Der Landprediger

By Jakob Michael Reinhold Lenz

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Title: Der Landprediger

Author: Jakob Michael Reinhold Lenz

Release Date: November, 2004  [EBook #6830]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on January 28, 2003]

Edition: 10

Language: German


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DER LANDPREDIGER ***




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Der Landprediger

Jakob Michael Reinhold Lenz



Erster Teil


Ich will die Geschichte eines Menschen erzÄhlen, der sich wohl unter
allen mÖglichen Dingen dieses zuletzt vorstellte, auf den Flügeln der
Dichtkunst unter die Gestirne getragen zu werden.

Mannheim ward von seinem Vater, einem Geistlichen im Thüringischen,
auf die Universität geschickt.  Er hatte sich dem geistlichen Stande
gewidmet, nicht sowohl um seinem Vater Freude zu machen, als weil er
sich dazu geboren fühlte.  Von Kindheit an waren alle Ergötzungen,
die er suchte, die Ergötzungen eines alten Mannes und ihm nicht
besser als in einer Gesellschaft, wo Tabak geraucht und über gelehrte
Sachen disputiert wurde.  Seines Vaters Predigten schrieb er aus
eigenem Trieb nach und hielt sie insgeheim bei verschlossenen Türen,
nachdem er seines Vaters Perücke aufgesetzt und seinen Mantel umgetan,
dem Perückenstock und Kleiderschrank wieder vor.  Er fiel halb
ohnmächtig nieder, als sein Vater mit einer großen Gesellschaft von
Landpfarrern ihn einmal belauscht hatte und die Tür plötzlich mit dem
Hauptschlüssel aufmachte.

Diese Freude aber ward dem guten alten Mann sehr versalzen.  Er war
ein großer Freund der Dogmatik und der Orthodoxie und hatte sich
deswegen mit seinem kleinen Johannes sehr viel Mühe gegeben.  Bei
unsern leichtsinnigen Zeiten fürchtete er nichts so sehr, als daß
sein Sohn, sobald er dem väterlichen Auge entrückt würde, auf den
hohen Schulen von herrschenden freigeisterischen und sozinianischen
Meinungen angesteckt werden möchte.  Denn ob er gleich den Sozinus
nie gelesen und nur aus Walchs Ketzerliste kannte, so hatte er doch
einen solchen Abscheu vor ihm, daß er alle Meinungen, die mit seinen
nicht übereinstimmten, sozinianisch nannte.  Er nahm demzufolge alle
mögliche Präkautionen und empfahl ihn zum strengsten den Lehrern, die
er selbst gehabt hatte, oder von denen er wenigstens mit Überzeugung
wußte, daß sie in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten waren.
Zugleich warnte er ihn, mit allen Schreckbildern, die in seiner
Imagination waren und damals auf den jungen Zögling großen Eindruck
machten, vor nichts so sehr als vor allen Gesellschaften junger Leute,
besonders derer, die die Modewissenschaften trieben, empfahl ihm den
Umgang seiner Professoren, malte ihm die Aussicht seiner Wiederkunft
mit den reizendsten Farben, worunter sogar den schönen Augen der
Tochter seines Propstes eine Stelle vergönnet wurde, die sich so oft
nach dem kleinen Johannes wollte erkundigt haben und ihm beim
Abschiede einen schönen rotseidenen Geldbeutel strickte, dem zu
Gefallen er, seit der Zeit bis zu seiner Beförderung, immer in den
Hosen geschlafen hat.

Johannes Mannheim gab seine Empfehlungsschreiben ab, aber ach! er
fand die Männer, an welche sie gerichtet waren, sehr unterschieden
von dem Bilde, das ihm seine Einbildungskraft zu Hause mit so
feierlichem Heiligenschein um sie her von ihnen vorgezaubert.  Ein
Umstand kam dazu, den ich als Geschichtschreiber nicht aus den Augen
lassen darf, weil in der Knospe des menschlichen Lebens jeder Keim,
jedes Zäserchen oft von unendlichen Folgen bei seiner Entwickelung
werden kann.  Und so wird die Abweichung einer halben Sekunde von dem
vorgezeichneten Wege in der Kindheit oft im Alter eine Entfernung von
mehr als 90 Graden, und die Entscheidung der aus den übrigen
Voraussetzungen der Erziehung und der Umstände unerklärbarsten
Phänomene.

Damit ich also meinen Kollegen, den Philosophen über menschliche
Natur und Wesen, manches Kopfbrechen über meinen Helden erspare, muß
ich ihnen hier zum Vorschub sagen, daß einer von den Freunden des
alten Mannheim nicht allein ein großer Landwirt im kleinen war,
sondern auch gar zu gern von der Verbesserung seiner Haushaltung und
Einkünfte allgemeine Schlüsse machte, die sich auf das Gebiet seines
Landesherrn, und, wenn er warm ward, auf das ganze Heilige Römische
Reich ausdehnten.  Er las dannenhero zu seiner Gemütsergötzung alles,
was jemals über Staatswirtschaft geschrieben worden war, schickte
auch oft Verbesserungsprojekte ohne Namen, bald an den
Premierminister, bald an den Präsidenten von der Kammer, auf welche
er noch niemals Antwort erhalten hatte.  Indessen schmeichelte er
sich doch in heitern Stunden mit der angenehmen Hoffnung, daß sie für
beide nicht könnten ohne Nutzen gewesen sein und daß unbemerkt zum
Wohl des Ganzen mitzuwirken der größte Triumph des Weisen wäre.
Dabei befand er sich um nichts desto übler.  Das ewige Anspornen des
allgemeinen Wohls machte ihn desto aufmerksamer auf sein Privatwohl,
welches er als den verjüngten Maßstab ansah, nach welchem er jenes
allein übersehen und beurteilen konnte.

Dieser glückliche Mensch, der mit allen diesen kameralistischen
Grillen auch einige angenehme Talente besaß, in verschiedenen
modernen Sprachen las, zeichnete und die Harfe spielte, hatte
besonders viel Geschmack an dem offenen Kopf und der Lernbegierigkeit
des kleinen Johannes gefunden und ihn daher in den Schulferien zu
ganzen und halben Monaten zu seinem einzigen Gesellschafter gemacht,
wobei unser kleine Altkluge sich unvergleichlich wohl befand, denn im
Grunde war auch dieser Mann reicher und wohlhäbiger als sein Vater,
und lebte auf einem Fuß, der sich den Sinnen unsers Dogmatikers auf
sein ganzes Leben lang einschmeichelte.  Auch mußte er seinen Rambach
immer wieder von vorne anfangen, wenn er nach Hause kam.

Nun hatte er sich, wie es nicht fehlen konnte, aus alledem, was sein
Vater jemals von Kompendien mit ihm getrieben hatte, vom Heilmann an
bis zum Baier und Dieterikus, seine Religion nach seinem Herzen
zusammengesetzt.  Diese war, um von der glücklichen Simplizität der
Empfindungen unsers Lieblings eine Idee zu geben, in wenig Worten
folgende: daß Gott litte, wenn wir sündigten, und daß er auferstünde
und gen Himmel führe, wenn wir andere glücklich machten.  Wie sein
Freund aber, der kameralistische Landpfarrer, nahm er immer sein
eigenes Glück zum verjüngten Maßstabe desjenigen an, das er andern
verschaffen wollte.

Nach diesen einfachen Religionsbegriffen konnte es nicht fehlen, er
mußte in den Kollegien der Herren, an die er von seinem Vater
empfohlen war, in den ersten drei Wochen unerträgliche Langeweile
finden.  Sie machten ihn alle die Schritte zurückmessen, die er
voraus hatte, und führten ihn durch ein entsetzlich ödes Labyrinth
von Schlüssen von der Wahrheit zu der Wahrscheinlichkeit zurück, mit
der er den Religionsspöttern zu Gefallen nun durchaus sich den Kopf
nicht zerbrechen wollte, weil er in dem festen Glauben stand, daß ein
Religionsspötter nicht bekehrt werden kann, wenn er nicht will, und
daß sich auf den Willen durch keine Schlüsse wirken läßt.  Aller
Warnungen seines Vaters ungeachtet also ward er noch in den
Prolegomenen seiner dogmatischen Feldherren gegen die
Religionsspötter ein förmlicher Ausreißer, und studierte die
Kameralwissenschaften, die Chymie und die Mathematik, deren
praktischer Teil eigentlich seine Erholungsstunden beschäftigte.

Es fanden sich sogleich Amanuenses der Herrn Professoren, die alle
seine Gänge auskundschafteten und ihren Archonten die neue
Einrichtung seiner Studien aufs Haar berichteten.  Denen Lesern zu
Gefallen, die die deutschen Akademien nicht kennen, muß ich den
Ausdruck Amanuensis erklären.  Es sind gewöhnlicherweise Baurensöhne,
die den Professoren anfänglich die Füße bedienen, nach und nach aber
durch den Einfluß der Atmosphäre, in der sie sich mit ihren Herren
herumdrehen, einen solchen Anteil ihres Geistes erhalten, daß sie sie
zu ihrer Hand abrichten können, die Gelder für die Kollegien
einzusammlen, und, wenn einer von den bekannten Gesichtern in den
Hörsälen, wo sie gemeinhin nur die Stühle einreichen, wenn Fremde
kommen, zu fehlen anfängt, ihm so lange auf die Spur zu gehen, bis
sie den Räuber entdeckt haben, der ihn ihrer Schule abspenstig
gemacht hat.  Alsdann wird alles angewandt, ihn wieder auf den
rechten Weg zu bringen, Briefe an die Seinigen, bisweilen auch
anonyme Briefe von verborgener Freundeshand, Erinnerungen am
schwarzen Brett und in den Programmen, und, wenn nichts verschlägt,
bei der nächsten erhaschten Veranlassung, eine Zitation durch die
Hand des unermüdeten Pedellen.

Alle diese Besorgnisse schreckten unsern Johannes nicht.  Er ging den
Gang seines Herzens und der Bannstrahl in den Briefen seines Vaters
selbst, so innig er ihn verehrte, konnte ihn nicht davon abbringen.
\XDCberall ward der gute arme Alte bedauret, wegen der üblen
Nachrichten, die von seinem Sohne einliefen.  Bald hieß es, er habe
sich verheiratet, bald, er habe sich aus dem Staube gemacht:
umgesattelt hatte er wenigstens dreimal, und, wegen lüderlicher
Wirtschaft, Schulden und Duelle, das Consilium abeundi mehr als
dreimal erhalten.  Unterdessen hatte er sich bei einem königlichen
Amtmann eingemietet, mit dem er von Zeit zu Zeit, so oft es seine
Stunden erlaubten, Ausschweifungen aufs Land machte und die Ausübung
dessen studierte, wovon ihm die Theorie der Ökonomisten doch nur sehr
dunkle Vorstellungen gab.  Dieser Amtmann hatte ein Haus in der Stadt,
wo seine Familie wohnte, derweilen er seinen gewöhnlichen Aufenthalt
auf dem Lande nahm und nur im Winter, wenn die meisten landwirtlichen
Arbeiten vorbei waren, sich in dem Schoß seiner Gattin und Kinder von
den Mühseligkeiten des Lebens erholte.  Mit diesen lebte unser
Johannes, derweil die Ungewitter des öffentlichen Rufs unbemerkt hoch
über Ihm wegstürmten, in goldener Zufriedenheit.  Auch hatte er
Gelegenheit, bei ihnen alles zu sehen und anzunehmen, was Überfluß,
Bequemlichkeit und Geschmack den Sitten, den Manieren und der ganzen
Summe unserer Gefühle Feines und Gefälliges mitzuteilen pflegen.

Er war einigemal mit ihnen auf Bällen gewesen und durch sie auf
diesen in Verbindungen geraten, wo er die große Welt kennen lernen
konnte, nicht um in ihr nach etwas zu streben, sondern um sich den
falschen Firnis zu benehmen, den die Imagination der geringern Stände
gemeinhin sich um die höheren lügt und der dem Gefühl ihres eigenen
Glücks so gefährlich ist.  Er lernte Personen von Verdienst unter
diesen kennen, die sich in jeder Maske, in der die Vorsehung sie auf
die große Schaubühne der Welt gestellt hat, immer gleichsehen, und
sie nahmen ihm das Vorurteil, das sich zu den überspannten
Vorstellungen, die wir vorhin angemerkt haben, so gern
hinzuzugesellen pflegt, daß jedermann, der dem Range nach über uns
steht, eben dadurch alle persönliche Hochachtung verlieren müsse.  Er
fühlte das große Prinzipium der Gleichheit alles dessen, was gleich
denkt, das durch alle Stände und Verhältnisse geht, und nur dem Neide
und der Unwissenheit durch äußere Dekorationen entzogen wird.

Unterdessen erschollen zu Hause die allerunangenehmsten und
kränkendsten Nachrichten für einen Geistlichen.  Johannes, der viel
mit Offizieren lebte, sei unter die Soldaten gegangen; andere
versicherten, er gehe mit niemand als dem Adel um und sei willens,
sich adeln zu lassen.  Sein Vater, ohne auch nur die Unmöglichkeit
von alledem zu ahnden, erschrak über alle diese Gerüchte, als ob sich
an ihnen gar nicht mehr zweifeln ließe.  Endlich wurden alle seine
Befahrungen, wie durch einen Donnerschlag, durch einen Brief
bekräftigt, den er von Johannes aus Genf erhielt, wohin er einen
Jungen von Adel auf seinen Reisen begleitet hatte.

Des Propstes Tochter hatte anfänglich eine heimliche Freude darüber.
Luzilla, dieses war ihr Name, war bis in ihr zwölftes Jahr die
Bewunderung und der Neid--bloß ihrer eigenen Gedanken und des
Spiegels gewesen, das heißt, sie war auf dem Lande erzogen und kannte
die Stadt nur aus den Romanen.  Man hatte ihr nichtsdestoweniger
Singmeister und Sprachmeister gehalten, die sich ihr Vater mit großen
Unkosten aus der Stadt verschrieb.  Alles, was sie bisher von
Johannes aus der Fremde gehört, hatte ihr, des Wehklagens seines, und
des teilnehmenden Bedaurens ihres Vaters ungeachtet, sehr wohl
gefallen.  Zu wissen stehet, daß ihr Vater ein alter Mann war, der
sich, wegen Zähnemangels und aus Liebe zur Ruhe, unaufhörlich mit dem
Gedanken trug, sich einen Gehülfen an seiner Pfarre zu nehmen.  Es
war ihm also gar nicht recht, daß unser Johannes, für dessen Glück er
die Gewährung auf sich genommen, so lang in der Fremde blieb.

Luzilla, in diesem Stück ihres Vaters wahre Tochter, hatte doch, in
Ansehung der Art dieses Glückes und der Entwürfe zu demselbigen, von
ihrem Vater sehr abgehende Meinungen.  Ein junger Offizier wäre ihr
in aller Absicht viel lieber gewesen, als ein junger Pfarrer.--Dieses
währte, bis sie in die Stadt kam, da sie dann sehr geschwind das
Subjekt mit dem Prädikat verwechseln lernte.  Ich brauche diese Worte
hier deswegen, weil ihr Vater, der ein vollkommenes Frauenzimmer aus
ihr bilden wollte, sich alle Mühe gab, ihr die Wolfische Logik
beizubringen, von der er zur Metaphysik und von dieser zur Moral
übergehen wollte.  Aber ach! ein unvorgesehener Zufall durchschnitt
diesen schönen Plan.  Eine Kusine von ihr in Holland fing eine
Korrespondenz mit ihr an; es war ein Elend, daß weder Vater, noch
Tochter, noch irgend ein andrer Gelehrter aus der ganzen Gegend ihr
den Brief dechiffrieren konnte.  Nun war kein Rat dafür, das arme
Kind mußte Französisch lernen.

Sie ward in die Stadt zu einer Französin getan, die Kostgängerinnen
hielt, und, weil sie vermutlich ehedessen die Haushälterin eines
mestre de camp gewesen war, sich sehr bescheiden Me. de Liancourt
schlechtweg nennen ließ.  Auch hatte alles, was von beau monde in der
Stadt war, freien Zutritt zu ihr, worunter verschiedene Offiziere
waren, die unsern herumschweifenden Johannes mit seinem roten
Geldbeutel bald aus ihrer Imagination verwischten.

Unterdessen flogen Täler, Seen und Gebirge bei ihm vorbei; er nutzte
überall, so viel er konnte, seinen Aufenthalt, obgleich aber seine
Sinnen und Verstand unaufhörlich durch neue Gegenstände und
Kenntnisse gefesselt wurden, so blieb doch das Innre seines Herzens
ein Heiligtum, worin für seine wunderschöne Beutelstrickerin das
heilige Feuer unauslöschlich brannte.  Er hütete sich sehr, ihr Bild
in seiner Phantasie wieder auszumalen, weil er aus der Erfahrung
gemerkt, daß dieses ihn zu allen seinen Arbeiten untüchtig machte,
und also von seinem Zweck immer weiter entfernte, aber der dunkle
verstohlne Gedanke an sie war ihm süßer, als alles Zuckerwerk, das
die schönen Geister aus dem heiligsten Schatz der menschlichen Natur,
aus dem Geheimnis ihres Herzens, backen.  Auch schrieb er ihr nie,
ließ sie auch niemals grüßen.  Zu sehr versichert ihrer gleichen
Seelenstimmung, war's ihm, als ob sie ihm immer bei jedem seiner
Schritte zur Seite stund und alles wissen mußte, was er tat und
vorhatte.

Bei ihr war es anders.  Ein Jahr lang, als er nach England ging,
hatte weder ihr noch sein Vater die geringste Nachricht von ihm
erhalten.  Als es darauf wieder hieß, er sei in Deutschland, spürte
sie gerade so viel Freude darüber, als es ihr gemacht haben würde,
vom Achmet Effendi zu hören, er sei wieder in Berlin angekommen.

Das war nun ganz natürlich; und welcher Herzens- und Mädchenkenner,
der nicht etwa mit unserm Johannes sich im nämlichen Falle befindet,
wird sie nicht entschuldigen?

Aber Johannes Mannheim nicht also.  Als er zu Jungfer Susanna Luzilla
Bulac in die Stube trat, und einen feinen jungen Abbé zierlich
gekleidet auf ihrem Sofa erblickte, der an ihrem Metier Spitzen
klöpfelte, sie aber, ein saubergebundenes Buch in Taschenformat in
der Hand, im mußlinenen Negligé nachlässig bei ihm hingegossen, wie
sie verwundernd aufstand, ihn gleichgültig über und über, vom Haupt
bis zu Füßen beschaute und seinen ehrerbietigen Bückling mit einem so
schnell gezogenen Knicks, als ob er ihr schon leid täte, eh' er
geendigt war, und den kurzen Worten beantwortete: "Was wär' Ihnen
lieb, mein Herr?"-Erschrak er fast sehr darob und seine Mienen sanken
zu Boden.  "Mademoiselle!" sagte er, oder vielmehr er glaubte es zu
sagen, denn in der Tat verging ihm alle Besinnung.  Er hatte sich,
als er die Zinnen der Stadt wieder zu Gesicht bekam, vorgenommen,
eine der entzückendsten Rollen seines Lebens zu spielen.  Sie würde
ihn nicht erkennen, meinte er, und nun wollt' er, unter der Gestalt
eines Fremdlings, jede Saite ihres Herzens mit Nachrichten von ihrem
Johannes treffen, und sich das königliche Schauspiel geben, alle
Widerwärtigkeiten und Gefährnisse seines Lebens zum andernmal schöner
empfunden zu sehen, aber ach!-Das Gespenst da, das häßliche Gespenst
in dem runden, gepuderten Haar, mit seidenem Mantel an ihrem
Metier--wo sein Beutel geklöpfelt war--Ich muß meinen Lesern diese
Erscheinung erklären.  Es war ein junger Stadtpfarrer, der sich in
Luzillen verliebt, um sie angehalten, ihr Jawort, ihres Vaters Jawort
erhalten hatte--und morgen sollte die Hochzeit sein.  Jedermann
wünschte ihm Glück zu der Wahl, und ihr.  Sie wären einander wert,
sagte der Hauptmann Weidenbaum, der noch niemals was Unschönes gesagt
hat.  Der Obriste von Wangendorf selber hatte dem jungen Paar seine
Gegenvisite gemacht.  Er hatte die junge Frau Kaplänin unter das Kinn
gefaßt, und gesagt: wenn er einen Sohn bekäme, sollte er Pfarrer
werden.  Der Herr Obristleutnant hatte ihr das Leben des _Magister
Sebaldus Nothanker_ in englischem Bande zugeschickt und mit eigener
Hand auf Französisch vorn in das Buch geschrieben.  "Félicitez vous,
Mademoiselle", hatte er geschrieben, "d'éviter les désastres contenus
dans ce livre, et de faire les délices d'une ville, qui vous estime,
au lieu d'errer de campagne à campagne, d'un village à l'autre,
victime des préjugés de Votre état et des maux les plus affreux de
l'indigence et de la superstition."  Die sämtlichen Herren von der
Regierung hatten ihre Visiten mit Billetten, einige auch persönlich,
erwidert.  Nichtsdestoweniger unterstund sich Herr Johannes Mannheim,
den sie gleich auf den zweiten Blick erkannte, zu einer solchen Zeit,
an einem solchen Ort, seine Visite zu machen.  Er mußte von ihrer
vorhabenden Vermählung wenigstens doch schon in England gehört haben.

Der Herr Hofkaplan blieben ungestört am Metier sitzen.

Johannes Mannheim schaute auf, stotterte, errötete: "Ich komme, um
Ihnen viele Grüße--von einem gewissen Herrn Mannheim zu bringen."

"Mein Herr, Sie sind gewiß unrecht, ich kenne so keinen Namen--"

"So keinen Namen?" wiederholte Mannheim mit einem Ton, in welchen er
alles legte, was seiner Imagination jemals von dem Ton der alten
Redner in ihren Schranken, oder vor der Armee vorgeklungen sein
mochte.

"Mannheim!" rief der Abbé durch die Fistel, "was ist das für ein
Name?"

"Es ist--ich weiß nicht--vielleicht meinen Sie den Sohn von dem
Pfarrer Mannheim, der ehedessen meines Vaters Nachbar war."

"Ist er's nicht mehr?" fragte Johannes.

"Soviel ich weiß, hat er die Pfarrei verlassen.  Doch Sie können die
beste Nachricht davon einziehen bei dem Schulkollegen Hecht, mein ich,
da pflegt er ja sonst zu logieren.  Nicht wahr, mari! hast du ihn
nicht neulich dort angetroffen?"

"Ach der Dorfpfarrer", versetzte der Abbé mitleidig.  "Ja, ich
erinnere mich.  Ist er Ihnen nicht gleichgültig, mein Herr?"

"Ich müßte der nichtswürdigste Stutzer sein, wenn er mir's wäre",
antwortete Johannes außer allen Sprüngen, "es ist mein leiblicher
Vater."

"So?" kreischte mein Abbé im höchsten Kammerton, und nickte wieder
auf seine Arbeit hin.

"Sie sehen also, mein Herr! daß Sie hier unrecht sind", sagte Luzilla,
"gehen Sie zum Schulhalter Hecht--der wird Ihnen näheren Bescheid
geben."

Johannes sah fest auf den Boden und fort.--Er kam zu seinem Vater.
--Schon eh' er ausreiste, hatte er so viele Theologie mitgenommen,
daß er sich zur Not hätte können examinieren lassen.  Die vielseitige
Bekanntschaft mit der Welt, die er sich nunmehr erworben, verbunden
mit seinen andern Kenntnissen, erleichterten ihm die Mühe, ins
Predigtamt zu kommen.  Sobald er sich das erstemal öffentlich hatte
hören lassen, freute sich jedermann, ein Werkzeug seiner Beförderung
zu werden.  Er bekam eine mittelmäßig gute Stelle.  Viele meiner
Leser werden stutzen und einen Roman zu lesen glauben, wenn sie
finden, daß es ihm, ungeachtet seiner Inorthodoxie, doch mit seiner
Beförderung geglückt sei.  Er ließ es sich aber auch nur nicht
einfallen, sich aus dem Eide einen Gewissensskrupel zu machen, mit
dem er sich zu den symbolischen Büchern verband.  Niemals war es sein
Zweck gewesen, den Bauren die Theologie als Wissenschaft vorzutragen;
es gingen sie also die Glaubenslehren der Kirche, so wenig als ihre
Zweifel an.  Das Mystische der einen, so wie das Aufgeklärte der
andern geht weit über ihr Fassungsvermögen.  Sehr wohl konnte er also
für seine Person zu gewissen festgesetzten Lehren schwören, ohne
welche keine äußerliche Kirche bestehen kann, und zu denen jeder den
Schlüssel in seinem Herzen hat.  Denn, im Grunde, was sind Lehren
anders, als Vorstellungsarten, und welcher Eid kann diese binden,
welcher Eid mich zwingen, Licht zu sehen, wenn ich im dunklen Zimmer
stehe, oder umgekehrt?  Genug, daß der Eid vorbauende Formel ist,
keine Sachen zu _lehren_, die auf das Leben und die Handlungen der
Zuhörer einen widerwärtigen Einfluß haben, als den die wahre Religion
auf sie haben soll.  So sagte er also seinen Zuhörern kein Wort,
weder von der Ewigkeit der Höllenstrafen, noch von der Vereinigung
der beiden Naturen, noch von den Geheimnissen des Abendmahls, bis sie
selbst drauf kamen, und sich insgeheim bei ihm Rats erholten, da er
seinen Unterricht denn jedesmal nach der besondern Beschaffenheit der
Person, die ihn fragte, einrichtete.  Aber er lehrte sie ihre
Pflichten gegen ihre Herrschaft, gegen ihre Kinder, gegen sie selbst.
Er wies ihnen, wie sie durch eine ordentliche Haushaltung sich den
Druck der Abgaben erleichtern könnten, deren Notwendigkeit er ihnen
deutlich machte.  Er erzählte ihnen, wie es in andern Ländern wäre,
und machte ihnen ihren Zustand durch die Vergleichung mit schlimmeren
süßer.  Er erzählte ihnen einzele Beispiele von Hauswirten, die durch
ihren Fleiß und Geschicklichkeit sich emporgebracht, bewies ihnen,
daß Arbeit und oft Mangel selbst der Samen zu all unserm zeitlichen
Glücke sein, und daß Vereinigung ihrer Kräfte, ihrer Herden, ihrer
Ländereien und Verträglichkeit und Freundschaft untereinander die
Grundfeste ihrer und der ganzen bürgerlichen Wohlfahrt wären, und daß
je wohlhäbiger sie durch gegenseitige Hülfe würden, desto weniger sie
den Druck der Abgaben fühlten, desto weniger selbst Abgaben zu geben
brauchten, die oft nur deswegen verwendet werden, den Kredit des
Landes von außen emporzuhalten, weil er von innen zu sinken anfängt.
Er bewies ihnen aus der ältern und neuern Geschichte, doch immer so,
daß sie es fassen konnten, daß die Leidenschaften der Fürsten selbst
immer mehr Entsehen vor dem wohlhäbigen und fleißigen, als vor dem
dürftigen und verzagten Bürger gehabt, weil der Reichtum der Bürger
auch ihr eigener wäre.  Er warnte sie ebensowohl vor Ausschweifungen
und Lüderlichkeiten, als vor den frühen Heiraten und den
Zerstückelungen ihrer Grundstücke, welches alles Verwirrung und
Armseligkeit in ihre Haushaltungen brächte.  So fehlte es ihm keinen
Sonntag an Stoff zum Reden, welchen er von einzelen Fällen hernahm,
und konnt' er nur gar nicht dazu kommen, jemals an aristotelischen
oder andern theologischen Spitzfindigkeiten hängenzubleiben.  Die
Vesper des Sonntags Nachmittags verwandelte er in eine ökonomische
Gesellschaft und zwar auf folgende Art.  Er hielt ein kurzes
herzliches Gebet in der Kirche, alsdann versammlete er die Vorsteher
und die angesehensten Bürger des Dorfs um sich herum und sprach mit
ihnen von wirtschaftlichen Angelegenheiten.  Sie mußten ihm alle ihre
Klagen übereinander, alle ihre Bedenklichkeiten über diese und jene
neue Einführung, alle Hindernisse ihres Güterbaues vortragen, und er
beantwortete sie ihnen, entweder sogleich, oder nahm sie bis auf den
folgenden Sonntag in Überlegung, mittlerweile er sich in Büchern oder
durch Korrespondenzen mit andern Landwirten darüber Rats erholte.
Endlich, damit er mit desto mehrerer Zuverlässigkeit von allen diesen
Sachen mit ihnen reden könnte, ging er mit einem der wohlhäbigsten
Bürger seines Dorfs einen Vertrag ein, vermittelst dessen jener ihm,
gegen soundso viel Stück Vieh und Auslagen der Baukosten, einen
verhältnismäßigen Anteil an seinem Kornacker sowohl als an seinem
Wiesenbau zustund; zu diesem gesellte sich noch ein anderer, der
einen Weinberg hatte, und siehe da ein kleines Landgut entstehen, das
in sich selbst gegenseitige Unterstützung fand, weder Dung noch Holz
zu bezahlen brauchte, und in einigen Jahren meinen Pfarrer und seine
Mitinteressenten reich machte.  Itzt beeiferte sich jeder, einen
gleichen Vertrag mit ihm einzugehen, und, da dieses nicht wohl sein
konnte, schlossen sie sich aneinander und ahmten seinem Beispiel nach.
So ward in kurzer Zeit das Dorf eines der wohlhäbigsten in der
ganzen Gegend.

Der Pfarrer hatte den Vorzug, daß er die Vorteile des Handels auf
seinen Reisen kennen gelernet.  Er war unerschöpflich an neuen
Vorschlägen, ihren Ertrag zu Gelde zu machen.  Er wußte, was jede
Stadt in der Nähe für hauptsächliche Bedürfnisse hatte, und wenn sie
alle zusammenstunden, wie denn in kurzer Zeit ihr Zutrauen zu ihm
unbegrenzt war, so machte das für diesen und jenen Handlungszweig was
Beträchtliches.  Er schloß sich bald mit benachbarten Edelleuten und
ihren Dörfern an, und sein Genie, das nie rastete, teilte sich nach
einigem Widerstande allen mit.  Ein König hätte nicht inniger geehrt
werden können, als er es von seinen Bauten ward.

Sobald sein Vermögen ansehnlicher ward, richtete er alles in seinem
Hause mit einem Geschmack ein, der die Nacheiferung des Adels selber
erweckte.  Nun war es Zeit, auf die höchste Zierde desselben zu
denken, auf die Königin, die aller dieser Vorteile froh mit ihm
werden sollte.  \XDCber seiner rastlosen Tätigkeit hatte er den
letzten Eindruck der Treulosen vergessen, die ihn, die Wahrheit zu
sagen, durch eine Art Verzweiflung gespornt hatte, sich über ihre
kränkende Geringschätzung hinauszusetzen.  Er reiste also die
Hauptstadt vorbei, und der erste Gedanke, der ihm einfiel, war der
ehrwürdige Amtmann, dem er seine ersten Kenntnisse der Wirtschaft zu
danken hatte.  Dieser war ein Vater von mehreren Töchtern, von denen
die beiden ältesten schon verheiratet, die beiden jüngsten und ein
Sohn noch in seinem Hause waren.  Er wußte, daß dieser Mann ihnen
nichts mitgeben konnte, als eine vollkommen feine und geschmackvolle
Erziehung, verbunden mit allen möglichen häuslichen
Geschicklichkeiten, wovon er Augenzeuge gewesen war.  Dieses, nebst
seinem Wohlstande und seinem Ruf, gab ihm einige Hoffnung, so
unglücklich seine erste Liebe gewesen war, in seinem zweiten Antrage
mit besserem Erfolg etwas wagen zu dürfen.  Er tat es.  Er kam, ward
noch immer wie der alte empfangen; die Augen der jüngsten der Töchter
seines Freundes nahmen ihm in der ersten Stunde die Freiheit.  Seine
Unruhe war unaussprechlich, denn hier einen Korb zu bekommen, schien
ihm unter allen Schicksalen, die er erstanden, das unerträglichste.
Wie waren seitdem alle Vorzüge der jungen Schönen aus der Knospe
gegangen!  Aber die Entfernung, der Antrag selbst, das wenige, was er
anzubieten hatte, gegen die Ergetzlichkeiten einer großen Stadt, wo
sie bei keiner öffentlichen Lustbarkeit unbemerkt blieb, sein Alter
endlich selber, seine Person, die ihm niemals so häßlich vorgekommen
war, sein Gesicht, auf dem jeder gehabte Unfall eine Spur
nachgelassen hatte, die Unaufmerksamkeit auf die feinern Gegenstände
der Unterhaltung, die ihm seine bisherigen häuslichen Sorgen und
Geschäfte zugezogen, alles das machte ihn, wenn er sich ihr gegenüber
befand und reden wollte, so kleinmütig--soll eine solche Blume dazu
geboren sein, an meinem Busen zu verwelken? sagte er sich
unaufhörlich, und eine Träne trat ihm ins niedergeschlagene Auge.

Er bemerkte eine besondere Eigenschaft an ihr, die ihm wieder Mut gab,
das war ein merkbarer Hang zur Einsamkeit.  Ob, weil alle äußere
Gegenstände, die die Stadt ihr aufweisen konnte, ihr Herz nicht
befriedigten, ob, weil sie glaubte, daß es ihr besser ließe, lasse
ich unentschieden, genug, es liefen bisweilen Monate hin, daß sie von
dem Landgut, wohin sie ihren Vater allein zu begleiten pflegte, auch
nicht nach der Stadt einmal hören mochte.  Alsdann aber ergab sie
sich auch im Gegenteil bei ihrer Wiederkunft den Ergetzlichkeiten der
Stadt mit einer ordentlichen Art von Zügellosigkeit, und überhaupt
hatte sie die bei Frauenzimmern so seltene Eigenschaft, nichts nur
halb zu tun oder zu wollen.

"Albertine!" sagte er einsmals zu ihr, als sie eben von dem Landgut
ihres Vaters nach der Stadt zurück fuhren--Es war ein schöner heitrer
Wintertag gewesen und die untergehende Sonne schien eben aus
verklärten Wolken mit ihrer letzten Kraft auf den entgegenglühenden
Schnee; er stand hinter ihrem Schlitten und führte ihn, derweile sie
in ihrem Pelz eingewickelt den Himmel und den Schnee an Röte
beschämte--"Albertine", sagte er, indem er sich zu ihr herüberbog,
"daß ich ein König wäre!"  "Was fehlt Ihnen?" rief sie hinter ihrem
Schlupfer, mit einer Stimme, deren Zauberklang er nicht länger
widerstehen konnte.  "Ach! ich habe Ihnen weiter nichts als eine
Pfarre anzubieten", schrie er, indem er sich plötzlich vom Schlitten
losriß und sich mitten in dem Schnee vor ihr niederwarf.  Eine solche
Erklärung auf der öffentlichen Landstraße, auf der freilich wenig
Menschen zu vermuten waren, würde alles mögliche Beleidigende für sie
gehabt haben, wenn nicht der Ausdruck seiner Stimme und die Tränen,
die sie begleiteten, ihr Herz ebenso ungewöhnlich angegriffen hätten,
als der Antrag selbst ungewöhnlich und unerwartet war.  Sie konnten
eine Weile alle beide nicht zu sich selber kommen.  "Stehen Sie doch
auf", sagte sie endlich mit schwacher Stimme.  "War's denn hier
Zeit?"--Bei diesen Worten verhüllte sie sich in ihren Pelz, und er
bekam den ganzen Weg über von ihr nichts zu sehen noch zu hören.

Ein Glück, daß er es so abgepaßt, daß der Schlitten des Vaters eben
eine gute Viertelstunde voraus war.  Er kam in der Stadt an, wie ein
Verbrecher, der zum Gerichtsplatz geführt wird.  Alles, was er sah
und hörte, alle Fragen, die an ihn ergingen, selbst die
Freundlichkeit, mit der der Amtmann und die Seinigen ihn aufzumuntern
suchten, waren lauter Folterstöße für ihn.  Albertine allein war
wider alle ihre Gewohnheit, wenn sie sonst nach der Stadt zu kommen
pflegte, ihm heut vollkommen ähnlich.  Als sie so im Zirkel saßen,
und auf beider Gesichtern Angst, sich zu verraten, mit tausend
Empfindungen kämpfte, kam der kleine Bruder, ein rosiger Junge, von
der Freude, so schien es, geboren, mit großem Geschrei in die Stube
gerannt und rief: "Albertine!  Dein Bräutigam ist da."

Albertine antwortete anfangs nicht; als er aber es zum zweitenmal
wiederholte und sie fragte: "wo denn?" und er antwortete: "in deiner
Kammer!" und sie aufstund und hinausging--und in dem nämlichen
Augenblick der Amtmann unserm Mannheim eine Berechnung des jährlichen
Ertrages seiner Ländereien vorlegte und ihn dringend um seine Meinung
fragte, um wieviel sie geringer oder vorzüglicher, als die in seinem
Vaterlande wäre--so überlasse ich's dem menschenfreundlichen Leser,
sich den Zustand des armen Johannes zu denken.

"Ja--ja", sagte er, indem er das Blatt ansah, ohne etwas darauf zu
sehen.

"Was denn?" fragte der Amtmann.

In dem Augenblick trat Albertine mit einem kleinen Buben aus der
Nachbarschaft herein, den sie an der Hand führte.  Mannheim sah auf
und die Erholung von seiner Todesangst war so sichtbar, daß sich der
Amtmann nicht entbrechen konnte, ihn zu fragen, was ihm gewesen wäre?
"Nichts", stotterte er.  Albertine begab sich hinweg. Mannheim mußte
um Erlaubnis bitten, sich zu entfernen.  Die entgegengesetzten
Bewegungen, die seine Seele in so kurzer Zeit aufeinander erfahren
hatte, überwältigten seinen ganzen Nervenbau; er fühlte die angenehme
Hoffnung in seinem Innersten, er werde diesen Abend vielleicht nicht
überleben.

Der Amtmann wollte ihn nicht fortlassen.  Er zwang ihn, ein Bette in
seinem Hause anzunehmen; jedermann merkte bald, daß Mannheims
Zerrüttung mehr als eine leichte Unpäßlichkeit war.

Er verfiel wirklich in eine Krankheit, die der Arzt dem besorgten
Amtmann noch gefährlicher abschilderte, als sie wirklich war.  Der
Amtmann und seine ganze Familie blieben den Tag traurig; Albertine
allein nahm eine gezwungene Munterkeit an.  Ihr Vater, den dies
aufmerksam machte, ging den folgenden Tag verstohlner Weise auf ihr
Zimmer.  Er überraschte sie den Kopf in die Hand gestützt, in einem
Meer von Tränen.  "Was gibt's hier?" sagte er; "das ist ein ganz
neuer Aufzug, Mademoiselle Albertine!"  Sie sprang verwirrt von ihrem
Stuhl auf, griff nach einem Buch, wollte Entschuldigungen
suchen--"still nur!" sagte er; "ich habe wohl gesehen, daß du nicht
gelesen hast.  Auch kann ein Buch dich so nicht greinen machen, das
laß ich mir nicht einreden."  "Papa!" sagte sie und faßte ein Herz,
"tun Sie mit mir, was Sie wollen", indem sie zitternd ihm nach der
Hand griff--"ich liebe den Pfarrer Mannheim."  "Ei, wenn es nichts
mehr als das ist", sagte der Alte, "ich liebe ihn auch.  Es steht
aber dahin, ob du ihm auch so wohlgefällst, wiewohl seine Krankheit
und eure beiden Affengesichter letzthin--ei, laß uns einmal einen
Versuch wagen und zu ihm auf die Kammer gehen."  "Nimmermehr!" sagte
Albertine, "ich muß es Ihnen nur gestehen, Papa; er hat mir letzt
eine Erklärung getan und das ist die Ursache seiner Krankheit."

"Ei so sollst du hingehen und ihm die Gegenerklärung tun", sagte der
Alte, indem er sie mit Nachdruck an die Hand faßte und zu Mannheim in
das Zimmer zerrte.  "Ich nehm es auf mich, es bei deiner Mutter und
Schwester gutzumachen.  Und einen ehrlichen Mann, wie den, und einen
alten Bekannten in meinem Hause sterben zu lassen--Mädchen!  Mädchen!
wenn du mir nicht so lieb wärst--"

Man kann sich vorstellen, was diese letzte Worte, die er hörte, auf
den Kranken für einen Eindruck gemacht haben müssen.  Eine himmlische
Musik in dem Augenblick, da ihm die scheidende Seele vor die Lippen
trat, könnte ihm nicht willkommner gewesen sein.  Er mußte sich mit
Mühe halten, daß er nicht aus dem Bette und ihnen hin zu Füßen
stürzte.  "Da hast du sie!" sagte der Alte mit den Worten unsers
unvergleichlichen Dichters, den er seinen Töchtern allein auf dem
Nachttisch erlaubte.  Albertine mit niedergeschlagenen Augen und
einer unabgewischten Träne auf der Wange, sagte kein Wort.  Er sog an
ihrer Hand das Leben wieder ein, das er nicht geachtet hatte; er hing
mit seinen Lippen dran, als ob ein Augenblick Unterbrechung der
Augenblick seines Todes wäre.  Die Bewegung ihrer Hand war wie eines
Arztes, der seinen Kranken gern wieder gesund sähe; im nächsten
Augenblick wollte sie sie wegziehen, aber es schien, als ob ihr die
Kraft dazu fehlte.  Ihre Geschwister kamen.  Der Vater entdeckte
ihnen den Vorfall kurz und erwartete ihre Antwort nicht, sondern lief
zur Mutter, die er in Tränen herbeiholte.  Alle willigten ein.  Der
Entfernung und der andern Schwierigkeiten ward aus Schonung für den
Kranken nicht erwähnt.  Alles richtete sich ein, wie er besser wurde.


Man erlasse mir die Beschreibung der Hochzeit.  Mit meiner Leser
Erlaubnis wollen wir uns in die Tür des Pfarrhofes stellen und unser
junges Paar bei seinem Einzug bewillkommen.




Zweiter Teil


Als Albertine ihren Vater und ihre Geschwister, die sie begleitet
hatten, aus dem Gesicht zu verlieren und von lauter fremden und
unbekannten Gegenständen sich umgeben zu fühlen anfing, verdoppelte
sich die Angst ihres Herzens, und folglich auch die Tränengüsse, in
welchen diese sich von ihrer frühsten Jugend an Luft zu machen
pflegte.  Da es ihr nun itzt besonders wegen des Abschieds von den
Ihrigen an keinem Vorwand fehlte, beschloß sie, der unbeantworteten
bekümmerten Fragen ihres Mannes ungeachtet, sie wolle sich einmal
recht satt weinen.

Sie kamen nach einer starken Tagereise vor den Toren ihres Dorfes an.
An dem Heck stand der Schulz des Dorfs mit entblößtem Haupte, nebst
einigen der Angesehensten aus der Gemeine: "wir haben schon seit
Sonnenuntergang auf Sie gewartet, Herr Pfarrer", sagten sie.
"Tausend Glück und Segen zu Ihrer Veränderung!" Mannheim schüttelte
jedem von ihnen die Hand, ohne daß er zu antworten imstande war.  Sie
sahen ihm die innere Bewegung seines Herzens auf dem Gesichte wohl an,
und begleiteten ihn mit entblößtem Häuptern bis vor die Tür seiner
Pfarrwohnung.  Dieser Anblick war ein wehendes Abendlüftchen für das
ermattete Herz unserer Albertine.  Sie hoben sie beim Heraussteigen
aus dem Wagen; ihre Freundlichkeit schlug in dem Augenblick, als die
rauhen Kerle sie sahen, einen monarchischen Thron in ihrer aller
Herzen auf; sie nötigte sie herein, sagte ihrer alten Haushälterin,
die sie vor sich fand, sie möchte ihnen allen ein Abendessen machen.
Das wäre alles schon bestellt, versetzte jene.  Nur drei aus der
Gesellschaft nahmen die Einladung der jungen Frau Pastorin an, und
baten sie, zu ihrem nicht geringen Erstaunen, mit ihnen vorlieb zu
nehmen.  Die Gemeine hätte sich die Freiheit genommen, ihren lieben
Herrn Pfarrer Mannheim bei einer so außerordentlichen Gelegenheit zu
bewirten.  "Hier ist mein Assoziierter", rief Mannheim, der eben mit
dem vierten Gast, den er mit Gewalt beim Fortgehen noch von dem
Hoftor zurückgeschleppt, in die Stube trat, "diesem wackern Mann,
liebe Frau, haben wir alle Ordnung zu danken, die du in unsern
Zimmern finden wirst."  In der Tat hatte er während der Abwesenheit
des Pfarrers noch verschiedene Zimmer überweißen und die Decke des
Hauptsaals, den der Pfarrer, so wie den ganzen neuen Flügel der
Pfarrwohnung, auf seine Kosten angelegt, von neuem gipsen lassen, und
ihm überdem ein Dutzend sauberer neuer Stühle hineingestellt.  Der
gute Mann wußte nicht, daß sich Mannheim aus der Stadt Tapeten
mitgebracht.  Einige andere Möblen, die Albertine in die Haushaltung
mitbekam, trugen nicht wenig zur Verschönerung des Ganzen bei, und
das väterliche Silberzeug und Teeservice ließen sie in den ersten
Tagen ihrer neuen Einrichtung noch immer in dem freundlichen Wahn,
sie sei in dem Hause ihres Vaters.

Die Abendmahlzeit war eine der feierlichsten, die jemals in dem Dorf
gehalten worden.  Kaum hatten sie eine Viertelstunde am Tisch
gesessen, so kam eine große Prozession von Knaben und Mädchen, alle
mit Wachslichtern in den Händen, in den Hof eingezogen, stellte sich
unters Fenster und brachte der jungen Frau Pastorin eine förmliche
Serenade mit den Musikanten, die im Dorf waren, wozu einige der
besten Stimmen von ihnen von dem Schulmeister dazu verfertigte
Stanzen sangen.  Es ward Wein hinausgeschickt; der Schulmeister kam
herein und brachte im Namen der ganzen Gesellschaft die Gesundheit
des Herrn Pfarrers und der Frau Pastorin aus, wozu die draußen
Stehenden mit einem herzlichen Hoch! einstimmten.  So beschloß dieser
erste Abend und wiegte unser junges Paar auf den Flügeln der Liebe
ihrer Gemeine zu einer erquickenden Ruhe ein, die sie wegen der Reise
und den mancherlei Abwechselungen so nötig hatten.

Der zweite Tag schien sich ein wenig zu bewölken.  Itzt mußten
Besuche abgestattet werden, und zwar zuerst bei dem Herrn des Dorfes.
Mannheim ließ sich bei ihm zum Nachmittage melden; er schickte
zurück und lud sie zum Mittagsessen ein.  Nun hatte die Höflichkeit
des gnädigen Herrn, der ohnedem eine Zeitlang in französischen
Diensten gestanden war, noch eine besondere Springfeder, die war, daß
Mannheim mit ihm im Handel wegen einer seiner Zehenden stund, mit
deren Einfoderung er, weil er die Kniffe der Bauren nicht kannte,
viele Mühe hatte.  Die Dame aber und das Fräulein und sein Bruder,
welche bei ihm wohnte, nebst einem weiblosen Vetter, die alle nicht
aus Deutschland gekommen waren, hatten noch alle das Rauhe, Herbe und
Ungenießbare des Adelstolzes, der eben dadurch, weil er seinen Rang
andern fühlen läßt, alle Hochachtung, die sein Rang Vernünftigen
einflößen würde, zu Boden schlägt, und den gerechten Stolz aller
edlen Menschen wider sich empört, die ihm in jedem Augenblick die
große Wahrheit zurückzufühlen geben: Kein Mensch kann dafür, wie er
geboren ist.

Diese Art Leute beraubt sich aller wahren Schätze und Vorzüge des
Lebens.  Ihre Verachtung wird von denen mit ihren grenzenden Ständen
mit Verachtung erwidert, und, weil sie vor ihren Obern nach ihrem
angenommenen Grundsatz wieder kriechen müssen, so sind sie eigentlich
die Allerverachtesten unter allen Menschenkindern.  Rechnet man dazu
die Leerheit in der Seele, die dieses ewige Aufblähen ihrer selbst
verursacht, so wird man ihren Zustand, anstatt ihn zu beneiden, in
der Tat eher zu bedauren versucht werden.

Auf der andern Seite gibt es einen Stolz der niedern Stände, der
ebenso unerträglich ist.  Das heißt, wenn sie einen gewissen Trotz,
der zu nichts führt, als alle Verhältnisse, die unter Menschen
eingerichtet sind, einzureißen, für die notwendigste Eigenschaft
eines braven Menschen halten, der sich, wie sie sagen, nicht
unterdrücken läßt.  Sie bedenken nicht, daß eben dieser Stoß in die
Rechte der andern einen Gegenstoß veranlaßt, der gerade das macht,
was sie Unterdrückung nennen, und am Ende die traurige Spalte
zwischen den beiden Ständen, ich meine dem _Adel_ und dem _edlen
Bürger_ zurückläßt, die einander doch so unentbehrlich sind.

Wenn jeder Teil dem andern _voraus hinlegte_, was ihm gehört, würde
jeder Teil auch seinerseits sich zu bescheiden wissen, nicht mehr zu
fodern, und lieber aus Großmut etwas von seinen Rechten
fahrenzulassen, die ihm der andere aus eben dieser Großmut mit Zinsen
wieder bezahlte.

Der gnädige Herr empfing unsern Pfarrer nebst seiner Frau im
Speisesaal; die gnädige Frau nebst dem Fräulein ließen sich nicht
eher als nach ein Uhr sehen, da sie sich denn, nach einem kurzen
Kompliment von weitem, an ihre Plätze setzten, und überhaupt taten,
als ob sie der Besuch nicht anginge.  Der gnädige Herr, der ein
munterer Mann war, setzte die Frau Pfarrerin zu sich; Pfarrer
Mannheim ging und nahm ungebeten seinen Platz zwischen der gnädigen
Frau und dem Fräulein, deren Antlitz sich mit Blut übergoß, weil eben
dieser Platz dem Vetter vom Hause bestimmt war.  Sie geruhten wenig
über Tisch zu sprechen, aßen desto mehr, richteten das Gespräch aber
immer an den Herrn Onkel und Herrn Vetter, die wenig zu antworten
wußten.  Pfarrer Mannheim mischte sich in alles mit seiner
Beredsamkeit und Weltkenntnis, und hatte bei jedem dritten Wort eine
Gans auf der Zunge.  Das Wort Gans schlug so oft an die Ohren der
gnädigen Frau, daß sie in ihrem Innersten eine dunkle beklemmende
Ahndung zu spüren anfing, daß diese öftere Wiederholung ein und
desselben Worts kein bloßes Werk des Zufalls sein dürfte, und, wie
denn kein Unglück und keine Furcht allein geht, gesellte sich auch zu
dieser ihrer Furcht eine noch viel alpmäßig drückendere, es möchten
andere in der Gesellschaft eben dieselbe tolle Ahndung haben können;
kurz, sie ward so geschmeidig und freundlich gegen ihren Beisitzer,
den Pfarrer Mannheim, daß es einem Zuschauer, der von ungefähr
dazugekommen wäre, das Werk eines halben Wunders geschienen haben
müßte.  Sobald sie einlenkte, ward Pfarrer Mannheim auch artiger, und
gab ihr auf eine feine Art zu verstehen, daß man einem vernünftigen
Mann es durchaus von selbst zutrauen müßte, daß er gegen das, was
Wohlstand und Verhältnisse erfoderten, nicht verstoßen werde, daß man
ihn aber eben dadurch, daß man dächte, er könne dies und jenes bei
andern Gelegenheiten mißbrauchen, in die Notwendigkeit setzte, falls
er nicht ein Pinsel wäre, sich bei allen möglichen Gelegenheiten mehr
herauszunehmen, als er sollte.  "Und überhaupt", sagte er, "gibt das
einen peinlichen Umgang, wenn man in Gesellschaften nichts weiter zu
tun hat, als auf seiner Hut zu sein, dem andern nicht zu viel
einzuräumen."

"Ja, wenn der andere ein vernünftiger Mann ist", sagte der Onkel mit
einem sehr gnädigen Blick.

"Von dem rede ich nur", sagte der Pfarrer.  "Sie trinken heute
nachmittag den Kaffee im Garten mit uns", sagte die gnädige Frau.
"Haben Sie den _Almanach der Grazien_ gelesen?" fragte das Fräulein.

Diese Fragen kamen so unmittelbar aufeinander, daß er sie nicht
anders als mit einem ehrerbietigen Bückling und einem feinen Lächeln
am Munde beantworten konnte.  Er sagte, er wollte den Nachmittag die
Gnade haben, der gnädigen Frau und dem gnädigen Fräulein einige
Zeichnungen von seinen Reisen in der Schweiz zu weisen, worunter
besonders die Gegenden des Pays de Vaux wären, die Rousseau in seiner
Heloise so meisterhaft geschildert.

"O Sie sind ein allerliebster Mann", sagte das Fräulein.

Die Tafel ward aufgehoben.  Nun war der Damm eingerissen, der bisher
die Konversation gehemmet; alles floß in Geselligkeit und Scherz
und--Vertraulichkeit zusammen.

Eine harte Prüfung stand ihnen noch bevor.  Als sie alle zusammen in
Eintracht in der großen Sommerlaube im Garten um den Kaffeetisch
saßen, und die schmeichelnden Frühlingslüfte den Erzählungen
Mannheims von der französischen Schweiz einen geheimen Zauber gaben,
der ihn mit Einstimmung aller zum Haupthelden auf der Szene
machte--führte das Glück oder Unglück, ganz wie aus den Wolken
gefallen, einen nicht eben allzureichen Edelmann aus der Hauptstadt
nebst seiner Frau Gemahlin herbei, der eigentlich dort nur die sehr
mäßigen Zinsen seines Kapitals verzehrte, auf dem Lande aber überall
sich das Ansehn gab, als ob er einen außerordentlichen Einfluß am
Hofe und besonders auf den Landesherrn habe, der ihn weiter nicht als
Figuranten in der Antichambre zu kennen das Glück hatte.  Diese
Erscheinung war wie ein Hagelwetter nach einem Sonnenschein; alle
Gesichter fielen in ihre angeborne Karikatur zurück, und Öde und
Leere, wie ehmals im Chaos, herrschte nun in der Gesellschaft.
Pfarrer Mannheim hielt es nicht für nötig, mit seinem Weiblein
davonzuschleichen, so sehr ihm die Augen aller Anwesenden es zu raten
schienen; er faßte gleich beim Eintritt des Fremden seinen Stuhl an,
damit ihm dieser nicht etwan im Hurly Burly genommen werden könnte,
war aber übrigens ungemein ehrerbietig und zurückgezogen bei den
ersten Komplimenten.  Kaum hatte der Fremde und der Hausherr sich
gesetzt, so nahm er und seine Frau ihren alten Platz ein, so daß
wahrhaftig für das gnädige Fräulein und den Herrn Vetter kein Stuhl
mehr übrigblieb, und sie genötigt waren, den Bedienten unverzüglich
nach einem zu schicken.  "Das ist der berühmte wunderbare Herr
Pfarrer Mannheim", sagte der Hausherr, um diese Reibung der
Gesellschaft zu maskieren, "der aus seinen Bauren Edelleute und aus
seiner Kirche eine Akademie der ökonomischen Wissenschaften machen
will."

Diese hohe Ankündigung sollte auf einer Seite dem neuen Gast alle
Befremdung, einen Prediger in dieser Gesellschaft zu finden, ersparen,
auf der andern dem Pfarrer Mannheim auf eine sehr subtile Art eine
Erinnerung geben.

Der Höfling, dessen Augen ohnehin immer zusammengezogen waren, tat,
als ob er den Pfarrer Mannheim nicht sähe.

"Es ist mir wenigstens schmeichelhaft, gnädiger Herr", sagte der
Pfarrer Mannheim, "daß unser Landesfürst mich durch ein eignes
gnädiges Handschreiben seines Beifalls versichert hat."

Es war, als ob er eine Rakete unter die Leute geworfen; alle Augen
waren auf ihn gerichtet.

Unterdessen kamen die Stühle für das Fräulein und den Herrn Vetter an.

"Und ich hoffe, daß nächstens", fuhr er fort, "auf meinen
untertänigsten Vorschlag, in Ansehung der Austeilung der neuen
Kopfsteuer, wie mir Se.  Exzellenz der Präsident von der Kammer
versichert haben, eine eigene Kommission von seiten der Kammer und
eine andere von seiten unsers Oberamts niedergesetzt werden soll, um
die eingeschlichenen Mißbräuche zu heben, die den Landmann so sehr
beeinträchtigen, als die landesfürstliche Kasse."

"Das wäre in der Tat sehr nötig", sagte der Herr vom Hause.

Der Höfling maß ihn mit seinen Augen, welches der Pfarrer Mannheim
erwiderte.

Auf ihrer Seite tat Albertine alles Mögliche, um das Fräulein zu
besänftigen, die, wegen des Vorfalls mit den Stühlen und wegen ihrer
Entfernung von der neuangekommenen Hofdame, sich noch gar nicht
erholen konnte.  Sie sprach mit ihr von einigen neuen Kopfzeugen, die
sie aus ihrer Vaterstadt mitgebracht, und von denen sie ihr das
Muster schicken wollte.  Das Fräulein nickte mit dem Kopf und
lächelte, daß man geglaubt hätte, sie weinte.  "Das, was die gnädige
Frau aufhaben", fuhr Albertine sehr laut fort, "ist eben keins von
den neuesten."  Die Hofdame schlug die Augen fest vor sich nieder.
"Indessen", sagte Albertine weiter, um sie zu trösten, "ist es nach
meinem Auge von unendlich mehrerem Geschmack, als die neueste Art mit
den fatalen Fledermäusen und dem Gesimse auf dem Kopf."  Der Höfling
wandte sein Auge bei diesen Worten, die mit einiger Laune
ausgesprochen wurden, mitten in dem tiefsinnigsten Gespräch mit dem
Herrn vom Hause, auf die Frau Pastorin.

Der Pfarrer Mannheim, der schon wieder als Insel dasaß, und wohl
merkte, daß das tiefsinnige Gespräch der beiden Herren sich auf
nichts herumdrehte, als daß beide etwas leise gegeneinander die
Lippen rührten, ohne daß einer von den Worten des andern das
geringste verstund--fuhr mit einer neuen Rakete zwischen ihnen drein.

"Ich muß mich sehr wundern", sagte er und richtete sich gerade an den
Herrn vom Hofe, der ihm schon durch das allgemeine Gerücht bekannt
war, "daß die meisten Herren von Adel ihre Kapitalien hiesigen
Kaufleuten anvertrauen, wo sie doch so unsicher stehen, und sich
nicht nach Holland wenden, das wir so nahe haben, und wo ich durch
sichere Briefe weiß, daß die Konkurrenz bei gegenwärtigem Kriege viel
größer ist."

"Wie meinten Sie das", fragte der Herr vom Hofe, und rückte seinen
Stuhl näher-Pfarrer Mannheim tat, als ob er diese Frage nicht hörte,
sondern stand in dem nämlichen Moment vor der gnädigen Frau, von der
er sich mit einem sehr tiefen Bückling beurlaubte, alsdann seine Frau
an die Hand nahm und sie denen Herren zum Abschied präsentierte, die
außerordentlich höflich waren.  Der Herr Vetter, der den Augenblick
in den besten Humor von der Welt kam, bat sich die Erlaubnis aus, sie
nach Hause zu begleiten; Pfarrer Mannheim verbat sich's, weil
vermutlich sein Kutscher auf ihn wartete; der junge Herr hob sie also
in den Wagen, und so endigte sich dieser Besuch.

"Wir wollen ihn einmal besuchen", sagte der Herr vom Hause, als er
fort war.  "Der Mann gefällt mir besser als die Frau", sagte die
Hofdame.  "Mir auch", widerhallte das Fräulein.  Der Vetter, der
zurückgekommen war, lächelte, wie einer, der vergnügt ist, ohne zu
wissen warum.  Alles ging wieder in betäubende Stille über.


Als sie nach Hause gekommen waren, bat Albertine ihren Mann sehr
ernstlich, daß sie doch heute keine Visite mehr machen wollten.  Er
bestand aber drauf, den Abend bei seinem Assoziierten zu essen,
welches auch geschah.  Beide kamen merklich vergnügter von dort nach
Hause, als sie beim Mittagessen gewesen waren.  Denn da waren sie die
streitende Kirche, hier aber die triumphierende, und sie verbreiteten,
durch ihre Freundlichkeit und Gesprächigkeit, so viele Freude bei
diesem wackern Bürger, dessen Haushaltung gewiß mit so vielem
Geschmack eingerichtet war, als die Haushaltung des wohlhäbigsten
Kaufmanns in der Stadt es nur immer sein kann, daß er ihnen gern sein
Herz aus dem Leibe vorgesetzt hätte.

Albertine, welche ihren Mann inständigst bat, sie soviel möglich
aller sogenannten Staatsvisiten zu überheben, fing nun an, das
Bedürfnis nach Gesellschaft, das heißt einer Gesellschaft, die ihr
nach Herz und Sitten gleichgestimmt war, ziemlich lebhaft zu spüren.
Sie wollte es ihrem Manne anfangs nicht sogleich gestehen, aber alle
ihre geheimsten Korrespondenzen nach Hause waren voll davon.  Der
Mann hatte sein Amt; er hatte vor allen Dingen seine wirtschaftlichen
Angelegenheiten, die ihn oft den ganzen Tag foderten, so daß er nur
wenige Abendstunden der Erholung in dem Schoße seines Weibes widmen
konnte; sein eigen Herz flüsterte es ihm gar bald zu, daß seine Frau
unmöglich den ganzen Tag allein bleiben könnte; er traf also ingeheim
Verfügungen, und eben als er an einem Nachmittage seiner Frau, die
einen Augenblick in den Garten gegangen war, ihren Salat zu besehen,
ein Briefchen aus ihrem offenen Schreibpult stahl, in dem sie mit
folgenden Worten ihr Herz gegen eine Freundin erleichtert:

"Den besten Freund meines Lebens an meiner Seite, in einem Hause, wo
es mir an nichts fehlt, und jeder meiner Wünsche mir durch die
Sorgfalt meines Mannheims entgegeneilt, fehlt mir doch immer noch ein
Herz, das mein Glück, selbst das Glück, so geliebt zu sein, als ich
bin, mit mir teilt, sich mit mir freut, wenn ich närrisch bin, mit
mir das Maul hängt, wenn der Himmel trüb ist: liebes Lieschen, das
bist du---"

Man stelle sich vor, wie unserm Weiblein zumut ward, als sie über ein
Krautbeet sich emporhob, einen Wagen im Hofe rasseln hörte, unter
ihrem Sonnenhütchen heraussah, und in dem Augenblick sich von den
Armen eben desselben Lieschens umschlungen fühlte, an welche sie den
obigen Brief unvollendet gelassen.  Ihn mit dem offenen Briefe in der
Hand die Treppe hinunterstürzen, sie mit ihrem lieben Lieschen an der
Hand, als ob es von ungefähr geschehen, ihm entgegenfliegen--und
hernach aus diesem süßen Traum mit der Empfindung aufwachen zu sehen,
daß er ihr von ihrem Mannheim zu rechter Zeit geschickt
war--überlasse ich dem teilnehmenden Herzen meiner Leser und
Leserinnen sich selber abzuschildern.

Das Bedürfnis seiner Frau war befriedigt; aber nachdem dieses kleine
Trio eine Zeitlang gedauert, fühlte er, daß sich für sein Herz ein
ähnliches anhub.  Er sann also ein Befriedigungsmittel aus, das ich
mich nicht enthalten kann zum Besten des Ganzen allgemein bekannter
zu machen, besonders, da ich es nur, als ein sehr schlecht
gekritzeltes Kupferblatt, von einem Originalgemälde kopiert habe, das
zu allgemein bekannt und verehrt ist, als daß es meines Lobes
bedürfte.  Es ist das große Gemälde deiner Haushaltung, mein S—,
das ich vor Augen habe, und von dem ich gern Modelle für alle
mögliche Klassen von Menschen vermannigfaltigen möchte.

Er wußte, welch eine unangenehme Epoke im menschlichen Leben der
Übergang vom Jünglingsalter zu männlichern Geschäften macht, und wie
nötig jungen Leuten, die von der Akademie kommen, oder sonst in dem
Vorbereitungsstande zu wichtigern Geschäften stehen, ein Hafen sei,
in welchem sie ihr Schiff takeln, kalfatern und segelfertig machen
können, ehe sie es wagen dürfen, es vom Stapel abzulassen.  Er machte
also seine Spekulationen auf diese Vorbereitungsjahre edler Jünglinge,
die nicht durch Kriechen, oder sich an Schürzen Hängen, sondern
durch das Bewußtsein innrer Kräfte in Ämter, oder zu Künsten
aufgenommen zu werden strebten, und öffnete ihnen, sobald er diesen
Funken in ihnen entdeckte, sein Haus ohne Ausnahme, gegen keine
andere Entschädigung, als daß sie einige Stunden von ihren täglichen
Beschäftigungen zu dem Umgange mit ihm und seinem Hause abbrechen,
der ihnen in allen Rücksichten nicht anders als höchst vorteilhaft
sein konnte.  Hier hatte er eine beständige Unterhaltung für seinen
Geist und sein Herz, und schuf sich eine Menge Freunde von so
mannigfaltigem Charakter, Talenten und äußeren Beziehungen, daß es
eine wahre Weide für seine Seele war, sie mit all ihren Eigenheiten,
und auszeichnenden Bestimmungen in ruhigen Stunden vor seiner
Einbildung vorbeigehen zu lassen, und der Stoff zur Unterredung mit
den Seinigen niemals fehlen konnte.  Alle diese verschiedenen
Menschen breiteten sich nachher bald hie bald dort hin aus, und das
edelste Gefühl im Menschen, das unter allen am letzten unterdrückt
werden kann, die Erkenntlichkeit, die sie von ihm mitnahmen, machte,
daß sie, wenn sie in bessere Verfassungen gekommen waren, seiner
weder in Briefen noch in Aufträgen, die er an sie hatte, jemals
vergessen konnten, wodurch denn seine Korrespondenz und sein
Wirkungskreis einer der angesehensten im Königreich war.

So ward sein Haus in gewisser Art eine Akademie der Künste und
Wissenschaften, weil sich Künstler und Gelehrte zu ihm flüchteten.
Er hatte dabei keine weitere Unkosten, als daß er ein paar Zimmer in
seinem Hause für sie zurichten ließ, und denen, welche mäßig waren,
wie es echte Künstler und Gelehrte immer sind, mittags und abends
eine Serviette mehr hinlegen ließ, welches in einer Haushaltung auf
dem Lande kaum merklich wird.  Vom Tee und Kaffee und Tabak war in
seinem Hause niemals die Rede, wohl aber von Obst und Früchten, wie
es die Jahrszeit mit sich brachte.

Vielleicht wird es einige meiner Leser interessieren, zu erfahren,
wie Albertine ihrem Manne den Rauchtabak, und er ihr zur Dankbarkeit
den Kaffee abgewöhnt.  Albertine hatte ihm einigemal gesagt, daß sein
Zimmer übel röche, und daß sich der Geruch in seine Kleider zöge; er
spottete ihrer falschen Delikatesse, nahm seine Tabaksdose, sie zu
quälen, auf ihr Zimmer und rauchte ihr beim Vorlesen den ganzen Abend
vor.  Sie ließ es hingehen.  Einen Monat mochte vom Tabak gar nicht
wieder die Rede gewesen sein, als er auf einmal an einem Morgen
seinen kleinen Johannes, das erste und nun schon zweijährige Söhnchen,
das sie ihm geschenkt hatte, mit einer langen tönernen Pfeife im
Munde gewahr ward.  "Frau", sagte er, indem er rot ward und dem
Kleinen nicht ohne Widerstand die Pfeife aus den Händen nahm, "das
Spielwerk taugt nichts für Kinder."  Die Frau verbiß ein geheimes
Lächeln und sah emsig auf ihre Arbeit.  Er kam den Abend wieder mit
seiner Pfeife auf ihre Stube; den Morgen fand er seinen kleinen
Jungen wieder in der nämlichen Stellung.  "Was ist denn das mit der
Pfeife?" sagte er, und konnte sich nicht enthalten zu lachen und
zugleich noch röter zu werden.  "Kann ich's ihm abgewöhnen", sagte
sie mit der größten Sanftmut, "wenn er dich alle Abend rauchen sieht?
Du weißt, wie die Kinder sind; alles, was die Alten tun, macht ihnen
Freude."  "Und wer hat ihm die Pfeife gekauft?" fragte Mannheim und
versteckte seinen Kopf an ihrer Brust; hier fand sie es für gut, ihm
aus dem Stegereif eine kleine Gardinenpredigt über das Rauchen,
sobald es Gewohnheit wird, zu halten.  "Es ist eine Kette", sagte sie,
"an der du ziehst, die dir alle deine übrigen Vergnügungen verdirbt,
darum nur, darum habe ich was dagegen einzuwenden.  Du bist nirgends
ruhig, wenn dich nicht die Pfeife begleitet, und du magst es dir
verhehlen, wie du willst, es bleibt immer eine kleine Unreinlichkeit.
Ich habe einen Menschen gekannt, der sich parfümierte, wenn er
geraucht hatte, und er kam mir gerade so vor, wie ein Schinken, den
man aus dem Rauch nimmt, und eine Sauce von Zitronen dran macht.
\XDCberlassen wir das Rauchen den Unglücklichen, die keine andere
Freude haben, den Walfischfängern in Grönland, oder den Negern in
Zuckerplantagen, die ein Opium brauchen, um sich gegen ihr Elend zu
betäuben, aber du, im Schoße des Glücks, in meinem Schoße"--hier
faßte sie ihn mit unaussprechlicher Schmeichelei unter das Kinn.  Er
ging trotzig fort.  Den Abend ward Pfeife und Tabak in den Ofen
geworfen, und den Morgen ließ er sein Studierzimmer von neuem
ausweißen und flüchtete in das Zimmer seiner Frau.

Nach langer Zeit ward er inne, daß seine Frau es mit dem Kaffee hielt,
wie er mit dem Rauchtabak.  Ihr war nicht wohl, wenn sie des Morgens
ihren Kaffee nicht genommen, und sehr oft überfiel er sie mit ihrem
Lieschen auch des Nachmittags am Kaffeetisch, wo sie einander wie
wahre Stadtweiber, die Schale in der Hand, mit den Neuigkeiten ihrer
Korrespondenzen unterhielten.  Sobald sein Weib oder ihr Lieschen
übles Humors war, ward es hernach zur Gewohnheit, daß zweimal Kaffee
getrunken werden mußte.  Er wollte beide einmal auf die Probe setzen,
und las ihnen bei Tisch einen erdichteten Brief vom Präsidenten vor
(mit dem er wirklich korrespondierte), in welchem dieser ihm meldete,
es würde nächstens eine landesfürstliche Verordnung bekanntgemacht
werden, worin allen Privatpersonen ohne Ausnahme der Gebrauch des
Kaffee bei schweren Geldstrafen untersagt werden würde, dafern sie
sich nicht eine unmittelbare Erlaubnis vom Landesherrn durch
Bezahlung einer dazu ausgesetzten Geldsumme auswirkten.  Seine Frau
und Lieschen sahen einander an; beide suchten die verschiedenen
Empfindungen, die diese Neuigkeit in ihnen veranlaßte, jede auf ihre
Art, zu verbergen, endlich konnte sich Lieschen nicht länger halten,
und brach aus: "Werden Sie uns diese Erlaubnis denn kaufen?" Mannheim
lächelte.  "Du würdst wohl ohne Kaffee nicht leben können, aber ich
hoffe, was meiner Frau gut ist, wird dir auch recht sein."  Hierauf
setzte er ein sehr ernsthaftes Gespräch mit einem seiner jungen
Freunde fort.  Als er vom Essen aufstand, und sie küssen wollte,
stürzten zwei unbändige Tränen, die sie mit aller ihrer Mühe und
Kraft beim Essen zurückgehalten hatte, ganz wider ihren Willen und
Absicht, von den Wangen der armen Albertine den mutwilligen Lippen
Mannheims entgegen, die sie wollüstig aufschlürften.  "Und so weinst
du denn, meine liebe Frau", sagte er laut und triumphierend, "und
meinst, der Kaffee sei keine Kette, kein Opium, das dich für alle
andere Vergnügungen taub und ungestimmt macht.  Wenn haben unsere
Vorfahren Kaffee getrunken, die doch auch ihre Freude hatten, und
herzlicher als wir.  Trinken wir den Kaffee, wie sie, als etwas
Außerordentliches, als etwas, das alle Jahre einmal kommt, und bloß
etwas zu lachen gibt, gewöhnen wir unsere Nerven aber nicht an einen
Opiat, der viel feiner und reizender, und eben deswegen auch viel
schädlicher ist, als der Tabak und das Opium selber.  Der Kaffee ist
in der Tat nur eine galante Unreinlichkeit, und ich bin versichert,
daß der saubere Porzellan, in den wir ihn fassen, das meiste und
vielleicht das einzige zu seinem Wohlgeschmack beiträgt.  Können wir
aber nicht ebensowohl von porzellanenen Kredenztellern Obst und
andere Sachen essen, die unsern Nerven nichts schaden, und uns nicht
zur schädlichen Gewohnheit werden?" Albertine ließ sich diesen
Nachmittag einige Pfirsiche heraufbringen, und, wenn Fremde zu ihr
kamen, setzte sie ihnen Wein, eingemachte Sachen und Obst vor, wobei
die Munterkeit und das Scherzen und das Hüpfen und die Pfänderspiele
und das Tanzen und das Jauchzen viel allgemeiner wurden.  Des Morgens
war ihr Frühstück ein Äpfelkuchen, oder ein Butterbrot, oder sonst
etwas, wovon ihnen nur ein Gelüste durch den Kopf zog, nie aber
banden sie sich an etwas und sie schämten sich hernach nicht wenig,
als ihnen Mannheim sagte, der Verbot vom Kaffee sei nur eine
Erfindung von ihm gewesen.  Mannheim aber und seine Gäste
frühstückten, nachdem es der Phantasie der Frauenzimmer beliebte.

Tausend Veränderungen, tausend drollige Szenen jagten einander in
diesem glücklichen Hause, welche, durch die Erfindungskraft der
Frauenzimmer sowohl, als der jungen Fremden, die Mannheim herbergte,
entstanden.  Bald ward eine Komödie gespielt, bald eine Wallfahrt in
die benachbarten Gebirge angestellt, bald eine allgemeine Verkleidung
in Bauren und Bäuerinnen vorgenommen, die denn zur Heumachenszeit auf
den Wiesen von Johannes Mannheim et Compagnie die nötigen Arbeiten
meisterlich verrichteten, im Grünen ihre kalte Milch aßen und
dergleichen.  Oder, es wurden im Winter Schlittenfahrten angestellt,
wobei Johannes Mannheim seine erste Deklaration oft wiederspielte*
und sich dafür von der ganzen Gesellschaft weidlich auslachen ließ.
Das größte Vergnügen hatten sie bei der Ernte, wo sie sich unter
Schnitter und Schnitterinnen mischten, und mit ihnen hernach die
Mahlzeit aßen.

{* Siehe den ersten Teil.}

Nach und nach fing der Wurm der Begierde, öffentlich bekannt zu
werden, an, in diesem harmlosen Herzen zu wühlen.  "Bin ich es denn
nicht", sprach er zu sich selber, "durch die guten Menschen, die ich
bei mir bewirte, durch die vielen Briefe, die ich von allen Seiten
erhalte, durch die Reisenden selber, die meine Haushaltung zu sehen
neugierig sind?"  Aber doch der Wunsch, gemeinnützig zu werden, nicht
eben ein Philanthrop, oder Kosmopolit, aber doch ein Mann zu sein,
der mehrern Menschen seine Existenz zu fühlen gibt.  Er trug diesen
Wurm und drückte und unterdrückte ihn, aber doch bei gewissen
Gelegenheiten, wenn's ihm aus den Augen verschwunden war, daß sein
Beispiel das ganze Dorf zu einem der wohlhäbigsten im Königreich
gemacht, und das Beispiel dieses Dorfs mit der Zeit für die
benachbarten Dörfer, und also, wie alle Handlungen ins Unendliche
gehen, für das ganze menschliche Geschlecht ansteckend werden
wurde--fiel ihm dieser Lindwurm mit so unheilbaren Bissen wieder an
das Herz, daß es ihm manche trübe Stunde machte.  Niemand auf der
Welt, selbst das Auge seiner Albertine, dem doch kein Winkel seines
Herzens verborgen blieb, hätte wohl jemals diese geheime Springfeder
einiger seiner üblen Launen ausfindig machen können.  Kurz, es
war--der schlimmste Sauerteig, der seit Adams Fall im menschlichen
Herzen gegärt hat--es war der Autor, der das Haupt in ihm emporhob.
Den ersten Keim dazu hat ein Einladungsschreiben von einem
Journalisten, doch von Zeit zu Zeit einige Rezensionen in sein
Journal zu fertigen, so tief in seine Seele gelegt, daß es mit all
seiner Mannheit unmöglich war, ihn ganz auszureuten.

"Wenn's auch nur eine Heilsordnung wäre", sagte er sich manchesmal.
Denn zu Rezensionen fühlte er gleich von Anfang die größte Abneigung.
Sein Urteil andern Menschen aufbinden zu wollen, war nie sein Fall
gewesen.  Und der Stolz, der sich da hineinmischt, war ihm eine
peinlichere Empfindung, als die größte Demütigung, die er hätte
erleiden müssen.  "Ein solcher Mensch", sprach er zu sich selbst,
"macht, wenn andere und besonders vernünftige und gescheute Leute
seinem Urteil nicht beipflichten, sein Leben zur Hölle und umsonst
hat der Mund der Wahrheit nicht gesagt: Richtet nicht, daß ihr auch
nicht gerichtet werdet."

Aber die Autorschaft--andern Leuten Brillen zu schleifen, wodurch sie
sehen können, ohne welche ihnen tausend Sachen verborgen blieben.
--"Es ist doch groß das", meinte er.

"Vor alten Zeiten schrieben die Prediger Postillen; als der Postillen
zu viel waren, ward darüber gelacht und gespottet, da setzten sie
sich auf ihre Kirchhöfe (die mehrstenmale freilich nur in Gedanken)
und lasen den unsterblichen Engländer, den erhabenen Young.  Da
erschienen _Christen bei den Gräbern, Christen in der Einsamkeit,
Christen am Morgen, Christen am Abend, Christen am Sonntage, Christen
am Werktage, Christen zu allen Tagen und Zeiten des Jahrs_.  Die
Buchhändler wollten deren auch nicht mehr, und warum sollte ein
Prediger nicht auch durch Romanen und Schauspiele nützen können, wie
durch Predigten und geistliche Lieder?  Der Nutzen müßte noch weit
größer sein, weil dergleichen Bücher in weit mehrere Hände kommen,
weit begieriger gelesen werden, wenn es dem Verfasser an Witz nicht
mangelt und--"

Wir setzen mit Fleiß diese lange Stelle aus dem Selbstgespräch des
ehrwürdigen Johannes Mannheim her, um unsern Lesern ein Pröbchen, wie
weit in so kurzer Zeit durch einige Zeilen nur die verborgene Radix
Ruhmsucht in diesem gesunden Herzen aufgegäret war und sich seinen
edelsten Säften mitgeteilt hatte.  Fast ein ganzes Vierteljahr wälzte
er's mit sich im Bette herum, einen Roman im Geschmack des Richardson
oder Fielding der gelehrten Welt vorzulegen; verschiedene
Begebenheiten aus seiner eigenen Lebensgeschichte hineinzuspinnen,
das Ganze aber etwan als die Geschichte eines Prinzen, oder eines
Ritters, oder eines--Bauren oder eines--was weiß ich's, einzukleiden,
das noch nicht vorgekommen wäre, nota bene.  Der gute Mann bedachte
nicht, daß durch seine freiwillige Entfernung von dem, was man große
Welt nennt, und überhaupt von dem Gange der menschlichen
Angelegenheiten in Städten und an Höfen, so wie von dem Ton der
Gesellschaften und dem Hervorstechenden in Charakteren und Sitten,
sich ihm alles nur durch das Prisma seiner Korrespondenz, oder des
Hörensagens, oder gar gewisser Bücher, bald--dreieckig,
bald--rautenförmig, bald--vieleckig, bald spitz, bald stumpf, bald
platt weisen würde, was sonst schlechtweg rund oder gerade war, und
umgekehrt.  Die Begierde, ein Romanschreiber zu werden, drückte und
folterte ihn Tag und Nacht, wo er ging; was er sah, was er anrührte,
wollte er alles in seinen Roman bringen und der arme Mann saß
beständig in seiner fröhlichen Gesellschaft da, wie ein Elefant mit
einem Ring in der Nase-"Hol' der Henker Roman und alles"--schrie er
eines Tages überlaut beim Mittagessen, als ihm kein Bissen Brots mehr
schmeckte--seine Frau und Lieschen starrten ihn mit großen Augen
an--und einer seiner Fremden, der durch die Sympathie was davon
geahndet haben mochte, fing überlaut an zu lachen.  "Kinder, ich muß
euch gestehen", sagte er, und wischte sich den Schweiß von der Stirne,
"ich bin einige Monate her nur halb bei euch gewesen--aber es ist
vorbei, gottlob! und ich hoffe, es soll nicht wiederkommen."  "Wie,
Mann!" fing Albertine an, "du hast doch wohl keinen Roman schreiben
wollen."  "Was denn anders?" sagte Johannes Mannheim, "der Teufel hat
mich versucht und du hast mir helfen sollen.  Aber, laßt uns von was
anders sprechen, und wer unter euch sich untersteht, mir von dem
Roman auch nur mit einer Silbe wieder zu erwähnen, den erkläre ich
für den allertödlichsten Feind, den ich in meinem Leben gehabt habe."

Den Nachmittag war er in einer Laune, daß ihn alle die Seinigen
hätten fressen mögen.  Besonders merkte dies sein alter Assoziierter,
der seit einiger Zeit einen so schläfrigen Gang in seinen
Wirtschaftsgeschäften wahrgenommen, daß er hundertmal auf dem Sprung
stand, deswegen zu ihm zu gehen, wenn ihn nicht immer die Ehrfurcht,
mit der er ihn sonst zu behandeln gewohnt war, zurückgehalten hätte.
"Gott tröst'" sagte er den andern Tag zu Albertinen, "was ist mit
unserm Herrn Pfarr vorgegangen?  Er ist ein ganz andrer Mensch, als
er diese ganze Zeit über war.  Ich dachte schon, er wäre krank, oder
müßt' ihm sonst was fehlen im Unterleib.  Wie es den gelehrten Herren
zu gehen pflegt."

Nichtsdestoweniger hat man nach dem Tode unsers Johannes Mannheim
einige fürtreffliche Traktate gefunden, die in einer Sammlung seiner
Schriften sämtlich zu Amsterdam in groß 8vo herausgekommen sind.
Darunter war eine _Abhandlung von der Viehseuche, von den Pferdekuren,
von dem Wieswachs und dem Nutzen der englischen Futterkräuter, von
dem Klima_ und dessen Einfluß auf Menschen, Tiere und Pflanzen,
besonders der _Bevölkerung_, worinnen Blicke in die Menschennatur und
in die allgemeine organisierte Natur waren, die einem Montesquieu
würden haben erröten machen.  Er fand das große Geheimnis der
Ähnlichkeit des Menschen mit der ganzen Schöpfung, die ihn umgibt, ja
er fand, welches Montesquieu selbst nicht gesucht haben würde, selbst
die Unterschiede der Regierungsform in der Natur des Bodens und dem
Einfluß desselben auf Charaktere, Sitten und Meinungen seiner
Bewohner.  Durch diesen Schlüssel erklärte er die wunderbarsten
Phänomene in der Geschichte und noch Erscheinungen, die heutzutage
sich ergeben, auf eine Art, die keinen Zweifel übrigließ.
Vorausgesetzt, daß er Handel und Veränderungen dieses Bodens und
seiner Produkte mit zu den Ursachen rechnete, ferner, daß er
abrechnete, was herumziehende Nationen wie z.  B. die Römer selbst
anfangs, wie hernach die Longobarden, die Goten, die Alemannen und
Franken selber, von ihrem Boden und von ihren Sitten mitgebracht, das
sich hernach mit der neueren Denkart vermischt.  So behauptete er,
die Römer wären eigentlich bis zu den Zeiten der Kaiser keine
_italienische Nation_ gewesen, sondern ein Haufen Kriegsleute, der
sich beständig zu wehren hatte und alles unter sich bringen wollte,
weil er diese Tapferkeit und den kriegerischen Hang mitgebracht.
Unter den Kaisern wies sich erst der Einfluß des Bodens, der sie zu
einer Nation machte, die von der heutigen italienischen durch wenig
Schattierungen unterschieden ist.  So leitete er von den Steinkohlen
die Melancholie der Engländer, von dieser ihren Eigensinn, ihre
Freiheitsliebe, ihre Regierungsform: von den flüchtigen Weinen der
Franzosen ihren Leichtsinn, von dieser ihre Sorglosigkeit für die
öffentlichen Geschäfte, von dieser ihre Liebe zur Monarchie, wo alles
von selbst geht und sie sich nur zu bücken und zu schmeicheln haben,
um höher zu kommen.  Von dem rauhen Klima der Deutschen und dem Bier
ihre Festigkeit, wobei er jedoch die Einschaltung machte, daß seit
dem häufigen Gebrauch des warmen Wassers, besonders des Kaffee, diese
Tugend sehr abgenommen und in eine weibische Weichlichkeit und
Unentschlossenheit ausgeartet wäre, die, wenn sie nicht noch
bisweilen vom Boden und Himmel überstimmt würde, den ganzen
Nationalcharakter verändern könnte.  Aus dieser Festigkeit und
Mannheit leitete er die ganze Verfassung des h.  Römischen Reichs her,
und zeigte, daß sie in ihren Grundfesten nicht zu erschüttern wäre,
es müßten denn die Sitten der Nation ganz umgegossen werden.
Deutschland wäre das einzige Reich in der Welt, wo sich die alte
Lehnsverfassung noch bis auf den heutigen Tag erhalten, eine Menge
kleiner Fürsten nebeneinander, die unter ihren Lehensleuten und
Vasallen herrschten, nur sollte der Adel nicht ungekränkt fremde
Dienste nehmen dürfen, weil es wider die Lehenspflicht sei.  So aber,
wenn sie lang in fremden Ländern lebten, verlören sie ihr Deutsches,
ihre Mannheit und Festigkeit, ihren Trotz für ihre Rechte und die
Rechte ihres Landesherrn, ihre Anhänglichkeit an ihren Boden,
brächten weibische Unentschlossenheit statt guten Sitten zurück, und
könnten leicht Knechte des ersten werden, der sie finde.  \XDCbrigens
gestand er selbst ein, daß nichts liebenswürdiger sei, als ein
Deutscher, der gereist hat, ein Franzose, der alt geworden ist, und
ein Engländer, der lange Jahre unter den Russen gewesen.  Den
Despotismus dieser Nation schrieb er der Strenge ihres Klima, der
Kargheit ihres Bodens und dem daher rührenden Mangel des großen
Haufens der Einwohner zu, denn überall, wo Mangel ist, ist
Despotismus, weil der, der sich nicht zu helfen weiß, sich alles
blindlings gefallen läßt.

Alle diese Sachen aber verhehlte Johannes Mannheim sorgfältig den
Seinigen, weil er den Schatz seiner Erfahrungen und seiner drüber
angestellten Meditationen seinem Sohn als ein Erbstück hinterlassen
wollte, das ihm noch nach seinem Tode zu einer Art von Führer und
Schutzgeist durch die Welt dienen könnte.  Wir werden in der Folge
sehen, wie sein Sohn sich gegen das Andenken seines Vaters dankbar
erwiesen.

Albertine aber, anstatt sich von dem Beispiel ihres Mannes warnen zu
lassen, ließ sich von demselben anstecken, und Gedanken, die nie in
ihrem Herzen aufgekommen waren, verderbten auf einmal die Unschuld
ihrer Seele.

An einem schönen Sommerabend, da die kleinen gefleckten Wolken,
wehmütig und rührend wie Engel, um die scheidende Sonne hingen,
konnte sie ihrem Herzen nicht widerstehen; sie zitterte, nahm ihr
Mäntelchen und ihre Kappe und ging ganz allein in die kleine Wiese
hinten am Hause hinaus, wo der Bach sich im Widerschein des Himmels
wollüstig langsam dahin wand.  Sie warf sich in ein Gesträuch, das
neben ihm stand, und, fast wie der Allmutter Eva, nach Geßners
reizender Beschreibung,* ihr erster Sohn ohne Schmerzen geschenkt
ward, ward ihr hier das erste Gedicht verliehen, das sie, mit warmem
schlagendem Herzen und sich jagenden Tränen auf den Backen, ihrem
Mann und ihrer Freundin machte.  Sie kam nach Hause; man sah eine
außerordentliche Bewegung ihrem Gesicht an.  "Was hast du?" fragte
der Mann, der ihr im Hoftor entgegentrat.  Sie wies ihm ihre kleine
Täfelchen (Tablettes, wie man sie in Frankreich nennt), auf die sie
mit Bleistift ziemlich unleserlich einige Verse geschrieben hatte,
die sein sympathetisches Gefühl sogleich entzifferte.  Ein langer
Handdruck, eine stumme Umarmung waren der ganze Dank, den er ihr gab.
"Ich werde sie abschreiben und deiner Freundin vorlesen", sagte er,
und steckte die Täfelchen zu sich.

{* im Tode Abels.}

Das geschah.  Aber er löschte die Bleistift aus und gab ihr die Verse
nicht wieder.  Sie bat ihn oft drum.  "Ich will's dir vorlesen",
sagte er, wenn sie's zu arg machte.

Nun fing sie an, öfter nach demselben Fleckchen zu gehn und sich dort
in Begeisterung zu setzen.  Sie machte in demselben Gesträuch ein
Gedicht auf den Morgen, das sie ihrem Mann brachte.  "Ich will's
behalten", sagte er; "aber da, da und da hast du dieselben Gedanken
wieder gebraucht, die im ersten waren, nur unter einem andern Kleide
und du merkst wohl, daß das bei weitem nicht so herzlich ist.-Wenn
ich dir raten kann, mach keine Verse mehr."

"Wenn es dir keine Freude macht", sagte sie mit einem etwas finstern
Gesicht-"Nein, es macht mir keine", versetzte er mit einem
ungewöhnlichen Ton.  Sie ging fort.

Das Fleckchen ward unaufhörlich besucht, und alle Sachen, die dort
gemacht wurden, Lieschen vorgelesen, die sie denn, wie natürlich,
alle außerordentlich fand und sich in ein dichterisches Entzücken
darüber versetzte.  Mannheim, der sie bisweilen behorchte, grämte
sich innerlich.

Lieschen machte auch Verse.  Sie wurden gegen ihn damit geheimnisvoll
und zurückhaltend, aber sie waren es nicht gegen die Welt.  Lieschen
hatte einen Bekannten, der ein schöner Geist war.  Dem wurden die
Sächelchen zugeschickt.  Er machte ein Wesens davon, daß die große
Bühne des Himmels hätte einfallen mögen.  Zu großem Glück fiel sein
dithyrambischer Brief darüber Johannes Mannheim in die Hände.  Er
hatte ihn gerade an seine Heva gerichtet, und, da Mannheim in der
Geschwindigkeit nicht nach der Aufschrift sah (denn er pflegte
niemals Briefe an seine Frau aufzumachen), fiel ihm dieser
Schlangenkopf gerade in die Augen, als er seinem Weibe den giftigen
Apfel reichte.  Er verbarg ihn in seinen Busen, ging zu seiner Frau
aufs Zimmer und fragte, ob sie den Nachmittag spazierengehen wollte,
er wollte sie in eine Gegend führen, wie sie in ihrem ganzen Leben
noch nicht gesehen hätte.  Nichts konnte der Frau willkommener sein,
als ein so poetischer Antrag, wo sie neue Ideen zu einer Ode zu
sammlen hoffte, die sie schon lange _über die Einsamkeit zu_ machen
willens war.

Alles ging erwünscht.  Die Gegend war eine der furchtbarsten und
wildesten im benachbarten Gebirge, die die schöpferische
Einbildungskraft eines----sich je zu einem Macbethsgemälde hätte
erfinden können.  Es war ein zerstörtes Schloß auf einer Felsenhöhe,
von der man ohne Schwindel nicht hinabsehen konnte.  Die
untenstehenden Fichten, die an ihrem Fuß unabsehbar sein mußten,
erschienen hier wie kleine gedrückte Gebüsche.  Unten stürzte sich
ein Wasserfall von einer merklichen Höhe, dessen Rauschen hier kaum
dem Summen eines Bienenschwarms gleichte.  Albertine sah hinab und
fühlte den Tod unter ihren Füßen.  Ohne die gespannte
Einbildungskraft, die sie mitnahm und die allen ihren Sinnen eine
gewisse Stärke gab, würde sie diesen Anblick nimmer haben ertragen
können.  Auch sank sie von einem leichten Schwindel befallen an
Mannheims Busen zurück, der stärker als sie in diesem Augenblick sie
fest in seinen linken Arm schloß, mit der rechten aber das verhaßte
Papier herauszog, es ihr vors Gesicht hielt und sie mit folgenden
Worten anredete:

"Ungetreue! in dem Augenblick, da ich dir mein ganzes Leben aufopfere,
täglich eine Last nach der andern wegwälze, damit das Gebäude unsers
Glücks fest und dauerhaft stehen könne, mir Ruhe und Erquickung bis
ins Alter versage, nur damit auch nach meinem Tode du und meine
Kinder einen Witwensitz, eine Felsenburg haben, damit die jungen
Adler hernach mit den ererbten väterlichen Fittichen auf ihren Raub
herabschießen können--in dem Augenblick empfängst du Briefe mit der
schwärmerischsten unsinnigsten Leidenschaft geschrieben von einem
Menschen, der nicht wert ist, daß er unsere Kühe melkt, von einem
Laffen, der dich seine Muse nennt und in seinem Leben noch keine
andere Muse als seine Aufwärterin gehabt hat, der sich deinen Phaon
nennt, und nicht weiß, ob der Phaon ein Bub oder ein Mädchen war."

Man stelle sich die Angst und das Schrecken unserer Albertine vor,
als Mannheim ihr, nach dieser sehr ernsthaft gehaltenen Anrede, den
auf den abgeschmacktesten dithyrambischen Stelzen gehenden Brief des
jungen Violi vorlas, desselben, dem Lieschen ihre Oden und Lieder
geschickt hatte, und der diese mehr als sapphischen Akkorde aufs
schleunigste in den nächsten _Almanach_ und in das _Taschenbuch_
einzusenden versprach.  Sie konnte dem Menschen dafür nicht anders
als gewogen sein, um so mehr befürchtete sie, die poetischen
Ausdrücke des jungen Menschen hätten wirklich die Eifersucht des von
Leidenschaften sonst so raschen Mannheims rege gemacht.

Ihre Angst ward vermehrt, als nach Endigung dieses Briefs sie
Mannheim fester in den Arm faßte, und, nachdem er sie ein wenig vom
Boden aufgehoben, mit erschrecklicher Stimme rief:

"Wohlan, wenn du denn die Rolle der Poetin spielen willst, so mußt du
sie ganz spielen, wie sie ehemals die Griechin gespielt hat.  Stürz
dich herab von diesem Felsen, rufe deinen Phaon noch einmal an und
sag ihm, daß du für ihn stirbst--"

Hier hob er sie höher; Lieschen, der Sehen und Hören verging, warf
sich hinter ihm auf die Knie, hielt ihn am Zipfel des Rocks und
schrie mit aufgehobenen Händen: "Barbar, kennst du keine Verzeihung--"

"Nein, ich kenne keine", rief er sehr nachdrücklich--indem er sich
umkehrte und die Frau vom Berge herabtrug "weil ich niemals gezürnt
habe."  Das arme Weib war bleich und blaß, und Lieschen weinte: "Ich
habe dich nur zur Poetin weihen wollen, Albertinchen", sagte er;
"denn ich sehe, daß du eher nicht gescheut werden wirst, als bis du
einen solchen Sprung getan hast.  Wie gesagt, willst du unsere Sappho
sein, so tu es ihr nach; sonst geb ich keinen Pfifferling für all
deine Oden und Lieder.  Willst du aber mein lieb Weibchen sein, so
laß mich dem jungen Gelbschnabel seinen Brief beantworten; ich werde
alles schon so einrichten, daß deine Reputation, auch als
Schriftstellerin, nichts dabei verlieren soll."  Albertine warf sich
auf die Knie und bat ihn bei seiner Verzeihung, er möchte sie dieses
Wort nicht wieder hören lassen.  In ihrem Leben sei ihr kein Name
unerträglicher vorgekommen.

Nach dieser Katastrophe wurden keine Verse mehr gemacht; wohl aber
die alten Liederchen von Hagedorn, Uz und Gleim wieder vorgenommen
und gesungen, auch bisweilen eine Ode von Klopstock gelesen, oder
Goethens _Erwin_ durchgespielt.  Sie machten auch kleine
Familienstücke für sich, die sie aufführten, wozu Mannheim mit seinen
Freunden den Plan entwarf, jedes aber darnach seine Rolle selber
ausarbeiten mußte.  Hauptsächlich aber parodierten sie unnatürlich
sentimentale Stücke auf ihre Art, wie z.  E. den _Günther von
Schwarzburg_ und dergleichen, welches denn ein unversiegbarer Quell
von Ergötzungen für sie ward.

Mannheims Söhnchen wuchs heran.  Er erzog ihn selber, nicht, daß er
ihn viel unterrichtete, sondern nur, daß er ihm die Bücher hingab,
aus denen er lernen konnte, und ihm erlaubte, ihn zu fragen, wenn er
nicht fortkam.  Er hatte den Grundsatz, daß alles, was aus dem
Menschen wird, aus ihm selber kommen muß, und daß seine Erzieher aufs
Höchste nur als Stahl dienen müssen, etwas aus ihm herauszuschlagen.
Zu dem Ende gab er wohl acht, daß der Bube in seiner Studierkammer,
wo er ihm einige Bücher wie von ungefähr hingelegt, auch wohl gar
diejenigen anzurühren aufs strengste verboten hatte, von denen er am
liebsten wünschte, daß er sie läse; daß er, sage ich, auf dieser
Stube von keinen unzeitigen Spielgesellen, oder von anderm Lärmen
gestört wurde.  Das war seine ganze Erziehung.  Und sein kleiner
Johannes, der ohnedem bei Tisch von hunderttausend Sachen sprechen
hörte, die seine Neugier reizten, und kein Mensch, auch wenn er
fragte, sich die Müh' gab, ihm ganz zu erklären, sondern ihn immer
auf die Universität und die berühmten Männer verwies, die davon
geschrieben hätten, verschlang alle Bücher, die diesen Namen auf dem
Titel hatten, mit einer Begierde, die ihn noch in seinem Knabenalter
zu einem neuen Beispiel frühzeitiger Gelehrten machte.  Nur zu
gewissen Stunden des Tages war es ihm erlaubt, sich Gesellschaften zu
suchen, wie und wo er konnte; die übrige Zeit mußte er zu Hause in
seines Vaters Studierzimmer bleiben, wo er sich beschäftigen konnte,
wie er wollte.  Besonders muß ich's rühmen, daß ihm die Bibliotheken,
die damals so häufig in Deutschland waren, sehr vorteilhaft gewesen,
weil er dadurch und durch den witzigen Ton, der sie auszeichnete, auf
hundert Sachen neugierig geworden war, die er sonst auch nicht
gekannt hätte.  Wiewohl mehr als alle das die Diskurse seines Vaters
beitrugen, alle seine mit Mühe gesammleten Kenntnisse in Blut und
Leben zu führen.  Die Sprachen lernte der Bube alle von sich selbst,
wiewohl ihm der Vater alle nur mögliche Hülfsmittel--nie aber
Unterricht--gab, nur von Zeit zu Zeit diskursweise erzählte, wie er's
in seiner Jugend gemacht, was für Hülfsmittel er gebraucht u.s.f.  Er
erlaubte übrigens dem Sohn, alle nur möglichen Fragen an ihn zu tun,
wann und wo er wollte, und der bediente sich dieses Vorrechts oft,
weil es ihm eine solche Miene von Altklugheit und Wichtigkeit gab,
die seine kleine Eitelkeit kützelte.  Sobald diese Eitelkeit dem
Vater merklich ward, geschah--wiewohl immer mit Worten nur und
allezeit an die dritte Person gerichtet--eine durchdringende
Demütigung.

Dieses war derselbe Johannes Mannheim, der, nachdem er seine Rechte
in Göttingen gemacht, mit einem jungen Herrn von seinem Hofe auf
Reisen ging, und in Rom eine italienische Abhandlung _L'Ambassadore_
drucken ließ, die ihm die Stelle als Sekretär seines Gesandten in
Wien verschaffte.  Weil er aber einer der ersten Köpfe seines
Jahrhunderts war, so zeichnete er sich auch hier, nachdem einige
Jahre Erfahrung ihm die Geschäfte des Hofes eigen gemacht und Blicke
in die verborgensten Angelegenheiten desselben eröffnet hatten, von
so viel empfehlenden Seiten aus, daß man ihm eine gewisse höchst
wichtige Negoziation desselben bei den Generalstaaten ganz allein zu
treiben übergab und ihm zu derselben den Titel eines
außerordentlichen Abgesandten bewilligte.  Das Glück und die Feinheit
und Festigkeit, womit er dieses höchst wichtigen und zugleich äußerst
mißlichen Auftrages, zur größten Zufriedenheit seines Hofes, sich
entledigte, machte, daß er bei seiner Wiederkunft in den
Freiherrenstand erhoben ward.  Er erhielt Nachricht, seine Eltern
wären krank; er kam und fand sie wirklich mit den heitersten
Gesichtern einander gegenüber liegen und sich von Zeit zu Zeit noch
mit den Händen winken und Küsse zuwerfen.  Ihre Krankheit schien mehr
die Ruhe zweier ermatteten Pilger, die beide unter der Last, die sie
trugen, auf einem Wege niedergefallen.  Schmerzen fühlten sie beide
nicht; bisweilen ein wenig Angst und große Mattigkeit.  Als sie ihren
Sohn hereintreten sahen, nach dem sie beide oft heimlich geseufzet,
und, weil es hieß, er würde eine neue Gesandtschaft antreten, seine
Gegenwart vor ihrem Tode nicht mehr vermutet hatten, lief ein
feuriges Rot zu gleicher Zeit über die beiden blassen Gesichter.  Er
warf sich wechselsweise, bald dem einen, bald dem andern zu Füßen;
sie konnten nicht sprechen, sondern legten beide nur die Hand auf das
Köpfchen, durch das so viel gegangen war, und segneten ihn mit ihren
Blicken.  Ob es die Freude über sein Wiedersehen war, sie starben
beide desselben Tages.  Johannes Sekundus konnte sich gar nicht
trösten lassen.  Er lief wie ein Verzweifelter durch alle Zimmer, wo
er seine Kindheit zugebracht, rief ihre Namen den leeren öden Wänden
des Hauses, allen Bäumen, Felsen und Gebirgen umher in lauter
tränender Wehklage vergeblich zu.  Lieschen, die lange Jahre vorher
glücklich verheiratet worden, kam mit ihrem Mann, ihm klagen und die
Leichen unter die Erde bestatten zu helfen.  Bei der Eröffnung jedes
neuen Papiers von der Hinterlassenschaft des Vaters verdoppelte sich
sein Schmerz.  \XDCberall fand er Spuren des Andenkens an ihn.  Er
drung darauf, daß die Leichen nach dem kleinen Witwensitz, den der
alte Mannheim mit seinem Assoziierten gemeinschaftlich gebauet, und
Johannes Sekundus sich als erb und eigen mit allem, was dazu gehörte,
von eben diesem Assoziierten gekauft hatte, geführt werden mußten, wo
er ihnen eine kleine Kapelle mit einem Gewölbe zum Erbbegräbnis
anlegte.  An der Türe dieser kleinen Kapelle standen die beiden
Büsten dieses unvergleichlichen Paars aus Marmor, die er schon bei
ihrem Leben von einem der ersten Künstler des Landes hatte
verfertigen lassen, und die unverbesserlich ausgefallen waren.  Bei
dieser Kapelle erbauete er eine Art von Landhaus mit einem schönen
Garten, wo er seine Tage im Frieden zuzubringen gedachte, wenn er der
Welt müde wäre.  Eine ganz besondre Art hatte er, den Todestag seiner
Eltern zu feiern, auf die er sehr viel Kosten wendete.  Alle drei
Jahre war die große Feier; er lud zu dieser ein Vierteljahr vorher
die berühmtesten Gelehrten, nicht allein seines Landes, sondern auch
der benachbarten Provinzen ein, die er acht Tage lang auf die
köstlichste Art bewirtete, da er bloß für sie ein Gasthaus, das sonst
nie bewohnt war, mit den geräumigsten Zimmern hatte erbauen lassen,
die Mahlzeit aber immer, weil diese Zeit gerade in die Mitte des
Sommers fiel, in einem großen von Tannen und Wacholderstrauch
erbauten Saal auf dem Hofe gehalten wurde, dessen Boden nur mit Rasen
gepflastert war.  Den ersten Abend nach ihrer Ankunft tat die ganze
Gesellschaft präzis um Mitternacht, jedes einen Myrtenzweig in Händen,
eine Wallfahrt zu der Kapelle, wo sie von einer dazu neugesetzten
Trauermusik bewillkommt wurden.  Die schwarzen Kleider, die Myrten
und die Fackeln, die alles dieses erleuchteten, gaben der Prozession
eine traurige Feierlichkeit, die auch die kältesten Herzen nicht
ungerührt lassen konnte; hierzu kamen die Kräfte der Musik und der
schmelzende Anblick kindlicher Zärtlichkeit, den ihnen Johannes
Sekundus gab, der bei Endigung der Musik mit zerstreuten Haaren vor
dem Bilde seines Vaters und seiner Mutter kniete, sie um ihre
Fürbitte und um ihren Schutz und Begleitung durchs Leben mit den
ungeschminktesten Worten ansprach, und gewiß sein konnte der Tränen,
die die ganze Gesellschaft umher dem Andenken seiner Eltern geschenkt
hatte.  Hierauf legten sie alle ihre Myrtenzweige auf einen dazu von
Erde erbauten Tisch und gingen alle tränenfröhlich wieder zurück,
wiewohl den ersten Abend nur einige Erfrischungen herumgereicht, aber
keine Mahlzeit gegeben wurde.  Die andern Tage ging es desto lustiger,
und sie wurden fürstlich bewirtet.  Des achten Tages reisten alle
fort, und nun ging die Mädchenfeier an.  Er hatte nämlich ein
Vierteljahr vorher die schönsten Mädchen, die ihm vornehmen und
geringen Standes bekannt waren, mit ihren Müttern eingeladen; diese
wurden auf dieselbe Art bewirtet, nur mit dem Unterschiede, daß sie
bei der Prozession alle weiß gekleidet sein und jede einen
Blumenkranz in Händen haben mußte.  Die Feierlichkeit war dieselbe;
nur geschahe sie nicht in der Nacht, sondern bei Sonnenuntergange.
Die Büsten seines Vaters und seiner Mutter hatten Rosen um das Haupt
gewunden; die Musik war fröhlicher und es ward eine Schäferkantate
abgesungen.  Das rührendste bei diesem Anblick waren zwei lange
Ketten von Blumen, die von einer Büste zur andern gezogen, und womit
sie gleichsam aneinander gebunden waren.  Sobald die Jungfrauen
ankamen, warfen sie ihre Kränze vor ihnen hin auf einen Haufen und
tanzten hernach nach dem Schall der Flöten und Schalmeien um sie
herum.  Dieser Anblick war so reizend, daß er Zuschauer aus den
entferntesten Ländern herbeizog, die sich lange vorher auf das
_Johannisfest zu Adlersburg_, so hieß dieses Leichenbegängnis, zu
freuen pflegten.  Die Mütter schlossen einen großen Kreis um sie
herum.  Es war ein besonderes Gerüst für die Zuschauer erbauet.  Nach
Endigung dieses Tanzes, wobei jede Schöne, wie natürlich, ihre
zaubervollsten Stellungen sehen ließ, hielt Johannes Sekundus ihnen
eine Rede, worin er ihnen dankte, daß sie Balsam in seine Wunde
gegossen.  Sobald sie zurückgekommen waren, wurden sie, wenn es das
Wetter nur irgend erlaubte, in einem schönen Gehölze, das er bei
seinem Hause angelegt, unter beständiger Musik, mit Milch, Obst und
den ausgesuchtesten Erfrischungen bewirtet und die Nacht war das
Gehölz, das Haus, der Garten auf das herrlichste erleuchtet, wobei
die Musik nimmer ruhig ward.  Auf dem Flusse, der bei seinem Hause
vorbeilief, warteten ihrer mit Maien geschmückte Fahrzeuge, welche
von andern, die mit Musikanten besetzt waren, bald begegnet, bald
verfolgt wurden.  Die Illuminationen taten im Wasser herrliche
Wirkung.  Alles endigte mit Abfeurung von sechs ansehnlichen Kanonen,
das Signal zur Ruhe.  Die übrigen acht Tage dauerten die
Feierlichkeiten fort, wenn anders nicht einige von ihnen nach Hause
eilten.  Keine Mannsperson aber ward anders als zum Zuschauer
hinzugelassen, für die, wie besagt, ein eigenes Gerüst bei der
Kapelle und ein anderes am Eingang des Gehölzes erbaut war, an dem
bei jeder Reihe Bänke zwei Mann Wache mit scharfgeladenem Gewehr
stunden, die Befehl hatten, auf jeden zu feuren, der nicht in den
Schranken, die mit allen möglichen Bequemlichkeiten dazu erbaut waren,
bleiben würde.  Die Zuschauer marschierten auch ordentlich unter der
Begleitung der Wache von einem Gerüste zum andern und hatten ihren
eigenen Gasthof, aus dem sie frei bewirtet wurden.  Es wurde ihnen
nämlich in den Schranken kalte Küche, Wein und Erfrischungen
herumgereicht, wobei freilich auf den Unterschied des Standes gesehen
wurde, weil jeder bei seinem Eintritt sich beim Kastellan unsers
Johannes gemeldet und von dem eine gewisse Marke seines Standes
aufzuweisen haben mußte, nach welcher ihm hernach aufgewartet ward.

Man kann sich leicht vorstellen, daß die reizendsten Schönheiten des
Landes hier ihre Zaubereien spielen ließen, und sich oft lange vorher
zu diesem Tage zuschickten.  Weil sie alle als Schäferinnen gekleidet
und angesehen waren, so fielen hier, während daß die Feierlichkeiten
dauerten, alle Erinnerungen des Standes weg, und ward bloß auf die
Reize der Person gesehen, wo jede sich bemühte, es der andern
zuvorzutun.  Johannes Sekundus tat mehrenteils einige Monate vorher
Reisen ins Land und in die Städte umher, um Priesterinnen zu dieser
Feierlichkeit anzuwerben, welches diese sich für eine große Ehre
schätzten, weil dadurch der Ruf ihrer Schönheit einen merklichen
Zuwachs erhielt.

Die nachgelassenen Schriften seines Vaters und einige herzliche
Gedichte seiner Mutter, die er zu diesem Ende unter den Papieren
seines Vaters mit großer Sorgfalt aufgehoben fand, ließ er, mit ihren
Bildnissen geziert, und mit einer Lebensbeschreibung, auf die er
einen ganzen Sommer, den er sich von seinem Landesherrn ausgebeten,
um den Brunnen zu trinken, verwendet hat, und aus welcher diese kurze
Erzählung zusammengezogen ist, zu Amsterdam in zwei Bänden groß 8vo
mit saubern Lettern auf schönem Papier drucken, und so endigte sich
die Geschichte des Lebens und der Taten _Johannes Mannheim, Pfarrers
von Großendingen_.


Anhang


Ich habe bei der Eilfertigkeit, mit der ich diese Geschichte aus der
angeführten gedruckten Lebensbeschreibung zusammengezogen, einen
Brief hineinzubringen vergessen, der in derselben gleichfalls, weil
er nicht in Mannheims, sondern in den Papieren eines seiner
verstorbenen Freunde sich gefunden, nur in einer Note angeführt
worden.  Es ist die Beschreibung einer Kirchenvisitation, welche der
Spezial des verstorbenen Herrn Pfarrers das erstemal in seinem
Kirchspiel gehalten.  Ich will die interessantesten Stellen daraus
kürzlich epitomieren.

Er erschrak sehr, heißt es in demselben vom Spezialsuperintendenten,
der übrigens als ein sehr guter braver Mann drin geschildert wird,
der aber vielleicht ebensowohl wegen Alters und Eigensinn, als weil
er nicht Kraft genug hatte, ein Ansehn, welches er bloß eingerosteten
Kirchengebräuchen zu danken hatte, gegen eines aufzuopfern, das, weil
es dem Wohl des Ganzen ungleich zuträglicher war, freilich erst im
Glauben und Hoffnung einer bessern Zukunft eingeerntet werden mußte,
er erschrak sehr, heißt es, als er mich in seiner Gegenwart über
_"die beste Art die Wiesen zu wässern"_ predigen hörte.  "Geht das
alle Sonntage so", fragte er mit einem etwas herrischen Ton, als er
in die Stube trat.  Ich, der diesen Ton an keinem Menschen gewohnen
kann, antwortete ihm mit sehr viel Zuversichtlichkeit im Blick:
"Nicht anders, Herr Spezial!"  Er, der diese wenigen Worte für Trotz
nehmen mochte, sagte mir hierauf mit gezwungener Überhöflichkeit: Er
werde sich genötigt sehen, diesen Vorfall ans Oberkonsistorium zu
referieren, und es würde ihm leid tun, mich nach einem halben Jahr
vielleicht sehr wider meinen Willen genötigt zu sehen, wieder über
die armseligen Sonn- und Feiertagsevangelien zu predigen.  Es würde
mir leid tun, antwortete ich, jemals auch nur den geringsten Verdacht
erweckt zu haben, daß meine gegenwärtige Art zu predigen eine
Geringschätzung des heiligsten aller Bücher und in diesem der mit so
schöner Auswahl für die allgemeine Andacht von der urechten
christlichen Kirche vorgeschriebenen Stellen vermuten lassen könnte;
auch würde mir niemand mit Recht vorwerfen, daß ich nur einen Sonntag
unterlassen, das dafür bestimmte Evangelium abzulesen, wiewohl ich
meine Ursachen hätte, allemal nicht nach vorgeschriebenen, sondern
nach zufälligen Veranlassungen meine öffentlichen Reden an meine
Gemeine einzurichten.

"Ja, Ihre Gemeine wird schön in der christlichen Religion
unterrichtet werden.  Auch finde ich, daß Sie nicht das mindeste tun,
was in der Kirchenordnung vorgeschrieben worden.  Sie halten weder
Katechismusexamina noch irgend eine andere Art von Kinderlehre des
Sonntags, dieses kann nichts anders als die gröbste Unwissenheit, ich
will auch nur sagen in den ersten und notwendigsten Wahrheiten unsers
Glaubens nach sich ziehen."

"Mein Herr Spezial", antwortete ich ihm, "was die Geheimnisse unserer
Religion betrifft, so erkläre ich sie meiner Gemeine nach ihrem
Fassungsvermögen und soweit sie erkläret werden dürfen nur an den
hohen Feiertagen, wo ich auch hernach mit den Kindern eine
katechetische Wiederholung darüber anstelle.  Denn ich habe mir sagen
lassen (es war derselbe Propst, dessen Tochter Johannes ehmals den
Beutel gestrickt), daß das Subjekt _Geheimnis_ sich mit dem Prädikat
_darüber plaudern_ nicht allzuwohl zu vertragen pflege, daß also alle
acht Tage über Geheimnisse zu reden dem Prediger leicht das Ansehen
eines geistlichen Scharlatans geben könne."

"Mein Herr, mein Herr", sagte der Spezial, außer aller Fassung, der
durch die Einkleidung dessen, was Mannheim ihm zu sagen hatte, schon
halb für seine Meinung gewonnen war; itzt aber die Pille unter dem
Honig zu fühlen anfing.

"Hören Sie mich aus", fuhr ich fort, "ich habe meinen Bauren nötigere
Sachen zu sagen--"

"Was kann nötiger sein als der Weg zur Seligkeit", erwiderte er mit
Heftigkeit.  "Wenn einer die ganze Welt gewönne--"

Hier hielt er inne.  Ich fuhr mit Nachdruck fort: "Und litte Schaden
an seiner Seele.  Dazu aber soll es, hoffe ich, bei uns nicht kommen.
Erlauben Sie mir, Ihnen eine Geschichte zu erzählen--"

"Nein, nein, nein", sagte jener, "ich sehe schon, wer Sie sind, und
dem muß gewehrt werden."

"Ich bin Mannheim", gab ich zurück.

"Dem muß gesteuert werden", versetzte er.

"Meine Geschichte müssen Sie aushören", sagte ich.  "Es war ein
Mensch in einer wüsten Insel und hatte in zwei Tagen kein Wildpret
gefangen.  Bei dem heftigsten Anfall des Hungers stieß ein Brett mit
einem Missionär ans Land, der Schiffbruch gelitten hatte, der
Missionär freute sich, eine Seele mehr zu gewinnen, ging auf ihn zu,
und fragte ihn über die ersten Grundsätze seines Glaubens.  Er wollte
essen, sagte der andre.  Dieser fing an, ihm den katholischen
Lehrbegriff vorzutragen, der Proselyt packte ihn und fraß ihn auf.
So könnte es uns mutandis mutatis mit unsern Bauren gehen, wenigstens
kann der Trost der Religion, sobald man den Leuten nicht Aussichten
weißt, durch ihr inniges Vertrauen auf Gott die ersten und
notwendigsten Bedürfnisse ihres Lebens zu befriedigen, nicht anders
als höchst unkräftig sein.  Wir finden auch, daß Christus und seine
Apostel nicht so gepredigt haben.  Christus fand seine Jünger, die
die ganze Nacht nichts gefangen hatten, und ließ sie einen reichen
Zug tun, der Apostel sagt ausdrücklich, die Gottseligkeit habe die
Verheißung dieses--und des zukünftigen Lebens."

"Schämen Sie sich nicht, Ihre Inorthodoxie noch durch die Bibel zu
beschönigen."

"Ich bin weder inorthodox, noch brauche ich etwas an mir zu
beschönigen.  Wo will sich die Religion äußern, wo soll sie ihre
Kraft und Wirksamkeit beweisen, wenn wir sie als einen abgezogenen
Spiritus in Flaschen verwahren und nicht sie durch unser ganzes Leben
und Gewerbe dringen lassen.  Den Bauren zu weisen, daß Religion
geehrt und reich mache, heißt ebensoviel als Kindern Brot und
Spielwerk hinlegen, wenn sie artig gewesen sind."

"Wollen Sie die erste Quelle aller Moral verderben", sagte der
wirklich gut meinende Spezial.

"Die Stimmung des Herzens", erwiderte ich, "die alle dieser Vorteile
entbehrt, freiwillig entbehrt, sobald ein Recht dadurch gekränkt oder
die Gottheit dadurch beleidigt wird, kann auf keine andere Weise
hervorgebracht, oder wenn sie da ist, geprüfet werden, als wenn ich
bei meinen Bauren gehörige Begriffe von dem, was zeitlicher Wohlstand
ist, gehörige Kraft und Anwendung dieser Kraft, ihn zu erreichen,
voraussetze.  Der Bettler glaubt den Himmel am allerersten und
geschwindesten, aber es ist denn auch nur ein Himmel für Bettler.

Diese Stimmung in ihnen hervorzubringen, ist meine einzige Absicht.
Ich habe zu dem Ende ein geheimes Tribunal bei mir errichtet.  Jeder,
der etwas über seinen Nachbar zu klagen hat, kommt zu mir, und kann
nicht allein des unverbrüchlichsten Stillschweigens bei mir
versichert sein, sondern auch daß ich ihm viel geschwinder zu seinem
Recht verhelfen werde, als der Advokat vor den Gerichten.  Ich gehe
zu dem Verklagten, ich gewinne ihm sein Vertrauen ab, ich höre, ob er
nicht vielleicht ebensoviel Beschwerden gegen seinen Ankläger hat.
Habe ich die wahre Gestalt der Sache erfahren, und alle meine
besondern Versuche sind vergebens, den Schuldigen zu seiner Pflicht
zurückzubringen, so bring ich die Sache unter irgend einer
Einkleidung auf die Kanzel, und weise aus den allgemeinen Wahrheiten
unsrer Religion das Verdammliche oder vielmehr das Schädliche dieser
und jener Handlung in ihren Folgen.  Da dünkt mich's Zeit, allgemeine
Wahrheiten vorzutragen, und mit Erfolg.  Denn entspricht hernach die
Erfahrung der Menschen dem, was wir ihnen voraussagten, so gräbt sich
die Religion weit tiefer in ihr Herz, als irgend etwas, so sie
auswendig gelernt haben.  Ich habe die frappantesten Beweise davon
gehabt, und diese haben mich in dieser Methode so sehr bestätigt, daß
ich sie vermöge meines Gewissens nimmer abändern werde, was auch die
Obern mir darüber jemals ankündigen mögen."

"Was können Sie für Beweise davon haben?"

"Ich will Ihnen gleich ein ganz frisches Exempel anführen.  Einer von
unsern Bürgern ward beschuldigt, er hätte verschiedenes von den
Gütern seines Mündels, eines guten einfachen unschuldigen Mädchens,
veruntreut.  Man konnte nicht sagen wo, es waren aber merkliche
Anzeichen da, daß das Mädchen, das immer still und ordentlich gelebt,
seit der Zeit seiner Vormundschaft um ein beträchtliches ärmer
geworden.  Als alle meine Kunst vergebens war, ihn selbst zu dem
Geständnis zu bringen, erzählte ich den letztern Sonntag eine
Geschichte, die mir noch von meiner Jugend her bekannt war, von einem
Bedienten, der einen ohnehin armen Herrn um sein Letztes bestohlen,
damit in fremde Länder gegangen und durch Fleiß und Ordnung ein
großes Vermögen erworben.  Er heiratete, bekam Kinder--auf einmal
wachte sein Gewissen auf, er mußte zurück und seinem Herrn nicht
allein das Gestohlne wiederbringen, nicht allein die Zinsen des
Gestohlnen, sondern--alles, alles was er selbst dadurch erworben, und
er, sein Weib und Kinder waren an den Bettelstab gebracht.  Umsonst
suchte sein Herr ihm wenigstens die Hälfte davon wieder aufzudrängen,
er verdiente diese Strafe, sagte er, und könne nicht anders hoffen,
seine Seele zu retten.  Er wollte nun von vorn anfangen, wie er
damals würde haben tun müssen, zu versuchen, ob er mit nichts als
seiner Hände Arbeit etwas für seine Kinder ausrichten könnte.  Diese
Geschichte tat ihre Wirkung.  Der Vormund kam und brachte mir
folgenden Tages das unterschlagene Geld, mit Bitte, es dem Mädchen,
das Braut war, unter fremdem Namen als ein Geschenk zuzustellen.  Ich
sah ihm ins Gesicht und warf's ihm vor die Füße.  "Blutgeld", sagte
ich, "ist's, sobald Ihr damit den Himmel wiederkaufen wollt, den Ihr
verloren habt.  Ihr habt nicht Menschen, sondern Gott gelogen."--Es
fehlte nicht viel, so wär' er bei diesen Worten, deren er sich nicht
versah, ohnmächtig niedergefallen.  Ich ging aus dem Zimmer und ließ
ihn allein.  Erst nach einer halben Stunde war er fortgegangen.  Den
andern Tag ließ er mich zu sich rufen, er läge krank und glaubte den
Tag nicht zu überleben.  Als ich in die Stube trat, fragt' er mich
mit gefaltenen Händen, was ich wollte, daß er tun sollte.  Hier hielt
ich's für Zeit, ihm zu predigen, daß die Gerechtigkeit nichts als die
Austeilerin der Liebe sein darf, daß keine Liebe ohne Gerechtigkeit
bestehen könne, daß es aber eine Gerechtigkeit ohne Liebe gebe, in
die sich der Teufel kleidet, wenn er als Engel des Lichts erscheint.
Gestohlnes Gut wiedererstatten, um nicht verdammt zu werden, hieße
ebensoviel, als einem Menschen die Kehle nicht abschneiden, weil die
Büttel hinter uns dräuten.  Sich aber auf diese Wiedererstattung was
zugute tun, hieße Gott betrügen wollen, der nicht zu betrügen ist.
Er weinte und fragte, was er tun sollte.  Ich sagte, "fragt Euer Herz
und dann gebt Ihr mit Aufrichtigkeit ohne Furcht und ohne Zwang so
viel, als dieses Euch heißen wird, und seid versichert, daß Gott
nicht das Opfer ansehen werde, sondern die Gesinnung, mit der es
geopfert ward."  Er hat, wie ich höre, seitdem mit den jungen
Eheleuten sich assoziiert, ihnen ein Stück seines Ackers zu bauen
umsonst überlassen, und will mit aller Gewalt, daß sie auch mit ihm
ein Haus beziehen sollen, wo er für nichts als den Tisch Bezahlung
nehmen will."

"Ja, das gelingt einmal", sagte der Spezial; "das gelingt immer",
sagte ich.  "Nur unser Unglaube an die Menschheit macht, daß sie so
böse ist.  Ohne eine gewisse Anlage zum Guten können ja die
tierischen Operationen in dem Menschen nicht einmal vor sich gehen,
es kommt also darauf an, daß wir diese treffen, so haben wir den
halben Weg zu seiner Besserung gewonnen.

Und welches Mittel ist kräftiger, uns über die andere Hälfte zu
bringen, als wenn wir ihm Schaden und Vorteil zu zeigen wissen, wie
sie in die Moralität seiner Handlungen verflochten sind.  Daß alle
Arbeit sich geschwinder fördert, wenn die Kräfte rein gestimmt sind,
daß der Geist tausend Springfedern des Glücks entdeckt, wenn er frei
von Furcht und Gewissensangst alles um sich hier mit Liebe ansieht,
daß die Liebe dem Feuer der Sonne gleiche, durch welches die ganze
Natur ihr Dasein erhält u.s.f."

"Ich frage Sie nur", versetzte der Spezial, "ob Sie Seelsorger oder
Verwalter Ihrer Gemeinen sind."

"Beides", antwortete ich.

"Ich frage Sie nur, ob die Seelen Ihrer Gemeine dadurch gebessert
werden, wenn sie wissen, wie sie ihren Acker zu bestellen, ihre
Wiesen zu wässern haben."

"Wäre es auch nichts weiter, Herr Propst, als daß ich durch
Mitteilung dieser Kenntnisse eine Herrschaft über ihre Seelen
erlangte und heilsamern Wahrheiten den Weg bahnte, so müßte diese
Methode schon alle Ehrfurcht verdienen.  Wenn ich nun aber meiner
Gemeine noch überdem durch mein Beispiel weise, wie die Sorge fürs
Zeitliche mit dem Gefühl für andere und deren Glück zu vereinigen,
und ich nicht weiter anzusehen als ein Haushalter, dem mehrere Macht
anvertrauet worden, Menschen sowohl durch Mitteilen und Vorschuß
meiner Güter als meiner Kenntnisse und Erfahrungen glücklicher zu
machen, von dem also auch mehr gefodert wird, wenn ich außer den
sonntäglichen noch alle Mittewoche und Sonnabend Versammlungen in
meinem Hause, jedesmal von einer andern Partei Bürger halte, um auf
ihre Sitten und Geschmack zu wirken, weil auch der Landmann, um
glücklich zu sein, seinen Geschmack haben muß, in diesen bald etwas
aus der Zeitung, bald etwas aus einer andern periodischen Schrift,
das faßlich für sie ist, bald aus einem guten Roman von Goldsmith
oder Fielding eine ihnen begreifliche Stelle vorlese, und alle
diejenigen von dieser Gesellschaft ausschließe, die sich irgend einer
Lieblosigkeit schuldig gemacht; wenn ich des Sonntags selbst mit
wirtschaftlichen Dingen geistliche bald vermische, bald abwechsele,
bald bloß in die Besserung und in den Anbau des Herzens und der Liebe
übergehe."

Hier nahm der Spezial seinen Hut und ging fort, und bis dato ist mir
noch keine Erinnerung geschehen.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Der Landprediger, von Jakob
Michael Reinhold Lenz.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DER LANDPREDIGER ***

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