dies glattrasierte, weiße, milchig
blasse, zartgeäderte und zarthäutige Gesicht mit der feinen, schmalen
und neugierigen Nase und den beim Sprechen vibrierenden, wie bei einem
Schauspieler sich verfaltenden und wieder straffenden Wangen. Die ganze
Erscheinung hatte etwas vehement Überzeugendes.

»Hast du schon gegessen?« fragte Erwin. »Nein? So setz dich her.
Wichtel! Einen Teller und Besteck!«

Als Manfred ihm gegenüber Platz genommen hatte, fuhr er fort:
»Entschuldige das Wir von vorhin, Manfred; ich meine eigentlich nur
mich. Die richtigen Egoisten sagen immer ›Wir‹, wenn sie sich selber
verdammen. Ich habe keine fixe Idee, das macht mich so ruhelos. Ich
bin eine unpolitische Natur, ich habe keinen Anschluß, ich bin kein
Vertreter, kein Repräsentant, ich bin nichts weiter als ein Ich,
ein Ichlein, das sich manchmal einbildet, die geistige Maschinerie
Europas mit in Bewegung zu setzen. Du, du bist ein Träumer. Träumer
können aufwachen, von Träumern weiß man nie das Ende. Dir ist’s ja
auch geglückt, deiner schwebenden Leidenschaft einen Inhalt zu geben,
was mir nie gelingen wird. Ich habe bloß die Leidenschaft und keinen
Inhalt. Ich kann nicht lieben, ich kann nur hassen. Meine Leidenschaft
erkaltet, wenn sie einen Gegenstand umklammert, mein Herz wird matt,
wenn es besitzt. Vor Wochen lernte ich ein junges Mädchen kennen,
gleichviel wo, gleichviel wer es ist. Frisch und duftig wie eine
Feldblume, sag’ ich dir, und graziös wie nur irgendeine in dieser
wunderbaren Stadt. Ich hielt es für unmöglich, sie zu entflammen. Ich
wünschte es gar nicht, mich quälte der Gedanke, daß diese Unschuld aus
der Sternensphäre sinken könnte. Unschuld, siehst du, das ist es! Das
ist die Göttin, vor der ich liegen und beten möchte! Aber Unschuld ist
offenbar nur ein Reiz und nicht eine Wirklichkeit. Na, und diese – zwei
Monate hat es gedauert, da kam sie, schmiegsam wie ein junges Kätzchen
und traurig und zärtlich wie eine schon Gefallene. Mir wurde weh dabei.
Ich nahm sie, gewiß, ich nahm sie, aber mit Wut, mit Verachtung, und
dann gab ich ihr zu verstehen, daß alles aus sei zwischen uns. Ich war
enttäuschter und zerstörter als sie, das kannst du mir glauben.«

»Du wirst sie zerbrochen haben«, bemerkte Manfred kurz.

Erwin zuckte die Achseln. »Sie wollte zerbrochen werden«, entgegnete er.

»Man macht dir’s eben viel zu leicht«, sagte Manfred kopfschüttelnd.
»Bisweilen ist mir, als ob dich dein Dämon ins Unwegsame locken wollte,
um dich zu verstricken.«

»Wär’s doch so!« rief Erwin aus. »Besser als, wie jetzt, durch das
Leben zu rasen, mitten drin zwischen der Tat und dem Entschluß. Aber
lassen wir’s. Das klingt alles so großartig und ist simpel wie eine
Leichenrede. Wann reisest du?«

»Übermorgen.«

»Und dein Mädchen? Wie verhält sie sich zu einer so langen Trennung?«

»Ich mag nicht, wenn du ›dein Mädchen‹ sagst«, versetzte Manfred
unwillig. »Im übrigen wollt’ ich dich bitten, morgen mit mir zu
Virginia zu gehen. Sie will dich kennen lernen.«

Erwin rümpfte kaum merklich die Nase. »Ich vermute, daß du sie endlich
so weit gebracht hast, einen Störenfried bei sich aufzunehmen«,
sagte er dann. »Aber ich werde ihr versichern, daß ich von meinen
Vormundschaftsrechten nur sparsamen Gebrauch machen will.«

»Das magst du nach Gutdünken halten«, erwiderte Manfred ernst.
»Immerhin vergibst du dir nichts und mußt nicht fürchten, feierlich zu
sein, wenn du nur versprichst, deine Freundschaft gegen mich auf sie
zu übertragen. Sie ist allein, sie ist schutzlos. Ihre Mutter zählt
kaum. Qualvoller Gedanke, solch ein Wesen auf sich selbst gestellt
zurückzulassen. Nenn es Phantasterei, nenn es Mangel an Gläubigkeit,
nenn’s wie du willst; wir sind ja alle dem Ungefähr ausgeliefert, und
ich sehe nur das Verderben auf allen Seiten. Ich würde nicht reisen,
wenn ich dich nicht wüßte.«

»Aber lieber, lieber, guter Mensch!« Erwin erhob sich und streckte
Manfred beide Hände entgegen, die dieser ergriff, schüchtern und von
dem ungewohnten Ausbruch freier Herzlichkeit bewegt. »Ich stehe dir
mit allem, was ich bin und habe, zur Verfügung«, sagte Erwin mit einer
Wärme, die der Stimme einen sonoren und seelenvollen Klang verlieh.
»Ich übernehme die Verantwortung gern und ohne Vorbehalt. Du hast mein
Wort, ich fasse die Sache so wörtlich auf, wie du sie verstehst.«

»Dank, tausend Dank«, entgegnete Manfred. »Ich brauche ja nur die
Sicherheit, daß du im Notfall für sie da bist. Du schreibst mir
gelegentlich über ihre Gesundheit, ihre Stimmung, darüber, wie sie
aussieht, was sie spricht und tut, das ist alles. Ich traue dir
Geschicklichkeit genug zu, um sie nicht durch eine Aufsehermiene
störrisch zu machen.«

Beide lachten. »Ich muß dir ihr Bild zeigen,« fuhr Manfred fort,
indem er einen handgroßen Karton aus der Brusttasche zog und ihn
Erwin reichte, »sie hat endlich meinen Wunsch erfüllt und sich
photographieren lassen.«

Erwin nahm das Bild und legte es wieder weg. Dann nahm er es abermals,
hielt es in Armlänge vor die Augen, und seine Brauen rundeten sich.

»Es ist keineswegs geschmeichelt«, sagte Manfred mit naiver Eitelkeit.

»Donnerwetter – ja«, murmelte Erwin. »Prächtig, ganz prächtig. Ich
dachte immer, du übertreibst, und habe insgeheim deine Schilderungen
belächelt. Aber das scheint ja eine vollendete Schönheit zu sein.«

»Und noch mehr.«

»Mehr? Was noch? Mehr gibt es nicht. Ist ohnehin selten. Darin ist
alles beschlossen.«

»Wenn wir im Zeitalter Platons lebten, würde ich sagen: eine vollendete
Tugend. Aber heutzutage macht sich das schlecht.«

»Gewiß. Tugend hat immer etwas Ranziges. Ein odioser Begriff.«

»So nennen wir es Unschuld. Trotzdem du die Unschuld leugnest.«

»Geht es nicht ein wenig wider die Schamhaftigkeit, von jemand zu
sagen, er sei unschuldig?« fragte Erwin stolz. Manfred senkte die
Stirn. »Wozu einen Titel? Besitze, Freund, genieße und laß den
Kommentar. Worte zerstören. Und wirf einen Ring ins Wasser wie
Polykrates, denn du bist beneidenswert.«

Wichtel brachte eine Karte, auf welcher der Name Ottokar Graf Palester
stand. Erwin lächelte. »Der gute Graf ist immer Mitternachtsgast.
Bringen Sie kalten Aufschnitt, Wichtel,« wandte er sich an den Diener,
»der Herr Graf hat sicher noch nicht gegessen.«

Graf Palester war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann von
vornehmer Haltung und schweigsamem Gehaben. Er hatte ein blasses
Gesicht, einen rötlichen Spitzbart, schlichtes gelbliches Haar und
traurige Augen, die so blau waren wie Kornblumen. Die Finger seiner
schmalen Hände waren stets zusammengepreßt und edel gebogen, als ob
sie aus Gips wären. Sein Anzug verriet die Sauberkeit und Sorgfalt
eines Menschen, dem alles daran liegt, seine Armut vor der Welt zu
verbergen. Er war bis vor einem Jahr Marineoffizier gewesen, hatte
dann aus unbekannten Gründen seinen Abschied genommen und lebte mit
einem weiblichen Wesen geheimnisvoll zurückgezogen in der Vorstadt. Er
besuchte seine wenigen Freunde, die Freunde nicht ihn; dies hatte sich
so gefügt. Man achtete seine Armut und sein Geheimnis.

Erwin hatte ihn vor zwei Wintern in Kairo kennen gelernt. Er hatte
schon damals erfahren, daß der Graf im Besitz der sogenannten
Froweinschen Miniaturen war, die nach einem Sammler oder Mäzen des
achtzehnten Jahrhunderts ihre Bezeichnung hatten. Es gab nur drei
Exemplare dieses Werks; das eine befand sich in der vatikanischen
Bibliothek, das zweite war Eigentum eines Lord Pembroke in Schottland,
das dritte war zur Zeit der österreichischen Herrschaft in Toskana
durch einen Vorfahr des Grafen, die Palester waren italienischen
Ursprungs, aus Florenz nach Wien gekommen. Während das Geschlecht
immer mehr verarmte, gingen diese mittelalterlichen Malereien, die nach
Erwins Meinung einen außerordentlichen Wert hatten, als abergläubisch
behütetes Erbstück von Generation zu Generation. Man wähnte, daß der
Name Palester nicht untergehen könne, ja, daß ihm einst noch ein
neuer Glanz beschieden sein werde, solange dieser Schatz Familiengut
blieb. Graf Ottokar war nicht mehr in der Lage, das Archiv eines
Ahnenschlosses damit zu schmücken; obwohl er die Überlieferung als
Fabel hinnahm, so achtete er sie doch in einer Treue, welche nicht
mäkelt, und in einem Trotz gegen weltliches Gut, der durch eine
philosophische Lebensführung gehärtet wurde. Vor Wochen hatte er das
Buch mitgebracht, um es Erwin zu zeigen, und schon eine flüchtige
Prüfung hatte diesen belehrt, daß er ein Original vor sich habe. Die
drei in Europa verstreuten Exemplare waren einst ein Ganzes gewesen,
aber Erwin, der das römische kannte, stellte entzückt das Palestersche
höher, und seine Begierde nach dem Gegenstand wuchs im selben Maß wie
der Widerstand, den sie erfuhr. Wenn er zu ungestüm und zu phantastisch
mit seinen Angeboten wurde, lächelte Graf Ottokar voll Nachsicht und
versprach mit reizender Ironie, er werde ihm den Frowein hinterlassen,
wenn er ohne Leibeserben von hinnen gehen müsse. »Das dauert mir zu
lang«, entgegnete Erwin. »Ich will nicht erben, ich will erobern.«

Auch jetzt geriet das Gespräch auf die Miniaturen, und während der Graf
sich an den Tisch setzte und aß, wie man im Wirtshaus eine bestellte
Mahlzeit zu sich nimmt, schlich Erwin vorsichtig und lüstern um das
Thema.

»Was stellen denn die Bilder dar?« fragte Manfred.

»Es sind Heiligenlegenden«, erklärte Erwin; »einfach und primitiv
gemalt, aber mit einer Innigkeit, die ganz ohne gleichen ist.«

»Das mag ja sein,« antwortete Manfred, »trotzdem begreif’ ich dein
heftiges Verlangen nicht. Die Welt ist voll von schönen Werken der
Kunst, bekannten und unbekannten; warum soll tyrannische Habsucht den
Geist in Fesseln binden und den Genuß beschränken?«

Graf Ottokar blickte Manfred wohlwollend an, schwieg jedoch, um Erwin
nicht in seiner Entgegnung zu stören. Erwin legte die Hände flach
zusammen und sagte mit einem Ausdruck von Festigkeit und Glut: »Die
Welt ist groß und klein, wie man’s nimmt. Groß für die Wahllosen und
klein für die Wählenden, groß für die Augen und klein für die Hand.
Ich bin kein Augenmensch. Ich muß haben, ich muß greifen, zwischen den
Fingern muß ich’s haben und halten, auch auf die Gefahr, zu zerstören.«

»Nun ja, da ist der Punkt, wo Gott aufhört und das Chaos anfängt«,
bemerkte Graf Ottokar trocken.

Man stritt noch eine Weile für und wider, bis sich der Graf erhob, um
sich zu verabschieden. Manfred, der müde war, folgte seinem Beispiel,
nachdem er mit Erwin die Stunde festgesetzt hatte, zu der er ihn morgen
abholen wollte.

Als er mit Palester auf die ländlich öde Straße trat, schneite es. »Ich
gehe nie ohne ein befeuertes Gefühl von Erwin weg,« gestand Manfred,
»er hat die Gabe, mich ehrgeizig zu machen.«

»Ein interessanter Mensch, ein höchst interessanter Mensch«, erwiderte
Graf Ottokar leise. »Aber ich möchte sein Gesicht sehen, wenn er allein
ist, ganz allein. Er gehört zu denjenigen, deren Gesicht ich mir nicht
vorstellen kann, wenn ich sie allein denke. In einer großen Stadt, in
einem großen Haus und darin in einem großen Zimmer ... mir ist, als ob
er ein anderer wäre.«

Manfred blickte verwundert lächelnd auf, aber die Züge des Grafen
hatten einen ernsten, beinahe düsteren Ausdruck, als er fortfuhr: »Ich
nämlich, im Gegensatz zu Erwin Reiner, bin Augenmensch. Ich sehe zu
viel, und was ich nicht sehen kann, quält mich. Neuneinhalb Jahre hat
mein Blick nur auf der unermeßlichen Fläche des Ozeans geruht; nun ist
mir alles vermauert, Leben und Menschen. Ich komme mir vor wie ein
Zwangsarbeiter in einem Bergwerk. Wohin geht eigentlich Ihre Fahrt?«

»Über Madagaskar und Ceylon nach Sumatra, Australien, Polynesien.«

»Madagaskar, Ceylon, Sumatra«, wiederholte der Graf sinnend. »Und das
alles ist vorhanden. Jetzt, indem wir sprechen, rauschen dort die
Palmen. Nichts ist aufwühlender als das Gefühl der Gleichzeitigkeit.
Sie werden nachts auf Deck liegen, und das Meer wird leuchten, und die
Maschine wird pochen wie ein Herz.«

»Ich würde gern mit Ihnen tauschen«, entschlüpfte es Manfred.

»Ich verstehe,« antwortete Palester, »ich verstehe. Um so mehr wird Sie
die Reise verwandeln. Wir verwandeln uns nicht, wenn die Erlebnisse
mit unseren Wünschen übereinstimmen. Schreiben Sie mir einmal von dort
drüben, vom andern Ende der Welt.«

»Mit Vergnügen.«

»Vielleicht werde ich Ihnen ebenfalls schreiben. Ich werde bei Nacht
schreiben, Sie werden es bei Tag lesen, und so ist es auch gemeint.
Leben Sie wohl, Sie müssen einsteigen, ich gehe zu Fuß.«

»Zu Fuß bis nach Hietzing?« fragte Manfred erstaunt.

»Ja. In zwei Stunden bin ich zu Hause. Ich vertrage nicht den Lärm
dieser Vehikel. Leben Sie wohl.«

Manfred schaute dem Davonschreitenden mit unruhiger Teilnahme nach.

Am andern Nachmittag um drei Uhr fuhr er mit Erwin in dessen
Elektromobil zu Virginia.

Beim ersten Anblick des Mädchens stand Erwin ein paar Sekunden lang
steif wie eine Latte. Manfred konnte durchaus nicht erraten, was in ihm
vorging. Er selbst gab sich weniger natürlich als sonst; der Wunsch,
Erwin und Virginia möchten aneinander Gefallen finden, machte ihn
verlegen, und er beobachtete gespannt Haltung und Blicke von beiden.

Die Eitelkeit des Liebenden ist dem mütterlichen Stolz verwandt, auch
der Unruhe des Künstlers über die Wirkung seines Werkes; er suchte aus
Erwins Miene zu lesen, ob die Erwartung, die Virginias Bild geweckt,
unbefriedigt geblieben oder übertroffen worden war. Virginia ihrerseits
blickte dem Freund des Verlobten furchtlos forschend ins Gesicht. Nie
zuvor war sie Manfred so damenhaft erschienen; das Phlegma, das die
Schönheit verleiht und das vielleicht nur durch die Schönheit reizvoll
wird, gab ihr eine Distanz und eine Würde, die Manfred alsbald an
Erwins Belebtheit entzückt triumphierend genoß, etwa wie man zwei
seltene Leckerbissen zusammen in den Mund schiebt.

Es machte den Eindruck, als ob Virginia mit Erwins Betragen zufrieden
sei. Seine betonte Höflichkeit gefiel ihr, die Knappheit seiner
Ausdrucksweise ließ ihren Gedanken Spielraum, seine Zurückhaltung war
bedeutsamer als Schmeichelei und Bewunderung; er kündigte damit an, daß
ihm durch die Umstände sehr heikle Grenzen gezogen waren. Sie hatte
seine Kritik ein wenig gefürchtet, seine unbedingte Billigung, die sie
spürte, hob ihre Sicherheit. Seine Manieren hatten nichts Nachlässiges,
auch nichts absichtlich Fremdes; er war bescheiden, ganz einfach
bescheiden. Sogar Frau Geßner konnte nicht umhin, Manfred anerkennend
zuzunicken, als sie sich von Erwin unbeobachtet wußte.

Nach Verlauf einer Stunde, die mit belanglosen Gesprächen hingegangen
war, brach Erwin auf. »Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein, daß Ihnen
die Rolle, die mir Manfred während seiner Abwesenheit zuweist, kein
Kopfzerbrechen verursacht«, sagte er, indem er in den Pelzmantel
schlüpfte. »Ich überlasse Ihnen das Kommando. Betrachten Sie mich als
einen, der zur Verfügung steht. Vergessen Sie die Person und denken Sie
nur an das Amt.«

Lächelnd reichte ihm Virginia die Hand, die er küßte. »Ich kann nicht
kommandieren«, versetzte sie. »Sie würden mich auch viel zu eigensinnig
finden, wenn Sie kommandieren müßten. Es wird hoffentlich nichts
dergleichen nötig sein.«

Manfred begleitete Erwin über die Wendelstiege hinab. Auf der letzten
Stufe blieb Erwin stehen und sagte, indem er Manfred durchdringend
anschaute: »Hör’ mal, es ist doch ganz unmöglich, daß dieses Mädchen,
diese ... Dame, diese ... Aristokratin, diese ... Diana aus einer Ehe
stammt, wie du sie mir geschildert hast –?«

Manfred, mit niedergeschlagenen Augen, doch vor Freude lächelnd,
erwiderte unbedacht: »Wie scharf und wahr du siehst!« Sogleich
merkte er, daß er zuviel gesagt; er wollte seine Worte zurücknehmen,
verstrickte sich noch mehr, und weil ihn Erwins maliziöse Miene
ärgerte, glaubte er nichts Übleres zu tun, als was er schon getan, wenn
er das rührende Erlebnis von Virginias Mutter in Kürze berichtete.

»Es ist klar,« meinte Erwin, der aufmerksam zugehört, »solche Früchte
reifen nicht auf dem dürren Baum des bürgerlichen Behagens. Amüsant
wäre es, von diesem Punkt einmal die Naturgeschichte unserer großen
Männer zu durchforschen. Leider erheben sich davor die Festungswälle
tausendjähriger Heuchelei.«

»Versprich mir, daß du darüber schweigst«, sagte Manfred hastig.

Erwin zog verwundert die Stirne kraus. »Oh, wie das Grab«, antwortete
er, als könne eine solche Aufforderung nur scherzhaft genommen werden.
Sie drückten einander die Hand, und Manfred kehrte ins Haus zurück.

Alles, was nun kam, war Abschied. Daß auch Virginia langsam ihre
Fassung verlor, traf Manfred tiefer als der eigene Schmerz. Ihm war,
als ob er sterben müsse, um erst nach einer Ewigkeit das Dasein wieder
von neuem beginnen zu dürfen. Sie blieben bis über Mitternacht in der
Stube beisammen sitzen. Frau Geßner hatte sich zu Bett begeben. Ihr
Gebetbuch lag noch an der Ecke des Tisches, auf welchem eine Teekanne,
drei Tassen und eine mit Äpfeln gefüllte Schale standen.

Der Novemberwind surrte im Ofen. Sie redeten erstickte Worte; wenn sie
schwiegen, empfanden sie die Schauer als gefährlich, die über ihre
Haut rannen. Manfreds Hände suchten die Hände des Mädchens und flohen
wieder. Seine Blicke begehrten und krochen erschrocken in die Winkel;
spürbar kreiste das Blut in den Adern, und an den Kleidern trug er eine
Last wie ein Badender, dem eine Fessel nicht zu schwimmen erlaubt.
Virginia schien gefaßt, ja heiter; mit gütigem Lächeln kämpfte sie
gegen die bedrohliche Glut; in der Tiefe ihres Herzens begriff sie und
wehrte ab, sanft und mitleidig, bittend und beteuernd. Wie stolz sie
ist, dachte Manfred, von Liebe berauscht; wie unbezwingbar und wie
schön!

Endlich küßte sie ihn auf die Stirn und bat ihn zu gehen. Und er ging,
bestürzt, fast zornig, bleich und verwirrt.

Am nächsten Mittag, geschlafen hatte er nicht, brachte er ihr einen
Ring mit zwei prachtvollen Smaragden. Es war das erste Geschenk, das
sie annahm. Er war fertig, alles zur Reise bereit, das Gepäck war schon
auf dem Bahnhof, und um zwei Uhr, nachdem Manfred von Frau Geßner
herzlichen Abschied genommen, fuhren sie hin.

Sie gingen vor dem Zug auf und ab. Die Frist war bald verstrichen.
Virginias Gesicht wurde plötzlich weiß wie Porzellan, und als sie an
seiner Brust lag, schluchzte sie wie ein Kind. Manfred preßte sie an
sich, bog mit der Linken ihre Stirn zurück, schaute in ihre Augen und
dann empor. Es erlöste ihn kein Wort, kein Ausbruch.

Da kam Erwin, um dem Freund Lebewohl zu sagen. Rücksichtsvoll hatte
er die letzte Minute gewählt. Als er Virginia so hingeschmiegt
erblickte, war in der Linie ihres Körpers ein Etwas, das ihn stutzig
machte. Er sah zu Boden. Virginia gewahrte ihn und nahm sich zusammen.
Schwerfällig wie ein Greis stieg Manfred in den Wagen. Sein edles
Gesicht zeigte sich noch einmal am Fenster, lächelnd und sich
verdunkelnd, dann rollte der Zug aus der Halle.




Vorspiele


Beim Verlassen des Bahnhofs sagte Erwin zu Virginia: »Darf ich Ihnen
zur Heimfahrt meinen Wagen anbieten, gnädiges Fräulein?«

Sie hörte kaum die Frage, er hatte schon den Schlag geöffnet;
gedankenlos, von Kummer ganz benommen, stieg sie ein, nur in dem
Trieb, irgendwo zu ruhen und sich zu sammeln. Erwin erriet ihren
Zustand; er war bereit, sich zu entfernen. Da wurde sie sich ihrer
Unüberlegtheit bewußt, die nicht mehr gut zu machen war. Die Aussicht,
so, wie ihr zumute war, eine Viertelstunde lang oder noch länger in der
Gesellschaft eines fremden jungen Mannes verweilen zu sollen, war ihr
höchst unbehaglich. Ihn einfach fortzuschicken, das konnte sie nicht
über sich bringen, es erschien ihr unfreundlich und undankbar, und
sie bestand darauf, daß er mitfahre. »Sie müssen entschuldigen, wenn
ich nichts rede«, sagte sie mit zuckendem Mund, nachdem er gehorsam
eingestiegen war. Er nickte. »Sie werden sehen, daß ich unsichtbar sein
kann«, antwortete er und drückte sich in die Ecke.

Doch beobachtete er an Virginias unruhigen Augensternen fast mit Genuß,
daß ihr das Schweigen peinlich war. Er liebte es, von der Seite her
die Augen einer Frau zu betrachten; schwer zu sagen, weshalb. Das
Hinausstrahlende des unendlichen und gleichwohl gefangenen Blicks
liebte er vielleicht.

Das Gefährt hielt, er sprang hinaus und reichte ihr helfend die Hand.
Er hatte eine ritterliche Art zu warten, sich zu verbeugen, zu grüßen.
»Auf Wiedersehen«, sagte Virginia hastig.

Nachdenklich stieg sie die weiße Wendelstiege empor, und ihr war, als
käme sie in leichter zu atmende Luft. Sie fiel der Mutter um den Hals
und weinte sich satt.

Was nun? Die Arbeit gab ihr keine Freuden mehr. Man saß da und wartete
auf den Briefträger. Der Briefträger war nicht so faul, er brachte
an jedem Morgen eine Nachricht von Manfred. Vor seiner Einschiffung
schrieb er ausführlich; ein zweiter Brief, als leidenschaftliches
Adieu, kam schon vom Bord des »Phönix«.

Auch Erwin hatte einen Brief erhalten. Er hatte die Absicht, es
Virginia mitzuteilen. War dies eine überflüssige Zuvorkommenheit? Sie
war überflüssig. Es lockte ihn nichts dabei. Er hatte wenig Zeit. Sein
Tag war angefüllt wie ein Reisekoffer. Als er vor dem Hause stand, er
war zu Fuß gekommen, überlegte er, ob er nicht umkehren solle. Nichts
rief ihn hinauf. Verdrießlich kehrte er um und ging doch wieder zurück.
Vor der weißen Wendelstiege zögerte er abermals. Da erinnerte er sich
der hingeschmiegten Bewegung ihres Körpers, als sie an Manfreds Brust
gelegen, jener rätselhaften Linie, die ihn fast erschreckt hatte. Dies
entschied.

Virginia schützte Kopfschmerz vor und wollte sich alsbald vom Gespräch
zurückziehen. Erwin durchschaute die Absicht und suchte etwas, um sie
zu fesseln. Er brachte die Rede auf ihre Malerei und wünschte ihre
Skizzen zu sehen. Frau Geßner schleppte diensteifrig einige Mappen
herbei. Blatt um Blatt nahm Erwin und widmete den Versuchen, in denen
er nur ein mittelmäßiges Talent erkannte, sorgfältige Aufmerksamkeit.

Das Interesse Virginias erwachte durch seine Kritik, die von
gründlichem Verständnis zeugte. Er tadelte die Oberflächlichkeit und
mangelnde Kraft des Schauens. »Ja, das weiß ich,« stimmte Virginia bei,
»deswegen bin ich auch so lustlos.«

Er sprach über die Kunst wie ein Tischler über die Tischlerei.
Das gefiel ihr; Sachlichkeit imponierte ihr. »Es fehlt Ihnen das
systematische Studium der Natur und die Kenntnis der großen modernen
Meister«, sagte er. »Wer gibt Ihnen Unterricht?«

»Das ist ja eben das Unglück,« entgegnete Virginia, »der Mann ist ein
Anstreicher, weiter nichts.«

Erwin riet ihr eine Schule zu besuchen, die er kannte; er rühmte einen
der Lehrer dort als unübertrefflich; es sei eine staatliche Anstalt,
die Kosten wären infolgedessen gering, und er machte sich erbötig, ihre
Aufnahme durchzusetzen.

Virginia war unschlüssig. »Ich bin nicht gewohnt, mit andern zusammen
zu arbeiten«, wandte sie ein.

»Das heißt zu deutsch, Sie wollen in der Ahnungslosigkeit nicht gestört
werden.«

Virginia sah ihm entsetzt ins Gesicht. »Um Gotteswillen spotten Sie
nicht,« sagte sie, »Spott kann ich für den Tod nicht leiden. Das macht
mich ganz krank.«

Sie fürchtete mit Recht, er könne ihr Bedenken als Mangel an Ernst
deuten, und willigte ein. Sehr bald fand sie sich belohnt. Der neue
Lehrer nahm es genau und nahm es tief. Er verlieh den Gegenständen
Seele, indem er den Blick zu beseelen wußte. Virginia erfuhr allgemach,
was es mit solchen Dingen für eine Bewandtnis hatte, wenn man sie von
innen heraus hegen, erarbeiten und gestalten mußte. Sie bekam einen
gewaltigen Begriff von dem vorher so unbestimmten Wesen und sah auch
ein bescheidenes Ziel für sich selbst.

Den Kameraden und Kameradinnen gefiel ihre Art. Es war etwas Genaues
an ihr, kein nebelhaftes Wort kam von ihren Lippen. Sie lernte
Verhältnisse kennen, Charaktere abschätzen, Gesichter beurteilen und
hatte minder häufig Gelegenheit, an ein schwer ausfüllbares Morgen zu
denken. Das verlieh ihrer Anmut eine ununterbrochene Wirkung auf die
Menschen.

Da sie sich gern so gewandelt sah, erinnerte sie sich gern der
Hilfe Erwins. Er kam in jeder Woche ein- auch zweimal, in den
Spätnachmittags-, in den ersten Abendstunden, und seine Gesellschaft
war ihr nicht unlieb. Sein Gespräch war belebend, die eigenartige
Eleganz seiner Kleidung und seines Auftretens empfand sie als etwas
Auszeichnendes und Festliches. Der Fortschritt in ihren Arbeiten schien
ihn zu überraschen. »Seien Sie mutiger,« sagte er, »Technik haben heißt
weiter nichts als Mut haben.« Er wollte mit ihr in eine Galerie gehen
und schlug ihr das Palais Liechtenstein vor. Sie war dazu bereit, und
eines Vormittags holte er sie ab.

Die Säle waren leer. Das unerwartete Alleinsein mit dem jungen Mann
stimmte Virginia doch ein wenig zaghaft. Erwin spürte es und bemerkte,
die kleinbürgerlichen Beengungen harmonierten schlecht zu ihrem Wesen,
sie möge sie doch niederkämpfen. Sie schwieg, runzelte aber die Brauen.

Vor der Lautenspielerin von Carpaccio stehend, wußte er Dinge zu sagen,
die Virginia niemals gehört hatte. Er schuf ihr das Bild; er gab der
Gestalt Leben, der Idee Bedeutung. Zugleich war es, als enthülle er
sein Herz, das in einer Region von Sehnsucht und Verlangen webte, wo
man vor den Werken der Meister kniet und die Wunden heilt, die eine
grausame Alltäglichkeit schlägt. Seine Worte zwangen sie zur Ehrfurcht,
und sie mußte sich sagen, daß sie um so tiefer unter ihm stand, wenn
sie sich nicht neigte vor solcher Größe des Gefühls.

Versonnen kam sie nach Hause. Zum erstenmal fand sie sich durch die
Geschäftigkeit der Mutter gestört, dies Auf- und Abgehen, in den Laden
kramen, Vorsichhinreden und Uhraufziehen. So anheimelnd es sonst
gewesen, heute klagte sie darüber, wenn auch liebevoll, und Frau Geßner
setzte sich in den Ofenwinkel, um zu nähen. Drei Tage später erschien
Erwin gegen elf Uhr morgens; Virginia wollte gerade zur Schule. Sie
war verspätet und deshalb in schlechter Laune. Erwin lud sie ein, mit
ihm zur Eröffnung einer modernen Ausstellung zu kommen, sie werde
interessante Bilder und interessante Leute sehen. »An den interessanten
Leuten liegt mir nichts«, sagte Virginia. – »Das ist schade«, erwiderte
Erwin tadelnd. – »Schon deswegen, weil ich keine Toilette für sie
habe«, fügte Virginia lachend hinzu. – »Ihr schlechtestes Kleid wird
genügen, alle Modedamen in Schatten zu stellen«, behauptete Erwin
trocken.

»Das sind Komplimente, das laß’ ich mir gefallen«, mischte sich Frau
Geßner ein. »So geh doch,« wandte sie sich an das zögernde Mädchen,
»dein blaues Sammetkleid ist ja sehr hübsch.«

»Na schön, so will ich’s wagen«, antwortete Virginia und ging in ihre
Kammer.

Das Elektromobil stand schnurrend vor dem Haustor, und einige Frauen
und Kinder sahen mit neidischen Augen den beiden zu, als sie einstiegen.

Trotz ihres einfachen Auftretens erregte Virginia Neugier, ja merkbare
Bewunderung, als sie an Erwins Seite durch die Räume schritt. Erwin
ergriff die Gelegenheit, das junge Mädchen mit einigen Damen bekannt zu
machen, vor allen mit der Baronin Resowsky, einer hochgewachsenen Frau
von resoluten Manieren und furchtlosem Blick. Sie zog Virginia sogleich
in ihren Kreis, und alsbald schwirrte es um sie von neuen Namen und
ungewohnten Schmeicheleien. Eine nicht mehr ganz junge Person fiel
ihr auf, die ihr vom ersten Augenblick an mit einer Art von stummer
Huldigung begegnet war; sie hieß Marianne von Flügel, und nach kurzem
Gespräch mit ihr gab Virginia, eigentlich ohne Wunsch noch Lust, das
Versprechen, sie zu besuchen; als die Baronin Resowsky ein gleiches von
ihr forderte, war sie um die Mittel verlegen, solcher Bitte und Ehrung
auszuweichen.

Um Erwin drängten sich, sobald er allein stand, junge Männer und
erkundigten sich, wer die Novize sei. Es amüsierte ihn, geheimnisvoll
zu bleiben, und er beobachtete ohne Unterlaß Virginias Betragen, deren
Unruhe sich nur schlecht hinter einem schüchternen und beständigen
Lächeln verbarg. Auch musterte sie mit Erstaunen die kostbaren Gewänder
der Frauen. Sie war Zeugin des Ansehens, das Erwin Reiner genoß, um
dessen Wort und Gunst alle buhlten, und erkannte doch, daß er an allen
vorüberging und seine bestrickende Liebenswürdigkeit nur wie eine Gnade
walten ließ. Das verkleinerte sie in ihren eigenen Augen und Gedanken,
und was galt es viel, sich stolz zu tragen vor diesen Damen, die sich
gewiß weit über ihr stehend dünkten?

Sie konnte nicht umhin, gegen Erwin einige Andeutungen über ihre
Eindrücke fallen zu lassen, als er am folgenden Nachmittag kam. Aber er
bemühte sich, den Nimbus zu zerstören, den ihre Unerfahrenheit gewoben
hatte.

»Schließen Sie von der Buntheit auf den Gehalt, vom Gezwitscher auf den
Geist?« fragte er.

Sie verstand nicht ganz.

»In gewisser Weise sind alle diese Frauen käuflich«, fuhr er mit
gerunzelten Brauen fort. »Käuflich aus Ehrgeiz, aus Eitelkeit, aus
Habsucht, aus Gleichgültigkeit oder aus Verzweiflung. Und wollen Sie
wissen, womit man sie bezahlt? Man bezahlt sie mit dem Frieden der
Seele. Sie betrügen die Männer, mit denen sie verbunden sind, um den
Willen zum Echten und Edlen. Sie reißen ihr Opfer in Stücken, sie
plündern seine Brust und entleeren sein Gehirn.«

Virginia fühlte sich verletzt, mehr durch den Ton als durch die Worte.
»Sie leben aber doch unter ihnen«, hielt sie ihm mit aufblitzenden
Augen entgegen.

Er zuckte die Achseln und erhob sich, um die Flamme der blakenden Lampe
herabzuschrauben. Frau Geßner befand sich in der Küche, er war mit
Virginia allein im Zimmer.

Mein Gott, ja, er lebte unter ihnen, begehrt und hochgeschätzt, aber
fremd und entsagend. Das etwa war in seinen Mienen zu lesen. »Meine
Gärten sind verdorrt,« murmelte er schwermütig, um dann mit erhobener
Stimme fortzufahren: »Wer verachtet, muß seine Leiden nachweisen, das
ist wahr. Auch ich hatte eine Zeit, wo ich durch Sehnsucht gläubig
war. Jede dieser jungen Frauen war mir eine Göttin; von jeder habe ich
Wunder und Offenbarung erwartet, so lange sie mir unbekannt war. Ich
habe mich weggeworfen und habe Weggeworfene aufgehoben. Ich habe oben
und unten, in allen Winkeln dieser illuminierten Gruft gewühlt, die
man die Gesellschaft nennt, ich kenne sie alle, die Aristokratin, die
Bürgerin, die Abenteuerin, die Emporkömmlingin und die Gefallene. Was
war das Ende? Traum um Traum ist abgeblättert wie die Schalen von einer
Zwiebel.«

Er stützte den Kopf in die Hand und sah an Virginia vorüber, ziellos,
doch mit tiefen Blicken. »Ich bin durch ganz Europa und durch den
halben Orient gezogen,« begann er wieder, gleichsam unwillig und
von der Erinnerung verstört, »ich war in allen Salons von Paris,
Petersburg, London, Madrid und Rom, habe meinen Durst nach einem
Menschenherzen in Ägypten und in Indien spazieren geführt, aber ich
bin im Norden so kalt geblieben wie im Süden. Hätte mich irgendwo und
wann eine göttliche Botschaft getroffen, daß ich zwanzig Lebensjahre
als Preis bezahlen müsse für einen Tag der Erfüllung, glauben Sie, ich
hätte mich besonnen? Nicht einen Augenblick. Später dann, wenn der
Wille erlahmt, fängt die Sünde an. Das Glück fordert eine Seele ganz.
Es flieht, wo sie sich in kleiner Münze vergeudet. Ach, Virginia,«
– Virginia zuckte zusammen bei dieser ersten vertraulichen Nennung
ihres bloßen Namens – »es ist nicht nur das persönliche Elend, das ich
Ihnen da enthülle, es ist der Jammer unserer Generation. Wir jungen
Männer allesamt gleichen dem Griechenkönig, der, ohne es zu wissen,
sein eigenes Kind verzehrt. Wir sind lauter Defraudanten unseres
eigenen Vermögens, unserer Bestimmung, unserer Würde, unserer Freiheit.
Erniedrigen Sie sich nicht vor dieser Welt, denn es ist eine Welt, wo
der Beste sein Herz und der Schlechte das des andern zerfetzt, wo der
Starke zu den Schwachen Brücken schlägt, die verkappte Falltüren, wo
die Gesetze Sträflingsketten und die Traditionen notwendige Übel sind.«

Er hatte sich erhoben, stand außerhalb des Lichtkreises, und seine
funkelnden Augen ruhten halbverdeckt unter den blassen Lidern. Virginia
nagte sinnend an ihrer Lippe. Plötzlich sagte sie: »Ich hätte nicht
gedacht, daß Sie Ihr Leben so beurteilen.«

»Und warum?«

»Eben weil soviel Menschen um Sie sind, weil Sie so viele Freunde
haben.«

»Freunde,« erwiderte er abschätzig, »Freunde! Was meinen Sie damit?«

»Nun ja, Sie haben doch Freunde. Manfred zum Beispiel.«

»Ah, Manfred. Dann dürfen Sie nicht von Freunden sprechen. Manfred ist
mein Freund.«

Virginia sah ihn verwundert an. Sie verstand die Unterscheidung nicht.

»Freunde sind Kostgänger, Trabanten, Spione, Nachahmer, Mitspieler,
Spielverderber«, sagte er fast ungestüm. »Freunde und ein Freund, das
ist wie: Götter und Gott. Wenigstens ungefähr so. Manfred war für mich
etwas wie ein geliebter Schüler. Es war vielleicht mein schönstes
Erlebnis, wie aus seiner zarten Natur eine feurige Tüchtigkeit strömte.
Er hat die Flamme auf mich übertragen, die ich in ihm angefacht, und so
sind wir Brüder geworden, zwei Söhne einer Flamme.«

Dieses poetische Bild wirkte auf Virginia insofern, als es in ihr die
Vorstellung von der starken Zusammengehörigkeit Erwins und Manfreds
befestigte. Sie hatte es nie so liebevoll bedacht, und nun war es ihr,
als ob Manfred dadurch allen Fährlichkeiten weiter entrückt sei. Sie
blickte Erwin dankbar an.

»Deshalb war ich auch eifersüchtig auf Sie, warum soll ich’s nicht
gestehen«, fuhr er fort. »Man verzichtet nicht gern auf den
ungeteilten Besitz eines Menschen, der das Lebensgefühl erhöht und dem
man in starken und schwachen Stunden alle Geheimnisse ausgeliefert
hat. Oft hab’ ich seine Liebe zu Ihnen wie einen Verrat empfunden. Ich
konnte nichts dagegen tun. Der Feind, an den ich verraten wurde, war
mächtiger als ich.« Er lächelte spöttisch-galant.

Beunruhigt von der Wendung des Gesprächs stand Virginia auf. Sie
antwortete nichts.

Sie war im Hauskleid; Erwin heftete den Blick wie geistesabwesend
auf ihren nackten Hals, auf die zuckende Ader unter der Kehle und
die bebende Sehne, die sich vom Ohr herab gegen die Schulter stemmte
wie eine Säule aus Elfenbein. Virginia wurde rot. Dann errötete sie
abermals darüber, daß sie rot geworden. Erwin fragte in einem fast
naiven Ton, weshalb sie errötet sei. Da wurde sie zum dritten Male rot,
nahm ein schwarzes Seidentuch vom Haken und warf es um den Hals, mit
einer Bewegung als friere sie.

Als sie am folgenden Tag zum Mittagessen nach Hause kam, sagte sie: »Es
riecht ja nach Zigarettenrauch hier. Hast du Besuch gehabt, Mutter?«

»Ja, Doktor Reiner war bei mir«, antwortete Frau Geßner ein bißchen
verlegen.

»Bei dir? was hat er denn gewollt?«

»Nichts, gar nichts. Er hat mit mir geplaudert. Ist denn das sonderbar?«

»Also mit einem Wort, du hast eine neue Freundschaft«, scherzte
Virginia.

»Ja, mein Kind«, erwiderte Frau Geßner behaglich, und um ihre
außerordentlich feine kleine Nase legte sich ein schnippischer Zug,
was Virginia lächelnd bemerkte. Sie wunderte sich; daß Erwin Reiner
das Bedürfnis haben sollte, zuweilen mit einsamen alten Damen seine
Zeit zu verbringen, konnte sie nicht gut glauben. Sie hatte vor,
ihn zu fragen, unterließ es aber aus folgendem Grund. Wenn sie eine
solche Frage stellte, mußte er annehmen, daß sie die Unterhaltung, die
sie ihrerseits ihm gewährte, höher einschätzte als die der Mutter.
Sie fürchtete eitel zu erscheinen, und im weiteren Verlauf dieser
Überlegungen kam sie dahin zu wünschen, daß er die Zahl seiner Besuche
beschränken möge. Es war aber unmöglich, ihm das zu verstehen zu geben,
ohne seinen Stolz zu verwunden, ja ohne ihn gröblich zu beleidigen,
durfte er doch erwarten, daß er ihr mit seinem reichen und belebenden
Gespräch Freude bereite und daß sie ihm dankbar sei für das Opfer
vieler Stunden.

Sie konnte sich nicht beklagen; er war so zartfühlend, daß er einige
Male, als die Mutter sich zu ihrem gewohnten Abendspaziergang rüstete,
mit ihr zusammen aufbrach, um nicht mit Virginia allein in der Wohnung
zu bleiben. Wenn er dann weggegangen war, saß sie oft lange müßig und
erinnerte sich an Worte, die er gesagt, an Ereignisse, die er erzählt,
an Personen, die er geschildert hatte. Er besaß eine wunderbare Kunst
darin, Begebenheiten und Menschen plastisch darzustellen, ohne sich im
geringsten gegen die Natürlichkeit zu versündigen. Da lebten Bälle und
Seefahrten und Wanderungen und Abenteuer in fremden Ländern und die
kleinen Intrigen der großen Welt und die großen Ränke kleiner Herren,
da lebte alles vom Unbedeutenden bis zum feierlich Historischen, und
alles hatte sein besonderes Gesicht und seinen Platz im Allgemeinen.

Einmal als er sich ruhelos und ruhebedürftig nannte, riet ihm Virginia,
er solle heiraten. Er erwiderte ernsthaft, er kenne die Frauen zu gut.
Man gibt den Reichtum der Erfahrung zu, wenn man der Enttäuschung
so gründlich sicher ist. Er wußte mit Verschwiegenheit sich selbst
in den Schatten zu stellen, während er bitter beredt den Bannstrahl
schleuderte.

Er kannte das treuherzige Kind aus der Vorstadt, das seinem Liebsten
keine Gunst verweigert, das in einer leicht zu täuschenden, gesang- und
tanzfrohen Welt wohnt, in einer von den zahllosen Stuben gepferchter
Häuser, wo man sich beim Pfänderspiel und dem Scheppern eines Pianinos
bis fünf Minuten vor zehn Uhr des Lebens Lust und Überschwang ergibt.
Ein Idyll, das den Nachteil der Langeweile hatte.

Er kannte die Modedame, die Tigerin des Vergnügens, deren
Gewissenlosigkeit sich wie Rachsucht ausnimmt und deren Verfeinerung
von der Erschöpfung kommt. In ihr ist eine großartige Kraft zur Lüge,
und sie versteht es, durch Zärtlichkeit zu quälen. Sie fängt ihre Leute
wie der Fuchs ein Huhn, und sie ist leer, unergründlich leer; aber
der Abgrund lockt zum Sturz, und wer nach einer Tiefe verlangt, den
schreckt keine Finsternis. Wenn er dann von dem unheilvollen Sturz
erwacht, macht ihn der Ekel zum Verbrecher. Er will nicht mehr Huhn
sein, sondern Fuchs. Nichts ist verführerischer in der Gesellschaft als
die Gebärde eines Mannes, der die Peitsche zu schwingen weiß. Wenn’s
nur knallt; alles seufzt erleichtert auf, wenn’s knallt.

Er kannte die jungen Mädchen, die frühzeitig eine Art von verliebten
Beziehungen pflegen, welche man in den oberen Ständen Flirt nennt.
Eine Sache, dazu erfunden, um die Seele zu beschmutzen, während sie
den Körper bewahrt. Die erschlafften und neugierigen Geschöpfe stillen
den Hunger ihres Gemüts mit Zerstreuungen, die bloß Hunger nach
Zerstreuungen erregen, und können niemals den Anschluß an ein tätiges
Glück finden. Der Rattenfänger braucht nicht einmal zu pfeifen, die
Tierchen kommen von selbst, Väter und Mütter schreien Zeter, und es
gibt Verwicklungen wie bei Kotzebue.

Virginia erbebte. Das Bild der Verderbnis ging ihr nahe. Sie hatte
keinen Argwohn, daß all dies einen persönlichen Bezug haben könne. In
seinem edlen Zorn sah sie nur einen Beweis seines edlen Interesses für
Menschen und Zustände.

Er sprach von berühmten Frauen, zum Beispiel von Rosanna Schörk, der
Schauspielerin. »Frauen von Genie sind streberhaft bis zur Raserei,«
sagte er, »und ihr glorioser Egoismus verleitet sie dazu, einen Mann
für ihren Ehrgeiz wie eine Nummer im Lotteriespiel zu benutzen. Da
verbeugt man sich, geht nach Hause und sperrt seine Türe zu. Aber ist
die Tür auch zugesperrt, so ist doch eine Glocke dran. Man hat nicht
den Mut, die Drähte zu zerschneiden. Warum, man weiß ja nicht, wer
kommen kann.«

Er stand auf, ging ein paarmal durch das Zimmer und blieb dann vor
Virginia stehen. »Ich möchte Ihnen aber auch Gesichter von Frauen
zeigen, Virginia, ich möchte sie emportauchen lassen wie ein Spiritist
die Geister, Frauen, die den Fluch der Verkommenheit mit dem Adel
unverschuldeter Sklaverei verschmelzen; Frauen, die heroisch sind,
indem sie sich preisgeben, und stolz, indem sie sich mit Füßen treten
lassen; Frauen, die so vom Schicksal gejagt sind, daß sie erlöst
scheinen, wenn sie zusammenbrechen; Frauen, durch deren Seele hindurch
man wie durch ein Zauberglas den Sinn und Wahnsinn unseres Lebens
gewahrt. Das möchte ich tun, weil ich Ihnen Weisheit geben, weil ich
Ihnen Illusionen rauben möchte, die eine reine Phantasie nur belasten.
Vielleicht bin ich auch auf einem Irrweg; die Unsicherheit darüber
reizt mich, denn Sie sind mir fremd, ganz unbeschreiblich fremd, wie
sonst kein Mensch.«

Virginia saß auf einem Bänkchen am Ofen. Ihr einer Arm erreichte mit
dem Handgelenk gerade noch den Tisch, wo er sich unbeweglich gestützt
hielt, der andere lag im Schoß. Ihre Oberlippe überschnitt ein wenig
die untere; die Spannung der Haut am Kinn drückte Unbehagen aus. Das
Haar bildete eine dichte glatte Welle über der Stirn, und das im
Lampenlicht irisierende Blond der Schläfenlöckchen schien bisweilen den
Goldschimmer des Fleisches verwandelnd zu beleuchten.

Sie sah wirklich die Gesichter der Frauen. Sie hatte Mitleid mit
ihnen. Sie sah die Räume, in denen sie hausten, die Betten, in denen
sie schliefen, und die Kleider, mit denen sie sich schmückten.
Wunderlicherweise war all das reich, reizvoll und begehrenswert. Da
verschwand ihr Mitleid wieder, und sie dachte an sich selbst. Ihre
Miene wurde zaghaft, wenn sie an sich selbst dachte.

Gegen Erwin blieb sie stille. Sie hatte Angst vor seinem prüfenden
Blick, auch Angst vor dem, was ihn so wissend machte, so genau, klar
und unbarmherzig gegen sein eigenes Leben.

Von Mal zu Mal seltsamer berührte sie sein Hereintreten ins Zimmer. Es
war stets, wie wenn man ihn zuvor nie gesehen hätte. Einen Moment lang
schien er zerstreut, ja sogar unfreundlich. Plötzlich strahlte er von
jener gewinnenden Liebenswürdigkeit, die nicht frei von Herablassung
war. Er sagte »mein Töchterchen«, zur Mutter sagte er Mama und
tätschelte gnädig die Wange der alten Dame. Er verstand es gemütlich zu
sein und schätzte die Gemütlichkeit. Trotzdem fühlte sich Virginia nie
so recht gemütlich.

Es umwehte ihn der Hauch vieler Begebnisse; vieler Menschen Wort und
Atem haftete an ihm. Seine Hände suchten immer etwas zu greifen; er
saß selten friedlich auf einem Fleck, meist ging er ruhelos umher.
In seinen Augen war noch der tobende Lärm der Straße oder doch das
Zuhören von einem früheren Gespräch. Die ganze Stadt war in seinen
Augen, deren Blick leuchtend dumpf war und etwas Zurückschiebendes
hatte, als wolle er sagen: bitte nicht zu nahe. Es war wie bei einem,
der eine zerbrechliche Kostbarkeit in der Hand hält und gestoßen zu
werden fürchtet. Er schien stets aus einer unbekannten Region zu
kommen, und die Art, wie er die Unterhaltung begann, hatte trotz
äußerer Leichtigkeit etwas Gezwungenes, als müsse er erst überlegen,
was er von den Vorgängen in jener Region zu verschweigen habe. Es
wirkte eigentümlich lähmend auf Virginia, daß man seine Gegenwart,
seine Sympathie, seine Erinnerung jedesmal neu erobern mußte, daß man
gesammelt sein mußte, während er sich erst sammelte. Man vergaß ihn
beinahe, wenn er fortgegangen war, aber man war angenehm bewegt und
geweckt, sobald er kam.

Bei alledem fiel es Virginia doppelt auf, daß er jetzt die Mutter
fast täglich besuchte, und das gerade in den Stunden, wo sie in der
Malschule war. »Was sprecht ihr denn miteinander?« erkundigte sie
sich mit verwundertem Lächeln, aber Frau Geßner tat geheimnisvoll.
Es zeigte sich jedoch, daß sie in der Folge bei vielen Gelegenheiten
auf die gedrückten Verhältnisse anspielte, in denen sie beide sich
zurechtfinden mußten. Nicht hoffnungslos wie vordem redete sie darüber,
sondern als ob ein Wandel möglich, als ob er zu gewärtigen sei, als
ob sie Pläne und Aussichten habe. Virginia wußte nicht, was sie davon
denken sollte.

Erwin hatte vorsichtig begonnen, sich in die Vermögenslage des kleinen
Haushalts Einblick zu verschaffen. »Wie kann man so leben!« rief er
ehrlich erschrocken, als ihm Frau Geßner die geringfügige Summe
nannte, mit der sie wirtschaften mußte. »Hat Manfred sich nie darum
bekümmert?« fragte er.

Eine stolze Gebärde der Frau war die Antwort. Und diese Gebärde
entsprach ihrer Beziehung zu Manfred, indes sie dem Fremderen ihre
Dürftigkeit zu offenbaren vermochte. Manfreds Zartgefühl hatte den
Stolz gefordert, Erwins mutige Sachlichkeit zwang zum Vertrauen.

»Es wäre abscheulich, Ihre Tochter noch zwei Jahre oder länger in
so erbärmlichen Umständen vegetieren zu lassen«, sagte Erwin. »Eine
solche Edelnatur braucht Licht, Raum und Komfort. Ich bin erstaunt über
den guten Manfred. Es gibt Fälle, wo die vornehme Zurückhaltung wie
Nachlässigkeit aussieht. Schließlich hat er doch alle Verantwortung
stillschweigend übernommen und mußte darauf dringen, daß –; aber
freilich, wie wäre Virginia zu bewegen? Manfred war einfach nicht
schlau genug. Seien wir schlau, Mama. Wenn ein Kranker sich weigert,
seinen Strohsack zu verlassen, hebt man ihn im Schlaf auf und schiebt
ihm einen Pfühl unter, ohne daß er’s merkt.«

Frau Geßner verstand nicht eine Silbe. Ängstlich brach sie das Thema
ab. Da sich Erwin kalt verabschiedete, glaubte sie ihn beleidigt, und
als er ein paar Tage später wiederkam, fragte sie, was er mit dem
Strohsack und dem Pfühl gemeint habe. »Ich werde es Ihnen erklären,«
antwortete Erwin, »aber können Sie auch schweigen?«

»Ja, ich kann’s.«

»Sie sagten mir, Virginia besitze etwas Kapital; ist es möglich, fünf-
bis sechstausend Kronen davon flüssig zu machen?«

»Nein, das geht nicht,« antwortete Frau Geßner; »das Geld wird von
einem gerichtlichen Vormund verwaltet.«

»Das ist schade. Gerade jetzt hätte sich Gelegenheit geboten,
eine solche Summe zu verdreifachen. Es handelt sich dabei um eine
Spekulation, für deren Gelingen ich mich verbürgt hätte. Sehr schade.«
Bedauernd blickte er Frau Geßner an, die unwillkürlich die Hände
faltete. Plötzlich sprang er auf. »Da fällt mir etwas ein«, fuhr
er fort. »Es ist ja schließlich nicht von Belang, daß Sie mir die
Summe geben. Ich nehme an, Sie hätten sie mir gegeben, damit ich sie
fruchtbringend anlege. Ich strecke Ihnen einfach diese fünftausend
Kronen vor, ungefähr wie es die Agenten machen, nur daß ich keine
Zinsen beanspruche; haben wir dann das Geschäft glücklich zustande
gebracht, so ziehe ich meine Auslagen ab, und Sie bekommen den reinen
Gewinn. Wie gefällt Ihnen der Vorschlag?«

Der guten Frau wurde es schwindlig. »So? machen das die Agenten so?«
fragte sie.

»Genau so.«

»Aber wenn das Geld verloren geht? Wenn Sie sich täuschen?«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Mama.«

»Aber wie ist denn das denkbar? Wie geht das zu?« murmelte Frau Geßner.
»Warum tun es denn nicht alle Menschen, wenn es so gefahrlos ist? Da
läge ja der Reichtum auf der Gasse –«

»Ein Wagnis ist immerhin dabei,« versetzte Erwin lächelnd und
ungeduldig. »Aber die großen Fische im Meer, sehen Sie, die ziehen
die kleinen hinter sich nach. Ihre paar Kreuzer, Mama, die werden von
den Millionen geschleppt und mästen sich von ihnen. Man muß nur einen
Wächter haben, der einen benachrichtigt, wann so ein großer Fisch in
Sicht kommt. Manchmal frißt auch die Million den kleinen Fisch oder
wird mit ihm gefangen, aber lassen wir uns das nicht anfechten, ich
bürge Ihnen.«

Die Frau zauderte. Das Abenteuer erschien ihr unheimlich, doch am Ende
konnte sie der Verlockung nicht widerstehen. Nachdem sie eingewilligt
hatte, beharrte sie darauf, daß er einen Schuldschein von ihr annahm,
für welchen Deckung zu finden ihr bei einem unglücklichen Ausgang
schwer geworden wäre. Erwin ließ diese Formalität mit geschäftlichem
Ernst über sich ergehen. Während eines Gedankens Dauer erbitterte ihn
die Gewöhnlichkeit der Person, die ihn für einen Börsengänger halten
konnte, doch in der folgenden Zeit studierte er nicht ohne Interesse
alle Merkmale der Spielererregung an der alten Dame. Sie Virginia
gegenüber beherrscht zu machen, erforderte seine ständige Mahnung;
das Mädchen hatte scharfe Augen und betrachtete die Mutter oft mit
grübelndem Erstaunen.

Nach anderthalb Wochen überreichte Erwin Frau Geßner ein dickes Kuvert,
in welchem sich so viele Banknoten befanden, daß die Empfängerin
erschrocken aufschrie. »Hier ist der Schuldschein«, sagte Erwin
gelassen, zerriß das Papier und warf die Stücke ins Ofenfeuer. Die
Frau saß wortlos auf ihrem Stuhle. Der Anblick ihrer Bezauberung wirkte
unerquicklich auf Erwin.

»Bedenken Sie wohl,« sagte er beinahe hart, »daß diese paar Scheine
nicht in der Sparbüchse verschwinden dürfen. Die Absicht war, Virginias
Los zu verbessern. Eine Schönheit wie die ihre macht uns in jeder
Weise zu Schuldnern, Sie am meisten. Geben Sie ihr die leichtest
verdauliche Kost. Schaffen Sie teure Wäsche für sie an. Grobe Nahrung
und schlechtes Linnen würden die unvergleichliche Zartheit ihrer Haut
nach und nach verderben. Wenn sie ein Kleid trägt, in dem sie gering
erscheint, wird das Glück verringert, das sie hervorbringen soll.
Denn Virginias Aufgabe ist es, Glück zu erzeugen, so wie eine Kirche
Andacht, eine melodiöse Musik Vergnügen erzeugt. Knausern Sie nicht,
Mama. Ich werde Ihnen eine genaue Aufstellung von allen Dingen geben,
die Sie kaufen müssen. Und seien Sie unbesorgt, der Baum, den wir da
geschüttelt haben, ist noch beladen mit Früchten.«

»Wie soll ich Ihnen aber danken?« stammelte Frau Geßner beklommen.

»Indem Sie meine Ratschläge befolgen.«

»Aber ich kann’s doch Gina jetzt nicht mehr verheimlichen?«

»Ist auch überflüssig. Ich werde selbst mit ihr sprechen.«

Doch Erwin ließ der Sache zunächst ihren Lauf, und Frau Geßner zeigte
sich hilflos, als Virginia, stutzig geworden durch ungewöhnliche
Ausgaben, die Mutter zur Rede stellte. Sie hätte sich in verräterische
Widersprüche verwickelt, wenn zur gefährlichen Stunde nicht Erwin
erschienen wäre.

Er hielt allen Ernstes eine einleuchtende kleine Vorlesung über
Geldtransaktionen, über den Kurs, über Vermögensanlage und die
geschäftliche Ausnützung gewisser Strömungen. Was er getan habe, sei
nicht nur verzeihlich, es sei erlaubt, und nicht nur erlaubt, es sei
klug und gut, so klug und so gut wie das Beginnen des Landmanns, der
von einem fernen Fluß das Wasser auf seinen Acker leitet.

»Auf seinen Acker, ja; aber nicht auf einen fremden Acker«, wandte
Virginia lebhaft ein.

»Wenn er selber genug hat und sein Nachbar sich nicht zu rühren
versteht, warum nicht? Denken Sie doch nicht so krämerhaft, Virginia.«

»Man kann über solche Dinge nicht krämerhaft genug denken«, erklärte
sie eigensinnig.

»Danke.« Er sah sie von oben herab an, und sie wich seinem Blick aus.

»Ich hab’s so gewollt«, mischte sich nun Frau Geßner bündig in das
Gespräch, »und ich verantwort’ es auch.«

»So sind schon viele Leute ins Elend geraten, Mutter«, sagte Virginia
naiv warnend, und als Erwin lachte, zuckte sie beschämt lächelnd die
Achseln.

Sie sträubte sich gegen die unerwartete Wandlung der Umstände.
Erworbenes oder ererbtes Gut verlieh Eigentumsrecht; dies Geld war ihr
unheimlich, und Wünsche, deren Erfüllung es gewährte, kamen ihr wie
Vergehen vor. Sie beschloß, Manfred davon Kunde zu geben und ihre
Haltung seinem Urteil zu unterwerfen. Da sagte ihr Erwin, er selbst
habe an Manfred geschrieben, und sie wollte nun abwarten, ob Manfred
solchen Reichtum billigte, der, wie sie sich ausdrückte, »aus nichts
entstanden war, wie die Würmer im Mehl«.

Aber was für ein neuer Geist war plötzlich in die Mutter gefahren?
Virginia wußte kaum, wie es zuging, plötzlich sah sie sich im Besitz
kostbarer Wäsche; hatte jene reizenden Kleinigkeiten der Toilette,
die sonst nur verwöhnten Damen Bedürfnis sind; hatte Schuhe von
meisterlichem Schnitt und Hüte, die mehr gedichtet als wirklich
schienen. »Was treibst du denn, Mutter?« rief Virginia ein übers
andre Mal bestürzt. »Wehr dich nicht«, sagte Frau Geßner streng, »und
widersprich mir nicht. Es ist beschlossene Sache, daß das Geld, das wir
gewonnen haben, für deine Ausstattung verwendet werden soll. Ich möchte
ja Gott auf den Knien dafür danken, daß du’s nun endlich ein bißchen
besser hast.«

Dennoch schien ein Geisterarm die Herrlichkeiten in ihr Leben zu
stellen, die ihrem Körper, ihrem Auge, ihren Sinnen in gleicher Weise
schmeichelten. »Ich verstehe nur nicht, wo du plötzlich so viel
Geschmack hernimmst«, sagte sie zur Mutter.

»Geschmack! Was denn! man geht zu den besten Firmen und kauft das
beste. Ist das eine Kunst?«

»Wer hat dir denn die besten Firmen empfohlen?«

»Wer? Erwin zum Beispiel. Der kennt das alles aus dem Effeff. Siehst du
dabei was Ungehöriges?«

Virginia wußte keine Antwort. Zufällig kam gerade die Schneiderin,
eine hochmanierliche und gezirkelt vornehme Person, schlug Modenbilder
auf und nahm Maß zu einem eleganten Kostüm. Es ist doch schön, dachte
Virginia, wenn man geschmückt wird und kein schlechtes Gewissen dabei
hat. Trotzdem wünschte sie sich noch leichteren Sinn, wenn ihre Finger
liebkosend in Spitzen wühlten und bedächtig über Seide und Battist
raschelten.

Wie gerne spürte sie das feine Gewebe am Leib, wie sprach ihr Auge mit
den delikaten Farben edler Mode! Der Spiegel wurde ein liebevoller
Berater, und sie, sie wurde unnahbarer für zudringliche Blicke, stand
abgeschlossener da, indes die Art ihrer Bewegung unbewußt zu einer Welt
stolzerer Formen strebte.

Erwin erkannte es und hielt es für förderlich, ihr die Pforten dieser
Welt zu öffnen.




Ein Duell


Eines Tages wurde ein wenig gebieterisch die Glocke gezogen, Frau
Geßner öffnete und trat mit Marianne von Flügel ins Zimmer. »Sie dürfen
mir nicht böse sein, daß ich Sie überrumple«, sagte das Fräulein, auf
Virginia zugehend und ihr die Hand reichend, mit einer Stimme von
geübtem Wohlklang. »Erwin Reiner hat mich ermutigt, Sie aufzusuchen.
Erwin und ich, wir sind alte Freunde, mehr als Freunde, fast wie
Geschwister. Er hat mir soviel von Ihnen erzählt, und seit ich Sie
kennen gelernt, hab ich soviel an Sie gedacht, daß es mich eigentlich
keine Überwindung gekostet hat, den ersten Schritt zu tun.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen«, antwortete Virginia ziemlich steif.

Frau Geßner, die gleich angefangen hatte, Stühle zu rücken, Deckchen
zu glätten und ein paar Sächelchen dorthin zu tragen, wo sie ohnehin
schon gestanden waren, schleppte einen Sessel herbei und bat das
Fräulein, »sich nur ja nicht umzuschauen«, als ob eine so glänzende
Dame hier Schaden erleiden könne, wiewohl in letzter Zeit viel für
die Wohnung geschehen war. Neue Vorhänge hingen über den Fenstern,
einige Möbelstücke waren neu beschafft worden, und ein bescheidener
Blumentisch stand an sonnigem Platz. Virginia ärgerte sich über das
demütige Wesen der Mutter, und ihre Miene wurde zusehends fremder, bis
die besiegende Herzlichkeit der andern ihrem spröden Widerstand ein
Ziel setzte.

Es war etwas Aufgelöstes und Ungehemmtes an Marianne von Flügel.
Sie gab sich wie jemand, der das Leben groß sieht und die Menschen
klein. Sie war um Worte nicht verlegen, um die kühnsten nicht; ihre
Zunge spielte wie ein Weberschifflein hinter den starken Zähnen. Wie
sie saß und ein Bein über das andre schlug, wie sie ein goldenes
Zigarettendöschen aus der Tasche nahm, ein winziges Zigarettchen
zwischen die Lippen schob und beim Plaudern den Rauch verfließen
ließ, das hatte seine Art; da steckte Humor drin. Und Humor steckte
in ihren Bemerkungen über das Treiben der Leute; es waren kleine,
schelmische Nadelstiche, ein Lächeln, ein Wenden der Hand und alles
war vorüber: irgendeiner war tot, der vorher noch lustig gelebt hatte.
Um so gewichtiger mußte der Ausdruck der Bewunderung klingen, die
sie Virginia entgegenbrachte. »Es ist mein fester Vorsatz, daß wir
Freundinnen werden müssen«, sagte sie, und Virginia konnte nicht umhin,
sich darein zu ergeben. Als Marianne ging, bat sie Virginia, einen
Abend, der sogleich bestimmt wurde, bei ihr zu verbringen; es kämen nur
einige Freunde, Erwin natürlich auch. Virginia versprach es.

Am Morgen des betreffenden Tages wurde Frau Geßner unwohl und legte
sich fiebernd zu Bett. Virginia telephonierte vom nahen Postamt dem
Doktor Zimmermann, einem seit dreißig Jahren im Bezirk sässigen Arzt,
der schon den Vater Virginias behandelt hatte und, so selten er kam,
ein obsorgendes Verhältnis zu den beiden Frauen unverbrüchlich
pflegte. Es war ein graubärtiger Herr von gedrungener Gestalt, stramm
und scharf in Geste und Wort und infolge einer leichten Taubheit zu
selbstgefälliger Beredsamkeit geneigt. Er glich den Fehler aus durch
Klugheit, Erfahrung und ein expressives Temperament.

Er war nicht wie die meisten jungen Ärzte gekränkt, wenn man ihn
zu einem Schnupfen holte. Ein Schnupfen gehörte zur Soldateska des
Todes so gut wie ein Magengeschwür. Er erklärte den Fall für harmlos
und verfaßte ein tröstendes Rezept. Dann setzte er sich ans Bett der
Patientin und fragte nach diesem und jenem. Frau Geßners Erlebnisse
waren nicht so weitschichtig, daß sie den Namen Erwin Reiners bei
solchem Anlaß unerwähnt gelassen hätte. Das Gesicht des alten Doktors
veränderte sich; er hielt die Hand ans Ohr und ließ sich den Namen
wiederholen. »Ist das der Sohn von dem reichen Michael Reiner?« fragte
er. »Dieser – besondere Erwin Reiner? Der ... Kunstgelehrte oder ...
Naturforscher, was weiß ich? Der?« Und als Frau Geßner triumphierend
nickte: »Den Mann kennen Sie? Doch wohl« – mit dem Daumen über die
Schulter nach Virginia weisend – »das Fräulein Tochter nicht?«

»Ja, gewiß,« entgegnete Frau Geßner, »er ist der intimste Freund von
Ginas Bräutigam.«

Virginia war draußen im Wohnzimmer mit Holz und Schnitzmesser am Tisch
gesessen; jetzt erhob sie sich und trat leise durch die offene Tür.

»Na, da gratulier’ ich«, murmelte der Doktor und schüttelte den Kopf.

»Was gibt’s denn?« fragte Virginia heiter, indem sie sich gegen die
Schulter Doktor Zimmermanns herabneigte; »was haben Sie denn gegen
Erwin Reiner einzuwenden?«

Mit energischem Ruck wendete sich der Doktor und blickte das Mädchen
mit seinen braunen, lebhaften Augen an. »Ich?« antwortete er mit der
geräuschvollen Stimme der Schwerhörigen; »was ich einzuwenden habe? Das
will ich Ihnen erzählen. Ich habe einen Neffen, Ulrich Zimmermann mit
Namen, der einzige Verwandte, den ich besitze, überhaupt der einzige
Mensch, der mir dem Blut nach nahesteht. Diesen Neffen hab ich von früh
auf bewacht, bemuttert darf man sagen, denn er verlor beide Eltern
nach seiner Geburt. Ich habe für seine Erziehung gesorgt, ich habe
ihn aufs Gymnasium und auf die Universität geschickt, kurz, ich habe
meine Hoffnung auf ihn gesetzt und gedacht, der junge Mensch wird mal
meine Praxis übernehmen und quasi mein Leben fortsetzen. Wir führen ja
einen guten Namen, schon mein Vater war Arzt dahier und mein Großvater
gleichfalls. Eines Tages kommt der Bursche zu mir und sagt: ›Onkel, ich
will nicht mehr studieren.‹ ›So?‹ frag ich, ›und aus welchem Grunde
denn, mein Verehrtester?‹ ›Ich habe keine Lust an der Medizin‹, sagt
er. ›Nun, wozu hast du aber Lust?‹ frag ich. ›Ich will Dichter werden‹,
gibt er mir zur Antwort. Ich schau ihn mir von oben bis unten an und
sage: ›gut, mein Junge, wenn du Dichter werden willst, so laß dir das
von deinen zukünftigen Lesern bezahlen, von mir bekommst du keinen
Heller.‹ Er geht weg, und von der Stunde an hab ich ihn nicht mehr
gesehen. Das ist jetzt drei Jahre her. In liederlichen Kneipen hat er
die Nächte durchschwärmt und die Tage, Gott weiß wo, verschlafen. Ist
ein Schuldenmacher, ein Schwarmgeist und Phrasenritter geworden, ein
Kerl, der nichts arbeitet und in der Welt herumschmarotzt. Und wer,
glauben Sie nun, hat das auf dem Gewissen? wer, glauben Sie, hat mir
meinen ordentlichen, fleißigen, treuen und dankbaren Ulrich gestohlen
und zu einem Landstreicher gemacht? Ihr Erwin Reiner war das. Ganz
genau derselbe. Von dem Tag an, wo Ulrich den Mann kennen gelernt hat,
war er verhext. Ich habe ihm das Geld entzogen, um ihn durch Not zur
Vernunft zu bringen, aber der gewissenlose Freund hat ihn unterstützt,
hat seine Einbildungen genährt, sein angebliches Talent aufgebauscht,
hat ihn, mit einem Wort, unglücklich gemacht. Vor einem Jahr ist Ulrich
nach Amerika gefahren; dort wird er vollends verdorben sein.«

Der Doktor starrte eine Weile düster vor sich hin, dann fuhr er fort:
»Das wäre meine private Erfahrung. Von andrem möcht ich nur ungern
reden, um Ihnen den Gusto nicht zu verderben, mein schönes Kind, obwohl
die Spatzen es von den Dächern pfeifen. Der Mann ist über Leichen
gegangen, im wörtlichsten Sinn. Er atmet in der Luft des Skandals. Ein
Blütenzerknicker; ein Seelendieb; der echte moderne Selbstgott. Da
war vor ein oder zwei Jahren eine unselige Affäre, eine Weiberaffäre
natürlich, wobei es zum Duell kam. Ein junger, hoffnungsvoller Mensch,
Offizier, einziger Sohn seiner Eltern, hat sein Leben lassen müssen.
Die Sache ist vertuscht worden, kam nicht einmal in die Zeitungen,
aber Ihr Erwin Reiner kann das junge Blut nimmer von seinen Händen
abwaschen. Die Eltern sind bald darauf vor Kummer gestorben, und die
Frau, um deretwillen das Unheil geschah, hat den Schleier genommen.«

Virginia hatte den Kopf gesenkt und schwieg.

»Kennen Sie ihn denn persönlich?« fragte Frau Geßner mit bekümmerter
Miene.

»Wie?«

»Ob Sie ihn persönlich kennen?«

»Nein. Ich kenne ihn nicht. Ich wünsche ihn nicht zu kennen. Ich kenne
seinen Vater. Ein vortrefflicher Herr. Wir sehen uns bisweilen bei Frau
Malwine Engelhardt. Dort hat der alte Mann, der sich einsam fühlt,
etwas wie ein Heim gefunden. Es wird sogar davon gesprochen, daß die
beiden sich heiraten sollen. Aber der junge Reiner sucht das natürlich
zu verhindern. Es wäre eine Mesalliance in seinen Augen.« Der Doktor
lachte heiser und erhob sich. Virginia reichte ihm kühl die Hand. Es
tat ihr weh, den Freund Manfreds so verunglimpft zu wissen. Da Erwin
die Beschuldigungen des Doktors nicht widerlegen konnte, Aug in Auge,
wie es hätte sein sollen, nahm sie im Innern seine Partei.

Desungeachtet war sie verstimmt und hatte, auch weil die Mutter
bettlägerig war, die Lust verloren, den Abend außer Haus zu verbringen.
Erwin hatte versprochen, sie abzuholen, und gegen acht Uhr kam er.
Virginias Weigerung erstaunte ihn; den Hinweis auf die Kranke ließ
er nicht gelten. Er trat ins Nebenzimmer an Frau Geßners Lager und
fragte sie selbst. Sie redete Virginia zu, aber ihre Verlegenheit fiel
Erwin auf. Er roch Unrat, und alsbald erfuhr er, daß Doktor Zimmermann
dagewesen sei.

»Ach so«, sagte er; »ach so.« Er schaute Virginia, die ihm gefolgt war,
forschend an und trommelte mit den Fingern auf den Bettpfosten. »Und da
hat er wohl von seinem Neffen erzählt?« Virginia nickte. »Und bei dem
Neffen ist es wohl nicht geblieben?« Virginia nickte.

»Wissen Sie, wie sich die Geschichte mit dem Neffen verhält?« begann
Erwin ruhig. »Ich lernte Ulrich Zimmermann im Hörsaal der Anatomie
kennen. Er interessierte mich durch ein Wesen, das ich tönend nennen
möchte und das man nur bei genial veranlagten Naturen trifft. Wir
traten uns näher, und ich hatte bald Gelegenheit, mich seiner
anzunehmen. Seit seiner frühen Jugend ging er künstlerischen Neigungen
nach, sah aber keine Möglichkeit, sich vom verhaßten Brotberuf zu
befreien. Sein Onkel ist reich; er hat im Verlauf einer langen Praxis
ein Vermögen zusammengescharrt, ist aber von einem unnatürlichen Geiz
besessen.«

»Das stimmt, geizig ist er«, fiel Frau Geßner ein. »Seit zehn Jahren
spricht er von einer Reise nach Italien, was seine größte Sehnsucht
ist, aber er hat nicht das Herz dazu. Er gönnt seinem Stellvertreter
nicht die Einnahmen, die ihm dann entgehen würden.«

»Man macht oft die Erfahrung, daß Leute, die sehr langsam und durch
mühselige Arbeit zu Geld gekommen sind, sich ebenso schwer davon
trennen, wie sie es erworben haben«, erwiderte Erwin verteidigend.
»Nun, dieser Geiz allein hatte Ulrich verzweifelt und trübsinnig
gemacht. Jedes Mittagessen, der Kauf jedes Buchs mußte schwarz auf
weiß bescheinigt werden. Er hatte wochenlang gedarbt, um von dem
Alten nicht Geld fordern zu müssen, aber dieser Umstand erlöste sein
Gemüt auch allmählich von der Last der Dankbarkeit. Mich fesselte es,
das wilde Talent zu formen und aus dem Staub zu ziehen. Ich habe den
unbeschreiblichen Genuß gehabt, Zuschauer zu sein, wie ein lebendiger,
wollender Geist zu seiner Bestimmung heranwächst. Daran ändert kein
Onkel auf Erden etwas.«

Das klang nun ein wenig anders.

»Übrigens können Sie Ulrich heute abend in Mariannes Salon sehen«,
fügte Erwin, gegen Virginia gewandt, hinzu.

»So?« fragte Frau Geßner erfreut, »er ist also nicht in Amerika
zugrunde gegangen?«

Erwin lächelte. »Er ist vor acht Tagen zurückgekommen«, sagte er. »Ich
kann Ihnen ja verraten, daß ich selbst es war, der ihm die Mittel
verschafft hat, nach Amerika zu gehen. Es hatte einen bestimmten
Zweck; davon zu sprechen, ist hier überflüssig. Aber ich merke
schon und sehe es Ihnen beiden an,« fügte er bitter hinzu, »daß man
mir einen tüchtigen Nasenstüber versetzen wollte. Glauben Sie, es
überrascht mich? Es ist mir nichts Neues. Ich greife zu, wo die andern
schwatzen, mich lockt das Leben überall, das schöne, große, bunte,
dunkle Leben, aber hab ich in irgendeinem pestvergifteten Schacht eine
Goldader gefunden, dann fährt mir die ganze Meute der Neinsager und
der Kopfschüttler ans Genick, und wo ich etwas gerade gebogen habe, da
kommen alle, die sonst ihre Löcher nur verlassen, wenn’s brennt, um zu
konstatieren, daß das Krumme besser war. Ich schäme mich meiner Taten
nicht. Ich verheimliche sie nicht. Ich rechtfertige sie nicht. Ich
schäme mich meiner selbst nicht. Ich flüchte nicht vor mir. Ich habe
geliebt, ich wurde geliebt, ich habe gehaßt, ich wurde gehaßt, und ich
resigniere nicht, niemals, denn jede Form des Handelns ist besser als
selbst die edelste Resignation.«

Er stand da mit funkelnden Augen und schüttelte den ganzen Arm mit
der ausgestreckten Faust. Virginia, die sich um eine Last erleichtert
fühlte, blickte ihn mit ehrlicher Freude an und sagte: »Ich gehe mit
Ihnen, Erwin. Warten Sie. In einer Viertelstunde bin ich fertig.«

Und sie verschwand in ihrem Kabinett.

       *       *       *       *       *

Der Abend verlief angeregt. Die Huldigungen, die Virginia erfuhr,
beeinträchtigten keineswegs die bescheidene Meinung, die sie von sich
hatte. Erwin tadelte ihre hervortretende Bescheidenheit. »Ein bißchen
Hochmut ist nützlich,« sagte er, »das erzeugt Distanz.« Aber sie
konnte nicht hochmütig sein, weil ihre Anmut sie daran verhinderte.
Fritz Kynast, einer von Erwins Freunden, wollte finden und wünschte
es von Erwin bestätigt zu hören, daß sie der Lukrezia Tornabuoni von
Botticelli ähnlich sehe. »Nur ist die Tornabuoni tragisch gefaßt,
während für Fräulein Geßner eine innere Heiterkeit charakteristisch
ist.« Virginia nahm diese umfassende Kritik lieblich zweifelnd hin.
»Man soll nicht Seelenanalysen auf Grund eines Soupers treiben«, sagte
Erwin kalt.

Es hatte natürlich bei dem einen Abend sein Bewenden nicht. Marianne
von Flügel schien die Aufgabe übernommen zu haben, Virginia in die
Gesellschaft einzuführen. Virginia sträubte sich oft, aber Mariannes
Energie entwaffnete ihren Widerstand. Sie ging zu einem Tee bei der
Baronin Resowsky, und mit dieser Dame fühlte sie sich alsbald durch
eine lebhafte Sympathie verbunden. Marianne bemerkte es ungern und säte
Mißtrauen.

Marianne von Flügel war die Tochter des berühmten Professors und
Klinikers von Flügel, der sich eines Tages, verfolgt von Erpressern,
zerrütteten Geistes, eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.
Beschmutzende Gerüchte hafteten an dem Ereignis. Mariannes Mutter
war vor zehn Jahren mit einem Pianisten durchgebrannt. Nach dem Tod
ihres Gatten war sie zurückgekehrt, alt und stumpf. Sie war wunderlich
geworden, und man versteckte sie vor den Leuten. Drei Brüder lebten
wie große Herren, auch nachdem sie ihr Erbteil verpraßt hatten.
Marianne führte ein Haus; niemand wußte, woher das Geld kam. Verleumder
erzählten, in ihrem Salon werde nächtlicherweile gespielt. Verblaßter
Glanz war in den Räumen, welche aussahen, als ob die Sonne sich von
ihnen abgewendet hätte. Das Elend, das hinter Damastvorhängen und
fahlen Gobelins grinste, hatte Marianne gelehrt, wie man kurzsichtige
Gäste täuscht. Der Name ihres Vaters schien ihr die Pflicht der Haltung
aufzuerlegen. Die Brüder waren wie Bastarde, die das Gut dieses Namens
frech verschleuderten, die Mutter hatte ihn längst mit Füßen getreten.
Es läßt sich schwer ein Begriff von dem vernichtenden Hohn geben, mit
dem das achtundzwanzigjährige Mädchen heimlich auf das Getriebe einer
Welt blickte, die sich in immer konzentrischen Kreisen ermüdend um sie
bewegte. Die einzige Rettung war eine reiche Heirat, das stand für sie
fest. Ebenso fest stand es für sie, daß Erwin es war, der sie heiraten
mußte.

Man konnte in Zweifel sein, ob sie hübsch war. Sie wußte sich zu
tragen. Sie hatte die Grazie zweiten Ranges, die auf Übung, Urteil
und Geschmack beruht. Sie hatte Figur. Sie war es nicht. Sie täuschte
gefällig. Ihr Teint hatte etwas von der entwerteten Mattheit
gewaschener Seide. Ihr Profil war bewundernswert. Es gab Bilder von
ihr, auf denen das Profil statuenhaft bedeutend war. Im Leben war es
tot.

Ihre Undurchdringlichkeit hatte Erwin einst gefesselt. Auch jetzt
noch liebte er die Schauder, von denen er sie durchzittert fühlte,
wenn er neben ihr ging oder saß. Das war es eben, was ihn lockte, was
ihn unersättlich machte. Die Schauder waren es, die ein liebendes
Geschöpf vor ihm entkleideten, eine Stunde der Ergriffenheit, der
Anblick stiller Ekstase, die sein Welt- und Selbstgefühl zur weiteren
Schwingung trieben. Die sich an ihn verloren, die Seelen, von denen
nährte er sich, ihre Sehnsucht war seine Erfüllung. Da war er dann
brüderlich rücksichtsvoll, und seine Gebärden waren einschmeichelnd wie
die eines entflammten Knaben.

Jetzt spannte sich sein Wille glühend gegen ein anderes Ziel. Marianne
ertrug es wie ein Schicksal. Sie war erbötig, das Sprungbrett zu
halten, von welchem er in die Brandung stürzte, und sie hoffte, sie
erwartete es, sie rechnete damit, daß er einmal mit zermalmtem Herzen
zurückkommen würde, um nach ihr zu greifen, weil keine sonst ihm nahte.
Sie dachte niemals ohne Haß an ihn, und nie ohne Furcht, und nie ohne
die Neugier eines Menschen, der nicht weiß, was sich hinter einer Mauer
begibt, an der er täglich vorübergeht.

Es war an einem Abend im Januar. Marianne von Flügel feierte ihren
Geburtstag, deshalb war Virginia zu ihr gegangen. Sie traf Ulrich
Zimmermann dort, den sie heute erst zum zweiten Male sah. Marianne
bemutterte ihn; sie behandelte ihn als einen Poeten, das heißt,
sie behandelte ihn schlecht. Er war schweigsam. Er gehörte zu jenen
Naturen, die in Gesellschaft ein unsichtbares Schneckenhaus um sich
tragen, worin sie trotzig und scheu menschenfeindlichen Anwandlungen
zur Beute werden, die eine Folge unbefriedigter Eigenliebe sind.
Virginia fand sich beengt, da seine Blicke mit Hartnäckigkeit an ihr
hingen. Zum Glück kam Erwin bald; er brachte den Grafen Palester
mit. Der Graf kannte Marianne flüchtig. Als er Virginia vorgestellt
wurde, war sein Gruß ohne Förmlichkeit, sein Lächeln ohne Zwang. Seine
vornehme Art gefiel ihr; bald war sie mit ihm in eifriger Unterhaltung
über Manfred und Manfreds Reise, und sie spürte, wie sie es noch bei
keinem gespürt, daß er Manfred aufrichtig zugetan war.

Im Verlauf des Abends war Marianne so munter und kapriziös, daß
Mitrede und Widerpart allen Vergnügen bereiteten, und schließlich
hatte sie den Einfall, man solle doch an einem der nächsten Tage eine
Schlittenpartie ins Hochgebirge machen. Dem wurde beigestimmt, man
setzte den zweitfolgenden Tag fest, auch die Stunde des Stelldicheins
auf dem Bahnhof; Erwin sollte den Schlitten telegraphisch bestellen.
Er fragte Virginia um Einzelheiten, als ob sie Sachverständige in
Schlittenpartien sei; sie war im Zweifel, ob sie mittun solle, fügte
sich aber dem allgemeinen Drängen.

Während der nachflatternden Erörterungen ergriff Marianne plötzlich
Virginia bei der Hand und führte sie in ein Gemach nebenan. Ein
Hängeteppich statt der Tür trennte den Raum von dem Zimmer, wo die
andern waren. »Sie sind schön, Virginia«, sagte Marianne leise, »Sie
müssen auf Ihrer Hut sein.«

Virginia entfärbte sich. Ihre Lippen öffneten sich zur Frage. »Haben
Sie wissentlich jemand beleidigt?« fuhr Marianne fort, »vielleicht bei
der Resowsky? Oder gestern bei Wellhausens? Besinnen Sie sich einmal.«

»Ich weiß von nichts,« hauchte Virginia erschrocken, »was ist denn
geschehen?«

»Also unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, Virginia: Erwin
hat Ihretwegen ein Renkontre gehabt.«

»Was heißt das?«

»Was das heißt? Ein Herr hat eine ungehörige Bemerkung über Sie
geäußert, und Erwin hat ihn zur Rede gestellt.«

»Eine ungehörige Bemerkung? Über mich?« Virginias Augen funkelten, aber
aus ihren Wangen wich vollends jede Farbe. Marianne hatte eine Regung
des Mitleids und der Reue, andrerseits entzückte sie das Bild rührender
Entrüstung und schmerzlichen Erstaunens. »Seien Sie vernünftig,« mahnte
sie, »beherrschen Sie sich. Solchen Dingen ist man eben preisgegeben.
Die meisten Gespräche in unseren Kreisen sind Hinrichtungen Abwesender.«

»Was war es für eine Bemerkung?« – »Das weiß ich nicht.« – »Wer war
es?« – »Das – brauchen Sie gar nicht zu erfahren.« – »Und Erwin?« –
»Erwin? Er hat geantwortet, wie ein Freund antworten muß. Ich habe
Ihnen ja gesagt ...« – »Ich versteh’ es nicht.« – »Er wird sich
schlagen.« – »Ein Duell?« – Marianne nickte.

Noch einmal funkelten Virginias Augen auf, dann bemächtigte sich ihrer
eine tiefe Verstörtheit. »Ich möchte jetzt nach Haus«, sagte sie; »kann
ich von hier aus gleich in den Flur?« – »Ja, aber Sie können doch nicht
allein gehen.« – »Ich fürchte mich nicht. Ich will allein sein.« –
»Das geht nicht, in der Nacht ... Ulrich soll Sie begleiten.« Marianne
schob den Teppich zur Seite und rief Ulrich Zimmermann. Er übernahm den
Auftrag mit befangener Freude.

Marianne begab sich ins Speisezimmer zurück. »Fräulein Geßner läßt
Sie beide grüßen, sie hat sich unwohl gefühlt und wollte nicht weiter
stören«, sagte sie zu Palester und Erwin. Dieser zuckte auf und sah
Marianne drohend an. Wenige Minuten später empfahl sich Graf Ottokar.
»Was habt ihr miteinander gehabt?« fragte Erwin, als jener gegangen
war, und sein Blick wurde noch drohender.

Marianne zog ihr Döschen aus der Tasche, zündete eine der winzigen
Zigaretten an und fragte gleichmütig: »Wie stehst du denn eigentlich
mit ihr?«

Erwin zuckte mißfällig die Achseln. »Du bist taktlos, Marianne, diese
Eigenschaft ist mir neu an dir«, sagte er.

»Ich will dir behilflich sein, weiter nichts,« erwiderte Marianne,
und über Erwins verständnislose Miene etwas gezwungen lachend, fuhr
sie fort: »Ich habe dich unwiderstehlich gemacht. Ich habe dich in
ein Duell verwickelt. Man hat in Gesellschaft abschätzig über sie
gesprochen, – das fleckenlose Lamm hat gar nicht daran gezweifelt –,
du bist als Ritter für ihre Ehre aufgetreten, die Folgen ergeben sich
von selbst. Ich habe einfach etwas erfunden, wozu die Wirklichkeit zu
stümperhaft war.«

Erwin machte große Augen. »Und du denkst im Ernst, daß ich das aufrecht
erhalten werde?« fragte er.

»Du mußt. Was ficht’s dich an?«

»Köstliche Antwort: was ficht’s dich an. Ich meinerseits habe einen Ruf
zu verlieren.«

»Bah. Dir glaubt man alles. Du bist in Mode.«

»Ein Duell ohne Gegner, ohne Ursache, ohne Folgen?«

»Findest du das nicht prachtvoll? Endlich einmal etwas Originelles.
Du führst die ganze Gesellschaft an der Nase herum, denn alle müssen
es natürlich wissen, sonst hat es keinen Zweck, sonst bleibt deine
marmorne Göttin ungerührt. Ein Weiberherz, und mag es beschaffen sein
wie es will, wird immer davon bestimmt, wie die Welt über einen Mann
urteilt. Für die Verbreitung werde ich schon sorgen. Was riskierst du?
Nichts. Du hast deinen Gegner nicht getötet, denn er hat nie gelebt.
Und weil er nicht lebt, wird man ihn auch nicht finden. Wir beide, wir
schweigen.«

Erwin setzte sich rittlings auf den Stuhl und packte die Lehne mit
beiden Händen. So, den Kopf vorgeneigt, lachte er lautlos mit offenem
Mund, in dem die starken weißen Zähne blitzten und eine Goldplombe
leuchtete. »Deine Experimentalpsychologie ist unbezahlbar, liebe
Marianne«, versicherte er endlich, wobei in seiner Miene das Vergnügen
über den Einfall mit einer gewissen Verachtung gegen die Person
kämpfte. »Das hat Geist, ja, das hat Geist, ich kann’s nicht leugnen.
Aber du nimmst mir’s ja nicht weiter übel, wenn ich Virginia so bald
wie möglich aufkläre. Der papierne Lorbeerkranz ist mir ein bißchen
peinlich.«

»Das wäre die größte Dummheit, die du begehen könntest. Du würdest das
Mädchen für immer erkälten. Sie würde dir niemals verzeihen, daß sie
umsonst für dich in Sorge war.«

»In Sorge?«

»Gewiß. Sie ist besorgt für dich. Sie muß es sein, wenn sie Gemüt im
Leibe hat. Sie ist gekränkt worden, und du bist der Rächer. Zerstörst
du diese Einbildung, so erscheinst du ihr lächerlich, ob sie will oder
nicht. Das ist Frauenart. Der gut imitierte Lorbeerkranz ist also
besser als eine Narrenkappe.«

»Weshalb?« sagte Erwin leichthin, »man kann Narrenkappen so würdevoll
tragen wie Kronen.« Er runzelte die Stirn und stützte das Kinn auf das
Holz der Lehne.

»Außerdem – soll ich vielleicht als Lügnerin dastehen?«

»Mein Gott, ein Irrtum, ein Klatsch –«

Marianne sah ihn fest an. »Du wirst es nicht tun, Erwin. Ich kenne
dich. Es wäre ja philisterhaft, den Faschingsscherz ins Tragische zu
wenden. Der Kavalierstandpunkt gilt doch nicht unter uns.«

»Aber welches Interesse hast du daran, Marianne, du?«

»Ach, ich möchte, daß das kleine Abenteuer bald hinter dir liegt, es
beschäftigt dich über Gebühr«, entgegnete Marianne etwas frostig.

Erwin mußte lächeln. Es war Lust und Begierde in seinem Lächeln. Indem
er an Virginia dachte, sah er sie wie eine Lilie, deren weißer Glanz
allein Schutz genug ist gegen häßliche Berührung, und indem er das
Bild Mariannes hinzugesellte, wurde es von dem weißen Glanz verzehrt
wie Fackellicht von einer Magnesiumflamme. Ihn ekelte ein wenig vor
der billigen Heldenrolle, die ihm Marianne aufdrängte, doch sah er
ein, daß er damit viel gewann; und weil eine ihm tief innewohnende
Geringschätzung gegen Menschen und ihre Einrichtungen ihn stets reizte,
die Fesseln der Konvention für nichts zu nehmen, so pedantisch er sie
auch zu achten schien, überredete er sich leicht, in diesem Wagnis ein
heiteres Spiel zu sehen, welches er in jedem Augenblick mühelos beenden
konnte.

Ohne sich von solcher Erwägung etwas anmerken zu lassen, erhob er sich
und sagte kühl: »Auf übermorgen also. Ich hole dich und Virginia ab.«

»Gibst du mir nicht die Hand?«

Er reichte ihr die Hand, wie man einem Bedienten den Hut reicht.

»Und die andre, was ist’s mit der?« fragte Marianne mit gesenkten
Lidern.

»Welche andre?«

»Die Schwester von Fritz Kynast ...«

»Frau Zurmühlen meinst du? Es geht ihr vortrefflich. Gute Nacht,
Marianne.«

Als Erwin das Zimmer verlassen hatte, blieb Marianne an der Tür stehen,
um seinem verklingenden Schritt nachzulauschen und dann zu grübeln. Der
freundliche, gesellige Ausdruck ihrer Züge hatte sich im Nu verwandelt,
von Müdigkeit in Düsterkeit, von Düsterkeit in jene Verzweiflung, die
ein altgewohnter Kampf hoffnungsloser Gedanken erregt. Sie fühlte sich
schon an der Wende der Jugend, übersättigt und lustlos, ohne Zuversicht
und ohne Liebe, ohne Kraft und ohne Ruhe. Die Spule leerer Vergnügungen
war abgesponnen, und die öden Tage folgten einander scheinbar belebt,
wie auf einer Bühne ein schlechtes Stück, das nur Neulinge flüchtig
zerstreut, ewig wiederholt wird.

Sie bildete sich aber ein, daß sie zu den Schauspielern, zu den
Hauptdarstellern dieses schlechten Stücks gehöre, und das war ein Glück
für sie. Denn es verursachte immerhin Bewegung, gebot die Pflicht der
Haltung, ließ Schminke und Verstellung unerläßlich erscheinen. Die
amüsierten Zuschauer vernahmen nicht den blechernen Klang der Stimmen
und das puppenhafte Knarren der Gebärden, und so führte man die Rolle
zähneknirschend durch und konnte der Versuchung endlich kaum mehr
widerstehen, einmal aufzuschreien, den Ingrimm sich einmal vom Herzen
zu schreien und das blutsaugerische Lügenwesen zu enthüllen.

Hätte man nur nicht fürchten müssen, dann zur Rolle des Zuschauers
verdammt zu werden.

       *       *       *       *       *

Virginia konnte die Nacht hindurch kein Auge schließen. Hundertmal
überlegte sie, was sie dort, wo sie gewesen, für Worte gesagt, was man
ihr geantwortet, sie ließ die Gesichter vorüberziehen, die untreuen,
die undurchdringlichen. Um drei Uhr machte sie wieder Licht, nahm ihren
Handspiegel und prüfte mit Sorgfalt die eigenen Züge. Sie argwöhnte, zu
oft gelächelt zu haben.

Am andern Vormittag krochen die Stunden träge hin. Sie konnte nichts
arbeiten, und ihre Befürchtungen schlugen folgsam die Richtung ein,
die Mariannes Worte ihr gewiesen. Es wurde ihr schwer, sich vor der
Mutter zusammenzunehmen, obgleich diese nicht viel sah, weil sie
viel spintisierte. Sie wollte eine Absage für den morgigen Ausflug
schreiben, blieb jedoch unschlüssig. Unschlüssigkeit war ein Zustand,
den sie sonst nicht kannte, ein verhaßter Zustand, der ihre Sinne
trübte.

Da Erwin am Nachmittag nicht kam, ging sie gegen sechs Uhr zu Marianne.
Marianne war nicht zu Hause. Sie bat das Dienstmädchen, telephonieren
zu dürfen, und ließ sich mit Erwins Villa verbinden. Erwin war
gleichfalls nicht zu Hause. Während sie abklingelte, vernahm sie aus
einem der Zimmer zwei wild streitende Männerstimmen. Plötzlich stürzte
ein großer, totenbleicher Mensch im Zylinderhut heraus, an ihr vorüber
und durch die offene Tür die Treppe hinunter. Nun blieb es still.
Virginia ging erschrocken weg.

Kaum war sie daheim, so läutete es. Es war Marianne. Sie trug einen
kostbaren Chinchillamantel und einen großen Hut mit schwarzen
Straußfedern. Die Winterkälte hatte ihr Gesicht gerötet, und
Schneeflocken hingen in ihrem Haar. Sie weigerte sich, ins Zimmer zu
treten, da sie in Eile war. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß alles
glücklich vorüber ist«, flüsterte sie atemlos, schlang ihre Arme um
Virginias Hals und küßte sie schnell auf die Wange.

»Alles vorüber? Erwin ist gesund?« fragte Virginia, der es zumute war,
als löse sich eine klammernde Hand von ihrem Nacken. »Und der andere?«

»Unbedeutende Verletzung. Ein Denkzettel, weiter nichts. Gute Nacht,
Liebe, auf Wiedersehen! Halten Sie sich bereit für morgen. Wir werden
sehr, sehr lustig sein.«

Virginia blieb nachdenklich, und nicht froher wurde ihr ums Herz.
Andern Tags um neun Uhr früh fuhr sie mit Marianne und Erwin zum
Bahnhof, wo Ulrich Zimmermann und Graf Palester warteten. Im Kupee
setzte sich Ulrich Zimmermann neben Virginia; so scheu er noch gestern
gewesen, so zutraulich gab er sich jetzt. Virginia, die ein feines
Gefühl für äußere Formen besaß, hatte bislang an seinen Manieren Anstoß
genommen, nun versöhnte sie sich damit, denn was er sagte, hatte eine
geistige Schwere, die durch Selbstironie wohltuend gemildert wurde. Er
erzählte von Amerika wie jemand, der des Anblicks einer erhabenen und
schrecklichen Vision teilhaftig geworden ist.

Von Payerbach aus wurde der Schlitten benutzt, und die Fahrt ging ins
Höllental. Die Luft brannte vor Kälte, der Himmel vor Bläue, es wehte
kein Wind, über den Bäumen lag der Schnee gleich riesigen Watteknäueln,
grünblaue Eiskatarakte glitzerten an den Felswänden, die Häuser nah und
fern schienen ausgestorben, leergefroren, und in der höchst feierlichen
Stille tönten nur die zahlreichen Glöckchen am Geschirr der Pferde.

Auf einer einsamen Meierei wurde ein Imbiß genommen. In einem
Nebengelaß spielte ein alter Bauer die Harmonika, Marianne führte
ihn Arm in Arm herüber, und er sollte Walzer zum besten geben. Dies
vermochte er jedoch nicht, und man holte einen, der die Kunst verstand.
Erwin und Ulrich tanzten mit den Mädchen. Graf Ottokar blieb ruhig auf
seinem Platz. Marianne ersetzte durch Temperament, was ihr an junger
Grazie fehlte, aber Virginia, die tanzte! Die konnte tanzen, als ob
die ganze Süßigkeit und Glut eines Frühlings in ihren Adern gärte, als
ob die liedervolle Stadt da unten im Tal ihre Zauber, ihre Rhythmen
nur ihr allein zu eigen gegeben hätte. Sie war aus allem Gleichmut
gerissen, von Licht und Luft und Sonne und blühweißem Schnee berauscht
und wiegte sich in Erwins Arm, Kopf hintüber, Hals gespannt, Schultern
gelöst, Glieder beschwingt, mit unhörbarer Sohle wie ein Elfenwesen
am Rand mondbeschienener Wässer. Die andern ließen ihr beschwerteres
Treiben und schauten zu, auch die Hausbewohner drängten sich auf die
Schwelle.

Auf einmal, mitten im Tanz, hielt Virginia inne, blieb ein Weilchen
inmitten der verdämmernden Stube stehen, schloß die Augen und trat dann
erbleichend aus dem Kreis.

Sie dachte an Manfred – und an das, was zwischen ihr und Erwin lag. Sie
tanzte nicht mehr.

Auch auf der Rückfahrt schien sie verstimmt, und was ihr sonst immer
ergreifend war, der Abend in der Natur, sie vermochte ihn nicht zu
spüren. Marianne, der Graf und Ulrich waren auch schweigsam geworden,
nur Erwin, immer befeuert, immer an ein Ungemeines gebunden, rezitierte
Verse, alte deutsche Lieder und solche, deren Herkunft nicht genannt
wurde; eins davon bewegte Virginia, so daß sie ihn bat, es zu
wiederholen. Er wiederholte das Gedicht, mit dem Refrain hinter jeder
Strophe: »Einst konnt’ ich gehen, ohne müd’ zu werden, jetzt bin ich
müd’, ohne zu gehen.«

Aber als sie in der Dunkelheit Erwins dunklen Blick auf sich ruhen
fühlte, wallten plötzlich Zorn und Scham in ihr empor. Denn sie
mochte diesem Manne nichts verdanken, sie mochte ihm nicht das Recht
einräumen, für sie aufzutreten, sie wollte keinerlei Verpflichtung
tragen, sie wollte ihm nichts schuldig sein. Es mußte kommen, daß
darüber geredet würde; ach! Zungen, die hinter ihr her zischten!
Manfreds Stolz war in ihr beleidigt, ihr Zuihmgehören war bedroht.

Das Leben erschien ihr nicht mehr so einfach wie bisher. Insonderheit
mit Manfred war es so wunderbar einfach gewesen. Jetzt wirkten einfache
Ereignisse bedeutungsvoll, ohne daß sie den Grund erkannte. An einem
der nächsten Vormittage ging sie durch eine enge Gasse in der Stadt.
Ein daherstürmender Fiaker streifte einen Handwagen, von welchem
ein länglicher Blechkasten, durch den Anprall aus dem Gleichgewicht
gebracht, aufs Pflaster stürzte. Der Deckel des Kastens fiel ab, Wasser
strömte heraus, und sogleich wimmelten Dutzende von Goldfischen auf
dem frischgefallenen Schnee. Wimmelten und wandten sich, schnappten
mit den Kiefern, schlugen mit den Schwänzchen und schnellten kraftlos
in die Höhe. Es war ein liebliches und schmerzliches Schauspiel.
Virginia blieb stehen und sah versunken den Händen vieler Leute zu, die
geschäftig waren, die Tierchen wieder in den Trog zu werfen. Zu spät;
als man Wasser herbeigeschafft hatte, waren die meisten schon tot.

Das Bild verfolgte sie. Auch in ihrem Brief an Manfred war sie
versucht, es zu schildern, fand aber keine sinnvolle Anknüpfung. Es war
ein stürmischer Abend, das Mondlicht glitzerte auf den Schneebändern
der äußeren Fenster. Vom Turm der Piaristenkirche schlug es zwölf Uhr;
sie saß, den Federkiel an der Stirn, den Blick gegen die absterbende
Kohlenglut im Ofen gerichtet und dachte an die Goldfische. Die Mutter
rief sie zur Ruhe, aber Virginia antwortete, sie hätte noch viel zu
schreiben. Im Honigschatten ihres aufgelösten Haares lag das schmale
Antlitz, wie die Putten auf alten Gemälden in rosige Wolken geschmiegt
sind.




Das Tanagra-Figürchen


Man sprach in allen Salons der Stadt von dem Duell Erwin Reiners. Auch
einige Zeitungen bemächtigten sich des Gerüchts; in einem Arbeiterblatt
wurde die Behörde gefragt, wie lange sie noch die blutigen Spiele
unter den oberen Zehntausend zu dulden gedenke, und in einem Journal,
welches dem Klatsch diente, versah ein Reporter von mittlerer Begabung
die Angelegenheit mit einer Reihe prickelnder Zutaten. Erwin erhielt
eine polizeiliche Vorladung. Nach seinem Gegner gefragt, zuckte er die
Achseln und erwiderte, keine Macht der Erde könne ihn zur Indiskretion
zwingen. Er stellte sogar den Sachverhalt in Abrede, erklärte aber,
sich den Beweisen beugen zu wollen, die man gegen ihn finden würde.
Die Feierlichkeit der Beamten belustigte ihn ebensosehr wie die
aufgeregte Neugier seiner Freunde, und er hatte Mühe, seinen Ernst zu
bewahren. Da auch kein andrer Mensch den Namen des Partners in diesem
Schattenkampf herausbringen konnte, erschien die ganze Geschichte
um desto geheimnisvoller. Man munkelte, daß eine sehr schöne Frau,
deren Beschützer er war, die Ursache des Duells sei, aber wer auch
immer befragt wurde, mußte seine Unwissenheit bekennen. Einen ganzen
Vormittag lang läutete das Telephon fast ununterbrochen, und Stimmen
aus allen Gegenden der Stadt erkundigten sich voll Teilnahme nach
Erwins Befinden. Wichtel gab jedesmal den Bescheid, daß sich sein Herr
eines trefflichen Wohlseins erfreue. Unter der eingelaufenen Post
befand sich auch ein Brief von Helene Zurmühlen, der einer wahrhaften
und leidenschaftlichen Besorgnis Ausdruck gab. »Könnt ich nur wissen,
aus welchem Grund Sie Ihr teures Leben in die Schanze geschlagen
haben«, schloß das Schreiben; »ich zittere in dem Gedanken, daß Sie
dem Tod gegenüberstanden sind. Für mich hat ja der Tod keine Schrecken
mehr, für Sie hat er in meinem Herzen tausend. Alles ist mir fremd
geworden, Vergangenheit und Gegenwart haben sich von mir abgelöst, ich
bin mir selber fremd geworden und müßte mich hassen, wenn ich stark
genug dazu wäre.«

Erwin antwortete: »Bauschen Sie eine Niaiserie nicht zur Katastrophe
auf, Helene. Ich bin munter wie ein Fisch im Wasser. Sich selber fremd
sein – ein beneidenswerter Zustand, dem die Dichter unsterbliche
Eingebungen verdanken. Aber mit Haß? Nein. Fremd sein in Liebe, uns
selbst, uns einander, das ist der Weg zur Erfüllung und zum Genuß der
Welt.«

Während er Wichtel den Brief zur Besorgung übergab, trat sein Vater
ein. »Guten Tag, Alter«, sagte Michael Reiner. »Was ist denn los? Die
Leute reden ja massenhaft dummes Zeug. Bist du blessiert? Nein? Gott
sei Dank.«

Er sprach ein wenig keuchend; sein Gesicht hatte die Zinnoberfarbe
vollblütiger Greise, und er trug den österreichischen Bart mit
ausrasiertem Kinn. Er war athletisch gebaut und sah aus wie jemand,
der Widerwärtigkeit, üble Laune und Glücksfälle ohne viel Federlesens
hinunterschlingt und ausgezeichnet dabei gedeiht. Aber die unendliche
Liebe, die er für seinen Sohn hegte, kennzeichnete jede Gebärde. Er lag
gleichsam stets auf den Knien vor ihm, lauschte atemlos auf alles, was
er sagte, überlegte es später, erquickte sich erinnernd daran, wenn er
nachts nicht schlafen konnte, und hatte Herzklopfen in seiner Nähe.
Unglücklich Liebende haben eine Neigung zum Gesinde; er hatte draußen
schon den Diener ausgeholt, ob er über das Vorgefallene Bescheid wisse,
doch in solchen Dingen war Wichtel zugeknöpft wie ein Diplomat.

Die flackernden Blicke des Alten, welche die Unruhe und Unsicherheit
eines Mannes nicht verleugnen konnten, der gewohnt ist, daß man Geld
von ihm fordert, und nichts anderes als Geld, suchten in den Zügen des
Sohnes ängstlich nach einer Kundgebung der Freundlichkeit. Erwin saß
an dem großen, runden Tisch, der mit erlesenen Prachtwerken englischer
und amerikanischer Buchkunst bedeckt war, und schrieb von Zeit zu
Zeit kurze Notizen auf ein Blatt Papier, eine Tätigkeit, die der Alte
andächtig schweigend verfolgte.

»Bleibst du zum Essen?« fragte Erwin endlich kühl. – »Wenn du
gestattest, gern«, antwortete Michael Reiner und räusperte sich, was
wie das dankbare Knurren eines Hundes klang.

»Ich erwarte noch einen Gast, den jungen Zimmermann,« fuhr Erwin fort,
»das wird dich ja weiter nicht stören. Ich habe mit dir zu sprechen,
Papa, und wir wollen es gleich erledigen. Ich brauche nämlich eine
größere Summe, eine sehr bedeutende Summe. Wenn dir’s nicht paßt, sag
einfach nein, ich bin dir nicht böse, obwohl die Sache von Wichtigkeit
für mich ist.«

»Freut mich, daß du mir dein Vertrauen schenkst,« erwiderte
Michael Reiner, »freut mich, Erwin. Stehe dir selbstverständlich
zur Verfügung.« Mit seinen plumpen Schritten begab er sich zum
Schreibtisch, riß ein Blatt aus dem Bankbuch, das er in der Tasche
trug, und schaute Erwin fragend an. Dieser nannte die Summe, und
nach wenigen Minuten war er im Besitz des Schecks, den er gelassen
einsteckte. Der väterliche Reichtum beschämte ihn; er achtete nur
den aristokratischen Reichtum, der von Geschlecht zu Geschlecht
vererbt und mit der unnachahmlichen Noblesse gehandhabt wird, die den
Emporkömmlingen versagt ist.

Michael Reiner hatte nun seinerseits ein Anliegen. Seit fünfzehn Jahren
verbrachte er fast alle Abende bei Frau Engelhardt, der wohlhabenden
Witwe eines Getreidemaklers. Wie schon der Doktor Zimmermann gegen
Virginia und deren Mutter angedeutet, hatte er sich allmählich an
den Wunsch und Gedanken gewöhnt, die ihm grenzenlos ergebene Frau zu
heiraten. Er hatte niemals davon mit Erwin gesprochen, aber Erwin
wußte, wie die Dinge standen, und sein Verhalten war das ablehnendste,
das es gibt: er übersah die Freundin seines Vaters. Diese kränkte sich
darüber schon lange, und Michael Reiner machte nun mit klopfender Brust
den Versuch, Erwin zu bewegen, daß er Frau Engelhardt die Ehre einer
Visite erweise. »Du könntest mir wahrhaftig den Gefallen tun«, bat
er. »Wäre dir riesig erkenntlich. Ich hab’s der Malwine in die Hand
versprochen, und sie wird dich empfangen wie einen Prinzen. Sag nicht
nein, Erwin, dich kostet’s eine Stunde und mir macht’s eine Freude fürs
Leben.«

Erwin lachte. »Du bist nicht aufrichtig, Papa«, antwortete er tadelnd
und eindringlich. »Ich finde es nicht geschmackvoll, daß du mich über
deine Absichten täuschen willst. Es steht mir natürlich nicht zu, dir
bei der Ausführung irgendeines Vorhabens in den Weg zu treten, aber
ich würde die Lächerlichkeit dieses Vorhabens den Augen der ganzen
Welt enthüllen, wenn ich dir dabei behilflich wäre. Nein, Papa, nein!
Trotz aller Ehrerbietung, die ich dir schulde, werde ich nie und nimmer
die Schwelle des Hauses übertreten, in dem jene Frau wohnt. Du willst
heiraten? Schön. Nur verlange nicht von mir, daß ich es gutheiße. Ich
habe nichts damit zu schaffen. Die fremde Frau meines Vaters wird
niemals meine Mutter werden. Sie wird stets die spekulative Witwe eines
Kornhändlers für mich bleiben.«

Der Alte war sehr niederschlagen und schwieg. Früher haben die Väter
ihre Söhne abgekanzelt, dachte er, jetzt ist es umgekehrt; so ändern
sich die Läufte. Er überlegte, warum das so sei, und kiefte an dem
Elfenbeingriff seines Stockes. »Wenn man mit fünfundsechzig Jahren
heiratet,« fuhr Erwin lächelnd fort, »muß man schon eine Herzogin
nehmen, um den Spott der Welt zu ersticken. Passionen dürfen
plebejisch sein, denn sie sind vergänglich; durch eine Eheschließung
ruft man die Unsterblichkeit zum Zeugen auf. Bedank’ dich, Papa, für
die gute Meinung. Im übrigen,« fügte er lebhaft hinzu, »ehe ich’s
vergesse, da ist noch eine kleine Geschichte. Die Rosanna Schörk hat
eine junge, begabte Kollegin, der es momentan schlecht geht. Ich habe
versprochen, etwas für das Mädel zu tun. Du bist doch bekannt mit den
Theaterdirektoren, erlaubst du, daß ich dieses Fräulein, Martens heißt
sie, Christie Martens, zu dir schicke?«

Michael Reiner nickte, ohne im entferntesten zu ahnen, in welcher
Schlinge er sich da fangen sollte. Während des Mittagessens blieb er
finster in sich gekehrt, und da er wußte, daß seine schmatzende Art zu
kauen Erwin nervös machte, aß er fast gar nichts, stocherte, solang
Ulrich Zimmermann redete, mit der Gabel lustlos auf dem Teller herum,
aber wenn Erwin sprach, festigte sich sein Blick, und er merkte genau
auf. Nach beendeter Mahlzeit küßte Erwin den Vater zärtlich auf die
Wange und bot ihm für die Siesta sein Schlafzimmer an.

Ein prächtiges Verhältnis zwischen den beiden, dachte Ulrich
Zimmermann, der sich gleichwohl durch die Gegenwart des Alten beengt
fühlte; er gehörte zu den Beobachtern, die nichts sehen, aber alles
gesehen haben.

Erwin und Ulrich setzten sich in der Bibliothek einander gegenüber,
rauchten und tranken aus kleinen goldnen Tassen Mokka. »Was arbeiten
Sie?« fragte Erwin.

»Ich versuche mich jetzt an der Geschichte des Mirowitsch«, antwortete
Ulrich Zimmermann. »Wissen Sie, wer Mirowitsch war?«

»Nein.«

»Mirowitsch war ein Rebell aus der Zeit der großen Katharina.«

»So? Das ist lang her. Was hat es für eine Bewandtnis mit ihm?«

»Soll ich ausführlich erzählen? Wird es Sie nicht langweilen? Also
hören Sie zu. Mirowitsch war ein kleiner Edelmann aus einer zugrunde
gegangenen Familie und diente, schlecht besoldet, in einem Regiment
der Kaiserin. Es lebte damals noch ein Prätendent auf den zarischen
Thron, der braunschweigische Prinz Iwan Antonowitsch. Dieser war auf
der Festung Schlüsselburg unter dem Titel des namenlosen Gefangenen in
grauenhafter und langjähriger Einsamkeit inhaftiert. Aber das ganze
Land redet heimlich von ihm, und wo man nicht die Ohren der Spione
fürchtet, beklagt man sein Schicksal. Katharina muß natürlich wünschen,
daß dieses unbequeme Überbleibsel einer früheren Dynastie verschwindet,
und sie hat Auftrag gegeben, daß die beiden Offiziere, die ihn bewachen
und die auf solche Art nicht ohne Plan selbst zu Gefangenen gemacht
wurden, den Prinzen töten, wenn der geringste Verdacht entsteht, daß
er fliehen will oder durch Aufruhr zur Flucht ermuntert wird. Nun,
Mirowitsch kommt mit einer von den Kompagnien, die abwechselnd den
Wachdienst in der Festung versehen, nach Schlüsselburg. Mirowitsch
ist einundzwanzig Jahre alt. Er hat den Staatsstreich erlebt, er hat
erlebt, wie kleine Leute, die der Kaiserin zum Thron verhalfen, mächtig
und reich wurden, und er will ebenfalls mächtig und reich werden, denn
er hat nur Schulden, drei hungernde Schwestern und einen hoffnungslosen
Prozeß mit der Krone. Er kann nicht rauchen, er kann nicht trinken, er
kann nicht Karten spielen, er hat für alles das kein Geld. Es gibt kein
Opfer, das er nicht bringen würde, um aus seiner Armut und Dunkelheit
emporzusteigen. Bald genug erfährt er, daß der streng bewachte Häftling
niemand anders ist als Iwanuschka, der Kaiser, der heimliche Kaiser.
Mirowitsch beschließt, den Kaiser zu befreien. Ganz allein und auf
eigene Faust will er den Kaiser befreien, dann ist er reich, geehrt,
kann wieder rauchen, trinken und Karten spielen. Schlägt’s fehl, so
schlägt’s fehl; er ist ja auch so ein verlorener Mensch.«

»Er ist ein Narr, dieser Mirowitsch«, sagte Erwin trocken; »wie fängt
er denn das an, – ganz allein?«

»Ja, ganz allein«, fuhr Ulrich Zimmermann fort, der unter der Gewalt
seiner Eingebung erglühte. »Er verfaßt Ukase und Manifeste im Namen
des künftigen Zaren. Unter seinem Kopfkissen liegen schon alle
Papiere, die Kundgebung an das Volk, die Form der Eidesleistung, der
Befehl an die Regimenter. Er hat keine Teilnehmer, keine Mitwisser,
keine Genossen, als er eines Nachts mit seiner Kompagnie die Wache in
der Festung bezieht. Alles ist in mitternächtlicher Ruhe, da greift
Mirowitsch zu Schärpe, Degen und Hut, rennt in die Wachtstube und
schreit: ›Zu den Waffen!‹ Seine Soldaten gehorchen. Der Kommandant
stürzt im Schlafrock auf die Treppe und fragt: weshalb stellen sich
die Leute ohne Befehl in die Front und laden die Gewehre? Mirowitsch
schlägt ihn nieder. Er begibt sich an die Spitze seiner Truppe, und
auf den Ruf der Schildwache antwortet er: ›Ich gehe zum Kaiser‹. Die
Schildwache schießt, Mirowitsch läßt gleichfalls feuern, aber kaum ist
die erste Salve abgegeben worden, so sind die beiden Offiziere, die
Iwans Leibwache bilden, bei dem Gefangenen eingedrungen und haben ihm
den Degen ins Herz gestoßen, denn dazu sind sie ermächtigt. Der eine
dieser Mörder begegnet Mirowitsch und seinen Leuten auf der Galerie.
Mirowitsch zwingt den Mann, ihn zum Kaiser zu führen. Die Tür der
Kasematte wird geöffnet: es ist finster drinnen. Man holt Fackeln. Auf
der Diele liegt ein toter Körper, schwimmt Iwan Antonowitsch in seinem
Blut. ›Ihr Elenden,‹ ruft Mirowitsch, ›weshalb habt ihr das Blut des
Kaisers vergossen?‹ ›Was das für ein Mann war, wissen wir nicht,‹ ist
die Antwort, ›wir wissen nur, daß er ein Gefangener war.‹ Selbst die
Soldaten erbeben bei dem schrecklichen Anblick. Mirowitsch tritt an
die Leiche heran, kniet nieder, küßt die Hand und den Fuß Iwans, denn
jetzt, erst jetzt ist er zum Vasallen dieses Menschen geworden, der
bis zu dieser Frist nur das Merkziel seines Ehrgeizes war. Er läßt den
Leichnam in feierlicher Prozession durch die Festung tragen, und der
volle Generalmarsch ertönt. Nochmals küßt Mirowitsch die erkaltete
Hand und spricht: ›Seht, Brüder, das ist unser Kaiser Iwan. Wir sind
aber nicht glücklich, sondern unglücklich zu heißen. Und schuldig bin
nur ich, ich trage die Verantwortung für euch alle.‹ Damit war der
Aufstand zu Ende, die Truppen der Kaiserin überwältigten Mirowitsch’
Schar, und Mirowitsch wurde hingerichtet. Er starb mit Heldenmut und
Größe. Als das Volk den Kopf in der Hand des Scharfrichters sah,
ertönte ein lautes Ach, und die Menge erzitterte so, daß die Newabrücke
schwankte und das Geländer abfiel.«

Ulrich Zimmermann schwieg; er erhob sich und wanderte umher.

»Ich verstehe ungefähr,« sagte Erwin nach einer langen Pause, »ich
verstehe den Impuls ...«

»Sie müssen es empfinden, Erwin! empfinden müssen Sie’s!« versetzte
Ulrich schon in der Angst vor der Verstimmung, welche bei Künstlern den
Stunden des Enthusiasmus und des Vertrauens folgt. »Ganz allein begibt
sich Mirowitsch an ein Unternehmen, das aussichtslos, das vollkommen
bodenlos ist. Ganz allein steht er da gegen einen Staat, gegen eine
Welt. Und nicht darum handelt er, weil er überzeugt ist von der Größe
seiner Tat, nicht weil er den Menschen dienen will, nicht weil sein
Inneres ergriffen ist von Mitleid, Ehrfurcht oder Liebe, sondern weil
er sich nach Ämtern sehnt, weil er rauchen, trinken und Karten spielen
will. Er ist eitel, genußsüchtig und streberisch. Aus Eitelkeit,
Genußsucht und Streberei ersinnt er den vermessensten aller Pläne.
Eitelkeit, Genußsucht und Streberei begeistern ihn zu einer Tat, die
innerlich hohl ist, aber alle Züge der Genialität aufweist: Kühnheit,
Selbstverleugnung, Opfersinn und Leidenschaft. Und zuletzt, als ob die
Tat sein Schicksal geadelt hätte, wird aus dem gesetzlosen Schwärmer
und selbstsüchtigen Besessenen etwas wie ein Held. Denn zuletzt muß er
lieben. Das ist’s; unterliegend muß er lieben. Indem er zusammenbricht,
trifft ihn eine Ahnung des Wirklichen, weil sein Herz erwacht, weil er
liebt. Darin liegt der Kern: daß er liebt, wenn es zu spät ist. Denn
die Liebe hätte ihn vielleicht gelehrt, zu entsagen. Aber Mirowitsch
kann nicht entsagen. Er will rauchen, trinken und Karten spielen; er
will Ehren und Auszeichnungen. Niemals wird Mirowitsch entsagen.«

Erwin sah den jungen Schriftsteller aufmerksam an. »Und das ist die
Frucht, die Amerika in Ihnen gereift hat?« fragte er.

Ulrich Zimmermann zuckte zusammen. »Amerika? Nein. Das Leben. An
jeder Straßenecke seh ich einen Mirowitsch, auf jeder Tribüne, in
jedem Konventikel, in jedem Kaffeehaus, alte und junge, heimliche und
bekennende, freche und heuchlerische, führende und verführte.«

»Also doch eine Allegorie; und wieder eine Allegorie«, entgegnete Erwin
kopfschüttelnd. »Was ist mir Hekuba? Was ist mir eine Schlüsselburger
Kasematte von siebzehnhundertsiebzig? Was ist es gegen unsre Not,
unsern Hunger, unsern Wahn, unsere Leiden? Wieder ein Schwächling,
wieder ein Schatten! Und der Befreier sein soll und Prophet, schließt
sich in ein Antiquitätenkabinett ein. Ach, Ulrich, Ulrich! Ich habe Sie
nach Amerika geschickt, in das Land des Lebens und der Zukunft, damit
Sie Botschaft des Lebens und der Zukunft bringen, und nun studieren Sie
Leichen und wühlen in der Vergangenheit. Aber tun Sie, was Sie müssen,
vielleicht bin ich im Unrecht, denn ich liebe und bewundre zu sehr
unsere Gegenwart, diese Zeit, deren Geschöpf ich bin!«

Ulrich Zimmermann war bleich geworden und starrte unbeweglich auf
den Teppich. Seine Not? Seine Leiden? wo sind sie? dachte er. Nicht
zum erstenmal legte sich diese gebieterische Hand über die Schwingen
seines Geistes. Er sah sich unbegriffen aus Herrschsucht, das spürte er
und wagte es doch nicht zu glauben. Er war ohnmächtig zum Widerpart,
weil er in Abhängigkeit war. Dafür gab es kein Gericht; es lag in
Abgründen, in die niemals die Leuchte gegenseitiger Verständigung
dringt. Sein Werk büßte den Hauch der Wahrheit ein, es wurde feindselig
und gewöhnlich. Was kann ich schließlich verlieren? dachte er in seiner
Melancholie, mich selbst kann ich nicht verlieren.

Aber indem er so dunkel bewegt in das Antlitz des Freundes blickte,
schauten ihn zwei Augen an, zwei Augen wie offenbarte Rätsel. Und wie
es eine Minute gibt, wo die Mutter zum erstenmal das Kind in ihrem
Schoß sich regen fühlt, so erblühte jetzt in seiner Phantasie, aus
Hemmung und Zweifel heraus, das neue, beredte, beängstigend nahe Bild
seiner Schöpfung und seiner Gestalt. Doch Lust und Qual ward hier zu
einem; denn er liebte Erwin, er war ihm tief verpflichtet und mußte zum
Verräter werden durch den Zwang eines zweiten Gesichts. So wie er mit
schlechtem Gewissen hinwegging, ließ er den anderen unzufrieden und
verstimmt zurück.

Es lagen zwei leere Stunden vor Erwin, das Unerträglichste von allem:
leere Stunden. Da sein Körper von gefesselter Kraft ungeduldig war,
begab er sich zu Salviati und focht mit dem Säbel, bis ihn der Schweiß
überströmte und er erschöpft in einen Sessel fiel. Dann ging er in
die Universität und arbeitete bis acht Uhr über einer altenglischen
Handschrift. Für acht Uhr hatte er den Wagen bestellt, er fuhr zum
Souper in den Klub und dann nach Hause. Das Fahrzeug schnarrte mit
vierzig Kilometer Geschwindigkeit durch die schon verödeten Gassen, als
ob es groß was gälte.

Wichtel meldete, der Herr Graf Palester warte in der Bibliothek. Erwin
trat ein; Palester lag lang ausgestreckt, blaß und regungslos auf einem
Diwan und schlief.

Widerlich, einen Mann schlafen zu sehen, dachte Erwin, indem er auf
das edle Gesicht und die schlanke Gestalt des Grafen niederschaute wie
auf einen Leichnam, den er sezieren sollte; schlafen, starr daliegen,
dachte er, nichts von sich wissen, träumen, was man nicht träumen mag,
und noch dazu gesehen werden, ist das menschenwürdig?

Er zündete eine kurze Pfeife an und paffte mit düsterem Gesicht. Er
wähnte sich unbeobachtet, und sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr.
Plötzlich gewahrte er, daß die kobaltblauen Augen des Grafen still und
ernst auf ihn gerichtet waren. Er erwiderte den Blick und lächelte
freundlich. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte Palester und erhob sich,
»ich war ein wenig müde.«

»Ganz nach Bequemlichkeit, Graf. Wollen Sie etwas zu sich nehmen?«

»Eine Tasse Tee, wenn ich bitten darf.«

Der Tee stand längst auf dem Tisch, und die beiden jungen Leute hatten
außer den förmlichen Redensarten noch kein Wort gewechselt.

»Schöne Person, außerordentlich schöne Person«, unterbrach auf einmal
Palester das Schweigen mit seiner melodischen Stimme.

Erwin drehte langsam den Kopf herüber. »Wen meinen Sie?« fragte er
abweisend.

»Nun, dieselbe, die Sie meinen«, antwortete der Graf ruhig.

Erwin entgegnete lange nichts. Dann sagte er spöttisch: »War das eins
von Ihren okkultistischen Kunststücken?«

»Nein.« Palesters Augen schimmerten plötzlich grün. Augen, wie er
sie besaß, können weder lachen noch weinen. Es sind Deuteraugen,
Adeptenaugen, die Augen des Letztgeborenen eines ermüdeten Geschlechts.

»Klären Sie mich auf, Erwin,« begann er nach einer Weile; »ein Mann
wie Dalcroze, der doch sicherlich seine fünf Sinne beisammen hat,
entschließt sich freiwillig zu einer so langen Trennung von einer Frau,
wie es diese Virginia ist. Zwei Jahre! Der zwanzigste Teil von dem, was
ihm das Leben im besten Fall noch bewilligen wird! Warum hat er sie
nicht mitgenommen? Ist das Stumpfsinn oder Ahnungslosigkeit? Daß er den
ungeheuern Glücksfall, Welt, wirkliche Welt, fremde Länder, erhabene
Natur zu schauen, nicht würdigen kann, weil ihn die Sehnsucht blind
machen wird, ist für mich ohnehin zweifellos.«

»Manfred ist vorläufig noch nicht reich genug, um einer Frau das
bieten zu können, was er ihr bieten möchte«, erwiderte Erwin
sachlich. »Er wollte zunächst seine Examina hinter sich haben, wollte
Lebensgewißheiten erringen, dann kam das mit seiner Lunge; die
Krankheit auszuheilen, erschien ihm gegen Virginia als Pflicht, und da
er als Mitglied einer wissenschaftlichen Vereinigung reist, mußte er
allein bleiben. Was ist da zu verwundern?«

»Es ist, als ob einer den kostbarsten Diamanten auf einem
Wirtshaustisch liegen ließe«, murmelte Palester.

»Die kostbarsten Diamanten sind wertlos für die Diebe,« versetzte
Erwin, und da Graf Ottokar lächelte, fügte er hinzu: »Es müßte denn ein
Dieb sein, der nicht aus Habsucht stiehlt, sondern aus Kennerschaft und
Liebhaberei. Da aber die menschlichen Diamanten ihren Besitzer nicht
willenlos zu wechseln pflegen, wäre für solch einen Dieb ein Handgriff
nicht genug, er müßte streitbar auftreten und aus einem Eskamoteur
zum Eroberer werden. Wir befinden uns hier auf der Grenzscheide der
Begriffe Raub und Krieg.«

Palester schwieg. Er lehnte den schmalen Kopf hintüber und blickte zur
Büste Athenes empor, deren fleischgelber Marmor auf einem Büchergestell
leuchtete.

»Sie haben recht«, begann Erwin wieder, der aufgestanden war und
vor dem Kamin hin- und herging wie ein Leopard. »Das ist einmal ein
Gesicht und nicht bloß eine lebendige Attrappe. Wie herrlich, in ein
Gesicht zu schauen, in ein Menschenantlitz! Die Natur verleugnet
plötzlich ihre sonstige Flickschneiderei und Falschmünzerei, ewiges Eis
schmilzt von unseren Herzen, die Blutadern sind symphonisch gestimmt.
Haben Sie das Mädchen beobachtet, Graf? Die Bewegung? Wie wenn ein
Mittagshauch übers reife Korn läuft. Der Schritt! Als ob die Erde sich
gefällig böge. Wie sie tanzte, großer Gott, wie sie tanzte! So ein
Leib wird zum Mysterium, seine Haut ist die schimmernde Wand vor dem
Unerforschlichen.«

Palester rührte sich nicht. Er schloß die Augen bis auf einen engen
Spalt. Der rötlich gelbe und gegen die glattrasierten Wangen scharf
abgeschnittene Kinnbart sah auf dem zarten Gesicht wie aufgeklebt aus.

»Und zu denken,« fuhr Erwin fort, erregt, leise und oftmals stockend
wie in einem Selbstgespräch, »zu denken, daß dieser sanfte und
standhafte Blick aufgewühlt werden kann zum Verlangen; daß das
gemessene Spiel dieser Gebärden dem Rhythmus der Leidenschaft folgt; zu
wissen, daß diese vollendeten Linien durch eine Begierde zu großartiger
Entfaltung gebracht werden können, daß eine Flamme diese kühlste
Stirn übermalen wird, daß diese Schultern zittern, diese Lippen
herrlich geöffnet sein, diese blauen Adern stürmischer pulsen, diese
tugendhaften Haare ungekettet fließen werden, daß es eine Macht gibt,
um diese beschlossene Ruhe in alle Grade der Unruhe zu verwandeln:
von der Erwartung zur Sehnsucht, von der Sehnsucht zur Beklommenheit,
von der Beklommenheit zur Qual, von der Qual zur Entselbstung und nun
hinab- und hinaufgeschleppt in die Abgründe der Schwermut und auf den
Gipfel des Glücks! Das zu denken! Das zu denken!«

»Genug, Erwin, genug!« flüsterte der Graf kaum hörbar.

»Genug? Warum genug? Niemals genug! Niemals!«

»Und Manfred?«

Erwin runzelte finster die Brauen. »Manfred! Manfred besitzt nicht die
Macht, von der ich rede. Manfred hat sich mit dem ersten Anfang des
Phänomens begnügt. Er hat Virginia bis an den Rand des Feuers geführt,
um ihr zu sagen: verbrenne dich nicht. Er hat furchtsam den Kopf
abgewendet und ihre Hände gefaßt und nicht gespürt, daß sie das Feuer
wollte und daß sie von ihm erwartete, er möge ihr Sträuben besiegen.
So sind sie stehen geblieben, in Angst voreinander, und haben nicht
gewagt, Menschen zu sein, und haben das Paradies nicht betreten, aus
Besorgnis, daraus vertrieben zu werden. Das sind Philisterdinge,
Graf, Philistergeschicke. Die Fügung hat diesem feinnervigsten aller
Philister ein Himmelswunder von Weib beschert, die heiter spielende
Kreatur, ein Wesen, geschaffen zur Hingabe und sinnlichen Verwandlung,
und er? Er führt sie bis dorthin, wo Ahnung noch nicht Gewißheit
ist, wo der gestörte Schläfer nicht mehr schlafen und auch nicht mehr
träumen kann. Ich sehe, ich fühle ja das alles, und es läßt mich
nicht. Es geht über meine Kraft, den Diamanten auf dem Wirtshaustisch
liegen zu lassen. Welch eine Glorie, diese aufgesparte Fülle, denn
die Schönheit ist wie das Genie eine Krönung, ein Friedensschluß im
Zwiespalt der Generationen, diese Fülle aus ihren Hülsen und Bollwerken
zu treiben! Man müßte so wenig Phantasie haben wie ein Frosch, um
Einwänden Gehör zu schenken, die nur für Schwachköpfe und Feiglinge
eine Schranke sind. Da haben Sie mich, Graf, da haben Sie mich mit Haut
und Haar.«

Palester öffnete die Lider und schaute Erwin mit einem tiefen und
sonderbar gütigen Blick an. »Sie irren«, erwiderte er. »Ich habe Sie
nicht. Weder die Haut noch das Herz. Sie sind nicht zu haben, Erwin,
das wissen Sie vielleicht selber kaum. Man besitzt Sie nicht, und Sie
besitzen nichts; niemand und nichts.«

Erwin lächelte. Der Graf fuhr fort: »Aber das ist hier kein Argument.
Mein Argument besteht aus drei Worten: Virginia liebt Manfred. Gegen
Liebe kämpft auch ein Gott vergebens.«

»Virginia liebt Manfred«, wiederholte Erwin. »Liebt! Ja, es ist
unleugbar. Aber diese Liebe ist unvollendet und kein besiegeltes
Schicksal. Zwischen Manfred und Virginia ist viel unerforschtes
Terrain, das meine Neugier reizt. Nichts weiter. Es gibt kein
Gefühl in der Welt, das für einen darauf gerichteten Willen nicht
hervorzubringen wäre. Ja, das Gefühl wird mit dem Willen schon geboren,
und nicht nur in der Bruder- und Schwesterseele, sondern in jeder
Seele, sogar in jedem Element. Wo zwei Menschen beisammen sind, ist das
Gefühl in der Brust des einen schon Zwillingskind. Jede Leidenschaft
kann erzeugt, kann zerstört, kann übertragen werden. Es ist eine Frage
der geistigen Energie und der Fähigkeit, Illusionen hervorzubringen
oder vorbestimmte Illusionen zu ersetzen.«

Palester mußte lachen über den ernsthaft dozierenden Ton, der eine
Schelmerei zu enthalten schien. Erwin stimmte in die Heiterkeit mit
ein. »Sie beruhigen mich vollkommen«, sagte Graf Ottokar herzlich.
»Sie sind ein famoser Logiker und, was mehr bedeutet, Sie haben Humor.
Das beruhigt mich wieder. Dieser Homunkulus in der Retorte ist eine
possierliche Sache.«

Erwin lachte abermals, und hell wie ein Kind. »Was würden Sie zum
Pfand setzen, Graf, gegen das Gelingen meines Experiments?« fragte er
übermütig.

»Alles was Sie wollen«, antwortete Palester gelassen.

»Auch die Froweinschen Miniaturen?«

Palester stutzte. »Auch die Miniaturen«, versetzte er dann
achselzuckend.

Erwin sah ihn aufmerksam an und gewahrte in den Zügen Palesters jenen
Ausdruck mystischer Versunkenheit, der ihm zuweilen lächerlich,
zuweilen übernatürlich erschien. Dann fragte er: »Soll das gelten? Sie
verkaufen mir die Miniaturen an dem Tag, an dem ich Ihnen beweisen
kann, daß mein Versuch gelungen ist?«

»An diesem Tag würden Sie die Miniaturen allerdings erhalten.« Palester
erhob sich. »Was für Scherze, was für Spiele«, sagte er lächelnd und
mit leichtem Mißbehagen. »Aber es ist spät, ich muß nach Hause.«

»Übernachten Sie doch bei mir«, schlug Erwin vor. Der Graf schüttelte
den Kopf und verbeugte sich dankend. Erwin hatte plötzlich ein
Verlangen, zu wissen, was es mit den geheimnisvollen Umständen dieses
Mannes auf sich habe, und er fragte unbefangen, ob er ihn einmal
besuchen könne. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, entgegnete Graf
Ottokar mit kaum merklichem Widerstreben; »aber Sie müssen sich vorher
anmelden, sonst bleibt das Tor versperrt.«

Als sein Gast gegangen war, wanderte Erwin in dem weiträumigen Zimmer
auf und ab. Er verlöschte die elektrischen Flammen bis auf eine einzige
Glühbirne neben dem Schreibtisch. Seine Mienen zeigten eine gewisse
Anstrengung, doch nicht die Anstrengung des Nachdenkens, sondern die
der Erwartung oder der Ungeduld vor dem Erreichen eines Ziels. Auch
mit den Schultern machte er bisweilen kleine ungeduldige Bewegungen.
Manchmal blieb er stehen, und seine Hände preßten sich zu Fäusten
zusammen.

Da fiel sein Blick auf ein Tanagrafigürchen, das auf dem Lesetisch
stand. Dieses Figürchen hatte die reizendste Gestalt, die sich denken
läßt, und ein Köpfchen von entzückender Lieblichkeit. Doch fehlten ihm
die Arme. Erwin nahm es in die Hand, auf seine Lippen trat ein dünnes,
unschlüssiges Lächeln, und der sonderbar angestrengte Ausdruck seines
Gesichtes verstärkte sich. Er warf sich in einen Sessel, stellte das
Figürchen auf den Rand des Tisches vor sich hin und heftete nun den
magisch gehaltenen Blick mit der äußersten Steigerung jener Anstrengung
länger als eine halbe Stunde darauf. Er wurde blaß, und seine Augen
nahmen eine schwarze, glanzlose Färbung an. Allmählich ermüdete sein
Blick; er sprang empor, stellte das Figürchen auf den Handteller, und
seine Lippen schoben sich verlangend vor. Verlangen und Hingerissenheit
drückte sich auch in seiner Haltung aus, und sein Blick war immer
noch befehlend, erfüllt von der magischen Faszinierung. Er wollte das
Figürchen an einen entlegenen Platz bringen; während seines Schreitens
entfiel es ihm und lag nun vor seinen Füßen auf einer vom Teppich nicht
bedeckten Stelle; mit abgebrochenem Kopf lag es vor ihm da.

Läßt sich eine Beziehung zwischen einer solchen Handlung und einer
Schläferin denken, die fern davon weilt? Ein Strom der Angst, der
Bezauberung, der Ahnung, der durch Häusermauern dringt?

Zur gleichen Zeit hatte Virginia folgenden Traum. Sie stand allein auf
einer Art von Terrasse über dem fünften Stockwerk eines brennenden
Gebäudes. Es gibt keine Treppe mehr, die Ausgänge sind verschwunden,
ringsum liegen rauchende Aschenhaufen. Sie steht am Dachfirst und
schaut in die Tiefe hinunter; auf der Straße ist es, als ob nichts
geschehen wäre; Wagen fahren und Leute gehen wie sonst. Sie ruft um
Hilfe, doch niemand hört es. Wieder und wieder ruft sie um Hilfe, aber
plötzlich merkt sie, daß sie gar nicht wirklich um Hilfe ruft, sondern
daß sie nur die Absicht hat, und daß ihr das Wort nicht einfällt. Jetzt
winken einige Leute herauf, so teilnahmslos, daß ihr das Herz stille
steht. Da klettert an der zerbröckelnden Hauswand mit wunderbarer
Geschicklichkeit Erwin Reiner herauf. Sie ist ziemlich verlegen, denn
sie erinnert sich, daß sie nur notdürftig bekleidet ist und daß sie
eine Schürze anhat, der die Taschen fehlen. Hinter ihr ist eine riesige
Sandsteinstatue. Mit geheimnisvollem Wesen erklärt ihr Erwin, daß unter
dieser Statue ein verborgener Gang auf die Straße führt; der Kopf der
Statue sei drehbar, und nur er unter allen Menschen könne den Hebel
finden, durch den sich der Kopf drehen läßt und der Gang sich öffnet.
Sie befindet sich mit ihm in dem finstern Gang. Er schweigt. Sein
Schweigen ist furchtbar. Sie ruft ihn, doch sie vergißt seinen Namen,
während sie ruft. Jetzt fällt ihr das Wort Hilfe ein, und sie ruft um
Hilfe. Rufend erwachte sie.

Von da ab litt sie viel von Träumen, und das Merkwürdige war, daß auch
Manfred von Träumen schrieb, deren ungreifbarer Sinn ihn schmerzlich
beschäftigte.




Das Perlenhalsband


Es war eine Woche verflossen, ohne daß Erwin sich in der Piaristengasse
hatte sehen lassen. Als er endlich zur gewohnten Stunde kam, vermochte
sich Virginia eines beengten Verpflichtungsgefühls nicht zu erwehren.
Erst seine heitere Freiheit gab ihr Ruhe. Er erkundigte sich nach
ihrer Arbeit, und Virginia berichtete, daß sie sich an einer Intarsia
versuche, daß es viel Mühe koste, die verschiedenen Holzarten, der
Färbung und Faserung entsprechend, zusammenzustellen, daß aber das
Schneiden und Schnitzen sehr anregend sei.

Erwin entgegnete, er finde das Bestreben, eine kunstgewerbliche
Fertigkeit auszubilden, bei einer Frau erfreulicher als den Trieb nach
schöpferischer Gestaltung; »übrigens,« fuhr er fort, »besitze ich eine
ausgezeichnete Intarsia eines modernen Franzosen, der das Material in
einer besonders lehrreichen Manier behandelt. Wollen Sie sie nicht
anschauen?«

Virginia erwiderte, das möchte sie gerne.

»Sie können daraus Nutzen ziehen«, sagte Erwin. »Kommen Sie doch gleich
mit mir«, schlug er vor, indem er sich erhob.

Virginia zögerte mit der Antwort. »Das geht doch nicht«, versetzte sie
ein wenig erstaunt.

»Das geht nicht?« fragte Erwin, anscheinend noch viel erstaunter,
»warum geht es denn nicht? Ach so,« fügte er hinzu und schlug sich mit
der Hand gegen die Stirn, »Sie meinen, daß wir eine Aufsichtsdame
nötig hätten! Verzeihen Sie, es war ein freundschaftliches Anerbieten,
und auf die Ohrfeige war ich nicht gefaßt.« Er griff nach seinem Hut.

»Finden Sie denn wirklich,« mischte sich Frau Geßner, die Zeugin dieses
Wortwechsels war, zaghaft ein, »daß ein junges Mädchen so ohne weiters
einen jungen Mann in seiner Wohnung besuchen darf?«

»Nein, teure Mama, absolut nicht,« antwortete Erwin mit höflichem
Ernst. »Ich finde auch meine Besuche bei Ihnen durchaus ungehörig.
Doktor Zimmermann hat Ihnen ja bewiesen, wie gefährlich das ist.
Ein junges Mädchen darf niemals den Abgrund zwischen Mann und Weib
vergessen, und wahrscheinlich gibt es kein neutrales Gebiet für ihre
Gedanken und ihre Arbeit. Wahrscheinlich ist es ein Verbrechen, wenn
sie die Sorge um ihre körperliche Unbescholtenheit außer acht läßt. Man
kann ihr nicht so viel Stolz und Überlegenheit zumuten, daß sie sich
sagt: was ich tue, hat sein Gesetz und seine Rechtfertigung in sich
selbst. Das ist vollkommen in der Ordnung. Nur wäre es ehrlicher und
für mich weniger erniedrigend, wenn man mir gleich sagen würde: gib
deinen Handkuß und rede nicht von Philosophie.«

Ohne Zweifel wußte Erwin, welche Beschämung er mit diesen Worten bei
Virginia hervorrief. Nie war sein Auge funkelnder, seine Beredsamkeit
hinreißender, seine Gebärde zwingender als in Momenten, wo er durch
Kundgebungen des Zornes und der Verachtung das Bild eines zürnenden
und verachtenden Mannes bot. Sein Blick eilte erobernd durch den Raum
und schien einen Widerstand zu suchen, an dem er seine Macht erproben
konnte, nur Widerstand, sonst nichts. Virginia ihrerseits sah ein,
daß sie einen Fehler begangen, aber auch, daß man ihn über Gebühr an
ihr rächte, denn dieser kalte Hohn verletzte sie tief. Sich verletzt
zu geben erschien ihr zu harmlos und zu klein; am besten war es, die
Beleidigung zu überhören; ihm gehorsam zu willfahren, widerriet ihr
ein ahnungsvoller Instinkt. Dennoch entschloß sie sich, ihm zu folgen,
und obwohl ihr Auge abweisend glänzte, sagte sie mit dem Ton eines
gemahnten Schuldners in der Stimme: »Ich gehe mit Ihnen.«

»Bravo, Virginia!« rief Erwin. »Aber womit soll ich die rasche
Sinnesänderung büßen?« fügte er sanft hinzu. »Lassen wir’s doch heute.
Die Vernunft hat gesiegt, mehr kann ich nicht wünschen. Schließlich,
man besucht mich, wie man in ein Museum geht.«

Aber Virginia hatte den Hut aufgesetzt und sagte mit ruhigem Lächeln:
»Ich bin fertig.« Frau Geßner, die nicht immer verstand, was Virginia
tat, sah neugierig zu.

Schweigend gingen sie die weiße Wendelstiege hinab. Es war etwas
Mutiges in Virginias Schritt, von ihrem Hut hing ein blauer Schleier
herab, dessen Enden beim schnellen Gang über die Schultern flatterten.
Fast war Erwin versucht, diesen Schleier zu packen, wie wenn er dadurch
Virginia lenken könnte. Im Vorderhof schlich eine Katze. Virginia blieb
einen Augenblick stehen und lockte sie. An Tieren und an Blumen konnte
sie nicht vorübergehen ohne eine kleine Zwiesprache oder liebkosendes
Betrachten.

Eine halbe Stunde später waren sie am Ziel.

Die Villa Erwins war ein Bau aus der Kongreßzeit und hatte einem
mächtigen Staatsmann jener Tage als Ruheort gedient. Ihre äußeren
Verhältnisse, streng und gefällig zugleich, erstrebten eine vornehme
Anpassung an ländliche Umgebung. Das Innere des Hauses überraschte
sowohl durch die Zahl als auch durch die Tiefe und Wucht seiner
Räumlichkeiten. Von der hohen, aber etwas düsteren Eingangshalle
führten fünf Türen zu den Gemächern des unteren Stockwerks und eine
breite, zweimal geeckte Holztreppe mit flachen Stufen in die des
oberen. Der Empfangsraum, dessen Stil und Ausstattung an Sanssouci
erinnerte, hatte gegen den ausgedehnten Park eine ovale Wand; eine
große, mit geschliffenen Scheiben versehene Glastür bildete den
Zugang zur Freitreppe. Zur Linken befanden sich das Speisezimmer, das
Musikzimmer und einige reich ausgestattete Boudoirs, zur Rechten die
Bibliothek und die Räume für die Sammlungen. Erwins Privatgemächer, die
Fremdenzimmer und die eigentliche Gemäldegalerie lagen im oberen Stock.

»Mein Gott, so viele Bücher!« rief Virginia aus, als sie durch die
Bibliothek gingen, und ein achtungsvoller Blick streifte ihren
Begleiter. Erwin lächelte; er führte sie in das nebenan gelegene
Zimmer, das mit grünem, gepreßtem Leder tapeziert war. Er läutete dem
Diener, raunte ihm einen Befehl zu, sodann öffnete er einen mächtigen
Ahornschrank und nahm die Intarsiatafel heraus.

Virginia betrachtete sie mit Aufmerksamkeit. Ihre Bemerkungen verrieten
neben echtem Verständnis die amüsante Trockenheit eines eifrigen
Schülers. »Warum hängen Sie es nicht auf?« fragte sie. Er erwiderte,
er habe keinen Platz mehr, auch gebe es gewisse Dinge, für die er
sein Auge nicht abstumpfen wolle, so wie ein Feinschmecker den Genuß
gewisser Köstlichkeiten für seltene Anlässe verspare. Von Erwin auf
einige Einzelheiten der Ausführung hingewiesen, meinte sie seufzend:
»Was werden Sie da zu meiner Stümperei sagen?« Er bestätigte ohne
Tröstung: »Mit den Meistern wetteifern ist schwer.«

Nun zeigte er ihr die Bilder, die er besaß, die Plastiken, die
Keramiken und schleppte Mappen mit Stichen, Radierungen und
Handzeichnungen herbei. Er zeigte ihr die Vasen, die Münzen, die
Schnitzereien aus Elfenbein, die Porzellanfiguren, die Fayencen, die
Teppiche, die Stoffe, die alten Spitzen und Stickereien, die Gemmen
und Kameen, die Ringe, Ketten, Dosen und Petschafte. Er hatte eine
erlesene Sammlung von Halbedelsteinen, die sich in verschließbaren
Kristallgläsern befanden, und die er mit den sorgfältigen und
liebevollen Handbewegungen eines Juweliers vor ihr ausbreitete, um das
Licht in ihnen spielen zu lassen, ihre Herkunft zu erklären und den
Zauber, den sie auf ihn ausübten.

Da war der zeisiggrüne Pistazit, da waren veilchenblaue, pflaumenblaue,
nelkenbraune Amethyste; »Amethyst bedeutet rauschverhütend,« sagte
er, »und ist ein Mittel gegen alle Art von Trunkenheit.« Da war der
Korund, der aus Ceylon stammt, und der Onyx, der seinen Namen von der
rosigen Farbe des Fingernagels hat; da war der blutige Karneol vom
alten Stein, der apfelgrüne Chrysopras, der an dunklen Orten verwahrt
werden muß, das Tigerauge, das einen schönen, wogenden Lichtschein
aussendet, der perlmutterglänzende Kascholong, der Serpentin, der als
Mittel gegen Schlangengift gilt; da waren Smaragde, Berylle, Turmaline,
der tiefschwarze Granat von Arendal und der weinrote indische Rubin.

Er zeigte ihr ein riesiges Herbarium und ein Dutzend Schachteln, voll
von wunderbaren Schmetterlingen. In zehn Schubladen eines niedrigen
Kastens lagen seltene Mineralien, und in einer Vitrine standen
ausgestopfte Paradiesvögel und Kolibris, deren Gefieder so schön war,
daß Virginia beim Beschauen vor Lust errötete. Es war ihr zumut, als
ob dieser Mann mit allen Dingen der Erde auf Du und Du verkehre; die
Natur schien so wenig wie die Kunst Geheimnisse vor ihm zu haben. Ihre
Augen wurden immer größer, und wenn er sie bei ununterbrochener Rede
anblickte, sagte sie immer nur »ja«, – »ja«, – »ja«, wie ein gehorsames
Kind.

Um die Folge der Sehenswürdigkeiten durch Bildnisse der Menschen zu
vervollständigen, die er schätzte oder die in seinem Dasein eine
Rolle gespielt, zeigte er ihr auch viele Photographien von Männern
und Frauen. Jene waren Virginia gleichgültig; die eine oder andere
Berühmtheit sprach sie mit zu alltäglicher Miene an, als daß sie
Teilnahme oder gar Ehrfurcht hätte empfinden können. Nur bei dem
Porträt eines Schauspielers verweilte sie, eines Mannes von Gaben und
menschlichem Belang, wie alle spürten, die nur einmal den Klang seiner
unvergeßlichen Stimme gehört hatten. Virginia fand, daß er Manfred
ähnlich sehe. »Sie kennen ihn?« fragte sie neugierig. Erwin runzelte
die Stirn und entgegnete mit einem Anflug von Ungeduld: »Ja gewiß;
ich kenne ihn. Ein Komödiant, nur verführerischer als die anderen.«
Virginia legte das Bild hastig beiseite.

Mit wärmerem Gefühl betrachtete sie die Frauengesichter. Mit einer
Scham, deren sie sich schämte, weil sie die Ursache nur dunkel empfand,
mit Bedauern, mit Kränkung, mit vorwurfsvoller Verwunderung, denn
sie wußte schließlich doch, was sie von ihnen zu halten hatte. Viele
traurige Augen; schöne, aber traurige Augen. Sie schauten so stumm; sie
hatten so mancherlei erlebt. Was mochte begehrenswert an ihnen sein,
da sie jedes Begehren zu erfüllen so schnell bereit gewesen waren?
Virginia war unentschieden, wie sie die Schaustellung nehmen sollte,
Widerwillen erwachte in ihr, doch Erwin beraubte sie jeder Gebärde der
Abwehr, da er von ihnen sprach, wie er von den Steinen, den Münzen, den
ausgestopften Vögeln gesprochen.

Er schilderte ihre Hände, ihre Haare, ihren Gang und die Art ihres
Temperaments. Er verwies auf einen Mißklang zwischen Stirn und
Mund, was auf einen von gefangener Sinnlichkeit beunruhigten Geist
deutete. Bei dem Worte Sinnlichkeit, wie er es aussprach und betonte,
spürte Virginia einen Schauder über den Nacken rieseln. Vom Schicksal
redete er nicht. Er wiederholte sich niemals. Hierin unterstützte das
Gedächtnis den Geschmack.

Der Diener bat zum Tee. Virginia folgte der Aufforderung mit einer
beinahe drolligen Artigkeit. Das reiche elektrische Licht des
Bibliothekssaals blendete sie. Erwin gegenübersitzend, erschien sie
sich in dem großen Raum verhängnisvoll einsam mit ihm. Er machte
mit vollendeter Anmut den Wirt und bot ihr auf silberner Platte
Süßigkeiten. Sie sagte, daß sie nachmittags nie etwas esse, aber vor
der duftenden Verlockung kam der Grundsatz ins Wanken. Da es ein wenig
kühl im Zimmer war und Virginia fröstelte, holte Erwin einen kostbaren
indischen Schal und umhüllte ihre Schultern damit. Unter seltsamem
Prickeln ward sie sich bewußt, daß ihr Stoff und Farbe außerordentlich
gut zu Gesicht standen. Ihre Augen glühten froher. Erwin konnte es
gewahren. Er konnte beobachten, daß ihr Auge, wenn es behaglich oder
durch die Freude erregt war, innerhalb des Sterns eine grünliche
Marmorierung erhielt. Dieser Umstand prägte sich ihm ein. Indem er
darüber nachdachte, daß es möglich sein könnte, die Veränderung einst
ganz, ganz nahe zu genießen, ja, ganz, ganz nahe, Wimper fast an
Wimper, bemächtigte sich seiner Gedanken eine eigentümliche, heiße
Erstarrung.

Erschreckt von einer unwillkommenen Redepause, die Erwin nicht ohne
Berechnung auszudehnen suchte, erhob sich Virginia, dankte und reichte
Erwin die Hand. Er machte sich anheischig, sie zu begleiten, doch sie
schüttelte den Kopf und sagte, sie habe Kommissionen in der Stadt zu
besorgen. Er begriff, daß sie allein zu sein wünschte, und fand es
förderlich, wenn sie jetzt sich selbst überlassen blieb. So führte er
sie in den Flur und half ihr in den Mantel. Beim Abschied sagte er zu
ihr mit einem Lächeln, in dem Bitterkeit nur als Erinnerung wohnte:
»Ich hoffe, Sie oft bei mir zu sehen, Virginia. Ich bin zuhause nicht
gefährlicher als draußen. Sobald Sie hier eintreten, sind Sie die
Herrin.«

Ein trotziger Blick wollte ihm erwidern; sie ließ den Blick besinnend
fallen. Sie ahnte irgendwie einen Triumph in seinen Worten, aber
ängstlich erstickte sie die Regung des Widerparts. Hätte er sich nur
launisch gezeigt, Launenhaftigkeit gibt Blößen und verleiht dem Trotz
als Waffe etwas Spielendes. Aber seine Ruhe, seine despotische Ruhe,
seine zarte und zärtliche Ruhe, sein Insichverschlossensein und das
Nieversagen, Nieverraten in Wort und Blick, das beirrte sie wie ein
Schleier vor einem Spiegel.

Unzufrieden erledigte sie ihre Geschäfte und war nicht froher gestimmt,
als sie nach Hause kam.

Die Wände erschienen ihr kahler als sonst, die Stuben ärmlicher. Was
man Gemütlichkeit nennt, ist doch nur die Zuflucht der Armen; so
ungefähr dachte sie. Eine Andeutung des geschauten Glanzes stimmte
auch die Mutter wünschevoll, von der sie Stillung, ja Zurechtweisung
gehofft hatte.

»Herrgott, Mädel,« sagte Frau Geßner, »wenn ich so denke! Wenn ich mir
so vorstelle, wieviel Reichtum es in der Welt gibt! Sag mir nichts von
der Genügsamkeit. Wer genügsam ist, bleibt ewig ein Tropf. Hat man
einmal von der Fülle und von der Schönheit gekostet, dann kriegt man
den Geschmack nicht mehr los.«

Virginia bereute schon. Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Eigentlich ist’s schade um dich«, fuhr Frau Geßner seufzend fort. »So
jung, so frisch, so prächtig! Kein Palast war für dich zu gut. Könntest
eine große Dame sein. Lockt dich das nicht, eine große Dame zu sein?«

»Mutter!« Es war etwas Abschneidendes und ein ernster Nachdruck in
diesem Ruf. Virginia erhob sich, dehnte den Arm und sagte schmerzlich
bewegt: »Warum ist er denn fort und warum gar so weit!«

Frau Geßner sah beinahe überrascht aus, denn die gute Frau hatte
Manfred schon vergessen. Er kam ihr je ärmer und geringer vor, je
länger seine Abwesenheit dauerte. Sein schwärmerisches Gesicht war
hinabgetaucht auf die andere Seite, die Nachtseite der Erdkugel.
Alternde Frauen besitzen nicht mehr die Phantasie des Herzens; sie
können lange trauern, doch sie vergessen schnell.

Vielleicht auch trug der Einfluß Erwins an solcher Kurzlebigkeit eines
durchaus nicht schwächlichen Gefühles Schuld. Denn dieser Mann erfüllte
sie mit unbegrenztem Respekt, und ohne daß sie es merkte, hatte sie
den Mut verloren, ihm zu widersprechen. Sie hatte niemals einen Mann
kennen gelernt, der an Glanz, an Würde, an Bestimmtheit, an Geist,
an Liebenswürdigkeit mit ihm sich nur im entferntesten hätte messen
können. Sie staunte ihn an, das war alles. Sie träumte von ihm. Er
gab ihr einen neuen Begriff von der Welt und von einer Zeit, deren
Heraufkunft sie einfach verschlafen hatte.

Bisweilen saß sie und dachte darüber nach, weshalb er sie eigentlich
eines so ausführlichen Umgangs und so vertraulicher Gespräche für wert
hielt. Aber wie tief sie auch grübeln mochte, sie entdeckte keine
andere Ursache als seine unverkennbare Seelengüte und eine wahre,
freundschaftliche Ergebenheit. Wenn die jungen Leute so viel Herz und
Takt haben, sagte sie sich, dann braucht man nicht in Sorge zu sein um
die Zukunft der Menschen.

Als er ihr den Plan entwickelte, die Geldspekulation in etwas größerem
Maßstab zu wiederholen, falls es ohne Wagnis geschehen könne, stimmte
sie ihm gläubig zu. Seine Geschicklichkeit täuschte sie vollkommen,
und nicht eine Sekunde lang spürte sie die Fessel, mit der sie der
Verlocker umschnürte. Es kam ihr nicht unmöglich vor, an der Hand
dieses Hexenmeisters zum Wohlstand zu gelangen, und da doch alles für
Virginia war, an der sie mit jeder Faser ihres Lebens hing, die sie
abgöttisch bewunderte und glücklich, sorglos, beneidet und umworben zu
sehen wünschte, hätte sie Argwohn als frevelhaft empfunden.

Nichtsdestoweniger wurden die angeblichen Börsengeschäfte vor Virginia
vertuscht. Virginia sah nur, daß ziemlich viel Geld ins Haus kam,
und daß die Mutter, die ja von Erwin systematischen Unterricht darin
erhielt, sich zu ungewöhnlichen Ausgaben sowohl für die Küche wie für
die Bequemlichkeit leichten Sinns entschloß. Wohl atmete sie auf, als
es nicht mehr notwendig war, mit jedem Kreuzer ins Gericht zu gehen und
wieder und wieder mit der Mutter erwägen zu müssen, ob man sich trauen
dürfe, dies oder jenes zu kaufen. Aber ihr Gemüt war ahnungsvoll, und
wenn sie ihrer zögernden Beunruhigung Worte verlieh, um dem schwer
durchschaubaren Wesen Klarheit abzuringen, konnte Frau Geßner äußerst
ungehalten werden. »Du bist mißtrauisch von Natur aus,« sagte sie dann
erregt, »in dir sitzt das Mißtrauen wie ein böses Gift. Andre würden
jubeln, und du gehst herum, als ob man dir was gestohlen hätte. Endlich
einmal ein Freund, der’s ehrlich mit uns meint und der Bescheid weiß um
die Brunnen, wo gar viele ihren Segen holen. Was geht’s dich an? Dir
kommt’s zugute, und du solltest auch ein bißchen dankbar sein können.«

Virginia schwieg; sie schüttelte den Kopf in der langsamen und
wehmütigen Art, die sie hatte, wenn ihr etwas nicht gefiel. Solche
Worte hätten sie beschwichtigen können, hingegen bei den Liebkosungen
und versprechenden Reden der Mutter wurde sie stets zweifelsüchtig. Die
alte Ordnung war eben gebrochen, und die neue hatte etwas von schwülem
Wind und Gewitternähe.

Inzwischen war es Frühjahr geworden, und wie nun die ersten lauen
Tage kamen, ließ sich Virginia gern zu gemeinsamen Spaziergängen mit
Marianne von Flügel bereit finden. Der lange Winter hatte sie heuer
mehr als sonst bedrückt.

Sie entfernten sich selten aus dem Weichbild der Stadt; zumeist
wandelten sie unter den Bäumen der Ringstraße, betrachteten von einer
Brücke aus den Sonnenuntergang, verfolgten das Blätterwachsen und
Knospenkeimen von Tag zu Tag, tranken die würzevolle Luft und sprachen
vom Sommer.

Marianne gab sich als Freundin der Natur und als Flüchtlingin aus der
ungesunden Luft ihrer Welt. Mit vieler Kunst gab sie sich so, denn sie
erwarb Virginias Zuneigung damit. Was Enttäuschungen und Haß in ihr an
Frivolität gesammelt hatten, verbarg sie geschickt, aber da man sich
seines Charakters doch nicht entledigen kann wie eines Kleides, und
da sie auch keineswegs gewillt war, eine Nonne vorzustellen, brach
durch diese Verhaltenheit ein immer kühner werdendes Predigen von
Lebensgenuß. Das war der Pakt mit allem Leid und Unbehagen: genießen,
genießen, genießen. Nichts unter den Tisch fallen lassen, alles ins
Körbchen stopfen, am Ende kommt der Tod, und ein zweites Leben gibt es
nicht.

Virginia machte bei solchen Verkündigungen große Augen und wußte nicht,
was sie sagen sollte. Genießen, was war damit viel bedeutet? Genoß sie
denn nicht auch? Die Stunde, wenn sie gut, den Tag, wenn er schön war,
das innere Glück und das äußere Gelingen? Mariannes Reden dünkten sie
irgendwie unbescheiden, und sie konnte sich nicht anders helfen, als
daß sie durch eine lustige Bemerkung, was sie davon begriff und was
sie ahnend abwehrte, ins Hausbackene herabzog. Das fand Marianne zum
Küssen, wie sie sich ausdrückte, nahm sich aber doch ein wenig besser
in acht.

Es dauerte nicht lange, so hörte Erwin von diesen Frühlingsgängen
und wünschte teilzunehmen. Nun wurde es ein ander Ding; man flog
im Automobil hinaus ins Land, ließ das Fahrzeug auf der Straße
stehen und streifte im Wald, über Hügel und durch Täler. Erwin war
unerschöpflich in guter Laune, in Scherz, in Aufmunterung, im Erzählen,
in Erinnerungen, in Plänen und in Belehrung.

Als Vierter im Bund gesellte sich bisweilen Ulrich Zimmermann hinzu.
Wenn er stumm und gedankenvoll kam, so taute er doch inmitten des
Lachens und Plauderns auf, und niemand bemerkte, daß sich ein Wurm
um sein Herz ringelte. Er begegnete Virginia mit einer pagenhaften
Ehrerbietung, und so oft eine Verwegenheit in Erwins unbesorgten Worten
sie zum Erröten brachte, schwieg er fünf Minuten stille und stapfte mit
hastigerem Schritt voraus.

An einem strahlenden Apriltag holten Erwin, Ulrich und Marianne kurz
nach Tisch Virginia ab. Sie fuhren bis zum Stiftswald und wanderten
zwischen Hameau und Rohrerhütte beim roten Kreuz unter Buchen und
Fichten und den langnadeligen Föhren, die Lenau besungen hat. Virginia
pflückte Veilchen und Leberblümchen im Vorübergehen, und Erwin erzählte
von seinem Buch über das Leben der Ameisen, welches demnächst auf dem
Markt erscheinen sollte. Die Vielseitigkeit seines Wissens und die
unbedingte Herrschergebärde, mit der er es behandelte, erweckten in
Ulrich Zimmermann nicht zum erstenmal ein eifersüchtiges Staunen, und
seine etwas knifflichen und groben Fragen drückten mehr Argwohn als
Erkenntnislust aus. »Wo nehmen Sie um Gottes willen bloß die Zeit zu
all den Arbeiten und Studien her,« rief er schließlich beunruhigt, »die
ja gar nicht zu Ihrem Fach gehören! Sie, der Sie leben wie kaum einer,
und von dem man nicht sagen könnte, wann er am Schreibtisch sitzt,
falls man gefragt würde!«

»Fach! Ich habe kein Fach!« erwiderte Erwin abschätzig. »Mein Fach ist
die Natur, die Menschheit, die Kunst, ist alles was mich will und alles
was sich mir widersetzt. Für den, der zur Leistung entschlossen ist,
hat ein Tag ungefähr sechzehn Stunden, mein lieber Ulrich. Ihr Dichter
freilich, ihr rechnet schon das Träumen mit zur Leistung; ihr dürft es
tun, wenn euch die Träume zur Wirklichkeit werden; =meine= Wirklichkeit
darf mir nie zum Traum entschwinden, sonst bin ich verloren.«

Marianne schaute messend zu dem mit stolzen Schritten Schreitenden
hinüber und verfehlte nicht, Virginia durch einen Blick zu einem
Zeichen des Beifalls aufzumuntern. Wie stumpfsinnig diese Person ist,
dachte sie, als Virginia davon keine Notiz nahm. Diese hatte Erwins
Antwort nicht ganz begriffen; halb glaubte sie ihn demütig und halb
anmaßend, trotz alledem, man mußte die Menschen und ihre Geschäfte
so sehen, wie sie sich in seinem Geiste formten. Ulrich Zimmermann
marschierte eine Weile unzufrieden für sich allein, bis ihn Virginia
mit lächelnder Ermahnung aus seinem Brüten weckte. Er dankte ihr durch
ein heißes Aufblitzen seiner Augen und sagte: »Heute müßte man Gedichte
lesen.«

»Oh, das wäre famos,« erwiderte Virginia; »haben Sie denn welche mit?
Lesen Sie doch.«

»Ich wäre nicht abgeneigt«, versetzte Ulrich Zimmermann gnädig.

Erwin, der Ohren hatte wie ein Indianer, hatte das Gespräch belauscht:
»Nicht abgeneigt ist gut!« rief er voll Spott. »Das Attentat war doch
schon beschlossen, als Sie Ihre Verse in die Tasche steckten, wie?«

Ei, das ist grausam, dachte Virginia, als sie Ulrich erblassen sah,
zu dessen Lastern Empfindlichkeit sonst nicht gehörte, nur heute, nur
jetzt. Beinahe hätte sie ihn, wie einen Bruder, am Ohrläppchen gezupft,
um ihn harmloser zu machen.

Aber während sie dann auf einer Lichtung rasteten, Marianne und
Virginia gegenüber Erwin und Ulrich auf frischgefällten Stämmen saßen,
jeder in seiner Stille webend, dem Flug der Schmetterlinge nachsinnend,
den seidigen Glanz des Lichtes auf Moos und Laub betrachtend,
unterbrach Erwin das Schweigen und glich die kleine Felonie von vorhin
wieder aus, indem er Ulrich beim Wort nahm. Dieser holte ein paar
beschriebene Blättchen aus der Brusttasche und las mit wenig geübter
Stimme zaghaft vor. Nach einer Weile griff Erwin ungeduldig nach den
Blättern. »Sie zerstören ja alles,« sagte er; »die zarten Gebilde; es
ist schade drum. Geben Sie her.«

Und nun las er selbst mit prächtigem Ausdruck und seelenvoller Betonung.

Ulrich horchte erstaunt; das klang ja wie Musik. Aber er konnte Erwin
nicht danken, denn aus der versonnenen Miene, mit der Virginia diesen
betrachtete, schloß er, daß sie ihn, den Dichter, völlig vergessen
habe. Und eine solche Wirkung hatte er eigentlich nicht beabsichtigt.

Bei der Rückkehr gerieten sie im Wald an eine morastige Stelle; während
Marianne den Rock bis zu den Knien hob und verwegen hindurchging, zog
Virginia den Umweg am steilen Hang vor. Einige Dornen rissen ihr die
Haut am Handgelenk blutig. Es war ein Bächlein in der Nähe; Erwin wusch
die Wunde rein und verband sie mit Virginias Taschentuch. Sie lachte
über den doktormäßigen Ernst, mit dem er die unbedeutende Verletzung
behandelte, auch Marianne ließ es an spitzem Spott, der allen beiden
galt, nicht fehlen. Erwin hielt dabei noch immer Virginias Hand in der
seinen und bastelte an dem weißen Tuch. Endlich entriß sie ihm die Hand
und versteckte sie instinktiv in einer Kleidfalte. Ulrich stand an
einen Baum gelehnt und schaute mit weiten Augen in den blauen Himmel.

»Seit meiner Kindheit ist es meine größte Angst, daß ich einmal in
einem Sumpf versinken könnte«, sagte Virginia, als sie sich wieder auf
den Weg gemacht hatten, zur Entschuldigung ihrer Zimperlichkeit. Sie
erwartete, daß Erwin darüber lächeln würde, doch sie täuschte sich.

»Also auch Sie tragen heimliche Schatten herum«, antwortete er mit
verstehendem Blick. »Man ahnt gar nicht, wie solche Schreckbilder die
ganze Lebensstimmung beeinflussen. Die dunklen Gewalten sind eben doch
die mächtigsten.«

»Ja, Virginia, ja!« bemerkte Marianne anscheinend fidel, »vor dem Sumpf
müssen Sie sich hüten. Gerade wenn man zu weit hinaus schaut, übersieht
man den Schlammtümpel vor den Füßen.«

»Keine Prophezeiungen, Marianne,« sagte Erwin hart; »das Unken trifft
die Schwalbe nicht.«

Marianne schoß ihm einen bitterbösen Blick zu. Virginia fing ihn auf
und erschrak vor dem Haß und der beredsamen Wildheit dieses Blicks.
»Auch ich bin einst geflogen«, erwiderte Marianne düster, »aber man hat
mir die Flügel abgeschnitten. Was hilfts; man liegt dann da und piepst
vor sich hin, und das nennen die Leute unken.«

Erwin zuckte die Achseln. Virginia war sonderbar bewegt und schob ihren
Arm fast zärtlich in den Mariannes, sie, die so selten ein werbendes
Gefühl zu unmittelbarem Ausdruck brachte. Jedoch Marianne schüttelte
kurz und brüsk den Kopf und schritt hastig voran. Bald ging sie an
Erwins Seite; unterdrückten Tons und in raschen Sätzen sprachen sie
miteinander und entfernten sich immer weiter von Ulrich und Virginia,
die wortkarg und bedrückt den schmalen Pfad bis zur Landstraße
verfolgten, wo das Automobil wartete.

Dort verabschiedete sich Ulrich Zimmermann unter dem Vorgeben, er
wolle noch den Abend außerhalb der Stadt verbringen. Stumm saßen die
drei während der Fahrt, die so schnell war, daß es Virginia schwindlig
wurde. Die sanfte Frühlingsluft schien zum Sturm aufgeregt. Virginia
hatte Erwin bisher noch nicht so schweigsam und kalt gesehen. Manchmal
heftete er den Blick prüfend auf sie, und sie glaubte den Blick
ertragen zu müssen, damit er wieder versöhnt werde. Sie hatte von
Minute zu Minute stärker das unerklärliche Gefühl, als wünsche er von
ihr ein Wort zu hören, das die Verdunkelung seines Innern zerstreuen
könne. Sie war dessen nicht fähig, und ihr war, als zürne er ihr,
als leide er darunter; kurzum, ein Wirrsal von Empfindungen der
Abhängigkeit und der Schuld.

Als der Wagen in der Piaristengasse hielt, begleitete sie Erwin durch
die Höfe bis zur weißen Wendelstiege. In der Torbogendämmerung sagten
sie sich kühl gute Nacht. Schon auf der Treppe, wandte sie sich noch
einmal um und nahm mit Verdruß wahr, daß er auf der Steinschwelle stand
und ihr mit den Blicken folgte. Unwillkürlich zog sie den Fuß zurück,
auf den sein Auge sich zu heften schien. Das matte Flurlampenlicht
beleuchtete seine Züge, und sie sah, daß er lächelte, so bestrickend,
heiter und kameradschaftlich, wie nur er zu lächeln vermochte.

Gott sei Dank, dachte Virginia, es ist alles wieder gut.

In der Nacht träumte sie, daß sie sich in einem Zimmer mit sechzehn
Türen befinde. Sie war ohne Aufhören damit beschäftigt, die Türen zu
schließen aus Furcht vor einem übermäßig großen Hund. Aber jedes Mal,
wenn sie eine Tür geschlossen hatte, stand der Hund, groß wie ein
Kalb, vor einer andern, offenen. Er war nicht eben boshaft, doch war
in seiner Ruhe etwas unbeschreiblich Quälendes, als wolle er sie erst
vollkommen erschöpfen, bevor er sich auf sie stürzte.

Während des Waldspaziergangs war verabredet worden, daß Erwin am
zweitnächsten Tag Marianne und Virginia den Wagen schicken und daß
diese ihn dann abholen sollten. Als sie vor der Villa ankamen, begann
es zu regnen. »Aus der Landpartie wird heute nichts«, sagte Marianne.
– »Es wird ja wieder aufhören zu regnen«, meinte Virginia. – »Und wenn
auch nicht«, versetzte Marianne spöttisch; »haben Sie Angst, hier zu
bleiben? Wir werden in diesem gemütlichen Gasthaus Tee trinken.«

Virginia blickte Marianne forschend und bedächtig an. Sie machte
plötzlich die Erfahrung, daß sich die kleinen Verkettungen der
Geselligkeit oft unlöslicher erweisen als die großen Pflichten, weil
die möglichen Widerstände zu belanglos sind.

Erwin war im Frack. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, »ich hatte
leider vergessen, daß ich um sieben Uhr bei der Fürstin Liebenberg sein
muß. Wenn Sie wünschen, überlasse ich Ihnen natürlich den Wagen, aber
es wäre hübsch, wenn Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten würden.«

Virginia war zu sehr Neuling, um bei dem gleichgültig ausgesprochenen
Namen einer Fürstin ihren Respekt zu unterdrücken. Ein naiver kleiner
Ausruf veranlaßte Marianne und Erwin, zu lächeln.

»Es ist nach Ihnen telephoniert worden,« wandte sich Erwin an Marianne,
»Wichtel hat die Nummer aufgeschrieben, die Sie rufen sollen.«

Marianne ging hinaus. Als sie zurückkam, bat sie Erwin hastig, er möge
ihr für eine halbe Stunde das Auto geben, sie müsse zu einer dringenden
Besprechung in die Stadt. Überrascht schaute Virginia empor. Ein
unbestimmter Argwohn wallte in ihr auf.

»Bis ihr zum Tee geht, bin ich wieder da«, fügte Marianne hinzu und
verließ mit ihren starken und entschiedenen Schritten das Zimmer.

Erwin lachte. »Immer hat sie wichtige Geschäfte«, sagte er.

Eine Weile herrschte Schweigen. Nicht etwa das Schweigen der
Vertraulichkeit, sondern das Schweigen, in dem sich bedeutungsvolle
Worte vorbereiten. Virginia spürte es, und ihr war nicht geheuer dabei.
Erwin, der im Staatskleid prächtig schlank und jünglingshaft aussah,
wanderte rauchend auf und ab. Der Regen prasselte an die Fenster. Im
Kamin schnurrte der Wind.

Wie ahnungslos sie ist, sagte sich Erwin; und um wieviel leib- und
seelenhafter sie erscheint, seit die andere fort ist; man sollte junge
Mädchen nicht miteinander verkehren lassen, das Geschlecht hebt sich
gegenseitig auf, ihr Magnetismus wird halbiert, indem sie sich unbewußt
verbünden.

»Sie haben eine wunderbare Macht über die Menschen, Virginia«, begann
er endlich, und seine Stimme klang nicht metallisch wie sonst, sondern
sordiniert. »Jedesmal wenn ich Sie sehe, erhebt sich ein Vorwurf in
mir. Was hast du geleistet? frag’ ich mich. Es ist ein geheimnisvolles
Bedürfnis, mich in irgendeiner Weise vor Ihnen zu rechtfertigen.
Als die ersten Weltumsegler zu den wilden Völkern kamen, schickten
diese, durch den bloßen Anblick der Fremden zur Ehrfurcht bezwungen,
Abgesandte mit Gold und Edelsteinen und erklärten sich aus freien
Stücken für tributpflichtig. Wenn Sie Ehrgeiz hätten, wie Sie keinen
haben, wüßt ich nicht, welche Grenze ich Ihrer Laufbahn ziehen sollte.
Runzeln Sie nicht die Stirn, Virginia, das steht Ihnen schlecht,
auch ist kein Anlaß dazu. Ich möchte Sie zu einem höheren Grad des
Selbstbewußtseins erziehen. Der Makellose soll Muster sein. Warum
zum Teufel bekreuzen Sie sich andächtig, wenn von einer Fürstin die
Rede ist? Sie stehen über jeder Fürstin. Wären Sie meine Schwester,
ich wollte eine deutlichere Sprache führen und Sie durch zwingendere
Beweise überzeugen. Ich wollte denen ein Licht aufstecken, die sich für
vollkommen halten und es nicht sind, die weder stehen, noch gehen, noch
sitzen können und sich zu bewegen glauben, wenn sie zappeln. Ich für
meine Person, ich habe ein Interesse daran, daß das Leben schöner wird
auf dieser Welt, daß es einen Aufschwung gibt, einen Aufblick, ein
hinreißendes Beispiel, ein Unbezweifelbares und Unbedingtes. Deshalb
rede ich mit Ihnen darüber, aus keinem andern Grund. Wer als Fackel
geboren ist, muß leuchten.«

Virginia wechselte während seiner Rede beständig die Farbe, doch in so
feinen Übergängen, daß es bisweilen kaum zu merken war. »Was wollen Sie
von mir, Erwin?« rief sie mit gefalteten Händen. »Bitte, sprechen Sie
doch nicht so, bitte!«

Der flehentliche und rührende Appell machte Erwin betroffen. Diese
Stimme, der Ausdruck, der Blick, die Gebärde des Mädchens, all das
traf ihn unversehens und rüttelte an ihm wie ein Zorn, wie ein Durst,
wie ein Feind. Virginias Augen verfolgten ihn mit Besorgnis, während
er ungeduldiger auf und ab schritt. Er fand es für angezeigt, den Ton
brüderlichen Vertrauens anzuschlagen. »Als ich Ihnen damals meine
geringen Schätze vorwies,« sagte er einschmeichelnd, »hatte ich das
Gefühl eines Vasallen, der seinem Lehnsherrn Verantwortung schuldig
ist. Mir war, als ob Ihr Blick auf all den Dingen nur zu ruhen
brauchte, um sie in Besitz zu nehmen, oder als ob mein Besitztitel erst
durch Sie anerkannt werden müßte.«

Virginia lächelte verwundert, doch Erwin fuhr fort: »Weil wir eben von
Schätzen sprechen, Virginia, von Gütern, die keinen Besitzer haben,
obgleich sie einem gehören, muß ich Ihnen doch noch etwas zeigen.«

Er eilte rasch ins Nebenzimmer und kam nach kurzer Weile mit einer
mäßig großen Schachtel in der Hand zurück, aus welcher er eine
herrliche Perlenkette hervorzog. »Wie gefällt Ihnen das?« fragte er mit
einer Stimme wie einem Kind gegenüber.

Virginia nahm die Kette in die Hand. »Oh, wundervoll!« rief sie mit
auflodernden Augen.

»Nicht wahr? Solchen Schmuck wünschen sich die Häßlichen, damit man
ihre Häßlichkeit vergesse; und die Schönen, die erhalten königliche
Weihe dadurch.«

Virginia ahnte kaum den hohen Wert des Juwels, aber wie ein Jagdhund
rebellisch wird, wenn das Horn schallt und die Rosse schnuppern, so
kann ein echtes Weib mit gesunden Sinnen unmöglich zurückhaltend
bleiben oder sich unempfindlich stellen beim Anblick eines Halsbandes
aus drei Schnüren erbsengroßer Perlen, enggereiht wie die Zähne im Mund
eines Kindes, violett und rosig strahlend wie ein kleiner Regenbogen,
durchsichtig fast wie Seifenblasen und warm anzufühlen wie blutgeäderte
Haut. Edler Schmuck hat etwas Unleugbares wie die Elemente.

Von den erwarteten Merkmalen der Freude und Erregung nahm Erwin in
aller Heimlichkeit Notiz. Da ihn Virginia, ohne zu bedenken, daß ihm
die Antwort unter Umständen schwer fallen konnte, neugierig fragte,
welcher Herkunft das Kollier sei und weshalb er es im Haus habe,
erwiderte er, er habe die Kette einst, vor Jahr und Tag, für eine Frau
gekauft, der er niemals nah gestanden und die er nur ganz aus der Ferne
angebetet. »Ich hatte keine Hoffnung,« sagte er gedankenverloren,
»denn sie war die Tugend selbst und rein wie eine Vestalin. Sie hat
die Perlen, von denen mir jede einzelne heilig war wie ein Blick aus
ihren Augen, niemals an ihrem Hals getragen, und ich, ich habe mich
begnügt, sie damit geschmückt zu träumen, ich habe sie im Traum damit
verschönt. Sie war die einzige, die mich hätte verwandeln können, so
wie große Liebe verwandelt, die große Leidenschaft, die keine Dämonen
kennt, sondern nur Genien und die die Seele fromm macht und den Geist
gelehrig; aber sie schwebte am Horizont meines Lebens vorüber wie ein
fremder Stern, ein frühzeitiger Tod hat sie hingerafft, und mir ist,
als hätte sie mir die Perlen als Erbteil gelassen.«

Virginia war ergriffen von diesem Bekenntnis. Sie hatte Erwin nicht
solcher Trauer, solcher Wärme, solcher Beständigkeit des Gefühls für
fähig gehalten. Die intensive feuchte Bläue ihrer Augen, der milde und
von jedem Argwohn gereinigte Blick verriet ihm, daß er ihr inneres
Wesen anzurühren verstanden hatte. »Bis auf den heutigen Tag konnte
ich mir nie vorstellen, daß dies Gehänge den Hals einer andern Frau
schmücken könnte«, fuhr er fort. »Aber wie eigentümlich die Phantasie
doch spielt! Als Sie vorhin ins Zimmer traten, Virginia, schoß es mir
mit der Sekunde, wo ich Sie sah, durch den Kopf: nur die und keine
andere dürfte meine Perlen tragen. Ach tun Sie mir doch den Gefallen«,
bat er dringend und mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit, als er
wahrnahm, daß Virginia ängstlich die Brauen zusammenzog. »Legen Sie die
Kette um Ihren Hals! Nur zur Probe; nur damit ich es sehe!«

»Wirklich? Soll ich es wirklich?« flüsterte Virginia mit wunderlich
scheuem Lächeln. Sie wußte nicht, wie sie ihm sein Verlangen hätte
abschlagen sollen; und außerdem hatte sie selbst nicht wenig Lust zu
wissen, wie es wäre, gleichsam nur naschend zu erfahren, wie es wäre,
wenn man eine Perlenkette trug. Beinahe war sie Erwin dankbar, daß
er ihr die Erfüllung dieser Begierde so leicht machte. Da sie ein
halsfreies Kleid trug, waren keine Vorbereitungen nötig. Erwin trat
hinter ihren Stuhl, um ihr beim Schließen der Kette behilflich zu sein.

Nichts wäre für einen Zuschauer verblüffender gewesen als der jähe
Wechsel seiner Mienen in diesem Moment. Alles bog sich in den Zügen;
die Stirnknochen schoben sich stärker über die Augen; die Nüstern
wölbten sich auswärts; die Lippen kräuselten sich, die Finger
krümmten sich, ehe sie zugriffen, und mit einem prüfenden, bohrenden,
habsüchtigen und beutesicheren Blick, dem Blick eines Menschen, der
gewohnt ist, zu greifen, zu nehmen, zu rauben und Wert von Scheinwert
genau zu unterscheiden, starrte er auf ihren schimmernden Nacken herab,
dessen weiße Glätte ihm etwas wie Furcht einflößte.

Sodann holte er einen silbergefaßten Handspiegel und ließ Virginia
hineinschauen. Diese konnte ihre selige Befriedigung nicht bemeistern.
Sie blickte in den Spiegel, als erkenne sie sich selbst nicht, und in
ihren Augen war ein beredter Glanz. »Nein, so was«, hauchte sie mit
leisem Kopfschütteln, halb lachend, halb bedauernd.

»Wie gern möchte ich Ihnen die Kette schenken,« sagte Erwin, indem
er sich dicht vor ihr auf dem Stuhl niederließ; »wie glücklich würde
ich sein, wenn Sie eine solche Gabe leicht und frei aufnehmen, ohne
Ziererei und Künstelei empfangen wollten!«

Virginia wurde zuerst purpurrot und danach ganz blaß. Sie hob in einer
energischen Art den Kopf. »Aber Erwin!« rief sie erschrocken, »was
fällt Ihnen denn ein? Ich glaube, Sie halten mich zum besten.«

Mit jener Raschheit, die ihn oft so rätselhaft erscheinen ließ,
veränderte sich Erwins Wesen zum Feierlichen und Gehaltenen. »Es ist
mein Ernst,« sagte er; »es ist mein Wille. Es ist mein heftigster
Wunsch. Für Sie allein sind diese Perlen auf die Schnur gereiht worden.
Jene andere war die Berufene, Sie sind die Erwählte. An Ihrem Hals
gleichen sie den gewachsenen Blüten am Zweig. Wozu sie aufbewahren,
wenn man das leblose Kapital in lebendiges verwandeln kann? sehe ich
Sie damit geziert, so genießen meine Augen die Zinsen. Könnten Sie
doch ein Vorurteil verachten, das so albern und müßig ist, daß es mich
ekelt, davon zu reden, so würden Sie mich reicher machen als ich bin
und sich selbst kostbarer und beschwingter.«

»Aber Erwin! Erwin!« unterbrach ihn Virginia mit ungewöhnlicher
Lebhaftigkeit und legte im Eifer ihre beiden Hände sacht auf seinen
Arm, eine Berührung, die ihm einen traumhaften Genuß verschaffte, »das
ist ja alles Unsinn. Sie wissen genau so gut wie ich, daß ich das
nicht annehmen könnte. Es gibt Gesetze, die für Sie vielleicht nicht
gelten, die ich aber nicht übertreten darf, ohne ins Abenteuerliche
zu geraten. Und Sie wissen das, Erwin, Sie wissen es, Sie wollen mich
nur auf die Probe stellen. Mein Gott, wie käm’ ich auch dazu! Schnell,
schnell, herunter mit dem Ding, Sie machen einem ja ganz heiß, räumen
Sie’s weg, daß ich’s nicht mehr sehe.«

Entzückend, dachte Erwin, entzückend, als er die stürmische, liebliche
Beweglichkeit verfolgte, mit der sie das Kollier abnahm und ihm
überreichte, wie wahr, wie einfach die Angst, wie ungeheuchelt das
Begehren! »Ich werde an Manfred schreiben,« versetzte er gelassen wie
ein Notar, der einen Vertrag bespricht, »ich werde bei ihm in aller
Form um die Erlaubnis ansuchen, Ihnen das Halsband verehren zu dürfen,
– als ein Bundeszeichen von ihm zu mir, von mir zu Ihnen. Ich bin
überzeugt, daß er die Sache so betrachten wird, wie ein Mann von seinem
Charakter und seinen Anschauungen sie betrachten muß. Würden Sie sich
dann noch sträuben?«

»Gewiß,« antwortete Virginia mit festem Blick; »Manfred kann doch nicht
Richter über uns beide sein.«

»Vortrefflich, ah, vortrefflich,« rief Erwin belustigt, »jetzt
ergreifen Sie schon die Flucht, und wie schlau noch dazu.« Gar nicht
schlau, dachte er triumphierend für sich, sie fängt sich ja mit diesem
famosen Wort: Richter über uns beide. »In wenigen Wochen können wir
Manfreds Bescheid haben,« fuhr er fort, »und dann sehe ich keinen Grund
mehr für Sie, eigensinnig zu sein. Manfred kennt mich und weiß, daß er
mich beleidigen würde durch jedes Wie oder Warum oder Aber. Eines Tages
werde ich seine Einwilligung haben, und ich werde vor Ihnen erscheinen
und die Kette um Ihren Hals hängen. Wenn Sie wollen, mit verbundenen
Augen.«

Da nun Virginia inne wurde, daß ein wahrhaftiger Ernst hinter all dem
steckte und nicht bloß ein versucherisches Spiel, entschwand ihre
heitere Sicherheit. Sie schaute bang vor sich hin, das Herz klopfte
ihr, und sie wußte nichts mehr zu sagen.

»Freilich, es gibt keinen uneigennützigen Schenker, es gibt kein
Geschenk ohne Hoffnung auf Entgelt«, fuhr Erwin mit einer Kühnheit
fort, die er nur wagte, weil er es für gefahrloser hielt, sie
auszusprechen, als sie der stillen Überlegung Virginias zu überlassen.
»Lange genug waren Sie streng und unzugänglich für mich, und alles, was
ich verlange, ist Ihre freundliche Gesinnung. Ich bilde mir natürlich
nicht ein, diese Gesinnung erkaufen zu können, das hieße niedrig von
uns beiden denken. Kein Kauf soll es sein, ein Opfer soll es sein, eine
Opfergabe, eine Entäußerung, das ist es, das ist das rechte Wort: eine
Entäußerung.«

»Eine Entäußerung?« wiederholte Virginia mechanisch und in beklommener
Nachdenklichkeit.

Erwin nahm ihre Hand in die seine, und sie ließ es geschehen. »Schauen
Sie mich einmal ganz offen und ohne zurückweichende Befangenheit an,
Virginia«, bat oder vielmehr befahl er.

Sie gehorchte. Sie lächelte. Es war etwas Seltsames um dieses
zaudernde, fliehende, ungewisse und dennoch aufrichtige und gütige
Lächeln.

»Können Sie Vertrauen zu mir haben?« fragte Erwin. »Ich will, daß
Sie mir vertrauen. Auch Sie müssen sich entäußern. Sie müssen sich
der uralten, sinnlich-übersinnlichen Feindseligkeit entäußern, die
zwischen den Geschlechtern herrscht wie ein Grenzstreit. Es soll kein
Grenzstreit sein zwischen uns, es soll Frieden sein, geschwisterlicher
Frieden. Inmitten der Menschenwüstenei lebt sich’s schön im Zelte des
Vertrauens, Virginia.«

Virginia schwieg. Sie erhob sich nach einer Weile und schüttelte ernst
den Kopf. Es war ihr nicht unbefangen zumute. Erwins Worte sollten ja
wohl unbefangen klingen, in einem höheren Sinn, aber ihr war nicht
so zumute. Sie zog die Uhr aus dem Gürtel und sagte etwas bedrückt:
»Marianne bleibt lang.«

Erwin antwortete nicht. Virginia, immer noch erregt und verwirrt, trat
auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Bitte, Erwin, lassen Sie
uns nie mehr davon sprechen. Ich will ja gern Ihre Freundin sein, aber
eben deshalb lassen Sie uns davon nicht mehr sprechen.«

»Gut; wir werden nicht mehr davon – sprechen«, entgegnete er mit
eigentümlicher Verhaltenheit, indem er das Haupt langsam senkte und
ihre Hand langsam hob, um seine Lippen darauf zu drücken.

In diesem Augenblick trat Wichtel mit dem Samowar ein, und nach kurzer
Weile kam auch Marianne. Sie blieb schweigsam und rauchte eine ziemlich
große Anzahl ihrer winzigen Zigaretten. Ihre forschenden Blicke
wanderten von Erwin zu Virginia, von Virginia zu Erwin. Um sechs Uhr
brachen die jungen Damen auf.




Ein Abend in der Villa Sansara


Virginia hatte die Gewohnheit, sich nachts, wenn sie aus dem Schlaf
erwachte, ans Fenster zu begeben und dort in einem Sinnen, das die
Erlebnisse des Tages spielend streifte, so lange zu verweilen, bis sie
den Schlummer wieder nahen fühlte. Sie tat es auch in dieser Nacht.
Einen gelben Überhang um die Schultern, der vor der Brust geschlossen
war, saß sie in der Dunkelheit und schaute in den mondbeschienenen Hof.
Mit wunderlichem Gruseln roch sie die eigene Leibeswärme.

In solchen Stunden denkt man nicht; man läßt sich hinziehen von
Befürchtungen zu Erwartungen, geheimnisvoller Ehrgeiz treibt im Dämmern
der Seele schillernde Blasen. Virginia war fast noch traumbefangen.
Unter den Bildern, die sie gegenwärtig hielt, war das ihrer eigenen
Erscheinung, wie sie sich im Spiegel gesehen hatte, mit der Perlenkette
um den Hals, zugleich berückend und unheilvoll.

Ich hätte ablehnender sein sollen, dachte sie erregt und ballte schnell
die Faust; dann: es könnte mir gehören; dann wieder: wie hat er es
wagen können?

Am andern Morgen schrieb sie an Manfred. Sie bedurfte der Aussprache,
um Klarheit zu gewinnen, aber sie konnte nicht schlüssig werden, wie
sie die Geschichte mit dem Halsband schildern sollte. Scherzhaft?
Daran hinderte sie die Erinnerung an Erwins Dringlichkeit und Wärme.
Gewichtig? Dann konnte Manfred glauben, sie sei wünschevoll und
unbescheiden.

Indem sie sich so mühte, die rechte Art zu finden, bezichtigte sie sich
schon der Unehrlichkeit. Ihre Hand widerstrebte dem Wort, ihre Feder
der Hand, Manfreds fernes Antlitz verbarg sich wie hinter Schleiern,
und was sie schon niedergeschrieben hatte, glich einer Rede in die
leere Luft.

Der Zufall fügte es, daß während dieses Zwiespaltes der Postbote einen
Brief von Manfred brachte.

Der Brief kam von der Stadt Colombo auf Ceylon. Als er ihr schrieb,
war Manfred schon über die wissenswerten Vorgänge daheim unterrichtet.
Er hatte Kenntnis von dem Duell, er hatte Kenntnis davon, daß Erwin
der beengten Wirtschaftslage des kleinen Geßnerschen Haushaltes durch
einen entschlossenen Handstreich zu Hilfe gekommen war. Dies letztere
hatte er von Erwin selbst erfahren, und der Ausdruck »entschlossener
Handstreich« war Erwins eigener. Was Virginia darüber gemeldet,
hätte Manfred keine Deutlichkeit geben können, in Erwins Erzählung
war der Ton herzlicher Teilnahme mit jenem edlen Spott gemischt, der
Anerkennung oder Dank weit zurückwies und einen ungewöhnlichen Eingriff
als freie Laune betrachtet wissen wollte, unter Männern nicht der
Rede wert. Es war dem Brief nicht zu entnehmen, wie Manfred darüber
dachte; beruhigte ihn nicht das stolze Vertrauen zum Freund, so mußte
die Kunde eines Zweikampfes unter Umständen, welche Virginia derart in
Mitleidenschaft gezogen, eine Verfinsterung seines Herzens erregen.
Aber dem war nicht so. Er schien sich zu sagen: meine Befürchtungen
haben mir nicht umsonst schlimme Bilder vorgemalt, und ich habe einen
Wächter bestellt, dessengleichen es nicht gibt. Wenn Manfred unruhig
war, so war er es im Hinblick auf alle Fährnisse, die dem Auge des
Wächters entgehen mochten, und er riet Virginia, er flehte sie an, in
Erwin einen Bruder zu sehen, mehr als einen Bruder, einen, vor dem sie
kein Geheimnis zu haben brauchte. Und das war viel gesagt.

Im übrigen war der Brief einfach gehalten. Es schien, als ob Manfred
alle Gefühle gewaltsam unterdrückte, die eine heftige Bewegung in
Virginia hervorrufen konnten, als wolle er den klaren Strom ihrer
Neigung nicht durch das Widerspiel der quälenden Sehnsucht trüben, die
er, in so großer Ferne, sicherlich über jedes Mitteilbare hinaus hegte.
Bis auf eine einzige Stelle war er sachlich, fast ein wenig pedantisch
in der Schilderung von Zuständen und Begebnissen, fast ein wenig zu
spirituell in der Andeutung dessen, was ihn beschäftigte und wonach er
strebte. Die Einsamkeit war zu spüren, in der er sich unter arbeitenden
Gefährten befand. »Ich untersuche Radiolarien, Salpen, Medusen und
Siphonophoren, lauter winzige Tierchen, die wir mit dem Schleppnetz aus
dem Ozean fischen und von denen gewisse Arten nachts die Fläche des
Meeres mit Feuer bedecken, so daß ich oft stundenlang schaue, Orion,
Bär und südliches Kreuz über mir am Sternenhimmel, und der dumpfe
Wellenschlag am Holz des Schiffes macht mich traurig, ich weiß nicht
warum.

»Ich habe hier im Bungalow eines vornehmen Engländers, an den ich
Empfehlungen hatte, gastliche Aufnahme gefunden, da der ›Phönix‹
im Hafen von Colombo drei Wochen lang verankert bleibt. Ich wandle
im Paradies, zumindest im Paradies der Pflanzen. Alles gedeiht ins
Riesenhafte: die Arekapalme, die Kokospalme, die Pisange, Bambusen
und Benyanen, der Brotfruchtbaum, die Melone, die Pfeffererbse. In
reizenden Festons und Kränzen hängen Schmarotzerblüten von allen
Ästen, und unten bilden die kolossalen Blätter der Bananen, Caladien,
Cassaven, die Farne, Orchideen und Lianen ein undurchdringliches
Gewirr. Schilfrohr, das bei uns drei Fuß hoch wächst, strebt dreißig
Meter hoch empor; unsere kümmerliche Alpenrose wird zum gigantischen
Rhododendron mit mannsdickem Stamm, und Malven, Euphorbien, Lilien
und Lantanen überwuchern den Boden so, daß das Reiche und Anmutige
zum Unheimlichen wird. Ich glaube, inmitten dieses Übermaßes werden
auch meine Gedanken zum Übermaß getrieben. Ich darf nicht zweifeln:
Zweifel wird schon Verzweiflung; Heimweh ist ein schreckliches Fieber,
das mich toll macht, so daß ich die Zähne in die Faust beiße und mich
am Strand hinwerfe, um das Gesicht ins Wasser zu tauchen. Aber dann
kommt wieder der überirdisch feierliche Frieden eines Abends; die
Frösche rufen mit Glockenstimmen aus den Dschungeln, Flederfüchse
schwirren, und das Meer tönt, wie wenn ein ungeheures Seidenkleid
über ungeheure Marmorplatten schleift. In dieser Stunde seh’ ich dich
am deutlichsten, meine geliebte Virginia! Da glänzt dein Haar, ja,
es glänzt wie der Strom der pelagischen Tiere, die zuweilen mitten
im Ozean eine silberne Straße ziehn; da stehst du vor mir mit einem
Lächeln voll unerwarteter Schelmerei, bist in mir, mein Atem, mein
Gedanke, meine Welt. Und dann sag ich mir: ich bin deiner nicht würdig,
meine Liebe ist zu klein, zu ängstlich und zu selbstsüchtig. Das Feuer
verzehrt sich im Innern, anstatt nach außen zu strahlen, es blendet
mich, anstatt mich stärker und tätiger zu machen. Ich vergleiche mich
mit meinen Kameraden, die verständige und korrekte Menschen sind:
nicht ehrgeizig aber fleißig, nicht glänzend aber tüchtig. Man kann
mit ihnen sympathisieren, ohne lebhaft für sie zu fühlen. Indem ich
mich von ihnen absondere, werde ich meiner Überheblichkeit verstimmend
bewußt. Ich bin verwöhnt, es kann nicht lauter Erwin Reiners geben,
ich habe meine Ansprüche überspannt, und das ist bedenklich. Doch ich
kann nicht mit ihnen reden. Sie sind mir zu ernst oder zu kalt, oder zu
lustig, oder zu simpel, oder zu verzwickt. Ich sehe die Korallengärten
im Meer und denke mir: armselig ist unser Treiben dagegen, denn das
ist auch Fleiß, aber ein Fleiß, der Schönheit erzeugt, Schönheit für
Jahrtausende. Und wir machen Bibliotheken. Speicher sind noch keine
Mühlen, und Mühlen schaffen erst Brot, nicht Glück, nicht Schönheit.
Darf ich dir’s gestehen, Liebste? Es ist ein Aufruhr in mir, ich weiß
nicht wogegen, eine Flamme, eine neue Flamme, ich weiß noch nicht
wofür. Ich habe meine Jugend kraftlos verträumt; ich will anders
werden, ich muß umsatteln; Tüchtigkeit, ja danach verlangt mich, aber
nicht nach jener Tüchtigkeit, die an den Vorteil gespannt ist wie ein
Ochs an den Pflug; nicht an den Ochsen denk’ ich dabei und an den
Pflug, sondern mehr an den Adler, an reine Luft und frischen Wind; und
an dich, die mir Flügel gibt, Mut, Selbstvertrauen und den Willen zur
Verantwortlichkeit. Wenn es einmal in meinem Leben eine innere Abkehr
von Erwin geben wird, so wird sie in der Erkenntnis wurzeln, daß ich
andere Wege gehen muß als er, den das Schicksal zu einem Einzelnen, ja
zu einem Wunder vielleicht in seiner Art gemacht hat, und daß ich mich
nicht werbend und nacheifernd an ihn verlieren darf.«

Manche Stellen dieses Briefes ließen Virginia, bei aller Bereitschaft
zum Mitempfinden, um den geliebten Mann bange werden. Die drangvolle
Leidenschaftlichkeit im Geistigen quälte sie, denn sie hatte keine
Formel dafür. Sie ahnte eine Verwandlung, aber sie konnte nicht Grund
und Ziel ermessen. Nur was sie zärtlich ansprach, was in ihrem innigen
Gefühl ein gegenwerbendes Echo weckte, das ergriff sie mit Freude
und entzückte sich daran. Immer wieder nahm sie den Brief zur Hand,
dessen Problematisches ihr viel zu schaffen machte, und sie wollte ganz
verstehen, wovon Manfred so bewegt und durchströmt war, – Dinge, die
sie jenseits der Liebe geglaubt, die er aber so ausdrucksvoll damit
verknüpfte, daß sie sich verpflichtet hielt, ihm beizustehen. Ein wenig
von der holden Kinderzuversicht ging freilich auf solche Art verloren.

Während ihr Inneres so benommen war, geschah es, daß sie im Flügelschen
Hause einen der Brüder Mariannes kennen lernte, eine Begegnung, die
Marianne sehr unerwünscht war, denn sie sah die Folgen voraus, und
Virginia, die die Widerwilligkeit, mit der ihre Freundin notgedrungen
die Zeremonie der Vorstellung übernahm, wohl vermerkte, fühlte sich
durch das aufdringlich-selbstsichere Wesen des jungen Mannes aufs
entschiedenste abgestoßen. Es war derselbe, der damals augenlos an ihr
vorübergeeilt war, als sie Erwin in Gefahr gewähnt und im Flur draußen
ihn durchs Telephon zu sprechen gewünscht hatte. Sie hatte nicht
vergessen, daß ihr die verstörten und entformten Züge gleichwohl den
Eindruck der Roheit und Verwilderung gemacht hatten.

In der Tat war Sixtus von Flügel ein recht übler Typus der modernen,
jungen Lebewelt; ein Spieler im allerschlimmsten Sinn, ein elegantes
und tückisches Raubtier, einer von jenen Eingefleischten der großen
Metropolen, denen es schwindlig wird, wenn sie keine fünfstöckigen
Häuser mehr um sich sehen, und deren Beruf es ist, keinen Beruf zu
haben. Er war ein Meister der Mode, und ihn beobachten hieß, die Mode
selber, das wetterwendische, lemurische Ding, ihren prahlenden Cancan
aufführen sehen.

Er wollte Virginia nach Hause begleiten. Sie lehnte ab, doch ließ
er sich dies nicht anfechten. Marianne suchte ihn zurückzuhalten,
es fruchtete nicht. Virginias edle Unnahbarkeit hinderte ihn nicht,
zudringlich zu sein. Unter der Hülle einer geschäftsmäßigen Galanterie
sah er in einer Frau ungefähr dasselbe, was ein Taschendieb in fremden
Börsen sieht: etwas zum Eindecken und Mitnehmen. Taschendiebe sind
die Kleinkrämer des Verbrechens, und diese »Herzensräuber« vom Schlage
Sixtus von Flügels betreiben ihr Handwerk zu wahllos und werden zu
leicht durchschaut. Sie sind ganz einfach nur da, um durchschaut zu
werden, aber das wissen sie nicht, und kraft ihrer Unwissenheit sind
sie hartnäckig wie die Hornissen.

Virginia war froh, als sie sich seiner entledigt hatte und daheim war,
aber wie groß war ihr Mißbehagen, als sie, gegen Abend aus dem Hause
tretend, ihn auf sich zukommen sah! Sie erwiderte kalt seinen Gruß
und wollte vorbeigehen; er verstellte ihr den Weg. Es war nicht eben
gemütlich, sie anzuschauen, wenn ihr Auge stolz verachtend glänzte,
aber daraus machte sich der junge Herr nicht das mindeste, denn er
war von seiner Unwiderstehlichkeit durchdrungen. Sie gab ihm zu
verstehen, daß ihr seine Gesellschaft unerwünscht sei; umsonst; sie
antwortete nicht auf seine Fragen, doch ihn störte das nicht, er hielt
Schritt mit ihr, er redete auf sie ein, er war vertraulich, verbissen,
sarkastisch und voll niederträchtiger Anspielungen. Virginia verstummte
ganz. Zorn und Ekel ergriffen sie. Sie flüchtete in einen Laden, er
wartete draußen mit frecher Geduld. Wie gehetzt kam sie nach Haus,
immer an seiner Seite. Sie schrieb ein paar Zeilen an Marianne. Ohne
Erfolg. Am anderen Morgen stand er wieder vorm Tor, als ob er dort
genächtigt hätte. Sie sagte ihm gerade heraus, er möge sie ungeschoren
lassen, er zuckte die Achseln und lachte. Ihr Widerstand erboste ihn.
Er schien einen Spion zu besolden, denn zu welcher Zeit immer sie
das Haus verließ, so dauerte es nicht lange, und er war hinter ihr,
dann neben ihr. Seine klebrige, giftige Zudringlichkeit hatte etwas
Gespensterhaftes. Er schmähte und schmeichelte in einem Atem, er war
beleidigend, dumm und glatt. Einmal am Abend folgte er ihr über die
Treppe hinauf und machte sich lustig über ihre Entrüstung.

Sie war gewohnt, in Reinlichkeit zu leben; der ständigen Besudelung
war ihr Gleichmut nicht gewachsen. Das häßliche Erlebnis erfüllte sie
mit Abscheu, mit leidvollem Erstaunen und endlich mit Gewissensunruhe.
Etwas von dem kühnen Trotz wich aus ihren Zügen, und sie hegte Scheu,
mit andern Menschen zu sprechen. Marianne ließ nichts von sich hören,
sie aufzusuchen konnte sich Virginia nicht entschließen, weil sie nicht
in das Haus des Unholds gehen wollte. Sie überwand sich und teilte sich
der Mutter mit, der ihr verändertes Wesen schon aufgefallen war, die
sich aber niemals einfallen ließ, Virginia auszukundschaften. Sie war
nicht neugierig, und diese Abwesenheit eines weiblichen Gebrechens trug
manches zu dem Eindruck von Vornehmheit bei, den sie machte.

»Da gibt’s nur eines,« erklärte Frau Geßner, »du mußt dich an Erwin
wenden.«

Virginia erschrak bei dem bloßen Gedanken. Sie hatte genug von jener
Duellgeschichte, über die das Gerede noch immer nicht verstummt war.
Sie wies den Vorschlag ab. »Du sonderbares Kind,« meinte Frau Geßner,
»den Menschen wirst du noch oft brauchen, öfter als du denkst.« Ein
Ausspruch, der nicht danach angetan war, Virginia unbesorgter zu
stimmen. »Er hat dich schon lange nicht besucht«, sagte sie zur Mutter.

»Nein. Er macht sich jetzt selten.«

»Findest du, daß er sich selten macht?« versetzte Virginia
nachdenklich. Ȇbrigens ist er nicht in Wien. Er ist beim Grafen
Hennsdorf in Böhmen zu einer Jagd geladen.«

Immerhin, etwas mußte geschehen. Es fügte sich, daß sie im Wandelgang
der Akademie Ulrich Zimmermann traf, der mit einem bekannten Maler
im Gespräch auf und ab ging. Er war beglückt, Virginia zu sehen,
diese fand die Gelegenheit günstig, und unter dem Druck der Umstände
vertraute sie sich ihm an. Er war außer sich. Seine temperamentvolle
Empörung gab Virginia Anlaß zu neuen Befürchtungen. »Was wollen Sie
tun?« fragte sie. »Lassen Sie mich nur machen,« antwortete er feurig,
»ich werde Sie von diesem Desperado befreien.«

Und was machte der unglückselige Dichter? Er fuhr zu Erwin hinaus, der
am selben Tag zurückgekehrt war, erzählte ihm die Schmach, die Virginia
erlitt, fragte, was dagegen zu unternehmen sei, und erbot sich, Sixtus
von Flügel zu fordern. Erwin erblaßte bei der Mitteilung. »Sie sind ein
Narr,« sagte er zu Ulrich Zimmermann; »ich werde den jungen Mann ein
bißchen einschüchtern, verlassen Sie sich darauf. Heut über drei Tage
befindet sich Herr von Flügel nicht mehr in Wien.«

Ulrich Zimmermann staunte.

Die Sache war die, daß Sixtus von Flügel bei Erwin nicht nur tief
verschuldet war, sondern daß er auch vor einiger Zeit auf den Namen
des Freundes seiner Schwester eine bedeutende Fälschung begangen hatte.
Somit war Erwin gegen ihn im Besitz einer stärkeren Waffe, als es
Degen und Pistole sind. Am gleichen Mittag zwischen zwölf und ein Uhr
fand sich Erwin im Flügelschen Hause ein. Marianne hatte ihn erwartet,
Sixtus war wie vor ein Gericht bestellt worden. Die Unterredung
dauerte nicht lange. Erwin war unerregt und stellte mit eisiger
Ruhe seine Bedingungen, deren Nichterfüllung Skandal und Schande
hervorrufen würde. Sixtus mußte sich dazu entschließen, einen demütigen
Abbittebrief, den ihm Erwin in die Feder diktierte, an Virginia zu
richten; ferner mußte er einen Schein unterschreiben, worin er das
ehrenwörtliche Versprechen gab, für die Dauer eines Jahres nach Paris
oder London zu gehen, gleichviel wohin, jedenfalls aber Wien zu meiden.
Dagegen verpflichtete sich Erwin, seine dringlichsten Schulden zu
zahlen und ihm überdies eine mäßige Summe für seinen Unterhalt während
der nächsten Monate auszusetzen.

Die Wut und die Erniedrigung verwandelten den jungen Mann in ein
Steinbild. Wäre nicht Marianne gewesen, die etwas wie eine seelische
Gewalt über ihn ausübte, er hätte in der Raserei, die ihn durchtobte,
Unheil angerichtet. So fügte er sich knirschend.

Von dieser Stunde an trug Marianne gegen Virginia unauslöschlichen
Haß, jedoch schien es ihr noch nicht an der Zeit, ein solches Gefühl
zu offenbaren. Sie verschloß es in ihrem Busen, um es reifen zu
lassen. Der Haß hat seine Sehnsucht, wie die Liebe. Als es Abend
wurde, begab sie sich in Virginias Wohnung. Virginia hatte schon den
Entschuldigungsbrief erhalten und war verwundert über die zauberhafte
Schnelligkeit, mit der Ulrich Zimmermann sein Gelöbnis erfüllt hatte.

»Ach, Virginia,« sagte Marianne mit sanftem Vorwurf, »hätten Sie doch
noch ein wenig Geduld gehabt, ich hätte alles in Ordnung gebracht. Mein
Bruder ist ein unleidlicher Wildfang, aber im Grunde seines Herzens
ist er ein Kind. Nun haben Sie Erwin auf ihn gehetzt, von dem er in
Geldabhängigkeit ist, und wer weiß, was daraus entstehen kann. Das war
nicht freundschaftlich gehandelt.«

Virginia war sprachlos. »Ich hätte Erwin auf ihn gehetzt?« flüsterte
sie endlich.

»Ja natürlich; woher hätt’ es denn Erwin wissen können?«

»Sie dürfen mir glauben, Marianne, daß das ohne meinen Willen geschehen
ist«, versicherte Virginia hastig. Gerade Erwins Dazwischentreten habe
sie vermeiden wollen und sich deswegen an Ulrich Zimmermann gewendet.

»Das ist gerade so, wie wenn Sie sich an Erwins Rockschoß gehängt
hätten«, antwortete Marianne trocken. »Man sollte wirklich denken, daß
Sixtus ein Menschenfresser ist«, fügte sie ärgerlich hinzu, lenkte
jedoch rasch ein, als sie wahrnahm, daß Virginias Blick befremdet und
funkelnd auf ihr ruhte. »Sie haben ja Recht,« sagte sie, »und mein
Bruder sieht es ein. Er ist in Sie verliebt, und um der Geschichte
ein Ende zu machen, reist er morgen für ein Jahr ins Ausland. Sie
können also wieder in Frieden Ihre Straße ziehen, der Wegelagerer ist
nicht mehr zu fürchten. Dummer Teufel, der er ist, hat keine Kunst und
keine Feinheit.« Nach diesem kleinen Nadelstich, der aber sein Ziel
verfehlte, zog sie ihr Döschen heraus und fing an zu rauchen.

Virginia trug Ulrich Zimmermann einen um so tieferen Unwillen nach,
als sie sich durch diesen Verlauf in eine immer unzerreißbarere
Verbindlichkeit gegen Erwin getrieben sah. Ihr war, als regiere ein
herrischer Arm über ihrem Leben, behüte sie, das wohl, heische aber
auch Gehorsam und Dank dafür. Sie zollte ihm Dank; dankbar zu sein,
lag im Kern ihres Wesens, doch die Umstände waren gar zu heikel und
erzeugten Fesseln, von denen sie sich unfroh gehemmt fühlte. Dazu
kam die Unsicherheit, wie er all dies aufgenommen: ob er es nicht im
stillen tadelte und unehrlich fand, daß sie sich an einen Dritten
gewandt, da er doch der Meinung sein mußte, der Umweg sei nur ein
Verlegenheitsspiel gewesen.

An einem der nächsten Vormittage ging sie über den Graben, und schon
von weitem erblickte sie Erwin in einer Gesellschaft von zwei Herren
und zwei Damen, höchst elegant gekleideten Leuten. Alle fünf Personen
waren in einem heiter belebten Gespräch, und als Erwin Virginia
erblickte und näher kommen sah, flammten seine Augen eine Sekunde
lang auf, und er entschloß sich zu einer ebenso verwegenen wie
raffinierten Komödie. Er redete nämlich mit den beiden Damen weiter,
die, überrascht von Virginias Erscheinung, sie mit schiefen Blicken
verfolgten, Blicken, die für Männer peinlich und unergründlich und eine
Mischung von Feindseligkeit, Wohlwollen, Neugier und Verrat sind. Er
redete ruhig weiter, während er seine Augen an Virginias Augen vorbei
auf ihre Wange heftete und sie vorübergehen ließ, ohne sie zu grüßen.

Virginia hatte sich schon zum Gruß bereitet; sie hatte schon die Lippen
zu freundlichem Lächeln gehoben, und als das Unerwartete eingetreten
war, wußte sie nicht, wie ihr geschah, glaubte sie in die Erde
versinken zu müssen. Am liebsten hätte sie sich gegen die Mauer eines
Hauses gelehnt, denn Schwäche überfiel sie, und sie dachte im Verfluß
weniger Sekunden an viele Dinge wie einer, der in einen Abgrund stürzt.
Mit Mühe schleppte sie sich zu einem Einspänner, fuhr nach Hause, und
dort wurde ihr so übel, daß sie sich aufs Sofa legte.

       *       *       *       *       *

Erwin hatte in der letzten Zeit Virginias Nähe nicht ohne Plan
gemieden. Da es zu seinen mystischen Überzeugungen gehörte, daß
nicht nur der Wille zum Ziel führt, sondern daß auch das Ziel den
Willen bindet und an sich reißt, wähnte er der handelnden Anteilnahme
entraten zu können, wenn die Erzeugung und Entladung großer Spannungen
gültigen Ersatz für die kleinen und alltäglichen Fortschritte boten.
Er arbeitete, hörte Kollegien, hielt selbst Vorträge in der Aula, zu
denen sich ein erlesenes Publikum drängte, er ritt, er focht, spielte
Tennis und Fußball, ging ins Theater, in Gesellschaft, pflegte seine
zahllosen Beziehungen mit Umsicht und Kaltblütigkeit, aber in dieser
wechselreichen Bewegung blieb Virginia der Augenpunkt wie ein ferner
Leuchtturm für ein nachtfahrendes Fischerboot.

Um diese Zeit war es auch, daß das Verhältnis mit Helene Zurmühlen
seine Reife erlangte und einen Charakter annahm, der das Schicksal der
jungen Frau besiegelte.

Helene Zurmühlen stammte aus einem guten Haus; die Kynasts waren eine
alte, hochangesehene Patrizierfamilie. Helene hatte mit achtzehn Jahren
geheiratet. Frühreif, wie sie gewesen war, hatte sie den Zwang der
Jungmädchenschaft als drückend empfunden. Robert Zurmühlen, den sie in
sich verliebt zu machen gewußt, behandelte sie auch in der Ehe wie ein
höheres Wesen. Das Talent, das ihm zum Kaufmann großen Stils fehlte und
das eine Mischung von strategischen und rechnerischen Fähigkeiten ist,
ersetzte er durch den zähen Fleiß eines Mannes, der jeden Daseinsgenuß
zu opfern vermag, um reich zu werden. Denn Helene sehnte sich nach
Reichtum. Sie hatte ein Kind von fünf Jahren. Sie schien glücklich
zu sein. Sie achtete ihren Mann, sie schien ihn zu lieben. Er stand
völlig unter ihrer Botmäßigkeit; sie suchte ihn zur Eleganz, zu einem
weltmännischen Gehaben zu erziehen und wollte ihm Geschmack an moderner
Literatur beibringen. Doch er war kleinlich, in Gelddingen krämerhaft,
das verdroß sie, und sie kämpfte vergebens gegen diesen Fehler. Er
hatte zahlreiche Verwandte in der Stadt, und Helene sah sich gezwungen,
einen großen Teil ihrer Zeit diesen fremden und gleichgültigen Menschen
zu widmen. Sie schien bescheiden, aber entsagungsvoll; sie war
aufregungsbedürftig und stellte sich blasiert, war lecker, naschhaft,
ja ausgehungert und stellte sich übersättigt, war menschensüchtig und
stellte sich weltmüde. Keineswegs nur aus Lust an der Gebärde; der
Zwiespalt lag wie eine angeborene Krankheit tief in ihrer Natur.

Einige Seelenforscher versichern, daß die in der bürgerlichen Welt
zutage tretenden Leidenschaften vornehmlich von Freiwilligkeit
regiert werden, was ungefähr dasselbe heißen will, wie wenn man eine
Feuersbrunst auf Brandstiftung zurückführt. Vom ersten Augenblick an,
wo sie Erwin Reiner durch Vermittlung ihres Bruders kennen lernte,
war es für Helene ausgemacht, daß sie diesen Mann gewinnen müsse. Er
zeigte sich ihr als der wahrgewordene unter den kühnsten ihrer Träume.
Sie fühlte ihre vollkommene Wehrlosigkeit gegen ihn. Sie war geblendet
und erlag der Energie seiner Persönlichkeit mit einer fatalistischen
Ruhe. Es war noch nicht gewiß, ob er sie vom Boden aufheben würde,
aber sie kniete schon, erschöpft vom Horchen, vom Zuschauen, vom
Warten, angewidert von Familienabenden, gelangweilt von Pflichten und
Rücksichten, sie, die stets von Pflichten und Rücksichten sprach und
einem Schutzengel der Tugend glich. Was setzest du aufs Spiel? fragte
Erwin, der die Eroberung zu leicht fand. Mich! antwortete Helene.
Dieses Temperament des Vornichtszurückschreckens hatte immerhin den
Kitzel der Neuheit. Erwin bedurfte keiner Worte, keiner Künste, keiner
Beteuerung, keiner Narkose; hier hatte eine Macht, die er kennen mußte,
da er einer ihrer Emissäre und Agenten war, so umfassend vorgearbeitet,
daß ihm eigentlich nichts mehr zu tun übrig blieb.

Aber die Frau gefiel ihm. Sie war zierlich, außerordentlich zierlich.
Sie gefiel ihm, wie ihm eine kostbare Vase gefallen hätte. Er verglich
sie mit einem Nokturno von Chopin, stimmungsvoll vorgetragen. Sie hatte
Poesie; sie hatte Witz und Schliff. Es beschäftigte ihn angenehm,
das lüsterne Herzchen mit Leckerbissen aus seiner sublimen Küche zu
füttern. Er übte sich an ihr; er konnte nachlässig sein und befeuert
sein, er konnte schwermütig sein und rebellisch sein, er konnte lächeln
wie ein Faun oder wie Apoll, für Helene verlor er nie von seinem Wert;
sie bewunderte seine meisterhafte Haltung.

Wie verführt man ein junges Mädchen? fragte sich Erwin; indem man
sich zu ihrem Ideal macht. Nichts ist leichter und einfacher. Wie
verführt man eine Braut? Indem man ihre Ideale revolutioniert. Das ist
schwer und mühevoll. Bei einer verheirateten Frau jedoch hat man nur
nötig, gegen den Gatten Kehrt zu machen, indem man die Vesprechungen
erfüllt, die er nicht eingelöst hat. Die Größe in Erwins Lebensführung,
die Freiheit seines Geistes, die Tiefe seiner Ansichten war es wohl
zunächst, was Helene bezauberte; aber wodurch sie sich ihm bis zur
Selbstvergessenheit unterworfen fühlte, das war seine Zärtlichkeit. Er
verwöhnte sie durch Zärtlichkeit, er verwandelte sie in eine Sklavin
durch Zärtlichkeit, er wußte sie aufzuschüren, freudig, glühend, ja
bacchantisch zu stimmen durch Zärtlichkeit. Sie hatte nie dergleichen
für möglich gehalten, schon sein anrührendes Wort verwandelte sie;
alles Kleinmütige und Hausbackene entschwand, und die Beunruhigungen
des Gewissens erschienen ihr in seiner Nähe, durch die Kraft seiner
Zärtlichkeit, so banal wie das Lampenfieber. Sie war nicht mehr die
anständig gewesene Frau, die Ehebruch beging und mit Pein und Schauder
über die gewundenen Pfade der Heimlichkeit schritt; sie war in seinen
Armen über solch niedriges Los hinausgerückt, und so lange seine Arme
sie hielten, konnte sie nicht fallen. Mit erstaunlicher Sicherheit
hatte Erwin erkannt, daß er dieses im Kern erschlaffte Geschöpf durch
sinnliche Entflammungen nur noch verderblicher erschlaffen würde;
demgemäß war seine Zärtlichkeit so vielfältig, so besonders, so fremd,
so geistig, so behutsam, so tiefgründig, daß es oft den Anschein hatte,
als wolle er eine neue Art von Liebesgefühl und Verlockung erzeugen,
und die Wirkung, die er ausübte, half ihm hinweg über die Ärmlichkeit
und Flüchtigkeit der Beziehung zu einer Frau, die leer war, nachdem
sie sich geschenkt hatte. Ja, er probierte, er erfand, er forschte
nach dem unwiderstehlichen Mittel, dem Rezept der Rezepte; es war für
ihn gleichsam ein Versuch am Gipsmodell vor der Arbeit gegenüber der
lebenden Figur.

Vielleicht, da er nun so im tiefen Spiele war, sollte es eine
Fortsetzung des Spieles sein, was ihn bewogen hatte, Virginia
vorübergehen zu lassen, ohne sie zu grüßen. Planlos geschah es nicht.
Er zerbrach für eine Stunde die Kette, die er dann um so fester
schmieden konnte.

Genau eine Stunde später war er in Virginias Wohnung.

»Sagen Sie mir um Gotteswillen, bin ich Ihnen nicht vorhin in der Stadt
begegnet?« fing er an. »Es ist mir wie ein Traum.«

Virginia war noch immer verstört, aber sie atmete auf. »Was war denn
das?« flüsterte sie mit nicht verhehltem Unwillen.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Erwin; »es war eine
Halluzination, oder vielmehr die sonderbarste Umkehr von Halluzination.
Sie sind zu jeder Zeit in meiner Vorstellung so gegenwärtig, daß es mir
wie einem Kind ergangen ist, wenn es sich tagelang auf seine Mutter
gefreut hat, und wenn die Mutter wirklich ins Zimmer tritt, sich
benimmt, als wäre sie gar nicht fortgewesen. Etwas Ähnliches ist mir
nie passiert. Verzeihen Sie mir.«

Er schien es sehr ernst zu nehmen, das versöhnte Virginia, und
sie mußte sogar lachen. Im Grunde war sie froh, an den häßlichen
Zwischenfall nicht mehr denken zu müssen. »Ich habe noch eine Bitte«,
begann Erwin wieder; »ich gebe Ende nächster Woche meinen Freunden und
vielen andern Leuten, denen ich gesellschaftlich verpflichtet bin,
einen Abend, eine Art von Fest, wenn Sie wollen. Frau von Resowsky wird
die Liebenswürdigkeit haben, die Honneurs zu machen. Darf ich Sie und
Ihre Mutter dazu einladen?«

»Die Mutter geht nicht in Gesellschaft«, erwiderte Virginia rasch und
im Gefühl, daß die Anwesenheit der Mutter gar nicht gewünscht werde;
»davor hat sie Angst wie vor einem Eisenbahnunglück.«

»Das wird mich aber hoffentlich nicht Ihrer Gegenwart berauben«,
versetzte Erwin förmlich. »Wenn ja, so würde ich allen Leuten noch in
letzter Stunde absagen«, fügte er hinzu, als er eine Bedenklichkeit bei
Virginia bemerkte. »Ich habe Sie mir versprochen; es ist mir wichtig,
daß Sie da sind, und Sie werden da sein.«

Oho, dachte Virginia erstaunt, so spricht man mit mir? Sie versuchte
zu lächeln, konnte aber Erwins Blick nicht ertragen. Es kam plötzlich
etwas Schweres, schwer zu Tragendes über sie, und sie wußte nicht,
woher es kam.

»Ihre Weigerung würde Unglück für mein Haus bedeuten«, fuhr Erwin
hartnäckig fort.

»Sind Sie denn abergläubisch?«

»Ich bin abergläubisch wie alle, die nichts als sich selber haben, um
daran zu glauben. Geben Sie mir Ihr Jawort und Ihre Hand.«

Virginia gab ihr Jawort, aber nicht ihre Hand. In der Küche draußen
ließ Frau Geßner die Wasserleitung plätschern. Virginia trat langsam
zum Fenster. Erwins Nüstern flogen, als er ihren edelschleichenden Gang
bis in die Einzelheiten des Rockfaltenwurfs verfolgte. Mein, mein,
mein, mein, jubelte es in ihm.

Ihre offensichtliche Verstimmung tat ihm wundersam wohl, wie ein
Nachthauch, wenn man aus erhitzten Zimmern tritt. Es war etwas so
Pflanzenhaftes an ihrem plötzlichen Traurigsein, etwas, was gleichsam
mit dem Mond zusammenhing und an den Fall von Sternen erinnerte. Dies
liebte er in den Frauen, dies Wurzeln in dunkler Erde und Auftasten zu
den Sphären.

Es konnte ihm in der Folge nicht entgehen, daß sie scheuer geworden
war, seit er sie vor den Nachstellungen des jungen Flügel gerettet.
Ulrich Zimmermann hatte ihm da einen vortrefflichen Dienst erwiesen.
Doch Ulrich selbst war untröstlich, denn er war von Marianne belehrt
worden, wie sehr Virginia gegen ihn erzürnt sei. Der Anlaß wurde ihm
nicht klar, er dachte entschlossen gehandelt zu haben, und als er
eines Nachmittags zu Erwin kam und ihm dieser sagte, Virginia rechne
ihm sein Benehmen als Feigheit, ja fast als Verrat an, war er wie aus
den Wolken gefallen. Und plötzlich begriff er. Er sprang von seinem
Stuhl und wollte fortstürzen. »Wohin?« rief Erwin streng. – »Zu ihr.« –
»Das lassen Sie nur hübsch bleiben«, sagte Erwin stirnrunzelnd. »Eine
Dummheit erklären wollen, heißt sie verdoppeln. Sie sind mir ein wenig
Haltung schuldig, mein Freund. Am Samstag treffen Sie Virginia hier.
Bei der Gelegenheit können Sie ihr sagen, daß ich mit Sixtus Flügel
eine alte Rechnung ausgeglichen und zu meinen Gunsten bilanziert habe.
Ich selbst habe mit ihr noch nicht über die Geschichte gesprochen, und
ich wäre froh, wenn sie sich mir gegenüber frei fühlte. Das kann sie,
wenn sie erfährt, daß ich dabei meinen Nutzen gehabt habe.«

»Diese Politik ist mir zu gewunden«, antwortete Ulrich Zimmermann
mürrisch, aber er fügte sich, weil er mußte. Er war gekommen, weil
er Geld brauchte. Stumm saß er hinter Erwins Sessel, der an seinem
Schreibtisch arbeitete. Es vergingen anderthalb Stunden, deren
Schweigen nur von den wiederkehrenden Glockentrillern der kostbaren
Spieluhr auf dem Kamin unterbrochen wurde. Endlich stand Erwin
hochatmend auf. »Wie viel wollen Sie?« wandte er sich freundlich an
Ulrich Zimmermann, dessen Anwesenheit er vergessen zu haben schien.

Ulrich errötete. »Riecht man denn das, wenn einer Geld braucht?« fragte
er mit wehmütigem Humor. »Ach, könnten Sie ahnen, was es heißt, um
Geld zu bitten!« fuhr er ungestüm fort. »Den Mörder bittet man um das
Leben, und man fühlt sich nicht gedemütigt, aber vom Reichen, und ist
er ein Freund, Geld fordern, heißt sich grenzenlos erniedrigen. Und das
Furchtbarste: stets genießt der Gebende, was der Empfangende so schwer
verwindet.«

»Der gibt schlecht, der nicht dankt, wenn er gibt«, stimmte Erwin bei,
den die Großherzigkeit und Beschwingtheit in Ulrichs Worten sympathisch
berührte.

Als Ulrich Zimmermann die Villa verlassen hatte, blieb er auf der
Straße stehen und schaute nachdenklich zurück. Sein Blick fiel auf das
Giebeldreieck, auf welchem in den Stein gemeißelt das Wort »Sansara« zu
lesen war. Das war der Name von Erwins Haus.

»Sansara,« murmelte Ulrich, seinen Weg fortsetzend, »Sansara!« Das hat
Pathos, grübelte er, das hat Hintergrund. Plakatierte Metaphysik. Der
Übermut des Besitzes erweist der Religion der Armut seine Ehrfurcht.
Die asiatische Firmentafel, gerade gut genug über der Zwingburg
europäischer Geistigkeit. Der Bürgeraristokrat macht einen platonischen
Purzelbaum zum Nabel des Buddha und verewigt sein Kunststück durch eine
steinerne Fanfare.

Aber sollte darin nicht auch etwas Ergreifendes liegen? fragte sich
der junge Dichter; der aufgestachelte Widerpart des Gottlosen gegen
den Despotismus einer unbeseelten Ordnung? Flucht vor der dutzendmäßig
beschnittenen Gemeinheit aller übrigen Geschicke? Tröstlich vermessenes
Aug-in-Auge-stehen gegen eine Gewalt, die man am Ende doch selber
aufgerichtet hat, um nicht in den luftleeren Raum zu stürzen? Ich
könnte meinem Buch den Titel geben: Mirowitsch oder die wesenlose
Opposition.

       *       *       *       *       *

Virginia war um halb acht Uhr fix und fertig. Sie trug ein Kleid
aus veilchenblauem Battistlinon, verziert mit irischen Spitzen. Der
Brustausschnitt war bescheiden. Das Haar war zu einem griechischen
Knoten geknüpft. »Nein, das ist zu schön, zu schön«, rief Frau Geßner
immer wieder und streichelte das Kleid mit zagen Fingern.

Virginia wünschte, daß Manfred sie sehen könnte; doch stünd ich hier,
fuhr es ihr durch den Sinn, stünd ich so hier, wie ich bin, wenn
er mich sehen könnte? Sie heftete den Blick in den Spiegel, – fast
mißbilligend. Man rief nach ihr, so schien es, und ungern folgte sie,
obgleich erglüht.

Sie hatte einen Wagen bestellt und fuhr hinaus. Vor dem Eingang zur
Villa stand eine lange Reihe von Fiakern und Automobilen. Man konnte
einen Teil des Parkes wahrnehmen und sah Lampions unter den Bäumen.

Jede Frau, die in festlichem Anzug einen Ballsaal, ein Theater, einen
Salon betritt, zeigt das nämliche alberne, besorgte, trunkene und
phantastische Lächeln, als ob sie sagen wolle: jetzt kommt das große
Unerwartete. Virginia beobachtete dies, während sie sich in der Halle
ihres Mantels entledigte. Ein Diener half ihr dabei. Wichtel, kaum daß
er Virginia gesehen, ging, um seinen Herrn zu benachrichtigen. Erwin
kam. »Ich muß zwei Worte mit Ihnen sprechen«, raunte er ihr zu. Sie
folgte ihm betroffen in ein kleines, von dem orangeroten Licht einer
Ampel beleuchtetes Gemach. Er schloß die Tür.

»Was bedeutet das?« fragte sie ängstlich.

Er legte den Finger an die Lippen, riß hurtig eine Lade auf und hielt
ihr das Perlenhalsband zwischen beiden vorgestreckten Händen entgegen.

Ohne den Blick abzuwenden, trat Virginia einen Schritt zurück. »Sie
haben mir versprochen –« stammelte sie.

»Ich habe nicht davon geredet«, erwiderte er mit verführendem Lächeln.

Virginia wich noch weiter gegen die Tür. Erwin folgte mit der Kette.
»Wir haben keine Zeit zu Verhandlungen«, sagte er leise und mit einem
Lachen in der Stimme. »Fragen Sie nicht! Fragen Sie nicht! Ja, Manfred
hat geschrieben. Soll ich’s Ihnen schwarz auf weiß zeigen? Ich kenne
sein Vertrauen. Er aber kennt Ihr schimpfliches Mißtrauen nicht.« Und
als sie eine abweisende Gebärde machte, einen hilflosen, verwirrten,
bittenden Blick auf ihn warf, flehte er: »Nur diese eine Nacht! Nur
diese eine Stunde! Gönnen Sie meinen Augen die Lust!«

Schon hatte er die Kette um ihren Hals gelegt und klatschte nun
begeistert in die Hände. »Herrlich! Göttlich! Unvergleichlich!«

Eine Uhr tat neun Schläge. Aufruhr und Zorn gegen den Mann, der sie
schmückte, erwachte in Virginia; aber dahinter wirbelte eine ungestüme
Freude. Gut, dachte sie, einen Abend lang, weshalb nicht. In ihrem
Innern glaubte sie nicht mehr an so kurze Dauer. Sie hatte ein
Weihnachtsgefühl, und fand es doch seltsam, daß Manfred eingewilligt,
zumal die verflossene Frist ein wenig knapp schien. Bei alledem ist
wesentlich, daß sie von dem Wert des Schmuckes weder einen Begriff
hatte noch sich Gedanken darüber machte. Ganz von fern stieg in
Sekunden eine Befürchtung auf, ein Schatten, die Schwere eines
Unrechts, der Ruhm der Perle an sich, aber durch jedes Einzelne wähnte
sie den untadeligen Sinn des Gebenden zu beleidigen.

»Vertrauen Sie mir«, sagte Erwin fest, und Kraft, Ermunterung,
Ritterlichkeit, hochaufgerichtete Ritterlichkeit strahlten an ihm.

»Wenn es nur nicht eine Torheit ist«, sagte Virginia, reichte ihm aber
doch die Hand, die kalt war vor Freude sowohl wie vor Bestürzung. An
einem Spiegel vorüberschreitend, erblickte sie die Perlen. Dieser
Moment erfüllte sie mit Glück und Stolz. Ihr war zumute, als sei sie in
ein Märchen versetzt, – und heute wollte sie das Wunderbare gewähren
lassen.

»Und wenn man mich fragte?« wandte sie sich treuherzig an Erwin.
»Marianne zum Beispiel könnte doch fragen.« Sie zögerte wieder. »Nein,
Erwin, nein,« flüsterte sie beklommen, »ich fühle, es geht nicht.«

»Marianne ist nicht hier«, antwortete er kurz, und ein Unwillen, der
ihr Schrecken einflößte, malte sich auf seiner Stirn. »Haben Sie mich
im Verdacht, daß ich mich brüsten werde? Glauben Sie mir nicht? Weiß
ich am Ende Ihre Nachgiebigkeit nicht zu würdigen? Ist Ihr Verlobter
nicht ein Mann, der so ein Halsband auf seinen Kredit beanspruchen
kann?«

Virginia schwieg errötend. Er verließ durch eine Tür zur Linken das
Gemach. Virginia trat wieder in die Halle. Erwin kam draußen auf sie
zu; jetzt verstand sie den Umweg und erschrak aufs neue. Sie war nur
wenige Minuten mit ihm allein gewesen, aber daß es heimliche Minuten
waren, hatte sie nicht bedacht. Er führte sie zu Frau von Resowsky, die
sich liebevoll ihrer annahm und sie von Gruppe zu Gruppe geleitete.

Von den Namen, die man ihr nannte, blieben wenige ihrem Gedächtnis
eingeprägt. Der Glanz des Lichtes betäubte sie. Sie sah nur Umrisse
von Gesichtern, blonde, schwarze, weiße Bärte, viele Blumen, die stark
dufteten, viele Augen wie lebhafte kleine Tiere, die Kleider der Damen
als zartestes Farbengemisch und die Haut ihrer Büsten verletzend wahr
und nahe.

Fast alle blickten sie staunend an. Gleichwohl hatte sie den Eindruck,
daß andere Frauen schöner seien als sie. Sie war durchaus nicht beengt,
sie gewann im Gegenteil mehr und mehr Freiheit durch die Wahrnehmung,
daß es zwischen ihr und den meisten dieser Menschen kein lebendiges
Band gab.

Ulrich Zimmermann trat zu ihr und begrüßte sie. Sehr zur Unzeit fing
er an, die Erklärungen zu stottern, die er sich vorgenommen hatte,
sprach sogar, genau mit Erwins Worten, von einer Rechnung, die jener
»zu seinen Gunsten bilanziert«, aber Virginia schüttelte verwundert
den Kopf und schien alles vergessen zu haben. Plötzlich starrte Ulrich
mit hochgeründeten Brauen auf die Perlenkette. Er hatte Virginia arm
geglaubt, das war aus seinem Erstaunen zu lesen. »Sie tragen ja ein
Vermögen an Ihrem Hals«, sagte er gedrückt, ohne zum Bewußtsein seiner
Taktlosigkeit zu gelangen.

Virginia stutzte; der ferne Schatten wuchs. Dann aber lächelte sie
an Ulrich vorbei. Ein Übermut war auf einmal in ihr, wie sonst nur,
wenn sie tanzlustig war. Ulrich Zimmermann senkte die Stirn vor ihrer
Schönheit.

Das Lampenlicht verlieh dem feinen Sammet ihrer Haut einen metallischen
Glanz. Manche Herren wollten sich erinnern, sie schon gesehen zu haben,
und drückten es in schmeichelhafter Weise aus. Graf Palester, blaß,
ernst, kalt, verschlossen, verbeugte sich korrekt, ohne das Wort an
sie zu richten. Jedoch war er nur ihretwegen der Einladung Erwins
gefolgt.

Einige Attachees umringten sie; ein japanischer Arzt, ein paar junge
Statthaltereibeamte wurden ihr vorgestellt. Sodann machte Erwin sie
mit Helene Zurmühlen und deren Gatten bekannt. Helene erschien ihr
wie ein Spielzeug, und in der Tat war die Gestalt der jungen Frau von
einer fast unnatürlichen Schlankheit. In ihrem Gang war der edelste
Anstand, und eine Vorsicht, als lägen überall Steine. Alles schien
zerbrechlich an ihr, der rührend weiße Hals, die apathischen Arme, die
mageren, gelben Hände, die oft zu Fäusten geballt waren wie bei kleinen
Kindern, wenn sie schlafen, der schmale, stets seitwärts geneigte,
von leuchtend schwarzer Haarflut übermäßig belastete Kopf, in dem ein
lilienhaftes Antlitz, herzförmig geschnitten, von den Schatten einer
süßen Melancholie überdunkelt war. Aber diese Melancholie hatte etwas
Grelles, und die Natur selbst strafte sie Lügen durch den starken,
brennenden Mund, welcher List, Neugier und Unruhe verriet.

Um das ernüchternde Beisammensitzen an einer großen Tafel zu vermeiden,
war im Speisesaal freies Büffet errichtet, und fünf Diener versorgten
die immer wechselnden Gäste. Ein paar Räume weiter endete die Flucht
in einem kleinen Gemach von köstlichem Luxus. Dorthin hatten sich
Ulrich Zimmermann, Graf Palester und ein Freund des letzteren, ein
Herr von Hefforig, zurückgezogen. Alle drei rauchten. Auf dem Tische
vor ihnen stand eine Flasche Bocksbeutel, aus welcher Ulrich von Zeit
zu Zeit in die Gläser nachgoß. Herr von Hefforig war ein schweigsamer
junger Mann und beteiligte sich nur durch aufmerksames Zuhören am
Gespräch. Man wußte wenig mehr von ihm, als daß er aus einer Familie
von Selbstmördern stammte. Er war drei Jahre in Südamerika gewesen, wo
er Studien über die Schädelbildung der Patagonier gemacht hatte.

»Charakteristisch find ich die jetzige Mode der Damen«, sagte Ulrich
Zimmermann; »ich möchte behaupten, es liegt Verständnis für die
Epoche darin. Wahre Prachtliebe neigt zur Unscheinbarkeit. Die ganze
Farbenskala, die uns blendet, ist nämlich ein Betrug, denn alle diese
Heliotrop und Violett und Blaßblau ergeben in Summa einen traurigen und
kranken Ton. Man stellt sich lärmend und ist leise wie im Zimmer eines
Sterbenden. Ich finde das stilvoll.«

»Ob ich Ihnen beipflichte oder nicht, kann das Ihre Meinung ändern?«
versetzte der Graf.

»Man kehrt langsam zu den echten Spitzen zurück,« fuhr Ulrich
Zimmermann hartnäckig fort, »und in New York versicherte mir eine junge
Milliardärin, Perlenketten seien vornehmer als Diamanten, weil bei
diesen die Imitationen von Jahr zu Jahr besser würden.«

Palester warf Ulrich einen kurzen, verleugnenden Blick zu.

»Ein solcher Abend ist für mich ein Alpdruck«, sagte Ulrich
schuldbewußt. »Und doch ist alles in mir wach, alles bäumt sich auf,
Scham, Ehrgeiz, Spott, Verachtung; ich denke die schlechten und
selbstsüchtigen Gedanken einer ganzen Tafelrunde, ich möchte aufstehen
und reden, alle sind meine Feinde, und alle will ich überzeugen. Aber
niemand glaubt mir, und eh noch ein Wort über meine Zähne gekommen ist,
werde ich aus einem Apostel zu einem Lakaien.«

»Sie haben damit den Kern des Prozesses treffend bezeichnet«,
antwortete der Graf mit regungslosem Gesicht; »die Gesellschaft
verwandelt den Apostel auf stummem Weg in den Lakaien.«

»Ja, so ergeht es mir«, sagte Ulrich mit lodernden Augen. »Ich
werde in Sold genommen und festgeschmiedet. Meine Seele wird zum
Wallfahrtsziel aller andern Seelen. Ich spüre die Vorwürfe der
Ehebrecherin und die Angst der Modelöwin, die ihr Wirtschaftsgeld
für einen neuen Hut verausgabt hat. Ich sehe das Zähneknirschen des
präterierten Beamten und die sorgenvollen Berechnungen des Börsianers.
Ich weiß, daß dieser junge Mann mit seinem gemeinen Grinsen irgendwo
im Mundwinkel an eine Kokotte denkt, während er einer anständigen
Frau den Hof macht, und daß diese anständige Frau von dem Gespenst
einer unerwünschten Schwangerschaft gequält wird; ich kenne die
verzweiflungsvolle Frechheit des Überlings, der da spricht: für mich
gibt es keine Moral, sondern nur Zweckmäßigkeit, und mir graut vor den
verbrecherischen Gelüsten des jungen Mädchens, das ins Leben tritt wie
eine robuste Stallmagd, die die Kuh zu melken sich anschickt. Hinter
dem geistreichen Geflunker gewahre ich Aktien und Kurszettel, hinter
den sozialen Wohlfahrtsphrasen eheliche Zänkerei, hinter dem gebadeten
Lächeln Gram, Eifersucht und Stumpfsinn, hinter dem diplomatischen
Getue werden Völker in ungerechte Kriege verstrickt. Sie sind mir zu
nackt, allesamt, sie vergiften mir das Gewissen, und erst das schlechte
Gewissen verkauft mich an die Idee, und meine Idee muß noch größer sein
als meine Demütigung, sonst kann ich aus der Sklaverei, in der ich mich
befinde, kein Kapital schlagen.«

Es entstand ein Schweigen. Herr von Hefforig erhob sich, grüßte höflich
und ging hinaus. Eine zu heftige Beredsamkeit beleidigt oft den
feinfühligen Zuhörer.

»In einem finsteren Zimmer, oder im Freien, auf einer Wanderung im
Gebirge, würden mir Ihre Worte einen stärkeren Eindruck machen«, sagte
Palester seltsam.

Da trat Erwin unter die Tür und drohte scherzhaft mit dem Finger. »Eine
kleine Verschwörung?« fragte er.

Ulrich trat zu ihm und ging mit ihm hinaus. »Haben Sie sich nicht über
das Perlenkollier gewundert?« begann er mit verräterischer Hast. Erwin
blieb stehen und wandte ihm das Gesicht voll entgegen. Sein blitzender
Blick war kalt, durchbohrend und mitleidig.

Ulrich griff mechanisch an die Stirn. Erwin kehrte sich ab und ging
allein weiter.

Aber Ulrich hatte verstanden. Er irrte eine Weile zwischen den Menschen
umher, dann begab er sich in die Garderobe, warf den Überzieher um die
Schultern und, den Hut in der Hand tragend, verließ er das Haus. Sein
Gehirn war wie erfroren. Er wanderte weit, weit; durch die ganze Stadt
und in den Prater und bis zur Donau. Auf dem Rückweg sang er laut,
um nicht denken zu müssen. In der Hauptallee setzte er sich auf eine
laternenbeschienene Bank und stocherte in kummervoller Zerstreutheit
mit der Stockspitze im Sand herum. Endlich schrieb er, schrieb Verse:

    Die Seele, die berührst du nicht,
    die ist im Leib vergraben;
    sie weiß nicht, was die Lippe spricht,
    will’s auch nicht Kunde haben.

    Im stillen träumt und blüht sie hin,
    läßt Leid und Glück verfluten
    und ziehet ewigen Gewinn
    vom Bösen und vom Guten.

Beim Morgengrauen trat er in ein mit Dirnen und Zuhältern besetztes
Kaffeehaus. Sein Frack erregte hämisches Aufsehen. Der beginnende
Marktlärm verscheuchte mit den übrigen Gästen auch ihn. Er hatte sich
verwandelt, aber keineswegs in den Lakaien.

       *       *       *       *       *

Da die Hitze in den Zimmern zu groß wurde, hatten sich viele Gäste in
den illuminierten Teil des Gartens begeben, wo Kaffee, Eis, Früchte
und Likör serviert wurden. Erwin wanderte mit Frau von Resowsky und
einem würdigen Exzellenzherrn auf der Terrasse auf und ab, deren
massive Brüstungen sich zu beiden Seiten der flachgestuften Treppe
mit anmutigen Bögen zum Garten hinabschwangen. Sie sprachen von den
politischen Verfinsterungen, die sich im Osten des Reiches erhoben, und
die Exzellenz erstaunte über die Einsicht und Tiefe in den Urteilen
des jungen Mannes. »Und eine solche Kraft soll für den Staat verloren
sein!« rief er scherzend.

Erwin lachte. Er war gespannt und ungeduldig; er bohrte die Nägel
in die Handflächen und hielt die Daumen wagrecht wie kleine
Balanzierstangen; sein Blick war zerstreut, nur seine Zunge redete. Sie
hatte seit neun Uhr gerade so einsichtig und tief mit den Medizinern
über Medizin, mit den Agrariern über die Landwirtschaft, mit den
Fabrikanten über Zölle und Rohprodukte, mit den Frauen über Erziehung
und Lebenskunst gesprochen.

Nach einer Weile bemerkte er Helene Zurmühlen, die an der Glastüre
stand, den geöffneten Straußfedernfächer vor Brust und Hals, das Auge
wie gebrochen ins Weite gerichtet. Der Ausdruck ihres Gesichtes mißfiel
ihm, ihr wehmütiges Lächeln erbitterte ihn; dennoch trat er mit einer
Verbeugung zu ihr.

Sie wußte nichts zu sagen, sie bebte vor Ergebenheit. Was sie
verschwieg, war Furcht vor Virginias Bild, Schmerz über deren
Gegenwart, Gefühl von deren Überlegenheit.

»Waren Sie gestern beim Rennen?« fragte Erwin und sah aus, als hätte er
die weichste Liebkosung geflüstert.

Sie schüttelte den Kopf, und die Spannung ihrer Züge milderte sich.

Er wollte erzählen, sie unterbrach ihn jedoch, nachdem sie einen
forschenden Blick umhergesandt, und murmelte mit erstickter Stimme: »Du
hältst mein Leben in deiner Hand.«

Unwillkürlich starrte er auf seine Hand. Sie ist eine Närrin, die nicht
einmal versteht, sich im Preis zu halten, dachte er.

Da ging Virginia vorbei und über die Treppe in den Garten.
Hochaufgerichtet ging sie vorbei, strahlend und in ein heiteres Lächeln
versunken. Alsbald tauchte sie in die violette Parkdämmerung. Erwin
zuckte empor. Sein Gesicht wurde gesammelt und unbeweglich. »Wir werden
uns an einem so schönen Abend nicht zur Trauer verführen lassen«,
sagte er zu Helene, die in freudiger Unterwürfigkeit vor ihm stand.
Seine Worte sollten offenherzig und tröstend klingen, aber indem er
hinwegeilte, spürte er selbst, daß er nur ungenügend zu täuschen
vermocht hatte.

Helene hielt sich an der Steinbrüstung fest und schloß die Augen. Sie
wollte nicht sehen, ihr graute vor der Klarheit der Dinge. Ihr Name
wurde dicht neben ihrem Ohr genannt. Es war ihr Mann. Er legte den Arm
um ihre Schulter und küßte sie auf die Stirn. Dann führte er sie in die
Halle und wickelte sie in den Mantel wie ein müdes, krankes Kind.

Der Garten duftete von Rosen und Jasmin. Er war von herrlichen Bäumen
bestanden, Blutbuchen und Edelkastanien, Sumpfzypressen und Mangos,
birkenblättrigen Pappeln, Ahorn- und Gingkobäumen. Virginia hatte ein
wenig Sekt getrunken, und sie fürchtete Dummheiten zu reden, wenn sie
sich mit Menschen ins Gespräch einließ, deshalb wich sie einer angeregt
plaudernden Schar von jungen Männern und Mädchen aus und lenkte den
Schritt unbedenklich über ein Stück Rasen. Erwin verlor sie an dieser
Stelle aus den Augen, und er ging am Tisch der Lustigen vorbei, die ihn
anriefen und ihn zu bleiben aufforderten. Er winkte ihnen zu und eilte
weiter, sah auch von fern Virginias Gestalt durch die dunkeln Büsche
schimmern und hatte sie bald erreicht. Jene aber wollten sich nicht
zufrieden geben, und übermütig riefen ihre Stimmen immer wieder seinen
Namen.

»Kommen Sie, Virginia«, sagte Erwin, als ob er sie vor Verfolgern in
Sicherheit bringen wollte; »kommen Sie!« drängte er und ergriff ihre
Hand. – »Warum denn?« versetzte sie verwundert, »ich kann nicht so
laufen, hier ist’s zu finster.« – »Fliehen wir, Virginia, verstecken
wir uns vor ihnen, sie mögen uns nur suchen.« Seine elastische
Raschheit brachte die Luft ins Wirbeln; Virginia lachte, und um nicht
Spaßverderberin zu sein, ließ sie sich zur Eile überreden. »Schnell,
schnell,« drängte er von neuem, sonderbar gepreßt und wild, »noch
fünfzig Schritte und wir sind oben im Pavillon, und keiner wird wissen,
wo wir hingeraten sind.«

Und wirklich, Virginia lief, was hier im Dunkeln, wo die ebene Fläche
sich zu einem Hügelanstieg entschloß, nicht eben leicht war. Es ähnelte
einer Trunkenheit, daß sie lief; die Sommergerüche, nächtlich schwül,
der schwüle Bodenhauch und das lebendigere Blut trieben sie hin, und
sie atmete mit offenem Mund, lachte lautlos mit offenem Mund. Erwin,
der sein Entzücken über ihre Schlankheit und Gazellengrazie hinter
geschlossenen Zähnen verbarg wie man einen Aufschrei zurückhält, konnte
nicht den Blick von ihr wenden und ließ ihre Hand erst los, als sie vor
dem Pavillon standen.

Es war das ein zierliches, von wildem Wein und Efeu behangenes Rondell,
in dessen Mitte unter gekreuzten Balken eine chinesische Laterne mit
roten Gläsern hing und Bank und Tisch, das Laubgewind und Weg und Busch
mit sanftem Scharlach übergoß.

Virginia sank hin, lehnte sich weit ins Staket hinein, preßte beide
Hände gegen die Brust und stammelte: »Mein Gott, was war denn das?
weshalb sind wir denn so gerannt? Ich kann nicht mehr.«

Erwin setzte sich zu ihren Füßen auf die Schwelle. »Ruhen Sie sich
aus«, antwortete er. »Niemand wird uns stören.«

Eine Pause entstand. Allmählich kam Virginia zur Besinnung. »Weshalb
sagen Sie das so wunderlich: Niemand wird uns stören –?« fragte sie.

»Es ist mir nur so in den Sinn gefahren«, entgegnete er mit müder
Stimme.

Und wieder Virginia: »Warum kauern Sie denn auf der Erde? Sie können ja
auch auf der Bank sitzen. Ihre Kleider werden ja schmutzig.«

Die müde Stimme von unten antwortete: »Vielleicht find ich meine Lust
daran, vor Ihnen auf der Erde zu kauern, Virginia. Was kann mir die
Erde anhaben gegen das Gefühl, Sie über mir zu wissen.«

Virginia dachte über seine Worte nach und schwieg. »Es ist so still
hier«, murmelte sie dann.

»Es ist sehr still hier«, bestätigte Erwin. »Die Glühwürmchen fliegen
schon. Nur die Sterne sind zu blaß. Man sollte nicht an Orten wohnen,
wo die Sterne so blaß sind im Mai.«

Virginia suchte mit den Augen die Sterne. »Von meinem Platz aus kann
ich die Sterne nicht sehen«, sagte sie.

»Kommen Sie zu mir herab«, versetzte Erwin mit angehaltenem Atem.

Virginia wurde nicht aufmerksam auf den Ton seiner Rede. Zu dieser
Stunde schlief sie an andern Tagen längst, und ihre Lider wurden
schwer. Plötzlich fragte sie mit innigem Klang in der Stimme: »Denken
Sie auch manchmal an Manfred, Erwin?«

»Ob ich manchmal an Manfred denke, Virginia?« fragte Erwin langsam
dagegen, und er griff mit der Hand nach einer Rebe, die er abriß. »Ich
denke immer an Manfred, immer, immer, immer. Ich denke Tag und Nacht an
Manfred. Bei Tag, indem sich mir das Licht verdunkelt, bei Nacht, indem
ich in die Kissen beiße. An wen könnt ich sonst denken als an Manfred?
an wen mit gleichem Neid als an Manfred? ich, der Bettler, an Manfred,
den Reichen, den Besitzer, den Unantastbaren, den, der vor mir kam?«

»Was soll das heißen?« fragte Virginia ahnungslos und sehr bestürzt.

Jetzt war die Reihe zu schweigen an Erwin. Er war sicher, daß Virginia
die Frage wiederholen würde. So geschah es auch.

»So muß ich denn reden?« fuhr Erwin fort, und seine Stimme war dumpf
und ingrimmig. »Dürft ich denn reden? Nein, Virginia, nein. Wozu am
Ende. Gehn wir lieber ins Haus zurück.«

Dies war ein trefflicher Schachzug, durch den Virginia in ihrem blinden
Schrecken bestärkt wurde. »Ist denn etwas mit Manfred passiert, etwas,
was ich nicht weiß?« fragte sie in rührendem Mißverstehen. »Sprechen
Sie doch, Erwin, quälen Sie mich nicht.«

»Haben Sie Angst um Manfred?« kam es bitter von Erwins Lippen. »Ruhig
Blut, Virginia. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß er der starke
Felsen ist, an dem mein Glück und Wille zerschellt. Und wenn ich
denn sprechen soll, so sei es, – der Nacht wegen, die so vergeßlich
macht, und weil Glühwürmer im Laub spielen und weil die Sterne so
blaß sind. Ist es doch über mich gekommen wie die Krankheit über den
Lebenslustigen; dabei weiß ich nicht, wie arm, wie reich, wie elend,
wie beschenkt ich mich dünken darf. Ich habe nicht daran geglaubt.
Ich habe nicht an Liebe geglaubt. Alle Leidenschaften waren nur wie
Bilder, an denen das Auge genießend hängt, oder wie Stunden, in denen
man sich verliert, um sich noch wissender zu besitzen. Daß ich mich
unwissend ins Hoffnungslose verlieren könnte, habe ich nie für möglich
gehalten. Alle Frauen, auch die, die mir unentbehrlich waren für die
Dauer eines Sommers, waren mir nur Gespielinnen. Sie rührten mich,
sie erregten mich, sie verlockten mich auf eine Höhe des Daseins, sie
wappneten mich mit meinen verborgenen Kräften und – ich glaubte nicht
an Liebe. Hören Sie mir nicht zu, Virginia. Schließen Sie die Ohren mit
den Fingern. Lassen Sie mich reden, wie jene Figur im Märchen von der
Gänsemagd redet, die sich in einen Ofen stellte, um zu klagen, was ihr
widerfahren war. O Falada, der du hangest, heißt es in dem Märchen.
O Herz, das du hangest, muß ich klagen. Virginia, ich liebe. Ich bin
unterminiert. Es ist etwas Geisterhaftes mit mir geschehen. Ich bin in
einem Zustande der Niederlage, der Beschämung, der Verzweiflung, daß
ich, allein bei mir, des Abends bei den Büchern, mit meinem Gehaben das
Mitleid eines Schlächtergesellen auf mich ziehen würde. Denken Sie es
ungesagt, Virginia. Ich will an mich halten. Ich will mich ducken, und
Sie sollen mir von Mund und Stirn nichts ablesen können. Genug jetzt.
Genug.«

Damit bedeckte Erwin das Gesicht mit den Händen und blieb unbeweglich
sitzen.

Virginia hatte sich langsam aus ihrer bequemen Lage aufgerichtet. Ihr
Gesicht war weiß geworden und brannte aus dem Zwielicht weiß heraus wie
das Innere einer Mandel. Zweimal griff sie mit der Hand an die Wange
und strich die Härchen zurück: eine zweimalige Gebärde der Trauer,
der Entmutigung und der Bestürzung. Fühlbar wurde ihr Herz kleiner,
und alles, was dieser Mann da vor ihren Füßen sprach, so tief es sie
berührte, so menschlich sie es faßte, war etwas vollkommen Unerwartetes
für sie, und ihr wurde kalt und weh dabei. Ein lebhafter Schauer flog
über ihre fast unbeschützte Brust, und sie erhob sich.

Sie schritt an Erwin vorüber und trat ins Freie. Erwin stand lautlos
auf, trat lautlos neben sie. »Wir wollen es vergessen«, flüsterte er
ihr mit erstickter Stimme zu.

»Ach, Erwin,« sagte Virginia mit zuckenden Lippen, »ach, Erwin.« Sonst
nichts. Aber diese beiden Worte, einfach wiederholt, rissen Erwin hin
wie eine nie vernommene Musik, und er glaubte das Unmögliche noch
in derselben Stunde möglich machen zu müssen. Entflammt von diesem
Körper, dem kühlen, in seinen wunderbaren Schleiern kühlen Wesen des
Mädchens, dessen Wert er spürte, wie ein Luftschiffer den Azur spürt,
in dem er schwimmt, stürzte Erwin auf die Knie, und aus seinem Mund
kamen gebrochene Töne, die Virginia für Schluchzen halten mußte. War
es Wille, Plan und Berechnung? Aber es mußte auch ein Ungemeines darin
verborgen sein, Instinkt und Glut.

»Ich will jetzt nach Hause gehn«, sagte Virginia.

Erwin begriff, daß er mehr nicht wagen durfte. Er richtete sich empor.
»Sie müssen sich abputzen«, sagte Virginia und blickte auf seine Knie.

Er gehorchte. Er führte sie auf einen Pfad, der sie von der Seite her
zur Terrasse zurückbrachte. Virginia war froh, als sie wieder Leute sah
und niemand sie fragend anschaute. Erwin geleitete sie bis zum Schlag
des Wagens. Er reichte ihr die Hand und sagte »auf Wiedersehen«. Sie
zögerte. Auf Wiedersehen? Dem beizustimmen, war ihr nicht möglich. Doch
da er die Hand noch immer ausgestreckt hielt, fand sie es am besten,
ihm zu willfahren; verwirrt und flüchtig legte sie die Fingerspitzen in
seine Hand, aber er packte sie fest. Seine verwegene Begierde, seine
freche Einbildungskraft besaß in diesem Augenblick weit mehr als die
vibrierende Hand, umschloß mehr als das kalte Fleisch der Finger, deren
Berührung eine Siegeshoffnung war.

Fröstelnd saß Virginia im offenen Wagen, und die Welt erschien ihr
schwarz und öde. Die raschen Hufschläge der Pferde erinnerten sie
an das Pochen ihres Herzens, und sie legte beschwichtigend die Hand
auf die Brust. Da berührten ihre Finger die Perlenkette. »Kutscher!«
rief sie plötzlich, »Kutscher!« Der Mann hielt die Pferde an, wandte
sich zurück und fragte nach ihrem Befehl. Ihr war zumute gewesen, als
müsse sie auf der Stelle umkehren. Doch wie, mit welchen Worten, mit
welchem Gesicht sollte sie ihm das Halsband geben? Im Kreis seiner
Freunde? oder allein mit ihm? Sie beschuldigte sich des Leichtsinns,
des Verrats, und sie erkannte auch, daß sie betrogen worden war. Stumm
und ratlos blickte sie vor sich hin. Ihre heiße Ungeduld konnte den
Gedanken kaum ertragen, daß die Entscheidung erst dem morgigen Tag
anheimfiel. Mit der Hand winkte sie dem Kutscher, weiter zu fahren, und
dieser gehorchte kopfschüttelnd.

Der Kreis der Gäste war klein geworden, als Erwin ins Haus
zurückkehrte. Der Garten lag leer, die Diener löschten die Lampen
aus und räumten die Tische ab. Eine Gesellschaft von zehn oder zwölf
Personen befand sich im Musiksalon, wo eine junge Sängerin französische
Lieder sang. Erwin bereitete eine Erdbeerbowle, die unter beifälligem
Gemurmel aufgetischt wurde, denn die jungen Leute waren durstig und
fühlten sich ein wenig geistlos. Erwin erfüllte sie mit neuem Leben;
nach kurzer Zeit hatte er alle erobert, die Schweigsamen und die
Schläfrigen; ein Taumel von Lustigkeit war an Stelle der drohenden
Langeweile getreten. »Wenn ein amüsanter Abend langweilig endet, war er
langweilig,« sagte Erwin, »wer zuletzt lacht, vergißt zu schimpfen.«
Zum Schluß wurden hypnotische Experimente vorgenommen, und ein etwas
beleibtes Fräulein, das sich als Medium hergab, trieb durch ihre
transzendente Plumpheit das Vergnügen auf den Gipfel.




Zwischenspiele


Am andern Vormittag erhielt Virginia durch Wichtel einen Brief Erwins,
der folgenden Wortlaut hatte:

»Virginia! Erwarten Sie nicht, daß ich das Benehmen der Trunkenbolde
nachahme, die in der Nüchternheit bejammern, was sie im Rausch
verbrochen haben. Erwarten Sie nicht, daß ich mich der Trunkenheit
anklagen werde, um nüchtern zu erscheinen. Ich war weder betrunken,
noch bin ich nüchtern. Auch bin ich nicht feig genug, um die
Gelegenheit zu bezichtigen. Ich trete nicht als reuiger Sünder vor
Sie hin. Beschließen Sie! Richten Sie! Ich werde mich beugen. Aber zu
beschönigen habe ich nichts.

Daß meine Situation schwierig ist, kann ich nicht leugnen. Vielleicht
wäre sie zu umgehen gewesen durch List; vielleicht durch einen Aufwand
von Heroismus, dessen ich nicht fähig bin. Sich einer Leidenschaft
erwehren, mag heroisch sein; von ihr überwältigt zu werden, ist
darum nicht verwerflich, sie zu bekennen, ein Akt persönlicher
Aufrichtigkeit, der in einem Fall, wie dieser es ist, gewiß keine
angenehmere Lage schafft. Ich entstamme einer Generation, die die
Ökonomie der Leidenschaften gelernt hat. Ich habe gelernt, mich nicht
zu verschwenden, mich nicht zu verschenken, Bezahlung zu fordern und
Wirtschaft zu halten. Wir alle haben gelernt, gerade dann in die
Kandare der praktischen Vernunft zu beißen, wenn das unpraktische
Gefühl unsere Bequemlichkeit und unsern Vorteil bedroht. Es wäre
bequemer und vorteilhafter für mich gewesen, zu schweigen, da ja meine
Sache hoffnungslos ist von Anfang bis zu Ende.

Ihre Empfindung wirft mir vor, mich am Freund vergangen zu haben.
Aber mußte ich nicht die Maske eines brüderlichen Beschützers in
der Stunde von mir werfen, wo ich sie als Maske erkannte? Ich habe
keinen Eid gebrochen; ich habe kein Gelöbnis verletzt; ich habe keine
Pflicht verabsäumt; ich habe meiner Ehre nichts vergeben, ich habe die
Ihrige nicht angetastet. Manfred ist in meinen Augen noch gewachsen,
denn ich bin ihm eine Wahrheit schuldig, die an ein großmütigeres
Herz appelliert, als es das meine ist, und er hat ein Verhängnis
über mich heraufbeschworen, das durch keine Klauseln der Konvention
verringert werden kann. Zwischen mir und Manfred steht kein tyrannisch
trennendes Entweder-Oder, sondern die versöhnende Erkenntnis, welche
Kameraden erst recht aneinander bindet, wenn sie vom Schicksal ungleich
begünstigt werden.

Einst, da ich unschuldig war, wie Sie es sind, Virginia, haben mir
meine Träume ein Ideal zugeschworen, gleichwie Kindheitsgedanken eine
unerhörte Erfüllung ehrgeiziger Visionen vorgaukeln. Ich hatte dieses
Ideal vergessen. Ein allgemeines Menschenlos: das Ideal zu vergessen,
wenn die Unschuld dahin ist. Ihre Schönheit ist die Ursache, daß
ich mich einer Rücksicht entledigte, an die im gewöhnlichen Verlauf
der Dinge Mann gegen Mann eisern gebunden ist. Sollte ich dadurch
des Anrechts auf einen Freund am Ende doch verlustig gehen, so sei
es. Ich weiß nicht, ob ich es werde tragen können. Die Zukunft wird
es lehren. Aber desungeachtet gibt es in meinem Innern ein nicht
niederschmetterndes Gesetz: Schönheit ist nicht hörig. Die Schönheit
anzubeten ist kein Verbrechen. Wer besitzt sie? Einer? Einer besäße
die Schönheit? Einer besäße Virginia für das ganze Dasein und nur
für sich allein? Dagegen bäumt sich mein Herz, mein Glaube, mein
Gerechtigkeitsgefühl. Ich kann es nicht mit Gleichgültigkeit erdulden,
und die Qual macht mich zum Narren. Denken Sie, daß man es einem Mann
nicht vom Gesicht ablesen kann, wenn sein Herz zerstört ist?

Ich spreche von Ihrer Schönheit wie die seltenen Tibetreisenden von den
Wundern des Dalai-Lama. Denn ich habe gerungen um diese Schönheit, ich
habe sie entdeckt, ich habe sie erkannt, ich habe sie erforscht, ich
und nur ich allein. Die andern wissen von ihr, sie spüren sie von fern,
wie Analphabeten den Wohlklang vollendeter Verse spüren, sie sind wie
Sonntagsgäste vor einer zauberhaften Statue, und ihre Bewunderung ist
so verständnislos wie billig. Ich aber habe die Statue geträumt, bevor
ich sie sah, ich habe sie aufgebaut, gemeißelt, geschaffen, begriffen
in meinen Träumen, und das Gefühl, das sie mir erweckt, wurzelt in der
Sehnsucht, also im edelsten Grund des menschlichen Gemütes. Ja, sie
rührt das Edelste in mir auf, sie erschüttert mich, sie mahnt mich
daran, daß ich niemals eine Mutter hatte und daß ich ein Lebensziel
haben könnte, wenn mir vor dieser grandiosen Erfüllung nicht ein
finsteres Geschick zu scheitern bestimmt hätte. Beschließen Sie!
Richten Sie! Ich beuge mich. Erwin.«

Virginia hatte den Brief zwei Stunden lang in ihrer Schürzentasche
herumgetragen, bevor sie sich überhaupt entschlossen hatte, ihn zu
öffnen. Beim Anblick der kühnen und regelmäßigen Schriftzüge ließ sie
das Blatt wieder sinken, wie ein von zahlreichen Feinden Umringter den
erhobenen Arm sinken läßt.

Das geschriebene Wort ist ein mächtiger Herr. Unangreifbar gerüstet
steht es da und lenkt den Geist in vorgesetzte Bahnen. Da Virginia
von den Mitteln des Stils nur eine geringe Vorstellung hatte,
folgte dem ersten Widerwillen und der eisigen Befremdung über die
leidenschaftliche Ausdrucksweise eine nachsinnende Teilnahme.
Die redliche Natur findet sich in die Erfahrung, daß eine ihrer
Eigenschaften oder Kräfte dem Bereich des Außerordentlichen zugehört,
niemals ohne Schrecken. Dieser Schrecken trat jetzt an die Stelle
des lästigen Verdrusses, den Virginia stets empfand, wenn man ihre
Schönheit hervorhob, über die sie sich kein Verdienst anmaßte, die sie
im ganzen trug, wie sie das einzelne trug, Auge, Mund und Hand, ohne
mehr davon zu genießen als ein flüchtiges Wohlgefühl vorm Spiegel oder
im Blick des sympathischen Beschauers.

Sie legte den Brief beiseite. Sie nahm ihn wieder, legte ihn wieder
beiseite. Sie las den Satz: sollte ich des Anrechts auf einen Freund
verlustig gehen, so sei es. Da ward ihr die unendliche Verehrung
und Liebe gegenwärtig, die Manfred an Erwin band. Sie konnte es
vorausdenken, daß Manfred eine solche Enttäuschung nie würde verwinden
können.

Was hätte ich zu fürchten? fragte sie sich; wer könnte mich meinem
Manfred rauben? Wohl aber mochte es geschehen, daß Manfred den Freund
verlor, der ihm so teuer war, dem er nicht weniger vertraute als der
Geliebten. Sie mußte es verhüten, das stand fest. Wenn sie, wenn ihre
Schönheit, wie Erwin sagte, schuld war, daß Erwin den Freund vergaß, so
war sie doppelt zur Treue aufgefordert, und es lag ihr ob, für Manfred
um den Freund zu kämpfen. Das stand fest.

Noch spürte sie freilich, wie ihr dort im Pavillon zumute gewesen. Bei
seinen verwegensten Worten war ihr zumute gewesen, als ob sie sterben
müßte, falls es kein anderes Mittel gab, ihn nie wieder zu sehen. Doch
ihre nachsinnende Teilnahme, die Trauer um den Verlust, der Manfred
drohte, trieb sie an, zu handeln, und es kam eine eigentümliche
Freudigkeit über sie. Eine Frau, die entschlossen ist, zu handeln, wird
davon noch kräftiger befeuert als ein Mann.

Sie setzte sich an den Tisch, nahm einen Briefbogen und schrieb: »Sie
kennen mich nicht, Erwin. Hätten Sie mich gekannt, lieber hätten
Sie sich die Zunge abgebissen, als daß Sie davon gesprochen hätten.
Nun wäre das Ganze ja sehr einfach. Vergessen kann ich nicht, das
Geschehene ist da, die Worte sind gesagt und aufgeschrieben, die
Gefühle hat man gehabt. Ich müßte Sie meiden. Das liegt in meiner
Gewalt, nicht wahr? Wenn ich will, dann gibt es keinen Erwin Reiner
mehr für mich. Doch Sie dürfen Ihren einzigen Freund nicht so mit
Schmach bedecken. Sie schreiben: richten Sie, ich beuge mich. Gut!
Beweisen Sie mir, daß Sie mich achten und daß Sie der Freundschaft
Manfreds noch würdig sind. Vernichten Sie das Häßliche; Sie haben ja
Gewalt über sich, treiben Sie es aus Ihrem Herzen, um Manfreds und
meinetwillen.«

So weit war sie gelangt, da stockte sie. Die Worte kamen ihr schal
vor. Sie sah sein spöttisches Lächeln über ihnen schweben. Sie sagte
sich, daß es feig sei zu schreiben. Auch wollte sie ihm nicht die
Perlenkette kurzerhand zurückschicken, um nicht Trotz und Kränkung
bei ihm zu erregen; denn dadurch wäre die Umkehr, die sie in seinem
Gemüt hervorzubringen beabsichtigte, erschwert oder vereitelt worden.
Demzufolge mußte sie selbst zu ihm gehen. Wie die Dinge einmal standen,
konnte sie ein Geschenk, das nach ihrer Schätzung mindestens ein paar
tausend Kronen wert war, nicht noch stundenlang im Hause behalten.

Während sie in ihrem Zimmer war und all das überdachte, kam die Mutter
und sah das Perlenhalsband auf dem Tisch liegen. »Was ist das? woher
hast du das?« fragte sie fast schreiend. Virginia war erschrocken
darüber, daß sie nicht daran gedacht hatte, das Schmuckstück vor
der Mutter zu verbergen. Was sollte sie nun sagen? »Erwin hat es mir
geschenkt,« antwortete sie zögernd, »ich muß es ihm aber wiedergeben.«
– »Geschenkt? Wiedergeben?« stammelte Frau Geßner, indem sie das
Halsband mit stummem Erstaunen musterte. »Das hat er dir geschenkt?
Und du willst es zurückgeben? Warum?« Auf ihren Zügen malte sich ein
förmlicher Krieg der angenehmsten und der argwöhnischesten Gedanken.

»Mehr kann ich dir nicht erklären, Mutter«, entgegnete Virginia mit
gesenktem Blick. »Ich glaube, es sind Mißverständnisse da, und ... ich
kann es nicht behalten.«

»Gehst du heute zum Malen?« fragte Frau Geßner.

»Ja, ich will ein bißchen arbeiten. Das wird mir helfen. Ich hab’ einen
schlechten Kopf.«

»So laß mir den Schmuck bis zum Mittag. Schau mich nicht so mißtrauisch
an, ich werd’ ihn dir gut verwahren.«

»Aber was willst du damit?«

»Betrachten will ich ihn, nur manchmal betrachten. Er ist gar zu
wunderbar.«

Virginia willfahrte ungern. Kaum war sie fort, so begab sich Frau
Geßner in die Stadt zu einem Antiquitätenhändler, den sie seit
ihrer Jugend kannte, und erkundigte sich bei ihm nach dem Wert
des Halsbandes. Um die beinahe beleidigende Neugier des Mannes zu
befriedigen, erzählte sie, daß das Kollier ein Brautgeschenk sei,
das Virginia von ihrem Verlobten erhalten habe. Der Händler prüfte,
zählte; es seien zwar nicht Perlen ersten Ranges, sagte er, die
seien in solcher Menge kaum erschwinglich, aber als er den ungefähren
Preis nannte, der nach seiner Schätzung hunderttausend Kronen
übersteigen mußte, bedurfte es für die erschütterte Frau eines großen
Kraftaufwandes, damit sie ruhig auf ihren Beinen stehenbleiben konnte.
Auf dem Nachhauseweg kämpfte sie mit Schwindelanfällen, und ihre
Gedanken an Virginia, an Erwin, an Manfred waren gleicherart heftig in
Bestürzung und Sorge wie in einer Hoffnung, mit der sie seit Monaten
lüstern gespielt.

Klugheit und böses Gewissen verschlossen ihr Virginia gegenüber den
Mund. Sie wollte abwarten. Aber sie war verstört und konnte bei Tisch
nichts essen. Schweigend gab sie Virginia die Kette zurück. Virginia
war innerlich selbst zu beschäftigt, als daß ihr das Wesen der Mutter
aufgefallen wäre. Gegen fünf Uhr machte sie sich fertig, um zu Erwin
herauszufahren. Das Halsband packte sie in Seidenpapier und steckte es
in das Ledertäschchen, das sie trug. Ihre Bewegungen waren energisch
und ihre Mienen gesammelt. Ich tu es für Manfred, wiederholte sie sich
immer wieder zur Beschwichtigung ihrer Unlust und geheimen Angst.

»Der gnädige Herr ist nicht zu Hause«, sagte Wichtel.

Virginia war verstimmt, denn sie erkannte, daß sie einen solchen
Schritt nicht leicht zum zweitenmal mit demselben Antrieb unternehmen
würde. Der scharfsinnige Wichtel vermutete mit Recht, daß es sich hier
um eine Sache von Belang für seinen Gebieter handelte; er versicherte,
der gnädige Herr werde in einer Viertelstunde da sein, bat die
Zögernde, im Salon zu warten, rückte einen Sessel vor die Terrasse,
brachte ein paar Zeitschriften herbei, und all das ließ sich Virginia
still und ein bißchen eingeschüchtert gefallen. Als sie allein war,
blickte sie ziellos denkend in die Baumwipfel hinaus, die ein matter
Regenwind in flüsterndem Rauschen erhielt. Es war ihr, als müsse sie
sich abwenden von dem Prunk des Gemachs, der ihr heute tot erschien wie
ein Kleid im Schaufenster eines Modengeschäfts.

Inzwischen hatte Wichtel in den Klub telephoniert, und fünf Minuten
später raste das Elektromobil vom Lobkowitzplatz nach Pötzleinsdorf.
Erwin wurde von Wichtel mit dem Gesicht eines Mannes empfangen, der
sich verdient gemacht hat. _Avant le souper_, dachte Wichtel, der eine
französische Bildung genossen hatte, als er die Erregung in den Zügen
seines Herrn gewahrte.

Selbst den Nachschimmer dieser Erregung abzutun von seinen Mienen,
war der Zweck eines kurzen Verweilens in der Bibliothek. Ich habe sie
richtig eingeschätzt, dachte er; sie hat Mut, der Brief war ein Wagnis,
aber es ist gelungen.

Dann öffnete er die Tür zum Salon. Virginia stand auf. Seine Blicke
umfaßten sie, dankten ihr, gaben vertrauenerweckende Beteuerung und
musterten sogar ihren Anzug mit kennerhaftem Wohlgefallen. Sie trug
ein dunkelgrünes Kostüm und unter dessen Jacke eine einfache, weiße,
von grünen Streifen durchzogene Seidenbluse, ferner einen schwarzen,
großen, runden Strohhut mit weißem Tüllaufputz, der dem etwas blassen
Gesicht sommerliche Helligkeit verlieh.

Erwin bat sie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Sie gingen
hinüber. Da der Regen auf das Sims klatschte, schloß Erwin die beiden
hochgewölbten Fenster.

Er wußte, daß jedes ungeschickte oder übereilte Wort ein nicht wieder
gut zu machender Fehler werden konnte. Er war noch nicht ganz im klaren
darüber, weshalb Virginia gekommen war, aber er mußte ihren Beweggrund
erraten, und er durfte sie nicht verwirren. Er setzte sich weit von ihr
und betonte so einen Willen zur Distanz, der ihr eine gewisse Freiheit
geben sollte. Sie kämpfte sichtlich. Er wünschte ihr zu helfen. Er
lenkte sie ab, ließ aber das Ziel von ferne sehen. Er sprach von
seiner Jugend, von den Mängeln seiner Erziehung, von dem ungesunden
Servilismus einer Welt, die bereit gewesen, ihm zu dienen, noch ehe er
Zeit gehabt, ihre Dienste zu bewerten. Er habe niemals erworben, er
habe stets nur besessen, daher sei jeglicher Besitz nur verzehrt und
nicht genossen worden.

An Virginias Miene erkannte er, daß er auf dem Weg zu ihr war. Mit
erstaunlicher Verwandlungsgabe brachte er es fertig, ihr alles das zu
sagen, was sie ihrerseits ihm vorzuführen beabsichtigt hatte. Virginias
Augen glänzten. Mit edler, überraschter Zustimmung schaute sie ihn an.
Daß sie selbst durch drohende Schatten oder das Aufleuchten ihrer Stirn
ihm die Richtung gewiesen, ahnte sie nicht, sondern glaubte an eine
ebenso glückliche wie beglückende Bekehrung.

Doch dabei blieb Erwin nicht stehen. Er behauptete, daß ihn das
Geständnis gereinigt habe als ein Gewitter in seiner Seele. Und
nicht nur dies: so wie vorher Virginias Nähe ihn entflammt, so würde
ihr Anblick jetzt genügen, ihn vor den Flammen zu schützen, denn
er habe den höher gearteten Menschen in ihr erkannt und sei seiner
Machtlosigkeit inne geworden. »Es gibt eine andächtige Kälte der
Verehrung, die jede Rebellion und Begierde erstickt«, sagte er. »Und
Sie haben sich nicht nur selbst, Sie haben auch Manfred erhoben. Es
ist in mir eine Schuld gegen ihn angewachsen, an der ich ein Leben
hindurch zu bezahlen haben werde. Wir beide müssen schweigen gegen
ihn, aber das Schweigen müssen wir aussühnen, Virginia. Er hat Sie mir
vertraut, eine Großmut, die ich hinnahm wie einen reizenden Scherz;
ich will Sie wieder zu ihm führen, lauterer, wissender, vollendeter,
reicher, stolzer, unabhängiger, nicht mehr Blüte, sondern schon
Frucht. Die Blüte erfreut, die Frucht erfreut und nährt. Ich möchte
Sie aus schädlichen Dämmerungen reißen, ich möchte Ihnen Erkenntnisse
und Einsicht der Welt geben, ich will die Menschen vor Ihnen
aufschließen, als ob es Türen in meinem Haus wären, ich möchte Ihnen
die Beunruhigungen ersparen, von denen jede eine Falle und eine Gefahr
für Ihre Schönheit bedeuten kann, ich will mich Ihnen weihen und will
entsagen und will Ihr Sklave sein und der Sklave Ihres Schicksals,
und wenn Manfred zurückkehrt, so mag er vor seiner Virginia erst
niederfallen, bevor er sie als eine begrüßt, die ihm entgegengelebt
hat.«

Es atmete aus diesen für Virginia seltsam klingenden Worten solche
Begeisterung, solche Echtheit, daß sie sich der hinreißenden Wirkung
nicht einen Augenblick entziehen konnte. Man wollte sie bilden und
verschönen, das war verführerisch, denn sie fühlte sich ja Manfred
in keiner Weise ebenbürtig, und die Welt war ihr zu wirr, zu drohend
alles Leben, als daß sie wie andre schöne Frauen mit der Grazie
des Leichtsinns hätte hindurchschreiten können. Sie nahm von den
herrlichen Versprechungen auf, was sie zu fassen vermochte, und war
froh, daß die gefürchtete Stunde keine Gefahr mehr hatte. Sie horchte,
wachte, entspannte ihren Geist, wobei ihr freilich dieser Mann immer
wunderbarer wurde und seine Glut und Macht in irgendeinem Winkel ihres
Herzens eine Art von Traurigkeit entstehen ließ.

Aber er hatte sie wieder unbefangen gemacht, viel unbefangener sogar,
als sie sich ihm je gezeigt. Und das war das Meisterstück gewesen. Als
ihm Virginia mit Freundlichkeit und herzlicher Bitte das Perlenhalsband
übergab, fand er Gelegenheit, die Stärke der neu errungenen Position
sogleich zu erproben. Er wickelte das Paket auf, ließ die Perlen
fallen, bis die Kette nur noch am Mittelfinger hing, und blickte
Virginia enttäuscht an.

»Wenn Sie einen Blumenstrauß oder ein Buch von mir genommen hätten,
würden Sie sie mir gerade in dieser Stunde auch nicht vor die Füße
werfen«, sagte er mit umdunkelter Stirn.

»Es geht nicht«, wandte Virginia ein und atmete tief.

»Es geht nicht! Hinter diesen Worten steht eine gleichgültige und
unwissende Welt. Die Kette hat ein Schicksal, Virginia! Sie heiligt
einen Freundschaftsbund. Lassen Sie mich wenigstens daran glauben. Wir
binden uns mit der Kette, aber, das wissen wir, sie wird zerreißen
beim ersten harten Griff. Das muß uns heikel und zart machen. Die
schimmernden kleinen Herzen, die man Perlen nennt, werden flehend am
Boden rollen, und jede bedeutet ein verlorenes Glück.«

Virginia schüttelte errötend den Kopf. Erwin sah ihr an, daß sie sich
nicht rühren lassen wollte. Er betrachtete sie schweigend, voll von
einer Güte im Ausdruck, einer leidenden Güte, die ihr jähes Mitleid
wachrief, dann legte er die Hand vor die Augen und kehrte sich ab.

»Was hab’ ich getan!« murmelte er.

»Wenn ich auch die Kette nehmen würde,« erklärte Virginia endlich
schwankend und in dem Drang, ihn durch Nachgiebigkeit aufzurichten,
»ich könnte sie niemals tragen.«

»Daran liegt mir nichts«, antwortete er; »obgleich Sie später anders
darüber denken werden.«

»Nein. Ich kann nicht so darüber denken, wie Sie wünschen. Die Sitte
ist mächtiger als Sie und ich, und wenn auch Manfred jetzt seine
Zustimmung gibt, so weiß er eben selbst nicht, auf welche Gedanken ihn
der Anblick der Perlen bringen könnte.«

Erwin verbarg sein bewunderndes Erstaunen. »So behalten Sie das
Geschmeide als Pfand«, schlug er vor; »ich verpfände es gegen mein
Wohlverhalten, meine Ehrerbietung, mein bezwungenes Gemüt, die Ruhe
meines Geistes, – dürfen Sie sich da noch einen Augenblick besinnen?«

Und in der Tat, Virginia konnte und wollte sich der überzeugenden
Aufrichtigkeit dieser Worte nicht entziehen. Trotzdem hatte sie nicht
das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, als sie sich von Erwin
verabschiedete. Am selben Abend schrieb sie ausführlich an Manfred. Sie
erklärte, was sie zu erklären vermochte, ohne den Freund bloßzustellen.
Als Beweis und Sicherheit der Treue hatte sie die Gabe im stillen
hingenommen, aber in der Schilderung war alles von Zweifeln umwölkt,
und sie schuldigte sich der Unaufrichtigkeit an. Zum erstenmal erschien
ihr die weite Entfernung des Verlobten als ein beruhigender Umstand.
Brisbane in Australien; es war, wie wenn man einen Brief in den Mond
schickte. Bis Manfred ihn las, bis seine Antwort kam, waren alle
Verwirrungen gewiß schon zur Ordnung gediehen.

Mehr noch hatte Frau Geßner durch den der Tochter zugefallenen Schatz
das Gleichgewicht verloren. Bei Virginias Rückkehr hatte sie sich
natürlich erkundigt, was mit den Perlen geschehen sei, und als Virginia
die Kette mit einem halb fragenden, halb ergebenen Lächeln vorwies, –
denn eigentliche Freude empfand sie nicht mehr – verstummte die alte
Dame, ja, sie wagte nicht einmal, Virginia auszuforschen, ob sie eine
Ahnung von dem ungeheuern Wert des Schmucks habe. Ein so kostbares
Geschenk als Zeichen bloßer Freundschaft anzusehen, ging ihr wider die
Vernunft und den Weltlauf; sie seufzte; sie hoffte; sie bangte; sie
war erregt und schweigsam; sie behandelte Virginia mit einer Vorsicht,
die diese bedenklich hätte stimmen müssen, wenn sie nicht schon längst
sich gewöhnt hätte, in der Mutter das ohnmächtige Geschöpf kernloser
Phantasiespiele zu sehen. Bloß ihr allzu knechtisches Betragen gegen
Erwin mißfiel ihr und ärgerte sie.

Denn Erwin war jetzt täglicher Gast im Hause. Er kam spät nachmittags
und blieb bis in die Nacht. Er war jedenfalls mit sich einig darüber,
daß er nun etwas wie eine methodische Belagerung durchführte. Aber
unterschied er die Triebe, die ihn leiteten? Er war ganz der Mann
danach. Ganz der Mann, dem bezauberten Willen zu erliegen, in
zwangvoller Sucht zu handeln, befeuert durch ein Lockbild von Glück
und Verderben. Ihm war, als stehe er in einer Schöpfung, wo sich die
Form vom Chaos löst. Es schien ihm wichtig, zu spüren, wer er war; ob
er Schöpfer war. Sich selbst zu spüren, war seine tiefste Begierde.
In diesem Werk, in dem alles schlecht, wild und verbrecherisch war,
schien er seine Vollendung zu suchen, begabt mit den Eigenschaften der
Morbiden, der Eroberer und der großen Instinktiven.

Es war etwas Strahlendes an ihm; in seinen Zügen war die zuckende
Sammlung, die Menschen eigen ist, welche auf einem vorgeschobenen
Posten gefahrvolle Arbeit verrichten. Die Linien seines Gesichtes
waren markiger geworden, der Blick sowohl schärfer als auch packender,
der Mund fester geschlossen, die Haut etwas fahler, Schultern und Hände
etwas ruhiger als sonst.

Die gefahrvolle Arbeit mußte verrichtet werden. Sie zeigte sich nun
in ihrer ganzen Ungewöhnlichkeit und Schwierigkeit. Das Pulver in den
unterhöhlten Gängen hatte nicht gezündet; man mußte sich stärkerer
Explosivstoffe bedienen, man mußte neue Minen graben. Daß der Posten
umstellt war, bewies das Verhalten der Nachbarn. Die Nachbarn steckten
die Köpfe zusammen. »Aha, jetzt kommt der Herr Kavalier schon jeden
Tag«, sagten sie und schnüffelten Unrat. Zwei Lehrerinnen im vierten
Stock, im zweiten ein Pfeifendrechslersehepaar, im ersten eine
Bankbeamtenswitwe, im Erdgeschoß vier Töchter eines Postvorstands,
und was sonst noch in die Höfe und auf die weiße Wendelstiege kam an
Bedienerinnen, Waschfrauen, Köchinnen, Milchmädchen, Gemüseweibern, und
was im Straßentrakt hauste, in der Greislerbude Beratungen pflog, das
alles schnüffelte und raunte. Hätten sie nur etwas Sicheres gewußt!
Gern verzeiht der Nachbar, wenn er etwas Sicheres weiß; wenn er aber
nichts weiß, wird er zum Torquemada.

Virginia verhehlte ihren Abscheu, die Mutter trug ihn vor Erwin zur
Schau. »Ich habe Ihnen schon oft den Rat gegeben, diese Winkelzuflucht
zu verlassen«, sagte Erwin; »wer beim Gewürm haust, wird nicht vom
Schleim verschont.« Doch in diesem einen Punkt blieb Frau Geßner
starrsinnig. »Vierunddreißig Jahre leb’ ich hier«, antwortete sie;
»verlaß ich das Haus, so weiß ich, was mir bevorsteht.« Erwin schwieg,
doch auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Drohungen einer kommenden
Alleinherrschaft.

Es gelang ihm, Virginia gleichmütig gegen »das Gewürm« zu stimmen. Er
hatte da einen Ton von frostiger Majestät, der eine ganze Stadt von
Schwätzern und Übelrednern zu Staub zerspritzte, und eine nicht weniger
majestätische Gebärde, die eine Zusammengehörigkeit hoch über der Plebs
ausdrückte.

Er durfte daran erinnern, daß in der wirklichen Welt, wo auch immer
Virginia sich an seiner Seite zeigte, nicht der Schatten eines Makels
auf sie fiel; und diese wirkliche Welt verschmähte doch ebenso wenig
den Klatsch und Skandal als der Nachbar in der Greislerbude und
am Fenster des Hausmeisters. Virginia mußte es zugeben. Sie hätte
die schlimme Nachrede untrüglich empfunden, ein einziger Blick der
Bezichtigung hätte sie für alle Zeit verscheucht. Aber man wußte,
daß sie Braut war; man hatte erfahren, daß der Verlobte auf fernen
Meeren weilte, man bestaunte die Paladinsrolle Erwin Reiners, und was
diese poetische Kunde, was die Patronanz einer Dame, wie es Frau von
Resowsky war, nicht vermocht hätte, brachte Virginias Gestalt und
Wesen zustande, ihr reines Auge, der Glanz der Unberührtheit, der über
ihr schwebte wie über neugemünztem Gold. Man verhätschelte sie, man
umschwärmte sie, und einige Komtessen eigneten sich sogar ihre Art
zu lächeln an oder beim Sprechen den Kopf sanft zu neigen, so wie die
kleinen Bürgermädchen Gang und Stimme der Rosanna Schörk nachahmten.

An unscheinbaren Gelegenheiten, seine Macht über Virginia zu
befestigen, fehlte es Erwin nicht. Wenn in Gesellschaft sein Blick auf
ihr ruhte, prüfend oder träumend, zuckte sie zusammen, als ob man sie
angetastet hätte. Mit Genugtuung nahm er wahr, daß sie sich von ihm
fesseln ließ in Meinung, Urteil, Rede und Denken, daß sie verstimmt
war, wenn er einmal ausblieb, ohne sie vorher benachrichtigt zu haben.
Er bat demütig um Verzeihung, doch heimlich beglückten ihn ihre
Vorwürfe, die halb neckend waren, halb den Verdruß des Wartens noch
verrieten. Sie selbst war unzufrieden darüber. Er ist mir vielleicht
zu bequem, dachte sie; er läßt mir das Leben zu mühelos erscheinen;
es geht mir wie einem, der beständig durch Pauspapier zeichnet. Sie
gab ihm das zu verstehen, aber er lachte sie aus. »Das ist ein Irrtum,
der mir schmeichelt«, antwortete er; »leider sind wir alle mit vielen
Geschicken beladen, und unser eigenes ist nur die gewußte Last.«

Als ob er zu diesem Ausspruch eine lebendige Erfahrung bieten wollte,
führte er sie an einem historischen Tag, an dem dreimalhunderttausend
Arbeiter vor dem Parlament vorüberzogen, auf den Ring, wo viele Stunden
hindurch der dumpfe Gleichschritt der Massen donnerte, der geordneten
Kolonnen, die von unten her kamen, von dort, wo das Schicksal seine
Gesänge heult. Erwin lenkte den Blick seiner Begleiterin auf einzelne
Gesichter. Er wußte, wie sie lebten, die von unten; er kannte ihre
Plage, ihre Niedrigkeit, ihre armseligen Vergnügungen. Während er
sprach, stürzte dicht vor ihnen ein etwa dreißigjähriges Weib in
epileptischen Krämpfen zusammen. Erwin sprang hinzu, hielt die Arme der
Schreienden fest und trieb müßige Zuschauer zur Hilfe an. Aber die aus
den Kolonnen schauten fremd und gleichgültig herüber, als anerkennten
sie ihn nicht und billigten ihn nicht. Als Erwin wieder an Virginias
Seite war, sagte er: »Es war eine Prostituierte.«

»Woher wissen Sie es?« fragte Virginia leise.

»Solche Augen und solche Hände täuschen nicht«, erwiderte er mit
verfalteter Stirn. »Es sind Hände wie verdorrte Wurzeln und Augen wie
entsäftete Früchte. Es ist ein Mund, der grau ist wie von ewiger Nacht,
ein Leib, der so müde ist, daß seine Bewegung einem Schüttelfrost
gleicht. Soll man diese inkarnierte Verwünschung nicht spüren? Meine
Ohren sind voll davon, und mich verlangt nach Freude, damit ich
vergessen kann.«

Sein Schritt wurde hastiger; auf einmal blieb er stehen, schaute
das junge Mädchen groß und tief an und sagte mit Inbrunst: »Ihr
Glücklichen! Glückliche Virginia!«

Es überrieselte Virginia. Ja, sie fand sich glücklich; bis zu diesem
Augenblick wenigstens hatte sie sich glücklich gefunden. Aber daß er
es war, der ihr das Glück zuschrieb, schien ihr keine Vermehrung des
Glückes zu sein. Klang es nicht, als wolle er seinen Anteil daran
haben, als sei er arm und müsse betteln? Und sie war es doch, die
empfing. Gabe um Gabe empfing sie aus seinen Händen und wurde um Dank
immer verlegener.

Sein Wesen beschäftigte sie, spannte sie, ließ sie niemals zum Ausruhen
gelangen. Seine heimlichen Gedanken zu durchschauen, wenn er spottete,
oder wenn er belehrte, oder wenn er schwieg, war nicht selten ein
quälender Antrieb. Froh, daß er so ehrlich Wort hielt, daß er mit
keinem Hauch mehr die Dinge berührte, die sie häßlich und verräterisch
nannte, glaubte sie ihn durch Aufmerksamkeit, Geduld und Freundschaft
belohnen zu müssen. Aber er wurde immer heimlicher. Seine Worte hatten
oft eine Nebenbedeutung, die Virginia vergeblich zu ergründen suchte.

Er war noch immer nicht der Vertraute, der zum Haus gehört und vieles
von der Stimmung des Hauses bringt und nimmt. Er würde es nie werden.
Er war der Fremde, der sich einwohnt, stets von neuem einwohnt, der
befiehlt oder sich unterwirft, der sich absondert, indem er sich
gesellt. Er war nie alltäglich, er hatte immer Festlichkeit; seine
Gegenwart erweckte Neugierde, und er verabschiedete sich, wenn die
Erwartung ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Er brachte Blumen. Wie war es möglich, daß Blumen auf einmal so seltsam
wurden! Man wähnte, Blumen noch nicht gesehen zu haben. Er pflückte sie
in seinem Garten, jede einzeln mit eigener Hand, und band sie zu einem
Strauß, der sprechen konnte, der die Fülle oder die Wünsche gewisser
Stunden ausdrückte, einsamer Stunden voll Träumerei, ermüdeter Stunden,
tatkräftiger Stunden.

Virginia liebte ja die Blumen über alles; der Zartsinn, der in seiner
Freigebigkeit lag, machte ihr Gemüt freudiger. Er lehrte sie die Blumen
kennen; nicht nur dem Namen nach, darin war ihre Unwissenheit nicht
so groß, sondern auch dem Wesen, den Lebensbedingungen, dem Charakter
nach. Er erkannte die Blumen am Geruch mit geschlossenen Augen; er
sprach von ihren geistigen und sinnlichen Neigungen. Einige Blumen
erweckten die Sinnlichkeit der Menschen, andere töteten sie, wie z.
B. die Wasserlilien; wenn eine junge Frau an Wasserlilien riecht,
bleibt sie kinderlos. Er enthüllte den Blütenkern und deutete das
Mysterium der Entstehung. Er erzählte vom befruchtenden Wind und vom
samentragenden Insekt.

Es war eigen. Man hätte trockener sein können, als er es war. Es wäre
interessant und lehrreich gewesen, aber nicht so eigen. Ohne Zweifel
wußte er, daß das Liebesleben der Pflanzen zu den geheimnisvoll
aufschürenden Erscheinungen in der Natur gehört, dermaßen einleuchtend,
daß der reinste Geist davon am innigsten ergriffen werden muß.

Eine schwüle Wolke stieg über den natürlichen Vorgängen empor. Virginia
erinnerte sich nicht, solche Worte je vernommen zu haben. Es geschah
einmal, daß sie aufstand, als ob es ihrem Herzen an Raum fehlte. Ein
Nebel schwamm um sie herum, der sie für die Dauer einiger Sekunden der
Überlegung beraubte. Sie hatte das Gefühl, beleidigt worden zu sein. In
ihren Zügen erwachte eine kindliche Besorgnis. Als sie dann allein war,
ärgerte sie sich über sich selbst. Alles war so unfaßbar; zerronnen wie
ein Spuk.

Auch brachte er Bücher, um des Abends vorzulesen. Frau Geßner schlief
gewöhnlich nach einer Viertelstunde ein. Virginia lauschte gern
seiner wohltönenden Stimme. Er las Dante und Shelley in bedeutenden
Bruchstücken; er las Hölderlinsche Gedichte und die geisterhafte Prosa
von Novalis. Dann wagte er Goethes römische Elegien. Im glättenden
Nachgespräch knüpfte er das erotisch Kühne vorsichtig an die Gesetze
der Lebenskunst und der Persönlichkeit.

Er wagte mehr. Er wagte einige von Boccaccios schimmernden Geschichten.
Da Virginia leidlich gut italienisch verstand – die bucklige Großtante,
die am großherzoglich toskanischen Hofe gelebt, hatte sie unterrichtet
–, las er sie im Urtext, die Melodik des Idioms schwelgerisch feiernd.
Der Titel, den er vorstellte, hieß: Die Freude. Triumph über die
Materie war das Motto; oder auch: Befreiung von Gewissensangst. Gar
zu bedenkliche Stellen milderte er geschickt, und die bunten Figuren
tanzten vorüber als ein Ballett, das ein wenig verblaßt war, durch das
aber wundersame Irrlichter huschten, die in den Träumen junger Mädchen
nicht viel anders locken als in den Erinnerungen der Wüstlinge.

Nur Virginia begriff nicht. Wenn Erwin den Inhalt mit einer fast
gelehrten Sachlichkeit auseinandersetzte, wich sie zurück. Doch er
hatte dann einen herrischen Ernst, der die Abwehr als beschränkt
erscheinen ließ. =Ihre= unschuldige Sachlichkeit hingegen reizte ihn
bisweilen zur Frivolität, ihre scheu verwunderte Miene fand er köstlich.

Es war ein merkwürdiges Bild; die Mutter schlummernd in der Sofaecke,
und Erwin und Virginia bei der Lampe einander gegenüber. Ihr Antlitz
voll Frage und Sträuben, das seine mitlebend, mithorchend, wachsam,
überaus wachsam. Er sprach von der Liebe, vom Wandel der Sinnlichkeit
durch die Zeiten, von der edlen Kultur der Sinnlichkeit, von der
Hingabe, von der Großmut, die in freier Hingabe liegt. Er hatte viele
Wege offen und verhinderte auf allen die Zuhörerin am Entfliehen. Sie
ahnte den Trug hinter seiner kühlen Miene, irgendeine Scham erwachte,
sie senkte die Augen vor seinem Blick, er bekämpfte den fernen Aufruhr
der Scham und schürte dabei die nur von ihm allein genährte, noch ganz
verborgene Unruhe des Bluts. In seinem Ton lag die Warnung für sie,
moralische Schlüsse zu ziehen. Sie hatte gegen gewisse Freiheiten der
Rede und der Schilderung kein Argument, nur ein heftiges Gefühl. Ihre
Brust war von Zweifeln umdrängt, die ihn betrafen. Er war so ungeheuer
fein, daß selbst ihr feiner Instinkt seine Ziele niemals erkennen
konnte. Ungenau spürte sie das Rechte, war lustvoll und verwirrt,
schweigsam und gern getäuscht.

Aber vielleicht hatte er nicht in Rechnung gezogen, daß er, was
wider den Plan ging, ihren Geist wehrhaft machte. Sie sah sich nach
Hilfsmitteln um, wenn er sie in die Enge trieb. Sie konnte nicht
zurückweichen, dann wollte sie es nicht mehr, um nicht für feig
gehalten zu werden. Sie überraschte ihn durch die Eigenart und
Bestimmtheit ihrer Ansichten, und er mußte zugeben, daß sie viele
Hintergründe habe, daß sie sich in keiner Weise ausliefern würde, daß
von Überlistung keine Rede mehr sein könne. Da verdoppelte sich seine
Kraft und sein Schwung, und sie, indem sie sich ihm stellte, empfand
unausweichlicher die magnetische Gewalt seiner Gegenwart.

Er wünschte aus ihr etwas wie eine _grande dame_ zu machen. Er
behauptete, sie sei dazu geboren. Er gebrauchte den Ausdruck _grande
dame_ und bezeichnete ihn als unübersetzbar. Virginia lachte ihn aus,
wurde aber stutzig, wenn scheinbare Mängel ihrer Haltung seine Kritik
herausforderten. Die Art, wie sie beim Gehen ihre Arme ohne jede
Muskelanspannung sinken ließ, nannte er königlich, doch müsse sie den
Kopf nicht allzu lässig tragen, meinte er, dadurch beeinträchtige
sie die vollkommene Linie des Halses und der Büste, verberge sie das
liebliche Aufleuchten der Stirn, von dem oft ihre Gedanken begleitet
seien. Bei solchen und ähnlichen Worten, die sie förmlich mit Händen
anrührten, erschrak Virginia, und daß sie ihr nicht die Unbefangenheit
raubten, war ein Verdienst ihrer Natur, der jede oberflächliche
Eitelkeit fremd war.

Er entwarf Kostüme für sie, darunter ein besonders prächtiges und
kostbares, das für ein Trachtenfest im fürstlich Liebenbergschen
Park bestimmt war. Er wählte ihre Hüte, ihre Gürtel, die Farbe der
Blusen, den Schnitt der Schleier. Sie ließ es sich gefallen, mit
immer bedrückterem Herzen, vergeblich sinnend, wie sie sich dem
entziehen könne. Sie war jedem Parfüm abgeneigt; er brachte ihr die
auserlesensten; sie ließ sie unbenutzt. Wenn sie in seinem Beisein
daran roch, kam es über sie wie ein matter, aber gefährlicher Rausch.
Endlich überredete er sie zum Gebrauch einer Mischung, die von Guérin
in Paris erfunden worden war und von der ein Fläschchen fünfhundert
Kronen kostete. »Dergleichen ist freilich auch den Dilettantinnen von
Bedeutung, die nur nach außen wirken wollen,« sagte er, »aber trotzdem
von großer Wichtigkeit für eine Frau, die es versteht, einer leblosen
Minute durch ein leicht erzeugbares Wohlgefühl zu steuern.«

Eines Tages mietete er einen Steinway-Flügel und ließ ihn in die
Geßnersche Wohnung schaffen. Er sagte, das Instrument sei sein Eigentum
und bleibe es. Dagegen ließ sich nichts einwenden, um so weniger, als
Frau Geßner von der Aussicht entzückt war, bisweilen Musik hören zu
können.

Am Abend, wenn es zwielichtig wurde, der Sommertag seine letzten
Atemzüge ins Zimmer hauchte, die Höfe stille lagen und über ihre
Mauerngevierte der Mond heraufstieg oder die Sterne dunstumschleiert
sich entzündeten, setzte er sich an den Flügel und spielte. Es
waren Fantasien. Er mied die kräftigen Töne, es war alles mild,
melancholisch, voll von Sinnen und von Schmeichelei. Es war beredt in
klagender und erinnernder Art. Er schien sich mitzuteilen. Da er immer
weniger von sich selber sprach, nahm er seine Zuflucht zur Sprache der
Musik, die von seiner Einsamkeit erzählte, von Wahn und Enttäuschung,
von Verlangen und Verzicht. Bisweilen hielt er inne, seufzte und ließ
die Hände auf den Tasten ruhen. Wenn er so saß, den Kopf emporgewandt,
war etwas edel Vertieftes an ihm, und sein schlanker Körper ruhte
ebenmäßig in dem Halbdunkel, wie losgelöst von Zweck und Willen. Dann
erhob sich Virginia und machte Licht; ihre Stirn war gerunzelt, sie
ärgerte sich über die Mutter, die oft Tränen in den Augen hatte, aber
ihr Bestreben, sich der eigenen Hingenommenheit zu entziehen, ward
desungeachtet offenbar.

»Nein, das ist nichts für Sie,« sagte dann Erwin und schlug den Deckel
des Klaviers zu, »das sind unreine Strömungen; Teufelszeug ist es. Sie
müssen unter die Menschen, vergnügt müssen Sie sein, verwöhnt müssen
Sie werden, Hall und Widerhall muß um Sie sein.« Und er erzählte eine
lustige Anekdote, redete über Leute und Ereignisse, und plötzlich war
sein Gedächtnis angefüllt mit pikanten Histörchen, heiteren Schwänken
und den Alkovengeheimnissen aller Paläste und Bürgerhäuser der ganzen
Stadt.

Wenn er mit Virginia in Gesellschaft zusammentraf, war es, als ob ihre
Anwesenheit allein genüge, ihn zum Mittelpunkt zu machen. Und wenn
er den Vornehmsten, den Ausgezeichnetsten gegenüber sein freies, ja
oft sarkastisches Wesen nicht ablegte, vor Virginia bezeigte er stets
den lautersten Respekt und eine Ergebenheit, die sie in den Augen
aller andern hob. Dies sicherte ihre Stellung, ließ ihr jeden Argwohn
als Undank erscheinen, und allmählich empfand sie seine Hilfe, seine
Führung als etwas Notwendiges, als etwas seltsam Unentbehrliches. Seine
Beziehungen zu den Frauen erklärten sich auf eine natürliche Weise,
und ihr Herz verteidigte ihn, wenn übelwollender Klatsch ihr zu Ohren
gelangte.

Eines Tages traf sie Marianne von Flügel, die sie seit Wochen nicht
gesehen hatte und die gerade Anstalten traf, für den Sommer nach Tirol
zu reisen. Marianne lenkte alsbald, wie es in ihrer Absicht lag,
das Gespräch auf Erwins Beziehung zu Helene Zurmühlen. Vielleicht
glaubte sie Virginia eifersüchtig machen zu können, aber da Virginias
Äußerungen den Bereich zweifelnder Teilnahme nicht verließen, erging
sie sich in grober Deutlichkeit und sagte, es würde sie wundern,
wenn die Geschichte nicht ein schlechtes Ende nähme. »Es nimmt ein
schlechtes Ende mit allen, die in seine Netze geraten,« fügte sie
hinzu, »mit Männern und mit Weibern.«

»Und das behaupten Sie, Marianne, Sie?« rief Virginia erstaunt.

»Ja, ich! Gerade ich, die ihm näher steht als irgendwer. Ich, die
einzige, die ihn kennt.«

»Ich find’ es nicht so schwer, ihn zu kennen.«

Marianne lachte. »Ach, Sie meinen, er sei ein offenes Buch. Mag sein,
aber wer eine Seite in diesem Buch liest, hat keine Ahnung davon, was
auf allen andern Seiten steht. Sie sind sehr klug, Virginia«, sagte sie
nach einer kleinen Pause mit lächelnder Miene, indem sie von weitem
ihre Fingernägel betrachtete; »Sie geben ihm einen hohen Begriff
von Ihrer Intelligenz, denn bei ihm ist alles nur eine Frage des
Widerstands. Sie machen Epoche in seinem Leben, so wie ein Fasttag im
Leben eines Fressers Epoche macht.«

Der vergiftete Pfeil streifte an Virginia vorüber, ohne sie zu
verletzen. Aber ihr Blick nahm plötzlich etwas Durchdringendes an, der
geschwungene Mund dehnte sich, sie fühlte ihre Pulse rascher schlagen.
Marianne bot ihr die Hand zum Gruß; Virginia schlug nicht ein, nicht
weil es sie widerte, sondern weil sie in Nachdenken verloren war.
Während sie weiterging, kämpfte sie gegen eine schreckliche Empfindung;
ihr war, als beginne sie Erwin zu hassen. Sie kannte noch nicht den
Haß, sie sträubte sich gegen ihn, sie war kaum fähig, ihn zu ertragen.

Am Abend holte Erwin Virginia und Frau Geßner ab, um mit ihnen in
die Oper zu fahren. Es war sehr heiß; nach dem ersten Akt bekam Frau
Geßner Kopfschmerz und legte sich auf das Sofa im Hintergrund der
Loge. Virginia schaute ruhig durch den von Licht und Dunst zitternden
Raum, da sah sie zwei Augen strahlend und mit fast verschlingendem
Ausdruck ununterbrochen auf sich gerichtet. Es war Helene Zurmühlen,
die mit einigen Damen in einer gegenüberliegenden Loge saß. Erwin
stand auf, verbeugte sich und ging hinaus. Nach kurzer Weile erblickte
ihn Virginia neben Helene. Er unterhielt sich sehr angelegentlich mit
ihr, und sein Gesicht hatte dabei einen leidenschaftlichen und zarten
Ausdruck. Helenes Kindergesicht war lebhaft errötet, die feurigen,
neugierigen, schmalen Lippen waren naiv geöffnet, aber ihre Augen
strahlten dann und wann mit demselben verschlingenden Glanz zu Virginia
hinüber, die ein solches Unbehagen verspürte, daß es sie die größte
Überwindung kostete, gelassen auf ihrem Platz zu bleiben. Sie gewahrte,
daß mehrere Operngläser auf sie gerichtet waren, die sich dann in die
Richtung wandten, wo Erwin sich mit jener Frau befand.

Plötzlich erhob sich Virginia, trat zu ihrer Mutter und sagte kurz:
»Mutter, komm, wir gehen heim.« – »Du willst fort? Warum denn?« fragte
Frau Geßner, erschrocken über die Blässe in Virginias Gesicht. Aber
diese hatte schon Mantel und Schal umgenommen und trieb die Mutter,
welche wußte, wie gefährlich es war, Virginia in solchen Momenten durch
Frage und Widerpart zu reizen, zur Eile an. Drüben hatte Erwin sein
Gespräch fast schroff beendet. Helene, die sich eines solchen Wechsels
seiner Stimmung nicht versehen hatte, war einer Ohnmacht nahe. Aber
als sie die andere nicht mehr in ihrer Loge sah, begriff sie alles,
auch Erwins bestrickendes Wesen, das sie für die Dauer von fünf Minuten
einem tödlichen Kummer entrissen hatte. Noch glaubte sie nicht, obwohl
es furchtbar in ihr zu tagen anfing.

Als Erwin sich überzeugt hatte, daß Virginia mit ihrer Mutter
das Theater verlassen hatte, schmunzelte er. Nachdem der Vorhang
aufgegangen war, schlüpfte er in seinen Mantel, setzte den Zylinder
auf, schob den Stock unter die Achsel und, die Handschuhe anstreifend
und leise vor sich hinträllernd, stieg er langsam über die große
Freitreppe des Opernhauses hinab.

Kaum saß Virginia mit ihrer Mutter in der elektrischen Bahn, so fuhr
es ihr entsetzt durch den Sinn: Um Gottes willen, was hab’ ich da
getan! Wie es bei phantasievollen Menschen zu gehen pflegt, wenn der
Impuls zu einer falschen Handlung geführt hat, hätte sie jetzt alles
Mögliche geopfert, um das Geschehene ungeschehen zu machen. Aber es
gibt einen Ausweg, sagte sie sich, indem sie neuerdings einem ebenso
falschem Impuls gehorchte, ich werde sagen, daß ich die Mutter zum
Wagen begleitet hätte; er wird es sonderbar finden, aber er wird nichts
merken. »Ich geh’ zurück in die Oper«, sagte sie hastig. »Frag nicht,
frag mich nicht,« fügte sie flüsternd hinzu, als sie das besorgte und
verblüffte Gesicht der Mutter gewahrte, »zu Haus werd’ ich dir alles
erklären.« Und bei der nächsten Haltestelle verließ sie den Wagen.

Es waren nur wenige Schritte bis zur Oper. Warum habe ich es getan?
grübelte sie mit einem Gefühl des Entsetzens. Und sie spürte genau, als
ob eine Wunde in ihr sei, wie der Haß gegen Erwin in ihrem Gemüte wuchs.

Da erblickte sie ihn. Er stand neben der Auffahrt bei einer
Blumenhändlerin und kaufte Rosen. Erstaunt, ihn auf der Straße zu
treffen, blieb sie unwillkürlich stehen. Erwin wandte sich um.
»Virginia!« rief er freudig. Dann schüttelte er verwundert den Kopf.
»Ich wußte, daß Sie zurückkommen würden«, sagte er leiser und reichte
ihr mit langsamer Gebärde die Rosen dar. Es waren drei vollaufgeblühte
Rosen, die einen betäubenden Duft ausströmten.

Sie war unfähig, etwas zu sagen. Die ausgedachte Erklärung kam ihr
langweilig und albern vor. Mechanisch steckte sie ihre Nase in die
Blumen. »Bitte, begleiten Sie mich zu einem Einspänner«, sagte sie
gepreßt. – »Wollen Sie das Stück nicht zu Ende hören?« fragte er. Sie
verneinte. »Ihre Mutter hat die Schwäche, Ihnen alle Vergnügungen zu
verderben«, fuhr er ironisch und fein erratend fort. Virginia atmete
auf. Sie nickte. »Ich habe jetzt die Lust verloren«, antwortete sie;
»auch ist es zu schwül im Theater.«

Erwin hatte einen offenen Fiaker gerufen, nannte dem Kutscher die
Adresse und bezahlte den ehrfürchtig Dankenden. Daß er Virginia
zu dieser Stunde allein fahren ließ, war fast eine Genialität. Er
konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als sie ihm mit froher
Bewegung die Hand reichte. »Die gibt einem die härtesten Nüsse zu
knacken«, murmelte er, dem schönen Gefährt nachschauend, das sich rasch
entfernte. Ein Schleier legte sich über seine Augen, und seine Stimmung
verfinsterte sich.

Virginia, in die Ecke des Wagens gelehnt, betrachtete die Rosen. Sie
empfand den Geruch als aufdringlich, erschauerte plötzlich und warf
die Blumen auf die Straße. Als sie vor dem Hause stand und läutete,
kam eben die Mutter. Frau Geßner war sprachlos; dann mußten sie beide
lachen. »Ich habe mich doch anders entschlossen«, sagte Virginia
verlegen; »aber frag nicht, Mutter, frag nicht.« Und Frau Geßner fragte
nicht, sie seufzte bloß.

Es war erst neun Uhr. Virginia zog einen leichten Schlafrock an und
ging eine Weile im Zimmer hin und her. Dann holte sie Schreibmappe und
Tintenfaß, setzte sich an den Tisch und schrieb, mit nicht so sicherer
Hand wie sonst, einen Brief an Manfred.

»Teurer! Lieber,« schrieb sie, »so weit du in Wirklichkeit bist, so nah
bist du heut meinen Gedanken. Ich könnte beten, daß die Zeit schneller
läuft. Ich war nie so ungeduldig. Es ist jetzt schon Sommer, und die
Stadt hat ein häßliches Gesicht. Ich habe Sehnsucht nach Wald und
Wiese und will mit der Mutter Ende nächster Woche nach Edlitz fahren,
wo es uns auch vor zwei Jahren so gut gefallen hat. Wir werden wieder
dasselbe kleine Bauernhäuschen mieten, ich werde ein bißchen arbeiten,
wenn’s geht, und wenn’s nicht geht, ruh’ ich mich aus von den vielen
Menschen. Wie gut, sich auszuruhen! wie gut, auf dem Moos zu liegen
und zu denken, an dich zu denken! Ich möchte so lang wie möglich dort
bleiben, und wenn wir dann im Herbst zurückkommen, wird ein neues Leben
angefangen. Morgen ist das Parkfest bei der Fürstin Liebenberg, da geh’
ich noch hin, weil ich’s versprochen habe, aber dann ist Schluß mit
allen Gesellschaften und Vergnügungen. Es ist so beängstigend, wenn
jede Woche ein Programm hat. Es ist auch beängstigend, fortwährend über
die eigenen Verhältnisse zu leben und nicht klar darüber zu sein, womit
man ein solches Übergreifen vor sich und andern rechtfertigen soll. Ich
bin fest entschlossen, dem ein Ende zu machen. Ich zweifle an Erwins
Redlichkeit nicht, aber ich ziehe es vor, mit gutem Gewissen in der
Armut als mit schlechtem in der Fülle zu leben. Zu viele Pflichten,
zu viele Bedenken erwachsen mir daraus, zu viel unreines Gefühl, das
man dann wieder betäuben muß durch allerlei Dinge, die die Freiheit
beschränken. Sind wir einmal draußen auf dem Land, so werd’ ich alles
mit der Mutter ernsthaft besprechen und ordnen. Ich glaube, auch dir
wird es im Grunde lieber sein, wenn du deinem Freund nicht auf eine
Weise verpflichtet bist, die mir drückend erscheint. Erwin wird das
einsehen; er hat den Zug ins Große, aber er vergißt, daß kleine Leute
klein bleiben müssen und daß sie sich nur die Glieder verrenken, wenn
sie sich nicht nach der Decke strecken. Sonst kann ich nicht klagen ...«

Virginia ließ die Feder sinken. Ist das wahr? fragte sie sich. Nein,
sie hätte klagen können. Als sie das Geschriebene überlas, war es ihr,
als ob in all ihren Worten eine Lüge enthalten sei. Eigentlich hätte
sie schreiben müssen: Komm zurück, Manfred! Komm, so schnell du kannst!
Sie beendete den Brief heute nicht mehr. Sie saß noch lange, den Kopf
in die Hand gestützt, und bisweilen flog es wie Fieber durch ihren
Körper.




Ein anderes Gesicht


Am nächsten Nachmittag kam Erwin früher, als ihn Virginia erwartete.
Das Fest sollte um fünf Uhr beginnen. Sie war noch beim Frisieren, saß
vor dem Spiegel im Wohnzimmer, und Frau Geßner hielt Erwin in der Küche
auf. »Machen Sie keine Umstände, Mama,« sagte Erwin aufgeräumt und
schob die ängstliche Frau einfach beiseite, »in Frisiertoilette kann
jede Dame empfangen. Es ist sogar üblich. Wir haben nicht viel Zeit,
und ich muß Virginia zur Eile treiben.«

Er stand schon auf der Schwelle, nachdem er lachend die Tür geöffnet
hatte. Virginia, das Haupt in ihrem weißen Mantel gegen ihn kehrend,
sah ihn erschrocken an. Das Erglühen ihres Gesichtes versprach keine
gute Wendung. Sie, die als Kind von zwölf Jahren den Arzt nicht in
ihrer Nähe geduldet, wenn ihre Haare nicht geflochten waren, die selbst
vor Manfred, obwohl er einmal herzlich darum gebeten, nie die Haare
gelöst, wollte die unerwünschte Gegenwart des Eindringlings nicht
willig hinnehmen. Sie erhob sich schweigend, um aus dem Zimmer zu gehen.

Erwin nahm seine ganze List und Kunst zusammen, sie davon abzuhalten.
Er drehte sein Unterfangen ins Scherzhafte, er bog das Knie zur Erde
und streckte flehend die Arme aus, und was er sagte, war so witzig
und voll Schelmerei, daß Virginia schließlich lachen mußte. Auch Frau
Geßner, die dabei stand, war seelenvergnügt. »Seit anderthalb Stunden
plagt sich das Kind«, sagte sie; »dreimal hab’ ich ihr angeboten, eine
Friseurin zu holen, aber das will sie nicht.« – »Ich kann keine fremden
Hände an mir vertragen«, gab Virginia nervös zu.

Erwin hatte seine Fachmannsmiene aufgesetzt. »Wenn Sie zehn Minuten
stille sitzen wollen, Virginia,« sagte er, »werd’ ich Sie aus der
Verlegenheit befreien, und Sie werden eine mustergültige und stilgemäße
Haartracht haben. Darf ich? Sie wissen, ich verspreche niemals mehr,
als ich leisten kann.«

Virginia betrachtete ihn zweifelnd und unschlüssig. Sie fürchtete,
blöde zu erscheinen, wenn sie sich weigerte. »Können Sie denn das?
Wieso denn?« erkundigte sie sich verwundert. Er zuckte die Achseln.
»Nie ist mir das Frisieren so schwer geworden«, klagte sie und
schüttelte den prachtvollen Strom ihrer Haare über die Schultern
zurück; »man sagt, böse Träume seien daran schuld«, fügte sie lächelnd
hinzu. »Nun, wenn Sie glauben, daß Sie’s fertigbringen, probieren Sie
es meinetwegen.« Und befangen nahm sie Platz.

Frau Geßner schaute mit andächtig gefalteten Händen zu, als Erwin ans
Werk ging. Er verstand es ausgezeichnet, und da er die Arbeit still,
flink und mit großer Behutsamkeit verrichtete, gewann Virginia ihre
Ruhe wieder, und sie dachte darüber nach, wie er zu solcher Fertigkeit
gelangt sein mochte.

Seine aufmerksame und unbewegte Miene verriet nicht die prickelnde
Lust seiner Finger; von den seidenweichen Haaren sprangen elektrische
Funken auf seine Haut, die ihm die sinnliche Täuschung erweckten,
als stehe er unbekleidet unter einem lauen, rieselnden Wasserfall.
Verriet nicht die schon zur Qual und Wildheit gesteigerte Vehemenz
seiner Wünsche, seine ausschweifenden Projekte, die Entzündung seines
Gehirns und seines Willens, die unheimliche, in allen Poren wühlende
Sucht seiner verwöhnten, hartnäckigen, kühlen und leidenschaftlichen
Seele. Sondern es gaben ihm sein Tun, die Vertiefung, die jünglinghafte
Spannung des Gesichts ein edles Ansehen, und Virginia, die ihn so im
Spiegel gewahrte, dankte ihm durch einen ruhigen Blick.

Um vier Uhr befanden sie sich im Pavillon des Parks, und eine Stunde
später setzte sich der Zug der historischen Gruppen in Bewegung. Man
sah Pagen und Ritter, Bauern und Landsknechte, Pfaffen und Zigeuner,
Ratsherren und Spielleute. Virginias Schimmel, dessen Sanftmut verbürgt
war, erinnerte sich vor den Augen der vielen Zuschauer gleichwohl
an tänzerische Anfechtungen seiner Jugendzeit, und als die Reiterin
den Zügel riß und das Aufbäumen des verkappten Invaliden durch ihre
unnachgiebige Haltung zu brechen wußte, sah es wirklich aus, als zähme
ein kühnes Burgfräulein den stolzen Araberhengst. »Famos«, murmelten
die jungen Aristokraten. Und das »Volk«? Das Volk staunte. Virginias
birkenschlanke Gestalt, angetan mit dem himbeerfarbigen Sammetkleid
nach Art einer Edeldame des sechzehnten Jahrhunderts und dem Hut mit
den funkelnd weißen Reiherfedern, hatte nichts von dem Befremdlichen
einer Maskerade: es war eine sinnvolle Romantik darin.

Frauen und Männer huldigten ihr. Wie hätte sie von solchem Erfolg
nicht ein wenig trunken werden sollen? Als sie noch bei der Mutter
gelebt, unwissend; als nur Manfred allein, aus der unbekannten Welt
sich lösend, vertraut in ihren Kreis getreten war, hätte sie sich von
alledem nichts träumen lassen. Die balsamische Luft! der dunkelblaue
Julihimmel! Unten werden Wünsche geboren, oben werden sie erfüllt.

Ein Teil des Parks war für die Gäste der Fürstin abgegrenzt. Es war
kein steifes Wesen; die freie Mischung der Gesellschaft kam einer
reizenden Zwanglosigkeit zustatten. Virginia saß in einem Zirkel junger
Herren und Damen, an deren heiteren Gesprächen sie wenig Anteil nahm.
Da gewahrte sie die Fürstin; sie stand auf und ging ihr entgegen. Erwin
erhob sich ebenfalls; er blickte unschlüssig vor sich hin, plötzlich
tauchte Fritz Kynast vor ihm auf. »Haben Sie meine Schwester nicht
gesehen, Erwin?« fragte er.

»Ich hatte nicht das Vergnügen, ich wußte gar nicht, daß Frau Zurmühlen
hier ist«, versetzte Erwin kalt.

»Doch; ich habe mir erlaubt, sie mitzubringen«, sagte der junge Mann
in seinem abgemessenen Hofratston. »Sie wissen ja, ich habe mich der
Pflicht unterzogen, sie bisweilen dem Ehejoch zu entziehen. Wir sind
alle ein wenig besorgt um sie. Sie ist so zart. Man will sie über den
Herbst nach Rimini ins Seebad schicken.«

»Ah, nach Rimini? Nicht übel«, antwortete Erwin zerstreut und
gleichgültig.

»Hatten Sie nicht auch die Absicht, nach Rimini zu gehen?« fragte der
andere mit mühsamer Freundlichkeit und einem Zug in den Mundwinkeln,
der Drohungen zu enthalten schien, »mir ist, als hätte Helene etwas
davon verlauten lassen.«

»Ich entsinne mich, ich dachte daran, bin aber längst davon abgekommen.«

»So ... Schade. Die Arme. Da wird sie sich mopsen bei den
Katzelmachern. Schade. Ich hab’s ihr aber gesagt. Erst gestern hab’
ich ihr gesagt: es ist unmöglich, daß der Erwin nach Rimini geht,
unmöglich.«

Die beiden Männer sahen einander schweigend an. Fritz Kynast lächelte,
Erwin erwiderte das Lächeln nicht. Er nickte jenem zu und entfernte
sich. Er gewahrte, daß die Fürstin von Virginia weggegangen war, und
schritt Virginia entgegen. Er trat an ihre Seite, und sie kehrten dann
zusammen um. Ehe sich Virginia dessen versehen hatte, befanden sie sich
in einer ziemlich einsamen Partie des Gartens. Es war ihr unbequem,
aber sie fand keinen Vorwand, wieder zu den Menschen zurückzukehren.
Auch hielt sie ein wunderlicher Trotz davon ab.

»Ich möchte reisen,« sagte Erwin, »ich möchte fort.«

Virginia entgegnete nichts. Seine Stimme, die traurig klang, verstärkte
den wunderlichen Trotz. Indem sie auf die Erde blickte, hatte sie das
Gefühl, als habe sie ganz vergessen, wie Erwin aussah.

»Und Sie, Virginia?« fragte er leise. Da sie nichts antwortete, fuhr
er fort, und seine Worte erschreckten sie, weil sie aus ihnen abermals
seine schier unbegreifliche Kunst erkannte, mit der er ihre Stimmungen
und Absichten erriet: »Ich weiß, ich ahne es, Sie sehnen sich nach
einer ländlichen Zurückgezogenheit. Eine Stadt ist zu Ihren Füßen
gelegen, und Sie denken an den Frieden eines Bauerndorfs. Sie wollen
die Welt, die sich zu Ihrem Sklaven erklärt hat, von sich stoßen.
Das würde sich rächen, Virginia, das würde sich bitter rächen. Nicht
zweimal bietet das Glück den gefüllten Becher.«

Sie waren an dem steinernen Rand eines Bassins angelangt. In dem
grünlichen Wasser schwammen Goldfische. Ringsum standen schöne, alte
Bäume. Von fernher tönte Musik. »Es ist lächerlich«, sagte Virginia mit
niedergesenkten Augen.

»Was? was ist lächerlich?«

»Daß Sie alles von mir wissen. Sie sind wie ein Spion. Ich fürchte mich
beinah vor mir selbst. Bin ich denn durchsichtig?«

»Lassen Sie das Bauernhaus,« sagte Erwin, ohne sie anzublicken, »ich
weiß Besseres.«

Er dichtete eine erhabene Landschaft; er dichtete einen See hinein,
und in den See eine Insel, und auf die Insel ein Schloß, und um
das Schloß einen Palmenhain und Lorbeergärten, und an den Molo ein
bewimpeltes Boot, und in das Schloß kühle Gemächer, blumenbeladene
Veranden, stumme Dienerinnen, des Abends Feste, Ball und Gesang und
Fahrt auf dem Wasser; in Stundennähe die großen Städte der Lombardei,
und in Stundennähe die Einsamkeit der Gebirge, die marmorne Wucht der
Gletscher, und wieder in Stundennähe das Meer.

Oder war es nicht Dichtung? Erzählte er? lockte er? war es
Wirklichkeit? er besaß es? hatte ein solches Schloß? wollte hinfahren?
jetzt? morgen? Und Virginia sollte mit der Mutter im Schlosse hausen?
und er würde am Seegestade hausen, allein in einer Fischerhütte?

Virginia wandte sich kopfschüttelnd ab und setzte sich dann mit
übergeschlagenen Beinen auf den Rand des Bassins. Ihr Gesicht hatte
einen trocknen und ungeduldigen Ausdruck. Erwin trat vor sie hin und
blickte auf ihre weißen Schultern herab. Er sah den Nacken und die
weißen Schultern und die obere Wölbung des Busens so nah, daß er sich
nur wenig hätte neigen müssen, um seine Lippen darauf zu drücken.
Er spürte die Wärme ihres Leibes und vernahm das leise Knistern des
Gewands. Er sah sie nicht mehr in ihrem Kleide, sondern er empfand den
Reiz und Wohlgeruch des durch das Kleid verhüllten Körpers selbst. Und
ihm war, als könne es von jetzt an nicht mehr anders sein; immer würde
er die weiße Schulter sehen, den schimmernden Nacken, die friedliche
Wölbung ihres Busens.

»Bald wird es ein Ende haben«, sagte er dumpf und eintönig; »schon seh’
ich die züchtigen vier Wände aufgerichtet. Virginia wird heiraten.
Virginia wird mit dem Fleischer, dem Greisler, dem Bäcker Verhandlungen
anknüpfen, Virginia wird ein Haushaltungsbuch mit Soll und Haben
führen, wird Kinder kriegen, eins, zwei, drei ...«

Hastig stand Virginia auf. Sie bohrte den Blick unergründbar mutig in
den seinen und sagte befehlend: »Genug.«

Er hielt ihren Blick aus wie ein ehrlicher Mann. »Genug?« fragte er mit
einem von Schmerz zusammengezogenen Gesicht. »Was für ein Wort: genug!
Ein Wort für die Satten. Wer genug sagt, der sterbe. Genug ist ein
Sargdeckel.«

»Sie haben mir ein Genug versprochen«, erwiderte Virginia plötzlich
sanft und beängstigt. Und mit tiefer Entschiedenheit fügte sie hinzu:
»Für mich wäre es sonst wirklich genug.«

Erwin verbeugte sich. Er preßte die Zähne zusammen.

»Gehen wir wieder zu den Leuten«, sagte Virginia und schritt voran.
Erwin konnte seiner Erregung nicht anders Herr werden, als indem er
eine Zigarette anzündete; mit erkünsteltem Behagen blies er den Rauch
in die silbrig dämmernde Luft. Wann wird endlich meine Stunde kommen?
dachte er haßerfüllt; die Stunde, wo dieser Engel aus seinem Himmel
herunter in meine Arme stürzen wird? Und er bereitete sich vor zu einem
Kampf ohne Gnade.

Als die beiden den Platz verlassen hatten, trat eine Frauengestalt auf
einen Weg zwischen den beschnittenen Hecken und schaute mit verstörten
Augen auf den vollen gelben Mond, der durch die Säulchen einer über
dem Wasserbecken befindlichen Balustrade leuchtete. Dann schlug sie die
Hände vor das Gesicht. Es war Helene Zurmühlen.

»Sehen Sie nur den Mond«, sagte Virginia zu Erwin; »es ist, als könnte
man ihn mit dem Fuß vor sich herrollen.«

»Der Mond ist voll; Gott hat zu ihm gesagt: genug, Mond, genug«,
erwiderte Erwin ironisch, und es war etwas in seiner Stimme, was
Virginia einen Schauer über die Haut jagte. In wenigen Tagen hört das
alles auf, tröstete sie sich.

»Daß Manfred Sie heute nicht sieht, darum ist er zu beklagen«, begann
Erwin wieder. »Wir müssen etwas für ihn tun, wir müssen ihm Ihr Bild
schicken. Ich werde Sie photographieren, so wie Sie hier sind.«

»Ah, das ist lieb«, entgegnete Virginia erleichtert; »aber wo und wann?«

»Bei mir draußen. Ich schicke Ihnen übermorgen den Wagen. Morgen geht
es nicht, abends hab’ ich ein kleines Herrendiner, nachmittags will ich
zu Ulrich Zimmermann; ich hab’ ihn seit Wochen nicht gesehen und höre,
daß er krank ist.«

»Ulrich krank? Was fehlt ihm denn?«

»Ich weiß es nicht. Kommen Sie doch mit mir. Wenn er Sie sieht, wird er
sicher gesund. Vielleicht sind Sie sogar schuld an seiner Krankheit.
Sie haben ihn schlecht behandelt und zu schwer gestraft für eine
Unbesonnenheit.«

»Wenn Sie glauben, daß ihm mein Besuch Freude macht, gern. Warum haben
Sie denn neulich so fremd von ihm gesprochen? Es fällt mir nicht mehr
ein, bei welcher Gelegenheit; es waren viele Leute dabei. Sie haben
getan, als ob Sie ihn nicht kennen würden, und ich habe mich darüber
geärgert.« – »Ich liebe es nicht, meine Beziehungen zu plakatieren.«
– »Man kann also jederzeit von Ihnen verleugnet werden?« – »Man
verleugnet nicht, wenn man Grenzen zieht.« – »Wo Grenzen sind, sind
Feinde, Erwin.«

Er schaute sie überrascht an, denn es schien, als ob sie mit diesen
Worten, und zwar in unwiderruflicher Weise, selbst eine Grenze zöge.
Virginia begegnete seinem Blick, und auf einmal wurde sie dunkelrot.
Das Spiel wird ernst, dachte Erwin.

       *       *       *       *       *

Ulrich Zimmermann wohnte in der Kochgasse, im ersten Stock eines
alten, kleinen, grünen, italienisch aussehenden Hauses. Man mußte
zuerst den Hof durchschreiten und dann eine Holzgalerie erklimmen,
die in das Zimmer des Schriftstellers führte, einen gemütlichen, aber
etwas armseligen Raum, der sich jedoch durch ungewöhnliche Sauberkeit
auszeichnete. An den Wänden hingen ein paar Originalskizzen von
mittelmäßigen Malern und eine große Photographie der Rembrandtschen
Nachtwache.

Ulrich lag auf dem Sofa, bis zum Kinn mit einem braunen Flanelltuch
bedeckt. Er hatte Fieber. Mit verdrossenem Gesicht las er einen
Brief, den er soeben von seinem Onkel erhalten hatte. Vor einer Woche
hatte er dem alten Herrn den Band seiner Gedichte geschickt, deren
Veröffentlichung ihm durch Erwins Hilfe ermöglicht worden war. Doktor
Zimmermann bedankte sich für das Büchlein und schrieb weiterhin:

»Dein poetisches Gefühl ist unbestreitbar, und wenn auch deine
Bilder bisweilen ins Abstruse oder Krampfhafte fallen, ein Fehler,
der auf einem Mangel an innerer Einfachheit beruht, so erkenne ich
dir doch alle Begabung für den selbsterwählten Beruf zu, die mein
früheres Mißtrauen und meine verzeihliche Enttäuschung als nicht
vorhanden erklärt hat. Aber du irrst, wenn du annimmst, ich sähe
dich mit Genugtuung und großer Erwartung auf dem eingeschlagenen Weg
weitergehen. Nicht zu gedenken der Not, des gekränkten Ehrgeizes, der
Mißkennung, der vielfachen vergeblichen Anstrengungen, mit welchen
du wirst ringen müssen und deren Vorgeschmack du reichlich genossen
hast, gebricht es dir auch nach meiner festen Überzeugung an einer
Eigenschaft, ohne die ein wahrhafter Ruhm nicht möglich ist. Es fehlt
dir an Gemeinsinn; ich will es besser soziale Gebundenheit nennen;
es fehlt deinen Produkten die Wurzel gesunder Konvention, auf der
alles Tüchtige und Außerordentliche der Kunst wie der sichtbaren Welt
ruht, als auf einer Basis von Harmonie und sittlicher Ordnung. Deine
Zeitgenossen werden dir dieses um so williger nachsehen, da sie in dem
Punkte nicht verwöhnt sind. Alle eure Dichter bauen auf durchhöhltem
Grund oder hängen gänzlich in der Luft, haben keine Herkunft, keinen
Stammbaum und keine höhere Sendung. Jedoch in ihrem immanenten
Bewußtsein können auch eure Anhänger mit der bloßen Kunst sich nicht
zufrieden geben und verurteilen insgeheim zu frühem Tod, was auf dem
Markt Unsterblichkeit prätendiert. Deine Sorge wegen meiner Gesundheit
ist, ich hoffe es zu Gott, vorläufig noch unbegründet. Laß es dir gut
ergehen und sei gegrüßt von deinem wohlaffektionierten Onkel Wilhelm
Zimmermann.«

Durch einen Bekannten seines Onkels hatte Ulrich erfahren, daß Doktor
Zimmermann mit den Anfängen eines tückischen und höchst gefährlichen
Leidens kämpfe, daß er sich aber eigensinnig weigere, einen Arzt zu
Rate zu ziehen, und im Kreis der Freunde und vieljährigen Gefährten
mürrisch und schweigsam geworden sei, sich unversehens aus der
Gesellschaft stehle oder kopfhängerisch in einem Winkel sitze.
Diese Nachricht hatte Ulrich verstimmt. Der joviale, lebhafte,
sprühende Mann, der scharfe Geist und schlagfertige Dialektiker in
der Melancholie gleichender Todesfurcht, nichts konnte trauriger für
Ulrichs Ohren klingen, und er nahm sich vor, den Oheim aufzusuchen.

Während er dies und den wenig ermunternden Inhalt des Briefes
überdachte, erschallten Tritte auf der Treppe, die Türe wurde nach
raschem Pochen geöffnet, und Erwin steckte den Kopf in die Spalte.
»Kann man herein?« – »Natürlich kann man.« – »Aber es ist noch jemand
da.« – »Wer denn?« – »Fräulein Virginia.« Ulrich fuhr auf. Das war das
Unerwartetste. Schon stand Virginia auf der Schwelle, dann trat sie ins
Zimmer und reichte Ulrich die Hand.

Ulrich mußte sich immer dessen im Gespräch entäußern, was ihm den
Sinn beschwerte. Er reichte Erwin den Brief seines Onkels. »Mir ist,
als seien Sie anders geworden, als seien Sie gewachsen«, sagte er zu
Virginia, indes Erwin ans Fenster ging und las.

Virginia griff zerstreut nach einem der Gedichtbände, die auf dem
Tisch gestapelt lagen. In dem ersten, den sie aufschlug, fand sie, von
Ulrichs Hand geschrieben, ihren eigenen Namen auf dem Vorsatzblatt.
»Soll das mir gehören?« fragte sie. Ulrich schaute flüchtig herüber und
antwortete obenhin. »Ja, das gehört Ihnen.« – »Es liegt aber ein Bild
dabei. Soll das auch mir gehören?« – »Wenn Sie’s annehmen wollen, ja.
Ein alter Stich, aus dem Totentanz von Holbein. Ich hab’ es sehr gern
und hab’ mir längst vorgenommen, es Ihnen zu verehren.«

Virginia sah ein schönes junges Mädchen, hinter dem der Sensenmann
grinsend und lüstern emportaucht. Darunter stand: die Braut.
Gedankenvoll schaute Virginia darauf nieder: sie ließ den linken Arm
sinken, und der Sonnenschirm fiel auf den Boden. Erwin, der kein Wort
von der Unterhaltung der beiden verloren hatte, bückte sich galant
danach und schaute dann über Virginias Schulter auf das Bildchen. Unter
seinen schöngeschwungenen Wimpern hervor schoß ein messender Blitz auf
Ulrich Zimmermann.

»Was halten Sie von dem Brief?« erkundigte sich Ulrich betreten.

»Der Mann ist klug«, versetzte Erwin. »Aber was wollen Sie: die
Schulmeister schimpfen gern, wenn’s wettert, und wenn sie ins Freie
gehn, laufen sie über die Straße ins Wirtshaus. Wir wissen es ja
längst: das schlechte Gewissen macht Moralisten, und der untätige Geist
gebiert Kritik.«

Ulrich Zimmermann starrte in die Luft. Er sah nur Virginia. Er sah
nicht sie selbst, sondern eine Spiegelung von ihr, die sich in der Luft
bewegte. Nein, sprach es plötzlich in ihm, es ist nicht, es ist nicht!
Der Kranz auf dieser Stirne kann nicht lügen.

Man muß eben einsam bleiben, grübelte er, als die beiden fortgegangen
waren; wo bin ich? wo lebe ich? lebe ich in meinem Bezirk? treu der
angeborenen Kraft? Kann ich der unbarmherzig fließenden Zeit gültige
Zeugnisse entgegenhalten, die »einst« bestehen werden, wenn das Heute
eine Sage sein wird für die Enkel? Und aller Durst nach Ehre, wohin?
alle Pläne, wohin? alle Träume von Unsterblichkeit, wohin?

       *       *       *       *       *

»Es ist eine Dame drinnen, die auf dich wartet«, flüsterte Frau Geßner
Virginia zu, als diese nach Hause kam. Virginia trat ins Zimmer und
sah Helene Zurmühlen vor sich. Die Anstrengung, die in Helenes Haltung
lag, verlieh sogar ihrem Blick etwas Starres und machte das freundliche
Lächeln auf ihren Lippen unglaubwürdig.

Warum war sie da? Im Grunde hatte sie die Verzweiflung angetrieben.
Eine Reihe von schlaflosen Nächten vermag die Beweggründe eines
Entschlusses zu verdunkeln. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß
das Verhängnis unabwendbar gewesen sei und besiegelt vom Anfang an
her. Sie fror; sie fror bis in das Mark ihrer Knochen. Sie sah sich
des schützenden Mantels von Zärtlichkeit beraubt, in dem sie sich für
gefeit gehalten gegen alle Drohungen des Schicksals. Und es war so
plötzlich gekommen, ohne Aussprache, ohne Vorbereitung, wie wenn am
Abend eines Sommertages Schnee fällt. Die Sonne hatte sich von ihr
abgekehrt, und es war finster und eiskalt. Es trieb sie an, dorthin
zu gehen, wo die Sonne schien. Sie wollte diejenige sehen und spüren,
die von der Sonne beschienen war. Ohne Eifersucht, wähnte sie; ihre
Natur war so beschaffen, daß sie sich in einen künstlichen Edelmut
wohl hineinlügen konnte. Sie gedachte edel zu verzichten, fand aber
keine Antwort auf die Frage, weshalb es nötig war, vor die glückliche
Nebenbuhlerin zu treten, die gar nicht danach aussah, als ob es ihr
um die feierliche Gebärde des Verzichts zu tun sei. Aber in ihrem
erkünstelten Edelmut dachte Helene: Wenn sie nur glücklich ist und ihn
glücklich macht, dann bin ich zufrieden. Und sie selbst richtete sich
empor an dieser Märtyrerstimmung und glaubte ihren Kummer zu vergessen,
wenn sie Virginia versicherte, wie sie es Erwin versichern wollte: ich
entsage. Der Gedanke, daß eine Schönere, Würdigere, Stärkere ihren
Platz einnehme, tröstete sie, oder sie redete sich dies wenigstens
ein. Alles das war ebenso verzwickt und unwahr, wie rührend und
hilflos.

Helene war auf Virginia zugegangen und hatte ihre Hände gefaßt. »Ich
begreife alles,« sagte sie, »ich begreife ihn und Sie. Seien Sie mir
nicht böse, daß ich Sie derart überfalle, ich weiß, daß ein solcher
Schritt ungewöhnlich ist, und viele würden mich verdammen, aber es ist
das einzige Mittel für mich, um die Leere zu ertragen, die jetzt in mir
ist. Ich will mich aufrecht halten, ich muß mich aufrecht halten, wenn
ich auch wie ein Lahmer bin, dem die Krücke weggenommen worden ist. Sie
bedürfen keiner Krücke, das seh’ ich wohl, und es wird ihm leichter
sein, mit Ihnen froh zu werden als mit mir.«

Sie schwieg. Ihre Blicke schweiften durch das Zimmer und nahmen
plötzlich einen erstaunten Ausdruck an, denn sie schien erst jetzt der
Einfachheit des Raumes inne zu werden.

Virginia wußte nicht, was sie denken sollte. Sie war bestürzt und
aufs äußerste verwundert. »Darf ich wissen, gnädige Frau, wovon Sie
eigentlich sprechen?« fragte sie höflich.

Eine Sekunde lang schien es, als breche ein Blitz des Hasses aus
Helenes feuchtstrahlenden Augen. Warum heuchelt sie, fuhr es ihr durch
den Sinn. Doch faßte sie sich schnell, und mit ihrem gütigen, müden
und opferwilligen Lächeln fuhr sie fort: »Auch das begreife ich, daß
Sie sich nicht vor mir bekennen wollen. Aber wer bin ich denn, und was
haben Sie zu fürchten? Ich habe ihm alles hingegeben, Ehre, Herz,
Leben, Zukunft, Kind und Mann, alles ihm, alles zertreten für ihn, und
mit Freude, das dürfen Sie mir glauben. Ich bin zum Schatten geworden,
zu seinem Schatten. Das muß man nicht tun, Fräulein, das ist zu viel,
vor einem ähnlichen Los wollt’ ich Sie bewahren. Nehmen Sie sich in
acht, daß Sie nicht zu seinem Schatten werden.«

Endlich verstand Virginia. Eine grelle Blässe überzog ihr Gesicht. Sie
war keines Wortes fähig.

»Ich dachte noch den Sommer mit ihm zu verbringen,« fuhr Helene mit
schmerzlich verzogenem Gesicht fort und in einem Ton von Hoffnung, als
ob Virginia durch diese Tatsache bewogen werden könne, ihre Ansprüche
an Erwin aufzugeben, »aber gestern schrieb er mir, er könne nicht,
er sei verhindert.« Sie schaute Virginia fragend an, und ihre Lippen
zitterten. Sie begann das Mißliche und Entwürdigende ihrer Situation zu
spüren. Außerdem erschrak sie, als sie das bleiche Gesicht des jungen
Mädchens gewahrte.

»Sie sind in einem bedauerlichen Irrtum, gnädige Frau,« sagte Virginia
leise und mit den Zeichen heftigen Widerwillens, »es scheint Ihnen
nicht bekannt zu sein, daß ich verlobt bin und daß sich mein Bräutigam
gegenwärtig auf einer Seereise befindet. Ich fühle mich nicht
verpflichtet, Sie darüber aufzuklären, und wenn Sie ein Einverständnis
zwischen mir und Herrn Doktor Reiner annehmen, so ist das Ihre Sache,
nur muß ich Sie bitten, mich mit solchen Beleidigungen zu verschonen.«

Nach diesen Worten, denen die Entrüstung und Verachtung etwas
Phrasenhaftes verlieh, ging eine seltsame Verwandlung in Helenes
Gesicht vor sich. Virginias unverkennbarer Zorn, die herrische Abwehr
mit dem Hinweis auf ein unverbrüchliches Band ließen ihr die Dinge
in ganz anderm Licht erscheinen. Da ihre Eifersucht plötzlich des
Gegenstands beraubt war, sah sie, daß sie längst schon verspielt, daß
ihr Einsatz niemals volle Gültigkeit besessen hatte.

Sie fühlte Lust, zu schlafen oder sich irgendwo auszustrecken, den
Kopf in einen dunkeln Winkel gedrückt. So hätte ich geschaffen werden
sollen, dachte sie mit einem müden Blick auf Virginia, so stark, so
frei, so stolz.

Mit fast unhörbarer Stimme bat sie um Verzeihung. Virginia antwortete
nichts. Helene lispelte einen Gruß. Eine Gebärde verriet die
schüchterne Absicht, Virginia die Hand zu reichen. Virginia geleitete
sie stumm hinaus. Ihr war eng und weh, nicht mehr weil sie beschimpft
worden war, sondern weil ihr die andere das Schauspiel einer
unvergeßlichen Selbsterniedrigung geboten hatte.

Helene verabschiedete sich, wie wenn sie sich bei einer Unbekannten
nach der Brauchbarkeit eines Dienstboten erkundigt hätte. Sie ging
durch viele Straßen, und ganz ohne Ziel. Es regnete, aber sie spannte
nicht einmal den Schirm auf. Sie blieb vor einigen Auslagen stehen,
keineswegs um Dinge zu betrachten, sondern um besser nachdenken zu
können. Wenn diese Virginia nicht seine Geliebte ist, dachte sie,
dann ist ja für mich noch nichts verloren; am Ende ist alles nur
eine Einbildung von mir. Und sie hatte plötzlich das Verlangen, Erwin
zu sehen und mit ihm zu sprechen. Sein Gesicht verfolgte sie mit dem
ihm eigenen Ausdruck von Ruhe, von Obsorge und von Beredsamkeit, den
starken, einschmeichelnden und besonderen Worten, die seine Züge so
bewegt und so vertraut machten.

Sie beschloß, zu ihm zu gehen. Es war schon Abend; sie trat in ein
Geschäft und telephonierte nach Hause, um zu erfahren, ob das Kind
schlafe. Ihr Mann war für einige Tage auf seiner Fabrik in Böhmen.
Gegen halb neun Uhr fuhr sie nach Pötzleinsdorf. Ihre Brust war mit
neuen Hoffnungen gefüllt, und wo diese Hoffnungen sie im Stiche ließen,
richtete sie ihre Zuversicht auf die Auseinandersetzung mit Erwin.
Sie gehörte zu den Menschen, die sich leicht der Täuschung hingeben,
durch Reden, Erklärungen und Auseinandersetzungen könne der Lauf der
Geschehnisse gehemmt oder verändert werden.

»Melden Sie mich, ich muß Herrn Doktor Reiner dringend sprechen«, sagte
sie mit ihrer sanften Stimme zu Wichtel. Dieser zog die Brauen hoch,
zauderte einen Moment, verschwand aber dann im Speisezimmer. Nach einer
Weile kam er mit etwas verlegener Miene zurück und sagte: »Der gnädige
Herr bedauert unendlich, er kann nicht abkommen und bittet, ihn zu
entschuldigen.«

Helene zuckte zusammen. »Haben Sie ihm gesagt, daß ich es bin?« fragte
sie matt und geringschätzig. – »Sehr wohl.« Helene wurde totenbleich.
Die ungeheure Anstrengung, deren es bedurfte, sich vor diesem fremden
Menschen nichts merken zu lassen, rettete sie vor einer Ohnmacht.
Sie hörte lachende, scherzende Stimmen aus dem Zimmer schallen, und
auf einmal kam es über sie wie ein Rausch, wie eine Raserei der
Verzweiflung, die nichts mehr von Selbstschutz weiß, von Furcht und
Rücksicht. Sie eilte gegen die Tür, riß sie auf und trat wie eine
geisterhafte Erscheinung in das Zimmer, in welchem Erwin mit drei
jungen Männern am Tische aß. Erwin befand sich der Tür gegenüber. Er
stellte das Weinglas, das er in der Hand hielt, neben seinen Teller
und erhob sich. Ebenso langsam, wie er das Glas hingestellt hatte,
verzog sich das heitere Lächeln, mit dem er am Gespräch teilgenommen.
Es herrschte ein tiefes Stillschweigen; die Gäste blickten erstaunt auf
die junge Frau. Erwin gewann sogleich seine Fassung; er ging Helene
entgegen und sagte höflich und anscheinend bestürzt: »Sie sind es,
gnädige Frau! Davon hatte ich ja keine Ahnung! Was ist vorgefallen?
Darf ich bitten, mir zu folgen?«

Er entschuldigte sich bei seinen Gästen, öffnete die Tür gegen den
linken Flügel des Hauses und ließ Helene, die mit halbgeschlossenen
Augen mechanisch schritt, vorausgehen. Dann übernahm er die Führung und
machte erst in dem kleinen Gemach am Ende der Flucht halt. Hier war es
finster, er drehte das Licht auf und schloß dann die Tür.

»Ist es wahr? Du wußtest nicht, daß ich dich sprechen wollte?« fragte
Helene atemlos, mit einer Stimme, die zur flehentlichen Abbitte schon
bereit war.

Erwin blickte über sie hinüber. »Ich wußte es«, sagte er laut, fest
und mit starrem Mund. Dann erst heftete er die Augen auf die gleichsam
verlöschenden Züge Helenes; er setzte sich in einen Stuhl und
verschränkte die Arme über der Brust.

Helene sah in sein Gesicht. Es war ein anderes Gesicht, ein Gesicht,
das sie nie zuvor gesehen hatte, das sie nicht kannte und vor dem ihr
graute; ein Gesicht, in welchem kein Funke mehr von Zärtlichkeit, von
Beredsamkeit, von Milde, von Tröstung, von Offenheit war, ein kaltes,
steinern-gleichmütiges und erbarmungsloses Gesicht; ein furchtbares
Gesicht.

Helene glaubte zu spüren, wie ihr Herz starb. Sie mußte sich abwenden.
Sie wunderte sich, daß sie die Gegenwart dieses Gesichts ertrug, ohne
zu schreien, wie man beim Anblick eines medusischen Schreckbildes
schreit. Sie wunderte sich über die Art, wie sie aus dem Zimmer ging
und den Weg zum Vestibül fand. Beim Tor der Halle holte er sie ein,
sagte etwas, was sie nicht verstand, und entließ sie mit höflicher
Verbeugung.

Sie kam nach Hause und wunderte sich, daß alles noch so war wie
am Nachmittag. Sie nahm den Hut ab, legte sich auf einen Diwan,
lag Stunden und Stunden, und als es Tag wurde, wunderte sie sich
darüber. Sie erhob sich, ging zu ihrem Schreibtisch, suchte alle
Briefe und Aufzeichnungen zusammen, die sie hätten verraten können,
warf alle Papiere in den Ofen und verbrannte sie. Dann ging sie
ins Badezimmer, ließ warmes Wasser in die Wanne laufen und, bevor
sie sich entkleidete, trat sie ans Fenster, das nach dem Lichthof
führte. Sie schaute in die Tiefe hinunter. Nach dem Bad kleidete sie
sich sorgfältig an und frisierte sich ebenso sorgfältig, wie wenn
sie ins Theater wollte. Hierauf ging sie ins Zimmer ihres Kindes,
das noch schlief und küßte es auf die Stirn. Als sie wieder am
Fenster des Badezimmers stand, zogen einige Spatzen pfeifend über
den Himmelsausschnitt droben. Von einer Küche im untern Stockwerk
klang Tellergeklapper und dazwischen ein schrilles, elektrisches
Glockensignal herauf. Morgen wird es genau so sein, überlegte sie, auch
übermorgen, vielleicht in hundert Jahren noch. Mit einiger Anstrengung
setzte sie sich auf den schmalen Sims, und sie wunderte sich, daß sie
etwas tun wollte, was so abschließend und so mutig war. Sie glaubte
noch nicht, daß sie es tun würde; ihre großen Kinderaugen leuchteten
noch einmal schmachtend und verlangend auf. Aber da gewahrte sie das
Gesicht in der Luft, das andere Gesicht. Sie ließ die Hände los und
sank ohne Laut in etwas unsagbar Weiches und Wollüstiges hinein. Sie
sah die verblüfft glotzenden Augen einer Köchin an einem Fenster, und
ihre letzte Überlegung war: hoffentlich lieg ich nicht unschicklich,
wenn Leute kommen.




Reise und Rückkehr


Es war ein sehr heißer Tag. Frau Geßner hatte vom frühen Morgen an alle
Türen und Fenster aufgerissen, aber die Luft, dick und schwer, bewegte
sich nicht. »Wann werden wir nach unserm Dorf fahren, Gina?« fragte
Frau Geßner. Virginia sah unschlüssig vor sich hin. Ihr war, als müsse
sie sich zuvor noch einmal mit Erwin beraten, trotzdem sie überzeugt
war, daß sie seines Rates nicht bedurfte. Sie wußte längst, daß er
ihr Vorhaben mißbilligte; diese Mißbilligung war ihr gleichgültig;
desungeachtet konnte sie zu keinem Entschluß kommen.

Fortwährend sah sie Helenes Augen auf sich gerichtet, sah das
zierliche Gestaltchen mit den schmalen, etwas vorgedrückten Schultern.
Es konnte nicht spurlos an ihr vorübergehen, daß Frauen so vor ihm
zusammenbrachen, so entseelt, so aufgeblättert, so zerworfen. Es wissen
und davon gehört haben, ist ein anderes, als es sehen und miterleben.

Wie die Sonne ihre Glieder ins Schlaffe löste! Das Jahr hatte sie
verwandelt. Ein Bedürftiges war in ihr, das manchmal zu schwindelnder
Sehnsucht heranwuchs. Wenn sie sich dann vor den Menschen verbarg,
stockte ihr Blut in unbegriffenem Groll, und ihre Lider schlossen sich
vor gefürchteten Lockbildern. Was nutzte es, eine Miene zu tragen, die
verbietend war? Es war etwas aufgelöst in ihr. Ein Weg, den sie nicht
gehen wollte, den sie niemals gehen würde, schimmerte versprechend.
Langsam wurde der Schritt, belasteter der Fuß, unruhiger die Brust, und
von den Hüften empor zum Halse glitt ein lauer Hauch, der den Kontur
des Leibes empfinden machte, den Blick schamvoll von der Welt weglenkte.

Solche Nächte waren noch nie gewesen wie in diesem Jahr. Das Blühen
wogte bis über die Dächer, und in den Kellern sangen die Wurzeln. Der
Mond stand am Himmel wie eine feuergefüllte Schale, die leicht der
ausgestreckten Hand erreichbar schien, und aus fernen Wolken flammten
schweigsame Blitze. Da spürte Virginia nicht mehr die strenge Scheu,
die sie bis jetzt in ihren Gedanken der werbenden Liebe Manfreds
entgegengesetzt. Sie rief nach ihm in Heimlichkeit, sie begehrte seine
Nähe, wünschte seine Arme um sich geschlungen, und in einem Atem
schmolz sie hin und ward frierend ihrer Verlassenheit bewußt.

Sie hatte sich nach Tisch zu kurzem Ruhen hingelegt. Sie erinnerte sich
nicht, geschlummert zu haben, dennoch hatte sie geträumt. Seltsame
Dinge hatte sie gesehen. Sie stand in der Halle von Erwins Haus und
blickte durch offene Türen in die Zimmer, die gegen den Garten lagen.
Sie gewahrte in diesen Zimmern ungefähr acht oder zehn junge Mädchen,
alle mit ganz dünnen Schleiergewändern bekleidet, durch welche die
Haut leuchtete. Die Gewänder waren von reizvoller Verschiedenheit
der Färbung; eines war blattgrün, das zweite moosgrün, das dritte
scharlachrot, das vierte rosenrot, das fünfte saphirblau, das sechste
ockergelb, ein jedes war anders und alle stimmten zusammen wie Blumen.
Doch das Merkwürdige war, daß alle Mädchen schwarze Larven vor dem
Gesicht trugen. Sie sprachen nicht miteinander. Eine saß am Klavier und
spielte ein Menuett, die übrigen wandelten still durch die Räume, und
in ihrem Gang wie in ihren Gebärden war etwas planvoll Verführerisches,
das Virginia abscheulich erschien. Als sie sich von ihnen entfernte,
kam sie in ein Gemach, das sie vorher noch nie betreten hatte, und
sich umschauend gewahrte sie auf einem dunkeln Tierfell eine Frau, die
einen Knaben von großer Schönheit in den Armen hielt. Der Knabe mochte
ungefähr zwölf Jahre zählen, er hatte ein glühendes Gesicht, und seine
Augen glichen auffallend den Augen Helenes. Die Frau lächelte ihm zu,
war aber blaß und nachdenklich.

Das Beklemmende an dem Traum war, daß die Bilder und Vorgänge nicht
durch sich selbst bestanden, sondern daß sie von Erwin heraufbeschworen
schienen, der wie ein unsichtbarer Zauberer sie entfaltete und
vorüberziehen ließ. Virginia sträubte sich hartnäckig, doch es half
nichts, das Spukwesen besiegte ihren Widerstand, und endlich wünschte
sie nur, ihn zu sehen.

Als um fünf Uhr Erwins Chauffeur meldete, daß der Wagen da sei,
war sie schon fertig und mit dem Edeldamenkostüm bekleidet, in
welchem sie photographiert werden sollte. Doch Erwin hatte ein
Briefchen mitgeschickt, in dem er sie bat, ihm diesen Dienst heute
zu erlassen, sie möge aber doch zu ihm kommen, er müsse sie sehen,
denn es habe sich ein Unglück ereignet. Hastig zog sie sich um. Trotz
dieser Nachricht betrat sie die Villa mit einer noch fortwährenden
Verwunderung über ihren Traum und in einer schmerzlichen und
ungewohnten Sinnendämmerung. In der Halle standen kupferne Gefäße, aus
denen sich langstengelige weiße Lilien erhoben, und als Virginia in die
Bibliothek trat, gewahrte sie in der Mitte des Raums eine riesige weiße
Porzellanvase voll von weißen Rosen.

Sie war verwundert, daß Erwin ihr nicht entgegenkam, bemerkte aber
bald, daß er auf einer Ottomane lag, und erschrak über seinen Anblick.
Er war aschfahl. »Um Gottes willen, was ist Ihnen, Erwin?« fragte sie
stockend. Er antwortete nicht. Sie näherte sich ihm; in der Heftigkeit
ihres Mitleids und ihrer Angst kniete sie neben ihm nieder und
wiederholte ihre Frage im liebevollsten Ton.

Diese Stimme! dachte Erwin, entzückt, erschüttert, trunken von
Virginias dichter Nähe, diese Stimme! sie klingt wie ein Cello. Beinahe
hätte er die Arme um sie geworfen, aber: zu früh! warnte ihn seine
Vorsicht, zu früh!

»Helene Zurmühlen hat sich vom dritten Stock heruntergestürzt und ist
tot«, sagte er matt und versank wieder in sein bleiernes Hinbrüten.

Virginia faltete die bebenden Hände und blickte, auf dem Stuhl sitzend,
vor sich nieder, Tränen in den Augen. Schwer fiel es ihr aufs Herz,
daß sie das unglückliche Weib ohne Spruch und Verständnis hatte von
sich gehen lassen wie eine, die man verwirft. Und sie hatte das getan,
dieselbe Virginia, die solche Träume träumte! Erwin streckte seine Hand
nach ihr aus, als verlange er nach einem Halt. Sie glaubte eine Sünde
zu begehen, wenn sie ihm ihre Hand nicht darbot; und dann, sie wußte
nicht, wie ihr geschah, besaß er ihre Hand und sie hielt die seinige,
als bedürfe sie für ihre Schwäche eines Schutzes, für ihre menschliche
Verfehlung eines verzeihenden Worts, für ihren Traum einer Deutung.

Plötzlich zog sie die Hand wieder an sich, schaudernd und erkennend.
Mechanisch starrte sie die Hand an, die er gedrückt hatte; er hatte
die einzelnen Finger förmlich geliebkost. Nie war ihr eine Hand so
bloß erschienen wie die seine. Ein solches Gefühl hatte sie noch
niemals gehabt, seit sie lebte. Und vor den Augen die tote Frau mit dem
zerschmetterten Körper!

Virginia erhob sich, beengt, bestürzt, mit fliegender Glut auf den
Wangen. »Frau Zurmühlen war gestern nachmittag bei mir«, sagte sie.
Erwin richtete sich empor. »Bei Ihnen? Aus welchem Grund? Um mich zu
beschuldigen?«

»Nein, das nicht, das durchaus nicht«, versetzte Virginia bitter.

»Sie hat vergessen, daß eine Stunde der wahrhaften Treue ein ganzes
Leben voll unentschiedenen Schwankens aufwiegt«, sagte Erwin düster.
»Diese phantasielosen Frauen ohne Blut und ohne Wallung! Keine
Gegenwart besitzen sie, aber von jedem schönen Augenblick fordern sie
Ewigkeit, und jede freie Gabe soll an die Pflicht gebunden sein.«

Dies hatte Virginia nicht zu hören erwartet. »Natürlich, der Saft wird
ausgesaugt und die Hülle weggeworfen«, entgegnete sie, »und alles
übrige sind Worte und nicht einmal ein Leben gilt etwas. Sind sie dazu
gut, um zu sterben, die phantasielosen Frauen? Und die andern, die sind
da, um zu leiden.« Sie wandte sich ab und ging erregt gegen das Fenster.

Erwin stützte den Kopf in beide Hände. »Nein, nein, nein,« sagte er
leise und geheimnisvoll, »was uns zu den Frauen zieht und was uns von
ihnen scheidet, sind Dinge, die von der Tierheit kommen, und andere
Dinge, die unsagbar und traurig sind und viele Verheißungen enthalten
wie von einer besseren Existenz der Seele herüber.«

»Ach, Sie wollen mir damit sagen, daß ich Vorurteile habe«, unterbrach
ihn Virginia, indem sie sich umdrehte. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir
einmal von einem jungen Mädchen erzählt haben, das von einem Ihrer
Freunde verführt wurde und das sich dann ertränkt hat? Das hat mir sehr
leid getan, aber Sie sagten damals – erinnern Sie sich nicht?«

»Nein, ich erinnere mich nicht.«

»Sie sagten: schließlich ist auch die wohlschmeckende Himbeere nur ein
Unkraut. Seit der Stunde ist es für mich festgestanden: wenn vor Gott
und den Menschen entschieden werden müßte zwischen meinen Vorurteilen
und euern, wie soll ich sagen, euern Urteilen, die Wahl, Erwin, die
würde nicht lange dauern.«

Erwin verbarg sein Erstaunen. »Alles das trifft mich nicht«, versetzte
er zögernd. »Ich habe Helene geliebt. Ich liebte sie, weil ihr Haar
einen unaussprechlichen und unvergleichlichen Geruch besaß, einen
Geruch nach Milch und Heu und warmem Harz, und weil es mir den Sinn
verrückte, wenn mich diese Welle von Duft traf. Und auch deswegen
liebte ich sie, weil sie auf eine Art zu erröten wußte, die ich bei
keiner andern Frau getroffen habe. Wenn ich in das Zimmer trat,
errötete sie. Es war, als würde sie ganz Herz, vom Kopf bis zum Fuß;
sie machte damit jede Stunde des Tags zu einer Liebesstunde, schuf eine
zarte Halbtrunkenheit und gab sich hin durch Blick und Gebärde schon,
ohne zu feilschen.«

Virginia antwortete nicht, und Erwin beobachtete gierig, wie sie nun
selbst errötete, ganz langsam, von den Schläfen aus über die Wangen
herab bis zum Hals. Ihre Brauen waren zornig zusammengezogen, und ihre
zu Boden gesenkten Augen irrten unruhig hinter den Lidern. Sie schickte
sich an zu gehen. »Verlassen Sie mich denn, Virginia? Freundin?« fragte
Erwin leise, indem er zu ihr trat.

»Ja, bitte«, flüsterte Virginia, wagte es aber nicht, ihn anzuschauen.

»Was wird morgen sein?« fuhr er mit bedeutsamem Nachdruck zu fragen
fort, von ihrer Befangenheit beglückt.

Sie zuckte die Achseln.

»Ich komme nach Tisch zu Ihnen. Ich habe noch viel mit Ihnen zu
sprechen, Virginia.«

Ein geschwindes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Auf Wiedersehen«,
sagte sie hastig und ging. Ihr Entschluß war gefaßt. Das Einverständnis
mit der Mutter war rasch getroffen. Am Abend wurden noch die laufenden
Rechnungen in der Nachbarschaft beglichen und Koffer und Körbe gepackt.
Frau Geßner war überzeugt, das alles entspreche einer Abmachung mit
Erwin. Am nächsten Vormittag um elf Uhr fuhren Mutter und Tochter in
einem reisemäßig bepackten Zweispänner zum Aspangbahnhof.

Als Erwin einige Stunden später vergeblich an der Wohnungstür läutete
und dann vom Hausmeister erfuhr, die beiden Frauen seien aufs Land
gereist, erbleichte er vor Wut. Man hat mich übertölpelt, knirschte er.
Außer sich fuhr er nach Hause und wußte nicht, was tun, was denken. Ihr
nachzufahren, wäre die größte Dummheit, die ich machen könnte, sagte er
sich; nein, nein, meine Liebe, ich werde dich aushungern, du sollst in
die Ketten beißen, die dich halten, und an den Riegeln zerren, hinter
denen du gefangen bist. Rufen sollst du mich, du sollst mich rufen.

Drei Tage nachher erhielt er eine offene Karte von Virginia; sie
schrieb, daß sie sich wohl fühle und in dem entlegenen Dörfchen sich
der gewünschten Stille erfreue. In der ersten Nacht habe sie mit der
Mutter im Gasthaus logiert, doch gestern hätten sie eine kleine
Villa unfern vom Wald gemietet, darin wohnten sie ganz für sich. Ein
trockener Gruß schloß den Bericht, der nicht kümmerlicher hätte sein
können.

Erwin zerfetzte die Karte und trat mit den Füßen auf die Stücke. Er
begab sich in das obere Stockwerk der Villa, öffnete ein geräumiges
Zimmer, das gegen den Garten lag, riß Jalousien und Fenster auf und
betrachtete prüfend die Einrichtung des Gemachs, das mit blauem
Seidenstoff tapeziert war und köstliche Altwiener Möbel hatte. Er
läutete; Wichtel kam. »Rufen Sie den Gärtner und den Hausmeister,«
befahl er, »es muß hier umgestellt werden; das Bett, der Kasten und der
Waschtisch aus dem grünen Fremdenzimmer sollen hier herüber. Sie gehen
in die Stadt und besorgen, was auf dem Zettel da aufgeschrieben ist.
Die Adressen der Firmen stehen dabei.« Er reichte Wichtel ein Blatt
Papier, auf dem die vorzunehmenden Einkäufe in langer Reihe notiert
waren: Toilettegegenstände, Parfüms, Leibwäsche, Morgenröcke, alles von
ersten Lieferanten. »Nehmen Sie drinnen einen Wagen und bringen Sie die
Sachen gleich mit heraus«, sagte Erwin.

Nach Verlauf von zwei Stunden kam Wichtel zurück. Es war ihm in den
Preisen ziemlich freie Hand gelassen worden, und er hatte selbst
gewählt, nicht zur Unzufriedenheit seines Herrn. Erwin hatte die neue
Einrichtung des Zimmers, welches das entlegenste und stillste des
ganzen Hauses war, sorgfältig überwacht, hatte Bilder an die Wände
gehängt, allerlei Kleinplastiken aufgestellt, geschliffene Karaffen und
feines Porzellan; nun brachte er die Wäsche und Kostüme selbst in den
Laden und im Schrank unter, und als alles geschehen war, durchmusterte
er mit Genugtuung den Raum, der einen heiteren und empfangsfrohen
Anblick bot. Er ließ Jalousien und Fenster wieder schließen, schaute
auf der Schwelle noch einmal in das dämmrig gewordene Zimmer zurück,
lächelte, als er ein schmales Sonnenband auf der blauen Seide der
Bettdecke zittern sah, sperrte dann die Türe zu und steckte den
Schlüssel in die Tasche. Im selben Augenblick erschallte dicht hinter
ihm ein helles, spöttisches Gelächter. Blitzschnell drehte er sich um.
Es war Marianne von Flügel. »Du hier?« fragte er erstaunt.

»Ja, ich, ich selbst«, erwiderte sie mit burschikoser Kopfwendung.

»Ich habe dich in San Martino geglaubt. Und wer hat dich denn da
heraufgeschickt?«

»Deine Leute; ich genieße Vertrauen hier. Aber du, was treibst du?
Dieses Zimmer sollt’ ich kennen. Hat es nicht vor Jahren die arme
Amelie Castro bewohnt, die einzige, der du sozusagen ein häusliches
Glück gegeben hast? – Soll es einen neuen Gast empfangen? Und warum
sperrst du zu? Ist der Gast noch so weit entfernt? Darf man das
Abenteuer noch nicht als erledigt betrachten?«

»Du fragst mehr, als man zwischen zwei Türen beantworten kann«,
versetzte Erwin stirnrunzelnd.

»Ich weiß, zudringlich wie immer«, sagte Marianne und schritt an seiner
Seite die Treppe hinab. Sie gingen auf die Terrasse und setzten sich
unter dem Schatten des aufgespannten Sonnendachs einander gegenüber.
Erwin blickte Marianne stumm ins Gesicht. Ihre Züge waren stark
gebräunt, der Ausdruck war energisch und kalt. Sie löffelte bedächtig
das Eis, das Wichtel gebracht hatte, und erzählte, daß sie ein paar
schwierige Bergtouren gemacht habe, daß sie Flirts gehabt, daß sie sich
aber zumeist gelangweilt habe. Sie leckte sich die Lippen, ließ sich
bequem in den Strecksessel zurücksinken und zündete mit der ihr eigenen
Behendigkeit aller Bewegungen eine Zigarette an.

»Die Geschichte mit Helene Zurmühlen ist recht fatal für dich«, sagte
sie leichthin. »Der Mann weiß zwar nichts; am Ende will er auch nichts
wissen. Ich habe mir berichten lassen, daß er Beweise sucht für eine
Untreue, die er in Wirklichkeit gar nicht bezweifelt. Er horcht die
Leute aus, um zu erfahren, was sie denken, weiß aber ganz genau,
was sie denken. Er hat immer schon Lunte gerochen, wie man so sagt,
trotzdem hat er in dem Wahn gelebt, daß ihn Helene adoriert, denn er
ist ein guter Sohn, ein anständiger Kamerad, ein tadelloser Bürger und
ein humorvoller Partner beim Kartenspiel. Er wird nichts unternehmen,
denn er scheut den Lärm, und er sagt sich wahrscheinlich: Was kann
ich gegen einen Erwin Reiner ausrichten? Natürlich, was kann er gegen
dich ausrichten? Die Kynasts aber sind durch Helenes Stubenmädchen
aufgeklärt worden, und sie werden alles tun, um dir zu schaden. Fritz
Kynast ist gestern nach England gereist; er soll seiner Mutter und sich
selber das Gelübde abgelegt haben, dich in einem Jahre, wenn die Welt
Helenes Tod vergessen haben wird, zur Rechenschaft zu ziehen. Also hüte
dich.«

Erwin lachte. »Ein neuer Laertes«, sagte er; »bravo. Aber du, Marianne,
beschämst jeden Detektiv.«

»Nimm es nicht frivol«, warnte Marianne, plötzlich ernst geworden; »es
ist eine Eigenheit der Gesellschaft, daß sie die tollen Streiche ihrer
Günstlinge so lange duldet, ja bewundert, bis ein Skandal erfolgt. Auf
einmal ist dann der Held ein Schurke. Du richtest eine Frau von gutem
Ruf zugrund; na, schön. Das macht dich beneidet und verlockend. Aber
laß einen Skandal daraus werden, und du bist gemieden wie einer, der
die Pest hat. Du solltest heiraten, das würde dir alle Unannehmlichkeit
ersparen.«

Mit zerstreuter Miene verfolgte Erwin die Mücken, die in den schrägen
Strahlen der Sonne schwärmten. Er riß eine Orchideenblüte aus dem
Strauß, der auf dem Tisch stand, roch mit oberflächlichem Behagen daran
und warf sie auf die Erde.

»Warum bist du eigentlich jetzt im Hochsommer in die Stadt
zurückgekommen?« fragte er.

»Das will ich dir verraten, Erwin; weil ich meinerseits heiraten will.«

»Heiraten? du? Ich gratuliere. Ein folgenschwerer Entschluß.«

»Ja. Denn, offen und ehrlich gesagt, ich stehe vor dem kompletten Ruin.«

»Und wer ist der Auserwählte?«

»Wer es ist? Du bist es.«

Erwin erhob sich. Über sein Gesicht zuckte es, halb von Ärger, halb von
Hohn. »Ich? Was Teufel! Wie willst du das anstellen?« rief er.

Marianne verfärbte sich, und mit einem seltsam wilden und nervösen
Lippenspiel antwortete sie: »Indem ich mich von dir heiraten lasse.
Du lachst? Du staunst? Das ganz Einfache ist immer erstaunlich. Ich
werde dich in meine Karten sehen lassen, und du wirst dich überzeugen,
daß sich die Partie längst auf diesen Schluß zugespitzt hat. Ich will
nicht davon reden, daß wir glänzend zueinander passen, daß wir viele
gemeinsame Interessen haben, daß wir einander nicht stören, uns hübsch
aus dem Wege gehen werden, wenn’s sein muß, uns friedlich verständigen
werden, wenn’s sein muß; daß du mich seit viereinhalb Jahren zu deinem
Dienstboten, deinem vertrauten Dienstboten gemacht hast, und daß du
dich nicht wundern darfst, wenn ich insgeheim, man ist ja nicht auf
den Kopf gefallen, die Maschinerie deines Lebens ein wenig studiert
habe und deshalb die Hebel und die Schrauben kenne. Die Dienstboten
sind heutzutage alle sozialistisch angehaucht, und so ein bißchen
Palastrevolution muß dir doch selber Spaß bereiten. Aber von all dem
will ich nicht reden. Die Hauptsache ist, wie gesagt, daß ich am Ende
vom Ende stehe. Und es könnte mir nicht einmal nützen, wenn du mir
zweimalhunderttausend Gulden schenktest. Ich muß der Sache von innen
her beikommen, ich muß einen neuen Menschen anziehen, ich muß eine
Position haben, ich muß, kost’ es, was es wolle, meine verlumpten
Brüder auf eine anständige Bahn bringen, und das kann ich nur durch die
Verwandlung und die Sicherheit, die mir dein Name und deine Stellung
geben. Was aber dich betrifft, so entgehst du durch die Heirat mit mir
der unabwendbaren gesellschaftlichen Ächtung. Der unabwendbaren, mein
lieber Freund, denn abgesehen von dieser Affäre mit Helene Zurmühlen
hast du auch noch eine kleine Duellgeschichte auf deinem Schuldkonto,
vergiß das nicht, und wenn die beiden Dinge mitsammen wirken, dann
ist die Lawine nicht mehr zu dämmen. Nun sieh selbst, gründlicher und
klarer kann man nicht sein.«

Erwin hatte sich wieder hingesetzt und starrte schweigend Marianne
an, die seinem Blick mit verwegenem Augenaufschlag standhielt. »Fein
gesponnen, bewundernswert fein gesponnen«, sagte er endlich nach
einer langen Pause. »Eine Erpressung von künstlerischer Akkuratesse.
Das leibt und lebt ja ordentlich und stimmt wie ein Uhrwerk. Aber
eine solche Genauigkeit, in menschliche Verhältnisse übertragen, wird
schon wieder zum Fehler. Ich beweise es dir, indem ich mich aus deiner
Rechnung schlankweg ausschalte. Ich bedaure herzlich, daß ich nicht
eine der Ziffern vorstellen kann für das Resultat, das du brauchst. Und
ich sehe mit Seelenruhe den Folgerungen entgegen, die du daraus ziehen
wirst.«

Marianne stand auf. »Gott, ich habe mir nicht eingebildet, daß du
gleich für mein Projekt zu haben bist«, erwiderte sie spöttisch. »Ich
habe noch Zeit. Vielleicht entschließest du dich in einigen Wochen; wer
weiß, was sich bis dahin ereignet. Deine Furchtlosigkeit imponiert mir
nicht, sie zeigt mir nur, daß du die Gefahr deiner Lage unterschätzest.
Du hältst dich für stärker, als du bist. Du bist die Kreatur der Welt,
die du zu verachten vorgibst, und eher würdest du in einer andern
Welt Schuhe flicken, als in der da zum gefallenen Mann werden, zum
Mann ohne Ehre. Die Geschichte mit dem Duell damals wird nicht mehr
als gelungener Witz passieren, deine Aktien stehen schlecht, so etwas
richtet sich eben nach der Konjunktur. Nun, ich muß laufen; hoffentlich
hör’ ich bald von dir. Adieu, mein Lieber.« Und mit unverschämter
Freundlichkeit streckte sie ihm die Hand hin. Erwin rührte sich nicht.
Sie zuckte die Achseln und ging.

In der darauffolgenden Nacht konnte Erwin nicht schlafen. Er verbrachte
die Stunden teils mit Lektüre, teils damit, daß er in seinem Geist die
Erinnerung an Kunstwerke sammelte. Jede Verdüsterung seiner Stimmung
führte ihn zur Kunst. Um drei Uhr morgens nahm er die Gedichte Ulrich
Zimmermanns zur Hand und fand sie dürr und allgemein. Er beschloß,
sich von Ulrich abzuwenden. Um vier Uhr ließ er die Gestalten der
übrigen Freunde an sich vorüberziehen und brach über alle den Stab, mit
Ausnahme von Palester. Ein dunkles Gefühl der Furcht vor Palester stieg
in ihm auf.

Er sehnte sich nach einem Jüngling, frisch wie der erste Lenztag, von
besonderem Geist und besonderer Rasse mit kleinen, reizvollen Zügen
einer gewählten Verderbtheit, lachend wie ein griechischer Gott und in
Freuden erfinderisch wie Petronius. Jedes andere Gesicht, das er sich
im Vergleich dazu vorstellte, erschien ihm gewöhnlich. Die Welt war
zu gewöhnlich. Er bäumte sich unter dem Druck seines Geschicks, einer
Epoche des Stumpfsinns, der ehrlosen Streberei, der uninteressanten
Anständigkeit zuzugehören.

Drei Tage später war er in Sankt Moritz. Er lernte eine junge Russin
kennen, die durch ihre fabelhaften Toiletten Aufsehen erregte, und
reiste mit ihr nach Aix-les-Bains. Und wie er es in jener schlaflosen
Nacht vorausgelebt, begegnete er dort einem Jüngling von großer Anmut,
vollendeten Manieren und einer geistigen Empfänglichkeit, die auf
ebensoviel Gelüste wie frühe Erfahrungen hinwies. Er war der Sohn eines
deutschen Diplomaten, in Eton erzogen, und befand sich mit seinem
Hofmeister auf der Reise von Paris nach Italien.

Es gelang Erwin, jene Glut der Gefolgschaft in ihm anzufachen, die
in jungen Jahren ein Bedürfnis der Seele ist und deren Verlauf oft
das Schicksal der späteren lenkt. Rolf von Hendrichsen verließ seinen
Begleiter und fuhr mit Erwin bei Nacht und Nebel davon. Sie standen
in Mailand vor Lionardos zerstörtem Abendmahl; sie schwelgten in der
Ergriffenheit, die in Verona eine Besichtigung der Skaligergräber bei
Fackellicht erzeugte, sie träumten in den verwilderten Gärten und
toten Palästen Ferraras, wandelten am Strand von Ravenna im Mondschein
durch den düsteren Pinienhain, bestiegen in Ancona ein Schiff und
fuhren nach Tunis, und sie ritten in die Wüste, und Erwin rief: »Hier
bin ich einsam, hier bin ich fremd«, doch mit einem Ausdruck, als ob
die Wüste seine Heimat wäre.

Indessen hatte Rolfs Entfernung unliebsamen Lärm verursacht. Der
Hofmeister hatte nach Berlin telegraphiert, Verfolgung wurde
beschlossen, und die Angehörigen des Jünglings hatten Mühe, ein
öffentliches Ärgernis zu verhindern. In Syrakus wurden die beiden
Freunde durch ein ganzes Aufgebot von Amtshaltern aller Gattungen
überrascht; schließlich wandte sich alles zum Guten, ein Baron
Marlotti, Sendling und Bevollmächtigter der Familie Hendrichsen, ein
feiner, edler Greis, bezeugte der empörten Beredsamkeit Erwins seine
Anerkennung und sandte den Eltern beruhigende Nachricht. Eines Abends
saßen die drei so verschiedenen Männer auf einer Hotelterrasse in
Taormina, hoch über dem Meer. Rolf sollte am andern Morgen mit Herrn
von Marlotti heimwärts reisen, und man war in Abschiedsstimmung. Man
sprach von der Freundschaft, von der Liebe, von der Jugend, von der
Schönheit, lauter Dingen, die nach Erwins und Marlottis Übereinkunft
verloren gegangen seien wie die Ingredienzien zum Stein der Weisen.

Die Liebenden erkenne man an einer gewissen Harmonie zwischen Blick und
Mundlinie, behauptete der Greis; bei Männern, die von einer wirklichen
Leidenschaft besessen seien, verändere sich wie bei schwangeren Frauen
das Antlitz in einer zugleich übersinnlichen und animalischen Weise.
Er ließ durchblicken, daß er Erwin für einen dieser Besessenen halte.
Erwin schüttelte seufzend den Kopf. »Zu vieles ist mir teuer und
unentbehrlich«, erwiderte er; »ich liebe die Luft, das Blatt, den Baum,
die Nacht, ich liebe Piero della Francesca und Alfieris Myrrha, ich
liebe die Stirn, den Atem, die Hand, den Schritt einer Frau, aber ich
kann nicht auf die Blume verzichten, wenn ich nur dadurch allein die
Frau gewinnen würde.«

»Jetzt spielst du Komödie«, warf Rolf ein und fügte gegen Marlotti
hinzu: »Er liebt ein Mädchen, das so vollkommen ist, daß sie sich ihm
versagt.«

Erwin lächelte. Er begann von Virginia zu sprechen, zurückgelehnt
in einen schöngeflochtenen Stuhl, die Augen gegen den dunklen Atlas
des gestirnten Himmels gerichtet. Die hinreißende Kraft seiner Worte
erweckte ein großes Gefühl in den Zuhörern; doch was war das? War das
noch Virginia, in der die Natur Bescheidenheit so hoch geadelt hatte,
das Weltkind in seinem stillen Flor? Hier wandelte die Verderberin,
herrlich schimmernd erhob sich über dem Sumpf der Großstadt das
unergründliche Sinnbild des Verderbens, gekleidet in die Unschuld.

Es war interessant, es war lehrreich, und es war schauerlich. Ein
Gesicht ist hierher gewendet, und ein Gesicht ist dorthin gewendet;
hier ein loderndes und stolzes Gesicht, dort ein banges Gesicht,
ein wissendes Gesicht, ein schuldiges Gesicht, ein sehnsüchtiges
Gesicht. Und alles, was so klar, so gewachsen war, so Glied an Glied
gekettet wie von der geschicktesten Hand gefügt, das war in seinem Mund
problematisch und voll Dämonie. Und er spürte, wie er Virginia haßte,
unsäglich haßte, und wie er sich selbst gemalt, indem er sie gemalt.

Eine Wahrsagerin trat an den Tisch. Rolf bekam aussichtsreiche Dinge
zu hören. Zu Erwin sagte die hohläugige Alte, nachdem sie seine Hand
betrachtet: »Verführung, Kerker, Tod«. Die jungen Leute lachten,
Marlotti blieb ernst. »Nun,« meinte Rolf schmunzelnd, »es ist nicht so
unwahrscheinlich.«

»Verführung und Kerker,« antwortete Erwin, »das ja, an den Tod glaub
ich nicht.«

Er war dann allein im fremden Land. Er erhielt einige Briefe von Frau
Geßner. Er wurde aus keinem dieser Briefe klug. Sie hatte von Edlitz
aus die Wohnung in der Piaristengasse doch gekündigt, war für zwei Tage
in die Stadt gefahren und hatte eine kleine Gartenwohnung in Gersthof
gemietet, nur eine Viertelstunde von Erwins Villa entfernt, wie sie ihm
gefällig zu verstehen gab, als wäre dies ein Mittel, ihn rascher zur
Heimfahrt zu treiben oder Erklärungen über die Gründe seiner Abreise zu
erhalten. Unumwunden zu fragen, hatte sie nicht gewagt. Von Virginia
schrieb sie nichts.

Erwin antwortete wie jemand, der sich einem verzweifelten Rausch
ergeben hat, um zu vergessen. Er schlug alle Töne an von der Müdigkeit
bis zur Wut, von der Erbitterung bis zur süßesten Elegie, um durch
das Herz der Mutter hindurch Virginia zu bewegen. »Eine Zeile von ihr
wäre mir so viel wie einem Fieberkranken das Chinin,« schrieb er,
»ihr Schweigen ist wie Vitriol auf eine Pflanze.« Nichts; umsonst. Er
schreckte nicht davor zurück, Erlebnisse mit Frauen anzudeuten, wie er
verschmähe aus Ekel oder die Arme ausstrecke, nur um zu vernichten.

Dann schrieb er ihr selbst. Niemals waren solche Briefe aus der Hand
eines Mannes zu einer Frau gegangen. Vielleicht nie zuvor hatten Worte
der Leidenschaft mit so versteckter Glut aufgeleuchtet, war Offenbarung
so in Heimlichkeit, Schmerz so in Ergebung, Wille so in Schmerz gehüllt
und alles wieder, Sorge, Mitleben aus der Ferne, Sehnsucht und das
Feuer der Seele in solchem Grade meisterhafte Berechnung gewesen.
Virginia mußte zum Erbarmen überwältigt werden. Sie mußte erzittern, in
ihrem Gemüt mußte ein gepeinigtes Abwenden sein und eine Begierde nach
Auflösung rätselhafter Art. Aber sie antwortete nicht.

Er blieb in Rom. Er biß nachts in sein Kissen vor Ungeduld, aber er
blieb. Da erhielt er Ende August einen Brief von Frau von Resowsky.
Sie schrieb, es sei ein höchst albernes Gerede von einem fingierten
Duell zu ihren Ohren gedrungen, er müsse das Gerücht um jeden Preis
ersticken und den Verbreiter zu fassen suchen, noch sei es Zeit, die
meisten Leute noch auf dem Land, wenn einmal der Klatsch Boden gewonnen
habe, werde es nicht mehr möglich sein, ihm zu begegnen, er sei seinen
Freunden schuldig, sich zu rühren, vornehmes Abwarten habe keinen Sinn,
zumal seit dem Tod der jungen Frau Zurmühlen üble Dinge auch darüber
gemunkelt würden.

Zwei Stunden darauf saß Erwin in der Eisenbahn. Der Gedanke, zu spät
erwogen, daß Virginia von dem lästerlichen Unfug erfahren könne, machte
ihn bleich vor Scham. An einem Sonntagmorgen traf er in Wien ein und
benachrichtigte Marianne sogleich.

Sie kam. Sie sah abgehärmt und müde aus. Nur ein schillernder Glanz
in den Augen verriet eine gleichsam festgefrorene Energie, welche die
Triebkraft einer Wahnidee besaß. Die durchlebte Einsamkeit veranlaßte
Erwin zu Betrachtungen von nicht ganz selbstischer Art. Er sah im
Geist eine Marianne, von der noch nicht der Blütenschnee der Jugend
abgestreift war, das leichte Kind, den Genossinnen von Spiel und
Tanz noch nicht entführt, noch liebenswürdig in seinem Werben um den
Prunk der Welt und um die Liebe der Herzen, noch nicht enttäuscht von
treulosen Liebkosungen, noch nicht entsittlicht und erschöpft.

Freilich, dies erbitterte ihn, daß sie sich erschöpfen ließen. Da war
keine Lockung mehr.

Selbst das Auge, dieser Inbegriff des Lebendigen, das ihn stets
belebte, stets gewann, es versagte. Er wurde hart. Anstatt zu bitten,
forderte er. Marianne lachte ihn aus. Sie schickte sich an, zu gehen,
er hielt sie zurück. Noch eine Viertelstunde, und sie sprachen vertraut
miteinander. Sein Wesen verriet ihr, was an ihm nagte; kaum konnte sie
ihren schmerzlichen Neid verbergen. Sie überschüttete ihn mit Hohn, und
er schien ihr Recht zu geben, aber sein unsinniges Verlangen wuchs,
indem er sich preisgab. Marianne brauchte nur den Namen Virginias zu
nennen, und Virginias Bild leuchtete durch die Mauer, strahlte durch
Marianne hindurch wie der Mond durch den Nebel.

Er griff sich an den Kopf. Ihm dünkte, er gewahre Virginia, wie sie den
Mond mit ihren Armen umfaßt hielt, damals am Wasserbecken im Garten,
das Antlitz hingewendet, aufgereckt zu höherer Schlankheit, unwissend,
daß ihre Gebärde in einer schwer zu beschreibenden Weise nicht mehr
ganz schamhaft sei, doch gerade nur so, daß erst der Schamloseste
der Schamlosen davon geheimnisvoll befeuert werden konnte. Deine
Himmelshöhe kann mich nicht verhindern, nach dir zu greifen, dachte er,
und seine Augen feuchteten sich vor Zorn. Widerstehe! rief ihm eine
Stimme zu, und es dünkte ihn ein Widerstand, ein Ruhen, ein Herabzerren
ihres Bildes, wenn er tat, was Marianne von ihm wünschte. Der wildeste
Trotz schäumte in ihm, und er sagte sich: auch wenn ich dies täte, auch
dann wärst du mir noch sicher, auch dann noch müßtest du mein werden,
auch dann noch! Und wie verführerisch, Marianne den Beweis zu liefern,
daß sie seine niedrigste Dienerin würde, indem sie ihn in ihrer Macht
wähnte.

Er hätte sich’s am Ende zugetraut, die schimpflichen Gerüchte zu
ersticken und Mariannes Entwürfe zu durchkreuzen, aber mehr als den
gesellschaftlichen Sturz fürchtete er jetzt die Zersplitterung seiner
Kräfte. Alles erschien ihm wesenlos, was nicht zu dem einen Ziel
führte, und er glaubte sich an Marianne wie an dem ganzen Geist der
Gesellschaft schon durch die ungeheure Verachtung zu rächen, die er den
Einrichtungen entgegensetzte, welche für heilig und nicht verletzbar
galten.

»Gut, ich werde dich heiraten«, sagte er gelassen, »jedoch knüpfe ich
zwei Bedingungen daran. Du gehst zur Baronin Resowsky und erklärst ihr,
daß ich mich mit deinem Bruder Sixtus geschlagen habe. Ich nehme als
selbstverständlich an, daß du beim Legen der Schlingen deine Person
nicht derart bloßgestellt hast, um mir diesen Ausweg zu verrammeln.«

»Gewiß nicht.«

»Du gibst das genaue Datum an, das mit den damals erschienenen
Zeitungsnotizen übereinstimmen muß. Frau von Resowsky wird dann Sorge
tragen, daß man im Klub erfährt, wie sich die Sache verhält. Die zweite
Bedingung ist, daß unsere Ehe vorläufig geheim bleibt und erst, wenn
ich den Augenblick für geeignet halte, zur Kenntnis der Welt gelangt.
Keinesfalls vor Ablauf von zwei Monaten. Bis dahin bleibst du auf
meinem Landgut bei Takern in der Steiermark.«

»Ich verstehe«, erwiderte Marianne blaß und mit boshaftem Lächeln.

»Bist du damit einverstanden?«

»Ja.«

»Ich habe dein Wort?«

»Du hast mein Wort.«

»In acht bis zehn Tagen können wir in Ungarn getraut werden. Von einer
kirchlichen Zeremonie ist natürlich keine Rede. Unmittelbar nach der
Trauung reisest du nach dem Gut, und niemand erfährt deinen Aufenthalt.
Die Geldsummen, die du brauchst, werde ich dir durch meinen Advokaten
anweisen lassen.«

»Ich verstehe«, antwortete Marianne.

»Bleibt es dabei?«

»Es bleibt dabei.«

Marianne spürte die Erniedrigung und erkannte sein Va-banque-Spiel.
Ihre Brust war voller Kälte, und der Sieg stimmte sie nicht
zuversichtlich. Sie hatte Angst um sich, Furcht vor Erwin, und der
tödlich verwundete Stolz hatte keine andere Zuflucht als die Erinnerung
an eine Liebe, die fern war wie ein Kindheitstag. Es war, unbewußt,
die letzte Hoffnung gewesen, daß Erwin ihren Stolz, den sie selbst
zertreten, großmütig wieder aufrichten werde. Dies hätte sie ihm
überschwänglich danken, dafür hätte sie hinsinken können, doch nun war
alle Herrschaft im Bösen.

Am sechsten September fand in Preßburg die standesamtliche Verbindung
in größter Heimlichkeit statt. Als Zeugen dienten der Gutsverwalter
aus Takern und dessen Sohn. Vor dem Rathaus wartete der Wagen mit dem
Reisegepäck. Frau Marianne Reiner fuhr allein zum Bahnhof.




Feïnaora


Geselligem Verkehr entsagend, war Erwin auch für seine nächsten
Freunde nicht mehr zugänglich. Er brach eine Arbeit von leichter
Haltung ab, um sich der schwierigen und profunden Untersuchung
eines mathematisch-philosophischen Themas zu widmen: »Der Begriff
der Konstante und die moralische Idee«. Er konnte, er mußte bis
zur äußersten Anspannung tätig sein, um nicht dem Gefühl einer
Leere zu verfallen, das ihn rasend machte wie Zahnweh, ihn vor sich
herabwürdigte und unerbittlich zu den Menschen trieb.

Menschen! Was waren ihm die Menschen! Er benutzte sie, er probierte
sie, er genoß sie, er verwarf sie. Alle, alle, alle. Er hatte die
Wirkung gespürt, durch welche die genialsten Geister der Zeiten die
Menschheit in Atem hielten. Er hielt sich selbst in Atem, um Genialität
in sich zu spüren. Er lebte mit Keinem. Er lebte für niemand. Er
wandelte lächelnd auf einem Kirchhof. Er zerstörte, indem er lächelte.

Bei Tag verließ er nicht das Haus. In den Nächten fuhr er zur
Stadt und fand wunderliches Gefallen daran, verrufene Orte zu
besuchen, Tanzlokale letzten Ranges und Verbrecherkneipen. Es waren
Abhärtungskuren für die Nerven. Er nahm keinen Teil am Laster. Er war
nicht lasterhaft. Laster und Verbrechen fesselten ihn als Elemente der
sozialen Ordnung. Die Flut, in der er schwamm, hatte seinen Organismus
gestählt gegen den Wechsel von kalten und warmen Strömungen, und
sein Geist war wie der Gaumen der Tropenansiedler an die schärfsten
Reizmittel gewöhnt und ihrer bedürftig. Und so war es Würze, wenn er,
von den Schwaden des ekelsten Pfuhles umronnen, die Gestalt Virginias
emportauchen ließ; wenn das Bild vor ihm floh, stürmte er ihm nach
durch die Nacht der Gassen mit rachsüchtiger Brust.

Frau Geßner teilte ihm fast klagend mit, daß Virginia noch den ganzen
September auf dem Lande verbringen wolle. Er fand dieses Schreiben
gleichzeitig mit einem Brief Manfreds unter der eingelaufenen Post, als
er eines Morgens nach Hause kam. Er las den Brief des Freundes, und
seine Mienen hellten sich auf. Er lächelte und las aber- und abermals.
Dann steckte er es in die Brieftasche und ging auf und ab. Sein Gesicht
nahm einen inbrünstigen und frenetischen Ausdruck an, er preßte beide
Fäuste an beide Wangen und murmelte mit geschlossenen Augen: »Nun hilf
mir, Feïnaora, du Geschöpf der Inseln und des Meeres!«

Sonderbare Worte, deren Glut so unnatürlich wie geheimnisvoll erschien.
Noch einmal löste sich die Spannung, er fiel wie vernichtet in einen
Lehnsessel, schlief wie tot drei Stunden lang, und als er erwachte,
sah er zu seinem Erstaunen den Brief, den ihm Frau Geßner geschickt,
aufschlagen auf dem Tische liegen und gewahrte auf der Seite, die er
leer geglaubt, vier Worte von Virginias Hand: »Ihre Schutzbefohlene
grüßt Sie.«

Das waren die ersten und einzigen Worte von ihr seit mehr als sechzig
Tagen, dieser warnende, erinnernde und fast drohende Gruß. Erwin
schüttelte bedächtig den Kopf. Er rief Wichtel und befahl ihm, sofort
nach Edlitz zu fahren und für ihn Quartier zu machen. Er selbst fuhr am
Nachmittag mit dem Automobil.

Die Wohnung, mit der er in Edlitz vorlieb nehmen mußte, erregte
trotz schlimmer Erwartungen sein Entsetzen. Drei niedrige Zimmer,
mit verruchten Ölbildern behangene Wände, wacklige Stühle und ein
liliputanisches Bett. Wichtel hatte schon Erkundigungen eingezogen;
er beschrieb seinem Herrn, wo das Häuschen lag, in dem Virginia mit
ihrer Mutter wohnte. Es war zehn Uhr abends, als sich Erwin auf den Weg
begab. Alle Fenster der kleinen, hölzernen Villa waren dunkel. Nebenan
war ein Bauernhaus, zwischen den beiden Häusern war Wiese, etliches
Buschwerk und unter einem Weidenbaum mit tiefherabhängenden Zweigen war
eine Bank. Erwin setzte sich dorthin. Die Nacht war sternenhell. Oben,
inmitten des dichtrankenden Epheus, war ein Fenster offen. Es mochte
wohl Virginias Fenster sein. Da schlief sie also.

Sie schlief und sie träumte. Träume kommen sonst nicht im ersten
Schlaf, Virginia hatte aber jetzt eine sehr träumereiche Zeit. Sie
träumte, daß sie sich in einer fremden Stadt befand. Die Straßen sind
leer, es ist sehr kalt. Sie steht vor einem hohen Turm und schaut
hinauf. Unter dem Dach des Turmes ist ein winzig kleines Fenster. Sie
weiß, daß Manfred da oben wohnt und daß sie unbedingt zu ihm muß. Es
ist von Wichtigkeit, sie darf keine Sekunde verlieren. Sie gewahrt
sein Gesicht an der Fensterluke; es ist so klein wie eine Nuß, dennoch
unterscheidet sie die Züge mit unheimlicher Genauigkeit. Frohlockend
eilt sie in den Turm. Eine enge, finstere Treppe mit zahllosen steilen
Stufen muß erstiegen werden. Es ist schwer, sie wird müde, sie denkt:
warum kommt er mir nicht entgegen, um mir zu helfen. Da sagt ihr
jemand, den sie nicht sieht, daß er oben angekettet ist. Sie verdoppelt
ihre Eile, noch immer sind viele Stufen, es windet sich um die Mauer,
will’s denn kein Ende nehmen? Gott sei Dank, sie ist am Ziel. Aber was
ist das? Der Raum ist leer, kein Manfred zu sehen. Erschöpft lehnt sie
sich aus Fenster, das nun nicht mehr winzig ist, sondern riesengroß.
Sie starrt hinunter und hinunter und siehe da, Manfred geht unten auf
einem schmalen Weg und schaut herauf, verwundert, fremd, gleichgültig,
mit einem Gesicht, das klein wie eine Nuß ist, aber deutlich wie eine
Flamme. Das Gefühl der Vergeblichkeit all ihrer Anstrengungen, des
unabänderlichen Getrenntseins und der Gefahr, die zu wachsen scheint,
sie weiß nicht warum, entpreßt ihr einen lauten Angstschrei, und sie
erwacht.

Die Mutter rief von nebenan. Erst nach einer langen Pause antwortete
Virginia beschwichtigend und erhob sich dann, um, wie sie zu tun
gewohnt war, ans offene Fenster zu gehen. Ihre Blicke schweiften nach
oben und blieben an den Sternen haften.

Erwin hatte den Schrei gehört; nun sah er sie aus der Finsternis in
das bläuliche Licht hervortreten, das auch ihr Nachtgewand bläulich
schimmern machte. Wenig fehlte und er hätte den schützenden Schatten
verlassen, um ihren Namen zu nennen. Aber zum erstenmal ergriff ihn
Verzagtheit.

Diese Brust oben, sie atmete, im selben Rhythmus vielleicht wie die
seine; er fühlte die Nachtkühle über die leichtbedeckten Schultern
huschen und wie die Glieder fröstelten.

Spät ging er zu Bett. Da er schlecht schlief, schlief er lange. Er
schickte Wichtel mit dem Auftrag in die Stadt zurück, ihm sein Feldbett
zu holen. Als er vormittags gegen elf Uhr wieder vor dem Häuschen
stand, das etwa tausend Schritte vom Dorf entfernt war, sah er Virginia
auf der gleichen Bank sitzen, auf der er sie gestern belauscht. Ihr
helles Sommerkleid leuchtete durch die undichten Zweige. Sie hatte ein
Buch auf dem Schoß und blickte müßig vor sich hin. Sie vernahm seinen
Tritt und schreckte auf. Sie schauten einander gerade in die Augen.

»Erwin«, sagte Virginia.

Er nahm ihre beiden Hände, die sie ihm ohne Widerstand übergab. Ihre
Freude war so mit Furcht gemischt, daß sie sich des Eingeständnisses
von Schwäche, das in der hinstrebenden Bewegung enthalten war, erst
nach dem Gruß und Gegengruß bewußt wurde. Da gewann sie sich wieder;
mit trockenen Worten und Fragen verwischte sie die unwillkommenen
Zeichen, die zu viele einsame Stunden verrieten.

Frau Geßner atmete hoch auf, als sie ihn endlich angelangt sah. Sie war
redselig, neugierig, zapplig und etwas konfus. Da das Wetter schön war,
beschlossen Erwin und Virginia spazieren zu gehen. Virginia holte Hut
und Schal. Als Frau Geßner mit Erwin allein war, schwieg sie eine Weile
verlegen. »Was war denn eigentlich los?« fragte sie auf einmal hastig.
»Haben Sie sich mit ihr zerzankt? Es war kein vernünftiges Wort aus
ihr herauszubringen.« Ehe Erwin antworten konnte, kam Virginia zurück,
lächelte die Mutter flüchtig an und rief: »Gehen wir!«

Frau Geßners Blick verfolgte die beiden schlanken und beinahe gleich
großen Gestalten lange. Wie gut ihm der graue Dreß steht, dachte
sie, wie leicht und kerzengerade er schreitet; und sie, das weiße
Musselinkleid, die weißen Schuhe, der weiße Hut; »ein herrliches Paar«,
murmelte sie und seufzte.

Virginia und Erwin wanderten gegen die Hügel der sogenannten buckligen
Welt. Virginia dachte: er ist anders als in der Stadt. Erwin dachte:
sie ist dieselbe auch in der Natur. Die Natur erhielt ihre Belebung
erst durch sie. Virginia verschwieg ihre Betrachtung; Erwin äußerte die
seine. Das war der Unterschied. Er erzählte von seiner Reise, aber er
schien nicht bei der Sache. Virginia merkte es und teilte seine Unruhe.

Auf einem Hang ließen sie sich unter Tannen nieder. Virginia lag gern
in der Sonne, nur den Kopf barg sie im Schatten. Aber die Strahlen
fielen dennoch auf ihr Gesicht, und sie bedeckte die Augen mit dem
Hut. Im Innern des Geflechts entstanden regenbogenfarbige Perlen, in
denen sich ihre Wimpern spiegelten. Sie wandte den Kopf und roch die
säuerliche Feuchtigkeit der Erde.

»Wann haben Sie zuletzt von Manfred gehört?« fragte sie. – »Vor ein
paar Tagen«, erwiderte Erwin. – »So? ich bin schon seit vierzehn Tagen
ohne Nachricht. Was schreibt er?« – »Vielerlei.« – »Darf man’s nicht
wissen? Sind es Geheimnisse?« Sie schaute Erwin forschend an, denn
seine Miene erweckte ihre Aufmerksamkeit.

»Geheimnisse? Nein. Ich vermute nicht, daß Manfred Geheimnisse vor
Ihnen hat. Ich werde Ihnen den Brief vorlesen. Hat er Ihnen von
Feïnaora geschrieben?«

»Was ist das für ein Wort? Was bedeutet es?«

»So wird es zweifellos noch geschehen. Hören Sie zu.« Erwin setzte sich
aufrecht, nahm den Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las.

»Mein lieber Erwin! Ich habe seit Batavia keine Nachricht mehr von
dir. Bis in den indischen Archipel waren deine Mitteilungen von
dankenswerter Häufigkeit, wenn auch nicht so regelmäßig, wie ich
gewünscht hätte. Jedes Postschiff ist da ein Ereignis, und geht man
bei der Briefverteilung leer aus, so gleicht man einem Kind, das zu
Weihnachten keine Geschenke bekommt.

»Wir sind von Java über Sumatra, Celebes, Ambon, Neuguinea nach
Sydney und von da über die Cooks-Inseln hierher nach den Marquefas.
Von nun ab verlegen wir unsere Tätigkeit mehr nach Süden, und in den
Sommermonaten, also von Dezember bis März etwa, werden wir fern von der
übrigen Menschheit an den Grenzen der Antarktis weilen, eine Aussicht,
die nichts Verlockendes hat. Dann steuert der ›Phönix‹ heimwärts. Bis
Ende September treffen mich Briefe in Auckland auf Neuseeland, die
weiteren Stationen werde ich rechtzeitig melden.

»Wir haben viel und anstrengend gearbeitet. Ein Tagewerk, das in
unseren Breiten noch erfrischend wirkt, ist in den Tropen schon ein
Übermaß. Einige Mitglieder der Expedition sind vom Fieber nicht
verschont geblieben, und einen jungen Mann aus Magdeburg mußten wir
im Hospital in Sydney sterbend zurücklassen. Zwischen Malabar und
der Torresstraße ist der Körper stündlich in Gefahr, einer tödlichen
Erschlaffung zu unterliegen, und die Feste, die das Auge feiert,
müssen mit einem beständigen Kampf gegen den unsichtbaren Feind
bezahlt werden. Eine gewisse Enthaltsamkeit, die mir angeboren ist,
schützte mich mehr als meine Kameraden, die oft wie Gespenster auf Deck
herumwankten. Ich lebte meist von Früchten und Reis. Es wächst dort
eine Frucht, die Durianfrucht, wenn du die issest, lachst du vor Wonne.
Ein buttriger, nach Mandeln schmeckender Eierrahm gibt die beste Idee
davon, dazwischen kommen Duftwolken, die an Rahm, Zwiebelsauce, braunen
Sherry und anderes Unvergleichliche erinnern. Sie ist weder sauer noch
süß, sondern von einer würzigen Weichheit wie sonst nichts auf Erden,
und je mehr du verzehrst, je weniger kannst du aufhören. Aber diese
selbe Frucht, leider! verbreitet einen entsetzlichen Gestank, und
bevor man sie öffnet, scheint es einem unmöglich, sie an die Lippen zu
bringen. Das ist der Fluch irdischer Unvollkommenheit.

»Soll ich schildern? schwärmen? vom Danainen-Schmetterling erzählen,
von Tauben mit Korallenfüßen, von Schlangen und Urwäldern, vom Feuer
der Vulkane, von den Herrlichkeiten der Smaragd-Inseln, von Zuitenborg
oder der gewaltigen Tempelruine Boro-Budor? Das haben viele schon
getan. Meine Feder ist zu armselig. Diese Dinge bereichern, indem
sie entzücken. Anders der Mensch, die Kenntnis des Menschen; die
bereichert, indem sie erzieht. Es war mir ja nie einer gleichgültig,
der neben mir ging und dessen Namen ich nicht kannte. Zu Hause
beruhigt man sich bald, Gewohnheit und Anpassungszwang machen das
Fremde unscheinbar. In der Fremde ist es, als ob du nie ganz schlafen
könntest, man hat immer ein schlechtes Gewissen, braucht immer eine
tätige Rechtfertigung. Da ist der Heizer, der in der schauerlichen
Glut des Maschinenraums haust und wie ein Kerkersträfling durch den
Ozean fährt. Ist er nicht ein Sinnbild der Gefahr und ein Vorwurf
gegen meine Bequemlichkeit? Ich sehe den Chinesen, der fern von
seiner Heimat Rupie um Rupie erwirbt, fleißig und habgierig, der zu
fürchten ist, wenn er schweigt, überlegen, wenn er spricht und durch
Sanftmut seine Ausschweifungen verbirgt. Da ist der demütige Malaie,
der eitle Ambonese, der kindliche und wilde Papua, der Perlenfischer,
dessen Augen ermattet sind vom Halbdunkel unterm Meer und dessen
Haut verwaschen scheint und morsch von der Spülung und dem Druck der
salzigen Lauge. Dann triffst du die Goldsucher, die in einer durch
die Not geschmiedeten Kameradschaft die öden Steppen Australiens
durchziehen, um nach vielen Jahren im Sandgrund eines entlegenen
Flüßchens die Hoffnung auf den Reichtum greifen zu können, dessen
Eroberung die Kräfte ihres Körpers vollends verzehren wird; oder den
Farmer, der in einer Einsamkeit, wie wir sie nicht kennen, ja, die
wir nicht einmal zu ahnen vermögen, mit Dürre und Hochflut kämpft,
und den es sechs Monate voll aufreibender Strapazen kostet, wenn er
die widerspenstige Viehherde zum nächsten Markt an die Küste treiben
muß. Auch dem verlorenen Sohn Europas bin ich begegnet, der unter
mißtrauischen Ansiedlern eine neue Existenz gründet und dem von
frevelhaften Händen das kaum fertig gewordene Blockhaus in Brand
gesteckt wird; dem alten deutschen Arzt auch, in einer Schifferkolonie,
der seit siebenunddreißig Jahren an Heimweh nach seinem schwäbischen
Dorf krankt und weiß, daß er es niemals wiedersehen wird, weil es ihm
nicht gelungen ist, so viel Geld zu erwerben, um zu Hause mit Anstand
leben zu können.

»Es nimmt kein Ende, Freund. Du meinst, die Beispiele seien überall zu
finden. Das ist wahr. Aber warum schaut man heute ein Gesicht an, und
es bleibt stumm, und ein andermal spricht es, kündet die Verkettungen
des Schicksals? Man muß Schwamm sein, wenn einen der Zunder entflammen
soll. Forderst du Resultate, Vorsätze? Ich habe einen Sinn darin
entdeckt, daß ich bin, nämlich den, daß alle Andern mit mir sind. Ich
kann keinen von ihnen entbehren, weil sie mich brauchen. Klingt das
anmaßend, so füge ich hinzu: ich bescheide mich in meinem Kreis. Ich
höre auf, mich selbst zu genießen. Ich will arbeiten, um zu dienen.

»Lustig sind solche Erkenntnisse nicht. Man muß mit sich allein sein,
um sie zu finden. Die Teilnahme eines Freundes würde den Prozeß nur
trüben und verlängern. Nun denke dir meine Sehnsucht hinzu, mein
aufgestacheltes Gemüt! Abgeschnitten bin ich von mir selbst; meine
Adern sind zerteilt, die Hälfte meines Bluts fließt bei den Antipoden.
Die Ruhlosigkeit der Tage wird von der Qual der Nächte übertroffen,
Schreckbild überflügelt Schreckbild bis in den horchenden Schlaf. Ich
mag das meiner Virginia nicht einmal andeuten, ich kann es nicht;
das heitere Herz darf nicht mit Wolken überdeckt sein; ich will mich
in ihrem Urteil nicht herabsetzen durch diesen Aufruhr gegen das
Unabänderliche. Ich bemühe mich, ihr gelassen zu erscheinen. Aber meine
innere Verstörtheit und Benommenheit ist mitschuldig an einem seltsamen
Erlebnis, das ich dir erzählen will.

»Auf dem Kurs von Melbourne nach den Marquesas warfen wir vor Mangaia
Anker, einem lieblichen Eiland im Cook-Archipel. Wir wollten dort
nach Echinothuriden fischen; das sind eigentümliche, prachtvoll
gefärbte Seeigel, die ihre Platten durch ein besonderes Muskelsystem
gegeneinander verschieben können und deren Stachel einen Giftapparat
enthält. Einige junge Leute von der Expedition, darunter ich,
arbeiteten am Strand, und jeder schlief nachts in seinem Zelt. Eines
Morgens, meine Kollegen waren in Booten aufs Meer gefahren, trat ein
braunes Mädchen vor mich hin, nackt bis zum Gürtel, mit einem Rock aus
Grashalmen, so wie sie alle hier gekleidet gehen. Sie redete, jedoch
ich verstand natürlich nichts, nur ihren Namen verstand ich, weil sie
stets die Hand klagend auf die Brust preßte, wenn sie ihn nannte. Sie
hieß Feïnaora.

»Feïnaora folgte mir auf Schritt und Tritt. Die andern lachten, als
sie zurückkehrten und das anschmiegende Geschöpf bei seinem Tun
beobachteten. Von Fischern erfuhren wir, daß Feïnaora von ihrem Stamm
verstoßen worden war, aber den Grund wußten sie entweder nicht oder
konnten ihn uns nicht begreiflich machen. Immer wies ich das Mädchen
fort und immer kam es wieder. Sie warf sich auf die Erde vor mir und
brachte mir Muscheln, Krabben, Seesterne, kleine Schildkröten und
Kokosnüsse. Sie war nicht gerade hübsch, aber sie hatte sanfte Augen,
die mich rührten, einen zarten, blumenhaften Körper, kaum der Kindheit
entwachsen, ein scheues Benehmen und ein schmeichelndes Idiom voller
Vokale.

»Morgens kauerte sie vor meinem Zelt; abends kauerte sie vor
meinem Zelt. Rief ich ›Feïnaora!‹ so war sie schon bei mir wie ein
aufmerksamer Hund, trug Wasser und bereitete den Tee. Am letzten Abend,
bevor der ›Phönix‹ die Anker lichtete, brach ein Regensturm los und
Feïnaora kroch ins Zelt, um sich vor dem Unwetter zu schützen. Sie
mußte eine Ahnung des Abschieds haben, denn sie heulte mit sonderbar
wilden Lauten in die hohlen Hände. Ich wollte schlafen und gebot ihr,
stille zu sein. Der Schlummer kam, doch er war ohne Tiefe und ohne
Vergessenheit. Angstbilder wechselten mit freudigen Visionen, jene
so quälend wie diese. Wie ein Verschmachtender lag ich, die Gedanken
flogen durch den Raum zu meiner Geliebten, mir war, als müßt ich
sterben, ohne sie noch einmal umarmen zu können, ohne sie je umarmt zu
haben, ich spürte ihren Mund, und so, im Verlangen, in der Furcht, in
der Finsternis und Einsamkeit streckten sich meine Arme aus und sie
fanden Leben, Wärme, eine mitschaudernde Brust, eine Sendbotin von
der andern Hälfte der Welt, ein Herz schlug neben mir, ein liebendes
Menschenherz, und ich nahm, ich trank, ich erlöste mich aus dem Fieber
der Träume. Am Morgen sah ich mich allein. Feïnaora war verschwunden.
Es waren Leute im Hafen, die erzählten, daß einige Eingeborene in einem
Boot den Hafen verlassen und daß sie draußen einen der ihren in die
Wellen geworfen hatten; eine Stimme sagte mir, daß es Feïnaora war. Das
Meer hat ihre Seele ausgelöscht. Virginia hat es gefordert.

»Du lächelst, lieber Freund, du glaubst nicht an diesen Tod. Ich glaube
an ihn, obwohl ich dadurch vielleicht schuldiger werde. Oder, wenn dich
die moralische Wertung ungehörig dünkt, sagen wir nicht schuldiger,
sondern verstrickter. Ich dachte zuerst daran, Virginia das ganze
Vorkommnis zu verschweigen, denn, überlege nur, wie wird es möglich
sein, dies Widerspruchsvolle, dies Tier- und Traumhafte so zu fassen,
daß sie versteht, verzeiht, vergißt? Aber sie muß es erfahren, ich will
nicht monatelang mit bedrücktem Gemüt an sie denken und schreiben. Leb
wohl für heute, Freund, und behalte im Andenken deinen ewig getreuen
Manfred Dalcroze.«

Virginia starrte in die Luft. Ihr Gesicht war allgemach blaß geworden,
jedoch kein Spiel der Mienen verriet, was in ihr vorging. Sie lag auf
dem Rücken, hatte die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, und ein
Grashalm war zwischen ihre Lippen geklemmt.

»Er ist ein Narr«, rief Erwin ärgerlich und drückte den Brief des
Freundes in der Faust zusammen.

»Warum zerknüllen Sie denn den Brief?« fragte Virginia mit hartem
Blick; doch kaum hatten ihre Augen einander getroffen, so senkte
Virginia die Lider, eine verderbliche Röte zog über ihre Wangen, und
sie wandte, ebenso jäh sich entfärbend, den Kopf nach der andern Seite.

»Sind Sie am Ende so töricht, Virginia, das aufgebauschte Geschichtchen
ernster zu nehmen, als es im Grunde ist?« fragte Erwin sehr sanft und
mit vorsichtigem Mitgefühl. »Es ist nur gut, daß ich das Außenwehr bin,
an dem sich diese lächerliche Woge bricht. Er faselt ja, der Gute,
er faselt! Wozu spricht er von alledem? Wozu quält er sich? Jetzt
plötzlich möchte er gern an die Großmut des freien Weibes appellieren
und hat nichts für Sie getan, nein, Virginia, nichts, nichts, nichts.
Er hat Sie aller Waffen gegen menschliches Treiben beraubt, und nun
mag er sehen, wohin er damit geraten ist, da er fürchten muß, kein
Verständnis für das Natürliche und Alltägliche zu finden.«

Virginia rührte sich nicht. »Denken Sie nicht an Untreue, Virginia,«
fuhr er fort, »denken Sie nicht an Verrat. Wir Männer sind aus anderem
Fleisch als ihr. Unsere Treue ist von anderer Herkunft und wurzelt so
im Geist, daß, wenn ihr den Körper sündigen seht, die Treue manchmal
erst zur Blüte kommt.«

Virginia zuckte die Achseln. Es war, als ob ihr jemand mit vielen
Umschweifen gesagt hätte: morgen ist der zwölfte September. Ihr war
kalt, über und über kalt.

Sie stand auf und ging den Hügel hinab. Erwin folgte ihr und pfiff
leise. Schweigend wandelten sie über die Wiesenwege. Von den Bergen
her waren indessen große, schwarze Wolken heraufgezogen, und es
donnerte. Der Kirchturm des Dorfs war noch weit entfernt, als es
zu regnen begann. Virginia beschleunigte ihren Schritt nicht. Es
regnete heftiger, und zum Glück gelangten sie an ein Haus. Das Tor war
verschlossen; auf Erwins Pochen erschien ein Bauernweib, und da Erwin
bat, den Regen hier abwarten zu dürfen, führte sie die Fremden in ein
geräumiges und wohlausgestattetes Zimmer, dessen Sofa und Stühle mit
weißem Linnen überzogen waren. Es war ein Sommerhaus für Stadtparteien,
das in diesem Jahr nicht hatte vermietet werden können. Nachdem die
freundliche Alte ein Weilchen geschwatzt und nach Bauernart lamentiert
hatte, ließ sie die beiden allein.

In der Ecke stand ein Pianino. Erwin schob einen Sessel hin und
spielte. Das Instrument klang dünn und verstimmt. Als er sich nach
einer Weile umwandte, sah er Virginia mit bleichem Gesicht am Tisch
sitzen und lautlos weinen. Ihre Züge waren nicht im mindesten verzerrt,
die Tränen rannen still, wie unaufhaltsam herab, die Hände lagen im
Schoß. Als sie sich von Erwin betrachtet sah, erhob sie die Arme,
stützte sie auf den Tisch und legte die Hände vor die Augen. Erwin
schritt hin, faßte ihre Hände bei den Gelenken und bog sie auseinander,
wie man bei einem Gestrüpp tut, wenn man ins Innere eines Waldes
dringen will. Sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen und beugte es
tiefer herab. Er schob den Tisch zur Seite und kniete, als wolle er von
unten ihren Blick erhaschen. »Virginia«, flüsterte er, »Mut! Vertrauen!
Haltung!« Der Ton seiner Stimme machte Virginia vertrauensvoll. Sie
hauchte seinen Namen.

»Es war zu viel für dich«, sagte er langsam.

Dich? Für dich? Virginia stutzte. Sie glaubte nicht recht gehört zu
haben. Sie schaute ihm entsetzt in die Augen. So nahe, dachte er mit
Frohlocken, mit Furcht vor dem, was nun folgen würde, so nahe! Denn
er gewahrte jede einzelne ihrer feuchten, wunderbar emporgebogenen
Wimpern. Für dich? fragten ihre Augen, während sie sich vergrößerten.
Er packte ihre Schultern, sie aber, plötzlich aufschluchzend vor Scham
und Schrecken, stemmte beide Hände vor seine Brust und wollte sich
befreien. Er erhob sich. Er bohrte seinen Blick unwiderstehlich gegen
den ihren, in dem allmählich Angst und Haß sich zu flehentlicher Bitte
entschieden. »Nicht anrühren! nicht anrühren!« sagte sie schnell und
leidenschaftlich. Aber allmählich löste sich der Krampf ihrer Muskeln,
eine schlafähnliche Schwäche überfiel sie, trotzdem stand sie auf,
doch ihr Kopf sank sonderbar matt, Erwins Lippen fingen ihren Mund
wie etwas, das niederstürzt, wie man einen flügellahmen Vogel mit
den Händen fängt, und ihr Erbeben setzte sich durch seinen Körper in
elektrischen Wellen fort.

Er spürte ihre Brust, er trank ihren süßen Atem, er sah die
weißschimmernde Linie der Zähne durch die Lippen, die von keiner
natürlichen, eher von einer mechanischen oder kränklichen Bewegung
geöffnet waren, jede Sekunde verriet ihm beredter die Unentrinnbarkeit
des lebendigen Leibes, den er hielt, der hingeschmiegt war, dessen
Formen ihn bis in einen geisterhaften Jubel erhitzten und entzückten,
der immer schwerer wurde in seinen Armen, bis er gewahrte, daß er
eine Besinnungslose hielt, eine die wachsfahl dalag, hilfsbedürftig
geworden, in ein Intervall von Vergessenheit hinübergezogen, als ob die
Sühne für beleidigte Ehre und geschändeten Stolz erst nach einem kurzen
Tod zum Austrag gelangen könnte.

Und als sie die Lider aufschlug, als ihn das stählerne, feurig
fließende Blau ihrer Augen traf, als ihn dieser Blick traf, der
bis in den untersten Grund seiner Seele drang, da mußte Erwin einen
Rückzug von entscheidender Bedeutung antreten, der ihn fast wieder
an jene Schanzen warf, von wo er den Angriff einst begonnen. Sie
ist unvergleichlich, sagte er sich, und ich habe eine Dummheit
begangen, indem ich nach Analogien handelte, statt ihre Eigenart zu
berücksichtigen. Ich war zu wenig originell, das rächt sich.

Es war die Helligkeit eines Blitzes, die ihn erkennen ließ: das ist
Unschuld! Er hatte nicht daran geglaubt, niemals, im Innersten niemals.
Unschuld! Was war denn Unschuld? Sind die kleinen, liebevollen Mädchen
unschuldig, wenn sie ihre Sicherheit verteidigen? Die Frauen, wenn
sie den Preis zu niedrig finden, der ihrer Begierde zur Gewissensruhe
verhilft? Die furchtsamen Mädchen, die wissenden Frauen, die
schwankenden, ziellosen, hungrigen, kühlen? Hier war Unschuld eine
Kraft. Sie blendete ihn. Sie schmetterte ihn nieder, sie betrübte ihn.
Was für ein Gegenüberstehen war dies doch! Element und Wille; die
Schönheit und ihr Begehrer, ihr Verfolger, ihr Feind, ihr Sklave, ihr
Herr, ihr Schicksal.

Erwin war dermaßen in Gedanken versunken, die weitab lagen von den
bisherigen Gleisen, in Traurigkeit gesponnen, die fast ohne Bezug
war zur Gegenwart, daß er es kaum bemerkte, als Virginia das Zimmer
verließ, eilend, flüchtend und stumm. Bah, wir werden uns bald genug
treffen, dachte er mit verzerrtem Lächeln, als er sich allein sah. Nach
einer Viertelstunde regungslosen Brütens ging er gleichfalls. Er rief
die Bäuerin und gab ihr ein Geldstück.

Es regnete noch. Er beachtete es nicht. Er wählte sogar einen Umweg ins
Dorf.

In seinem Zimmer ließ er Feuer machen, um die Regenkälte zu vertreiben.
Was soll nun werden? grübelte er, vor dem Ofen sitzend. Sie ist im
Vorteil gegen mich. Ich habe sie unterschätzt. Man sollte denken,
es sei alles zu Ende. Aber wir fangen erst an, mein Liebchen, wir
fangen erst an. Ich darf sie nicht mehr lassen. Zurückweichen? jetzt?
unmöglich. Ich würde mir selber wertlos. Ich kann es nicht. Das
Gelingen wird mich nicht reicher machen. Erfolg ist nur Bestätigung,
nicht Vermehrung. Oh, wie sie mich zwingt, zu dem, was ich tue! Sie
reißt mich aus mir selbst heraus.

Statt friedlicher wurden seine Überlegungen aufgewühlter. Sie reißt
mich aus mir selbst heraus! Das war eines jener tiefen Worte, die nur
ohne Eitelkeit und Vorbedacht geprägt werden können. Der ungewohnte
Aufenthalt in einem lautlosen Dorf tat ein übriges, um seine Stimmung
zu verdüstern. Er las, er arbeitete an seiner Abhandlung über die
moralische Idee. Am Abend schrieb er einen ausführlichen Antwortbrief
an Manfred. Er fand es für gut, den Zwischenfall auf der Insel Mangaia
für eine reizende, aber bedeutungslose Legende im Stil von Montesquieu
oder Hearn zu erklären. Jedoch tadelte er den Freund lebhaft wegen
seines Liebesfiebers.

»Ich kann mir nicht helfen,« schrieb er, »in diesem Punkt erscheinst
du mir ein wenig geschmacklos und rückständig. Und du spürst es
selbst, wenn ich gewisse Äußerungen recht verstehe, in denen sich das
Bedürfnis ausspricht, deine Lebensinteressen mehr zu balancieren, sie
von einheitlicher Belastung durch Liebe zu befreien und ihnen ein
soziales Zentrum zu schaffen. Im zwanzigsten Jahrhundert repräsentiert
die Liebe nicht mehr. Ich kann eine Tyrannei des Gefühls nicht
billigen, die uns um den Genuß und die geistigen Ziele des Lebens
betrügt. Nenne mich darum nicht zielbewußt. Zielbewußt ist ein Wort
für die Statuten eines Schützenvereins. Ich bin nicht an der panischen
Flucht vor der Liebe beteiligt, ich fliehe sie nicht, ich halte ihr
stand. Doch ich kann nicht auf das Recht der schönen Selbstbestimmung
verzichten. Leidenschaften sind Arzneien des Geistes und Massagen des
Herzens. In der Liebe ist es wie in der Finanzverwaltung: ungesunde
Zölle richten den Haushalt zugrund, und Monopole schädigen den freien
Austausch. Du hast nicht wohl daran getan, dein polynesisches Erlebnis
ins Europäische zu übersetzen. Die Milderungsumstände, die du wie ein
gewiegter Jurist ins Feld führst, können nur dazu dienen, dir eine
ungerechte Anklage auf den Hals zu ziehen. So erklärst du die Treue als
ein Prinzip, und das ist verwerflich. Prinzipien morden die Jugend, das
einzige positive Gut des Lebens. Ich habe das Unheil, das für Virginia
daraus entstehen konnte, im Keim erstickt, indem ich sie vorbereitete.
Sie wäre zu einer Dummheit fähig gewesen, da sie nie einen Berater
hatte, der sie von den sinnlichen Vorurteilen ihrer Kaste befreite.
Jetzt magst du unbesorgt sein. Ihre Konstitution ist von der Art edler
Pferde, die bei sachgemäßer Behandlung stets das Außerordentliche
leisten, ein Vergleich, der nichts Anstößiges hat, wenn man, wie ich,
der Meinung ist, daß ein edles Pferd zu den vollkommensten Wesen der
Schöpfung gehört. Sie ist dazu bestimmt, zu triumphieren, und die
abgefeimtesten Dandies verlieren auf der ganzen Linie den Kopf. Graf
Hennsdorff versicherte mir, man müsse vor ihr niederknien. Er, vor dem
doch alles kniet! Leb wohl, Gott schenke dir Frieden und Vernunft.«




Das Bindende


Erwin arbeitete bis in den Nachmittag. Gegen zwei Uhr pochte es an
seiner Tür. Es war Frau Geßner. Verlegen und zögernd trat sie ein.
Erwin ging ihr höflich entgegen. Sie fragte, was zwischen ihm und
Virginia vorgefallen sei. »Nichts von Wichtigkeit«, antwortete er kühl.

»Dann weiß ich nicht, was das Mädel hat. Durchnäßt ist sie gestern
nach Haus gekommen und hat sich ins Bett gelegt. Ich glaube, sie hat
gefiebert. Hat auch kein Wort mit mir gesprochen, kein einziges Wort,
gestern nicht und heut nicht. Können Sie sich das erklären?«

»Ist sie heute aufgestanden?«

»Ja. Sie sitzt in ihrem Zimmer.«

»Was tut sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich werde mit Ihnen gehen.«

»Tun Sie das lieber nicht. Sie wird Sie nicht empfangen.«

»Ach? Sie wird mich nicht empfangen? Wie wird sie das machen?«

Frau Geßner zuckte die Achseln. »Ich wollte Vormittag zu Ihnen, sie hat
mir’s streng verboten. Was ist los? sag ich. Sie schaut in die Luft.
Jetzt hab ich mich weggestohlen.«

»Ich gehe mit Ihnen.«

»Sie wird eigensinnig, Erwin. Man macht sie krank, wenn man ihren
Eigensinn brechen will.«

»Wir werden sehn.«

Das ungleiche Paar ging über die triefenden Wege unter einem trüben
Himmel schweigend dem Landhaus zu. Das Häuschen hatte fünf bewohnbare
Räume, von denen zwei kaum als Zimmer anzusprechen waren. Unten lag
das Eßzimmer, daneben war die Küche und eine feuchte Holzkammer. Oben
war ein ziemlich großes Gelaß, das auf den Balkon führte; auf der
einen Seite dieses Raums war eine Türe zu Virginias Schlafzimmer, an
die andere stieß das Zimmer der Frau Geßner. »Habt ihr denn nicht Geld
genug, daß ihr euch in solche Käfige sperrt?« wandte sich Erwin auf der
Treppe an Frau Geßner.

»Es war nichts Besseres zu haben«, stotterte diese schuldbewußt.

»Ich habe euch Paläste angeboten«, versetzte Erwin zornig. »Gott
bewahre einen vor Krämer- und Spießervolk. Ich bitte um Verzeihung,
aber meine Geduld ist zu Ende.« Maßlos eingeschüchtert, vermochte die
Frau nichts zu antworten. Eine böse Ahnung überkam sie.

In dem großen Zimmer wartete Erwin, während Frau Geßner zu Virginia
ging. Er betrachtete die einfachen Zirbelholzmöbel, das plumpe,
rotüberzogene Sofa und die schmucklosen Wände. In der einen Ecke war
ein getünchter Steinofen, der häßlich und etwas beschädigt aussah.
Virginia hatte einen großen Schirm davor aufgestellt, den der
Dorftischler nach ihrer Zeichnung gefertigt hatte und dessen vier
aneinandergenietete Teile sie als Rahmen für einige ihrer Skizzen
benutzt hatte. Man gewahrte da einen Pfau, der ein Rad schlug, zwei
Äpfel auf einem blauen Teller, eine gebundene Garbe und einen Korb, in
dem Forellen lagen.

Mit ratlosem Gesicht erschien Frau Geßner wieder. Hinter ihr wurde die
Türe abgesperrt. »Was gibt’s?« fragte Erwin tonlos. Die Frau blickte
scheu zu Boden. Er trat an die Tür und packte mit krampfhaftem Griff
die Klinke. »Virginia!« rief er heiser.

Keine Antwort. Er wartete; er atmete tief auf.

»Virginia! Sie erlauben mir also nicht, mit Ihnen zu sprechen?«

Keine Antwort.

»Virginia! Ein Mann von Ehre, nein, sagen wir: von anständigem Betragen
darf nicht wie ein unverschämter Zudringling behandelt werden.« Er
betonte sehr scharf. Eine mahlende Kaubewegung der Kinnladen schien
seine Worte zu pulverisieren.

Keine Antwort.

»Um Gottes Himmelswillen, was war denn zwischen euch?« raunte Frau
Geßner, dicht zu Erwin herantretend. Aus ihren Augen fielen eine Menge
von perlenden, hellen Tränentropfen wie Wasser aus einem Sieb. Erwin
befahl ihr durch eine barsche Gebärde, zu schweigen. Er war sehr
bleich. Er zog die Uhr, behielt sie in der Hand und rief: »Hören Sie
mich, Virginia! Es ist jetzt drei Uhr. Um sechs Uhr bin ich wieder da.
Sie werden sich dann entschlossen haben, mich einzuladen. Ich werde
diese Beleidigung zu vergessen suchen. Hören Sie! Um sechs Uhr. Das
ist mein letztes Wort.«

Er ging, ohne sich um Frau Geßner zu kümmern. Zweieinhalb Stunden
lang irrte er in beständigem Regengeriesel mit aufeinandergepreßten
Zähnen durch die Wiesen und Felder. Er hatte beabsichtigt, vor der
angekündigten Zeit an Ort und Stelle zu sein, um das Mädchen zu
überraschen. Diesen Plan verwarf er. Es war halb sieben, als er mit
festen Schritten die Treppe emporstieg. Er trat ein und verbeugte sich
vor Frau Geßner, die, als sie ihn gewahrte, beide Hände an die Wangen
preßte. Er blickte fragend nach der Tür. Frau Geßner schüttelte traurig
den Kopf. Sie trat wieder dicht vor ihn hin, hob den Zeigefinger und
flüsterte: »Etwas Übles haben Sie ihr angetan. Ich kenne mein Kind. So
war sie noch nie.«

Erwin schaute sie verächtlich an. Er empfand Ekel wie zumeist, wenn er
bejahrte Frauen reden sah, deren Mund des beherrschten Mienenspiels
ermangelte. Er würdigte sie keines Worts und ging zu der verschlossenen
Tür. Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers dreimal. »Ich bin es,
Erwin Reiner, nicht Sixtus von Flügel!« rief er.

Er drückte die Klinke. Er rüttelte an ihr, stärker und stärker, mit
Erbitterung, mit Wut. Umsonst, nichts zu hören; kein Schritt, kein
Laut. Nun wanderte er ein paarmal durch das Zimmer, wobei ihm Frau
Geßner aufmerksam zusah. Nach einer Weile trat er wieder zur Tür und
sagte eindringlich: »Virginia, öffnen Sie! Noch niemand hat gewagt, was
Sie heute wagen. Ich will Ihnen keinen Anlaß geben, eine Behandlung zu
bereuen, die ich nicht verdient habe. Besinnen Sie sich, Sie haben noch
eine Viertelstunde Zeit, um zu überlegen.«

Damit trat er zum Tisch, nahm einen Stuhl und setzte sich. Er
starrte gleichgültig vor sich hin. Von Zeit zu Zeit schaute er auf
die Uhr. Frau Geßner saß am offenen Balkon. Sie rührte sich nicht,
bewegte selbst die Augen nicht. Sie horchte. Die den Fenstern
gegenüberliegenden Wände röteten sich plötzlich. Draußen, durch die
Zweige der Bäume flutete kupferfarbenes Licht. Innerhalb fünf Minuten
war der ganze Himmel mit orangeroten Cirruswolken bedeckt. Ein
kläffender Hund sprang vor dem Haus vorbei.

Die Viertelstunde war abgelaufen. Erwin erhob sich und griff nach
seiner Mütze. Frau Geßner streckte bittend die Hand aus. Er zuckte die
Achseln und ging. Es steht zu vermuten, daß er bis zu diesem Augenblick
seines Lebens kein Gefühl kennen gelernt hatte, das der Verzweiflung
nur ähnlich war. Jetzt empfand er es. Es war ein grauenhaft
verwundertes Voreinerwandstehen und Nichtweiterkönnen. Vor einer Tür
stehen und nicht eingelassen werden! Das war das Furchtbarste, was ihm
zustoßen konnte. Darauf also hatte sich sein Leben zugespitzt? Das war
das Ergebnis: vor einer Tür stehen und nicht eingelassen werden!

Sein Fuß stockte an der Treppe, und er sah in die Dunkelheit hinunter
wie ins Bodenlose. Da vernahm er eilige Schritte hinter sich. Er wußte,
daß ihm die Alte folgen würde. Sie tippte mit ihren kalten Fingern auf
seine Hand, die das Geländer umfaßt hielt, und sagte heimlich: »Ich
kann mir’s denken, Erwin.«

Woher nimmt sie den Mut, mich Erwin zu nennen? dachte er verdrossen;
alle alten Mütter sind lästig und respektlos. »Was steht zu Diensten?«
sagte er mit höflicher Kälte. »Wenn Sie nur Vertrauen zu mir hätten«,
antwortete sie seufzend.

Erwin stieg die Treppe hinunter, und sie folgte, weil sie ihm eine
Unschlüssigkeit anmerkte. In dem großen Zimmer unten, das ohne Stufe
ins Freie führte, blieb Erwin stehen und sagte: »Gut, Mama. Sie sollen
sehen, daß es mir an Vertrauen nicht fehlt. Ich bitte Sie um Virginias
Hand.«

Das gelbe Gesicht der Frau schien auf einmal größer zu werden. Im Geist
hatte sie sich des öfteren das Entzücken ausgemalt, das sie empfinden
würde, wenn einst diese Worte an ihr Ohr schlagen sollten. Und nun
war sie keineswegs entzückt, sondern im höchsten Grad erschrocken.
Der Schrecken lähmte ihre Freude und die Vorstellungen von Glanz,
Sorglosigkeit und Reichtum. »Sie bitten mich um Virginias Hand?«
wiederholte sie ungläubig und matt. »Mich? mich bitten Sie? warum nicht
Virginia selbst?«

»Soll ich ihr meinen Heiratsantrag durch das Schlüsselloch zubrüllen?«

»Virginia ist aber doch verlobt, Erwin –?«

»Ja, das ist der Anstoß, wie Hamlet sagt. Immerhin, es sind schon
festere Bündnisse aufgelöst worden.«

»Sie läßt nicht von ihrem Manfred, um keinen Preis.«

»Darauf kommt es eben an.«

»Ist es Ihr wahrhaftiger Ernst?«

»Man scherzt nicht, wenn man mit Füßen getreten worden ist.«

»Ach, wie unglücklich bin ich!« rief Frau Geßner leise und bekümmert,
aber jetzt war in ihren Augen ein Ausdruck, der die monatelangen
kupplerischen Wünsche enthüllte. In einer besorgten Falte ihrer Stirn
wohnte der letzte Gedanke an Manfred wie der letzte Gast einer vordem
zahlreichen Gesellschaft; alles übrige an ihr war Aufregung, Erwartung
und Dankbarkeit.

Erwin schaute sie an, wie man ein gelungenes Werk ansieht, und
unterdrückte ein maliziöses Lächeln. Er faßte die Frau unter den Arm
und sagte: »Sie begreifen, Mama, es handelt sich also darum, Virginias
kindischen Trotz zu besiegen. Das Wichtigste ist, daß ich mit ihr
sprechen kann. Sagen Sie ihr, ich sei abgereist. Sie wird es bedauern,
sie wird in sich gehen. Ich werde morgen im Gasthaus bleiben. Um acht
Uhr abends werde ich unvermutet und möglichst geräuschlos ins Zimmer
treten. Sprechen Sie nicht mit ihr über mich! Sorgen Sie dafür, daß
sie bei Ihnen sitzt; wenn sie mich sieht, habe ich gewonnen. Die Dinge
sind weiter gediehen, als Sie denken, Mama«, schloß er; »Virginia ist
uneins mit sich selbst. Das ist der Schlüssel zu ihrem Verhalten, auch
die Erklärung dafür, daß ich es ertrage. Helfen Sie mir, und alles wird
gut.«

»Und Manfred?« murmelte Frau Geßner.

»Manfred wird mit Feïnaora tanzen.«

»Wie?«

»Davon reden wir ein andermal.«

»Und Sie werden meine Tochter glücklich machen, Erwin?«

»Weinen Sie jetzt nicht, Mama, ich halte keine Alteration mehr aus.«

Es ist so wie er sagt, dachte Frau Geßner, als Erwin gegangen war: Gina
ist uneins mit sich, das arme Kind weiß nicht, was es tun soll. Aber
da gibt es kein Schwanken; das Glück, das sich ihr da bietet, darf sie
nicht von sich weisen.

Mütter sind stets geneigt, die Wahl des Herzens gegenüber den
weltlichen Vorteilen einer Heirat gering anzuschlagen. Nicht die
klügste und sanfteste ist fähig, sich der Gefühle ihrer eigenen
Jugend zu erinnern. Alle haben gelernt, praktisch zu sein, und haben
vergessen, daß die Feindseligkeit zwischen den Generationen auf den
Verblendungen der Habsucht und den Irrtümern der Vernunft beruht. Sie
werden gemein, ohne es zu wissen, und grausam, ohne es zu wollen.

Erwin hatte sich auf die Bank unter der Weide gesetzt und schaute in
das feurige Rechteck von Virginias Fenster, das von immer schwärzer
werdender Nacht begrenzt wurde. Lange saß er so. Es läuteten tiefe
Glocken, deren Schall der Wind ungedämpft herübertrug. Er verspürte
weder Hunger noch Durst, obwohl er seit Mittag nichts gegessen hatte.
Es war ihm, als hätte er ein Gelübde abgelegt, nicht zu essen noch zu
trinken, bevor ... bevor die Tür dort oben offen stand. Es war, als
dürfe die Sonne nicht mehr scheinen, bevor die Tür dort oben offen
stand. Es war, als hätte er vor dieser Tür gelegen und um Einlaß
gewimmert. Es war, als hätten unzählige Menschen dabei zugeschaut und
hätten ihn verhöhnt.

Seine Pläne gediehen nicht. Er verwarf die einen als zu kühn, die
andern als nutzlos. Sein Stolz krümmte sich wie ein Span im Feuer.
Das Feuer war seine Begierde, sein Haß. Plötzlich zuckte er zusammen.
Das beleuchtete Rechteck wurde finster. Virginia ging schlafen.
Ihre nackten Füße hatten den groben Bretterboden berührt; ihr wenig
beschützter Leib hatte gefröstelt in der feuchten Wiesenluft, die durch
die Fensterfugen drang. Nun lagen ihre Glieder auf weißem Linnen,
auf fühllosem Linnen lagen sie ausgestreckt da. Die weißfingrigen
Hände fanden sich wie ein Liebespaar, das in der Finsternis einander
sucht. Der Smaragdring auf der Linken war abgezogen, und sie war
frei vom verpflichtenden Bund. Nackt war der Goldfinger ohne den
Ring, wie eines Kleides ledig. Die zedernholzfarbenen Haare flossen
über allzu kühle Kissen, stauten sich gegen die Wangen und zitterten
dort im Atemhauch eines Seufzers. Die Wölbung zwischen Wimpern und
Brauen, die den Schmelz und die Reinheit eines Blütenblattes und die
vollkommen parallelen Begrenzungslinien hatte, die auf Beseeltheit
und Leidenschaft schließen lassen, überzog sich langsam mit dem
sinnlichen Karmin des Schlummers. Maß man den Raum von hier bis an
die Lagerstätte, es mochten nicht zehn Meter sein. Aber eine Tür war
dazwischen, die nicht geöffnet wurde.

Virginia dachte nicht an die Tür. Auch an die Finsternis dachte sie
nicht.

Sie hatte nicht gebebt, als die Klinke unter der Wucht seines Griffs
geächzt hatte. Sie war ruhig am Tisch gesessen, den Kopf in die Hand
gestützt, in den erglühenden Himmel schauend. Sie dachte nicht mehr
an Feïnaora, sie glaubte Manfred die Verwirrung, ihr schien, als
liebe sie ihn doppelt um seiner Wahrheitskraft willen. Hätte eine
Stimme ihr gesagt, er, der Andere sitze drunten hinter den Zweigen der
Weide, sie wäre nicht überrascht gewesen. Denn sie fühlte seine Nähe
unaufhörlich. Sie fühlte seinen heftigen und sprechenden Blick, seine
unterwerfende Gebärde, sie sah die kochende Unzufriedenheit auf seiner
Stirn und den heimlich zuckenden Nerv seiner Lippen. Sie wußte sich von
alledem gekettet, aber sie war entschlossen, sich frei zu machen. Sie
wollte frei sein. Sie wollte nicht mehr vom Morgen bis zum Abend mit
erwartendem Nachdenken an ihm hängen. Sie wollte frei sein. Sie wollte
nicht mehr ihr Herz klopfen hören, wenn seine Worte sie betasteten wie
Finger oder eine Wißbegier erregten, deren sie sich schämte.

So oft sie die Augen zumachte, mahnte sie ihr Mund an den seinen. Wie
hatte er es wagen können, ihren Mund mit dem seinen zu berühren! Das
war es, wobei ihre Gedanken stockten und jede Frage mit stummer Flucht
beantworteten. Das machte sie so kalt und so gleichgültig. Sie hatte
keine Freude mehr an sich selber. Sie wünschte sich einen Rächer,
aber aus Mitleid mit ihm und aus einem Rest von Achtung für seinen
Freundschaftsbund mit Manfred fürchtete sie die Rache.

Er hatte ihren Mund mit seinem Mund berührt. Dies hatte nichts in ihr
geweckt, es hatte nur getötet. Es war ihr zumut gewesen, als ob ihr
Blut weiß würde. Ja, alle Dinge verblaßten mit einem Mal, auch Manfreds
Bild. Jetzt, bei verlöschtem Licht, fiel ihr die Perlenkette ein, und
sie erkannte die Unmöglichkeit, den Schmuck noch länger zu besitzen.
Doch war es schwer, für die Zurückgabe die höfliche Form und den nicht
widerruflichen Gehalt zu finden.

Sie grübelte fast den ganzen nächsten Tag darüber. Als ihr die Mutter
sagte, Erwin sei in die Stadt gefahren, ärgerte sie sich. Sie hatte die
Mutter bitten wollen, ihm die Perlen zu bringen. Wäre sie achtsamer
gewesen, so hätte sie die Verlegenheit der Mutter merken müssen, die
zu wenig Einbildungskraft besaß, um erfolgreich lügen zu können. Im
übrigen hatte sie sich vorgenommen, ihm heute gegenüber zu treten. Sie
blieb mit ihrer Arbeit im Balkonzimmer. Sie war sehr verstimmt und
sprach den ganzen Tag fast nichts. Es war ein sehr heißer Tag, und man
spürte zugleich den Abschied des Sommers in ihm. Gewitter lagen in der
unbewegten Luft.

Es hatte acht Uhr geschlagen, als Erwin kam. Seine Schritte schallten
erst dicht vor der Schwelle, da er Tennisschuhe angezogen hatte, um
sie geräuschlos zu machen. Der Blick, mit dem Virginia die Mutter
ansah, war wild und bezichtigend, und Frau Geßner duckte sich wie bei
einem Steinwurf.

Erwin grüßte. Sein Spottlächeln trieb Virginia das Blut ins Gesicht.
»Ich habe meine Abreise verschoben,« sagte er, »weil ich mir den
Bescheid wegen des Antrags holen wollte, den ich Ihrer Frau Mutter
gestern gemacht.«

Frau Geßner wollte erwidern, daß er ihr verboten habe, davon zu
sprechen. Er schnitt ihr das Wort ab. Die kühle Redensart falle ihm
schwer, die das Ungewöhnlichste von allem ausdrücke, wozu er sich
jemals entschlossen.

Virginias fragende Miene nötigte ihn zur Deutlichkeit. »Ich habe Sie
von Ihrer Frau Mutter zur Ehe begehrt«, sagte er.

Das Erstaunen Virginias war so naiv, daß es etwas wie Heiterkeit über
ihre Züge verbreitete. »Man sollte wirklich denken, daß Sie Ihren Spaß
mit mir haben wollen«, antwortete sie endlich. »Nein, das ist wirklich
zu stark!« rief sie mit entflammten Wangen und erhob sich.

»Ich weiß nicht, ob dieser Unglauben beleidigend oder schmeichelhaft
für mich sein soll«, versetzte er mit mühsamer Gelassenheit, hinter der
sich sein Ingrimm und seine schmerzhaft verwundete Eitelkeit verbargen.

»Schmeichelhaft? wieso denn schmeichelhaft?« fragte Virginia betroffen.

»Ich biete Ihnen, was keiner bieten kann«, begann er mit seiner
umflorten Stimme, und während er sprach, sah man beständig seine
großen, porzellanweißen Zähne. »Sie aber haben nur Hohn und Kälte
dafür.«

»Weil Sie wortbrüchig sind«, fiel Virginia mit bitterem Tone ein.

»Ja, ich wage es, diese Hand zu fordern, die sich vergeben hat, ohne
zu wissen, was sie gab«, fuhr er fort. »Ich wage zu denken, daß ich,
ich, nur ich es bin, der ihrer würdig ist. Der andre hat empfangen, er
wußte, was er empfing, aber er ist geflüchtet mit einem Wechsel auf die
Zukunft. Er hat Ihre Seele mitgenommen und hat Ihnen dafür zwei Jahre
gelassen, qualvolle Jahre des Aufwachens, des Scheinlebens, armseliger
Hoffnung, augenloser, unbeherzter Jugend. Und ich, dessen Stern es war,
Sie zu finden, dessen Bestimmung, Sie glücklich zu machen, ich soll
vor der Tür stehen und betteln, ich soll zu Kreuze kriechen, ich soll
das Vorrecht des Schwächeren achten, soll edelmütig verzichten? Warum?
warum? Ich kann, ich will, ich darf nicht verzichten. Den Freund halt
ich hoch, über mich selbst kann ich aber nicht hinweg.«

Virginia machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Ihr Antlitz zeigte
keine Bewegung, kaum ein Gefühl. Ihre Lider waren so tief gesenkt,
daß die Wimpern einander berührten. Erwin trat ihr in den Weg. »Nein,
Virginia,« sagte er mit einem Ungestüm, das seine Haut zu entfärben
schien, »nein! So nicht. Hören Sie mich gefälligst an.«

»Ich habe nichts zu hören, und ich will nichts hören.«

»Ein anhängliches Herz habe ich zerrissen, gemordet, das Herz einer
Frau, die ich liebte, nur weil Sie, Virginia –«

»Sprechen Sie davon nicht. Sie haben dort verraten, wie Sie hier
verraten.«

»Bleiben Sie, Virginia!« Er schrie es fast und trat ihr von neuem in
den Weg. »Das alles wäre ja Wahnsinn, wenn ich Sie überreden wollte,
gegen Ihre Empfindung zu handeln, wenn ich glauben würde, ich risse
Sie aus dem Glück ins Unglück, wenn ich überzeugt wäre, Sie hätten
unabänderlich gewählt. So steht die Sache aber nicht. Sie haben nicht
gewählt. Sie haben gar keine Gelegenheit gehabt, zu wählen. Sie haben
sich nur verpflichtet. Ihre Ehe mit Manfred würde ein Kampf der
Sehnsucht mit der Alltäglichkeit sein, des Traumes mit der banalen
Arbeit, der Schönheit mit dem häßlichen Zwang. Sie sind nicht geboren
für die Niederungen, Sie würden sich insgeheim zu Tode seufzen an der
Seite eines Mannes, den jetzt noch der Glanz der Jugend umgibt, der
aber in zehn Jahren vertrocknet sein wird, sparsam sein wird, krank
sein wird, den die Geschäfte des Lebens kraftlos und die Enttäuschungen
des Berufs übellaunig gemacht haben werden. Ich würde Sie hegen,
Virginia, wie einen auf die Erde verschlagenen Seraph. Ich würde Sie
lehren, Feste zu feiern, mit immer gefüllten Händen würde ich dastehen,
ich würde nie von Liebe sprechen, aber ich würde Sie in Liebe hüllen
wie in einen kostbaren Mantel. Ich könnte Sie die Wunder erleben
lassen, die in einem lautlosen Einanderbegreifen liegen, und das
Geheimnis, das darin besteht, zu genießen, ohne zu bereuen. Haben Sie
bedacht, wie ungeheuer es ist, einen Menschen zu wissen, der sein Leben
einer Leidenschaft widmet? Ahnen Sie denn, was eine solche Leidenschaft
vermag, die vom Blut gezeugt, vom Geist genährt, von den Sinnen erzogen
und von der Natur bestätigt worden ist? Ich müßte an allem verzweifeln,
am Blut, am Geist, am Schicksal, wenn ich nicht die Gewißheit hätte,
daß Sie sich an diesem Feuer schon längst entzündet haben, und daß
Sie sich nur so stellen, als seien Sie unversehrt. Sie sind es nicht.
Unausrottbar bin ich in Ihnen, Virginia! Sie mögen tun, was Sie wollen,
von mir kommen Sie nicht los.«

Unwillen, Beschwörung, Widerwillen, Entrüstung, dumpfes Hinsinnen,
Schrecken, das alles war in Virginias Gesicht zu unmittelbarem Ausdruck
gelangt. Nach den letzten furchtbaren Worten schaute sie Erwin traurig
an. Um ihren Mund lag ein merkwürdiger Zug von keuschem Bedauern. »Ich
bitte einen Augenblick zu entschuldigen«, flüsterte sie endlich und
ging in ihr Zimmer. Frau Geßner saß am offenen Balkon, die Ellbogen in
den Schoß, den Kopf in die Hände gestützt, und blickte verloren ins
Licht der Lampe. Erwins Worte hatten sie tief ergriffen; sie war von
Bewunderung für diesen Mann wie gelähmt. Sie verwünschte Manfred im
stillen, sie grollte Virginia, sie beneidete Virginia. Sie erkannte,
wie leer und nüchtern ihr eigenes Leben verlaufen war. Ein einziger
Ball, eine einzige Nacht, sonst nichts! Und solche Männer gab es wie
den! Sie dachte an den Tod; das schien ihr noch das Beste, woran sie
denken konnte.

Als Virginia zurückkam, streckte sie Erwin die Hand entgegen, auf
welcher das Perlenhalsband lag. Bitte und Entschiedenheit vereinigten
sich in der Geste wie im Blick, ein stolzer, ruhiger, unabänderlicher
Entschluß. Frau Geßner stieß ein dumpfes Knurren aus.

Erwin wurde erdfahl. Alles verloren, sagte er sich, alles umsonst.

Es ist anzunehmen, daß die Raserei, von der er befallen wurde, ein
herrisches Bedürfnis seines Temperaments war. Es gab in seiner
Vergangenheit nur zwei Szenen solcher Art. Als Kind von sieben Jahren
war er auf einen Hauslehrer, der ihn am Ohr gezerrt, mit einem
erhobenen Messer losgegangen, das zufällig auf dem Tisch gelegen. Als
Knabe von fünfzehn Jahren wurde er im Beisein von Kameraden von einer
Frau, in die er verliebt war, gröblich verhöhnt. Einer der Jünglinge
hatte gelacht; er war nahe daran gewesen, ihn zu erwürgen. Man hatte
ihn wegreißen müssen wie einen Hund, der sich verbissen hat.

So beschimpft und zurückgestoßen erschien er sich jetzt. Er schleuderte
die Kette zu Boden, er trat mit dem Fuß darauf, die Perlen krachten und
knirschten. Er trat auf sie mit einem Ausdruck von Ekel, Schmerz und
Wut im Gesicht, der nicht seines gleichen hatte. Wie blasser Schaum
bedeckten sie die Dielen; die fortgerollten, schillerndes Gerinsel,
funkelten ängstlich aus dem Schatten. Virginia faltete die Hände. Ihre
Lippen zuckten. Sie ging ans Fenster und preßte ihre Stirn gegen die
Scheibe. Der warme Dunst des Abends stieg ihr zu Kopf, eine unleidliche
Schwäche fesselte die Glieder. Erwin hatte sich straff emporgerichtet.
Schweigend verließ er das Zimmer.

In seinem Gasthaus rannte er wie besessen aus einem Zimmer ins andere.
Er dachte nichts, er begriff nichts mehr. Das Rad ist im Schwung, das
Korn muß gemahlen werden, fuhr es ihm durch den Kopf. Es war neun Uhr
vorüber, als es schüchtern an die Tür pochte. Frau Geßner trat ein.
»Guten Abend«, sagte sie. Erwin erwiderte nicht den Gruß. »Sie hat
mich geschickt, sie hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«,
murmelte Frau Geßner und brachte ein Päckchen zum Vorschein. »Ich hab
alles mühselig zusammengeklaubt; die schönen Perlen! Wie kann man so
freveln!« – »Kommen Sie, um zu jammern?« entgegnete Erwin grob. – »Sie
hat mich gebeten, Ihnen die Perlen zu bringen«, wiederholte die Frau
beklommen. »Sie hat gesagt, ich sollte Ihnen zureden, Sie möchten doch
vernünftig sein.«

»Ah? Und das ist alles? Das scheint mir Ihre eigene Erfindung zu sein.
So geschmacklos ist Virginia nicht, daß ihr jetzt meine Vernunft Sorgen
macht.«

»Doch, doch, Erwin. Sie hat mich geschickt. Sie war bald heftig,
bald wieder ganz kleinlaut. Ich dürfe mit den Perlen nicht wieder
zurückkommen, sagte sie, und doch hat sie sie erst lang betrachtet,
bevor sie alle ins Papier gepackt hat.«

Erwin überlegte. »Was treibt sie jetzt?« fragte er.

»Sie hat geweint.«

»Sie mag weinen. Es ist an der Zeit. Hat sie denn um die Perlen
geweint?«

»Um die Perlen? Oh nein. Es sind ja lange nicht alle beschädigt. Sie
hat sich aufs Bett gelegt, wie Sie fort waren, und dann war ihr wieder
zu heiß, es ist so schwül heut abend, da wollte sie ganz kalt baden,
das hab ich nicht erlaubt und hab Wasser auf den Herd gestellt und bin
dann zu Ihnen.«

Sie berichtete diese bedeutungslosen Einzelheiten so umständlich, als
könne sie sich damit willigeres Gehör bei Erwin erzwingen. »Gehen Sie
doch nicht im Bösen von uns,« sagte sie bittend, »ich glaube, sie
bereut jetzt.«

»Es ist nicht meine Gewohnheit, Vorteil aus der Reue zu ziehen.«

»Seien Sie jetzt nicht eigensinnig, machen Sie noch einen letzten
Versuch«, drängte Frau Geßner, der es zumute war, als hielte sie
Virginias Glück in Händen. Auch war sie überzeugt, daß Erwin, wenn er
nur wolle, alles noch in die rechte Bahn zu lenken vermöge.

Erwin blieb stehen, bezaubert von einer schrecklichen Eingebung. »Ich
muß morgen früh in der Stadt sein«, sagte er.

»So kommen Sie jetzt mit mir –«

»Welchen Zweck sollte das haben? Ich müßte allein mit ihr sprechen
können.«

»So gehn Sie allein hin, ich werde hier warten.«

»Sie wird mich nicht einlassen.«

»Wenn Sie ans Tor pochen, wird sie glauben, daß ich es bin, und wird
Ihnen aufmachen.«

»Habt ihr nicht zwei Schlüssel? Am einfachsten ist es, Sie geben mir
Ihren Schlüssel, denn das Klopfen macht Virginia sicher argwöhnisch.«

»Den Schlüssel? Nein, Erwin; das würde sie mir nie verzeihen. Das wäre
auch –«

»Na schön, schön,« unterbrach Erwin hastig, »ich will’s so versuchen.
Es ist jetzt halb zehn. In einer Stunde bin ich wieder da und hoffe,
Ihnen gute Nachricht zu bringen.«

Voll Vertrauen und Liebe schaute ihn die törichte Frau an. »Wenn Sie
eilen, können Sie sie noch vor dem Haus treffen, sie wollte noch ein
wenig an die Luft«, sagte sie.

Erwin nickte und ging. Was schwebte ihm vor? Glaubte er noch an die
Wirkung von Worten, Gründen, Beteuerungen und Verlockungen? Ihn trieb
die Ungeduld, die leidenschaftliche Rachsucht, der wütende Ehrgeiz
eines Wettläufers, die Glut und Trunkenheit verletzter Eigenliebe
und im Verborgenen seiner Brust ein Gefühl, von welchem Rechenschaft
sich zu geben er Scheu trug. Mit dieser ganzen Hölle von Empfindungen
überließ er sich dem Zufall.

Den dunklen Horizont umsäumte ein Kranz qualmiger Wolken, in denen
fortwährend Blitze zuckten. Zwischen den schwarzen Wiesen und
schwarzen Wäldern glitten Fledermäuse geräuschlos und mit unheimlicher
Geschwindigkeit hin und her. Erwin begegnete einigen Sommerfrischlern,
die sich von Fleischpreisen unterhielten. Aus einem fernen Wirtsgarten
schallte eine von der Schwülnis erstickte Blechmusik.

Als er in der Nähe des Häuschens angelangt war, sah er eine helle
Gestalt zwischen den Büschen wandeln. Er erkannte Virginia am Gang. Sie
blieb bisweilen stehen, als lausche sie. Er wartete, bis sie um die
Ecke des Hauses verschwunden war, dann öffnete er das Holztürchen der
Umzäunung und verharrte grübelnd, bis sie auf der andern Seite wieder
hervorkam. Ich will nicht im Freien mit ihr sein, überlegte er, hier
flüchtet jeder Schall. Sie gewahrte ihn nicht. Sie schien in Nachdenken
verloren, sie blickte nicht empor. Als sie zum zweitenmal seinen Augen
entschwunden war, schritt er eilig durch die offene Tür ins Haus. Die
Küche war von flackernden Flammen beleuchtet, kochendes Wasser brodelte
auf dem Herd. Er stieg die Treppe hinan und betrat das Balkonzimmer.
Dieses war nur matt erhellt durch eine rotbeschirmte Lampe, die auf dem
Tisch in Virginias Kammer stand. Auf dem Boden drinnen befand sich eine
halbgefüllte, kreisförmige Blechwanne.

Erwin zauderte. Ein Lächeln, das gleichsam brennend war und doch den
Zügen mehr Schatten und Trauer verlieh, als je sonst darauf zu sehen
war, umspielte seine Lippen. Er schaute sich prüfend um. Er vernahm
Virginias Schritt; er hörte, wie sie das Tor schloß und den Schlüssel
abzog. Plötzlich, wie voll Angst vor ihrem Erscheinen, trat er hinter
den bemalten Ofenschirm und kauerte auf dem Absatz des Ofens nieder.

Virginia trat ein; ihr Schritt war schleppend, sie trug in ihrer Hand
einen Krug voll heißen Wassers. Sie ging in ihr Zimmer und stellte den
Krug zur Erde. Durch die Fuge zwischen zwei Teilen des Schirms konnte
Erwin sie sehen. Sie ging auf und ab, sie schien unruhig. Sie öffnete
das Fenster, dann schloß sie es wieder. Dann setzte sie sich in den
Sessel vor dem Tisch. Sie hatte ein Bein über das andere geschlagen,
den Rumpf vorgeneigt und legte den Zeigefinger der rechten Hand quer
über die Lippen. An dieser Haltung bewegte ihn die Einfachheit und
Innigkeit auf das unerwartetste. Sein Herz fing an zu klopfen wie ein
Hammer.

So verweilte sie ziemlich lange. Das Profil ihres Antlitzes schimmerte
wie Silber. Endlich erhob sie sich. Sie zog einen Schal von den
Schultern und seufzte wie unter der Last der Gewitterschwüle. Nun
verlor er sie. Er hörte das Rascheln ihrer Gewänder und wie sie ihre
Schuhe wegstellte. Er zitterte am ganzen Körper, sogar seine Kinnlade
begann zu zittern, und auf einmal sah er sie wieder, eine andere, oder
den innersten Kern von ihr, das herrliche Geheimnis, mit dem sie auf
Erden wandelte. Gleich einem rätselhaft leuchtenden Ding stand sie ohne
jegliche Hülle im Lichtstrahl der Tür; wie ein Wesen, das im Augenblick
zuvor erschaffen ward, gab sie ihre goldene Haut der kaum gekühlten
Luft preis, die den dunklen Honig ihrer Haare schlürfte und den von
Blut und Atem bebenden Kontur ihres Leibes wie mit einem Meißel rein
hervortrieb.

Der Anblick eines nackten Menschenkörpers gewährt dem Auge selten
Befriedigung. Erwin hatte es oft erfahren, daß die Schale mehr
versprach, als die Frucht erfüllte. Doch alle Erinnerungen starben an
dem Jubel dieser Vollkommenheit. Der ruchlose Späher verwandelte sich
zum ergriffenen Anbeter; ein bewunderungsvoller Laut entfloh aus Erwins
Lippen, seine Augen waren naß, er war seiner nicht mehr mächtig, als er
das schützende Versteck verließ, aber als er dann die Bedeutung seines
Tuns ermessen konnte, so schnell, wie bei ihm der Weg vom Antrieb zur
Erkenntnis war, prallte er bestürzt, schweigend und kraftlos inmitten
des Zimmers zurück.

»O – Gott!« rief Virginia in zwei jammervollen Tönen, von welchen der
zweite um eine Oktave tiefer klang als der erste. Huschend, mit einem
seltsam überstürzten Hauchen des Atems lief sie auf ihr Lager zu,
warf sich hinein und zog die Decke über sich. Nun kauerte sie mit dem
Gesicht nach unten, zuckend, röchelnd, ganz zusammengeduckt, und jedes
einzelne Glied ihres Körpers wünschte den Tod.

Der Todesseufzer der Schamhaftigkeit drang bis zu Erwins Ohren. Er
selbst zitterte noch. Aber die Wirklichkeit verlor ihre Schwere. Sie
wurde ein Duft und ein Gleichnis. Aus der Betrachtungsferne ergab sich
Überlegenheit, in der Lust des Schauens verhallten die Stimmen der
Schuld.

Worte vermochten hier nichts mehr. Er lehnte am Türpfosten, indes
Virginia in ihr Lager gewühlt war wie ein Stieglitz in sein Nest.
Sie streckte den Arm gegen ihn aus, schüttelte ihn krampfhaft und
flüsterte: »Fort! Fort! Fort!«

Er wandte sich zum Gehen. Er zögerte, er kehrte um, Virginia flüsterte
abermals mit immer noch ausgestrecktem Arm: »Fort! Fort!« Und kaum
stand er auf der Schwelle, so schluchzte sie mit eigentümlich
schmelzenden Lauten in sich hinein.

Erwin lächelte. Nun war alles entschieden, nun gehörte sie ihm, und
obwohl er den Grund davon nur dunkel ahnte, war es ihm, als blickte er
in die tiefsten Tiefen der Schönheit und der Unschuld.

Er beugte sich über sie und sagte mit schmerzlicher Zärtlichkeit:
»Leb wohl, Virginia. Gute Nacht, Geliebte. Immerfort will ich an dich
denken, du schönste von allen Frauen der Welt. Ohne dich bin ich nur
ein Schatten. Leb wohl, leb wohl.«

Dann ging er fast lautlos. Aber Virginia, als sie die Stille merkte,
richtete sich auf. Mit den Händen die Brust bedeckend, das beinahe
entseelte Gesicht lauschend, feurig bleich emporgewandt, rief sie:
»Erwin!« Und wieder, willenlos und jammernd: »Erwin!«

Sie fiel in die Kissen zurück, und eine erbarmende Ohnmacht nahm sie
auf.




Gefangenschaft


Schon im Sommer hatte Erwin eine Einladung der Gräfin
Thurn-Reichenstein angenommen, die letzten Septembertage auf deren
Gut in Mähren zu verbringen. Als er jetzt in die Stadt zurückkehrte,
fand er eine Absage vor, die schlecht begründet war; durch einen
Krankheitsfall in der Familie sei man verhindert, Gäste zu empfangen,
hieß es. Dies stellte sich bald genug als unwahr heraus; er traf einen
Bekannten von der französischen Botschaft, der eben im Begriff war, auf
das Gut der Gräfin zu fahren.

Am selben Vormittag ging er zur Baronin Resowsky. Auf den Schlag, der
dort gegen ihn geführt wurde, war er durchaus nicht vorbereitet. Frau
von Resowsky ließ sich verleugnen. Frau von Resowsky war für die gute
Gesellschaft das Barometer der Meinungen. Von ihr nicht empfangen zu
werden, war eine Art von Todesurteil.

Erwin besuchte den Klub. Man begegnete ihm mit frostiger Zurückhaltung.
Wohin er kam, dieselbe Veränderung. Selbst Leute dritten Ranges
behandelten ihn von oben herab. Er stellte einen dieser Herren zur
Rede: man war unschuldig, man wußte von nichts, man zuckte die Achseln.
Doch das Getuschel wagte sich bald aus der Verborgenheit hervor. Es
erwies sich, daß die Geschichte von dem fingierten Duell neuerdings
umlief und jetzt zur allgemeinen Kenntnis gelangt war. Man hatte sich
darüber lustig gemacht; das Gelächter wirkte zerstörender als die
Entrüstung und das Schweigen seiner Freunde. Ein elender Schmierant,
dessen Beruf es war, in den Vorzimmern der großen Welt zu schnüffeln,
brachte das Histörchen in pikanter Zubereitung in ein Wochenblatt und
erfrechte sich sogar, die Person Virginia Geßners, nicht mit Namen,
aber in deutlicher Umschreibung, durch seinen Sud zu beschmutzen. Damit
war Erwin vollends gerichtet.

Er gab sich nicht verloren, trotzdem ihm der Ekel bis an den Hals
stieg. Er ging, mit der Reitpeitsche in der Hand, in die Redaktion
jener Zeitung und forderte Widerruf. Seine Entschiedenheit, seine
knirschende Ruhe flößte den Herrschaften Angst ein; sie wichen aus,
sie versprachen schließlich, sein Begehren zu erfüllen. Der Widerruf
erfolgte nicht; im Gegenteil, man hängte der Komödie einen Epilog
an, durch den sie noch eine Würze erhielt. Erwin nahm sich zusammen.
Er bedurfte keiner Bemäntelung seiner Schuld, um den Abscheu zu
vermindern, den er fühlte. Die Gewohnheit, unter Menschen zu leben,
die man geringschätzt, erübrigt Selbstvorwürfe und entschuldigt jede
Verfehlung. Er glaubte verachten zu dürfen, denn er war stets der
Meister gewesen und hatte durch unbegrenzte Verschwendung den Anspruch
auf unbegrenzte Nachsicht in sich genährt. Er sah sich mit Undank
belohnt und zeigte die Miene eines Timon. Zunächst hatte er den Plan
einer Reihe von Herausforderungen erwogen. Das Mittel war unbequem,
weil es ihn zwingen konnte, die Stadt zu verlassen, und weil es zu
lärmend war.

Im Verlauf seiner Nachforschungen, um den Urheber des gegen ihn
angezettelten Skandals zu entdecken, stieß er bald auf den Namen Sixtus
von Flügels. Sixtus von Flügel war ungeachtet seines gegebenen Wortes
zurückgekehrt. Marianne hatte damals Frau von Resowsky nach Erwins
Anweisung aufgeklärt, aber Sixtus hatte erfahren, daß er als Strohmann
aufgestellt war, und hatte die Gelegenheit wahrgenommen, endlich Rache
zu üben.

Aber wie durfte er es wagen? fürchtete er nicht den Gegenschlag seines
Feindes? Hatte er von Marianne nicht genug Geld erhalten? War Marianne
unvorsichtig gewesen? Marianne, die seine Frau war?

Diesen Gedanken konnte er nicht zu Ende denken. Die Dinge wuchsen ihm
über den Kopf. Er war nicht mehr der Mann, der er noch vor Wochen
gewesen. Er wankte, er griff um sich, er war rastlos, er verlor die
Sicherheit, er hatte Mühe, in seinen Verfügungen klar zu bleiben.
Zu allem Übel kam hinzu, daß sich sein Vater in der letzten Zeit
unheilvoll bloßgestellt hatte. Die kleine Christie Martens hatte es
wirklich verstanden, ihn seiner alten Freundin abwendig zu machen.
Er war nun genötigt, den schmachtenden Liebhaber und etwas wie
einen lebendigen Geldsack vorzustellen. Die Martens, eine schlechte
Komödiantin auf der Bühne, doch eine desto abgefeimtere im Leben,
bezahlte ihre Schulden und hatte eine elegante Wohnung. Das Alter hatte
Michael Reiner nicht verhindert, seine Leidenschaft vor aller Welt
zur Schau zu tragen. Er hatte sich lächerlich gemacht. Man erzählte
sich, daß er nächtelang vor der Tür des Mädchens winselte, während
Christie ihre Liebhaber bei sich hatte. Es war Stadtgespräch. Erwin
schäumte vor Zorn, aber er schreckte davor zurück, seinen Vater zur
Vernunft zu bringen. Die giftige Lockspeise hatte er selbst zubereitet,
er hatte weder Kraft noch Zeit, um den Arzt zu spielen. Der Vater kam
nicht zu ihm, er schämte sich offenbar, er grollte ihm vielleicht und
betrachtete sein Tun als Betäubung, als einen Ausgleich gegen das
Schicksal der Frau Engelhardt, die aus Kummer zum Morphium gegriffen
hatte und durch Morphium dem Wahnsinn nahe war. Es hatte mit der einen
Torheit Michael Reiners sein Bewenden nicht; Erwin erfuhr, daß sich
sein Vater plötzlich in waghalsige Spekulationen gestürzt, und daß er
in den letzten Monaten über dreieinhalb Millionen an der Börse verloren
hatte.

Auch dagegen hätte etwas geschehen müssen. Erwin verschob es. Es waren
zu viele Stricke um seinen Fuß gelegt. Er hätte noch drei Millionen
hingegeben, wenn er die Demütigung hätte vergessen können, die er
durch Frau von Resowsky erlitten. Er schrieb der Baronin einen seiner
unwiderstehlichen Briefe. Er deckte mit ironischer Freiheit das Gewebe
der Verleumdungen auf, schilderte das Treiben seiner Gegner mit der
Laune des Stärkeren und malte eine so leuchtende Leidensgloriole um
sein geschmähtes Haupt, daß ihm Frau von Resowsky sogleich antwortete,
er möge zu einer bestimmten Stunde zu ihr kommen.

Er atmete auf. Er war des Einflusses und der Wirkung seiner Person
sicher. Daß man ihn rief, war schon ein Triumph. Jedoch es kam alles
anders. Und wenn er geglaubt hatte, noch nicht einmal einer Stunde zu
bedürfen, um aus einer argwöhnisch gewordenen Freundin eine bereuend
überzeugte zu machen, so brauchte Frau von Resowsky, eine Dame, die in
allen zweifelhaften Fällen mit schroffer Entschiedenheit zu handeln
gewohnt war, keine Viertelstunde zu der Einsicht, daß sie betrogen
und folglich beleidigt worden war, woraus allerdings für Erwin eine
Niederlage und ein Rückzug ohne gleichen entstand.

»Sie werden mir volles Vertrauen schenken, Erwin, nicht wahr?« bat Frau
von Resowsky.

»Insoweit ich dadurch keinen Vertrauensbruch begehe, mit Vergnügen,
Baronin.«

»Es ist merkwürdig,« sagte Frau von Resowsky kopfschüttelnd, »wenn Sie
bei einem sind, möchte man durchs Feuer für Sie. Hat man Sie eine Weile
nicht gesehen, so traut man Ihnen Dinge zu wie dem Schlimmsten nicht.«

»Schade, Baronin, das wäre ja ein Bankrott des guten Geschmacks. Das
Rätsel erklärt sich durch den Überschuß von Moral, an dem wir alle
leiden wie an einer Art von geistigem Diabetes, und dem Unvermögen,
auch nur einen geringen Teil davon tätig auszulösen.«

»Kommen wir zur Sache. Marianne von Flügel hat mir seinerzeit
mitgeteilt, daß Sie sich mit ihrem Bruder geschlagen hätten. Ich habe
dafür gesorgt, daß die dummen Gerüchte, die schon damals begannen,
zum Schweigen gebracht wurden. Jetzt kommt Herr von Flügel und
behauptet, er hätte niemals ein Duell mit Ihnen gehabt. Das ist doch
unbegreiflich.«

»Ich bin erstaunt, Baronin, daß Sie die lügnerischen Umtriebe dieser
Leute ernst nehmen. Ich habe mich allerdings niemals mit Herrn von
Flügel geschlagen.«

»Also ist Marianne nicht in Ihrem Auftrag zu mir gekommen?«

»Durchaus nicht.« Nur Zeit gewinnen, dachte Erwin, nur Zeit.

»Das gibt der Sache natürlich ein anderes Gesicht«, sagte Frau von
Resowsky, indem sie zu einer kleinen Tapetentür schritt und öffnete.
»Herr von Flügel!« rief sie hinein, »ich bitte.«

Sixtus von Flügel trat ins Zimmer und heftete die Augen, die in seinem
schwarzbleichen Gesicht tückisch brannten, auf Erwin.

Erwin sprang empor, prallte zurück, gewann aber gleich wieder seine
Fassung. »Ah – reizend!« sagte er mit finsterem Blick gegen Frau von
Resowsky und küßte seine Fingerspitzen; »eine Konfrontation, wie?«

»Ja, in Ihrem eigenen Interesse«, erwiderte die Baronin ziemlich
scharf; »sonst wird die Wahrheit im Maul von Allerwelt zerstückt.«

»Ich habe mit diesem Herrn nichts zu schaffen.«

»Das ist kein Argument.«

»Ich brauche keine Argumente. Vielleicht ist alles eine Erfindung von
mir. Glaubt man mich decouvriert zu haben, wenn man gemerkt hat, daß
ich den Sumpf zu Schaum schlage? Man will mich bei meinen Handlungen
fassen? Ich bin nicht bei meinen Handlungen zu fassen, höchstens noch
bei meinen Gedanken.«

»Herr von Flügel, ich bitte sich zu rechtfertigen,« sagte die Baronin
unbeirrt, »Doktor Reiner versichert mir, Ihre Schwester sei nicht in
seinem Auftrag zu mir gekommen.«

»Dann lügt Doktor Reiner«, erwiderte Sixtus von Flügel dumpf und mit
haßerfüllter Freude.

Erwin begann zu zittern. Es stand ihm der Atem still. Er sah, daß
er sich verrechnet hatte. Er machte eine Bewegung, als wolle er
sich auf den Beleidiger stürzen. Seine Wangen hatten eine fahlgrüne
Färbung, seine Augen drehten sich in die Winkel. Frau von Resowsky
trat zwischen beide und sah abwechselnd den einen und den andern an.
Erwin hatte plötzlich das Gefühl, als müsse er den Gegner anflehen zu
schweigen, aber das gefürchtete Wort war nicht mehr abzuwenden. »Dann
lügt Doktor Reiner,« wiederholte Sixtus von Flügel, »und das ist um
so schändlicher, als meine Schwester Marianne seine Frau ist. Er hat
sich heimlich mit ihr trauen lassen. Sie sehen also, Baronin, daß Herr
Doktor Reiner uns näher steht, als er glauben lassen will. Ich hätte
den Wunsch meiner Schwester um Verschwiegenheit geachtet, wenn Herr
Doktor Reiner den Namen meiner Schwester respektiert hätte.«

Frau von Resowsky blickte Erwin mit einem Ausdruck kalter Verwunderung
an. Sie zuckte die Achseln und machte eine kleine, abfertigende
Gebärde. Erwin lachte. »Ich werde die Ehre haben, Baronin, Ihnen über
diese Verwicklungen zu einer andern Zeit Aufschluß zu geben«, sagte er
gelassen, spürte jedoch dabei, wie sich der Boden unter ihm im Kreis
drehte; zu Sixtus von Flügel gewandt, fügte er hinzu: »Wir treffen uns
noch.«

»Ich brauche keinen Aufschluß mehr«, entgegnete Frau von Resowsky mit
verächtlich zuckenden Lippen.

»Sie tun mir unrecht, Baronin, und Sie werden es zu spät erkennen!«
rief Erwin so stolz, dringlich und feierlich, daß Frau von Resowsky
stutzig wurde und ihm unschlüssig nachschaute, als er ging.

Er stürmte auf die Straße. Sein erster klarer Gedanke war: jetzt zu
Virginia. Es war an der Zeit. Er wußte, daß sie am gleichen Tag wie
er in die Stadt zurückgekommen war. Er empfand es durch Luft und
Ferne, daß sie ihn rief. Es war an der Zeit, dem Ruf zu folgen. Sein
Wille umspannte sie wie ein eiserner Ring den Hals eines Adlers. Sie
mußte dem Gischt des Geredes, das zu gewärtigen war, entzogen werden.
Er bangte, er lechzte nach ihr. Und wenn er alles verlor, Ehre,
Freundschaft, Geld und Leben, =sie= mußte er gewinnen. Er liebte sie
nicht. Er würde sie niemals lieben. Es war zu spät, um zu lieben. Ein
dringenderes Gebot befehligte ihn.

Viel war noch zu tun. Wirrsälig lagen die Wege. Ineinandergeschlungen
waren die Triebe. Die Ehre forderte Sold von der Lüge. Die Unschuld
mußte vernichtet werden, um die Ehre zu retten. Das Antlitz des Lebens
zeigte sich bizarr wie nie zuvor.

Sein Herz stockte vor Lust, wenn er sich ausmalte, wie ihr
niedergetretenes, zu Tode beleidigtes Herz nach ihm schmachtete.
Endlich! endlich! sie mußte ihm folgen, wie eine Blinde mußte sie ihm
folgen, die von nichts anderem weiß als von der führenden Hand. Und
allein mit ihr, die ganze Welt hinter ihnen her, die verstandlose
Meute, und in ihr, bei ihr sich reinigen von allen Übeln. In seinem
Willen wurzelte Glück und Unglück, durch seinen Willen wandelte
Virginia, atmete sie, war sie schön, anbetungswürdig, begehrenswert und
ihm verfallen.

       *       *       *       *       *

Und so verhielt es sich: ihm verfallen.

Wo ist =er=? dachte Virginia täglich, stündlich, in der unbekämpfbaren
Furcht vor Verrat. Denn er verriet sie, wo er auch war, er teilte ein
Bild von ihr allen Dingen mit, die sein Auge traf, er gab es den Augen
der Menschen preis, indem er mit ihnen redete, und trug es in die
Räume, in denen er weilte. Er verriet sie, wenn er ging, wenn er lag,
wenn er träumte und wenn er arbeitete. Sie konnte nicht mehr an sich
selber denken, ohne daß das Bild, das immer dort war, wo Erwin war,
ihre Nerven zu äußerstem Schmerz spannte. Langsam war das Bewußtsein
einer unendlichen Schmach in ihr angewachsen, und sie saß oft ohne
Anmut in eckigem Kauern und sehnte sich nach Tränen.

Wie hatte die Mutter sie neulich am Abend gefunden? an jenem Abend,
dem kein eigentlich heller Tag mehr gefolgt war, auch keine Sonne
mehr. Wann war die Mutter gekommen? Virginia wußte es nicht. Sie
hatte geschwiegen. Auch Frau Geßner hatte geschwiegen, schuldbewußt,
zerstreut, betrübt und heimlich aufgeregt. Ja, von einem heimlichen
Zorn war diese Mutter verzehrt, hatte aber keine Klarheit darüber,
nach welcher Richtung sich dieser Zorn wenden würde. Ich hab es satt,
dachte sie und glich einem Menschen, den ein durchtriebener Wühler
rebellisch gestimmt hat und den es nach Aufruhr verlangt, wobei er
gleichzeitig froh ist, wenn sich der Wühler und Quäler nirgends blicken
läßt. Der Geldzufluß hatte in der letzten Zeit aufgehört, die Ausgaben
mußten beschränkt werden, und Frau Geßner fing an, sich vor der Armut
zu fürchten, vor derselben Armut, in der sie drei Jahrzehnte lang
zufrieden gelebt.

An jedem Morgen sagte sich Virginia: so kann es nicht weitergehen. Sie
hatte Manfred vergessen. Wenn sein Name emporstieg, war es, als ob ein
früheres Dasein sie an ihn verbunden hätte. Er schrieb auch nicht mehr;
seit Wochen hatte sie keine Nachricht mehr von ihm. Was war geschehen?
Sie war überzeugt, er wisse alles. Und sie wollte ihn vergessen. Der
Kummer gab ihrem Gesicht die Blässe des Perlmutters. Von allem Schweren
war die Abwesenheit Erwins das Schwerste. Sie wollte ihn sehen,
seine Gedanken spüren, sie wollte wissen, welche Art von Laster oder
Verworfenheit in ihr war, die ihn ermutigt hatten zu tun, was er getan.
Sie fand nicht das Wort, nicht die Form ihn zu rufen, auch schien es
ihr bei tieferem Bedenken, daß es überhaupt keine Worte mehr zwischen
ihr und Erwin geben konnte. Doch ihr Gefühl war dies: ruhig kann ich
erst sein, wenn er da ist; froh werd ich nimmer werden, aber ich will
erfahren, warum ich so erniedrigt worden bin.

Warum kommt er nicht? klagte sie im Stillen; verachtet er mich?
meidet er mich deshalb? Sie suchte sich seiner zu erinnern, aber die
Gestalt war wie Dunst. Nur in ihrem Blut fühlte sie seine Gebärden,
seine Blicke und seine Stimme. Es hatte den Anschein gehabt, als
liebe er sie; so war Liebe etwas Düsteres, Unbehagliches, Wildes und
Sündenvolles geworden. Sie bemerkte, daß alle Menschen in Kleider
gehüllt waren, und sie sah die Leiber hinter den Kleidern, und Männer
und Frauen hatten etwas Heuchlerisches und Maskiertes. Die vergiftete
Phantasie war von Haß gegen den Vergifter beladen.

Die neue Wohnung lag in einem einstöckigen Haus in friedlicher
Umgebung. Hinter dem Haus lag ein Garten, in welchem sich Virginia an
regenlosen Tagen fast unablässig erging. Sie vermied den Zaun neben
der Straße und wandelte nur auf den schmalen Wegen zwischen den schon
vergilbenden Sträuchern.

Es war spät nachmittags; es dämmerte schon, da rief Frau Geßner vom
Küchenfenster nach ihr. Der freudige Klang der Stimme verwandelte
Virginias Füße in Blei. Er war da.

Sie ging hinauf. Er erhob sich und verbeugte sich, als sie
eintrat. »Ich befinde mich in einem Wirrsal von Geschäften und
Unannehmlichkeiten«, sagte er. »Bitte, geben Sie mir ein Glas Wasser,
Mama. Ich verdurste.«

Virginia kam der Mutter zuvor, holte selbst das Wasser und kühlte dabei
ihre heißen Hände unter der Leitung. Als sie wieder ins Zimmer trat,
war die Mutter verschwunden. Sie runzelte die Stirn, reichte ihm das
gefüllte Glas, und er trank gierig.

»Ich muß Ihnen gestehen,« begann er plötzlich, »daß das Gerede der
Stadt Sie schon als meine Geliebte bezeichnet. Ich kann Sie dagegen
nicht schützen, Virginia, so lang Sie sich töricht weigern, den
Entschluß zu fassen, der allen Klatsch beschämt.«

»Wer redet? Was soll das heißen? was für einen Entschluß soll ich
fassen?« antwortete Virginia außer sich. »Sie sind im Irrtum, wenn Sie
glauben, daß der Klatsch eine Pression für mich ist.«

»Es gibt noch eine stärkere, Virginia; nämlich die, daß eine andere
Glücksmöglichkeit nicht mehr für Sie vorhanden ist.«

»Dann muß ich eben ohne Glück leben.«

»Und mich? Virginia? Mich wirfst du zu den Gleichgültigen?«

»Duzen Sie mich nicht!« rief Virginia und wurde blutrot. »Warum ist die
Mutter fort? wo ist sie hin? Sie sind verschworen mit ihr. Alle sind
gegen mich verschworen.«

»Virginia! Das Leben ist verschworen gegen dich, weil du es mit Füßen
trittst. Du liebst mich, Virginia! Wenn du mich nicht liebtest, hättest
du die letzte Nacht in Edlitz nicht überlebt. Du liebst mich, und es
genügt mir, dies zu wissen.«

Virginia preßte die Faust an die Wange. Es ist wahr, dachte sie, es ist
ein Wunder, daß ich’s überlebt habe. Ihr Gesicht schien entgeistert im
grauen Sammet der Dämmerung, als sie dumpf beteuernd murmelte: »Niemals
werd ich Sie lieben, Erwin, niemals. Geben Sie mich also frei.«

»Was heißt das?« fragte er verblüfft, und ihm wurde schwül ums Herz.
»Du bist frei.«

»Ich – bin – frei«, wiederholte sie langsam und mit leerem Nachdruck.

»Du bist frei, aber vom Schicksal mir zugeschmiedet«, fuhr er fort.
Jetzt galt es, den letzten Schlag zu führen. »Du bist frei auch von
Geburt,« sagte er, »zur Liebe bestimmt von Geburt her. Ein Kind der
Liebe bist du, unbekannt ist dein Vater. Selbst deine Mutter kennt ihn
nicht, eine einzige Stunde der Leidenschaft, die einzige ihres Lebens
hat sie dem unbekannten Mann in die Arme geworfen, und dies ist in
deinem Blut, dagegen kämpfst du vergeblich. Du bist ein verlorenes
Kind.«

Zitternd schaute Virginia auf seinen Mund. Ihre bang ungläubige Miene
gefiel ihm; der sichtbare Zusammenbruch von Stolz und Festigkeit
erschütterte ihn. Sie machte mit der Hand eine mechanisch deutende
Bewegung, ihre Augen fielen zu. Erwin ergriff ihre Hand und drückte
sie lange an seine Lippen. Sie ließ es zitternd geschehen und zitterte
immer – immerfort. Er legte den Arm um ihre Hüften. Plötzlich trat sie
zurück. »Rühren Sie mich nicht an!« schrie sie erbleichend, so wie sie
bisweilen im Traum aufschrie.

Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge. Da öffnete Frau Geßner,
durch Virginias Schrei gerufen, die Türe. Ihr Gesicht zeigte die
rasende Entschlossenheit, die oft die Energielosen überfällt. Wenn
gutmütige und verträgliche Menschen in solcher Weise außer sich
geraten, legen sie nicht selten eine plebejische Roheit an den Tag, die
ihren Mangel an Erziehung und ihre Herzensdumpfheit enthüllt. Diese
Frau war sozusagen bis auf den niedersten Stand ihrer moralischen Natur
herabgedrückt: Ehrgeiz, naive Habsucht, Furcht vor Armut und eine
systematische Bezauberung hatten aus ihr das willenlose Werkzeug Erwins
gemacht, und Erwin erkannte es selbst, nicht ohne Verwunderung.

»Du undankbares Ding!« begann sie keuchend, während ihre Züge
vergröbert, vergrößert und gerötet erschienen, »was sträubst du dich
gegen dein Glück? Aus welchem Grund, sag mir? Wegen deines Manfred
vielleicht, der nichts ist, nichts hat und nichts kann? Gott verzeih
mir die Sünde, aber ich will’s nicht länger mit ansehen, wie dieser
ehrenhafte und großmütige Mann da um dich leidet, der dich mit
Geschenken überhäuft hat, mit Geschenken, die Hunderttausende wert
sind, und dich behandelt hat wie eine Gräfin. Und du tust, verzeih
mir’s Gott, als ob du zu kostbar für ihn wärst. Was ist denn all mein
Hangen und Bangen seit Jahr und Tag? Nur dir gilt’s, alles nur für
dich, und so lohnst du’s mir, Undankbare, mit deinem lächerlichen
Dünkel. Gott verzeih mir’s!«

»Genug!« rief Erwin laut; »schweigen Sie, Mama.«

Virginia bewahrte eine erstaunliche Fassung. Sie ging auf die Mutter
zu und legte ihre beiden Hände auf deren Schultern. Frau Geßner wich
betroffen zurück, aber Virginias Blick drang unerbittlich in die Augen
der Mutter, als wollte sie zunächst die Wahrheit dessen ergründen,
was Erwin ihr vorhin verraten. In der Art jedoch, wie sie sich hielt,
war etwas so Vornehmes, daß Erwin, bestürzt über soviel Lieblichkeit
und Adel, sich auf die Lippen biß und einen raschen Seufzer nicht
unterdrücken konnte, der wie das heimliche Aufschluchzen eines Kindes
klang. In diesem Moment kehrte sich Virginia um und sagte mit ruhiger
Stimme: »Gut, es sei. Ich füge mich.«

Erwin starrte zu Boden. Welch ein boshafter Teufel flüsterte ihm zu,
den Fangstrick mit dem Dolch zu vertauschen und noch eine kurze Qual
und prüfende Demütigung auszuhecken, für die, die »sich fügte«? Wollte
er nicht Räuber sein, sondern Retter, nicht Zuflucht einer Ermatteten,
Verstoßenen, Besudelten, sondern frei begehrt? Er faltete die Stirn
und schwieg. Dieses Schweigen war niederschmetternd für Virginia. Sie
nahm es als einen Ausdruck der Verachtung. So weit ist es also mit mir
gekommen, dachte sie, und das Blut rauschte ihr zu Kopf. Sie begab sich
langsamen Schritts zum Sofa, ließ sich niedersinken und fiel mit dem
Gesicht auf die verschränkten Arme. So weit ist es also, und ich bin
ihm nichts mehr wert, das war ihr einziger Gedanke, und alles, was sie
körperlich von sich spürte, war ihr eine Last und ein Grauen.

Jetzt bist du mir sicher, jauchzte es in Erwin, jetzt hab ich dich ganz
und gar.

»Was ist das? es klopft jemand«, murmelte Frau Geßner. Sie öffnete
die Tür, – Ulrich Zimmermann stand da. Er grüßte, niemand antwortete.
Es war schon dunkel geworden, und als die Tür aufging, fiel der
Lichtschein vom beleuchteten Flur herein. »Draußen war offen«, sagte
Ulrich entschuldigend.

Ulrich Zimmermann hatte die letzten Tage in einer Besorgnis um Virginia
verbracht, die in ihm durch ein kurzes Beisammensein mit dem Grafen
Palester entstanden war. Palester hatte sich nicht klar geäußert, aber
seine geheimnisvollen Andeutungen hatten in Ulrich den Vorsatz erweckt,
Virginia aufzusuchen. Vielleicht nur um sie zu sehen. Er kam von der
Piaristengasse, wo man ihm die neue Wohnung gesagt hatte.

Er grüßte abermals schüchtern, auch jetzt antwortete niemand. Frau
Geßner zündete mit hastigen Gebärden die Lampe an. Ulrich Zimmermann
erblickte Erwin und erschrak. Er sah Virginia regungslos liegen und
starrte hin wie auf eine Leiche. Alle schlimmen Befürchtungen schienen
bestätigt.

»Eine schlechte Zeit haben Sie da gewählt«, sagte Erwin und schaute
Ulrich mit funkelnden Augen an. Ulrichs Mund verzerrte sich. »Was ist
geschehen?« fragte er Frau Geßner. Diese schüttelte unfreundlich den
Kopf.

»Kommen Sie, ich werde Ihren Wissensdurst befriedigen«, sagte Erwin
herrisch. Ulrich Zimmermann folgte zaudernd.

Als sie auf die Straße traten, hatte Ulrich das Gefühl, an der Seite
eines Feindes zu gehen, der ihn durch Freundschaftskünste so lange
gefoppt, bis er allen Mut der Auflehnung zerstört hatte.

Erwin ging wie gejagt, erst allmählich verlangsamte sich sein Schritt.
»Was macht Mirowitsch?« fragte er plötzlich zerstreut und mit jener
gnädigen Teilnahme, die auf Ulrich wirkte, als ob man ihm mit einer
Stahlbürste über den Rücken streiche. »Er nähert sich der Katastrophe«,
erwiderte er leise. Dann fuhr er fort und blickte Erwin finster in die
Augen: »Und diese ganze Verantwortung nehmen Sie auf sich?«

»Welche Verantwortung?«

Ulrich machte mit Kopf und Schulter eine Bewegung gegen das Haus, das
sie eben verlassen.

Erwin maß ihn von oben bis unten. »Rivalität trübt das Urteil«, sagte
er. Ulrich, der eine Beleidigung erst kapierte, wenn der Beleidiger
sie vergessen hatte, sah bekümmert drein. Die Leute von starkem
Phantasieleben haben eine eigentümliche Angst davor, aus Begebenheiten,
unter denen sie leiden, die Folgerungen für ihr Verhalten zu ziehen.
Ulrich war erdrückt von dem Bewußtsein, eine bemitleidenswerte Figur
darzustellen gegenüber diesem Wachen, diesem Wirklichen. Er schwieg und
konnte das Bild der regungslos hingekauerten Virginia nicht aus seinem
Gedächtnis wischen.

»Sie haben einen Trauerfall gehabt, höre ich«, begann Erwin wieder, der
eben dieses Bild für eine Weile vergessen wollte.

»Ja; mein Onkel ist gestorben.«

»Ach! So schnell –«

»Ja. Eines Tages wurde mir gemeldet, daß er nur noch kurze Zeit zu
leben habe. Er wünschte mich zu sprechen. Er wohnte in einem kleinen
Hotel in Baden. Ich fuhr hinaus. Er hatte sich aus der Stadt geflüchtet
wie ein edles Raubtier, das den Tod fern von seiner Höhle sucht. Er
wollte seine Freunde mit dem Anblick seines Sterbens verschonen. Seit
anderthalb Jahren wußte er, daß er verloren sei; seit anderthalb Jahren
ist er täglich kontemplativer geworden und dachte an nichts anderes als
den Tod. Der Gedanke an den Tod mußte ihm furchtbar sein, denn er hatte
gar keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Illusionen und entbehrte auch
den Trost, der darin liegt, daß man einige Menschen hinterläßt, die mit
gespannter Brust eine Schaufel Sand ins Grab werfen. Er gehörte einer
Generation von arbeitsamen Skeptikern und sentimentalen Zynikern an,
mit denen es jetzt zu Ende geht und die den schmarotzenden Skeptikern
und den zynischen Strebern Platz machen. Er war ein vortrefflicher Mann
und hatte Charakter, was heute ein bißchen veraltet ist.«

»Nun, er hat Sie gewaltig kujoniert«, wandte Erwin ein. »Was Sie
Charakter nennen, war die Verstocktheit der Lustspielväter; die wollen
immer eine Heirat verhindern, die schließlich doch stattfindet.«

»Nein, nein, er hing am Gelde, und er hing an Formen«, widersprach
Ulrich Zimmermann. »Als ich ihn sah, drehte sich mir das Herz im Leibe
um. Haben Sie je einen Hund gesehen, der weiß, daß er zum Schinder
geführt wird? Diese sanften, nassen Augen voll Vorwurf und ohne
Haß? Der Herr hat sich versteckt, und die Augen des Hundes suchen
den Herrn. Solche Augen hatte der alte Mann. Als ich vor ihm stand,
verlegen und dumm, wie man ist, wenn andere leiden, konnte er kaum
mehr reden. Er hatte eine dick mit Banknoten gefüllte Brieftasche
unter seinem Kopfkissen liegen, die er argwöhnisch bewachte. Endlich
erfuhr ich sein Begehren. Er forderte, daß ich jede Beziehung zu Ihnen,
Erwin, abbrechen sollte; wenn ich darein willigte, würde er mich zum
Universalerben einsetzen.«

»Und wozu haben Sie sich entschlossen?« fragte Erwin verwundert.

»Sie sehen ja, wozu ich mich entschlossen habe. Man kann doch nicht
einem Sterbenden gleichsam einen Lebendigen in den Sarg mitgeben. Ich
will Ihnen sagen, Erwin, mein Gefühl war ja nie ungetrübt in Ihrer
Nähe. Der Umgang mit Ihnen hat, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, die
Lust zum Verrat in mir geweckt. Sie haben die furchtbare Eigenschaft,
die Menschen in irgend einer Hinsicht zu Verrätern zu machen. Sie töten
Instinkte wie der Märzwind Knospen. Aber das Allersonderbarste an Ihnen
ist Ihre Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, unsichtbar gerade dann,
wenn man will, daß Sie einstehen sollen für sich, daß Sie sich zeigen
sollen. Dann sind Sie unsichtbar wie der Herr des Hundes, der zum
Schinder muß. Sie sind oft so merkwürdig wesenlos: man sucht Sie und
man findet Sie nicht. Oft wenn ich an Sie denke, ist es mir, als ob Sie
keine Augen hätten, als ob Sie wie ein Tiefseefisch in der Finsternis
schwämmen, mit prachtvollen Farben allerdings, purpurn, gelb und grün,
aber wozu sind diese Farben, frag ich mich, wozu die Herrlichkeit
für einen Augenlosen? wozu in der schwarzen Tiefsee-Finsternis? Nun
gut; vielleicht um dieser schönen Farben willen hab ich meinem Onkel
geantwortet, ich könne auf seine Bedingung nicht eingehen. Nicht
aus Rücksicht oder Trotz oder Dankbarkeit oder aus Furcht mich zu
verkaufen, sondern wegen der prachtvollen Farben. Sie werden das für
eine märchenhafte Dummheit erklären; mag sein. Einige Tage später,
als ich meinen Onkel besuchte, war eben der Notar weggegangen. Es
fand sich auch ein junges Mädchen ein mit seiner Mutter; beide sahen
wie Arbeiterinnen aus. Das Mädchen war die Tochter meines Onkels und
kam aus einem Proletarierwinkel der Großstadt, um ihren Vater, den
sie kaum kannte, sterben zu sehen. Ich wußte natürlich nichts von
ihr, und sie stand da mit einer Nase, die nach Geld schnupperte. Sie
hat zwanzigtausend Kronen geerbt, ich ebensoviel, den Rest, der etwa
zehnmal so groß ist, hat das Sankt-Annenspital bekommen. Nachdem mein
Onkel gestorben war, hat man über fünfhundert Goldstücke im Zimmer
gefunden, die er in der letzten Todesangst um sich herum verstreut
hatte.«

Erwin ging eine Weile mit zur Erde gehefteten Blicken. Plötzlich
schaute er empor und sagte gradeaus vor sich hin: »Es wäre gut, wenn
Sie mich jetzt allein ließen. Es ist am besten, wir verabschieden uns
hier. Ich habe zu Haus ein paar Manuskripte von Ihnen, die werde ich
Ihnen schicken. Es ist am besten, wir trennen uns hier für immer. Gute
Nacht.«

Ulrich Zimmermann konnte sich kaum von der Stelle losreißen, wo
diese Worte gefallen waren. Erwin eilte mit raschen Schritten in die
Dunkelheit. Er suchte eine öffentliche Telephonstelle auf, ließ sich
mit Villa Sansara verbinden und gab Wichtel verschiedene Aufträge.
Bei einem Wagenstandplatz rief er einen Kutscher an und fuhr in die
Geßnersche Wohnung zurück.

Virginia war indes so liegen geblieben, wie sie lag, als Erwin und
Ulrich das Zimmer verlassen hatten. Es verfloß eine Viertelstunde, und
keine der beiden Frauen sprach ein Wort. Dann kniete Frau Geßner neben
dem Sofa und schlang mit trocknem Weinen die Arme um den Hals des
Mädchens. Doch Virginia rührte sich nicht; erst als die Zerknirschung
der Mutter zudringlicher wurde, richtete sie sich empor und sagte kalt.
»Laß nur das, Mutter. Es hat keinen Zweck mehr. Sag mir lieber, ob es
wahr ist, daß mein Vater ein unbekannter Mann ist.«

Frau Geßner stieß einen Schrei aus. »Das hat er dir gesagt?« stotterte
sie und schlug die Hände klatschend zusammen. »Und der andere, der hat
also geplaudert? Ich armes unglückliches Weib!« rief sie. »Mein armes,
unglückliches Kind!«

Die Flurglocke läutete schrill. Mit verweintem Gesicht, das Taschentuch
vor den Mund gepreßt, ging Frau Geßner hinaus. Sie öffnete, und Erwin
stand vor ihr. »Nachdem Sie so übel mit Virginia umgesprungen sind,
kann sie nicht bei Ihnen im Hause bleiben«, sagte er schnell und mit
unterdrückter Stimme. »Was für ein Satan ist in Sie gefahren?«

»Ach Gott, ach Gott!« stöhnte die Frau.

»Still jetzt!« befahl Erwin. »Ich werde Virginia zur Gräfin Hamlisch
bringen. Widersetzen Sie sich nicht! Schweigen Sie. Alles hängt davon
ab, daß Sie vernünftig sind. In drei bis vier Tagen erhalten Sie
Nachricht.«

Halb bittend, halb beschwörend starrte ihn Frau Geßner an. Erwin
bekümmerte sich nicht weiter um sie, er trat ins Zimmer, ergriff
Virginia bei der Hand und sagte leidenschaftlich drängend: »Ich wollte
vorhin nicht den Druck der Stimmung ausnützen, unter der Sie standen,
Virginia. Doch nun fürchte ich für Sie die Verzweiflung der kommenden
Nacht. Ich halte Sie beim Wort. Alles ist bereit. Folgen Sie mir.«

»Wohin?« fragte Virginia mit unbeweglicher Miene.

»Zur Gräfin Hamlisch.« Gräfin Hamlisch war eine Schwester der Frau von
Resowsky. Virginia kannte und ehrte diese Dame, und sie hätte nichts
gegen Erwins Vorschlag einzuwenden gehabt –, denn ihr umdüstertes Herz
verlangte vor allem darnach, von der Mutter fortzugehen, – wäre nicht
ein Mißtrauen in ihr gewesen, das nicht als Gedanke oder Erwägung,
sondern als Lähmung ihres Körpers, ihrer Glieder, ihrer Zunge in
Erscheinung trat.

»Es kann noch alles gut werden, Virginia«, fuhr Erwin fort, indem er
seine Stirn zu der ihren niederbeugte; »Leben, Glück und Zukunft hängen
davon ab, besinnen Sie sich nicht, jedes Zögern bedeutet Unheil.«

Virginia atmete plötzlich auf. Verloren, aber nicht verworfen, dachte
sie und spürte eine finstere Beruhigung. Mechanisch erhob sie sich.
»Mantel! Hut! rasch!« rief Erwin der Mutter zu, die verstört auf der
Schwelle stand.

Frau Geßner gehorchte erschrocken. Virginia ließ sich apathisch die
Jacke anziehen; apathisch befestigte sie den Hut in den Haaren, als ihr
die Mutter die langen Nadeln gereicht hatte. Sie erfaßte nur dumpf, was
geschah und was sie tat.

»Erwin! Gina!« rief Frau Geßner jammernd. Erwin warf ihr einen wütenden
Blick zu, und sie schwieg.

Er führte sie zum Wagen. Beide nahmen Platz, die Räder begannen zu
rollen. Erwin packte Virginias heiße Hände, sie zog sie beinahe
entsetzt zurück, da ließ er sich auf die Knie gleiten, nahm ihren
Rocksaum und drückte ihn an die Lippen. Sie starrte weh vor sich hin.

Er erhob sich wieder und fragte, ob er rauchen dürfe. Sie antwortete
nicht. Er unterließ es. Die Pferde rannten wie rabiat durch eine
Menge von Straßen, endlich hielt das Gefährt vor einem kleinen Palais
im dritten Bezirk. Erwin öffnete den Schlag. »Warten Sie einen
Augenblick,« sagte er, »ich will die Gräfin benachrichtigen.« Er sprang
hinaus und verschwand im Torgang. Virginias Kehle war wie zugeschnürt;
in ihrer Brust war eine steinern schwere Gleichgültigkeit.

Nach einigen Minuten erschien Erwin wieder, – er mochte beim Portier
einen belanglosen Auftrag erteilt haben, – rief dem Kutscher etwas zu,
und nachdem er eingestiegen war und der Wagen sich wieder in Bewegung
gesetzt hatte, sagte er hastig: »Es ist ein Mißverständnis geschehen.
Die Gräfin ist zu mir hinausgefahren. Sie erwartet uns in meinem Haus.
Ich habe ihr vor einer Stunde einen Brief mit einem Boten geschickt.
Was ich geschrieben hatte, mag allerdings verworren und ungereimt
gewesen sein, ich war meiner Sinne kaum mächtig.«

Virginia stutzte. Verrätst du mich abermals? fragte ihr Blick, der
nicht auf ihn gerichtet war, und sie empfand eine schmerzliche,
trotzige Neugier. Ich will sehen, ob du mich abermals verrätst, sagten
gleichsam die Augenlider bei ihrem Niedersinken. Erwin aber sprach und
sprach und suchte das, was er ein Mißverständnis nannte, zu ergründen.
Doch redete er nur, damit Virginia die Länge der Fahrt nicht spüre, und
seine Stimme klang schließlich heiser und angestrengt.

Weshalb sollte die Gräfin zu ihm fahren? dachte Virginia, und um ihren
Mund zuckte es beständig. Weshalb? was will er damit? Es waren aber
diese Gedanken sowie seine Worte nur Täuschungen. Sie täuschten sich
selbst und einander. Hinter ihren Gedanken lag ratloser Kummer, hinter
seinen Reden ungezügelte Freude, verbrecherische Ungeduld.

Sie waren am Ziel. Wichtel mußte belehrt worden sein, denn er zeigte
sich nicht. Sie schritten durch die Halle. »Ich bitte, hier herauf«,
sagte Erwin höflich. Virginia zauderte vor der zweimal geeckten
Holztreppe. »Ich bitte, hier herauf,« wiederholte Erwin scharf, »die
Gräfin muß oben sein; wir haben nämlich ein Malheur in den untern
Räumen gehabt. Kurzschluß. Das Licht versagt.«

Es klang plausibel. »Wichtel!« rief er nun. Niemand antwortete.

Er verrät mich, dachte Virginia, aber sie stieg die Treppe hinan,
gequält und benommen von jener trotzigen Neugier.

Sie stand in einem wunderbaren, dunkelblauen Zimmer; müde, zerschlagen,
in sich gekehrt, ja fast verträumt und ohne eigentlich zu leiden. Erwin
sprach zu ihr. Nun klang seine Stimme wie aufgedeckt. Sie begriff. Sie
schaute sich um und drückte ihre Hände ineinander. Er hat mich abermals
verraten, sagte sie zu sich selbst.

Aber noch immer ward sie sich des Vorgangs nicht völlig bewußt. Sie
dünkte sich das Opfer eines häßlichen Zwischenfalls, einer dummen Lüge,
eines unwürdigen Scherzes und fragte sich, wohin das führen solle.
Erwin betrachtete sie eine Weile schweigend, auf einmal erhob er sich
und ging hinaus.

Zunächst war Virginia froh, daß sie allein war. Sie schloß die Augen
und öffnete sie wieder. Welche tiefe Stille! Eine schier trinkbare
Stille! Was ist das für ein Zimmer? fragte sie sich; ich kenne es
nicht, es ist hergerichtet wie für eine Frau.

Ich soll ihn lieben, dachte sie unvermittelt; warum nicht? warum sollt’
ich ihn nicht lieben? Ist es denn ein Kunststück zu lieben? Er wird
mich heiraten, und ich werde ihn lieben. Und der andere? Manfred? Er
ist so weit, so unermeßlich weit. Aber warum sollt ich nicht auch ihn
lieben? warum sollt ich nicht beide lieben? beendigte sie ihre Gedanken
in vollständiger Verdüsterung des Geistes.

Sie wanderte auf und ab, auf und ab. Aus welchem Grund läßt er mich so
lange allein? grübelte sie befremdet und bekam nun Angst vor der Stille.

Ihr Blick fiel auf eine kleine Tür. Sie öffnete und schaute in ein
rosig beleuchtetes Badezimmer. Kopfschüttelnd schloß sie wieder,
wandte sich weg und trat zu einem Fenster. Die Nacht war schwarz.
Regentropfen spritzten ans Glas. Sie nahm den Hut herunter und fing
von neuem an, auf und ab zu wandern. Um Gottes willen, was tu ich! fuhr
es ihr plötzlich durch den Sinn; hier kann ich nicht bleiben, es ist
spät, ich muß fort.

Sie schlüpfte in die Jacke, setzte den Hut wieder auf und eilte zur
Tür. Sie drückte die Klinke nieder. Ein eisiges Entsetzen überfiel sie.
Die Türe war versperrt.

Sie drehte den Kopf hin und her. Ihre Augen waren aufgerissen. Noch
einmal und noch einmal drückte sie die Klinke. Umsonst. Die Tür war
versperrt. Sie war gefangen.

Weinend schlug sie die Hände vors Gesicht und lehnte sich mit der
Stirne kraftlos gegen den Pfosten.




Die Miniaturen


In wachsender Sorge um das Schicksal Virginias wußte sich Ulrich
Zimmermann keinen andern Rat, als den Grafen Palester aufzusuchen.
Noch vor acht Uhr war er in Hietzing und läutete an der steinernen
Ummauerung des morschen Tores, das zur Wohnung Palesters führte. Eine
hinkende Pförtnerin führte ihn über regennasse Wege zu einem uralten
und keineswegs freundlich aussehenden Haus, das von einer Laterne
beleuchtet wurde, welche über der gegenüberliegenden Gärtnerwohnung
aufgehängt war. Der Garten gehörte zu einem ausgedehnten Besitz, und
diese Gebäude hatten ehemals Jägern und Heiducken zum Aufenthalt
gedient.

Die vergitterten Fenster des Hauses waren alle dunkel. Die Pförtnerin
war gegangen. Ulrich fand keine Glocke und pochte daher ans Tor. Es
blieb alles still, und er pochte mit dem Knauf seines Schirmes, daß es
drinnen laut hallte wie in einem Kellergewölbe.

Endlich kreischte oben ein Laden, und der Kopf einer Frau beugte sich
über das Sims. Eine ruhige, helle Stimme fragte mit fremdländischer
Betonung nach dem Begehr. Ulrich nannte seinen Namen und fügte hinzu,
er müsse in einer wichtigen Angelegenheit mit dem Grafen sprechen. Nach
einer Weile rasselte unten das Schloß, und Graf Palester erschien mit
einer Kerze. Er geleitete den abendlichen Gast über eine Steintreppe
hinauf in ein großes Zimmer, das die Trostlosigkeit einer Wachtstube
hatte. Den Boden bedeckte kein Teppich; als einziger Schmuck der Wände
prangte die Photographie eines Schiffes; ein Tisch, drei Holzstühle,
ein Messingbett und eine grüne alte Truhe waren das ganze Mobiliar.
Niemand hätte in dieser eleganten Villenvorstadt, umfriedet durch die
Mauern einer weiland hochadeligen Domäne, eine solche Wohnstätte der
Armut gesucht. Es hatte dem Grafen Mühe gekostet, mitten unter den
Unanfechtbaren des Lebens Zuflucht zu finden und hinter ihrem Glanz
seine Not zu verstecken.

Ulrich Zimmermann berichtete, daß er heute Virginia Geßner
aufgesucht und daß er den Eindruck empfangen habe, als ob sich dort
verhängnisvolle Dinge abspielten. Er schilderte, wie er Virginia
gesehen, wie unwillkommen Erwin seine Dazwischenkunft gewesen sei
und daß er den Gedanken nicht abweisen könne, als müsse man helfend
eingreifen.

Palester hörte aufmerksam zu. Er stützte das schmale, blasse Gesicht in
die Hand. »Es ist gut, daß Sie mir das alles sagen«, erwiderte er. »Ich
werde heute abend noch zu Erwin Reiner gehen. Nicht leicht wird mir der
Schritt, denn wie soll man über derartiges sprechen, aber es muß sein.
Übrigens muß Manfred Dalcroze jeden Tag zurückkommen. Ich erwarte ihn.«

»Wirklich? Ist denn die Expedition schon zu Ende?« fragte Ulrich, nicht
fähig, Freude darüber zu bezeigen.

»Nein, aber ich habe ihm geschrieben.«

»Sie haben ihm geschrieben? Wann denn?«

»Vor neun oder zehn Wochen.«

»Sie hatten also schon damals den Eindruck –?«

Palester nickte. »Wenn ihn mein Brief ordnungsgemäß erreicht hat und er
die raschesten Verbindungen hat benutzen können, muß er noch in dieser
Woche kommen.«

»Aber wie konnten Sie denn mit solcher Bestimmtheit –?«

»Das ist eine Sache für sich«, antwortete Palester. Er zog den Mantel
an, nahm Hut und Schirm und sagte: »also gehen wir, wenn ich bitten
darf.«

Nicht so hatte Palester an Manfred geschrieben, wie er einst gewollt,
als er den reinen Strom der Sympathie verspürt, der von dem Jüngling
ausging, nicht mitteilend, breit und frei, sondern kurz und gebietend,
so geschrieben, daß es für Manfred keinen andern Gedanken mehr geben
durfte, als mit dem nächsten Schiff nach Europa zu fahren. Eine
Nachricht von militärischer Knappheit, unbeirrt von konventionellen
Rücksichten, und derart beschaffen, daß sie in dem Fernweilenden, um
dessen sichere Adresse er den Professor Dalcroze in Berlin gebeten
hatte, den erwünschten Aufruhr der Tatkraft entzünden mußte.

Graf Palester hätte sich wohl gehütet, einen Mann wie Erwin bei einem
Spiel zu stören, das am Ende nur diesen allein anging; er dachte nicht
an den Verlust jenes Kunstschatzes, der ihm ungeachtet seiner mißlichen
Umstände etwas wie idealgefühlten Reichtum verlieh, und dessen er sich
nicht entäußern wollte, weil er der Welt und dem Geschick zu trotzen
entschlossen war, ekstatisch wie ein Mönch und in Sehnsucht nach
Selbstvernichtung wie ein Fakir. Nicht darum hatte er Manfred gerufen,
sondern aus einer großen, seltsamen, fast übersinnlichen Verehrung für
Virginia. Und eines Tages, von der Versunkenheit der suchenden Träume
in die Wirklichkeit zurückkehrend, war es ihm für gewiß erschienen, daß
Virginia nicht mehr standhalten konnte.

Sie zeigte sich ihm wie ein astraler Leib, und aus ihren Augen war das
entwichen, was er als die reine Musik des Herzens empfand. Die Seele
war gleichsam aufgebrochen und war emporgestiegen in das Antlitz, wo
sie klagte ähnlich der Nymphe, der man ihr Geisterkleid entwendet hat.
Und Graf Palester hatte ein grenzenloses Vertrauen in Virginia gesetzt.
Er war einer jener Menschen, die sich in der Verborgenheit ein Pantheon
errichten, worin, gefeit gegen den Haß und Pesthauch der Millionen,
einige vergötterte Gestalten weilen. An diesen hing er mit der Liebe,
die die Einsamkeit in ihm erzeugte. Mit ihnen wandelte er ungesehen
durch ihr Dasein, und sie hielten ihn aufrecht in der tragischen
Verwüstung, die sein Stolz, seine Ehrenhaftigkeit, seine Schweigsamkeit
und die Lust an der Philosophie in seinem Leben hervorgebracht
hatten. Er mied die persönliche Berührung mit ihnen, er zog sich von
ihnen zurück, sobald sie von seinem Herzen Besitz ergriffen, aber er
verkehrte mit ihnen, wie man mit höchst teuren Toten verkehrt oder doch
mit solchen Menschen, die in einer unerreichbaren Ferne sind.

Graf Palester lebte nicht sein Leben, er träumte es, und keine äußere
Hervorbringung erzog ihn zur Gegenständlichkeit. Ihm mangelte die
Gegenwartskraft so, daß er sich oft wie der Schatten seines Schattens
vorkam. Es war ihm wunderbar bewußt, was sich bis ins sechste Glied
zurück mit seinen Ahnen begeben hatte, das ganze Geschlecht, weit
in die Höhle der Jahrhunderte hinein, war ihm wie eigendurchlebtes
Kindheits- und Mannesalter, jedoch seiner selbst wurde er kaum gewahr,
und hätte er religiöse Neigungen besessen, so wäre er vielleicht ein
Heiliger geworden wie Franz von Assisi. Der Sturm moderner Existenz,
der alles zerschmettert, was nicht mittreibt, verurteilte ihn zu
anonymem Elend.

Vor zwei Jahren hatte er, noch als Offizier der Marine, in einer
Kunstausstellung in Venedig das Porträt einer Frau gesehen, das ihn
fesselte wie nie ein Frauengesicht zuvor, nicht sowohl durch Schönheit,
sondern durch innerlichen Ausdruck. Er stand täglich vor dem Bild und
wurde nicht müde, es zu betrachten. Ohne daß es ihm jemals einfiel,
sich zu erkundigen, wer das Modell sei, nahm er das Bildnis immer
tiefer in das Leben seiner Seele auf und geriet in einen sonderbar
stummen Verkehr mit einem Wesen, das, körperlicher als ein Traum,
dennoch vollkommen unwirklich für ihn war. Drei Monate später wandelte
er eines Abends durch eine Straße in Livorno, als durch das geöffnete
Fenster eines Hauses Gesang an seine Ohren schallte. Erbebend blieb er
stehen und lauschte. Es war eine weibliche Stimme, für deren Wohlklang
und schmelzende Trauer er kein anderes Gleichnis fand als den Ausdruck
auf jenem Gemälde. Es geschah nun etwas durchaus Ungewöhnliches. Er
schritt in das Haus. Er stieg die Treppe hinan, ging durch einen
Flur, öffnete eine Türe und, Krönung all des Seltsamen! stand vor dem
lebendig gewordenen Bild, allein mit der Sängerin in einem hohen, von
Kerzen beleuchteten Zimmer. Der Hinweis auf das Gemälde rechtfertigte
sein Tun bei ihr und ließ seine Person um desto wunderlicher
erscheinen. Ihr Vertrauen zu ihm wurzelte im ersten Blick, ihr erstes
Gefühl war Liebe. Sie war eine unglückliche Frau; aus armer Familie
stammend, hatte sie die ihren vor dem Schrecklichsten gerettet, indem
sie einem der verrufensten Wucherer des Landes, der um sie warb, die
Hand reichte. Sie lebte mit ihrem Gatten in einer Ehe, die keine Ehe
war. Es begann nun für Palester und Lenore eine Zeit der Leidenschaft
und der Kämpfe. Sie flohen zusammen, mehr um den Gemeinheiten und
bösen Anstiftungen des Gatten zu entgehen als um ihrer Liebe willen,
die auf Welt- und Menschenflucht ohnehin gestellt war. Sie wurden
verfolgt, sie waren gefährdet, die Gewalt verband sich gegen sie mit
Richter und Gesetz, verhaßter Lärm von Stimmen für und wider umdrängte
sie, da starb plötzlich Lenorens Mann, und sie war frei; und reich.
Aber sie hätte den Geliebten verloren, wenn sie nicht völlig auf ein
Vermögen verzichtet hätte, das von der verächtlichen Herkunft war.
Palester nahm den Abschied, und als er mit Lenore das verkommene Haus
in Hietzing mietete, in welchem nach Ansicht vieler Nachbarn Gespenster
umgingen, verblieben ihm nur etliche Tausend Kronen und seine Pension
als Offizier. Die beiden Menschen waren so unfähig wie ungewillt zu
bürgerlichem Erwerb, und ihr Leben in der bürgerlichen Gesellschaft
hatte etwas Elfenhaftes; es trug den Stempel der Tugend und des
verschuldeten Untergangs.

Ulrich Zimmermann begleitete den Grafen bis zur Stadtbahnstation. Eine
Stunde später befand sich Palester am Tor der Villa Sansara. Wichtel
sagte, sein Herr sei nicht zu Hause. Graf Palester erklärte, warten
zu wollen. Der Herr komme überhaupt nicht nach Hause, versicherte
Wichtel mit scheuem Blick nach der Treppe und den Türen. Plötzlich
erschien Erwin, wollte sich gegen die Treppe wenden und stutzte, als
er den Grafen sah. Erst zog ein Schatten des Ärgers über seine Stirn,
dann lächelte er düster. »Wie geht es Ihnen, Graf?« fragte er. »Bitte,
treten Sie nur ein. Sie dürfen nicht ungehalten sein,« fuhr er fort,
als ihm Palester in die Bibliothek gefolgt war, »der Auftrag, den
Wichtel hat, betrifft nicht die Person, sondern die Welt. Ich habe mich
zurückgezogen von der Welt. Ich bin Einsiedler geworden.«

»Aber ein etwas rastloser Einsiedler, wie mir scheint«, bemerkte Graf
Ottokar; »in Ihren Augen ist nichts von Sammlung und Andacht.«

Erwin setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die
Hand. »Andacht und Sammlung!« wiederholte er höhnisch. »Für mich
Andacht und Sammlung!« Seine Zähne klappten aufeinander, und in seinem
Gesicht war, wie zur Bekräftigung des Hohns, ein verwilderter Zug.
Graf Palester wurde von seltsamer Unruhe ergriffen; er kannte dieses
Gefühl vom Meere her. Vor großen Stürmen und Gewittern hatte er stets
eine ähnliche Unruhe verspürt. Es fiel ihm auf, daß Erwins Haare in
Verwirrung über der umdüsterten Stirn lagen. Er hatte diese Haare nie
anders gesehen als in sorgfältiger Scheitelung, glatt und geordnet.
Dieser Umstand vermehrte seine Unruhe noch. Er fühlte sich bedrückt
und war zunächst unfähig zu sprechen. Erwin kehrte sich ab, und seine
Blicke irrten wie feindselig über die Zeilen einer Handschrift auf dem
Tisch vor ihm.

»Haben Sie gearbeitet?« fragte Palester leise, nur um das peinigende
Schweigen zu unterbrechen.

Erwin nickte. Er blätterte in der Handschrift und sagte: »Haben Sie
je die Erfahrung gemacht, daß das eigene Werk einen anstiert wie
eine Gorgo? Manchmal graut mir vor diesen Worten da, die ich selbst
geschrieben habe.«

»Darf ich wissen, was es für ein Werk ist?«

»Es ist eine Abhandlung. Der Begriff der Konstante und die moralische
Idee heißt der Titel.«

»Das klingt vielversprechend.«

»Es führt weit, Graf, es führt mich ins Bodenlose. Ich wollte eine
einfache Feststellung von Kategorien geben und sehe mich im Bodenlosen
und Grenzenlosen. Hier ist eine Art Essenz,« fuhr Erwin fort, indem er
zu blättern aufhörte, »darf ich Ihnen vorlesen?«

»Ich bitte darum.«

»Als der menschliche Geist seine Beziehung zur Welt zum ersten Male in
den Ausdruck faßte, daß alles in ewiger Bewegung sei, hatte er zugleich
sich selbst als das einzig Konstante, das einzig Seiende, dieser Welt
gegenübergestellt. Er hatte sich auf das Ufer des Weltflußbettes
geschwungen, ja sogar den archimedischen Punkt gefunden, von dem aus
er die Welt bewegen konnte, weil er selber stand. Um so stärker mußte
seine Sehnsucht erwachsen, die Synthese, die im Geist gegeben ist, auch
an der Welt zu vollziehen, das heißt, die Welt seinem Ebenbild gemäß
nachzuschaffen. Darum ist er endlos bemüht, das Werdende durch das
Gesetz in die Formel des Seins zu bannen: er treibt Mathematik, das
heißt Wissenschaft. Darum verwandelt er die Dinge in Wesen, nimmt sie
aus dem Raum, gibt ihnen den Körper, schafft die Gestalt: das heißt,
er wird zum Künstler. Darum nimmt er sie aus der Zeit, verleiht ihnen
Seele und schafft die Persönlichkeit: das heißt, er ist moralisch oder
religiös. Können Sie folgen, Graf?«

»Vollkommen.«

»Gesetz, Gestalt und Persönlichkeit sind die Dreieinigkeit der
Konstanz, in deren Zeichen der Geist die Welt formt. Die Welt
hinwiederum ist der Stoff, in dem das Gesetz sich erkennt, die Gestalt
sich verkörpert, die Persönlichkeit sich wiederfindet. Daher erscheint
jedes System, jedes Kunstwerk und jede Persönlichkeit als eine Welt
für sich; daher«, und Erwin las dies mit erhobener Stimme, »muß das
Gesetzlose das schlechthin Unsinnige, das Gestaltlose das schlechthin
Chaotische und das Unpersönliche das schlechthin Unmoralische sein.
Denn alles dies ist nur der dreifach verschiedene Ausdruck derselben
Verneinung: des Inkonstanten, des Undings an sich.«

Graf Palester schaute Erwin mit tiefen, fühlenden Blicken an. Wie
furchtbar, dachte er schaudernd, wie furchtbar diese Selbstverdammung
sich anhört! Wie kann er leben, nachdem er solches ergründet? »Sie
geben damit eine unvergleichliche Charakteristik eines dreifachen
Fluches, der auf uns lastet und auf der Zeit«, sagte Palester; »des
Anarchisten im Geiste, des Proteus am Leibe und des Verantwortungslosen
in der Seele. Dessen, der sich befreit und dem Freiheit zum Verbrechen
dient, dessen, der sich verwandelt und durch Verwandlung Gott und
Menschheit täuscht, dessen, der keine Schuld auf sich nimmt, weil er
nie zu finden ist.«

»Ei!« rief Erwin betroffen, »das heißt man die königliche Idee in die
Knechtschaft der Erfahrung pressen. Die Exempel vergiften mir den Text,
die Nutzanwendung bricht mir die Flügel und ich stürze!« Er lachte kurz
und schüttelte den Kopf.

Palester stand auf. »Erwin!« sagte er leise, »fliehen Sie nicht vor
mir! Fliehen Sie nicht auf diesen Flügeln, die doch nicht weit tragen.
Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu philosophieren. Ich bin nicht
einmal gekommen, um Sie zu warnen oder zu beschwören. Ich fordere
Sie auf, innezuhalten. Ich appelliere an Sie im Namen der Ehre, der
Freundschaft, der Menschlichkeit.«

Erwin stand gleichfalls auf. Er verschränkte die Arme über der Brust.
»Graf«, antwortete er eisig, »ich bitte Sie, mich mit Sonntagspredigten
zu verschonen.«

»Denken Sie doch daran, daß es außer Ihren Lüsten noch Glück für
andre Menschen gibt«, fuhr Palester ruhig fort. »Sie achten es nicht,
ich weiß es, Sie achten nicht das Glück der andern, aber ebensowenig
wie Sie einen wehrlosen Greis hinmorden oder einen Bettler um seine
Ersparnisse bestehlen würden – –«

»Graf!« rief Erwin finster und ungeduldig, »ich habe nicht Zeit zu
beichten, ich habe nicht Lust, den Glauben zu wechseln. Ich lehne es
ab, mich zu rechtfertigen, ich erlaube niemandem, wer es auch sei, in
meine Brust zu greifen und, was an Tat und Wunsch darinnen ist, mit
Philisterweisheit zu besudeln.«

»Philister!« entgegnete Palester traurig; »was sagen Sie damit? Wie
schlimm ist es um uns bestellt, wenn wir den Menschen, der sich höherem
Gesetz beugt, mit einem Fußtritt beiseite stoßen, der nicht ihn,
sondern uns selbst der Verachtung preisgibt.«

Erwin wandte sich ab. »Ich habe heute schon einen Freund begraben,«
sagte er mit krampfhaft zusammengezogenen Brauen, »es kommt mir auf
eine zweite Beerdigung nicht an.«

»Ich weiß es«, versetzte Graf Palester sanft. »Sie können alles wagen.
Sie haben die Freiheit und die Möglichkeit der Verwandlung.«

»Doch vorher,« sagte Erwin, ohne Palester anzuschauen, »vorher haben
wir noch eine kleine Wette auszugleichen, Graf.«

Graf Palester erbleichte. »Ah, eine Wette,« murmelte er. »Ich entsinne
mich. Es war ein sonderbares Gespräch zwischen uns, ein Gespräch, das
mir Übelkeit verursachte wie ein verfaulter Fisch.«

»Es war eine Laune, Graf. Eine Laune, die von Folgen begleitet war,
als ob man im Rausch einen Diamanten gefunden hätte ... auf einem
Wirtshaustisch.«

Immer qualvoller schien es dem Grafen, so zu stehen und in das Gesicht
Erwins blicken zu müssen, und er hatte die Empfindung, als ob dieses
Gesicht beständig wechselte, beständig seinen Ausdruck veränderte, bald
nah, bald fern wäre, bald stolz, bald sklavisch, bald leidenschaftlich,
bald wie gefroren, bald schön und edel, bald verzerrt und häßlich, bald
verständig, ja erhaben durch Vernunft, bald tierhaft trüb und niedrig
aussah. Ach, dachte er, erfüllt von einem Schmerz, der ihm selbst
unbegreiflich dünkte, ihm ist die Liebe unbekannt, alle Genien sind an
seiner Wiege gestanden und haben ihn mit allen Gaben der Erde gesegnet,
doch ein dämonischer Dieb ist herangeschlichen und hat ihm die Liebe
entwendet.

»Sie ahnen nicht, wie glücklich es mich macht, in den Besitz
dieser göttlichen Kunstwerke zu gelangen«, fuhr Erwin, plötzlich
liebenswürdig, fort. »Ich habe davon geträumt, sie waren mein Eigentum,
bevor ich sie erworben hatte.«

»Und haben Sie sie denn erworben?« fragte Palester mit kaum
vernehmbarer Stimme und fügte mit mühsamem Spott hinzu: »Nehmen Sie
mir’s nicht übel, wenn ich daran zweifle.«

»Dieser Zweifel kann durch den Augenschein behoben werden«, entgegnete
Erwin lächelnd.

Palester trat einen Schritt zurück. Er starrte Erwin mit aufgerissenen
Augen an und blinzelte dann mit den Lidern, die sich langsam röteten.

»Ich finde es selbstverständlich, daß ich Ihnen Beweise liefern muß«,
sagte Erwin mit undurchdringlicher Freundlichkeit im Ton. »Haben Sie
die Güte, mir zu folgen, Graf.«

Und Graf Palester folgte ihm wie behext. Er folgte ihm aus dem Zimmer
und die flache Treppe des ungenügend beleuchteten Vorsaals hinan und
durch einen langen Gang, an dessen Wänden alte, braune Ölgemälde in
schwarzen Rahmen hingen.

Erwin blieb vor einer Tür stehen. Bevor er aber nach der Klinke
gegriffen hatte, war Palester dicht an seine Seite getreten, legte ihm
die Hand auf die Schulter und sagte, indem er seinen Blick fest in den
Erwins bohrte: »Lassen Sie das nur. Ich wünsche den Augenschein nicht;
ich weiß nicht, ob ich ihn mit Ruhe ertragen könnte. Ich glaube Ihnen.
Leben Sie wohl.« Er kehrte sich um, ging mit raschen Schritten über den
Flur gegen die Treppe zurück und verließ im strömenden Regen das Haus.

Es war elf Uhr vorüber, als er wieder in seinem kahlen, kalten Zimmer
angelangt war. Er zündete eine Kerze an, ging in das Zimmer seiner
Gefährtin und vergewisserte sich, daß sie schlief. Sodann bereitete er
auf einem Spirituskocher Tee, und nachdem er zwei Schalen getrunken
und schwarzes Brot dazu verzehrt hatte, blieb er in regungslosem
Nachdenken lange Zeit sitzen. Es hatte Mitternacht geschlagen, als er
sich erhob, die grüne Truhe aufsperrte und die kostbar eingebundenen
Miniaturen herausnahm. Er betrachtete einzelne Bilder, deren schöne
und mineralische Farben nichts von Alter und Verstaubtheit hatten,
lange, mit abschiednehmenden Blicken. Dann trug er den Folianten in
die Küche hinaus, ergriff eine eiserne Pfanne, stellte sie auf den
Herd, machte ein kleines Spanfeuer in dem Gefäß, und als die Flammen
lichterloh emporschlugen, übergab er ihnen das Buch mit den Miniaturen.
Ruhig schaute er zu, wie das herrliche Werk verbrannte. Ein Knacken
der Dielen ließ ihn emporsehen. Lenore stand auf der Schwelle. Sie war
im Nachtgewand und bloßfüßig, und ihr Gesicht, dem seinen sonderbar
ähnlich, schimmerte bleich unter den roten Haaren. Sie fragte nicht,
sie näherte sich ihm schweigend und, an seine Brust gelehnt, schaute
auch sie der kleinen Feuersbrunst zu. Als die Flammen verloschen waren,
lag das Miniaturenwerk noch da wie ein Schatten seiner selbst, grau und
rauchend, der Deckel mit aufgerolltem Rand.

Am andern Morgen schickte der Graf Palester diesen Aschenüberrest,
den er mit Sorgfalt in ein Holzkistchen gelegt hatte, durch einen
Boten an Erwin Reiner. Als Erwin der jammervollen Zerstörung ansichtig
wurde, den noch keineswegs zerbröckelten Band ungläubig betastete,
war er gleichwohl nicht mehr in der Verfassung, diesen Verlust so zu
empfinden, wie er noch zwölf Stunden vorher ihn empfunden hätte.




Drei Nächte


Nachdem Palester gegangen war, stieg Erwin in den ersten Stock, sperrte
die Türe auf und trat in das Zimmer, in welchem sich Virginia befand.
Er schloß die Türe wieder und blieb stehen.

Virginia saß auf dem Bettrand. Sie erhob sich, hob auch den Kopf
und fixierte Erwin mit einem durchdringenden Blick. Sie hatte sich
gesammelt und mit aller Kraft zur Ruhe bezwungen. Es war dies ein
Beweis von außerordentlichen Fähigkeiten der Seele; jede andre wäre in
einer solchen Lage fassungslos zusammengebrochen. Denn sie mußte sich
ja sagen, daß sie selber Schuld trage, daß sie sich ihm ausgeliefert,
indem sie seinen treulosen Versicherungen geglaubt. Geglaubt?
Nein, dies vielleicht nicht. In die Schwäche und in die Dumpfheit
hineingehetzt, hatte sie sich verführen lassen, den erstbesten Weg
einzuschlagen, den der Lügner gepriesen. Jetzt aber hatte sie Klarheit;
Klarheit genug für ein ganzes Leben.

Die Frage, ob er sie verachte oder nicht verachte, belästigte sie
nicht mehr; diese Frage erschien ihr kindisch und ihrer unwürdig; sie
erkannte, daß er schurkenhaft an ihr handelte. Und ihr Blick verkündete
ihm das.

Sie begriff, was auf dem Spiele stand und daß sie nichts erreichen
würde, wenn sie ihren Schmerz, ihre Empörung, ihre Verzweiflung an den
Tag legte.

»Weshalb haben Sie mich eingesperrt?« fragte sie.

»Das bedarf keiner Erklärung«, antwortete er durch die geschlossenen
Zähne. »Du weißt selber den Grund.«

»Ich werde keine Silbe mehr sprechen, wenn Sie nicht einen anständigen
Ton annehmen. Ich verbiete Ihnen, mich zu duzen«, rief Virginia mit
flammenden Augen und ballte die linke Hand fest zur Faust.

»Ah! Herzig! Ein Zornesausbruch? Herzig! Nun, es sei. Wenn Sie Wert
darauf legen ...« Er zuckte die Achseln.

In seiner Impertinenz war etwas Krampfhaftes. Sein eckenreicher Mund,
den die Beredtsamkeit in allen Worten und Lauten der menschlichen
Sprache zerzackt und beweglich gemacht, zeigte in seiner Struktur eine
wüste Linie. Seine Haltung verriet Entschlossenheit bis zum Äußersten.

»Was wollen Sie mit mir beginnen?« fragte Virginia abermals.

»Ich will Sie haben, Virginia! Haben! Haben! Ganz für mich allein! Ich
will! Sie wissen, scheint mir, nicht, was das bedeutet: ich will!«

»Ich weiß es nur zu gut«, versetzte Virginia schaudernd. »Aber Sie
vergessen, daß ich auch einen Willen habe. Und wenn Sie vor nichts
zurückschrecken, so werd ich mir daran ein Beispiel nehmen.«

»Das haben Sie hübsch gesagt, wunderbare Virginia. Es ist wahr, ich
schrecke vor nichts mehr zurück; es ist wahr. Zu lange haben Sie mich
gemartert.«

»Sie wollten mich also von Anfang an zugrunde richten. Deswegen haben
Sie mich unter die Menschen gelockt, um ihnen zu zeigen, wie leicht es
ist, mich gemein zu machen. O Gott!« Und sie rang die Hände. Sie hatte
nur ein einziges Gefühl, ein glühendes: Reue.

»Was haben Sie sich vorgestellt?« fragte Erwin sarkastisch. »Waren Sie
der Meinung, daß ich immer nur girren und Süßholz raspeln würde?«

»Und alles Lüge, alles Betrug«, stammelte Virginia und blickte ihm
gepeinigt ins Gesicht.

»Das ist der Krieg«, entgegnete er kalt. »Ich hatte übrigens die
Absicht, Sie zu heiraten –«

»Schweigen Sie davon! Man heiratet mich nicht, wie man eine Ware kauft.
Ich schäme mich ja, daß ich nur einen Augenblick daran gedacht habe.
So viel Ehre hab ich Ihnen nun zugetraut, sehen Sie, so viel Achtung
gegen mich, daß ich mir gedacht habe, ich könnte auf die Weise die
Schande auslöschen. Aber jetzt ist ja alles verloren, alles, alles.«
Sie preßte, am ganzen Körper zitternd, die Hände vors Gesicht.

»Ich hatte die Absicht, Sie zu heiraten, und habe sie noch«, fuhr
Erwin trocken fort. »Aber das braucht Zeit, und ich kann Ihnen nicht
auseinandersetzen, warum es sogar viel Zeit braucht. Inzwischen will
ich Sie nicht entbehren, Virginia, denn ich kann Sie nicht mehr
entbehren. Ich würde verbrennen. Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll,
um so lange, wie ich es getan, nach einem Weib zu schmachten.«

Schnellatmend wie ein Läufer, mit erbarmenswürdig fahlem Gesicht
schritt Virginia zur Tür. Als sie an Erwin vorüber wollte, packte er
sie schweigend am Arm. »Lassen Sie mich,« keuchte sie, »ich will gehen.«

»Du mußt bleiben«, sagte er leise und drohend; »du mußt! Weil ich will,
mußt du. Hier wird sich dein Schicksal vollziehen. Und wenn ich zum
Verbrecher werden soll, du mußt.«

»Dann nehmen Sie lieber einen Revolver und schießen Sie mich nieder«,
erwiderte Virginia, die sich der Tränen nicht mehr erwehren konnte,
weinend.

»Wozu? Damit ich zeitlebens ein hungriger Mann bleibe? nachdem du mich
wahnsinnig und mir selbst verächtlich gemacht hast? Nein, Virginia,
so wäre mir nicht gedient. Ich habe gelogen, sagst du? Aber du warst
falsch, kokett und berechnend, du hast mir das Blut erhitzt und
entzündet, bist undankbar und herzlos, und ich lasse dich nicht, ich
lasse dich nicht.«

Virginia blickte mit irren Augen umher. Sie machte eine Bewegung, als
wolle sie die Mauer durchbrechen, um aus seinem Bereich zu kommen.
»Manfred! Manfred!« rief sie plötzlich.

Erwin lachte. Ungeachtet dessen war ihm jämmerlich zumute, und Virginia
spürte es. Voll Kummer schaute sie ihn an, und ein Strahl zaghafter
Heiterkeit erschien in ihren Lippenwinkeln wie eine letzte Hoffnung,
daß dies alles vielleicht doch nicht so ernst, so furchtbar sein könne,
wie sie es sah. Jedoch Erwin raubte ihr diese Hoffnung.

»Ich gebe Ihnen noch Frist, Virginia«, sagte er mit dunkler Stimme.
»Ich warte. Ich habe Zeit. Ich lasse Sie allein. Seien Sie vernünftig.
Überlegen Sie. Es gibt keinen Mann auf der Welt, der Sie mehr liebt
als ich; kein Gefühl, seit die Erde steht, stärker als das meine. Eine
große Gewalt ist in Ihre Hand gegeben. Mein Los ist Verdammnis, wenn
Sie auf Ihrem Sinn beharren. Ich werde nicht allein in die Verdammnis
stürzen, ich werde Sie mit mir hinunterreißen. Hinunter zu den Teufeln,
wenn Sie mir den Himmel verschließen. Sie treten meinen Stolz mit
Füßen, Sie zermalmen mir die Brust, Sie stehlen mir den Glauben an
mich und meinen Stern. Gut und Böse ist in Ihrer Macht. Wählen Sie.
Überlegen Sie, Virginia, ob das, was Sie so glühend verteidigen, das
aufwiegt, was Sie vielleicht meine Entmenschung nennen. Mit Grund,
mit gutem Grund. Bewahren Sie mich vor dem Verbrechen. Überlegen Sie.
Fragen Sie Ihr Herz um Rat. Ich lasse Sie allein. Ruhen Sie. Morgen,
wenn der Tag um ist, werde ich mein Urteil holen.«

Da Virginia weder mit Laut noch Blick antwortete, fügte er trocken
hinzu: »Es hätte natürlich gar keinen Zweck, wenn Sie in irgendeiner
Weise Lärm schlagen würden. Das Zimmer ist das entlegenste des Hauses,
und niemand würde Sie hören. Meine Leute habe ich fortgeschickt.
Außerdem wäre es nur verhängnisvoll für Sie, selbst wenn man Ihnen zu
Hilfe käme. Freiwillig haben Sie mein Haus betreten, das können Sie
nicht leugnen. Daß ich gezwungen bin, den Kerkermeister zu machen, ist
eine Privatsache zwischen uns. Not werden Sie nicht leiden. Wenn Sie
die Güte haben wollen, zuzugreifen, dort ist der Tisch gedeckt.«

Mit ironischer Handbewegung wies er in die Ecke, wo auf einem
sogenannten stummen Diener allerlei Delikatessen serviert waren. Dann
ging er und schloß die Türe zu. Als er in die Halle kam, trat Wichtel
ihm entgegen und erbat sich seine Befehle.

»Sind die Frauenzimmer weg?« fragte Erwin.

»Sie schlafen in der Gärtnerwohnung.«

»Gut. Gehen Sie zu Bett. Das Haus bleibt morgen verschlossen. Wenn es
läutet, zeigen Sie sich nicht.«

»Sehr wohl.«

»Ich glaube, ich kann mich auf Sie verlassen, Wichtel?«

»Sehr wohl.«

»Sie sehen nicht und Sie hören nicht. Darauf kommt es an.«

»Sehr wohl.«

Die halbe Nacht lang wanderte Erwin in der Bibliothek auf und ab. Seine
Überlegung war ruckweise und von lautlosen Wutanfällen begleitet. Als
er sich zur Ruhe begeben hatte, konnte er nicht schlafen. Er stellte
sich unter die kalte Dusche, aber der Brand seines Gehirns verdoppelte
sich. Er versuchte zu lesen, sah aber nicht einmal die Zeilen. Er
horchte auf den ununterbrochen strömenden Regen, dem sich gegen Morgen
ein brausender Sturm zugesellte. Dieser Sturm nahm während des Tages
an Heftigkeit beständig zu. Am Nachmittag klingelte das Telephon. »Wer
ist es?« fragte Erwin, in die Halle tretend. – »Die Frau Baronin
Resowsky«, erwiderte Wichtel flüsternd und das Gesicht vorsichtig vom
Schallrohr abkehrend. – »Ich bin verreist. Sie wissen nicht wohin.
Meine Rückkehr ist unbestimmt.« – »Sehr wohl.«

Er setzte sich an den Schreibtisch, starrte gedankenlos auf das Papier,
nahm die Taschenuhr heraus und beobachtete das Vorwärtshüpfen des
Sekundenzeigers. Aus irgendeinem Grund hatte er die zehnte Abendstunde
als die bestimmt, zu welcher die Frist abgelaufen sein sollte. Er
dachte an diese Stunde wie an einen Wendepunkt seines Lebens. Seine
Wangen waren fahl, seine Augen erloschen, doch das Innere seines Leibes
erschien ihm wie versengt.

Von Minute zu Minute wuchs eine geheimnisvolle Raserei in ihm. Um
acht Uhr schickte er auch noch Wichtel zum Gärtner, damit er drüben
nächtige. Langsam schlich die Zeit. Die Spieluhr auf dem Kamin
trällerte vergnügt ihre Arie durch das totenstille Haus.

Auch Virginia hatte die Nacht schlaflos verbracht. Kurz nach Erwins
Weggehen hatte sie das Fenster geöffnet; es lag zu hoch, als daß sie
hätte hinunterspringen können. Vor ihr breitete sich der weite, einsame
und finstere Park. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und sie schloß
das Fenster wieder. Wenn ich mich umbringe, dachte sie, hält mich alle
Welt für ehrlos; ich muß unbedingt aus dem Haus kommen. Und dann? was
dann? wohin mit mir? wohin mit meiner Schande? ich habe keinen Menschen
mehr; keinen Freund, keine Mutter, kein Heim.

Von solchen Überlegungen unglücklich bewegt, wandelte sie viele
Stunden lang durch den Raum, verspürte aber dabei eine entsetzliche
Müdigkeit. Der Tag brach an. Sie klopfte an die Türe. Sie rief.
Umsonst; nichts rührte sich. Sie nahm eine Semmel von der Platte und aß
mit Widerwillen. Oftmals während des Tages mußte sie sich, von ihrer
Erschöpfung bezwungen, auf einen Sessel niederlassen, doch nach wenigen
Minuten erhob sie sich wieder, zornig, verstört, erwartungsvoll, von
Scham erdrückt und mit stockendem Herzen. Endlich gegen Abend schob sie
den schweren Tisch vor die Türe, damit sie nicht überrascht würde, wenn
sie einschlief, legte sich auf das Sofa und schlummerte alsbald mit
schmerzlicher Wachsamkeit des Gehörs. Das elektrische Licht, das den
ganzen Tag gebrannt hatte, ließ sie brennen.

Das Rücken des Tisches weckte sie auf.

Erwin stand dicht vor ihr. Er war wachsbleich. Er hielt die Hände auf
dem Rücken und schaute sie wortlos an. Er kämpfte mit sich. Es trieb
ihn, auf die Knie zu stürzen und ihre weiße Hand zu fassen. Aber es
galt, alle Kraft zu bewahren.

Virginia sprang empor. Da sah sie, daß die Türe nur angelehnt war.
Gedanke und Entschluß waren eines. Im Nu war sie an Erwin vorübergeeilt
und rannte hinaus, ehe er sie hatte hindern können. Es war dunkel,
nur der Lichtschein vom Zimmer wies ihr den Weg zur Treppe. Sie lief
hinab, sie befand sich am Haustor, es war versperrt, aber der Schlüssel
steckte im Schloß. Während sie den Schlüssel umdrehte, fühlte sie
sich an der Schulter gepackt. Mit einem Aufschrei entwand sie sich dem
Griff und floh nach einer andern Seite, riß eine Tür auf, kam in die
Bibliothek und stürzte weiter in einen finstern Raum.

Erwin schweigend hinter ihr her. Die Glastür nach dem Garten war offen.
Sie lief darauf zu, über die Stufen hinab, in die Finsternis hinein.
Der Regen war so heftig, daß sie das Gefühl hatte, als sei sie in einen
Fluß gesprungen. Der Sturm schleuderte ihr die Nässe wie triefende
Fetzen ins Gesicht, und sie mußte die Augen schließen. Die Wasserlachen
spritzten empor, nasse Blätter und Zweige streiften Haar und Wangen,
die Feuchtigkeit drang durch die Kleider kalt auf die Haut, da stieß
sie mit der Stirn an einen Baum, vor Schmerz konnte sie nicht weiter
und suchte mit blinzelnden Lidern das vom Hause her beleuchtete Stück
des Parks.

Doch Erwin hatte sie schon erreicht. Er hob sie mit beiden Armen auf,
und mit übermenschlicher Anstrengung trug er sie zurück, über die Wege
wieder zurück. Vor der Terrasse versagten ihm die Kräfte, er holte
Atem, nahm sie um die Hüfte und zog die Strauchelnde die Treppen empor,
durch den Empfangsraum in die Bibliothek, schleppte sie bis zum Divan
und warf sie hin.

Mit aufgeregten Schritten, den Mund keuchend geöffnet, eilte er zu
beiden Türen und warf sie ins Schloß. Dann kehrte er zu Virginia zurück
und betrachtete sie grübelnd. Sie regte sich nicht. Sie lag auf der
Erde, der Kopf lag auf dem Divan. Sie war über und über naß und mit
Kot bespritzt. Er fand gleichwohl in der Linie ihres Körpers einige
Ähnlichkeit mit der hingeschmiegten Haltung jener Stunde, als sie an
Manfreds Brust gelegen. Da trieb es ihn, sie zum äußersten zu hetzen,
als ob nur ihre völlige Entwertung und Entehrung ihm noch Hoffnung
übrig ließe.

»So kannst du nicht bleiben«, sagte er heiser. Sie gab keine Antwort.
»Du kannst so nicht bleiben, hörst du?« wiederholte er barsch, bückte
sich und riß ihr die Jacke auf.

Sie sah ihn an, und da trat er zurück. Immer noch hatte dieser Blick
seine wehrende Gewalt. Er preßte die Lippen zusammen und mühte sich,
die Besinnung zu bewahren. Er eilte zu den zwei Seitentüren, sperrte
mit gestoßenen Bewegungen die Türen ab, steckte die Schlüssel in die
Tasche, verließ dann die Bibliothek durch die Tür gegen die Halle,
begab sich hinauf in das Zimmer, in welchem Virginia gewesen, raffte
einen Morgenrock, Schuhe, Strümpfe und ein Tuch aus dem Schrank und
trug alles dies hinunter. Virginia lag noch ebenso wie vorher da.

»Hier ist, was du brauchst,« herrschte er sie an, »so kannst du nicht
bleiben, naß und schmutzig; es widert mich, dich so zu sehen.«

Sie rührte sich nicht.

»Virginia! Virginia!« schrie er mit einem schrecklichen Ton in der
Stimme.

Sie rührte sich nicht.

»Ich will schmutzige Kleider nicht berühren«, rief er. Er kniete
nieder. »Deine Füße sind naß«, fuhr er fort, plötzlich schmeichlerisch;
»man wird krank von nassen Füßen. Man wird häßlich, wenn man krank
ist. Oder willst du trotzen? willst du mich vollkommen in den Irrsinn
treiben?«

Virginia streckte beide Arme beschwörend nach ihm aus. Ihre Frisur
hatte sich gelockert, und die Haare fielen nun langsam über die
Schultern auf die Erde.

»Gut. Schön; ich werde meine Leute holen,« begann Erwin wieder
gleich einem Betrunkenen, »ich werde sie holen, damit sie sich diese
Sehenswürdigkeit von einer Dame betrachten. Ja! Ja! Ja!« tobte er, als
Virginia bittend das Gesicht verzog, »ich gehe schon, ich werde draußen
warten; da sind die Kleider! tu ab das ekle Zeug! tu’s ab! Welche
Beschwer! wie viel Ziererei! Alles wird zur Hülle, die Scham tötet das
Herz.« Er sprach und schien nicht zu wissen, was er sprach. Er ging
hinaus und schritt in der finstern Halle auf und ab. »O Leben! Leben!«
murmelte er, »wie gnädig warst du mir einst, und jetzt stößt du mich
weg von deiner Brust.«

Er öffnete die Tür und sah, daß Virginia noch immer so lag, wie er sie
verlassen. Was wollte er nur? was erwartete er von ihrem Gehorsam?
Kam es ihm darauf an, sie wenigstens äußerlich verwandelt zu sehen?
Sie zu bewegen, das war schon viel. »Marie! Gertrud! Wichtel!« rief
er, gegen die Dunkelheit gewandt. Da erhob sich Virginia mit einem
Wehelaut. Er schloß, ihrer Sinnesänderung sicher, die Tür, beugte sich
und biß mit den Zähnen in die metallene Klinke. Danach tastete er
sich ins Speisezimmer, machte Licht, nahm eine Karaffe voll Kognak aus
dem Buffet und trank. Es war der erste Schluck Schnaps, den er seit
vielen Jahren über die Lippen brachte, da er in solchen Dingen von
pedantischer Enthaltsamkeit war.

Mit kleinen, hauchenden, kindlichen Seufzern hatte Virginia sich ihrer
besudelten Gewänder entledigt und schlüpfte in das Kostüm, das Erwin
auf den Teppich geworfen. Jacke, Rock und Bluse hing sie auf die Lehnen
zweier Sessel. Die Strümpfe klebten an der Haut, sie streifte sie ab,
und während sie dies tat, stürzten wahre Bäche von Tränen aus ihren
Augen. Eine namenlose Verzweiflung überfiel sie, und jede Empfindung
der Brust war gelähmt innerhalb dieser Verzweiflung. Fassungslos über
sich, über ihr Schicksal, über die Menschen, kauerte sie vor dem Kamin,
in welchem noch Kohlenglut war. Sie kauerte, wie Mägde kauern, wenn sie
Feuer schüren. Ihre offenen Haare ergossen sich auf den Teppich und
bildeten große Ringe. Die Füße waren nackt, und die Zehen wühlten sich
in die moosartig kühle Weichheit des Teppichs. Die Falten des grünen
Gewands zitterten mit dem Zittern ihres Leibes – Eichhörnchen zittern
so, wenn sie im Käfig sind, – und ihre beiden halbentblößten Arme waren
mit einer Gebärde eben jener namenlosen Verzweiflung in den Schoß
hineingepreßt.

Fast genau so hatte Manfred sie vor Jahresfrist gewahrt, im seherischen
Schmerz des Abschieds, voll von der Ahnung des Verlusts. Und nun
gewahrte Virginia ihrerseits ihn, den sie kaum mehr kannte, den
Verschollenen, den Flüchtling, den Aufgegebenen, den aus der Seele
Geraubten. Sie sah ihn nahe. Sie empfand es, daß er kam. Ja, er kam,
sie spürte es, die Sorge trieb ihn her. Aber es war zu spät. Nie mehr
durfte sie ihm begegnen. Sie war ein verlorenes Kind, wie durch Geburt
gebrandmarkt, so gebrandmarkt und geschändet durch irrendes Vertrauen,
durch List, Verrat, Betrug, durch Gedicht und Klang, durch alles
was täuscht und verlockt und was leer ist im Innern, finster, kalt,
seelenlos, ohne Leben und ohne Wahrheit.

Sie hörte seinen Schritt, den ungehemmten Schritt des Jägers. Er
umschlang sie von rückwärts, und sie sah seine Augen dicht über
sich. Ihre unendlich scheuen und flehentlichen, abgebrochenen und
ermatteten Gesten beschwichtigte er durch süßeste Worte. Ein Ausdruck
von schlafähnlicher Abwesenheit und Gleichgültigkeit brachte zwei sehr
feine Falten über ihrer Nasenwurzel hervor, und das Weiße des Auges
büßte den Glanz ein und wurde stumpf wie Gips. Er hielt sie fester.
Er flüsterte ohne Unterbrechung ihren Namen, aber sie schüttelte
automatisch den Kopf, und er hatte es nicht für möglich gehalten,
daß ein menschliches Gesicht so bleich werden könne wie das ihre
war. Die Haare überschatteten die zuckende Stirn, und ihre geballten
Fäuste lagen eine kurze Weile zuckend auf seinen Schultern wie zwei
aus dem Nest geschossene weiße Vögel. Als er immer näher und näher
kam, empfand sie das Verderbliche seiner Begierde, seine unheimliche
Fremdheit, ihre unheimliche Verworrenheit, taumelnd vor Schwäche
entwand sie sich ihm und klammerte sich, vorwärtsschauend, an einer der
marmornen Karyatiden fest, die den oberen Rand des Kamins trugen.

»Also nichts! nichts kann dieses steinerne Herz schmelzen!« rief Erwin
außer sich vor Wut und Enttäuschung, und zugleich sich wehrend gegen
ein aus dem Unterirdischen heraufflammendes, bisher unbekanntes Gefühl,
das auf einmal wie die Erwartung einer schweren Krankheit auf ihm
lastete; »sind denn diese Ohren taub? ist kein Mitleid in dieser Brust?
Was soll ich tun, um mich zu retten? was tun, um dich zu rühren? Soll
ich mir die Adern aufschneiden? soll ich mich also verbluten? sollen
meine Worte zu Blut werden? soll ich hinsinken vor dir, elender als
elend? Was soll ich tun? Sprich, was soll ich tun!«

Und da Virginia schwieg, ergriff er eine herrliche Vase aus dem
zartesten und kostbarsten Porzellan und schleuderte sie vor Virginia
hin, daß sie zu hundert Scherben zerstückte. Es lag in dieser Tollheit,
in diesem Wüten nur noch wenig Heuchelei und Berechnung unter der
elementaren Gewalt; wohl war Bemühen und Wille im Schluchzen und darin,
wie er schäumte, sich bäumte, die Zähne knirschte, die Fingernägel in
seinen Hals grub; aber in der Tiefe seines Gemüts spürte er, wie alles
über ihm zusammenbrach und daß eine schauerliche Angst und Öde in ihm
entstand.

Vielleicht spürte es auch Virginia kraft des sonderbaren Botendienstes,
der Nachricht von Seele zu Seele gibt. Vielleicht war dies die Ursache,
daß sie Erbarmen mit ihm hatte. Während sie ihr Gesicht wie suchend
der Kohlenglut näherte, als wolle sie am liebsten darin vergehen,
erschien er ihr wie ein nach ungeheuren Anstrengungen niederstürzender
Mensch, ein Mensch, der furchtbare Qualen gelitten hat durch diese
ungeheure Anstrengung, und der von der Beschaffenheit dieser Qualen bis
zur Stunde nichts gewußt hat. Er erschien ihr wie ein Mensch, der aus
einem gefährlichen Abgrund emporgeklommen ist und trotzdem keine Stütze
findet, um sich von der wieder hinunterziehenden Macht des Abgrunds zu
befreien. Sie spürte mit ihm und in ihm jene ungeheure, herzmordende
Anstrengung, in der er nach ihr gerungen hatte wie nach dem einzigen
Ding, das gepackt, gehalten, besessen werden mußte, dem einzigen, das
den Sturz in den Abgrund verhindern konnte. Und so, in Müdigkeit und
Gleichgültigkeit hingelöscht, erschöpft vom Schauspiel der Qualen, war
es ihr, als müsse sie ihm die Stütze bieten, als müsse sie sich selbst
vergessen, als müsse sie Haß und Liebe, Leben und Ehre, Scham und
Schmerz vergessen, und sie sagte tonlos:

»Da bin ich. Da bin ich, Erwin. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Er glaubte nicht recht gehört zu haben und trat dicht zu ihr heran.
Seine Augen wurden weich. »Noch einmal, herrliche Virginia,« flehte er
leise, »und sag’ es mit dem Du, auf das ich warte wie auf ein Geschenk
des Himmels, damit ich wieder zu einem Menschen werde.«

Mit einem Lächeln wie aus der Nacht, bitter und kraftlos, erwiderte
Virginia: »Ja, Erwin, mache mit mir, was du willst.«

War es nun dies erste Wort einer unbedingten Zugehörigkeit, das
Erwin zur Stummheit verurteilte? War es die trauernde Verheißung,
das Opfer, das Schauspiel einer Ergebung, die nichts von Hingabe
hatte, aber alle Merkmale der Größe und der inneren Schönheit, die
ihn versteinerten? Er erkannte plötzlich, daß das, wonach er verlangt
hatte, gar nichts zu schaffen hatte mit dem, was ihm gewährt werden
sollte, und daß gerade die Gewährung dieses Wesen in eine unerreichbare
Ferne rückte, eine Ferne, die ihm alle Hoffnung raubte, sie jemals
zu besitzen. Er erkannte es, weil das Gefühl, das in seinem Herzen
entstand, keine Ähnlichkeit mit irgendeinem andern Gefühl hatte, das
er je empfunden, ja, weil es vielleicht das erste Gefühl war: nicht
Gelüste, nicht Wohlgefallen, nicht Entzückung an der Form, nicht
Entflammung der Sinne, nicht bewegter, hingetriebener Wille, nicht
Sucht; nicht ein Greifen und Umschlingen, sondern ein Ergriffenwerden
und Umschlungensein.

Es war nicht mehr an dem, zu fragen: wie stell ich es an, daß sie mich
liebt? Die Frage lautete: wie ertrag’ ich es, daß ich sie liebe?

Er hatte keine Worte mehr; er war plötzlich verarmt an Worten. Statt
dessen drängte es ihn, sich vor ihr zu erniedrigen, aber aus Furcht
vor ihr wagte er nicht zu handeln. Er kannte sich nicht mehr. Er
verlor sich aus sich selbst und so, daß er es beobachten konnte wie
das Ausrinnen von Wasser aus einem Gefäß. Er saß da und nagte mit den
Zähnen an der Lippe. Die Veränderung, die mit ihm geschah, flößte
Virginia Schrecken ein. Sie, die sein Gesicht, seine Augen, seine
Hände, seine Gestalt nie anders als in der Aktion gesehen hatte, sah
ihn jetzt zum ersten Male ruhend, und ihr graute. Ihr war, als ob
an Stelle seines Gesichts ein schwarzes Loch sei. Sie hätte fragen
mögen: wo bist du? Er erschien ihr wie ein Gespenst. Den sie so stolz,
so reich, so erfahren, so glühend, so unnachgiebig, so grausam, so
überlegen gesehen hatte, er war durch rätselhafte Wandlung klein
geworden, verzagt, hilflos, armselig, stumm und leer. Ihr graute vor
ihm, und der Schrecken steigerte sich allmählich bis ins Geisterhafte.

Dieser Schrecken gebot ihr, ihn zu fliehen. Sie hatte kaum mehr die
Kraft dazu. Die rasche Folge der beispiellosen Aufregungen wirkte
jetzt auf ihren Körper. Außerdem spürte sie, daß sie Fieber hatte, und
ihre Zähne begannen zu klappern. Sie konnte sich nur mühsam aufrecht
erhalten. Wohin mit mir, wohin? fragte sie sich wieder. Sie wußte,
daß er sie nun nicht mehr hindern würde, das Zimmer und das Haus zu
verlassen, aber wohin sollte sie gehen?

Langsam näherte sie sich der Tür. Sein Blick folgte ihr angstvoll.
Sie öffnete die Tür, und als ihr die Dunkelheit entgegenschlug, sah
sie sein Gesicht überdeutlich in die Luft gemalt, dieses Gesicht,
das schlaff, leer, trüb, häßlich und gemein geworden war. Da begriff
sie, daß sie ihn geliebt in Stunden, wo das Herz an Märchen hängt, in
Augenblicken zwischen Traum und Wachen, daß er sie bezaubert hatte in
den Verkleidungen und Hüllen, die ihn den Menschen gegenüber gewappnet
und undurchschaubar gemacht.

Mit Aufbietung aller Kräfte richtete sie ihr Haar und steckte es fest
mit den wenigen Nadeln, die noch daran hingen. Die Uhr in der Halle
schlug zwölfmal. Erwin stand im Halbschatten auf der Schwelle. Das
Bewußtsein vollkommener Ohnmacht zerschmetterte ihn. Virginia blickte,
während ihre Arme noch erhoben waren, matt gegen ihn zurück, und im
tiefen Fieber dachte sie abermals: wo find ich einen Ort, um mich
auszustrecken und zu schlafen? zu schlafen, nie mehr zu erwachen –?

In diesem Moment ertönten Stimmen vor dem Haus. Die elektrische Glocke
läutete schrill und lang. Erwin runzelte die Stirn, bewegte sich aber
nicht. Es wurde ans Tor gepocht, rasch und heftig. Virginia wurde inne,
daß sie mit bloßen Füßen dastand, und ein Schauer durchrüttelte sie von
oben bis unten. »Machen Sie auf!« flüsterte sie mit der Gebärde einer
Fliehenden. Mit gleichgültiger Miene schritt Erwin ans Tor und öffnete.
Herein traten mit bleichen und erregten Gesichtern, in Regenmäntel
gehüllt, Ulrich Zimmermann, Graf Palester und Frau von Resowsky.

Virginia stieß einen Schrei aus. Dann schwankte sie mit geschlossenen
Augen und wäre hingestürzt, wenn Frau von Resowsky und Ulrich sie nicht
aufgefangen hätten.

»Der Hausmeister soll helfen,« befahl die Baronin, »wir müssen sie
in den Landauer tragen.« Der Hausmeister, der auf der Treppe stand,
stellte die Laterne nieder, um zuzupacken, doch Ulrich und Palester
hatten das besinnungslose Mädchen schon gefaßt und trugen es aus dem
Tor. »Man wird Sie zur Rechenschaft ziehen!« rief Ulrich Zimmermann.

Ein fahles Lächeln glitt über Erwins Mienen. »Zur Rechenschaft? Gut so.
Sie haben, Baronin,« wandte er sich an Frau von Resowsky, »jedenfalls
eine ziemlich unwiderstehliche Art gewählt, mich darauf vorzubereiten.«

»Mit Ihnen spricht man nicht«, antwortete die Baronin, ohne ihn mit
ihrem Blick auch nur zu streifen. Erwin zuckte die Achseln und kehrte
der ehemaligen Freundin den Rücken. Einige Minuten später war es wieder
still im Haus. Auf der Straße verklang das Rädergerassel des Wagens.

Erwin kehrte in die Bibliothek zurück. Er warf sich auf den Diwan und
fiel sofort in einen schweren Schlaf. Als er erwachte, schien die
Sonne. Während er dem Diener läutete, entsann er sich erst, daß er
Wichtel befohlen hatte, in der Gärtnerwohnung zu bleiben, bis er ihn
rufen würde. Nach einer Weile gewahrte er den Gärtner im Park und gebot
ihm, Wichtel zu schicken. Er ließ das Bad richten. Als er gebadet und
gefrühstückt hatte, trat er vor den Spiegel.

Unwillkürlich, in einer lächerlichen Anwandlung, drehte er sich um. Er
meinte nämlich, ein anderer stehe hinter ihm, dessen Bild der Spiegel
wiedergab; denn er erkannte sich nicht. Er gewahrte ein so häßliches
Gesicht, daß er sich selbst nicht erkannte. Alles was er als anziehend,
geistreich, eigentümlich und belebt in diesem seinem eigenen Gesicht
anzusprechen gewohnt war, alles das war völlig verschwunden. Er übte
sich in einer gewissen redenden Mimik, er ließ seine Augen funkeln wie
sonst in einem Gespräch, er ersann treffende Bemerkungen und achtete
darauf, wie sie den Ausdruck seiner Züge veränderten, aber das Gesicht
blieb immer gleich häßlich, so häßlich und abstoßend wie das Gesicht
eines alten, verkommenen Weibes.

Entsetzen erfüllte ihn. Was andere Menschen verschönt, das macht
mich häßlich, sagte er sich. Er heftete die Augen mit einem
leeren, gebrochenen Glanz in die Luft und murmelte: »Unerreichbar!
unerreichbar! unerreichbar!« Es war als ob ein Schwert dreimal vor ihm
niedersauste.

Was soll ich tun? überlegte er; ich habe keine Beschäftigung. Was reizt
mich noch? Nichts. Die Menschen werden mich wie einen Aussätzigen
meiden. Was soll ich mit den Stunden anfangen, die vor mir liegen, den
zahllosen Stunden? Ihn ekelte vor allem, was er rings um sich sah, vor
den Wänden, den Möbeln, den Bäumen, den Wolken und vor der Sonne.

Er begann seine Briefe und Hefte zu ordnen. Viele Papiere warf er in
den Kamin und verbrannte sie. Plötzlich gewahrte er auf einem Stoß von
Büchern einen noch uneröffneten Brief, dessen Umschlag die Handschrift
seines Vaters zeigte. Der Brief lag, von Erwin nicht beachtet, schon
seit dem gestrigen Abend da. Jetzt riß er ihn auf und las:

»Mein lieber Sohn! Man hat sich bei mir heute mehrmals nach deinem
Aufenthalt erkundigt. Ich konnte natürlich keine Auskunft geben,
habe ich dich doch seit vierthalb Monaten nicht einmal gesehen.
Den Andeutungen nach zu schließen, bist du in schlimme Geschichten
verwickelt, und meine Pflicht wäre es vielleicht, dich zu suchen und
persönlich zu beraten. Könnte ich in dir nur einen Funken Vertrauen
voraussetzen, so würde mich nichts daran hindern, obwohl mein
eigener Zustand der mißlichste von der Welt ist und ich dich, mein
eigenes Kind, von der Verelendung meines Lebens zu meinem Kummer
nicht freisprechen kann. Vorwürfe sind nicht mehr an der Zeit. Ich
bin gerichtet. Ich habe den Glauben an dich verloren, und um den zu
ersetzen, weiß ich nicht, was in meinem Alter noch zu gewinnen wäre.
Ich frage mich um meine Verschuldung; wenn es eine Verschuldung ist,
als Vater mit einem von der Verachtung zertretenen Herzen vor dem
Sohne dazustehen. Es gibt keinen Tag in meinem Leben, an dem du mich
nicht zurückgestoßen und deine Geringschätzung hast fühlen lassen.
Nun ist’s ja wahr, es ist heutzutage ein wildes und anmaßendes
Geschlecht in die Binsen geschossen, ein unbedenkliches Geschlecht in
jeder Beziehung. Aber wer hat euch dazu gemacht? Wer hat alle die
verzwickten und rücksichtslosen Neigungen so lange großgehätschelt,
bis sie zu schändlichen Verlotterungen geworden sind? Wer hat euch
das teure Ich so hoch im Preis geschraubt, daß ihr euch für zu
kostbar haltet, um die ganz ordinären Menschenpflichten zu erfüllen?
Wir! Wir Alten! Wir gar zu bedachten Väter und Mütter! Wir, die eure
Vorsehung spielen wollten, wir, die immer ein Schock Ausreden erfunden
haben, um eure Versäumnisse, Perfidien, Verlogenheiten und euren
Mangel an Pietät mit schönklingenden Titeln zu belegen, so daß sich
ein ehrlicher Kerl wahrhaftig schämen mußte, ein ehrlicher Kerl zu
sein. Eure selbstverständliche geistige Betätigung haben wir als ein
Wunder betrachtet, eure Frechheit für Freiheit, eure Respektlosigkeit
für Unabhängigkeit, eure Gottlosigkeit für Mut, eure Genußsucht für
Lebenskraft ausgegeben. Wir haben es an Unbefangenheit fehlen lassen,
wenn ihr mal was Anständiges geleistet hattet, wir haben es versäumt,
euch im Zutrauen gegen eine höhere Kraft zu unterweisen, wir haben mit
den Zähnen gescheppert, wenn ihr mit Halsweh nach Haus gekommen seid,
und statt der Furcht vor Gott, die eine ungebildete Zeit uns Kindern
noch eingeimpft hat, habt ihr nur die Furcht vor Bazillen gelernt, und
ihr habt nun kein Gebrechen mehr, von dem ihr nicht ganz genau wißt,
woher es gekommen und wie es entstanden ist. Das hat euch so lieblos
gemacht. Es macht lieblos, die Gründe von allem zu wissen, was noch
bis gestern unerforschlich war. Die allgemeine Stimmung hat es so
mit sich gebracht, ich weiß es, der wirtschaftliche Aufschwung, das
Wohlleben und endlich der Rückschlag gegen die bürgerliche Enge, in der
wir selber aufgewachsen sind. Deshalb habt ihr keine Vorurteile mehr,
ihr jungen Leute, und ihr seid stärker als wir, denn ihr habt kein
Herz. Daß ich mir über diese Dinge klar geworden bin, mußte ich dir
mitteilen, ich bereue es nicht, es hat mich lange genug gequält, ich
werde es nie bereuen. Ich darf es wagen, nicht bloß weil ich dein Vater
bin, ein Amt, von dem ich mehr Gram als Freuden geerntet habe, sondern
weil du eines vor mir voraus hast, um das ich dich beneide und zu dem
ich dir gratuliere: die Jugend. Es ist eine wunderbare Sache um das
Jungsein, mein lieber Sohn, eine unbeschreiblich wunderbare Sache, und
das weiß man leider erst, wenn man alt ist. Und damit ist schließlich
alles gesagt, für dich, für mich, gegen dich und gegen mich. Erinnere
dich bald deines Vaters Michael Reiner.«

Erwin legte den Brief gleichgültig beiseite. Nicht schlecht stilisiert,
dachte er, das könnte mich zwingen, ihm Rede zu stehen. Er warf das
Schreiben ins Feuer, dann entnahm er dem Bankbuch einen Scheck, schrieb
eine Anweisung auf fünfzigtausend Kronen und schickte diese durch
Wichtel an den Grafen Palester. Zwei Stunden später kam Wichtel zurück.
In dem Kuvert lag der Scheck, mitten entzweigerissen.

Selbst dies flößte Erwin keine Teilnahme mehr ein. Wo er ging und
stand, sah er immer nur sie; immer nur Virginia; immer nur das
besondere, edle, wahre und angenehme Gesicht. Er sah sie in einer
Haltung zwischen Fliehen und Verweilen, mit dem zagen, nymphenhaften
Schwung der Schultern wie bei griechischen Statuen. Er sah ihre Züge
verträumt, sah sie angemessen dem Gespräch, lieblich in der Freude,
maßvoll auch im Schmerz.

Er sah sie als Tänzerin hinschweben durch die von ihr beseelte
Luft und mit Blumen im Haar in einer Mondlandschaft; er sah sie
zusammengebrochen im Weinen, aufgerichtet im Zorn mit purpurnen
Schläfen, sinnend in mädchenhafter Melancholie, lauschend, wenn Musik
ertönte, nachsichtig lächelnd, wenn Bewunderung unbescheiden wurde.
Er befühlte den Sammet ihrer Haut, die kühlen, langen Hände und
vernahm das Knistern ihres Kleides, wenn sie adelig und ohne befangene
Gebundenheit schritt. Er spürte den bildsamen Geist, das großmütige
Herz, alles was treu, mutig, opferfähig und wesentlich an ihr war, und
als ob ein Schwert durch die Luft vor ihm niedersauste, empfand er nur
das eine: Unerreichbar.

Er lag ausgestreckt und murmelte mit trockenen, aber glühenden Lippen:
»Virginia! Schwester! Geliebte!«

Er hatte einen silbergefaßten Spiegel in der Hand; es war derselbe, in
den sie einst geschaut, als sie zum erstenmal das Perlenband um den
Hals genommen. Er suchte ihr Bild darin, die Sehnsucht folterte ihn,
ein neues Gefühl; er suchte ihr Bild, erblickte aber nur ein Gesicht,
das häßlich und abstoßend war wie das eines alten, verkommenen Weibes.
Ferner sah er ein Wort, mit Blut geschrieben, furchtbar aus zerteiltem
Nebel flammend: Unerreichbar.

Doch wie, war das nicht ihr Antlitz? Die leichte Stirn, der umbrisch
milde Mund, die Nase ohne Beben in den Flügeln, die Augen mit dem
Bernsteinglanz über den Wimpern? Aber hinter den honigfarbenen Haaren
stieg ein Totenkopf herauf, das Gesicht eines alten, verkommenen
Weibes, kupplerisch grinsend, wollüstig und wild.

Es wurde Abend. Die feuchte Oktoberluft roch nach verwelkten Blättern.
Wie Felsblöcke stürzten die vielen Stunden, durchlebte und noch zu
durchlebende, auf seine Brust herab, um ihn noch mehr zu quälen, als
das was er Sehnsucht und Liebe nicht zu nennen wagte aus Angst vor
völliger Zermalmung. Ixion, der die Hera in der Wolke umarmte, ward in
den Tartarus geschleudert, wo ihn Schlangen an ein Rad fesselten, das
vom Sturmwind in ewigen Kreisen umgetrieben wurde. Er verglich sich
mit Ixion, doch der gebildete Trost trog ihn nicht lange. Die Wolke,
nach der er gegriffen, war nicht göttlichen Ursprungs; ein Dämon hatte
Schaum und Gischt erzeugt, der Dämon eines sinnlosen, sinnlos bewegten,
leeren, nutzlosen und entgötterten Lebens.

Im Anfang hatte er vielleicht eine Seele besessen, eine Seele wie
Virginias, von gleicher Kraft und gleicher Wahrheit. Wo war sie
hingeraten, diese Seele? Hatte der Wille sie verzehrt? hing sie an
den zahllosen Seiten gelesener Bücher? hatte die unersättliche Gier
nach Selbstgenuß sie aufgefressen? die Einsamkeit, oder das, was er
so nannte? die zärtlichen, tiefen, starken, verbindlichen, kalten und
berechneten Worte sie verschwendet? Wird man Rechenschaft von ihm
fordern, wie Ulrich Zimmermann gesagt, so wird man seine Tage wägen;
prüfen und zählen die Tage, die so köstlich in langer Reihe dastanden,
voll von Schätzen und Zierat, erfüllt von Kunst, von Philosophie, in
weiser Ordnung verwaltet, aber finster, blutlos, stumm und leer. Das
Haus war leer, nur tote Schätze darin. Und der Herr? Wie hieß er doch?
Das Unding an sich; das Inkonstante.

Er lachte bitter. Die Philosophie trat in Funktion. O Unerreichbare!
Schwester! Geliebte!

Von dem Bedürfnis getrieben, sich umzukleiden, sich irgendwie zu
verwandeln, zog er einen schwarzseidenen Schlafrock an und Sandalen aus
Rehleder. So schritt er, altertümlich und fürstlich anzusehen, dunkel
und geheimnisvoll in seinem eigenen Haus, von Raum zu Raum.

Ein Wortwechsel vor der Tür ließ ihn aufhorchen. Wichtel suchte
jemand begreiflich zu machen, daß sein Herr nicht zu sprechen sei.
Dieser jemand gab sich aber nicht zufrieden, worauf Wichtel ängstlich
hereintrat. »Das Fräulein von Flügel«, meldete er.

Erwin stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus.

»Das Fräulein von Flügel, gnädiger Herr.«

»Lassen Sie das nur«, erschallte eine helle, gebietende Stimme, und
Marianne stand vor Erwin, der sich träg umgedreht hatte. Wichtel
entfernte sich.

Marianne trug einen langen, grauen englischen Reisemantel und einen
der gewaltigen Modehüte mit einem Schleier, der bis zu den Knien
reichte. Ihr Gesicht war etwas gelblich, spitz und verhärmt. Eine
heftige Gespanntheit verriet sich in ihrem Wesen, und ihr Auge hatte
die Entschlossenheit eines Menschen, der nach reiflich überlegtem Plan
handelt.

»Ich komme direkt vom Bahnhof«, sagte sie, indem sie mit flatternden
Bewegungen die Handschuhe abstreifte und auf einen Sessel warf; »du
begreifst, daß ich nicht Lust habe, lang zu antichambrieren. Wie du
siehst, habe ich mich selbst vom Exil ledig gesprochen. Es muß ein Ende
haben, so oder so. Auf Takern zu krepieren vor Wut und Stumpfsinn, dazu
bin ich mir noch zu gut.«

Erwin schaute Marianne von oben bis unten an, lehnte den Kopf ans
Fensterkreuz und schloß müde die Augen.

»Die Frist ist abgelaufen«, fuhr Marianne fort, und in der zunehmenden
Erregung überstürzten sich ihre Worte; »ich frage dich, was du mit mir
vorhast und ob du noch länger gesonnen bist, wegen einer hergelaufenen
Dirne eine Spottfigur aus mir zu machen.«

Erwin sah sie wieder an, seine Stirn rötete sich flüchtig, dann
blinzelte er, schloß abermals die Augen und verschränkte die Arme auf
dem Rücken.

»Auch ich habe ein Recht auf Glück«, rief Marianne, und plötzlich
holte sie eine Pistole aus der Manteltasche; »wenn du auch findest,
daß das eine Phrase ist, wie dir jedes Gefühl eines andern Phrase ist,
ich lasse mich nicht als Kehricht vor deine Türe werfen, und du mußt
wählen, ob du ehrenhaft mit mir verfahren willst oder –« Sie stockte,
denn Erwin lächelte sie an.

»Oder?« fragte er mit dem unerwarteten Lächeln.

»Es liegt mir wirklich nichts mehr am Leben«, sagte Marianne finster,
ließ jedoch matt den Arm mit der Waffe sinken.

»Wie kann man sich so abgeschmackt benehmen, liebes Kind«, entgegnete
Erwin und löste die Pistole sanft aus Mariannes Hand. Dann schaute er
prüfend in den Lauf und fragte: »Galt sie mir oder galt sie dir? Na, –
aufrichtig!«

Marianne schwieg. Erwin schob die Pistole in die weite Tasche
seines Schlafrocks. »Du kennst von alters her meine Neigung, einem
Trauerspielakt eine freundliche Wendung zu geben«, fuhr er fort; »und
so wollen wir’s auch diesmal halten. Ich liebe nicht die tragischen
Schlüsse, schon weil sie zumeist peinlich und banal sind. Ich gebe zu,
daß es kein Vergnügen war, drei Monate auf Takern zu schmachten. Du
hast deine Jours entbehrt, deine Nachmittagsstündchen bei Demel, deine
Spaziergänge auf dem Graben, das hat dich in eine phantastische Laune
versetzt. Aber du kannst es nachholen. Du stehst noch in der Blüte der
Jahre.«

»Erwin,« unterbrach ihn Marianne mit dringlichem und beinahe
feierlichem Ton, »danach steht mir der Sinn nicht mehr. Ich glaube, du
würdest mit mir zufrieden sein. Wir beide könnten aus unserm Leben noch
etwas machen, denn ich ... wie soll ich es sagen, ich ... o Gott!« An
der Schwelle des Geständnisses vergingen ihr vor seinem fremden Blick
die Worte. Diese Lippen, die gewohnt waren, das Heilige wie das Profane
mit gleicher Kühnheit auszudrücken, verschlossen sich zum erstenmal vor
dem einfachen Laut der Natur.

»Mag sein,« antwortete Erwin, »obwohl das eheliche Leben momentan keine
Verlockungen für mich hat. Im Grund bin ich ein Nomade. Ich liebe es
nicht, die Küchenzettel schon am Morgen zu erfahren, und will nicht
wissen, daß sich die Köchin betrunken und das Stubenmädchen einen
Schatz hat. Daran scheitern die meisten Ehen. Doch ich mache dir keinen
Vorwurf daraus, daß du gekommen bist, im Gegenteil, ich möchte dich
bitten, mir einen Dienst zu leisten.«

Marianne hatte ihren Mantel ausgezogen. Sie schaute Erwin fragend an.
Er blieb vor ihr stehen und fuhr fort: »Sieh mich genau an und sage
mir, ob du eine Veränderung in meinem Gesicht entdecken kannst.«

»Nein; nicht im geringsten«, versetzte Marianne erstaunt.

»Sieh mich ganz genau an.«

»Aber nicht im allergeringsten, Erwin«, versicherte Marianne mit
wachsendem Erstaunen über seine Fragen.

»Gut, Marianne; ausgezeichnet. Hör zu. Ich gehe jetzt in das Zimmer
hier nebenan und werde eine kleine Umgestaltung mit mir vornehmen. Du
brauchst höchstens drei Minuten zu warten; wenn ich fertig bin, ruf ich
dich, und du wirst dich vergewissern, ob auch dann keine Veränderung
in meinem Gesicht bemerkbar ist. Willst du das tun?«

»Natürlich will ich es tun. Aber erklär’ mir doch –«

»Nichts, nichts. Kein Aber. Die Erklärung folgt später. Einen
Augenblick Geduld also.« Er küßte ihr dankend und galant die Hand und
verließ mit Schritten ohne Hast das Zimmer. Wie wunderlich er ist,
dachte Marianne, der es beklommen zu Mut wurde.

Auf einmal krachte ein Schuß. Aufschreiend lief Marianne ins
Nebenzimmer. Erwin saß in einem Sessel mit vergoldeter Lehne. Auf
einem Tischchen vor ihm befand sich ein Spiegel. In der herabhängenden
Hand hielt er die Pistole, die er Marianne weggenommen. Aus einer kaum
wahrzunehmenden Wunde in der rechten Schläfe sickerte ein wenig Blut.
Er hatte sicher gezielt und gut getroffen. Sein Gesicht wies keine
Verzerrung auf; es war schön wie eine Maske.




Manfred


Es war halb zwei Uhr in der Nacht, als die immer noch bewußtlose
Virginia vom Wagen in Frau von Resowskys Schlafzimmer getragen
wurde. Eine Viertelstunde später kam der Arzt. Da er eine Diagnose
der nahenden Krankheit noch nicht stellen konnte, empfahl er die
sorgfältigste Schonung und Pflege. Frau Geßner, die im Hause der
Baronin auf den Ausgang der nächtlichen Expedition gewartet hatte, saß
verzweifelt am Bette.

Virginia sah Treppen; schroff ansteigende einer weißen Wendelstiege,
flache einer geeckten Holzstiege, und Treppen eines Turmes, auf denen
Menschen ohne Arme gingen. Über unzählig viele Treppen rollte ein
feuerglühendes Rad herunter und drang wie ein geschliffenes Messer
mitten in ihre Brust. Gleich darauf kamen Scharen von Menschen auf
sie zu und erkundigten sich nach ihrem Befinden, aber sobald sie
antwortete, zeigte sich Entrüstung und Verachtung auf allen Mienen.
Sie wiesen mit den Fingern auf sie; anfangs schlug sie nur die Augen
nieder, das Herz voll bitterer Kränkung, dann floh sie in eine
Regennacht hinaus. Ein Wagen rast einher, dessen Räderspeichen aus
Flammen bestehen, und oben sitzen frech gekleidete Mädchen, welche
unverständliche, doch schamlose Lieder singen. Irgendwer will sie
überreden, mitzusingen; dies bereitet ihr den größten Schmerz, und sie
gewahrt Ulrich Zimmermann und den Grafen Palester, eilt auf sie zu und
bittet flehentlich um einen Mantel. Die beiden wenden sich schweigend
ab, klettern die Stufen der weißen Wendelstiege empor und werfen viele
Briefe in das brennende Ofenfeuer.

Wird es Tag? Ist dies graue, zerstreute Licht Tageslicht? Wie kann es
aber so schnell wieder Nacht werden? Sie schleppt sich über eine leere
Straße, traurige Menschen sitzen in der Ferne unter einem Baum und
winken ihr. Sie kann jedoch nicht kommen, denn sie braucht erst einen
Mantel. Einen Mantel! ruft sie weinend, einen Mantel! Man beschwichtigt
sie, sie spürt etwas sehr Kaltes auf der Stirn, es scheint ihr dieses
ein Schwan zu sein. Ja, ein Schwan ist es, er schwimmt auf ihrer Stirn,
und behutsam hält sie sich ruhig, um ihn nicht zu stören. Allmählich
sieht sie, daß der Schwan auf seinem Gefieder Rostflecken hat, die
wie Schmutz aussehen, und daß er untertauchen will, um sich wieder
blendend weiß zu waschen. Sie sträubt sich verzweifelt dagegen, obwohl
sie einsieht, daß das Gefieder rein werden muß. Da zucken Blitze über
den Himmel, und jeder Blitz öffnet den Einblick in einen tempelartigen
erleuchteten Saal. Sie will hinauf, wieder steigen zahllose Treppen
empor, aber sie fürchtet sich hinanzusteigen, weil ihre Kleider naß
sind. Und wie seltsam nun, der Himmel oben wird zum Meer, die ganze
Welt ist umgekehrt, die Wolken verwandeln sich in zartgestaltete
Fische, ein Dampfer gleitet lautlos wie der Mond, genau wie der Mond
aussehend, und seine Schlote rauchen. Hinter dem Mond ist ein Nachen,
in dem Nachen sitzt ein verhüllter Mensch, dessen Hand bisweilen
ins Wasser taucht und Tiere hervorzieht, die Blumen gleichen. Es
schmerzt sie, daß sie von diesen Blumen zu viele Geheimnisse weiß, in
solcher Art, daß die Geheimnisse ihre eigenen sind. Von allen Seiten
rufen Stimmen, die Stimme der Mutter schrillt heraus, in verstörter
Beeiferung folgt sie den Leuten, die Kerzen tragen, miteinander
raunen und lächeln. Sie tut die Augen auf und gewahrt sich selbst in
einem weißen Seidenkleid, über welches von allen Seiten parallele
Blutstreifen herunterrinnen. Wie kann man das ertragen? denkt sie, und
ihre Angst bringt die Kinnlade zum Zittern.

Aber da ist nun der Mantel! Wunderbar gewebt, saphirblau gefärbt,
sein Anblick ist Tröstung. Sie entfaltet ihn, und mehr als hundert
winzige Schlangen kriechen davon. Plötzlich zeigen sich auf dem Mantel
viele Gesichter, gemalte Gesichter, trotzdem lebendige. Aber jedes
Gesicht stellt auch eine Landschaft vor; die Augen sind Seen, die Nase
ein Berg, die Lippen mit dahinterstehenden Zähnen Tore mit weißen
Wächtern, die Stirne ein Schneefeld, die Haare dunkle Wälder. Alle
diese Gesichter ballen sich nach und nach zu einem einzigen zusammen,
das einen mitleidswürdigen und gräßlichen Ausdruck hat. Sie kennt es,
es nähert sich, über eine weiße, weite, endlose Ebene kommt es heran,
stumm bitten seine Augen, böse ist der Mund, schmerzlich zucken die
Muskeln, da erhebt sich eine Hand und drückt das Gesicht nieder, eine
starke Hand, – o Gott, was bedeutet dies! Woher diese Hand? Was für
ein namenloses Wohlgefühl! Welche Berührung!

Woher diese sanfte, ruhige, beruhigende Hand? Es ist, als ob etwas
Süßes und Wohlschmeckendes auf der Zunge läge und ein Gefühl des
Verschmachtens durch diese sättigende Süßigkeit beendet würde.

Sie schlägt die Augen auf. Sie schließt sie wieder, denn sie kann nicht
glauben, sie fürchtet, daß die beglückende Erscheinung entschwinde,
wenn sie zu lange hinschaut. Es ist Manfred, sie erkennt ihn. Der
sekundenflüchtige Strahl des Bewußtseins hat genügt, ihr zu zeigen, daß
seine Haut braun ist, sein Mund fest, sein Auge klar, ernst, mild und
wissend, und daß er sie liebt, und sie spürt, daß sie erwachen wird,
daß das Leben sie wieder besitzt.

Auf Neuseeland hatte Manfred den Brief des Grafen Palester erhalten.
Als er den Brief mit den Blicken überflogen hatte, wußte er, daß er bis
zu dieser Stunde ein glücklicher Mensch gewesen war.

Es dauerte fünf Tage, ehe das nächste Schiff nach England in See stach.
Er lebte sie nicht, diese fünf Tage, er sah nicht mehr, er hörte nicht
mehr, er dachte nicht mehr, er aß nicht und schlief nicht. Wer ihn
vordem gekannt und ihm jetzt begegnete, erschrak wie beim Anblick
eines wandelnden Leichnams. Er war erstarrt. Wüstenreisende kennen
ein ähnliches Gefühl, wenn sie vom Wirbelsturm überfallen werden.
Er hatte Lust zu morden. Er wünschte zu schreien, so lange sinnlos
zu schreien, bis diese fünf Tage, ein Alpdruck, eine schauerlich
endlose Kette qualvoller Augenblicke, vorüber waren. Er langte mit den
Armen hinaus ins Leere, als ob er die Ferne überbrücken könnte; sein
Gehirn war so von Lärm erfüllt, von Anklage, von Selbstbeschuldigung,
von streitenden, klagenden Stimmen, daß er nicht auf einer Stelle zu
bleiben vermochte, sondern laut sprechend, still tobend sich unstät
herumtrieb.

Da geschah es, daß er eines Abends unter arbeitenden Matrosen am
Hafen stand und daß unter morschem Balkenwerk hervor ein zottiger
Hund auf ihn zulief. Der Hund erhob den Kopf und schaute ihn an mit
Augen, die Manfred nie wieder vergaß. Zweifel und Vorwurf waren in
den menschlichen Augen der Kreatur. Es war, als fragten die Augen des
Hundes: das ist also die Bewährung? Er sah ein, daß er im Begriff
war, sich zu verlieren, daß aber dieses das Schlimmste von allem war,
denn er mußte sich halten und bewahren. Haben Tausende gedient und
sind nicht Herr geworden, der Dinge nicht, der Menschen nicht, ihrer
selbst nicht, der Leiden nicht, des Schicksals nicht, an ihn war
ein Ruf besonderer Art ergangen, und sollte nicht alles als tauber
Schall zerstieben, was in so vielen gesammelten Tagen den Geist zur
Bereitschaft geweckt, zur Prüfung gestählt hatte, so mußte er um der
tiefsten Ehre willen sich bezwingen.

Mit zugeschnürter Brust, aber äußerlich gleichmütig, betrat er das
Schiff. Er schaute Stunde um Stunde hindurch vom Bord ins Meer hinab,
und seine Lippen waren eisern geschlossen. Verwunderte, argwöhnische,
teilnahmsvolle Blicke trafen ihn, er war fühllos dagegen. Während er
einmal so saß, erschallte ein durchdringender Hilfeschrei in seiner
Nähe. Ein vierjähriger Knabe hatte unbeaufsichtigt an der Brüstung
gespielt, hatte sie überklettert und war in die See gestürzt. Seine
Mutter, eine noch junge Frau, hatte es zu spät bemerkt, und ihr Weheruf
alarmierte das ganze Schiff. Manfred sah, daß jede Sekunde des Zögerns
und Abwartens verhängnisvoll werden mußte, er entledigte sich seines
Rockes und sprang ins Wasser. Er schwamm nur mäßig gut, und als er den
um sich schlagenden Knaben erreicht hatte, verließen ihn die Kräfte.
Man rief und winkte aufgeregt vom Schiff, das sich entfernte, schwer
atmend hielt er das Kind und war dem Untersinken nahe, als endlich das
Boot kam und ihn und den Knaben barg. Still und erschöpft nahm er die
Äußerungen des Dankes und des Jubels an Bord auf. Von da an war der
Knabe, den er gerettet hatte, oft in seiner Gesellschaft. Die junge
Mutter, die wohl merkte, daß ihn jede andere Annäherung verstimmte,
hielt sich fern. Er erzählte dem Kind Märchen und Geschichten; der
Knabe saß auf seinem Schoß und lauschte mit großen Augen, indes Manfred
den Blick in die Richtung der Fahrt, auf den scheinbar unveränderlichen
Kreis des Horizonts lenkte.

Endlich Land! Er telegraphierte, wartete jedoch dann die Antwort nicht
ab und fuhr Tag und Nacht im Eisenbahnzug. So erschien die Stunde,
wo er unter dem vertrauten Torbogen des Hauses in der Piaristengasse
stand. Er fuhr durch vertraute Gassen in eine andere Wohnung,
läutete vergebens, fragte vergebens, und ratlos, ohne Schmerz, doch
mit ausgefrorener Brust begab er sich zu Palester. Er trat ein, er
reichte dem Grafen die Hand, und seine Züge, seine Augen, seine Haltung
gaben bei einer übermäßigen Anspannung der Seele solche Festigkeit,
Gefaßtheit, Entschlossenheit und wartende Ruhe kund, daß Palester,
der ungeachtet seiner phantastischen Geistesanlage durchaus kein
sentimentaler Charakter war, Tränen in sich aufströmen fühlte.

Dieses Mannes Hand lag nun auf dem weißen Linnen über Virginias Hand.
Die träge Zeit lief wieder ihre alte Bahn.

Die Zeit lief ihren schnellen Gang. Ihr gewohntes Amt, die Wunden
der Jugend zu heilen, versah sie mit Umsicht und Gründlichkeit.
Großmütig und weise, hatte sie aus Manfred nicht nur einen gesunden
Menschen gemacht, sondern auch einen vertrauensvollen, einen, der sein
Schicksal im Bewußtsein inneren Gesetzes trug und nicht traumsüchtig
der wirkenden Welt sich entfremdete, der zu besitzen vermochte, ohne zu
vergeuden, ohne zu geizen, und zu lieben, ohne zu fürchten.

Als Virginia genesen war, reiste Manfred nach Berlin und blieb dort
vier Monate lang. Dies geschah auf Virginias ausdrücklichen Wunsch.
Sie wollte sich nicht an Manfred hinschmiegen wie eine Bedürftige und
wie eine Schutzsuchende; sie wollte nicht in der Betäubung seiner
Liebe Geschehenes vergessen, sie wollte Klarheit gewinnen und sich
prüfen, ob sie sich so offen und ohne rückziehende Last geben konnte,
wie sie wußte, daß Manfred sich ihr gab und wie er es von ihr fordern
durfte. Alles bewährte sich mit der weisen und großmütigen Zeit; die
Liebe, das frei wählende Gefühl, die edle Tüchtigkeit, die auch in der
Leidenschaft wohnen muß, die edle Selbstbestimmung, die gleich dem Saft
im lebendigen Holz des Baumes das Leben aus blinder, wurzelhafter Sucht
emporträgt in die heitere Sonne.

An einem Tag im Mai schritt das schöne, hochaufgerichtete Paar durch
die abendlich feiernden Gassen der letzten Vorstadt und wandelte
in sanften Gesprächen dem Wald entgegen, wo sie einander die Hände
reichten und von ihren lächelnden Lippen zuversichtliche Hoffnung
empfingen.

=Ende=




               Werke

                von

         =Jakob Wassermann=


  +Bei S. Fischer, Verlag, Berlin:+

+Die Juden von Zirndorf.+ Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte
Auflage. Geh. 4 M., geb. 5 M.

+Die Geschichte der jungen Renate Fuchs.+ Elfte Auflage. Geh. 6
M., geb. M. 7.50

+Der Moloch.+ Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geh.
4 M., geb. 5 M.

+Der niegeküßte Mund – Hilperich.+ Novellistische Studien. Geh. 2
M., geb. 3 M.

+Alexander in Babylon.+ Roman. Dritte Auflage. Geh. M. 3.50, geb.
M. 4.50

+Die Schwestern.+ Drei Novellen. Dritte Auflage. Geh. 2 M., geb. 3
M.

       *       *       *       *       *

+Die Kunst der Erzählung.+ Ein Dialog. (Bei Julius Bard, Berlin)

+Caspar Hauser+ oder +Die Trägheit des Herzens.+ Roman.
Neunte Auflage. (Bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart)

       *       *       *       *       *

    +Die Juden von Zirndorf+

Der Verfasser der »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, Jakob
Wassermann, hat seinen vor zehn Jahren erschienenen Roman »Die Juden
von Zirndorf« in einer neubearbeiteten Ausgabe herausgegeben, der
die Kürzungen trefflich zustatten gekommen sind. Ein merkwürdiger
Roman, diese »Juden von Zirndorf«. Kaum je hat ein jüdischer Poet
seinen Glaubensgenossen und über das Judentum der Gegenwart überhaupt
schärfere und zutreffendere Dinge gesagt als Wassermann in diesem
Buche. Die besten Eigenschaften des jüdischen Volkes erscheinen in ihm
selbst verkörpert, vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch
sich selbst nicht schont. Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann
eine starke, jedoch mehr mystisch als sinnlich glühende Phantasie, der
namentlich in dem phantastischen »Vorspiel« des Romans, welches eine
mit dem Erscheinen des merkwürdigen Messias Sabbatai Zewi verknüpfte
Judenverfolgung im siebzehnten Jahrhundert behandelt, eine glänzende
poetische Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord
zu der in unseren Tagen spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«,
in denen ein begabter Jüngling Agathon, in dem das edelste Judentum
verkörpert ist, die von einem brutalen Christen erduldete Schmach durch
einen Mord an seinem Peiniger rächt. Dennoch beweist der Dichter sowohl
in der reichen Fülle feingezeichneter Charaktere als im Gange der
Handlung die vollkommenste Objektivität.

                                                  (Neue Zürcher Zeitung)

       *       *       *       *       *

    +Die Geschichte der jungen Renate Fuchs+

Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der
Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die
alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal,
ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«.
– Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so
interessanter und tiefsinniger Roman erschienen.

                                                           (Die Zukunft)

Ernsthafte Kritiker werden nach sorgfältiger Registrierung aller
Stimmungen und aller Gedankentiefen, nach angestrengtem Studium
aller Formfeinheiten und aller Seelenanalysen auf Eid und Gewissen
versichern dürfen, daß es sich bei dem Buch Jakob Wassermanns wirklich
um ein bedeutendes dichterisches Werk handle, um ein Werk, von dem
jedes Kapitel ein vollgültiger Beweis intimster Empfindung und feinster
Erkenntnis der menschlichen Natur sei.

                                                    (Berliner Tageblatt)

       *       *       *       *       *

    +Der Moloch+

Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde
liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst,
mit der Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten,
lebensvollen Gemälde gestaltet hat! ... Man kann schon aus dieser
gedrängten Inhaltsangabe ersehen, daß es sich hier vorwiegend um ein
psychologisches Problem handelt; der Verfasser hat dieses Problem in
der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend, psychologisch
behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise. Ja, so groß
ist des Autors Kunst seelischer Schilderung, daß der Leser alle die
Vorgänge mitzuerleben glaubt und sie in Wahrheit mitempfindet. Mag das
Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein, mögen
einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit
ausgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt
anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen –, so viel
bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine
Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast
eines Erlebnisses wirkt.

                                                           (Berner Bund)

       *       *       *       *       *

    +Der niegeküßte Mund – Hilperich+

In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als
respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer
so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen
Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist
ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles
in den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die
Linie fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich
verhalten, Ausführung und Andeutung zueinander stehen – alles das
verrät einen in Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein
viel Talent. In dieser Hinsicht wären nur wenig Aussetzungen zu machen,
so wenige, daß man sie verschweigen darf und erklären: der künstlerisch
Genießende, der Kenner, wird hier sein volles Genügen finden.

                                                        (Die Zeit, Wien)

       *       *       *       *       *

    +Alexander in Babylon+

Nichts als der reale Gang der gerichtlichen Ereignisse von Alexanders
Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt,
dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit
ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr
ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende
Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch
pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk,
sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine
kaum genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern
schönsten deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den
Schulen gelesen zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig
gemacht und beseelt.

                                               (Neue Freie Presse, Wien)

... Daß man sich ja nicht durch die Erinnerung an die ägyptischen
Romane von Ebers oder an die Völkerwanderungsromane von Felix Dahn
abschrecken lasse, diesen »Alexander in Babylon« zu lesen. Hier gibt
es keine in Griechen oder Perser verkleidete deutsche Leutnants; man
braucht nur, wenn man es nicht ohnehin spürt, in Plutarchs »Alexander«
nachzulesen, um alsobald zu begreifen, daß Wassermann die antike Welt
gleichsam in seine Seele hineingeglüht hat, etwa so, wie es in neuerer
Zeit der Dichter Hugo von Hofmannsthal in seinem Drama »Elektra« tat.

                                                           (Berner Bund)

       *       *       *       *       *

    +Die Schwestern+

Die Heldinnen dieser Novellen gehören zu jenen glücklichen,
unglücklichen Geschöpfen, die ein Traum, ein Aberglaube, eine
Sehnsucht, ein Wahn den Dingen dieser Welt entfremdet und zu neuem,
wunderlichem Dasein gerufen hat. Arme Kranke sind es, aber Wassermann
sucht aus dieser Krankheit die tiefsten Geheimnisse des Lebens
herauszulesen. Glänzen uns hier nicht Schönheiten entgegen, die wir
sonst an unserem Lebenswege vergeblich suchen? Öffnet sich hier nicht
dem Blick ein neues Leben, viel wahrhaftiger, viel lebenswerter als
das, an dem wir tragen? Was ist nun Wirklichkeit, was ist nun Traum?
Eine holde Schwärmerei ist das Buch, in den Tönen lieblicher Inbrunst
gegeben, ein holder Traum, von siegesstarken Sehnsüchten und Ahnungen
durchzuckt.

                                                  (Hannoverscher Kurier)

Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der
Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen
Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen
Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen
Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen
Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen
Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei
phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller
seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen. – Das historische
Vorspiel der »Juden von Zirndorf«, »Alexander in Babylon« und diese
drei Novellen bezeichnen für mich bisher die Höhepunkte im Schaffen
Jakob Wassermanns.

                                                    (Literarisches Echo)

       *       *       *       *       *

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.




Liste korrigierter Druckfehler


Seite 51: Ergänzung des Wortes „einen“ (Auch Erwin hatte einen Brief
erhalten.)

Seite 52: „im“ ersetzt durch „ins“ (Virginia sah ihm entsetzt ins
Gesicht.)

Seite 87: „Eine“ ersetzt durch „Ein“ (Ein Hängeteppich statt der Tür
trennte den Raum von dem Zimmer, ...)

Seite 133: „war war“ ersetzt durch „was war“ (Genießen, was war damit
viel bedeutet?)

Seite 140: „Virgina“ ersetzt durch „Virginia“ (»Es wird ja wieder
aufhören zu regnen«, meinte Virginia.)

Seite 177: „Taklosigkeit“ ersetzt durch „Taktlosigkeit“ (..., sagte er
gedrückt, ohne zum Bewußtsein seiner Taktlosigkeit zu gelangen.)

Seite 279: Doppelte Anführungszeichen um „Phönix“ durch einfache
ersetzt (Dann steuert der ›Phönix‹ heimwärts.)

Seite 293: Schließendes Anführungszeichen ergänzt (»Ja. Sie sitzt in
ihrem Zimmer.«)

Seite 314: Punkt am Satzende ergänzt (Doch alle Erinnerungen starben an
dem Jubel dieser Vollkommenheit.)

Seite 368: „Geberde“ ersetzt durch „Gebärde“ (... und ihre beiden
halbentblößten Arme waren mit einer Gebärde eben jener namenlosen
Verzweiflung in den Schoß hineingepreßt.)





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE MASKEN ERWIN REINERS ***


    

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from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
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effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
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or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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facility: www.gutenberg.org.

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