Rudin

By Ivan Sergeevich Turgenev

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Title: Rudin

Author: Iwan Turgenieff

Release date: February 5, 2025 [eBook #75298]

Language: German

Original publication: München: Georg Müller Verlag, 1926

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RUDIN ***





    Anmerkungen zur Transkription


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    Buches.




Iwan Turgenieff / Rudin

[Illustration]




    Iwan Turgenieff

    Rudin

    *

    München bei Georg Müller
    1927




    Copyright 1926 by Georg Müller Verlag
    A.-G., München / Printed in Germany




I


Es war ein stiller Sommermorgen. Die Sonne stand schon ziemlich hoch
am reinen Himmel, auf den Feldern aber glänzte noch der Tau, aus den
eben erwachten Tälern wehte duftige Frische und in dem noch feuchten
und lautlosen Walde stimmten die kleinen Vögel lustig ihr Morgenlied
an. Auf dem Gipfel eines Hügels, dessen Abhänge von oben bis unten mit
reifendem Roggen bedeckt waren, zeigte sich ein kleines Dörfchen. Nach
diesem Dörfchen ging, auf schmalem Nebenwege, eine junge Frau in weißem
Mousselinkleide und rundem Strohhute, einen Sonnenschirm in der Hand.
Ein kleiner, als Kosak gekleideter Dienstbursche folgte ihr in einiger
Entfernung.

Sie ging, ohne sich zu beeilen und als fände sie Vergnügen an ihrem
Spaziergange. Rings umher auf dem langen und schwankenden Roggen zogen
in silbergraulichem und rötlichem Farbenspiele langgestreckte Wogen mit
sanftem Rauschen dahin; in der Höhe schmetterten Lerchen. Die junge
Frau kam aus dem ihr gehörigen größeren Dorfe, das etwa eine Werst von
dem Dörfchen entfernt lag, wohin sie ihre Schritte gerichtet hatte.
Sie hieß Alexandra Pawlowna Lipin, war Witwe, kinderlos und ziemlich
begütert, und lebte zusammen mit ihrem unverheirateten Bruder, Sergei
Pawlowitsch Wolinzow, einem Stab-Rittmeister außer Diensten, welcher
ihr Gut verwaltete.

Alexandra Pawlowna hatte das Dorf erreicht; sie blieb bei dem
äußersten, sehr alten und verfallenen Bauernhäuschen stehen, rief ihren
Dienstburschen heran und befahl ihm, hineinzugehen und sich nach dem
Befinden der Eigentümerin zu erkundigen. Er kehrte bald zurück, gefolgt
von einem altersschwachen Bauer mit weißem Barte.

»Nun, wie steht’s?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Sie lebt noch …« erwiderte der Alte.

»Kann ich hineingehen?«

»Warum nicht.«

Alexandra Pawlowna trat in die Hütte. Es war eng darin, beklommen und
räucherig … Auf der Ofenbank regte sich jemand und stöhnte. Alexandra
Pawlowna sah sich um und gewahrte in dem Halbdunkel den gelben und
runzeligen Kopf einer alten Frau, den ein kariertes Tuch umhüllte. Bis
unter den Hals mit einem dicken Oberrock bedeckt, atmete sie schwer und
bewegte schwach ihre mageren Arme.

Alexandra Pawlowna trat zu der Alten heran und berührte ihre Stirne
mit der Hand; sie war brennend heiß.

»Wie ist dein Befinden, Matrona?« fragte sie, sich über die Ofenbank
beugend.

»Ach! Ach!« stöhnte die Alte, nachdem sie Alexandra Pawlowna gewahr
worden war. »Schlecht, schlecht, Mütterchen! Das Todesstündchen ist
gekommen, mein Täubchen.«

»Mit Gottes Hilfe wird es schon besser werden, Matrona. Hast du die
Arznei eingenommen, die ich dir geschickt habe?«

Die Alte stöhnte schwer und gab keine Antwort. Sie hatte die Frage
nicht recht gehört.

»Sie hat sie eingenommen,« erklärte der Alte, der an der Türe
stehengeblieben war.

Alexandra Pawlowna wandte sich zu ihm.

»Außer dir ist niemand bei ihr?« fragte sie.

»Die Kleine ist da – ihre Enkelin, läuft aber immer davon. Kann nicht
sitzen bleiben: ein wildes Ding. Einen Trunk Wasser der Großmutter
reichen – selbst das fällt ihr schwer. Bin selbst zu alt: was kann ich
helfen?«

»Sollte man sie nicht zu mir ins Krankenhaus tragen?«

»Nein! Wozu ins Krankenhaus! Ganz gleich, wo man stirbt. Sie hat ihre
Zeit abgelebt; es muß wohl Gottes Wille so sein. Sie kann von der
Ofenbank nicht herunter. Wie soll die ins Krankenhaus! Hebt man sie nur
auf, so ist sie tot.«

»Ach,« stöhnte die Kranke wieder: »Meine schöne, gnädige Frau, meine
Kleine, die Waise, verlaß sie nicht; unsere Herrschaft ist weit von
hier, du aber …«

Die Alte schwieg, sie konnte kaum sprechen.

»Sei ruhig,« sagte Alexandra Pawlowna, »es soll alles geschehen. Ich
habe dir da Tee und Zucker gebracht. Wenn du Lust haben wirst, trinke …
Ihr habt ja doch wohl einen Samowar?« setzte sie, mit einem Blick auf
den Alten, hinzu.

»Einen Samowar? Nein, einen Samowar haben wir nicht, man kann sich das
aber verschaffen.«

»Nun, dann verschaffe ihn dir, geht’s nicht, so schicke ich dir einen.
Und sage auch deiner Enkelin, sie solle nicht aus dem Hause laufen.
Sage ihr, es sei das gar nicht recht von ihr.«

Der Alte antwortete nichts, nahm indessen den eingewickelten Tee und
Zucker mit beiden Händen entgegen.

»Nun, lebe wohl, Matrona!« sagte Alexandra Pawlowna, »ich komme wieder
zu dir, verliere den Mut nicht und nimm die Arznei pünktlich ein …«

Die Alte hob den Kopf ein wenig und streckte sich gegen Alexandra
Pawlowna vor.

»Gib, Gnädige, das Händchen,« lallte sie.

Alexandra Pawlowna gab ihr nicht die Hand, sie beugte sich über sie und
küßte sie auf die Stirne.

»Gib also acht,« sagte sie im Fortgehen zum Alten, »die Arznei muß ihr
durchaus eingegeben werden, wie vorgeschrieben ist … Und auch Tee gebt
ihr zu trinken.«

Der Alte erwiderte abermals nichts und verbeugte sich nur.

Alexandra Pawlowna atmete freier, als sie wieder in die frische Luft
gekommen war. Sie schlug ihren Sonnenschirm auf und wollte bereits
nach Hause gehen, als plötzlich um die Ecke der Hütte herum auf einer
niedrigen Reitdroschke ein Mann in den Dreißigen angefahren kam; er
hatte einen alten Paletot aus grauem Leinzeuge an und trug eine Mütze
aus gleichem Stoffe. Als er Alexandra Pawlownas ansichtig wurde, hielt
er sogleich an und wandte sich zu ihr. Sein Gesicht war breit und
bleich, mit kleinen blaßgrauen Augen und hellblondem Schnurrbart; das
Ganze paßte zur Farbe seines Anzuges.

»Guten Tag,« brachte er mit einem trägen Lächeln hervor, »was machen
Sie denn hier, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe eine Kranke besucht … Von wo kommen Sie aber, Michael
Michailitsch?«

Der Mann, der Michael Michailitsch hieß, schaute ihr in die Augen und
lächelte wieder.

»Sie haben gut daran getan,« fuhr er fort, »eine Kranke zu besuchen;
wäre es aber nicht besser, Sie ließen sie ins Krankenhaus bringen?«

»Sie ist zu schwach: man darf sie nicht rühren.«

»Wie ist’s denn mit Ihrem Krankenhause, sind Sie nicht Willens, es
eingehen zu lassen?«

»Eingehen lassen? Weshalb?«

»Nun, so.«

»Welch sonderbarer Einfall! Wie ist Ihnen der in den Kopf gekommen?«

»Sie verkehren ja so viel mit Frau Laßunski, und stehen, wie
es scheint, unter ihrem Einflusse. Wie die nun sagt, sind ja
Krankenhäuser, Schulen – nichts als Unsinn, unnütze Erfindungen. Die
Wohltätigkeit soll persönlich sein, ebenso die Bildung; das alles ist
Sache der Seele … in dieser Weise, glaube ich, drückt sie sich aus. Wem
sie das nachsingt, möchte ich aber wissen?«

Alexandra Pawlowna lachte auf.

»Darja Michailowna ist eine kluge Frau, ich liebe und achte sie sehr;
sie kann ja aber auch irren und ich glaube nicht an jedes ihrer Worte.«

»Und Sie tun sehr wohl daran,« erwiderte Michael Michailitsch, immer
noch auf der Droschke sitzend, »denn sie selbst schenkt ihren eigenen
Worten keinen rechten Glauben. Es freut mich übrigens sehr, daß ich Sie
getroffen habe.«

»Wieso?«

»Eine schöne Frage! Als wenn es nicht immer angenehm wäre, mit Ihnen
zusammenzukommen! Heute sind Sie ebenso frisch und freundlich, wie
dieser Morgen.«

Alexandra Pawlowna lachte wieder.

»Worüber lachen Sie denn?«

»Wie, worüber? Wenn Sie sehen könnten, mit welcher apathischen, kalten
Miene Sie Ihr Kompliment vorbrachten! Es wundert mich, daß Sie es ohne
Gähnen zu Ende gebracht haben.«

»Mit kalter Miene … Sie wollen immer Feuer haben; Feuer taugt aber zu
nichts. Es lodert auf, qualmt und verlischt.«

»Und wärmt,« setzte Alexandra Pawlowna hinzu.

»Ja … und brennt auch.«

»Nun, was tut es, mag es brennen! Das ist auch kein Übel! Immer noch
besser als …«

»Nun, ich will doch sehen, ob Sie wohl noch ebenso sprechen, wenn Sie
sich, auch nur einmal, tüchtig verbrannt haben werden,« unterbrach
sie ärgerlich Michael Michailitsch und schlug mit den Zügeln auf sein
Pferd. »Leben Sie wohl!«

»Michael Michailitsch, warten Sie!« rief Alexandra Pawlowna, »wann
sehen wir Sie bei uns?«

»Morgen; grüßen Sie Ihren Bruder.«

Und die Droschke rollte davon.

Alexandra Pawlowna sah Michael Michailitsch nach. Ein wahrer Mehlsack!
dachte sie. Zusammengebückt, staubbedeckt, mit der in den Nacken
geschobenen Mütze, unter welcher unordentliche Büschel gelben Haares
hervorguckten, war er in der Tat einem großen Mehlsack ähnlich.

Langsam kehrte Alexandra Pawlowna auf dem Wege nach Hause zurück.
Gesenkten Blickes schritt sie dahin, als der Hufschlag eines Pferdes
in der Nähe sie zwang, stehen zu bleiben und den Blick zu erheben … Ihr
entgegen ritt ihr Bruder; neben ihm schritt ein junger Mann, mittleren
Wuchses, in aufgeknöpftem, dünnem Röckchen, schmalem Halstüchelchen und
leichtem grauen Hute, mit einem Spazierstöckchen in der Hand. Schon von
weitem lächelte er Alexandra Pawlowna entgegen, obgleich er wohl sah,
daß sie in Gedanken versunken einherging, ohne auf irgend etwas acht zu
geben. Sie bemerkte ihn erst, als er zu ihr herantrat und freudig, fast
zärtlich sagte:

»Guten Morgen, Alexandra Pawlowna, guten Morgen!«

»Ah! Constantin Diomiditsch! Guten Tag!« antwortete sie. »Sie kommen
von Darja Michailowna?«

»Gewiß, gewiß,« rief mit strahlendem Gesicht der junge Mann, »von Darja
Michailowna. Sie hat mich zu Ihnen geschickt; ich habe es vorgezogen
zu Fuß zu kommen … Der Morgen ist so wunderschön, es sind im ganzen
nur vier Werst bis hierher. Ich komme – finde Sie nicht zu Hause. Ihr
Bruder sagt mir, sie seien nach Semenowka gegangen, er selbst war im
Begriff aufs Feld zu reiten; so bin ich denn mit ihm gegangen, Ihnen
entgegen. Jawohl. Wie herrlich!«

Der junge Mann sprach russisch, rein und grammatikalisch richtig,
jedoch mit einem fremden Akzent, dessen Abstammung schwer zu bestimmen
war. In seinen Gesichtszügen lag etwas Asiatisches. Die lange, gebogene
Nase, die großen, hervortretenden, starren Augen, die dicken roten
Lippen, die eingedrückte Stirn, das pechschwarze Haar, – alles an ihm
bekundete die orientalische Abkunft.

Sein Name war Pandalewski und als seine Heimat gab er Odessa an,
obgleich er irgendwo in Weißrußland auf Kosten einer wohltätigen und
reichen Witwe erzogen worden war. Eine andere Witwe hatte ihm eine
Anstellung ausgewirkt. Überhaupt begünstigten ihn vorzugsweise Frauen
reiferen Alters: er verstand es, von ihnen zu erlangen, was er wollte.

Auch im gegenwärtigen Augenblick lebte er bei einer reichen
Gutsbesitzerin, Darja Michailowna Laßunski, als Pflegesohn oder
Kostgänger. Er war überaus freundlich, dienstbereit, gefühlvoll und im
geheimen sinnlich, hatte eine angenehme Stimme, spielte nicht schlecht
Klavier und pflegte jedermann, mit dem er sprach, starr anzublicken.
Seine Kleidung war sehr sauber und hielt bei ihm lange vor, sein
breites Kinn war sorgfältig rasiert und sein Haar stets glatt gekämmt.

Alexandra Pawlowna hörte seine Anrede bis zu Ende an und wandte sich
darauf zu ihrem Bruder.

»Heute begegne ich einem nach dem andern; soeben habe ich Leschnew
gesprochen.«

»Ah! wirklich!«

»Ja; und denke nur, er fuhr auf einer Reitdroschke, in einem linnenen
Sackkittel, ganz von Staub bedeckt … Ein wahrer Sonderling!«

»Mag sein! er ist aber ein prächtiger Mensch.«

»Was? Herr Leschnew?« fragte Pandalewski verwundert.

»Nun, Michael Michailitsch Leschnew,« erwiderte Wolinzow. »Indessen,
lebe wohl, Schwester: ich muß jetzt aufs Feld; es wird bei dir
Buchweizen gesät. Herr Pandalewski wird dich nach Hause begleiten.«

Und Wolinzow trabte davon.

»Mit dem größten Vergnügen!« rief Constantin Diomiditsch und bot
Alexandra Pawlowna seinen Arm.

Sie reichte ihm den ihrigen, und beide schlugen den Weg zum
herrschaftlichen Hause ein.

       *       *       *       *       *

Arm in Arm mit Alexandra Pawlowna zu wandeln, erfüllte, wie es schien,
Constantin Diomiditsch mit Glück und Stolz; er machte nur kurze
Schritte, lächelte mit Behagen, und seine morgenländischen Augen
wurden feucht, was übrigens bei ihm nicht selten vorkam: es kostete
ihm wenig, gerührt zu werden und eine Träne fallen zu lassen. Und wem
wäre es wohl nicht angenehm, ein hübsches, junges und schmuckes Weib am
Arme zu führen? Von Alexandra Pawlowna sagte das ganze Gouvernement,
sie sei reizend, und das Gouvernement täuschte sich nicht. Schon ihr
gerades, unmerklich aufgeworfenes Näschen konnte jeden Sterblichen um
den Verstand bringen, wieviel mehr die sammetweichen, braunen Augen,
das goldblondene Haar und die Grübchen auf den vollen Wangen, ihrer
vielen anderen Vorzüge gar nicht zu gedenken. Das Beste an ihr war
jedoch der Ausdruck ihres lieblichen Gesichts: durch Zutraulichkeit,
Treuherzigkeit und Sanftmut rührte und zog es an. Alexandra Pawlowna
hatte den Blick und das Lachen eines Kindes; die Damen ihres Standes
fanden sie etwas einfach … Ließ sich wohl mehr wünschen?

»Darja Michailowna hätte Sie zu mir geschickt, sagten Sie?« fragte sie
Pandalewski.

»Gewiß, sie haben mich hergeschickt,« erwiderte er, und er sprach
dabei den Buchstaben s, wie die Engländer das th aus, »sie wünschten
durchaus und lassen inständig ersuchen, Sie wollten sie heute zu Mittag
besuchen. Sie erwarteten einen neuen Gast« (Pandalewski, wenn er von
einer dritten Person redete, gebrauchte in der Regel die Mehrzahl) »und
wünschten durchaus, daß Sie dessen Bekanntschaft machen.«

»Wer ist das?«

»Ein gewisser Muffel, ein Baron, Kammerjunker aus Petersburg. Darja
Michailowna haben ihn unlängst beim Fürsten Garin kennengelernt
und sind des Lobes über ihn voll, als über einen liebenswürdigen
und gebildeten jungen Mann. Der Herr Baron beschäftigen sich auch
mit Literatur, oder richtiger gesagt … ach, was für ein reizender
Schmetterling! bitte, betrachten Sie … oder richtiger gesagt, mit
politischer Ökonomie. Er hat einen Aufsatz über eine sehr interessante
Frage geschrieben – und wünscht ihn dem Urteil von Darja Michailowna zu
unterwerfen.«

»Einen Aufsatz über politische Ökonomie?«

»In bezug auf den Stil, Alexandra Pawlowna, in bezug auf den Stil.
Es ist Ihnen wohl, denke ich, bekannt, daß Darja Michailowna auch
hierauf sich versteht. Schukowski hat sie zu Rate gezogen und mein
Wohltäter, der in Odessa lebende, hochehrenwerte, großwürdige Roxolan
Mediarowitsch Xandrika … Der Name dieses Mannes ist Ihnen gewiß
bekannt?«

»Ganz und gar nicht, ich habe ihn noch nie gehört.«

»Haben von diesem Manne nichts gehört? Merkwürdig! Ich wollte sagen,
daß auch Roxolan Mediarowitsch jederzeit eine hohe Meinung von den
Kenntnissen Darja Michailownas in der russischen Sprache gehabt hat.«

»Ist jener Baron nicht ein Pedant?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Nicht im geringsten; Darja Michailowna sagen, im Gegenteil, man
erkenne in ihm sogleich den Mann von Welt. Von Beethoven hat er mit
solcher Beredsamkeit gesprochen, daß sogar den alten Fürsten Entzücken
überkam … Das, muß ich gestehen, hätte ich gern mit angehört: das
schlägt ja in mein Fach. Darf ich Ihnen dieses herrliche Feldblümchen
anbieten?«

Alexandra Pawlowna nahm das Blümchen und ließ es, einige Schritte
weiter, auf den Weg fallen … Bis zu ihrem Hause hatte sie noch etwa
zweihundert Schritte, nicht mehr. Vor kurzem gebaut und weiß getüncht,
schaute es mit seinen breiten, hellen Fenstern einladend aus dem
dichten Laube alter Linden und Ahornbäume hervor.

»Was hätte ich also Darja Michailowna zu hinterbringen,« begann
Pandalewski von neuem, ein wenig beleidigt durch das Schicksal, welches
sein Blümchen betroffen hatte, »werden Sie sich zum Mittage hinbemühen?
Darja Michailowna lassen Ihren Bruder auch einladen.«

»Ja, wir werden kommen, ganz bestimmt. Was macht Natascha?«

»Natalia Alexejewna ist Gott sei Dank gesund … Doch wir sind an dem
Wege, welcher zum Gute Darja Michailownas führt, schon vorbei. Erlauben
Sie, daß ich Abschied nehme.«

Alexandra Pawlowna blieb stehen. »Sie wollen also nicht bei uns
vorsprechen?« fragte sie zögernd.

»Würde es herzlich gern tun, wenn ich nicht befürchtete, zu spät
zu kommen. Darja Michailowna haben gewünscht, eine neue Etüde von
Thalberg zu hören: da muß denn vorbereitet und einstudiert werden. Dann
aber, muß ich gestehen, bezweifle ich, daß meine Unterhaltung Ihnen
irgendwelches Vergnügen bereiten könnte.«

»Doch nein … warum aber …«

Pandalewski stieß einen Seufzer aus und senkte beredt den Blick.

»Auf Wiedersehen, Alexandra Pawlowna!« sagte er nach einigem Schweigen,
verbeugte sich und trat einen Schritt zurück.

Alexandra Pawlowna wandte sich um und ging nach Hause.

Auch Constantin Diomiditsch schlug den Rückweg ein. Alles Süßliche
war sogleich von seinem Gesicht verschwunden: ein selbstvertrauender,
ja harter Ausdruck hatte es ersetzt. Sein Gang sogar war ein anderer
geworden; er schritt jetzt rascher vorwärts und trat fester auf. Zwei
Werst mochte er gegangen sein, nachlässig die Luft mit seinem Stöckchen
zerteilend, als plötzlich das schmunzelnde Lächeln wiederkehrte: er
war hart am Wege ein junges, ziemlich hübsches Bauernmädchen gewahr
geworden, das Kälber aus einem Haferfelde hinaustrieb. Constantin
Diomiditsch näherte sich, vorsichtig wie ein Kater, dem Mädchen und
redete es an. Anfangs antwortete es nichts, wechselte die Farbe und
lachte vor sich hin, dann bedeckte es den Mund mit dem Ärmel, wandte
sich ab und sagte:

»Geh doch, Herr, wahrhaftig …«

Constantin Diomiditsch drohte ihr mit dem Finger und hieß sie ihm
Kornblumen holen.

»Wozu brauchst du Kornblumen? Willst du etwa Kränze flechten?«
erwiderte das Mädchen, »nun, so geh doch, aber wirklich …«

»Höre, mein schönes Liebchen,« begann wieder Constantin Diomiditsch …

»Nun geh aber endlich,« unterbrach ihn das Mädchen, »sieh, da kommen
die jungen Herren.«

Constantin Diomiditsch blickte sich um. Wirklich, auf dem Wege daher
kamen Wanja und Petja, die Söhne der Darja Michailowna; hinter ihnen
her schritt ihr Lehrer, Bassistow, ein junger Mann von zweiundzwanzig
Jahren, der eben erst seine Studien beendet hatte. Bassistow war ein
langer Bursche, mit gewöhnlichem Gesicht, großer Nase, starken Lippen
und kleinen Augen, unbeholfen, nicht hübsch, aber gut, ehrlich und
gerade. Er trug sich nachlässig, ließ sich das Haar wachsen, – nicht
um damit zu stolzieren, sondern aus Faulheit; – liebte zu essen und
zu schlafen, aber auch ein gutes Buch und anregende Unterhaltung;
Pandalewski haßte er von ganzer Seele.

Die Kinder der Darja Michailowna hatten Bassistow über alles lieb und
nicht die geringste Furcht vor ihm; mit den übrigen Hausgenossen stand
er auf vertrautem Fuße, was der Dame des Hauses gerade nicht gefiel,
obwohl sie oft behauptete, von Vorurteilen frei zu sein.

»Guten Tag, meine Lieben,« sagte Constantin Diomiditsch, »wie früh
ihr heute spazieren geht! Ich bin auch schon zeitig vom Hause
fortgegangen,« setzte er, zu Bassistow gewendet, hinzu; »meine
Leidenschaft ist’s, in der Natur zu schwelgen.«

»Wir haben es gesehen, wie Sie in der Natur schwelgen,« brummte
Bassistow.

»Sie sind ein Materialist: Sie sehen gleich in allem etwas … Ich kenne
Sie!«

Wenn Pandalewski mit Bassistow oder diesem ähnlichen Leuten redete,
so geriet er leicht in Eifer und sprach den Buchstaben s rein und oft
etwas pfeifend aus.

»Sie haben sich also wohl bei jenem Mädchen nach dem Wege erkundigt?«
sagte Bassistow, indem er den Blick bald rechts- bald linkshin
schweifen ließ.

Er empfand es, daß Pandalewski ihm starr ins Gesicht blickte, und das
war ihm äußerst peinlich.

»Ich wiederhole es, Sie sind ein Materialist und weiter nichts. Sie
wollen in allem durchaus nur die prosaische Seite sehen …

»Kinder,« kommandierte plötzlich Bassistow, »ihr seht auf der Wiese den
Weidenbusch: wir wollen doch sehen, wer am schnellsten dorthin läuft …
eins! zwei! drei!«

Und über Hals und Kopf rannten die Kinder zu der Weide.

Bassistow stürzte ihnen nach …

Der Lümmel! dachte Pandalewski, verderben wird er die Jungen … Ein
wahrer Bauernlümmel!

Und mit selbstgefälligem Blicke sein eigenes sauberes und nettes
Figürchen musternd, betupfte Constantin Diomiditsch zweimal mit
ausgespreizten Fingern die Ärmel seines Rockes, schob den Kragen
zurecht und ging seines Weges. Auf seinem Zimmer angelangt, zog er
einen abgetragenen Schlafrock an und setzte sich mit besorgter Miene
ans Klavier.




II


Darja Michailowna Laßunskis Haus galt fast für das erste im ganzen
Gouvernement. Massiv, steinern, nach Entwürfen Rastrellis im Geschmacke
des vergangenen Jahrhunderts erbaut, erhob es sich großartig auf dem
Gipfel eines Hügels, an dessen Fuße einer der bedeutendsten Ströme
des mittleren Rußlands vorüberfloß. Darja Michailowna selbst war eine
angenehme und reiche Edelfrau, eines Geheimrats Witwe. Wenn auch
Pandalewski von ihr zu sagen pflegte, sie kenne ganz Europa und Europa
kenne sie, – so kannte sie doch Europa wenig und spielte selbst in
Petersburg keine bedeutende Rolle; in Moskau dagegen kannten sie alle
und statteten ihr Besuche ab. Sie gehörte der großen Welt an, und wurde
für eine etwas sonderbare, nicht sehr gute, aber außerordentlich kluge
Frau gehalten. In ihrer Jugend war sie sehr schön gewesen. Poeten
hatten ihr Gedichte gewidmet, junge Leute sich in sie verliebt, hohe
Herren ihr den Hof gemacht. Doch seit jener Zeit waren fünfundzwanzig
bis dreißig Jahre verstrichen, und von den früheren Reizen war keine
Spur zurückgeblieben. »Ist es möglich,« fragte sich jeder, der sie
zum ersten Male sah, »ist es möglich, daß diese hagere, gelbliche,
spitznasige und noch nicht betagte Frau einst eine Schönheit gewesen
wäre? Ist sie es wirklich, sie selbst, welche ehedem von den Dichtern
besungen wurde?« Und jedermann staunte innerlich über den Wechsel alles
Irdischen. Es ist wahr, Pandalewski fand, daß Darja Michailownas Augen
in wunderbarer Weise ihren alten Zauber behalten hatten; eben dieser
Pandalewski aber behauptete ja auch, daß ganz Europa sie kenne.

Darja Michailowna kam jeden Sommer auf ihr Landgut mit ihren Kindern
(sie hatte deren drei: eine Tochter Natalia, siebzehn Jahre, und zwei
Söhne, zehn und neun Jahre alt), sie hielt offenes Haus, das heißt,
sie empfing bei sich Männer; besonders unverheiratete Edeldamen
aus der Provinz konnte sie nicht ausstehen. Dafür ließen ihr diese
Damen aber auch kein gutes Haar! Darja Michailowna war, nach deren
Aussagen, stolz, sittenverderbt, eine furchtbare Tyrannin, und was
die Hauptsache wäre, – sie erlaube sich solche Freiheiten in der
Unterhaltung, daß es ein Greuel sei! Darja Michailowna liebte es
in der Tat nicht, sich auf dem Lande Zwang aufzulegen, und in der
freien Einfachheit ihres Umganges blickte etwas von der Verachtung
einer großstädtischen Weltdame für die sie umgebenden, meistens
unbedeutenden Persönlichkeiten hindurch … Selbst mit ihren städtischen
Bekannten ging sie ziemlich ungeniert, ja spöttisch um; doch fehlte
dabei die Schattierung von Verachtung.

Hast du, lieber Leser, jemals bemerkt, daß Leute, die im Kreise ihrer
Untergebenen ungewöhnlich zerstreut zu sein pflegen, es niemals im
Umgange mit höher gestellten Personen sind? Woher mag das kommen? Doch
– wozu dergleichen Fragen!

Nachdem Constantin Diomiditsch endlich die Thalbergsche Etüde
einstudiert hatte, begab er sich aus seinem netten und freundlichen
Stübchen hinaus ins Empfangszimmer und fand dort die ganze Gesellschaft
des Hauses bereits versammelt. Der Salon war schon geöffnet. Auf einer
breiten Couchette lag mit untergeschlagenen Beinen und eine neue
französische Broschüre in der Hand, die Frau vom Hause; am Fenster vor
dem Stickrahmen saßen, von einer Seite die Tochter Darja Michailownas,
von der anderen Mlle. Boncourt, die Gouvernante, eine alte,
vertrocknete Jungfer von sechzig Jahren mit einer schwarzen Haartour
unter der farbigen Haube und Baumwolle in den Ohren; in der Ecke bei
der Tür hatte Bassistow seinen Sitz genommen und las die Zeitung,
während neben ihm Petja und Wanja auf dem Damenbrette spielten; an den
Ofen gelehnt, die Hände auf dem Rücken, stand ein Herr von mittlerem
Wuchse, mit unordentlichem, grauem Haar, von dunkler Gesichtsfarbe und
kleinen, unruhigen, schwarzen Augen – Afrikan Semenitsch Pigassow mit
Namen.

Ein sonderbarer Mensch war dieser Herr Pigassow. Auf alles und alle
erbittert – vorzüglich auf das weibliche Geschlecht, schalt er vom
Morgen bis zum Abend, zuweilen sehr treffend, zuweilen ziemlich flach,
immer jedoch mit Selbstbefriedigung. Er war reizbar wie ein Kind; sein
Lachen, der Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen schien von Galle
getränkt. Darja Michailowna sah ihn gern bei sich: er ergötzte sie
mit seinen Ausfällen. Und in der Tat waren sie sehr erheiternd. Es
war seine Lust, alles zu übertreiben. Erzählte man zum Beispiel in
seiner Gegenwart von einem Unfalle – war’s nun, daß der Blitz ein Dorf
in Brand gesteckt, oder daß Wasser einen Mühldamm durchbrochen, oder
daß ein Bauer sich mit der Axt die Hand abgehauen hatte – jedesmal
fragte er mit gesteigerter Erbitterung: »Wie heißt _sie_?« nämlich
wie das Weib heiße, das an dem Unglück schuld sei, – denn seiner
Behauptung nach brauchte man nur tiefer auf den Grund zu gehen, um
zu finden, daß jegliches Unglück durch ein Weib herbeigeführt werde.
Einst warf er sich auf die Knie vor einer ihm fast unbekannten Frau,
die in ihn drang, etwas zu kosten, und beschwor sie unter Tränen,
aber mit sichtbarem Grimm in den verzerrten Zügen, sie wolle seiner
schonen, er hätte nichts gegen sie verschuldet und werde sie künftig
nie mehr besuchen. Ein anderes Mal ging ein Pferd mit einer der
Waschfrauen Darja Michailownas einen Berg hinunter durch, warf in
einem Graben um und hätte die Frau beinahe getötet. Pigassow nannte
später das Pferd nie anders als das wackere, wackere Rößchen, und der
Berg selbst, wie auch der Graben, däuchten ihm überaus malerische
Plätze. Pigassow hatte kein Glück im Leben gehabt – daher in der
Hauptsache sein wunderliches Gebaren. Er war armer Eltern Kind; die
Beschäftigung seines Vaters war eine ziemlich untergeordnete gewesen,
er hatte kaum lesen und schreiben gelernt und nicht an die Erziehung
seines Sohnes gedacht; er hatte ihm Nahrung und Kleidung gegeben –
das war alles! Von der Mutter wurde er verhätschelt, sie starb aber
früh. Pigassow verdankte seine Bildung sich selbst; zuerst besuchte
er die Kreisschule, dann das Gymnasium, erlernte die französische,
deutsche, ja sogar die lateinische Sprache, und nachdem er mit einem
vorzüglichen Zeugnisse das Gymnasium absolviert hatte, begab er sich
nach Dorpat, wo er unter fortwährendem Kampfe mit der Not, dennoch nach
drei Jahren richtig sein Triennium beendigte. Pigassows Fähigkeiten
waren keineswegs außergewöhnlicher Art; er zeichnete sich durch Geduld
und Beharrlichkeit aus, besonders stark war jedoch in ihm der Ehrgeiz,
das Verlangen nach guter Gesellschaft und die Sucht, anderen nicht
nachzustehen, dem Schicksal zum Trotz. Er lernte fleißig und hatte die
Dorpatsche Universität aus Ehrgeiz bezogen. Die Armut stachelte ihn
auf und entwickelte in ihm Beobachtungsgeist und Verschlagenheit. Er
hatte eine eigentümliche Art sich auszudrücken; von Jugend auf hatte er
sich eine besondere Art erbitterter und gereizter Beredsamkeit zu eigen
gemacht. Seine Gedanken überstiegen nicht das gewöhnliche Niveau; doch
war seine Rede der Art, daß er nicht bloß für einen klugen, sondern
sogar für einen geistreichen Menschen gelten konnte. Nachdem er den
Kandidatengrad erhalten hatte, beschloß er, sich dem Gelehrtenstande
zu widmen, denn es war ihm klar, daß er in jeder anderen Laufbahn
hinter seinen Gefährten zurückbleiben würde; er war bemüht, sich
dieselben aus den höheren Ständen zu wählen und verstand es, sich
ihnen gefällig zu zeigen, ja, er schmeichelte ihnen sogar, wenn auch
immer mit Schelten. Doch da gebrach es ihm, um es einfach zu sagen,
am nötigen Stoff. Als Autodidakt ohne Liebe zur Wissenschaft, wußte
Pigassow im Grunde zu wenig. Er fiel bei der Disputation schmählich
durch, während ein anderer Student, sein Stubengefährte, über den er
sich beständig lustig gemacht hatte, ein beschränkter Kopf, der jedoch
eine regelmäßige und gründliche Bildung genossen hatte, vollständigen
Triumph über ihn davontrug. Dieser Unfall erbitterte Pigassow aufs
äußerste: er warf alle seine Bücher und Hefte ins Feuer und trat in
den Staatsdienst. Anfangs ging es nicht schlecht damit: als Beamter
war er zu allem gut, zwar nicht sehr expeditiv, dagegen aber über die
Maßen selbstvertrauend und großsprecherisch; er wollte nur zu rasch
emporkommen – verwickelte sich, strauchelte und war gezwungen, seinen
Abschied zu nehmen. Drei Jahre lang blieb er auf seinem wohlerworbenen
Gütchen sitzen und heiratete unvermutet eine reiche, wenig gebildete
Gutsbesitzerin, die er an dem Köder seiner freien und spöttischen
Manieren gefangen hatte; sein Charakter aber wurde immer verbissener
und das Familienleben drückte ihn … Nachdem seine Frau einige Jahre
mit ihm gelebt hatte, fuhr sie heimlich nach Moskau und verkaufte
einem gewandten Abenteurer ihr Gut, in welchem Pigassow eben erst ein
Wirtschaftsgebäude hatte erbauen lassen. Durch diesen letzten Schlag
bis ins Innerste erschüttert, fing er einen Prozeß gegen seine Frau
an, den er jedoch verlor … So lebte er nun seine Tage allein, besuchte
seine Nachbarn, die er selbst in deren Gegenwart aufzog und die ihn
mit einem gewissen gezwungenen und verbissenen Lachen empfingen, doch
flößte er ihnen keine besondere Furcht ein, – ein Buch nahm er nie in
die Hand. Er besaß nahezu hundert Seelen; seine Bauern litten nicht Not.

       *       *       *       *       *

»Ah! Constantin!« sagte Darja Michailowna, als Pandalewski ins
Gastzimmer trat. »Kommt Alexandrine?«

»Alexandra Pawlowna lassen sich empfehlen und werden sich ein
besonderes Vergnügen daraus machen,« erwiderte Constantin Diomiditsch,
sich nach allen Seiten hin anmutig verbeugend, und mit dem dicken, aber
weißen Händchen, dessen Fingernägel dreieckig zugestutzt waren, sich
das vorzüglich geordnete Haar leichthin streichelnd.

»Und Wolinzow kommt auch?«

»Wird auch kommen.«

»Ihrer Ansicht nach, Afrikan Semenitsch,« fuhr Darja Michailowna zu
Pigassow gewendet fort, »sind also alle jungen Mädchen geziert?«

Pigassows Lippen verzerrten sich nach einer Seite hin, und er zuckte
konvulsivisch mit dem Ellenbogen.

»Ich sage,« begann er in ungeduldigem Ton, – er sprach im heftigsten
Anfall von Erbitterung langsam und deutlich, »ich sage, daß die jungen
Mädchen im ganzen genommen – von den anwesenden, versteht sich’s, rede
ich nicht …«

»Das hindert Sie aber nicht, auch diese im Sinne zu haben,« unterbrach
ihn Darja Michailowna.

»Ich übergehe sie mit Schweigen,« wiederholte Pigassow. »Alle jungen
Mädchen im allgemeinen sind in höchstem Grade geziert im Ausdrucke
ihrer Gefühle. Erschrickt zum Beispiel ein junges Mädchen, erfreut oder
betäubt sie etwas, das erste was sie tut, ist, sie gibt ihrem Körper
eine gewisse graziöse Biegung (dabei gab Pigassow seiner Gestalt eine
angemessene Wendung und streckte die Arme voneinander) und dann erst
kreischt sie: ach! oder bricht in Lachen oder Schluchzen aus. Einmal
übrigens,« und dabei lächelte Pigassow wohlgefällig, »habe ich es bei
einem außerordentlich gezierten Fräulein dahin gebracht, einen wahren,
ungeheuchelten Gefühlsausdruck zu erzwingen.«

»Auf welche Weise?«

Pigassows Augen funkelten.

»Ich gab ihr von hinten mit einem Espenpfahle einen Stoß in die Seite.
Wie sie aufschrie! Bravo! bravo! rief ich. Das war die Stimme der
Natur, das war ein natürlicher Schrei. So müssen Sie es künftig halten.«

Alle im Zimmer lachten auf.

»Was für einen Unsinn schwatzen Sie da, Afrikan Semenitsch!« rief Darja
Michailowna. »Sie meinen, ich werde Ihnen glauben, Sie hätten ein
Mädchen mit einem Pfahle in die Seite gestoßen!«

»So wahr Gott lebt, mit einem Pfahle, mit einem ungeheuren, wie jene,
die bei der Verteidigung von Festungen gebraucht werden.«

»~Mais c’est une horreur ce que vous dites là, monsieur~,« rief mit
Entsetzen Mlle. Boncourt, und warf einen strengen Blick auf die
lachenden Kinder.

»Glauben Sie ihm doch nicht,« sagte Darja Michailowna, »kennen Sie ihn
denn nicht?«

Die entrüstete Französin konnte sich aber lange nicht beruhigen und
fuhr fort, vor sich hinzubrummen.

»Sie mögen mir glauben oder nicht,« fuhr mit gelassener Stimme Pigassow
fort, »ich beteuere aber, daß ich die reine Wahrheit gesagt habe. Wer
könnte es denn besser wissen als ich? Dann werden Sie es wohl auch
nicht glauben, daß unsere Nachbarin, die Tschepusow, mir selbst erzählt
hat, merken Sie wohl, sie selbst hat mir’s erzählt, daß sie ihren
eigenen Neffen umgebracht hat?«

»Wieder eine schöne Erfindung!«

»Bitte, bitte! hören Sie und urteilen Sie selbst. Vergessen Sie nicht,
ich will sie nicht verleumden, ich habe sie sogar lieb, das heißt, so
lieb man ein Weib haben kann; es ist im ganzen Hause bei ihr kein Buch
aufzutreiben, den Kalender ausgenommen, und lesen kann sie nicht anders
als laut – diese Anstrengung treibt ihr den Schweiß auf die Stirn und
sie klagt dann, daß ihr die Augen aus dem Kopfe springen wollten … Mit
einem Wort, eine vortreffliche Frau, und ihre Dienstmädchen sind gut
genährt. Warum sollte ich sie also verleumden?«

»Nun!« warf Darja Michailowna hin, »unser Afrikan Semenitsch hat
sein Steckenpferd bestiegen – vor dem Abend steigt er nicht wieder
herunter.«

»Mein Steckenpferd … Die Weiber haben deren drei und kommen niemals von
denselben herunter – außer etwa, wenn sie schlafen.«

»Welches sind denn diese drei?«

»Sticheln, Anspielen, Anklagen.«

»Aber, Afrikan Semenitsch,« sagte Darja Michailowna, »Sie müssen gewiß
nicht ohne Grund so sehr gegen die Frauen erbittert sein. Es muß Sie
durchaus irgendeine …«

»Beleidigt haben, wollen Sie sagen?« unterbrach sie Pigassow.

Darja Michailowna wurde etwas verwirrt; es fiel ihr die unglückliche
Ehe Pigassows ein … und sie nickte bloß mit dem Kopfe.

»Es ist wahr, mich hat ein Weib beleidigt,« erwiderte Pigassow,
»obgleich es eine gute, sehr gute Frau war …«

»Wer war denn das?«

»Meine Mutter,« brachte Pigassow halblaut hervor.

»Ihre Mutter? Wie konnte die Sie wohl kränken?«

»Dadurch, daß sie mich zur Welt gebracht hat.«

Darja Michailowna zog die Brauen zusammen.

»Mich dünkt,« sagte sie, »unsere Unterhaltung nimmt eine trübe Wendung
… Constantin, spielen Sie uns doch die neue Etüde von Thalberg vor …
Vielleicht werden die Töne der Musik Afrikan Semenitsch bezähmen. Hat
es doch Orpheus über wilde Tiere vermocht.«

Constantin Diomiditsch setzte sich ans Klavier und trug die Etüde zu
voller Befriedigung vor. Anfangs hörte Natalia mit Aufmerksamkeit zu,
fuhr aber dann in ihrer Arbeit wieder fort.

»~Merci c’est charmant~,« äußerte Darja Michailowna, »ich liebe
den Thalberg. ~Il est si distingué.~ Worüber sinnen Sie, Afrikan
Semenitsch?«

»Ich dachte,« begann langsam Pigassow, »es gibt drei Sorten von
Egoisten: solche, welche selbst leben und andere leben lassen;
Egoisten, welche selbst leben und andere nicht leben lassen, und
endlich solche, welche weder selbst leben, noch andere leben lassen …
Die Weiber gehören größtenteils zu der dritten Gattung.«

»Wie liebenswürdig! Was mich aber wundert, Afrikan Semenitsch, das ist
die Zuversicht in Ihren Reden: Sie urteilen, als könnten Sie niemals
irren.«

»Bewahre! Auch ich kann mich irren! Auch der Mann kann sich irren!
Aber, wissen Sie, worin der Unterschied besteht zwischen unserem Irren
und dem eines Weibes? Sie wissen es nicht? Ich will es Ihnen sagen: ein
Mann zum Beispiel kann sagen, zwei mal zwei mache nicht vier, sondern
fünf oder dreiundeinhalb; ein Weib aber wird sagen: zweimal zwei macht
– ein Stearinlicht.«

»Das habe ich, dünkt mich, schon einmal gehört … Erlauben Sie mir aber
die Frage, in welcher Beziehung steht Ihre Idee von den drei Gattungen
Egoisten zu der Musik, die wir soeben gehört haben?«

»Durchaus in keiner; ich habe gar nicht auf die Musik gehört.«

»Nun, mein Bester, ich sehe, Sie sind unverbesserlich, ich ziehe
mich zurück,« erwiderte Darja Michailowna, einen Vers aus Gribojedow
variierend. »Was lieben Sie denn, wenn selbst Musik Sie nicht
anspricht? Literatur etwa?«

»Die Literatur liebe ich, aber nicht die der Gegenwart.«

»Weshalb?«

»Das will ich Ihnen sagen. Vor kurzem bei einer Überfahrt über die Oka
traf ich mit einem Herrn zusammen. Die Fähre legte bei einer steilen
Stelle an: die Equipage mußte durch Menschenhände hinaufgeschleppt
werden. Jener Herr hatte eine außerordentlich schwere Kalesche. Während
die Fährleute sich bei dem Hinaufziehen des Fuhrwerks abarbeiteten,
stand der Herr auf der Fähre und stöhnte, daß man ordentlich Mitleid
mit ihm haben konnte … Da haben wir, fiel mir ein, eine neue Anwendung
des Systems der geteilten Arbeit! So ist es auch mit der Literatur der
Gegenwart: Andere ziehen und verrichten die Arbeit, und sie stöhnt.«

Darja Michailowna lächelte.

»Und das nennt sich ein Spiegelbild des Lebens der Gegenwart,« fuhr der
unerbittliche Pigassow fort, »tiefe Sympathie für die sozialen Fragen
und wer weiß wie noch … Ach, über diese hochtönenden Worte!«

»Die Frauen aber, die Sie so angreifen, sie wenigstens gebrauchen keine
hochtönenden Worte.«

Pigassow zuckte die Achseln.

»Sie gebrauchen sie nicht, weil sie sich darauf – nicht verstehen.«

Darja Michailowna errötete leicht.

»Sie werden etwas dreist, Afrikan Semenitsch!« bemerkte sie mit
erzwungenem Lächeln.

Alle im Zimmer wurden still.

»Wo liegt Solotonoscha?« fragte auf einmal einer der Knaben Bassistow.

»Im Gouvernement Poltawa, mein Lieber,« nahm Pigassow das Wort, »im
Herzen des Schopflandes[1].« (Er war froh, der Unterhaltung eine andere
Wendung geben zu können.) »Wir sprachen von Literatur,« fuhr er fort,
»wenn ich Geld übrig hätte, so würde ich ohne weiteres kleinrussischer
Dichter werden.«

»Was soll denn das noch? Ein schöner Dichter!« erwiderte Darja
Michailowna, »kennen Sie denn die kleinrussische Sprache?«

»Nicht im mindesten; das ist aber auch nicht nötig.«

»Wieso nicht nötig?«

»Ganz einfach! Man nehme nur einen Bogen Papier und schreibe oben
darauf: ›Duma‹[2]; dann stelle man eine Anzahl Worte ohne all und jeden
Sinn zusammen, füge nur einige kleinrussische Interjektionen wie:
graje, graje, woropaje, hopp, hopp! oder etwas in dieser Art hinzu,
und das Ding ist fertig. Dann schicke man es in die Druckerei und gebe
es heraus. Der Kleinrusse wird es lesen, den Kopf auf die Hand fallen
lassen und gewiß dabei Tränen vergießen. Das ist nun einmal so eine
gefühlvolle Seele!«

»Ich bitte Sie!« rief Bassistow. »Was erzählen Sie da? Da hört aber
alles auf. Ich habe in Kleinrußland gelebt, liebe das Land und kenne
die Sprache … ›graje, graje, woropaje‹ ist ein vollständiger Unsinn.«

»Möglich, der Schopfkurt würde aber doch Tränen dabei vergießen. Sie
sagen die Sprache … Gibt es aber denn eine kleinrussische Sprache? Ich
bat einmal einen Kleinrussen, mir irgendeine Phrase zu übersetzen,
und wie glauben Sie, daß er sie übersetzt hat? Er wiederholte fast
genau die von mir vorgesprochenen Worte, nur daß er durchgängig i in
ü verwandelte. Ist das etwa nach Ihren Begriffen eine Sprache? Eine
selbständige Sprache? Bevor ich Ihnen das zugebe, lasse ich meinen
besten Freund in einem Mörser zerstoßen …«

Bassistow wollte ihm etwas entgegnen.

»Lassen Sie ihn,« sagte Darja Michailowna, »Sie wissen ja, daß man von
ihm außer Paradoxen nichts zu hören bekommt.«

Pigassow lächelte boshaft. Ein Diener erschien und meldete die Ankunft
Alexandra Pawlownas und ihres Bruders.

Darja Michailowna erhob sich, um ihre Gäste zu empfangen.

»Guten Tag, Alexandrine!« sagte sie, ihr entgegengehend, »wie schön von
Ihnen, daß Sie gekommen sind … Guten Tag, Sergei Pawlowitsch!«

Wolinzow drückte Darja Michailowna die Hand und trat auf Natalia zu.

»Nun, und der Baron, Ihr neuer Bekannter, wird er heute kommen?« fragte
Pigassow.

»Ja, er wird kommen.«

»Es soll ja ein großer Philosoph sein: wirft mit Hegel um sich.«

Darja Michailowna antwortete nichts, ließ Alexandra Pawlowna auf der
Couchette Platz nehmen und setzte sich selbst neben sie.

»Die Philosophie,« fuhr Pigassow fort, »der höhere Gesichtspunkt! Sind
sie mir zum Ekel geworden, diese höheren Gesichtspunkte! Und was kann
man aus der Höhe sehen? Ich denke, kauft jemand ein Pferd, so wird er
nicht erst einen Turm besteigen, um es zu beschauen!«

»Dieser Baron wollte Ihnen einen Aufsatz bringen?« fragte Alexandra
Pawlowna.

»Ja, einen Aufsatz«, erwiderte Darja Michailowna mit übertriebener
Gleichgültigkeit, »über die Beziehungen des Handels zu der Industrie
in Rußland … Erschrecken Sie aber nicht: wir werden das jetzt nicht
lesen … Ich habe Sie nicht deshalb eingeladen. ~Le baron est aussi
aimable que savant.~ Und spricht sehr gut russisch! ~C’est un vrai
torrent … il vous entraine.~«

»Er spricht so gut russisch,« brummte Pigassow, »daß er verdient hat,
französisch gelobt zu werden.«

»Brummen Sie nur, Afrikan Semenitsch, brummen Sie nur immer zu … das
paßt sehr gut zu Ihrem verwühlten Haar … Warum kommt er aber nicht?
Wissen Sie aber, ~messieurs et mesdames~,« setzte Darja Michailowna,
sich im Kreise umsehend, hinzu: »wir wollen in den Garten gehen. Bis
zum Essen ist es noch eine Stunde und das Wetter ist so herrlich …«

Die ganze Gesellschaft erhob sich und begab sich in den Garten.

Der Garten Darja Michailownas reichte bis an den Fluß. Es waren in
demselben viele dunkle und duftige Alleen alter Lindenbäume, die in
smaragdgrüne Lichtungen mit vielen Lauben aus Akazien und Fliederbäumen
ausliefen.

Wolinzow in Begleitung von Natalia und Mlle. Boncourt hatten sich in
das Dickicht des Gartens vertieft. Wolinzow ging neben Natalia her und
schwieg. Mlle. Boncourt folgte in einiger Entfernung.

»Womit haben Sie sich heute beschäftigt?« fragte endlich Wolinzow
und streichelte dabei die Spitze seines schönen, dunkelblonden
Schnurrbartes.

Er war seiner Schwester sehr ähnlich, doch zeigten seine Gesichtszüge
weniger Beweglichkeit und Leben, und seine Augen, hübsch und sanft,
hatten einen etwas schwermütigen Ausdruck.

»Mit wenigem,« erwiderte Natalia, »ich habe das Schelten Pigassows mit
angehört, habe am Stickrahmen genäht und habe gelesen.«

»Und was haben Sie gelesen?«

»Ich habe … die Geschichte der Kreuzzüge gelesen,« brachte Natalia mit
einigem Stocken hervor.

Wolinzow blickte sie an.

»Oh,« sagte er endlich, »das muß interessant sein.«

Er riß einen Zweig ab und fächelte damit in der Luft. Sie gingen noch
etwa zwanzig Schritte weiter.

»Was für ein Baron ist das, dessen Bekanntschaft Ihre Mama gemacht
hat?« fragte dann wieder Wolinzow.

»Ein Kammerjunker, seit kurzem angekommen; Mama lobt ihn sehr.«

»Ihre Mama gibt sich leicht dem ersten Eindrucke hin.«

»Ein Beweis, daß ihr Herz noch jugendlich fühlt,« bemerkte Natalia.

»Gewiß. Ich werde Ihnen bald Ihr Pferd zuschicken. Es ist schon fast
ganz zugeritten. Es soll mir gleich im Galopp vom Platz, dazu muß ich
es bringen.«

»~Merci~ … Es macht mich aber wirklich verlegen. Sie reiten es selbst
zu … das soll ja sehr angreifend sein.«

»Um Ihnen das geringste Vergnügen zu bereiten, Sie wissen es, Natalia
Alexejewna, bin ich bereit … würde ich … nicht solche Kleinigkeiten …«

Wolinzow stockte.

Natalia blickte ihn freundlich an und sagte nochmals: ~merci~.

»Sie wissen,« fuhr Sergei Pawlitsch nach längerem Schweigen fort, »es
gibt nichts … Doch warum sage ich das! Sie wissen ja alles.«

In diesem Augenblicke erschallte die Glocke im Hause.

»Ah! ~La cloche du dîner!~« rief Mlle. Boncourt, »~rentrons~.«

~Quel dommage~, dachte bei sich die alte Französin, als sie hinter
Natalia und Wolinzow die Stufen zur Terrasse hinaufstieg, ~quel dommage
que ce charmant garçon ait si peu de ressources dans la conversation~
… was man etwa so wiedergeben könnte: du bist ganz nett, mein Lieber,
aber etwas beschränkt.

Der Baron kam nicht zum Mittagessen. Man wartete eine halbe Stunde auf
ihn. Bei Tische wollte es mit der Unterhaltung nicht recht vorwärts
gehen. Sergei Pawlitsch blickte fortwährend Natalia an, neben welcher
er saß, und schenkte ihr eifrig Wasser ins Glas. Pandalewski bemühte
sich vergeblich, seine Nachbarin, Alexandra Pawlowna, zu unterhalten:
er zerfloß in Liebenswürdigkeiten, während es ihr Mühe kostete, das
Gähnen zu unterdrücken.

Bassistow machte Brotkügelchen und dachte an nichts; selbst Pigassow
war verstummt, und als Darja Michailowna ihm bemerkte, daß er heute
nicht liebenswürdig sei, antwortete er mürrisch: »Wann bin ich denn
liebenswürdig? Es ist nicht meine Art …« Und setzte mit bitterem
Lächeln hinzu: »Haben Sie nur Geduld; ich bin ja nur Kwas, ordinärer
russischer Kwas; wenn aber Ihr Kammerjunker …«

»Bravo!« rief Darja Michailowna. »Pigassow wird eifersüchtig, zum
voraus eifersüchtig!«

Pigassow jedoch erwiderte nichts darauf, sondern schaute finster vor
sich hin.

Es schlug sieben Uhr und alle versammelten sich wieder im Gastzimmer.

»Es scheint, er wird nicht kommen,« sagte Darja Michailowna … Doch
plötzlich ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen, ein mittelgroßer
Tarantaß lenkte in den Hof und nach einigen Minuten erschien ein Diener
im Gastzimmer und reichte Darja Michailowna einen Brief auf einem
kleinen silbernen Präsentierteller. Sie durchlief denselben bis zum
Ende und fragte dann, zum Diener gewendet:

»Und wo ist der Herr, der diesen Brief gebracht hat?«

»Er ist im Wagen sitzengeblieben. Befehlen Sie, ihn herein zu nötigen?«

»Bitte ihn her.«

Der Diener verschwand.

»Ist das nicht ärgerlich, denken Sie doch,« fuhr Darja Michailowna
fort, »der Baron hat die Weisung bekommen, sogleich nach Petersburg
zurückzukehren. Er schickt mir seinen Aufsatz durch einen Herrn Rudin,
seinen Freund. Der Baron wollte mir denselben vorstellen – er sagt von
ihm viel Gutes. Doch wie das störend ist! Ich hatte darauf gerechnet,
der Baron werde hier einige Zeit zubringen …«

»Dimitri Nikolaitsch Rudin,« meldete der Diener.




III


Ins Zimmer trat ein Mann von fünfunddreißig Jahren, hohem Wuchse, etwas
gebückter Haltung, kraushaarig und von dunkler Gesichtsfarbe, mit
unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen und klugen Zügen, feuchtem Glanze
in den lebhaften, dunkelblauen Augen, gerader und breiter Nase und
anmutig gezeichneten Lippen. Sein Anzug war nicht neu und eng, als wäre
er demselben entwachsen.

Gewandt trat er auf Darja Michailowna zu, entbot ihr einen kurzen Gruß,
sagte, daß ihn schon längst nach der Ehre, ihr vorgestellt zu werden,
verlangt habe und daß sein Freund, der Baron, es sehr bedauere, nicht
persönlich Abschied von ihr habe nehmen zu können.

Die feine Stimme Rudins entsprach weder seinem hohen Wuchse noch seiner
breiten Brust.

»Nehmen Sie Platz … es freut mich, Sie kennenzulernen,« sagte Darja
Michailowna, und nachdem sie ihn der ganzen Gesellschaft vorgestellt
hatte, fragte sie, ob er aus dieser Gegend oder angereist sei?

»Meine Besitzung liegt im T…schen Gouvernement,« erwiderte Rudin,
den Hut auf den Knien haltend, »ich bin seit kurzem hier. Ich bin in
Geschäften hergekommen und habe meinen Wohnsitz fürs erste in Ihrer
Kreisstadt genommen.«

»Bei wem?«

»Beim Doktor. Er ist ein alter Universitätsfreund von mir.«

»Ah! Beim Doktor … Man lobt ihn. Er soll, wie man sagt, seine Sache
verstehen. Und der Baron, seit wann sind Sie mit ihm bekannt?«

»Ich traf ihn im vergangenen Winter in Moskau und habe jetzt ungefähr
eine Woche bei ihm zugebracht.«

»Ein sehr gebildeter Mann – der Baron!«

»Gewiß.«

Darja Michailowna führte die mit Kölnischem Wasser getränkte Ecke ihres
Taschentuches an die Nase.

»Sie stehen vermutlich im Staatsdienste?« fragte sie.

»Wer? Ich?«

»Ja. Sie!«

»Nein … Ich habe den Dienst verlassen.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, dann wurde die Unterhaltung wieder
allgemein.

»Dürfte ich wohl fragen,« begann Pigassow, sich zu Rudin wendend: »Sie
kennen gewiß den Inhalt des Aufsatzes, den der Herr Baron geschickt
hat?«

»Ich kenne ihn.«

»Jener Aufsatz berührt die Beziehungen des Handels … oder, besser
gesagt – der Industrie zum Handel in unserem Vaterlande … So, dünkt
mich, hatten Sie die Gefälligkeit zu sagen, Darja Michailowna?«

»Ja, es ist darin die Rede davon,« äußerte Darja Michailowna, die Hand
an die Stirn führend.

»Ich verstehe mich freilich schlecht auf solche Dinge,« fuhr Pigassow
fort, »muß jedoch gestehen, daß mir allein schon der Titel des
Aufsatzes sehr … wie sag’ ich das gelinder … sehr dunkel und konfus
vorkommt.«

»Woher scheint Ihnen das?«

Pigassow lächelte und warf einen Seitenblick auf Darja Michailowna.

»Ist dieser Titel Ihnen denn klar?« äußerte er, sein Fuchsgesicht
wieder zu Rudin wendend.

»Mir? Ja gewiß.«

»Hm … Freilich, Sie müssen das besser wissen.«

»Haben Sie Kopfschmerzen?« fragte Alexandra Pawlowna Darja Michailowna.

»Nein, es ist nichts … ~C’est nerveux.~«

»Dürfte ich wohl fragen,« lenkte Pigassow, mit etwas näselnder Stimme,
wieder ein: »Ihr Bekannter, der Herr Baron Muffel … so, glaube ich,
heißt er?«

»Ganz recht.«

»Beschäftigt sich der Herr Baron Muffel speziell mit politischer
Ökonomie, oder widmet er dieser anziehenden Wissenschaft nur so
nebenbei die Mußestunden, welche er nach den weltlichen Vergnügungen
und Dienstobliegenheiten erübrigen kann?«

Rudin blickte Pigassow scharf an.

»Der Baron ist in diesem Fache Dilettant,« erwiderte er mit leichtem
Erröten, »es ist aber viel Wahres und Interessantes in seinem Aufsatze.«

»Ich kann darüber nicht mit Ihnen disputieren, da mir der Aufsatz
unbekannt ist … Ich erlaube mir aber die Frage: Ihr Freund, der Baron
Muffel, geht vermutlich in dem Aufsatze mehr von allgemeinen Theorien
als von Tatsachen aus?«

»Er bietet sowohl Tatsachen als auch Theorien, die sich auf Tatsachen
stützen.«

»So, so. Meiner Meinung nach, Sie werden erlauben … ich darf wohl
gelegentlich mein Wort dazu geben: ich habe drei Jahre in Dorpat
zugebracht … alle diese sogenannten allgemeinen Theorien, Hypothesen,
Systeme … nehmen Sie es nicht übel, ich bin Provinzler, nehme kein
Blatt vor den Mund … taugen alle zu nichts. Das ist alles nur Klügelei
– um die Leute zu betören. Gebt uns Fakta, meine Herren, weiter fordern
wir nichts von euch.«

»Wirklich!« erwiderte Rudin. »Aber der Sinn der Fakten muß doch
gedeutet werden!«

»Allgemeine Theorien,« fuhr Pigassow fort, »nicht ausstehen kann ich
sie, diese allgemeinen Theorien, Übersichten, Schlußfolgerungen! Das
stützt sich alles auf sogenannte Überzeugungen; ein jeder faselt von
seinen Überzeugungen und verlangt noch dazu, daß man sie respektiere,
daß man sich mit dergleichen befasse … Oh! Oh!«

Und Pigassow schüttelte die Faust in der Luft. Pandalewski lachte auf.

»Herrlich!« sagte Rudin, »es gibt also, Ihrer Ansicht nach, keine
Überzeugungen.«

»Nein – es gibt keine.«

»Das ist Ihre Überzeugung?«

»Ja.«

»Wie können Sie nun sagen, es gäbe keine? Da haben Sie eben eine
ausgesprochen.«

Alle im Zimmer lächelten und warfen sich Blicke zu.

»Erlauben Sie, erlauben Sie aber,« begann Pigassow wieder …

Doch Darja Michailowna klatschte in die Hände und rief: »Bravo, bravo,
geschlagen, Pigassow ist geschlagen!« und nahm sachte den Hut aus
Rudins Händen.

»Halten Sie ein wenig ein mit der Freude, gnädige Frau: ein wenig
Geduld!« sagte Pigassow ärgerlich. »Es kommt nicht darauf an, mit
Überlegenheitsmiene ein witziges Wort abzuschießen, beweisen soll man,
widerlegen … Wir sind vom Gegenstande unseres Streites abgekommen.«

»Erlauben Sie,« bemerkte Rudin gelassen, »die Sache ist ganz einfach.
Sie glauben nicht an den Nutzen allgemeiner Theorien, Sie glauben nicht
an Überzeugungen.«

»Ich glaube nicht, glaube daran nicht, an nichts glaube ich!«

»Sehr gut. Sie sind Skeptiker.«

»Ich sehe nicht ein, wozu uns dies gelehrte Wort nützen soll.
Indessen …«

»Unterbrechen Sie doch nicht,« mischte sich Darja Michailowna ins
Gespräch.

»Jetzt geht es los!« sagte Pandalewski schmunzelnd vor sich hin.

»Dieses Wort drückt meinen Gedanken aus,« fuhr Rudin fort. »Sie
verstehen es: weshalb sollte ich es nicht gebrauchen? Sie glauben an
nichts … Wie glauben Sie denn an ein Faktum?«

»Wie? das ist aber schön! Ein Faktum ist eine bekannte Sache, ein jeder
weiß, was ein Faktum ist … Ich urteile darüber aus Erfahrung, nach
eigener Empfindung.«

»Die Empfindung kann Sie aber täuschen! Die Empfindung sagt Ihnen, daß
die Sonne sich um die Erde dreht, oder … oder, vielleicht teilen Sie
Kopernikus’ Ansicht nicht? Sie glauben auch ihm nicht?«

Von neuem überflog ein Lächeln die Gesichter. Aller Augen waren auf
Rudin gerichtet. Ein ganz gescheiter Mensch, dachte jeder.

»Sie gefallen sich in Scherzen,« sagte Pigassow. »Freilich, das ist
sehr originell, gehört aber nicht zur Sache.«

»In dem, was ich bis jetzt gesagt habe,« erwiderte Rudin, »war leider
sehr wenig Originelles. Alles dies ist schon längst bekannt und ist
tausendmal wiederholt worden. Nicht darauf kam es an …«

»Aber worauf denn?« fragte Pigassow, mit leichtem Anflug von
Unverschämtheit.

Er pflegte, wenn er stritt, mit spöttischen Ausfällen gegen seinen
Widerpart anzufangen, dann grob zu werden und endlich schmollend zu
verstummen.

»Ich will Ihnen sagen, worauf,« fuhr Rudin fort: »ich kann mich
wirklich nicht, ich muß es gestehen, eines tiefen Bedauerns erwehren,
wenn verständige Leute in meiner Gegenwart herfallen über …«

»Über Systeme!« unterbrach ihn Pigassow.

»Nun, meinetwegen, über Systeme. Was bringt Sie dies Wort so außer
sich? Jedes System stützt sich ja auf die Kenntnis der Grundgesetze
des Lebens …«

»Aber ich bitte Sie, die kann man doch nicht kennen, nicht ergründen …«

»Erlauben Sie. Freilich, nicht jedem sind sie zugänglich, und der
Mensch ist dem Irrtum unterworfen. Sie werden mir aber wahrscheinlich
zugeben, daß Newton zum Beispiel einige dieser Grundgesetze dennoch
entdeckt hat. Das war ein Genie, zugestanden; die Entdeckungen,
die geniale Geister machen, sind aber eben dadurch groß, daß sie
zum Gemeingute aller werden. Das Bestreben, allgemeine Gesetze aus
partiellen Erscheinungen herauszufinden, bildet eine Grundeigenschaft
des menschlichen Geistes, und unsere ganze Bildung …«

»Dahin also wollten Sie!« unterbrach ihn wiederum mit gedehnter Stimme
Pigassow. »Ich bin ein praktischer Mensch und vertiefe mich nicht gern
in diese metaphysischen Spitzfindigkeiten.«

»Sehr wohl! Das steht bei Ihnen. Beachten Sie indessen, daß schon der
Wille allein, ausschließlich ein praktischer Mensch zu sein, an und für
sich ein System vorstellt, eine Theorie …«

»Bildung! sagten Sie,« unterbrach ihn Pigassow, »Sie glauben wohl, mich
mit diesem Wort aus der Fassung zu bringen! Wir haben sie sehr nötig,
diese angepriesene Bildung! Nicht einen kupfernen Groschen möchte ich
für diese Ihre Bildung hingeben!«

»Sie disputieren aber grundschlecht, Afrikan Semenitsch!« bemerkte
Darja Michailowna, im Innern sehr befriedigt durch die Ruhe und
weltmännische Artigkeit ihres neuen Gastes. ~C’est un homme comme il
faut~, dachte sie, Rudins Gesicht mit Wohlwollen betrachtend: »Ich muß
ihn gewinnen.« Die letzten Worte sagte sie in Gedanken russisch.

»Ich werde es nicht unternehmen,« fuhr Rudin nach einigem Schweigen
fort, »die Bildung zu verteidigen: – sie bedarf meiner Verteidigung
nicht. Sie mögen dieselbe nicht … Jeder hat seinen eigenen Geschmack.
Es würde uns übrigens auch zu weit führen. Erlauben Sie mir nur, Sie
an einen alten Spruch zu erinnern: ›Jupiter, du wirst böse, folglich
hast du unrecht!‹ Ich wollte sagen, daß alle diese Ausfälle auf
Systeme, allgemeine Theorien usw. deshalb ebenso zu bedauern sind,
weil mit den Systemen zugleich die Menschen das Wissen überhaupt, die
Wissenschaft und den Glauben an eine solche verleugnen, folglich auch
den Glauben an sich selbst, an die eigene Kraft. Die Menschen bedürfen
aber dieses Glaubens: von Eindrücken allein können sie nicht leben,
es wäre sündhaft, wenn sie vor dem Gedanken Scheu hätten und ihm
nicht Vertrauen schenkten. Der Skeptizismus hat sich von jeher durch
Unfruchtbarkeit und Ohnmacht ausgezeichnet …«

»Das sind alles Worte!« murrte Pigassow.

»Vielleicht. Erlauben Sie mir aber, Ihnen zu bemerken, daß mit dem
Ausrufe ›Das sind nur Worte‹ wir uns oft der Notwendigkeit entheben,
etwas Gescheiteres als nur Worte zu sagen.«

»Wie?« fragte Pigassow und kniff die Augen zusammen.

»Sie haben verstanden, was ich Ihnen sagen wollte,« erwiderte Rudin mit
unwillkürlicher, doch sofort unterdrückter Ungeduld. »Ich wiederhole
es, wenn der Mensch keinen festen Grund hat, an den er glaubt, keinen
Boden, auf dem er sicher fußt, wie kann er sich dann Rechenschaft geben
von den Bedürfnissen, der Bedeutung, der Zukunft seines Volkes? Wie
kann er wissen, was er selbst zu tun hat, wenn …«

»Ehre dem Ehre gebührt!« stotterte Pigassow hervor, verbeugte sich und
trat auf die Seite, ohne jemand anzublicken.

Rudin sah ihn an, lächelte leicht und verstummte.

»Aha! Er hat die Flucht ergriffen!« begann Darja Michailowna. »Seien
Sie unbesorgt, Dimitri … Um Vergebung,« fügte sie mit freundlichem
Lächeln hinzu: »Wie hieß Ihr Herr Vater?«

»Nikolai!«

»Machen Sie sich keine Sorge, werter Dimitri Nikolaitsch! Er hat
niemand hier angeführt. Er tut so, als wolle er nicht mehr disputieren
… Er fühlt, daß er es mit Ihnen nicht kann. Setzen Sie sich aber näher
zu uns und lassen Sie uns plaudern.«

Rudin rückte seinen Sessel näher.

»Wie kommt es, daß wir nicht früher bekannt geworden sind?« fuhr
Darja Michailowna fort. »Das ist mir ein Rätsel … Haben Sie dies Buch
gelesen? ~C’est de Tocqueville, vous savez?~«

Und Darja Michailowna schob Rudin eine französische Broschüre hin.

Rudin nahm das dünne Büchlein in die Hand, blätterte ein wenig darin
und erklärte, nachdem er es wieder auf den Tisch zurückgelegt hatte,
er habe diese Schrift des Herrn Tocqueville zwar nicht gelesen, doch
häufig über die von ihm berührte Frage nachgedacht. Das Gespräch war
angeknüpft. Rudin zeigte sich anfangs etwas befangen, er zögerte, mit
seiner Meinung hervorzutreten, fand nicht immer sogleich die Ausdrücke,
wurde jedoch allmählich warm und beredt. Eine Viertelstunde später
vernahm man nur seine Stimme im Zimmer. Alle hatten einen Kreis um ihn
geschlossen.

Pigassow allein blieb entfernt, in einer Ecke neben dem Kamin. Rudin
sprach klug, mit Geist und Feuer, und zeigte viele Kenntnisse und große
Belesenheit. Niemand hatte erwartet, in ihm einen bedeutenden Menschen
zu treffen … Er war so alltäglich gekleidet, man hatte bisher so wenig
von ihm gehört. Allen blieb es unbegreiflich und auffallend, wie ein
so geistreicher Mann so unverhofft auf dem Lande hatte auftauchen
können. Um so mehr erregte er bei allen Bewunderung, man könnte sagen,
er bezauberte jeden, vor allen Darja Michailowna … Sie war stolz auf
ihren Fang und dachte schon im voraus daran, wie sie Rudin in die Welt
führen wolle. Trotz ihres Alters mischte sich bei ihr in die ersten
Eindrücke viel jugendliches, ja beinahe kindliches Feuer. Alexandra
Pawlowna hatte, offen gestanden, wenig von allem begriffen, was Rudin
gesprochen, war aber dennoch sehr erstaunt und erfreut; ihr Bruder war
es nicht weniger; Pandalewski beobachtete Darja Michailowna und wurde
neidisch; Pigassow dachte: wollte ich fünfhundert Rubel wegwerfen – ich
könnte mir eine bessere Nachtigall verschaffen … Mehr als alle übrigen
waren jedoch Bassistow und Natalia erstaunt. Bassistow war der Atem
fast ausgegangen; er war die ganze Zeit über mit offenem Munde und weit
geöffneten Augen sitzengeblieben und hatte mit einer Spannung zugehört,
wie bisher noch niemals; Natalias Gesicht war rot geworden und ihr
Blick, den sie unverwandt auf Rudin geheftet gehalten hatte, wurde
dunkler und glänzender zugleich …

»Was für prachtvolle Augen er hat,« flüsterte ihr Wolinzow zu.

»Ja, sie sind schön.«

»Schade nur, daß seine Hände so groß und rot sind.«

Natalia antwortete nichts.

Man bracht den Tee. Die Unterhaltung wurde allgemeiner, doch ließ
sich an dem plötzlichen Verstummen aller, sobald Rudin den Mund
auftat, gleich merken, wie überwältigend der Eindruck war, den er
hervorgebracht hatte. Es kam Darja Michailowna in den Sinn, Pigassow
ein wenig aufzuziehen. Sie trat zu ihm und fragte ihn halblaut: »Warum
schweigen Sie denn und zeigen uns nur ein höhnisches Lächeln? Versuchen
Sie es doch, mit ihm wieder anzubinden,« und ohne seine Antwort
abzuwarten, winkte sie Rudin zu sich.

»Eine seiner Seiten kennen Sie noch nicht,« sagte sie zu ihm, auf
Pigassow deutend, »er ist ein erschrecklicher Weiberfeind, fortwährend
greift er sie an; ich bitte, bekehren Sie ihn doch.«

Rudin blickte Pigassow unwillkürlich … von oben herab an: er war um
zwei Kopflängen höher als er. Dieser krümmte sich fast vor Ärger, sein
gelbes Gesicht wurde noch gelber.

»Darja Michailowna hat nicht ganz recht,« begann er mit unsicherer
Stimme, »ich greife nicht ausschließlich die Weiber an; das ganze
Menschengeschlecht behagt mir nicht sehr.«

»Was konnte Ihnen denn eine so schlechte Meinung von demselben
einflößen?« fragte Rudin.

Pigassow schaute ihm gerade ins Gesicht.

»Vermutlich meine Studien des eigenen Herzens, in welchem ich mit jedem
Tage mehr und mehr Schlacken entdecke. Ich urteile über andere nach mir
selbst. Das mag vielleicht ungerecht sein, und ich tauge viel weniger
als andere; was wollen Sie aber? Gewohnheit!«

»Ich verstehe Sie und sympathisiere mit Ihnen,« erwiderte Rudin.
»Welche edle Seele hätte nicht Anwandlungen von Selbstunterschätzung
gehabt! Man sollte aber doch aus dieser schlimmen Lage herauszukommen
trachten.«

»Danke recht sehr für die Adelsbescheinigung, die Sie meiner Seele
ausstellen,« erwiderte Pigassow, »mit meiner Lage hält sich’s noch –
sie ist so übel nicht, und wenn es auch einen Ausgang aus ihr gibt, er
mag bleiben, suchen will ich ihn nicht.«

»Das hieße aber, verzeihen Sie den Ausdruck – die Befriedigung seiner
Eigenliebe dem Verlangen, in der Wahrheit zu verbleiben, vorziehen …«

»Und was denn anderes!« rief Pigassow, »die Eigenliebe – das Ding
verstehe ich, verstehen Sie, versteht ein jeder; aber Wahrheit – was
ist Wahrheit? Wo ist sie, diese Wahrheit?«

»Sie verfallen in Wiederholungen, ich muß Ihnen diese Bemerkung
machen,« warf Darja Michailowna ein.

Pigassow zuckte die Achseln.

»Und was liegt daran? Ich frage: wo ist Wahrheit? Die Philosophen
selbst wissen nicht, was sie ist. So sagt Kant: Das ist sie; Hegel aber
– nein, bewahre! Dies ist sie.«

»Und wissen Sie, was Hegel darüber sagt?« fragte Rudin, ohne die Stimme
zu erheben.

»Ich wiederhole,« eiferte Pigassow, »ich kann nicht begreifen, was
Wahrheit ist. Meiner Ansicht nach gibt es eine solche nicht auf der
Welt, das heißt, das Wort ist da, die Sache selbst aber existiert
nicht.«

»Ei! Ei!« rief Darja Michailowna, »schämen Sie sich doch, so zu
sprechen, Sie alter Sünder! Es gäbe keine Wahrheit? Wozu nützte es
denn, auf der Welt zu leben?«

»Und wissen Sie, Darja Michailowna,« erwiderte ärgerlich Pigassow,
»ich bin der Meinung, daß Sie, auf jeden Fall, das Leben ohne
Wahrheit leichter finden würden, als ohne Ihren Koch Stephan, der so
vortreffliche Bouillons kocht! Und wozu brauchten Sie überhaupt die
Wahrheit, wenn ich fragen darf? Ein Häubchen ließe sich doch nicht
daraus machen!«

»Spaßen ist nicht beweisen,« bemerkte Darja Michailowna, »besonders
wenn es in Verleumdung ausartet.«

»Ich weiß nicht, wie es mit der Wahrheit bestellt ist, aber sie zu
hören ist freilich vielen schmerzlich,« brummte Pigassow und zog sich
mürrisch zurück.

Rudin jedoch begann von dem Selbstgefühl zu reden und sprach sehr
verständig. Er bewies, daß der Mensch ohne Selbstgefühl nichts bedeute,
daß Selbstgefühl »Archimedes’ Hebel« sei, durch welchen der Erdball
aus seiner Stellung gehoben werden könne; doch verdiene in der Tat
nur derjenige »Mensch« genannt zu werden, der sein Selbstgefühl zu
bändigen wisse, wie der Reiter sein Roß, der seine Persönlichkeit dem
Wohle aller zum Opfer bringe …

»Selbstsucht«, so beschloß er seine Rede, »ist Selbstmord. Der
selbstsüchtige Mensch verdorrt gleich einem vereinzelten, unfruchtbaren
Baume; Selbstgefühl aber, als lebendiges Streben nach Vervollkommnung,
ist der Ursprung alles Großen … Ja! es muß der Mensch den starren
Egoismus seiner Persönlichkeit brechen, um ihr das Recht zu
verschaffen, sich frei auszusprechen.«

»Dürfte ich Sie wohl um einen Bleistift bitten?« wandte sich Pigassow
an Bassistow.

Bassistow faßte nicht gleich, was Pigassow von ihm verlangte.

»Wozu brauchen Sie einen Bleistift?« brachte er endlich hervor.

»Ich will diese letzte Phrase des Herrn Rudin notieren. Notiere ich
sie nicht, ich könnte sie vergessen, stehe nicht dafür! Und Sie werden
selbst zugeben, solch eine Phrase kommt doch einem großen Schlemm im
Whist gleich.«

»Es gibt Dinge, Afrikan Semenitsch, über welche zu scherzen und zu
spotten unschicklich ist!« erwiderte Bassistow mit Wärme und drehte
Pigassow den Rücken.

Unterdessen war Rudin zu Natalia getreten. Sie erhob sich und auf ihrem
Gesichte zeigte sich Verwirrung.

Wolinzow, der neben ihr saß, erhob sich gleichfalls.

»Ich sehe da ein Klavier,« begann Rudin mit weicher, wohlwollender
Stimme, als wäre er ein Prinz auf Reisen, »spielen Sie vielleicht?«

»Ja, ich spiele,« sagte Natalia, »aber nicht besonders. Hier,
Constantin Diomiditsch spielt bedeutend besser als ich.«

Pandalewski streckte sein Gesicht vor und fletschte die Zähne.

»Sie sind ungerecht gegen sich, Natalia Alexejewna: ich spiele wirklich
nicht besser als Sie.«

»Spielen Sie den Erlkönig von Schubert?« fragte Rudin.

»Er spielt ihn, er spielt ihn!« nahm Darja Michailowna das Wort.
»Setzen Sie sich, Constantin … Sie lieben die Musik, Dimitri
Nikolaitsch?«

Rudin verneigte sich leicht mit dem Kopfe und fuhr mit der Hand über
das Haar, als bereite er sich zum Anhören vor … Pandalewski begann.

Natalia stellte sich ans Klavier, Rudin gerade gegenüber. Gleich bei
den ersten Tönen erhielt sein Gesicht einen begeisterten Ausdruck.
Seine tiefblauen Augen schweiften langsam umher, von Zeit zu Zeit auf
Natalia haften bleibend. Pandalewski hatte geendet.

Rudin sagte kein Wort und trat an das geöffnete Fenster. Ein
aromatischer Duft lag gleich einer leichten Hülle auf dem Garten,
einschläfernde Kühle entstieg den nahegelegenen Bäumen. Sanft
schimmerten die Sterne. Wonnig war die Sommernacht und Wonne
verbreitete sie um sich her. Rudin schaute in den dunklen Garten hinaus
und – wandte sich um.

»Diese Musik und diese Nacht«, sagte er, »haben in mir Erinnerungen
erweckt an meine Studentenzeit in Deutschland, an unsere
Zusammenkünfte, unsere Serenaden …«

»Sie waren in Deutschland?« fragte Darja Michailowna.

»Ich habe ein Jahr in Heidelberg studiert und etwa ebensolange in
Berlin.«

»Und Sie kleideten sich wie die Studenten? Die sollen dort, sagt man,
eine eigentümliche Kleidung tragen.«

»In Heidelberg habe ich hohe Stiefel mit Sporen und einen kurzen
Leibrock mit Schnurbesatz getragen und das Haar lang wachsen lassen
bis herab auf die Schultern … In Berlin kleiden sich die Studenten wie
jedermann.«

»Erzählen Sie uns etwas aus Ihrem Studentenleben,« bat Alexandra
Pawlowna.

Rudin begann seine Erzählung. Er war kein guter Erzähler. In seinen
Schilderungen vermißte man die Färbung. Er verstand es nicht,
Heiterkeit zu erregen. Übrigens ging er bald von der Erzählung seiner
Abenteuer im Auslande auf allgemeine Betrachtungen über, von der
Bedeutung der Aufklärung und Wissenschaft, den Universitäten und dem
Universitätsleben überhaupt. Mit breiten und kühnen Zügen entwarf er
ein riesiges Bild. Alle hörten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
Er sprach meisterhaft, hinreißend, nicht immer bestimmt … aber diese
Unbestimmtheit selbst verlieh seiner Rede einen eigentümlichen Reiz.

Der Reichtum seiner Gedanken hinderte Rudin, sich bestimmt und genau
auszudrücken. Ein Bild drängte das andere; Gleichnisse, bald unerwartet
kühn, bald merkwürdig treffend, folgten Schlag auf Schlag. Nicht
selbstgefällige Worthascherei des geschulten Schönredners, sondern
Begeisterung sprach aus seinem ungestümen Redefluß. Er war um Worte
nicht verlegen: folgsam und frei traten sie ihm auf die Lippen,
und jedes Wort schien, durchglüht vom Feuer der vollständigsten
Überzeugung, direkt aus der Seele zu strömen. Rudin besaß im höchsten
Grade jene Eigenschaft, die man »Musik der Beredsamkeit« nennen könnte.
Er verstand es, indem er gewisse Saiten des Herzens anschlug, zugleich
alle anderen unbestimmt mittönen und erzittern zu machen. Es mag der
Fall gewesen sein, daß der eine oder der andere seiner Zuhörer nicht
recht verstand, wovon die Rede war, doch fühlte er die Brust schwellen,
ein Schleier schien von seinen Augen zu fallen, und in der Ferne stieg
ein gewisses strahlendes Etwas vor seinen Blicken empor …

Alle Gedanken Rudins schienen der Zukunft zugewandt zu sein; dieser
Umstand verlieh ihnen das Drangvolle und Jugendliche … Am Fenster
stehend, niemand vorzugsweise anblickend, sprach er – und begeistert
durch die Zustimmung und Aufmerksamkeit aller, durch die Nähe junger
Frauen, die Schönheit der Nacht, hingerissen von der Flut eigener
Empfindungen – erhob er sich bis zur Beredsamkeit, bis zur Poesie …
der Klang seiner Stimme sogar, sonor und ruhig, vermehrte noch den
Zauber; es schien, als redete aus seinem Munde etwas Höheres, ihm
selbst Ungewohntes … Rudin sprach von dem, was dem zeitlichen Leben des
Menschen Bedeutung für die Ewigkeit verleiht.

»Dabei fällt mir eine skandinavische Sage ein,« so beschloß er seine
Rede. »Es sitzt ein König mit seinen Recken in einer langen, dunklen
Halle um ein Feuer herum. Es war zu Winterszeit und nachts. Auf einmal
kommt ein kleiner Vogel durch die offene Tür hereingeflogen und fliegt
zur anderen wieder hinaus. Der König sagt: ›Das Vöglein ist wie der
Mensch auf Erden: aus dem Dunkel kommt es geflogen, in das Dunkel
fliegt es wieder zurück, und hat sich nur kurze Zeit der Wärme und des
Lichtes erfreut‹ … ›O König,‹ erwidert der Älteste der Krieger, ›das
Vöglein wird auch im Dunkeln nicht umkommen und sein Nest wiederfinden‹
… In der Tat, unser Leben ist kurz und vergänglich; doch alles Große
geschieht durch den Menschen. Das Bewußtsein, höheren Mächten zum
Werkzeug zu dienen, muß ihm Ersatz sein für alle übrigen Freuden; im
Tode selbst wird er sein Leben, sein Nest finden …«

Rudin hielt inne und senkte den Blick mit einem unwillkürlichen Lächeln
der Verwirrung.

»~Vous êtes un poète~,« sagte halblaut Darja Michailowna.

Und alle stimmten ihr im stillen bei, – alle, Pigassow ausgenommen.
Ohne das Ende der langen Rede Rudins abzuwarten, hatte er leise den
Hut genommen und, sich entfernend, dem bei der Türe stehengebliebenen
Pandalewski erbittert zugeflüstert: »Die klugen Leute machen es mir zu
bunt! Ich begebe mich zu den Einfaltspinseln!«

Es hatte ihn übrigens niemand zurückgehalten, auch seine Abwesenheit
nicht bemerkt.

Die Diener trugen das Abendessen auf, und eine halbe Stunde darauf
trennte man sich. Darja Michailowna hatte Rudin überredet, über
Nacht zu bleiben. Alexandra Pawlowna drückte auf der Heimfahrt in
der Kutsche ihrem Bruder unter vielen Achs ihr Erstaunen über Rudins
ungewöhnlichen Geist aus. Wolinzow stimmte ihr bei, bemerkte jedoch,
daß er sich zuweilen etwas unverständlich ausdrücke … das heißt nicht
ganz überzeugend, fügte er hinzu, vermutlich, um seinen Gedanken
besseren Ausdruck zu geben; sein Gesicht verfinsterte sich jedoch, und
der Blick, den er in die Ecke der Kutsche gerichtet hielt, war noch
schwermütiger geworden.

Pandalewski ließ, während er, sich zum Schlafengehen anschickend, seine
seidengestickten Tragbänder löste, laut die Worte fallen: »Ein sehr
gewandter Mensch!« und befahl dann sogleich mit strengem Blicke seinem
Kammerdiener, das Zimmer zu verlassen. Bassistow schlief die ganze
Nacht nicht und kleidete sich nicht einmal aus; bis zum Anbruch des
Tages schrieb er ununterbrochen einen Brief an einen seiner Freunde
nach Moskau; Natalia hatte sich zwar ausgekleidet und zu Bette gelegt,
aber gleichfalls nicht eine Minute geschlafen und sogar die Augen nicht
einmal geschlossen. Den Kopf auf den Arm gestützt, hatte sie in das
Dunkel hinausgeblickt; ihre Pulse pochten wie im Fieber und häufige
schwere Seufzer hoben ihren Busen.




IV


Kaum hatte sich Rudin am folgenden Morgen angekleidet, so erschien bei
ihm ein Diener von Darja Michailowna mit der Einladung, sich zu ihr ins
Kabinett zum Tee zu bemühen. Rudin traf sie allein. Sie bewillkommnete
ihn höchst freundlich, erkundigte sich, ob er die Nacht gut verbracht
habe und schenkte ihm selbst eine Tasse Tee ein; sie fragte sogar, ob
Zucker genug darin sei, bot ihm eine Zigarette an, und äußerte wieder
ein paar Male, daß sie sich wundere, wie sie nicht früher mit ihm
bekannt geworden sei. Rudin hatte etwas entfernt Platz genommen; Darja
Michailowna aber wies auf einen Diwan, der neben ihrem Sessel stand,
und begann, sich ein wenig nach seiner Seite hinneigend, ihn über
seine Verwandten, seine Pläne und seine Aussichten zu befragen. Darja
Michailowna sprach leicht hingeworfen und hörte zerstreut zu; Rudin
aber merkte sehr wohl, daß sie ihm zu gefallen suche, ja, ihm sogar
schmeichele: Nicht umsonst hatte sie also dieses Morgenstelldichein
vorbereitet, nicht umsonst ein einfaches aber graziöses Kleid ~à la
madame Récamier~ angelegt! Übrigens hörte Darja Michailowna bald auf,
ihn auszufragen: sie fing an, ihm von sich zu erzählen, von ihren
Jugendjahren und den Personen, mit denen sie bekannt gewesen war.
Rudin hörte teilnehmend ihrem Gerede zu, doch – sonderbar! – von wem
Darja Michailowna auch sprechen mochte, ihre eigene Person stand stets
im Vordergrunde und drängte jede andere zurück; dabei erfuhr Rudin
umständlich, was Darja Michailowna namentlich zu dieser bekannten,
hochgestellten Persönlichkeit geredet, welchen Einfluß sie auf jenen
berühmten Dichter ausgeübt hatte. Den Bekenntnissen Darja Michailownas
zufolge hätte man glauben können, daß alle Bedeutenden unter ihren
Zeitgenossen einzig und allein nur danach getrachtet hätten, mit ihr
bekannt zu werden, oder sich ihr Wohlwollen zu erwerben. Sie sprach von
ihnen in einfacher Weise, ohne besonderes Entzücken oder Lobeserhebung,
wie von ihr nahestehenden Personen; einige nannte sie sonderbare Käuze,
immer aber reihten sich ihre Namen, wie bei einem kostbar gefaßten
Edelstein, in strahlendem Kranze um den einen Namen: Darja Michailowna.

       *       *       *       *       *

Rudin hörte zu, rauchte seine Zigarette und schwieg; nur hin und wieder
unterbrach er durch kurze Bemerkungen den Redeschwall der gnädigen
Frau. Er verstand und liebte zu sprechen; eine Unterhaltung im Gange zu
halten, war ihm nicht eigen, doch verstand er auch zuzuhören. Jeder,
den er nicht gleich anfangs eingeschüchtert hatte, ließ sich in seiner
Gegenwart zutraulich aus; so gefällig und ermunternd folgte der dem
Faden der Erörterungen anderer. Er besaß viel Gutmütigkeit, viel von
jener eigentümlichen Gutmütigkeit, welche Leuten eigen ist, die gewohnt
sind, sich über andere erhaben zu fühlen. Im Wortstreit ließ er selten
seinem Gegner das letzte Wort, sondern überwältigte ihn mit seiner
ungestümen und leidenschaftlichen Dialektik.

       *       *       *       *       *

Darja Michailowna sprach russisch. Sie prahlte mit der Kenntnis ihrer
Muttersprache, obgleich bei ihr oft Gallizismen und französische Worte
mit unterliefen. Absichtlich gebrauchte sie einfache, volkstümliche
Ausdrucksweisen, doch nicht immer an dem rechten Orte. Rudins Ohr fand
sich durch die buntscheckige Sprache in Darja Michailownas Munde nicht
unangenehm berührt, wenn überhaupt er ein Ohr dafür hatte.

Diese hatte sich indes bald erschöpft, sie ließ den Kopf auf das
Rückenkissen des Lehnstuhls zurücksinken, richtete den Blick auf Rudin
und verstummte.

»Jetzt begreife ich,« begann langsam Rudin, »begreife ich es, weshalb
Sie jeden Sommer aufs Land reisen. Sie bedürfen dieser Erholung; die
ländliche Stille, nach dem Leben in der Hauptstadt, muß Sie erfrischen
und stärken. Ich bin überzeugt, Sie müssen ein tiefes Gefühl für die
Schönheiten der Natur haben.«

Darja Michailowna blickte Rudin von der Seite an.

»Die Natur … nun ja … ja, freilich … ich liebe sie außerordentlich;
wissen Sie aber, Dmitri Nikolajitsch, selbst auf dem Lande lebt sich’s
nicht ohne Menschen. Hier herum gibt’s aber keinen. Pigassow gilt hier
als der Geistreichste.«

»Der mürrische Graukopf von gestern?« fragte Rudin.

»Nun ja, derselbe. Auf dem Lande übrigens nimmt man ihn schon mit – er
heitert zuweilen auf.«

»Er hat Verstand,« erwiderte Rudin, »geht aber einen falschen Weg.
Ich weiß nicht, ob Sie mir recht geben werden, Darja Michailowna, es
liegt aber wirklich kein Segen in dem unbegrenzten und vollständigen
Verneinen. Verneinen Sie alles, und man wird Sie möglicherweise für
einen klugen Kopf halten: dieser Kunstgriff ist bekannt. Es werden
viele in ihrer Einfalt sogleich bereit sein, den Schluß zu ziehen,
Sie ständen höher als das, was Sie verneinen. Das ist aber oftmals
falsch. Erstens lassen sich in allem Flecken finden, zweitens, wenn
Sie auch recht hätten, bleiben Sie im Nachteil: Ihr Geist, fortwährend
und ausschließlich zur Verneinung gestimmt, verliert seine Kraft, er
stumpft ab. Indem Sie Ihre Selbstliebe befriedigen, rauben Sie sich den
wirklichen Genuß der Erkenntnis; das Leben – der innere Wert des Lebens
– entschlüpft Ihrem kleinlichen und erbitterten Beobachtungsgeiste
und Sie sinken zuletzt zu einem Zänker und Spaßmacher herab. Rügen,
schelten darf nur, wer liebt.«

»~Voilà Mr. Pigassoff enterré~,« sagte Darja Michailowna. »Sie
verstehen es aber meisterhaft, die Menschen zu schildern! Übrigens
würde Pigassow Sie wahrscheinlich nicht einmal begriffen haben. Liebt
er ja doch ausschließlich seine eigene Person.«

»Und er schilt dieselbe, um einen Vorwand zu haben, andere schelten zu
dürfen,« fiel Rudin ein.

Darja Michailowna lachte.

»Ja, ja, wie das Sprichwort sagt: vom kranken Kopf auf den Gesunden! –
A propos – was halten Sie von dem Baron?«

»Vom Baron? Er ist ein vortrefflicher Mensch, mit gutem Herzen und
erfahren … aber ohne Charakter … er wird sein ganzes Leben ein halber
Gelehrter, halber Weltmann, d. h. Dilettant bleiben, kurz gesagt, ein –
Nichts … Es ist aber schade um ihn!«

»Das ist auch meine Ansicht,« erwiderte Darja Michailowna. »Ich habe
seinen Aufsatz gelesen … ~Entre nous … cela a assez peu de fond.~«

»Wen haben Sie sonst noch in der Nähe?« fragte nach einigem Schweigen
Rudin.

Darja Michailowna strich mit dem kleinen Finger die Asche von ihrer
Zigarette.

»Weiter gibt es wohl niemand. Die Lipin, Alexandra Pawlowna, die
Sie gestern gesehen haben: sie ist allerliebst, und weiter nichts.
Ihr Bruder – ebenfalls ein vortrefflicher Mensch, ~un parfait
honnête homme~. Den Fürsten Garin kennen Sie. Das sind sie alle.
Es sind da noch zwei, drei Nachbarn, die sind aber ganz und gar
unbedeutend. Entweder Wichtigtuer – mit ungeheuren Prätensionen oder
menschenscheues, oft am unrichtigen Platze ungeniertes Volk. Mit den
Damen gehe ich nicht um, wie Sie wissen. Wir haben wohl noch einen
Nachbarn, einen sehr gebildeten, sogar gelehrten Mann, aber einen
schrecklichen Sonderling, einen Schwärmer. Alexandrine kennt ihn
und, wie es scheint, ist er ihr nicht gleichgültig … Sie sollten ihr
wirklich Aufmerksamkeit schenken, Dmitri Nikolaitsch: das ist ein
liebes Wesen; sie müßte nur etwas ausgebildet werden, ja sie muß es
durchaus werden.«

»Sie ist sehr anziehend,« bemerkte Rudin.

»Ein wahres Kind, Dmitri Nikolaitsch, eine wahre Unschuld. Sie ist
verheiratet gewesen, ~mais c’est tout comme~ … Wäre ich ein Mann, ich
würde mich nur in solche Weiber verlieben.«

»Wirklich?«

»Gewiß! Dergleichen Frauen sind zum mindesten frisch und die Frische
läßt sich nicht künstlich nachahmen.«

»Alles andere aber?« fragte Rudin mit Lachen, was selten bei ihm der
Fall war. Wenn er lachte, nahm sein Gesicht einen eigentümlichen, fast
greisenhaften Ausdruck an, die Augen zogen sich zusammen, er rümpfte
die Nase …

»Wer ist denn aber jener Sonderling, wie Sie sagen, der Frau Lipin
nicht gleichgültig wäre?« fragte er.

»Ein gewisser Leschnew, Michael Michailitsch, ein Gutsbesitzer aus
dieser Gegend.«

Rudin erstaunte und erhob den Kopf.

»Leschnew, Michael Michailitsch?« fragte er, »ist der denn Ihr Nachbar?«

»Ja. Sie kennen ihn also?«

Rudin schwieg.

»Ich habe ihn vormals gekannt … es ist schon lange her. Er ist reich,
wie man sagt?« fügte er hinzu, indem er an den Fransen des Lehnstuhles
zupfte.

»Ja, reich ist er, kleidet sich jedoch abscheulich und fährt auf einer
Reitdroschke gleich einem Dorfverwalter umher. Ich habe den Versuch
gemacht, ihn in mein Haus zu ziehen; er soll Verstand haben; dann stehe
ich auch gewissermaßen in Geschäftsverbindung mit ihm … Sie wissen
doch, daß ich mein Gut selbst verwalte?«

Rudin nickte mit dem Kopfe.

»Ja, selbst,« fuhr Darja Michailowna fort, »ich führe nichts von den
fremdländischen Albernheiten bei mir ein, halte mich an dem Meinigen,
dem Russischen, und Sie sehen, die Sache geht, denke ich, nicht
schlecht,« setzte sie hinzu, indem sie dabei mit der Hand einen Kreis
durch die Luft beschrieb.

»Ich bin immer der Überzeugung gewesen,« bemerkte Rudin verbindlich,
»daß diejenigen schreiendes Unrecht begehen, die den Frauen praktischen
Sinn absprechen.«

Darja Michailowna lächelte.

»Sie sind sehr nachsichtig,« sagte sie, »aber was wollte ich Ihnen doch
erzählen? Wovon sprachen wir denn? Ja! von Leschnew. Ich habe mit ihm
über Landvermessung zu verhandeln. Mehrmals schon habe ich ihn zu mir
eingeladen und erwarte ihn sogar heute; er kommt aber nie … ein wahrer
Sonderling.«

Der Vorhang an der Tür wurde behutsam zurückgezogen und der
Haushofmeister, ein hochgewachsener, grauer Mann mit einer Glatze, in
schwarzem Frack, weißer Halsbinde und weißer Weste, trat ein.

»Was willst du?« fragte Darja Michailowna und setzte mit einer leichten
Wendung zu Rudin halblaut hinzu: »~n’est ce pas, comme il ressemble à
Canning~?«

»Michael Michailitsch Leschnew ist angekommen,« meldete der Mann,
»befehlen Sie zu empfangen?«

»Ach, mein Gott!« rief Darja Michailowna, »er kommt wie gerufen. Bitte
ihn her!«

Der Haushofmeister ging hinaus.

»Der sonderbare Mensch, da wäre er endlich, und doch nicht zur rechten
Stunde; er unterbricht unser Gespräch.«

Rudin erhob sich von seinem Platze, Darja Michailowna hielt ihn aber
zurück.

»Wohin wollen Sie denn? Das läßt sich auch in Ihrer Gegenwart
besprechen, und dann wünsche ich, daß Sie mir sein Bild entwerfen, wie
das von Pigassow. Wenn Sie reden, ~vous gravez comme avec un burin~.
Bleiben Sie?«

Rudin wollte etwas einwenden, überlegte ein wenig und blieb.

Michael Michailowitsch, dem Leser bereits bekannt, trat ins Kabinett.
Er hatte denselben grauen Paletot an und hielt in den gebräunten Händen
dieselbe alte Mütze. Er grüßte gelassen Darja Michailowna und trat an
den Teetisch heran.

»Endlich sind Sie so gefällig gewesen, sich herzubemühen, Monsieur
Leschnew!« sagte Darja Michailowna. »Ich bitte, nehmen Sie Platz. Sie
sind miteinander bekannt, habe ich gehört,« fuhr sie fort, auf Rudin
deutend.

Leschnew blickte Rudin an und lächelte dabei sonderbar.

»Ich kenne Herrn Rudin,« sagte er mit einer kurzen Verbeugung.

»Wir sind zusammen auf der Universität gewesen,« bemerkte Rudin
halblaut und schlug den Blick zu Boden.

»Auch später sind wir miteinander zusammengetroffen,« sagte Leschnew
kalt.

Darja Michailowna blickte beide mit einigem Befremden an und bat
Leschnew, Platz zu nehmen. Er setzte sich.

»Sie hatten gewünscht, mich zu sehen,« begann er, »es betrifft die
Vermessung?«

»Ja, die Vermessung, doch habe ich auch überhaupt Sie zu sehen
gewünscht. Sind wir doch noch Nachbarn und auch wohl vielleicht
verwandt miteinander.«

»Sehr verbunden,« erwiderte Leschnew, »was nun die Vermessung betrifft,
so habe ich diese Angelegenheit bereits mit Ihrem Verwalter vollständig
zum Abschluß gebracht: ich gehe auf alle seine Vorschläge ein.«

»Das wußte ich.«

»Nur«, sagt er mir, »könnten ohne vorherige persönliche Zusammenkunft
mit Ihnen die Papiere nicht unterzeichnet werden.«

»Ja; so ist es nun einmal bei mir eingeführt. Darf ich wohl fragen, ob
die Bauern bei Ihnen zinspflichtig sind?«

»So ist es.«

»Und Sie selbst haben die Vermessung in Anregung gebracht? Das ist
lobenswert.«

Leschnew schwieg einen Augenblick.

»Da bin ich denn der persönlichen Zusammenkunft wegen hergekommen,«
sagte er.

Darja Michailowna lächelte.

»Ich sehe, daß Sie gekommen sind. Sie sagen das in solch besonderem
Tone … Gewiß hatten Sie sehr wenig Lust, zu mir zu kommen.«

»Ich besuche niemand,« erwiderte Leschnew phlegmatisch.

»Niemand? Sie besuchen aber doch Alexandra Pawlowna?«

»Ich bin ein alter Bekannter ihres Bruders.«

»Ihres Bruders! Übrigens, ich lege niemandem Zwang auf … Indessen,
Sie werden vergeben, Michael Michailitsch, ich bin älter als Sie
an Jahren und darf Sie ein wenig schelten: wie können Sie an einem
so zurückgezogenen Leben Vergnügen finden? Oder ist es _mein_ Haus
vielleicht, das Ihnen nicht gefällt? oder vielleicht gefalle _ich_
Ihnen nicht?«

»Ich kenne Sie nicht, Darja Michailowna, und deshalb können Sie mir
auch nicht mißfallen. Ihr Haus ist sehr schön; ich muß Ihnen aber offen
gestehen, ich tue mir nicht gern Zwang an. Ich habe nicht einmal einen
gehörigen Frack, keine Handschuhe; zudem passe ich auch nicht in Ihren
Kreis.«

»Der Geburt, der Erziehung nach gehören Sie demselben an, Michael
Michailitsch! ~vous êtes des nôtres~.«

»Wir wollen Geburt und Erziehung beiseite lassen, Darja Michailowna!
Nicht darauf kommt es an …«

»Der Mensch soll unter Menschen leben, Michael Michailitsch! Was hat
man davon, wie Diogenes in der Tonne zu sitzen?«

»Erstens fühlte sich Diogenes sehr wohl dabei; zweitens, weshalb
glauben Sie, daß ich nicht unter Menschen lebe?«

Darja Michailowna biß sich in die Lippen.

»Das ist eine andere Sache! Mir bleibt also nur zu bedauern, daß ich
mich zu denen nicht zählen darf, die Sie Ihrer Bekanntschaft würdigen.«

»Monsieur Leschnew«, mischte sich Rudin ein, »treibt zu weit, wie mich
dünkt, ein sonst sehr lobenswertes Gefühl – die Liebe zur Freiheit.«

Leschnew erwiderte nichts und blickte Rudin nur an. Ein kurzes
Schweigen trat ein.

»Und somit«, sagte Leschnew, sich erhebend, »darf ich unsere
Angelegenheit als erledigt betrachten und Ihren Verwalter bedeuten, daß
er mir die Papiere zur Unterschrift zustelle?«

»Sie können es … obgleich Sie, ich gestehe es, so wenig liebenswürdig
sind … daß ich es Ihnen abschlagen sollte.«

»Aber diese Vermessung bringt Ihnen ja mehr Vorteil als mir.«

Darja Michailowna zuckte die Achseln.

»Und Sie wollen nicht einmal das Frühstück bei mir einnehmen?« fragte
sie.

»Danke Ihnen gehorsamst; ich frühstücke niemals, und dann muß ich auch
bald nach Hause.«

Darja Michailowna erhob sich.

»Ich will Sie nicht aufhalten,« sagte sie, ans Fenster tretend, »ich
darf Sie nicht aufhalten.«

Leschnew verabschiedete sich.

»Adieu, Monsieur Leschnew! Verzeihen Sie, daß ich Sie belästigt habe.«

»Oh, ich bitte, hat nichts zu sagen,« erwiderte Leschnew und ging
hinaus.

»Wie gefällt er Ihnen?« fragte Darja Michailowna Rudin. »Ich hatte wohl
von ihm gehört, er sei ein sonderbarer Mensch; dies übersteigt aber
doch alles!«

»Er leidet an demselben Übel wie Pigassow,« erwiderte Rudin, »dem
Verlangen, originell zu erscheinen. Jener spielt den Mephistopheles,
dieser den Zyniker. In allem dem steckt viel Egoismus, viel Selbstsucht
und wenig Wahrheit, wenig Liebe. Das ist ja auch eine Berechnung in
ihrer Art: es bindet sich einer die Larve der Gleichgültigkeit und der
Nachlässigkeit vor, da muß denn gleich, denkt er, ein jeder auf den
Gedanken kommen, daß der Mensch auf unverantwortliche Weise sein Licht
unter den Scheffel stellt! Aber näher betrachtet, ist gar kein Licht
vorhanden!«

»~Et de deux!~« äußerte Darja Michailowna. »Sie sind furchtbar in der
Charakterschilderung. Ihnen entgeht man nicht.«

»Glauben Sie?« sagte Rudin … »Übrigens,« fuhr er fort, »ich sollte
eigentlich nicht von Leschnew sprechen: ich habe ihn geliebt,
geliebt wie einen Freund … nachher aber, infolge verschiedener
Mißverständnisse …«

»Haben Sie sich entzweit?«

»Das nicht. Wir haben uns getrennt, und, wie mir scheint, für immer
getrennt.«

»Das war es! Darum war Ihnen auch während seines Hierseins, wie
mir deuchte, nicht wohl zumute … Ich bin Ihnen aber doch sehr für
den heutigen Morgen verbunden. Ich habe die Zeit überaus angenehm
verbracht. Aber – alles mit Maß! Ich gebe Ihnen Urlaub bis zum
Frühstück, und will jetzt auch selbst an meine Geschäfte gehen. Mein
Sekretär, Sie haben ihn gesehen – ~Constantin, c’est lui qui est
mon secrétaire~ – wartet gewiß schon auf mich. Ich empfehle Ihnen
denselben: ein herrlicher, überaus dienstfertiger junger Mann und ganz
entzückt von Ihnen. Auf Wiedersehen, ~cher~ Dmitri Nikolaitsch. Wie
bin ich dem Baron zu Dank verpflichtet, daß er mir Ihre Bekanntschaft
verschafft hat!«

Und Darja Michailowna reichte Rudin die Hand. Er drückte sie zuerst,
führte sie dann an die Lippen und begab sich in den Saal und von da auf
die Terrasse, wo er Natalia traf.




V


Darja Michailownas Tochter, Natalia Alexejewna, konnte auf den ersten
Blick nicht gefallen. Sie war noch nicht vollständig ausgebildet,
mager, von bräunlicher Gesichtsfarbe und hielt sich etwas gebückt.
Die Züge ihres Gesichtes jedoch waren edel und regelmäßig, obgleich
etwas breit für ein siebzehnjähriges Mädchen. Besonders schön trat
ihre reine und glatte Stirn über den leicht geknickten Augenbrauen
hervor. Sie sprach wenig, aber hörte und schaute mit Aufmerksamkeit,
fast unverwandten Blickes, als wollte sie sich über alles Rechenschaft
geben. Sie war oft unbeweglich, in Gedanken versunken, und ließ die
Arme herabhängen; es zeigte dann ihr Gesicht den Ausdruck innerer
Gedankentätigkeit … Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen
und verschwand wieder; die großen dunklen Augen hoben sich sanft …
~Qu’avez vous?~ pflegte sie dann Mlle. Boncourt zu fragen und ihr
vorzuhalten, daß es sich für ein junges Mädchen nicht schicke, den
Kopf hängen zu lassen und zerstreut auszusehen. Natalia war aber nicht
zerstreut: im Gegenteil, sie lernte fleißig, las und arbeitete gern.
Sie fühlte tief und stark, aber im stillen; schon als Kind hatte sie
selten geweint, jetzt seufzte sie sogar selten und wurde nur bleich,
wenn etwas sie betrübte. Die Mutter sah in ihr ein wohlgesittetes,
vernünftiges Mädchen, nannte sie scherzweise: ~mon honnête homme de
fille~, hatte jedoch keine hohe Meinung von ihren Geistesfähigkeiten.
»Meine Natascha ist kalt von Natur,« pflegte sie zu sagen, »nicht
wie ich … um so besser. Sie wird glücklich sein.« Darja Michailowna
täuschte sich. Übrigens nicht jede Mutter kennt ihre Tochter.

Natalia liebte ihre Mutter, hatte aber kein volles Vertrauen zu ihr.

»Du hast nichts vor mir zu verbergen,« sagte einmal Darja Michailowna
zu ihr, »sonst würdest du wohl ein wenig geheimtun, denn du hast deinen
Kopf für dich.«

Natalia blickte ihrer Mutter ins Gesicht und dachte: und warum sollte
ich nicht meinen Kopf für mich haben?

Als Rudin sie auf der Terrasse traf, schritt sie eben mit Mlle.
Boncourt ins Zimmer, um ihren Hut aufzusetzen und in den Garten zu
gehen. Ihre Morgenbeschäftigungen waren bereits beendigt. Man hatte
aufgehört, Natalia als Kind zu behandeln, Mlle. Boncourt gab ihr
schon lange keinen Unterricht mehr in der Mythologie und Geographie;
doch mußte Natalia jeden Morgen – in ihrer Gegenwart – historische
Bücher, Reisebeschreibungen und andere erbauliche Schriften lesen.
Darja Michailowna traf die Auswahl, scheinbar einem ihr eigenen
System folgend, in der Tat aber gab sie Natalia alles, was ihr ein
französischer Buchhändler aus Petersburg zuschickte, ausgenommen
natürlich Romane von Alexander Dumas Sohn und Comp. Diese Romane
las Darja Michailowna selbst. Mlle. Boncourt pflegte ganz besonders
streng und sauer Natalia über ihre Brille anzuschauen, wenn letztere
historische Bücher las: nach den Begriffen der alten Französin war die
ganze Geschichte voll unerlaubter Dinge, obgleich sie von den berühmten
Männern des Altertums, Gott weiß warum, nur einzig und allein den
Kambyses kannte, und aus neuerer Zeit – Ludwig den XIV. und Napoleon,
den sie nicht leiden konnte. Natalia las aber auch solche Bücher, deren
Dasein Mlle. Boncourt nicht ahnte: sie kannte den ganzen Puschkin
auswendig.

Natalia errötete etwas, als sie mit Rudin zusammentraf.

»Sie wollen spazierengehen?« fragte er sie.

»Ja. Wir gehen in den Garten.«

»Darf ich mich Ihnen anschließen?«

Natalia sah Mlle. Boncourt an.

»~Mais certainement, monsieur, avec plaisir~,« rief eilig die alte
Jungfer.

Rudin nahm seinen Hut und folgte ihnen.

Anfangs machte es Natalia etwas verlegen, an Rudins Seite auf demselben
Gartenwege zu wandeln; bald aber wurde es ihr leichter. Er richtete
an sie Fragen über ihre Beschäftigungen, und auch darüber, wie ihr
das Leben auf dem Lande gefalle. Sie antwortete ihm nicht ohne
Schüchternheit, aber ohne jene sich überstürzende Befangenheit, die so
oft für Schamhaftigkeit gehalten wird. Es klopfte ihr das Herz.

»Sie fühlen auf dem Lande keine Langeweile?« fragte Rudin, sie mit
einem Seitenblick streifend.

»Wie kann man auf dem Lande Langeweile empfinden? Ich bin sehr froh,
daß wir hier sind. Ich bin hier sehr glücklich.«

»Sie sind glücklich … Das ist ein großes Wort. Übrigens ist es
begreiflich: Sie sind jung.«

Rudin betonte dies letzte Wort in eigentümlicher Weise: es war wie eine
Anwandlung von Neid und Beileid, die ihn überkam.

»Ja! die Jugend!« setzte er hinzu. »Das Bestreben der Wissenschaft ist
– mit Bewußtsein das zu erringen, was die Jugend von selbst hat.«

Natalia blickte Rudin aufmerksam an: sie hatte ihn nicht verstanden.

»Ich habe mich heute den ganzen Morgen mit Ihrer Mama unterhalten,«
fuhr er fort, »eine außergewöhnliche Frau. Ich begreife, weshalb alle
unsere Poeten so großen Wert auf ihre Freundschaft legten. Lieben Sie
auch Gedichte?« setzte er nach einigem Schweigen hinzu.

Er examiniert mich, dachte Natalia und sagte: »Ja, ich liebe sie sehr.«

»Die Poesie ist die Sprache der Götter. Ich selbst liebe Gedichte. Doch
nicht in Gedichten allein liegt Poesie: sie ist überall, sie umfängt
uns … Sehen Sie diese Bäume, diesen Himmel an – von allen Seiten strömt
Schönheit und Leben hervor; wo aber Schönheit und Leben, da ist auch
Poesie.«

»Wollen wir nicht auf der Bank hier Platz nehmen,« fuhr er fort. »So.
Mir scheint, ich kann mir nicht erklären warum, daß, sobald Sie sich
ein wenig an mich werden gewöhnt haben (er blickte ihr hierbei lächelnd
in die Augen), wir gute Freunde sein werden. Was meinen Sie?«

Er behandelt mich wie ein kleines Mädchen, dachte Natalia wieder, und
ungewiß, was sie dazu sagen sollte, fragte sie ihn, ob er noch lange
auf dem Lande zu bleiben beabsichtige.

»Den ganzen Sommer, den Herbst und vielleicht auch den Winter. Ich bin,
wie Sie wohl wissen, wenig begütert; meine Verhältnisse sind zerrüttet,
und dann habe ich es auch schon satt, von einem Ort zum andern zu
ziehen. Es ist Zeit, daß ich mir Ruhe gönne.«

Natalia sah ihn erstaunt an.

»Sie finden wirklich, daß es _für Sie_ Zeit sei auszuruhen?« fragte sie
schüchtern.

Rudin wandte sein Gesicht ihr zu.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will sagen,« erwiderte sie mit einiger Verwirrung, »daß andere
sich wohl Ruhe gönnen dürfen; Sie aber … Sie müssen arbeiten, müssen
sich bestreben, Nutzen zu schaffen. Wer denn wohl, wenn nicht Sie …«

»Ich danke für die schmeichelhafte Meinung,« unterbrach sie Rudin.
»Nutzen schaffen … das ist leicht gesagt! (Er fuhr mit der Hand über
sein Gesicht.) Nutzen schaffen!« wiederholte er. »Wenn ich auch die
feste Überzeugung hätte: auf welche Art ich Nutzen bringen könnte –
ja, wenn ich sogar Vertrauen in meine eigene Kraft hätte – wo fände ich
wohl lautere, mitfühlende Seelen? …«

Und Rudin ließ mit so hoffnungsloser Miene die Hand fallen und senkte
so betrübt den Kopf, daß Natalia unwillkürlich die Frage an sich
stellte: ob sie denn wohl aus _seinem_ Munde tags zuvor so begeisterte,
Hoffnung sprühende Reden gehört habe?

»Doch nein,« setzte er hinzu, und schüttelte ungestüm seine Löwenmähne,
»Unsinn das, Sie haben recht. Ich danke Ihnen, Natalia Alexejewna,
danke Ihnen von Herzen. (Natalia wußte entschieden nicht, wofür er ihr
dankte.) Ein Wort von Ihnen hat mich an meine Pflicht erinnert, hat mir
meine Bahn vorgezeichnet … Ja, ich muß handeln. Ich darf mein Talent,
wenn ich es wirklich besitze, nicht verbergen; ich darf meine Kräfte
nicht in Geschwätz, in leerem, nichtsnutzigem Geschwätz und eitlem
Gerede vergeuden …«

       *       *       *       *       *

Und es ergoß sich seine Rede wie ein Strom. Er sprach schön,
begeistert, hinreißend – über Kleinmütigkeit und Trägheit, über
die Notwendigkeit, Taten zu vollbringen. Er machte sich selbst
Vorwürfe, bewies, daß sich über das, was man leisten wolle, im voraus
auszulassen, ebenso nachteilig wäre, wie wenn man eine reifende Frucht
mit einer Nadel anstechen wollte, das sei nur nutzlose Vergeudung der
Kräfte und Säfte. Er behauptete, es gäbe keinen edleren Gedanken, der
nicht Anklang fände, daß nur jene Menschen unverstanden blieben, die
entweder selbst noch nicht wüßten, was sie wollen, oder solche, die
nicht wert seien, verstanden zu werden. Er sprach lange und schloß
seine Rede damit, daß er Natalia nochmals dankte und ganz unerwartet,
ihr die Hand drückend, sagte: »Sie sind ein herrliches, edles Wesen!«

Diese Freiheit setzte Mlle. Boncourt in Erstaunen, die, trotz ihres
vierzigjährigen Aufenthaltes in Rußland, mit Mühe das Russische
verstand und nur die anmutige Schnelligkeit und das Fließende in der
Rede Rudins bewunderte. Er galt überhaupt in ihren Augen als eine Art
Virtuos oder Künstler, und an Leute dieses Schlages durften keine
Schicklichkeitsforderungen gestellt werden.

Sie erhob sich von ihrem Platze und ihr Kleid hastig zurechtklopfend,
machte sie Natalia darauf aufmerksam, daß es Zeit sei heimzukehren,
um so mehr, da ~monsieur Volinsoff~ (so nannte sie Wolinzow) sich zum
Frühstück habe einfinden wollen.

»Da ist er bereits!« fügte sie mit einem Blicke nach einer der Alleen,
die zum Hause führten, hinzu.

Und wirklich zeigte sich Wolinzow in einiger Entfernung.

Mit unentschlossenen Schritten trat er näher, begrüßte alle schon
von weitem und, mit leidendem Ausdruck im Gesichte, sich zu Natalia
wendend, fragte er:

»Ah! Sie gehen spazieren?«

»Ja,« antwortete Natalia, »wir waren im Begriff, nach Hause
zurückzukehren.«

»Ah!« sprach Wolinzow. »Nun, so wollen wir gehen.«

Und alle machten sich nach dem Hause auf.

»Wie ist das Befinden Ihrer Schwester?« fragte Rudin mit besonders
teilnehmender Stimme Wolinzow. Auch am Abend vorher war er sehr
freundlich gegen ihn gewesen.

»Ich danke recht sehr. Sie befindet sich wohl. Sie wird vielleicht
heute kommen … Sie unterhielten sich vorhin, wie mir schien, als ich
herkam?«

»Ja, wir unterhielten uns. Natalia Alexejewna hat ein Wort fallen
lassen, das eine gewaltige Wirkung auf mich hervorgebracht hat …«

Wolinzow fragte nicht, was für ein Wort das gewesen sei, und in tiefem
Schweigen erreichten alle das Haus der Darja Michailowna.

       *       *       *       *       *

Vor dem Essen fand sich die Gesellschaft wieder im Salon ein. Pigassow
jedoch erschien nicht. Rudin war nicht aufgelegt; er bat fortwährend
Pandalewski, aus Beethoven vorzuspielen. Wolinzow schwieg und schaute
vor sich hin. Natalia blieb der Mutter immer zur Seite und war bald
in Gedanken versunken, bald mit ihrer Arbeit beschäftigt. Bassistow
verwandte die Augen nicht von Rudin, immer in der Erwartung, er werde
etwas Kluges vorbringen. So vergingen ziemlich einförmig drei Stunden.
Alexandra Pawlowna kam nicht zu Mittag – und Wolinzow ließ gleich nach
beendigter Tafel seine Kalesche anspannen und fuhr davon, ohne von
jemand Abschied genommen zu haben.

Er fühlte sich beklommen. Schon lange liebte er Natalia, hatte es aber
noch nicht gewagt, ihr seine Neigung zu gestehen, und unter diesem
ängstlichen Zustande litt er aufs grausamste … Sie sah ihn gerne –
doch blieb ihr Herz ruhig: darüber täuschte er sich nicht. Er hatte
auch nicht gehofft, ihr zärtliche Gefühle einzuflößen und erwartete
nur, sie werde mit der Zeit, wenn sie sich vollkommen an ihn gewöhnt
haben würde, ihm näherstehen. Was konnte ihn denn beunruhigen? Was für
eine Veränderung hatte er in diesen paar Tagen wahrgenommen? Natalias
Benehmen gegen ihn war ganz so wie vorher …

War es die Befürchtung: er kenne Natalias Charakter nicht, sie sei ihm
fremder, als er geglaubt habe – war’s Eifersucht, die in ihm erwacht
war, oder hatte er eine dunkle Ahnung von etwas Schlimmem … genug, er
litt, so sehr er sich auch zu beherrschen suchte.

Als er bei seiner Schwester eintrat, saß Leschnew bei ihr.

»Warum so früh zurückgekehrt?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Ich weiß es selbst nicht! Ich langweilte mich.«

»War Rudin da?«

»Er war da.«

Wolinzow warf seine Mütze hin und setzte sich.

Alexandra Pawlowna wandte sich mit Lebhaftigkeit zu ihm.

»Ich bitte dich, Sergei, hilf mir, diesem starrsinnigen Menschen da«
– sie wies dabei auf Leschnew – »begreiflich zu machen, daß Rudin
ungewöhnlich klug und beredt ist.«

Wolinzow brummte etwas in den Bart.

»Ich widerstreite Ihnen durchaus nicht,« begann Leschnew, »ich zweifle
nicht an Rudins Geist und Beredsamkeit; ich sage bloß, daß er mir nicht
gefällt.«

»Hast du ihn denn gesehen?« fragte Wolinzow.

»Ich habe ihn heute morgen bei Darja Michailowna gesehen. Er ist
ja jetzt ihr Großwesir. Es wird die Zeit kommen, wo sie auch ihn
verabschiedet – von Pandalewski allein wird sie sich niemals trennen –,
jetzt aber herrscht jener. Jawohl, ich habe ihn gesehen! Er saß da –
und sie zeigte mich ihm: da schauen Sie einmal, mein Bester, was für
sonderbare Kerle wir hier haben. Ich bin kein Zuchtpferd – bin es nicht
gewohnt, vorgeführt zu werden. Da bin ich ohne Umstände davongefahren.«

»Warum warst du denn aber bei ihr?«

»Wegen einer Vermessung; aber das ist nur ein Vorwand: sie wollte sich
ganz einfach meine Physiognomie besehen. Eine große Dame – wir kennen
das!«

»Seine Überlegenheit ist Ihnen störend – das ist es!« sagte mit Feuer
Alexandra Pawlowna, »das ist es, was Sie ihm nicht vergeben können.
Ich aber bin überzeugt, daß er nicht nur Verstand, sondern auch ein
vortreffliches Herz hat. Betrachten Sie nur seine Augen, wenn er …«

»Von hoher Tugend spricht …«[3], setzte Leschnew hinzu.

»Sie werden mich böse machen und zum Weinen bringen. Es tut mir in der
Seele leid, daß ich bei Ihnen geblieben und nicht zu Darja Michailowna
gefahren bin. Sie waren es nicht wert. Hören Sie auf, mich zu reizen,«
setzte sie mit weinerlicher Stimme hinzu. »Es wird besser sein, Sie
erzählen mir etwas aus seinen Jugendjahren.«

»Aus Rudins Jugendjahren?«

»Ja doch. Sie sagten mir ja, Sie kennten ihn gut und seien schon lange
mit ihm bekannt.«

Leschnew erhob sich und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ja,« begann er, »ich kenne ihn gut. Sie wollen, daß ich Ihnen
seine Jugend erzähle? Wohlan! Er ist in T. geboren, eines armen
Gutsbesitzers Kind. Sein Vater starb früh und er blieb mit der Mutter
allein. Sie war eine herzensgute Frau und liebte ihn über alles; sie
lebte sehr sparsam, und das wenige Geld, was sie hatte, gab sie für ihn
aus. Seine Erziehung hat er in Moskau erhalten, anfänglich auf Kosten
eines Oheims, dann aber, als er aufgewachsen und flügge geworden war,
auf Rechnung eines reichen Fürstensöhnchens, den er ausgewittert hatte
… schon gut, verzeihen Sie, ich werde nicht mehr … mit welchem er sich
befreundet hatte. Dann bezog er die Universität. Dort wurde ich mit ihm
bekannt und sehr intim. Von unserem damaligen Leben erzähle ich Ihnen
ein anderes Mal. Jetzt geht es nicht. Dann reiste er ins Ausland …«

Leschnew ging noch immer im Zimmer auf und ab; Alexandra Pawlowna
folgte ihm mit den Blicken.

»Aus dem Auslande«, fuhr er fort, »schrieb Rudin seiner Mutter äußerst
selten und hat sie nur einmal besucht, auf zehn Tage … Die Alte starb
auch in seiner Abwesenheit in fremden Armen, hat aber bis zu ihrem
Todesstündchen nicht das Auge von seinem Bildnisse verwandt. Als ich in
T. lebte, besuchte ich sie. Sie war eine gute, überaus gastfreie Frau
und pflegte mir immer eingemachte Kirschen vorzusetzen. Ihren Mitja
liebte sie unsäglich. Die Herren aus der Petschorinschen Schule[4]
werden Ihnen sagen, daß wir immer diejenigen lieben, die selbst wenig
fähig sind, Liebe zu fühlen; mir aber scheint es, daß alle Mütter ihre
Kinder lieben, besonders die fern von ihnen Weilenden. Später traf ich
mit Rudin im Auslande zusammen. Dort hatte ihn eine Dame, eine unserer
russischen Damen, an sich gezogen, ein Blaustrumpf, weder jung noch
hübsch, wie sich’s auch für einen Blaustrumpf schickt. Ziemlich lange
schleppte er sich mit ihr umher und ließ sie dann im Stich … doch nein,
entschuldigen Sie: sie ließ ihn im Stiche. Und auch ich verließ ihn zu
jener Zeit. Das ist alles.«

Leschnew schwieg, strich mit der Hand über die Stirn und ließ sich wie
erschöpft auf einen Lehnstuhl nieder.

»Wissen Sie aber wohl, Michael Michailitsch,« begann Alexandra
Pawlowna, »Sie sind, wie ich sehe, ein boshafter Mensch; wahrhaftig,
Sie sind nicht besser als Pigassow. Ich bin überzeugt, daß alles, was
Sie gesagt haben, wahr ist, daß Sie nichts hinzugedichtet haben, und
dennoch, in welch mißgünstigem Lichte haben Sie das alles dargestellt!
Die alte Frau, ihre Mutterliebe, ihr einsamer Tod, jene Dame … Wozu
alles das? … Wissen Sie wohl, man kann das Leben des allerbesten
Menschen mit solchen Farben schildern – ohne etwas hinzuzufügen,
wohl verstanden –, daß sich jeder davor entsetzen wird! Das ist auch
Verleumdung in ihrer Art!«

Leschnew erhob sich und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich hatte durchaus nicht die Absicht, Ihnen Entsetzen einzuflößen,
Alexandra Pawlowna,« brachte er endlich heraus. »Ich bin kein
Verleumder. Übrigens«, setzte er nach einigem Schweigen hinzu, »in
dem, was Sie gesagt haben, ist ein Teil Wahrheit. Ich habe Rudin nicht
verleumdet; doch – wer weiß! – vielleicht hat er sich seit jener Zeit
verändert – vielleicht bin ich ungerecht gegen ihn.«

»Da haben Sie es! … Versprechen Sie mir also, daß Sie die Bekanntschaft
mit ihm erneuern, ihn gehörig ergründen und mir dann erst Ihre
schließliche Meinung über ihn sagen wollen.«

»Wenn Sie es wünschen … Warum schweigst du aber, Sergei Pawlitsch?«

Wolinzow fuhr zusammen und erhob den Kopf, als hätte man ihn aus dem
Schlafe gerüttelt.

»Was sollte ich sagen? Ich kenne ihn nicht. Übrigens habe ich heute
Kopfweh.«

»Du bist wirklich etwas bleich,« bemerkte Alexandra Pawlowna.

»Ich habe Kopfweh,« wiederholte Wolinzow und verließ das Zimmer.

Alexandra Pawlowna und Leschnew sahen ihm nach und tauschten einen
Blick miteinander, doch ohne ein Wort zu sprechen. Weder ihm noch ihr
war es ein Geheimnis, was im Herzen Wolinzows vorging.




VI


Über zwei Monate waren vergangen. Während dieser ganzen Zeit war Rudin
fast nicht aus Darja Michailownas Hause gekommen. Sie konnte ihn nicht
mehr entbehren. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, ihm von sich zu
erzählen und sich von ihm erzählen zu lassen. Einmal hatte er abreisen
wollen, unter dem Vorwande, seine Geldmittel seien erschöpft – sie gab
ihm fünfhundert Rubel, was ihn nicht hinderte, weitere zweihundert
von Wolinzow zu borgen. Pigassow besuchte Darja Michailowna bedeutend
seltener als vorher: Rudin übte durch seine Gegenwart auf ihn einen
Druck aus, den übrigens Pigassow nicht allein empfand.

»Ich mag ihn nicht, diesen eingebildeten Menschen,« pflegte er zu
sagen, »seine Ausdrucksweise ist unnatürlich, ganz so wie bei den
Helden in russischen Romanen. Mit einem: Ich! fängt er an, hält dann
wie gerührt inne … Ich, also, ich … Und er zieht die Worte so lang.
Habt ihr geniest, so wird er euch sogleich auseinandersetzen, warum
Ihr geniest und nicht gehustet habt … lobt er euch, so klingt es, als
befördere er euch zu einer höheren Rangstufe … fängt er aber an, sich
selbst zu schelten, dann zieht er sich geradezu in den Schmutz herab –
nun, denkt ihr, der darf sich jetzt nicht mehr bei Tageslicht zeigen!
Nichts davon! Noch heiterer stimmt es ihn, so daß man glauben könnte,
jene bitteren Worte hätten ihm nur zu Erfrischung und Kräftigung
gedient, wie ein Schluck bitteren Schnapses!« Pandalewski empfand eine
gewisse Scheu vor Rudin und machte ihm mit einiger Vorsicht den Hof.
Wolinzows Stellung, Rudin gegenüber, war eigentümlicher Art. Dieser
nannte ihn einen Ritter und rühmte ihn, er mochte zugegen sein oder
nicht, über die Maßen; Wolinzow aber konnte ihn nicht liebgewinnen, und
seine schmeichelhaftesten Komplimente erzeugten in ihm unwillkürlich
Ungeduld und Ärger. ›Er macht sich wohl gar über mich lustig!‹ dachte
er, und eine feindselige Stimmung überschlich ihn dann. Wolinzow
versuchte Herr über sich zu werden; es ging nicht: die Eifersucht nagte
heimlich an ihm. Aber auch Rudin, der Wolinzow stets geräuschvoll
entgegenkam, ihn einen Ritter nannte und Geld bei ihm borgte, fühlte
sich nichts weniger als zu ihm hingezogen. Es wäre nicht leicht zu
bestimmen gewesen, was in beiden Männern vorging, wenn sie einander
freundschaftlich die Hände drückten und ihre Blicke sich begegneten …

Bassistow fuhr fort, vor Rudin die äußerste Hochachtung zu empfinden
und jedes seiner Worte im Fluge zu haschen. Dieser aber beachtete ihn
wenig. Einmal brachte er mit ihm einen ganzen Morgen zu, unterhielt
sich von den wichtigsten Weltfragen und Weltaufgaben und erregte in
ihm das lebhafteste Entzücken, nachher beachtete er ihn nicht mehr
… Es war demnach nur eitles Gerede gewesen, wenn er nach reinen und
ergebenen Seelen Verlangen geäußert hatte. Mit Leschnew, der mit seinen
Besuchen bei Darja Michailowna begonnen hatte, ließ Rudin sich niemals
in einen Wortstreit ein, ja er schien ihm auszuweichen. Leschnew
seinerseits behandelte ihn gleichfalls kalt, ließ aber immer noch nicht
seine letzte Meinung über ihn laut werden, was Alexandra Pawlowna sehr
unangenehm berührte. Sie beugte sich vor Rudin – zu Leschnew aber
hatte sie Vertrauen. Alle im Hause Darja Michailownas unterwarfen sich
den Launen Rudins: seinen geringsten Wünschen wurde nachgekommen. Die
Verteilung der täglichen Beschäftigungen hing von ihm ab. Nicht eine
einzige ~partie de plaisir~ konnte ohne ihn zustande kommen. Alle
unerwarteten Ausflüge und Überraschungen waren übrigens nicht sehr nach
seinem Geschmack, und er nahm teil daran wie Erwachsene am Spiel der
Kinder, mit freundlicher und etwas gelangweilter Miene. Dagegen mischte
er sich in alles: räsonierte mit Darja Michailowna über Gutsverwaltung,
Kindererziehung, Wirtschafts- und Geschäftsangelegenheiten überhaupt;
hörte ihre Pläne an, schätzte auch Unwichtiges nicht zu gering und
schlug Verbesserungen und Neuerungen vor. Darja Michailowna war
entzückt darüber – doch dabei blieb es. Bezüglich der Gutsverwaltung
folgte sie den Ratschlägen ihres Verwalters, eines ältlichen,
einäugigen Kleinrussen, eines gutmütigen, doch listigen Schelmes.
– »Das Alte ist fett, das Neue ist hager,« pflegte er zu sagen und
schmunzelte und blinzelte dabei wohlgefällig.

Außer mit Darja Michailowna hatte Rudin mit niemandem so häufige und
lange Unterredungen wie mit Natalia. Er steckte ihr insgeheim Bücher
zu, vertraute ihr seine Pläne und las ihr die ersten Seiten künftiger
Aufsätze und Werke vor. Das Verständnis dafür fehlte ihr oft, doch
daran lag Rudin anscheinend wenig, wenn sie ihn nur anhörte. Dieses
nahe Verhältnis zu Natalia war Darja Michailowna nicht ganz unangenehm.
Mag sie immerhin – dachte sie – mit ihm hier auf dem Lande schwatzen.
Er findet Gefallen an ihr, wie an einem kleinen Mädchen. Gefahr ist
nicht dabei, und jedenfalls lernt sie von ihm … In Petersburg will ich
das alles anders einrichten.

Darja Michailowna täuschte sich. Nicht wie ein kleines Mädchen
schwatzte Natalia mit Rudin: sie lauschte gierig seinen Worten, bemühte
sich, in den Sinn derselben einzudringen und unterwarf seinem Urteile
ihre Gedanken, ihre Zweifel; er war ihr Erzieher, ihr Führer. Fürs
erste kochte es bei ihr nur im Kopfe … in einem jungen Kopfe kocht es
aber nicht lange, ohne daß das Herz auch ein Wort mitredet. Was für
wonnevolle Minuten verbrachte Natalia, wenn, wie es oft vorkam, Rudin
im Garten auf einer Bank, im leichten und lichten Schatten einer
Esche, anfing ihr Goethes Faust, Hoffmann, die Briefe Bettinas oder
Novalis vorzulesen, und er sich dabei beständig unterbrach, um ihr
zu erläutern, was ihr dunkel schien! Sie sprach das Deutsche nicht
gut, wie fast alle unsere jungen Damen, verstand es aber vollkommen,
und Rudin war ganz in deutscher Poesie, deutscher Romantik und
deutscher Philosophie versunken und zog Natalia nach sich in jene
höheren Regionen. Eine unbekannte, erhabene Welt enthüllte sich dem
aufmerksamen Blicke des jungen Mädchens. Von den Seiten des Buches, das
Rudin in der Hand hielt, strömten gleich einer Flut entzückender Musik
wunderbare Bilder, neue, lichte Gedanken unaufhörlich in ihre Seele
über, und in ihrem Herzen, das von edler Freude hoher Empfindungen
erschüttert worden, erglimmte und entbrannte sanft der heilige Funken
der Entzückung …

       *       *       *       *       *

»Sagen Sie doch, Dmitri Nikolaitsch,« redete sie ihn einst an, als sie
vor ihrem Stickrahmen am Fenster saß, »Sie werden für den Winter wohl
nach Petersburg fahren?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Rudin, das Buch, in welchem er
herumblätterte, auf die Knie sinken lassend, »wenn ich die Mittel dazu
auftreibe, fahre ich hin.«

Er sprach träge: er fühlte sich ermattet und war den ganzen Morgen über
müßig gewesen.

»Wie sollten Sie die nicht finden?«

Rudin schüttelte den Kopf.

»Ihnen deucht es so!«

Und er warf einen bedeutsamen Seitenblick auf sie.

Natalia wollte etwas sagen, hielt jedoch inne.

»Sehen Sie,« begann Rudin und wies mit der Hand nach dem Fenster,
»sehen Sie jenen Apfelbaum: er ist gebrochen unter der Last und Fülle
seiner Früchte. Ein treues Sinnbild des Genies …«

»Er ist gebrochen, weil er keine Stütze gehabt hat,« erwiderte Natalia.

»Ich verstehe Sie, Natalia Alexejewna; es ist aber für den Menschen
nicht so ganz leicht, sie zu finden, diese Stütze.«

»Mir scheint, das Mitgefühl anderer … Einsamkeit aber muß jedenfalls …«

Natalia verwirrte sich ein wenig und wurde rot.

»Und was wollen Sie im Winter auf dem Lande anfangen?« setzte sie rasch
hinzu.

»Was ich anfangen werde? Ich werde meine große Abhandlung beendigen
– Sie wissen – vom Tragischen im Leben und in der Kunst – ich setzte
Ihnen vorgestern den Plan auseinander – und werde Ihnen den Aufsatz
zustellen.«

»Und werden ihn drucken lassen?«

»Nein.«

»Warum aber nicht? Für wen wollen Sie denn arbeiten?«

»Nun, wenn es für Sie wäre?«

Natalia senkte den Blick.

»Das wäre für meinen Verstand zu hoch.«

»Wovon handelt, wenn ich fragen darf, der Aufsatz?« fragte bescheiden
Bassistow, der in einiger Entfernung saß.

»Vom Tragischen im Leben und in der Kunst,« wiederholte Rudin.
»Hier, Herr Bassistow wird ihn auch lesen. Übrigens bin ich, was den
Grundgedanken angeht, noch nicht mit mir im reinen. Ich habe mir
bis jetzt noch nicht hinreichend die tragische Bedeutung der Liebe
klargemacht.«

Rudin ließ sich gern und häufig über Liebe aus. Beim Worte Liebe
war Mlle. Boncourt bisher immer zusammengefahren und hatte die
Ohren gespitzt wie ein alter Schlachtgaul, der die Trompeten hört;
nachher aber wurde sie es gewohnt und begnügte sich, die Lippen
zusammenzuziehen und in Zwischenräumen Tabak zu schnupfen.

»Mich dünkt,« bemerkte Natalia schüchtern, »das Tragische in der Liebe
– das ist die unglückliche Liebe.«

»Keineswegs!« erwiderte Rudin, »das ist eher die komische Seite in der
Liebe … Man muß diese Frage ganz anders stellen … tiefer hineingreifen
… Die Liebe!« fuhr er fort, »in ihr ist alles Geheimnis, wie sie kommt,
wie sie sich entwickelt, wie sie verschwindet. Bald zeigt sie sich
plötzlich, unzweideutig, freudig, wie der Tag; bald glimmt sie lange,
wie die Glut unter der Asche, und bricht als Flamme in der Seele aus,
wenn alles bereits zerstört ist; bald schleicht sie sich schlangenhaft
ins Herz hinein und unerwartet wieder hinaus … Ja, ja; das ist eine
bedeutsame Frage. Und wer liebt wohl zu jetziger Zeit? Wer erkühnt sich
zu lieben?«

Rudin wurde nachdenkend.

»Weshalb zeigt sich aber Sergei Pawlitsch schon so lange nicht mehr?«
fragte er plötzlich.

Natalia wurde über und über rot und senkte den Kopf auf ihren
Stickrahmen.

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie leise.

»Was für ein herrlicher, vortrefflicher Mensch,« sagte aufstehend
Rudin. »Das ist einer der besten Vertreter des jetzigen russischen
Adels …«

Mlle. Boncourt betrachtete ihn von der Seite mit ihren kleinen,
französischen Augen.

Rudin ging einige Male durchs Zimmer.

»Haben Sie vielleicht die Bemerkung gemacht,« hub er an, sich rasch
auf den Absätzen umdrehend, »daß die Eiche – und die Eiche ist ein
starker Baum – ihr altes Laub erst dann abwirft, wenn das neue bereits
hervorzubrechen beginnt?«

»Ja,« erwiderte langsam Natalia, »ich habe das beobachtet.«

»Ganz dasselbe ist auch der Fall mit alter Liebe in einem starken
Herzen: sie ist bereits abgestorben, hält sich aber noch immer; und nur
eine andere, neue Liebe vermag sie zu verdrängen.«

Natalia erwiderte nichts.

»Was soll das bedeuten?« dachte sie.

Rudin blieb eine Weile stehen, schüttelte die Haare und entfernte sich.

Natalia ging auf ihr Zimmer. Lange blieb sie in Nachdenken versunken
auf ihrem Bettchen sitzen, lange dachte sie über die letzten Worte
Rudins nach, drückte plötzlich die Hände zusammen und brach in Tränen
aus. Worüber sie geweint hat – das weiß Gott allein! Sie selbst wußte
nicht, warum sie so plötzlich weinen mußte. Sie trocknete ihre Tränen,
doch von neuem flossen sie, gleich dem Wasser einer lange verhaltenen
Quelle.

       *       *       *       *       *

An eben diesem Tage war Rudin der Gegenstand eines Gesprächs zwischen
Alexandra Pawlowna und Leschnew. Anfangs wollte letzterer sich durch
Schweigen abfinden; sie hatte es aber darauf angelegt, etwas aus ihm
herauszubringen.

»Ich sehe,« sagte sie zu ihm, »Dmitri Nikolajewitsch gefällt Ihnen
nach wie vor nicht. Ich habe Sie absichtlich bis heute nicht befragt;
jetzt aber müssen Sie die Gewißheit gewonnen haben, ob in ihm eine
Veränderung vorgegangen ist, und ich wünsche zu erfahren, weshalb er
Ihnen nicht gefällt.«

»Sehr wohl,« erwiderte Leschnew mit gewohntem Phlegma, »wenn Sie
wirklich so ungeduldig sind; doch, merken Sie sich’s, Sie müssen nicht
böse werden …«

»Nun, fangen Sie an, fangen Sie an.«

»Und lassen Sie mich ausreden, bis zu Ende.«

»Gut, gut; fangen Sie an.«

»So will ich Ihnen denn sagen,« begann Leschnew, sich langsam auf den
Diwan niederlassend, »mir gefällt Rudin in der Tat nicht. Er ist ein
kluger Mensch …«

»Das ist nicht zu leugnen!«

»Er ist ein auffallend kluger Mensch, wenn auch im Grunde gehaltlos …«

»Das ist leicht gesagt!«

»Obgleich im Grunde gehaltlos,« wiederholte Leschnew, »das tut aber
weiter nichts: wir sind alle gehaltlose Menschen. Ich rechne es ihm
sogar nicht als Schuld an, daß er herrschsüchtigen Geistes ist, träge,
nicht sehr kenntnisreich …«

Alexandra Pawlowna schlug die Hände zusammen.

»Rudin nicht sehr kenntnisreich!« rief sie aus.

»Nicht sehr kenntnisreich,« wiederholte Leschnew ganz in demselben
Tone, »auch daß er es liebt, auf Kosten anderer zu leben, eine Rolle
spielen will und so weiter … das ist alles in der Ordnung. Schlecht ist
es aber, daß er kalt ist wie Eis.«

»Er, diese feurige Seele, kalt!« unterbrach ihn Alexandra Pawlowna.

»Ja, kalt wie Eis, und er weiß es und spielt den Feurigen. Schlecht ist
das,« fuhr Leschnew, allmählich sich belebend, fort, »denn es ist ein
gefährliches Spiel, das er spielt – gefährlich, nicht für ihn, versteht
sich, keinen Kopeken, kein Härchen setzt er auf die Karte – andere
dagegen setzen ihre Seele ein …«

»Von wem, wovon reden Sie? Ich verstehe Sie nicht,« sagte Alexandra
Pawlowna.

»Schlecht ist, daß er nicht ehrlich ist. Weil er ein Mann von Geist
ist, muß er den Wert seiner Worte kennen, – und doch läßt er sie von
seinen Lippen fallen, als ob sie ihm aus dem Herzen kämen … Nun ja, er
ist beredt; seine Beredsamkeit ist aber nicht die eines Russen. Und
dann – verzeiht man auch der Jugend Schönrednerei, in seinem Alter
ist es eine Schande, am Getön eigener Worte Gefallen zu finden, eine
Schande, sich derartig zur Schau zu stellen.«

»Mich dünkt, Michael Michailitsch, für den Zuhörer ist es ganz gleich,
ob man sich zur Schau stellt oder nicht …«

»Bitte um Vergebung, Alexandra Pawlowna, es ist nicht ganz gleich. Es
kann mir jemand ein Wort sagen und es dringt mir durch Mark und Bein,
ein anderer sagt mir genau dasselbe Wort und vielleicht noch schöner –
und es wird mir nicht einmal das Ohr kitzeln. Woher kommt das?«

»Das heißt, _Ihr_ Ohr wird es nicht kitzeln,« unterbrach ihn Alexandra
Pawlowna.

»Ja, mein Ohr,« erwiderte Leschnew, »obgleich ich vielleicht große
Ohren habe. Die Sache ist die, daß Rudins Worte eben nur Worte bleiben
und niemals zu Taten werden, dennoch aber können diese seine Worte
Verwirrungen erzeugen in einem jungen Herzen und dasselbe zugrunde
richten.«

»Von wem, von wem reden Sie aber, Michael Michailitsch?«

Leschnew zögerte.

»Sie wünschen zu wissen, von wem ich rede? Von Natalia Alexejewna.«

Alexandra Pawlowna wurde für einen Augenblick verwirrt, lächelte aber
gleich darauf.

»Du lieber Gott!« begann sie, »was für sonderbare Einfälle Sie immer
haben! Natalia ist noch ein Kind; und dann, gesetzt es wäre auch etwas
daran, so werden Sie doch nicht glauben, daß Darja Michailowna …«

»Darja Michailowna ist vor allem eine Egoistin und lebt nur für sich;
dann aber ist sie so sehr von ihrer Erfahrung in Erziehung der Kinder
überzeugt, daß es ihr nicht einmal einfällt, um ihre Tochter besorgt
zu sein. Bewahre! Wie könnte sie das! Ein Wink, ein majestätischer
Blick – und alles muß wie am Drahte gehen. Das ist’s, woran diese
Gnädige denkt, die sich eine Beschützerin der Künste und Wissenschaften
dünkt, sich für einen hohen Geist und Gott weiß was noch hält, in der
Tat aber weiter nichts ist als ein altes Weltdämchen. Natalia ist
kein Kind; glauben Sie mir, sie gibt sich häufigeren und tieferen
Betrachtungen hin als wir beide. Und da mußte solch ein ehrliches,
leidenschaftliches Gemüt auf diesen Schauspieler, diesen Gecken stoßen!
Übrigens ist auch dies in der Ordnung.«

»Gecken! Sie nennen ihn einen Gecken?«

»Natürlich ihn … Sagen Sie doch selbst, Alexandra Pawlowna, was für
eine Rolle spielt er bei Darja Michailowna? Den Götzen, das Orakel des
Hauses vorstellen, sich in die Wirtschaft, in häusliche Klatschereien
und Lappalien mischen – ist das wohl eines Mannes würdig?«

Alexandra Pawlowna blickte Leschnew mit Erstaunen an.

»Ich erkenne Sie nicht wieder, Michael Michailitsch,« sagte sie. »Das
Blut ist Ihnen ins Gesicht gestiegen, Sie sind in Aufregung. – Nein,
wahrhaftig, da steckt etwas anderes dahinter …«

»Nun, da haben wir’s! Sagt man einer Frau die Wahrheit auf sein
Gewissen – sie wird sich nicht zufrieden geben, bevor sie nicht
irgendeinen nichtigen Nebengrund erdichtet, weshalb man gerade so und
nicht anders geredet hat.«

Alexandra Pawlowna wurde böse.

»Bravo, Monsieur Leschnew! Sie fangen an, die Frauen nicht besser
zu behandeln, als Herr Pigassow es tut; doch, mit Ihrer Erlaubnis,
wie scharfsichtig Sie auch sein mögen, wird es mir doch schwer, zu
glauben, daß Sie in so kurzer Zeit alle und alles durchdringen konnten.
Mir scheint, Sie sind im Irrtum. In Ihren Augen wäre Rudin eine Art
Tartüffe.«

»Das ist’s eben, daß er nicht einmal ein Tartüffe ist. Tartüffe, der
wußte wenigstens, um was es ihm zu tun war; dieser aber, trotz seines
Verstandes …«

Leschnew hielt inne.

»Nun denn, dieser also? Reden Sie aus, Sie ungerechter, garstiger
Mensch!«

Leschnew erhob sich.

»Hören Sie, Alexandra Pawlowna,« begann er, »ungerecht sind Sie, nicht
ich. Sie zürnen mir wegen meines strengen Urteils über Rudin: ich
habe ein Recht, mich über ihn streng zu äußern! Vielleicht habe ich
dieses Recht nicht um billigen Preis erkauft. Ich kenne ihn gut: habe
lange mit ihm zusammen gelebt. Erinnern Sie sich, ich versprach Ihnen
gelegentlich, unser Leben in Moskau zu erzählen. Wie es scheint, muß
ich es wohl jetzt tun. Werden Sie aber die Geduld haben, mich bis zu
Ende anzuhören?«

»Reden Sie, reden Sie!«

»Wohlan denn!«

Leschnew begann langsamen Schrittes durch das Zimmer zu gehen, von Zeit
zu Zeit blieb er stehen und senkte den Kopf nach vorn.

»Vielleicht ist es Ihnen bekannt,« hub er an, »vielleicht auch nicht,
daß ich früh als Waise zurückblieb und bereits im siebzehnten Jahre
keine andere Autorität über mich kannte als die eigene. Ich lebte im
Hause meiner Tante in Moskau und tat, was ich wollte. Ich war ein
ziemlich hohler und selbstsüchtiger Bursche und liebte mich zu brüsten
und großzutun. Als ich die Universität bezogen hatte, war mein Betragen
das eines Schuljungen und verwickelte mich bald in eine höchst fatale
Geschichte. Ich will sie Ihnen nicht erzählen: es lohnt nicht. Ich
hatte mir eine Lüge zuschulden kommen lassen, eine ziemlich garstige
Lüge … Die Sache kam heraus, ich ward überführt, beschämt … ich war
verwirrt und weinte wie ein Kind. Das ereignete sich in der Wohnung
eines Bekannten, in Gegenwart unserer Gefährten. Alle machten sich
lustig über mich, alle, einen Studenten ausgenommen, der, bitte zu
beachten, mehr als die übrigen unwillig über mich gewesen war, solange
ich verstockt blieb und meine Lüge nicht eingestanden hatte. Tat ich
ihm vielleicht leid – genug, er nahm mich unter den Arm und führte mich
zu sich.«

»Das war Rudin?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Nein, es war nicht Rudin … das war ein Mensch … er ist jetzt schon
tot … das war ein ungewöhnlicher Mensch. Er hieß Pokorski. Ihn mit
wenigen Worten zu schildern, bin ich nicht imstande, kommt sein Name
mir auf die Lippen, dann vergeht mir die Lust, von jedem anderen zu
sprechen. Das war eine erhabene reine Seele und ein Geist, wie er mir
nachher nicht wieder vorgekommen ist. Pokorski bewohnte ein kleines,
niedriges Stübchen im Halbgeschosse eines alten, hölzernen Häuschens.
Er war sehr arm und schlug sich, so gut es ging, mit Unterrichtgeben
durch. Es kamen Zeiten, wo er nicht einmal mit einer Tasse Tee seinen
Gast zu bewirten imstande war, und sein einziger Diwan war dermaßen
eingesessen, daß er einem Boote nicht unähnlich sah. Dennoch, trotz des
Mangels an Bequemlichkeiten, besuchten ihn viele. Es hatten ihn alle
lieb und er zog die Herzen an. Sie können sich nicht vorstellen, wie
angenehm und heiter es sich in seinem ärmlichen Stübchen saß! Bei ihm
wurde ich mit Rudin bekannt. Er hatte sich damals bereits von seinem
Fürstensöhnchen getrennt.«

»Was hatte denn jener Pokorski Besonderes an sich?« fragte Alexandra
Pawlowna.

»Wie soll ich Ihnen das erklären? Poesie und Wahrheit – das zog alle
zu ihm hin. Bei seinem hellen, weiten Geiste war er liebenswürdig und
unterhaltend, wie ein Kind. Noch jetzt tönt sein frohes Lachen in
meinen Ohren nach, und dabei

    ›Glühte er still und unauslöschlich für das Gute
    Wie vor dem Heiligenbild die nächtliche Lampe …‹

wie sich über ihn ein halbverrückter, überaus liebenswürdiger Poet
unseres Kreises ausgedrückt hat.«

»Und wie sprach er?« fragte wieder Alexandra Pawlowna.

»Er sprach gut, wenn er aufgelegt war, doch nicht auffallend. Rudin
war schon damals zwanzigmal beredter als er.«

Leschnew hielt inne und kreuzte die Arme übereinander.

»Pokorski und Rudin glichen einander nicht. An Rudin war gleich
mehr Glanz und Effekt, mehr Phrase, und – wenn Sie wollen – mehr
Begeisterung. Er schien viel mehr Talent zu besitzen als Pokorski,
in der Tat aber war er, im Vergleich zu ihm, ein armer Wicht. Rudin
entwickelte ganz vorzüglich jeden beliebigen Gedanken und disputierte
meisterhaft; die Gedanken entsprangen aber nicht aus seinem Kopfe: er
stahl sie anderen, vorzüglich Pokorski. Dieser war äußerlich ruhig und
sanft, fast schwach – liebte die Frauen bis zur Narrheit, zechte gern
und würde von niemandem eine Beleidigung ertragen haben. Rudin schien
voll Feuer, Kühnheit, Leben, war jedoch im Innern der Seele kalt und
beinahe ein Poltron, solange seine Selbstliebe nicht angefochten wurde:
dann aber konnte er aus der Haut fahren. Er suchte beständig, andere
zu beherrschen, tat es aber immer im Namen allgemeiner Prinzipien und
Ideen und gewann dadurch wirklich großen Einfluß auf viele. Es ist
wahr, niemand liebte ihn; ich war vielleicht der einzige, der sich an
ihn geschlossen hatte. Sein Joch wurde ertragen … Pokorski unterwarfen
sich alle von selbst. Rudin vermied aber auch niemals, sich mit dem
ersten besten in Unterhaltung oder Wortstreit einzulassen … Er hatte
nicht viel gelesen, jedenfalls aber bedeutend mehr als Pokorski und
wir alle, überdies besaß er einen systematischen Verstand und ein
ungeheures Gedächtnis, dies alles aber verfehlt niemals seine Wirkung
auf die Jugend! Ein Resultat muß sie haben, Abschlüsse, wenn auch
falsche, aber es müssen Abschlüsse sein! Ein durchweg ehrenhafter
Mensch taugt dazu nichts. Versuchen Sie es, der Jugend zu gestehen, daß
Sie ihr reine Wahrheit nicht reichen können, weil Sie selbst solche
nicht besitzen … die Jugend wird Sie nicht anhören wollen. Sie geradezu
hinter das Licht führen können Sie aber auch nicht. Es ist durchaus
notwendig, daß Sie selbst, wenn auch nur zur Hälfte, glauben, Sie seien
im Besitze der Wahrheit … Darum war denn auch die Wirkung, die Rudin
auf unsereinen ausübte, so mächtig. Nun sehen Sie, ich sagte Ihnen
soeben, daß er nicht viel gelesen hatte; es waren aber philosophische
Bücher, die er las, und sein Kopf war so eingerichtet, daß er aus dem,
was er gelesen hatte, sogleich das Allgemeine herausnahm, sich an die
Wurzel der Sache klammerte und dann erst von derselben aus, nach allen
Seiten hin, klare und gerade Gedankenfäden zog, geistige Fernsichten
eröffnete. Unseren damaligen Kreis bildeten, offen gestanden, Knaben
– und nur oberflächlich gebildete Knaben. Philosophie, Kunst,
Wissenschaft, das Leben selbst – alles das waren für uns nur Worte,
vielleicht auch Begriffe, anziehende, herrliche, aber zerstreute,
vereinzelte Begriffe. Von einem allgemeinen Zusammenhange dieser
Vorstellungen, von einem allgemeinen Weltgesetze hatten wir keine
Ahnung, nichts davon stand vor unseren Blicken, obgleich wir unbestimmt
disputierten und uns abmühten, uns Licht darüber zu verschaffen. Hörten
wir Rudin sprechen, so glaubten wir zum ersten Male, ihn endlich erfaßt
zu haben, diesen allgemeinen Zusammenhang, wir wähnten, der Vorhang
sei endlich vor uns aufgehoben! Gesetzt auch, er habe nicht Eigenes
vorgetragen – was tat es! Eine regelmäßige Ordnung war in unserem
ganzen Wissen eingetreten, alles Verworrene hatte sich gesammelt,
geschichtet und war vor uns aufgewachsen, wie ein Bau, überall war
Licht und wehte Lebensgeist … Nichts blieb unverständlich, zufällig:
aus allem sprach vernünftige Notwendigkeit und Schönheit, alles bekam
eine klare und zugleich geheimnisvolle Bedeutung, jede vereinzelte
Erscheinung im Leben tönte wie ein Akkord, und wir selbst, von einer
heiligen Scheu, einem sanften Herzensschauer erfüllt, dünkten uns
belebte Gefäße jener ewigen Wahrheit, ihre Werkzeuge, zu etwas Großem
berufen … Kommt Ihnen das nicht lächerlich vor?«

»Nicht im mindesten!« erwiderte Alexandra Pawlowna gedehnt. »Warum
glauben Sie das? Ich verstehe Sie nicht ganz, finde es aber nicht
lächerlich.«

»Seit der Zeit sind wir freilich klüger geworden,« fuhr Leschnew
fort, »das muß uns alles jetzt wie Kinderei vorkommen … Doch, ich
wiederhole es, wir hatten damals Rudin viel zu verdanken. Pokorski
stand unvergleichlich höher als er, dagegen ist nichts zu sagen;
Pokorski flößte uns allen Feuer und Kraft ein, er fühlte sich indessen
zu gewissen Zeiten schlaff und wurde schweigsam. Er war ein nervöser,
krankhafter Mensch; wenn er aber seine Flügel entfaltete – Gott! Wohin
nahm er dann seinen Flug! Gerade in das tiefste Blau des Himmels
hinein! In Rudin hingegen, diesem schönen und stattlichen Jungen, gab
es viel Kleinliches; er machte sogar Klatschereien; seine Leidenschaft
war es, sich in alles zu mischen, über alles sein Wort abzugeben, alles
zu erklären. Seine rührige Tätigkeit gönnte sich niemals Ruhe … ein
politischer Geist das! Ich rede von ihm, wie ich ihn damals gekannt
habe. Er hat sich übrigens leider nicht verändert. Und auch in seinen
Überzeugungen ist keine Veränderung eingetreten … bei fünfunddreißig
Jahren! … Das kann nicht jeder von sich sagen.«

»Setzen Sie sich,« sagte Alexandra Pawlowna zu ihm, »Sie brauchen ja
nicht wie ein Perpendikel das Zimmer zu durchlaufen!«

»Mir ist’s so bequemer,« erwiderte Leschnew. »Kaum war ich in den Kreis
Pokorskis hineingeraten, so war ich wie umgewandelt: ich demütigte
mich, fragte, lernte, freute mich, empfand eine Art von Ehrfurcht,
wie wenn ich in einen Tempel getreten wäre. Und in der Tat, wenn
ich an unsere Zusammenkünfte zurückdenke, ja, bei Gott, es war viel
Gutes, ja Rührendes in ihnen. Stellen Sie sich eine Gesellschaft von
fünf, sechs jungen Burschen vor, ein einziges Talglicht brennt, es
wird ein abscheulicher Tee getrunken mit altem, ganz altem Zwieback
dazu; zugleich aber betrachten Sie unsere Gesichter und hören unsere
Reden! In den Blicken eines jeden – Entzücken, es glühen die Wangen,
das Herz klopft, wir reden von Gott, von Wahrheit, von der Zukunft
der Menschen, von Poesie, – zuweilen auch Unsinn, lassen uns von
einem Nichts hinreißen; was tut das aber! … Pokorski sitzt da, mit
untergeschlagenen Beinen, seine Hand stützt die bleiche Wange: seine
Augen leuchten. Rudin steht mitten im Zimmer und redet, redet schön,
das treue Abbild eines jugendlichen Demosthenes vor dem brausenden
Meere; Ssubotin, der Poet mit verwühltem Haar, stößt von Zeit zu Zeit
und wie im Traume abgebrochene Sätze aus; ein vierzigjähriger Bursche,
Sohn eines deutschen Pastors, Scheller genannt, der wegen seines
beständigen, unverbrüchlichen Schweigens unter uns sich den Ruf eines
überaus tiefen Denkers erworben hatte, schweigt auf ganz besonders
feierliche Weise – und der heitere Stschitow selbst, der Aristophanes
unseres Kreises, wird stille und lächelt bloß; zwei drei Neulinge
horchen mit begeistertem Entzücken auf … Und die Nacht zieht unbemerkt
in stillem Fluge wie auf Fittichen vorüber. Da graut schon der Morgen,
und gerührt, heiter, ehrsam, nüchtern – an Wein dachte man damals bei
uns nicht – und mit einer gewissen, der Seele wohltuenden Müdigkeit
gehen wir auseinander … Noch jetzt denke ich daran, wie ich, ganz in
Rührung zerflossen, die menschenleeren Gassen durchstreifte und sogar
den Sternen zutrauliche Blicke zuwarf, als wären sie mir näher gerückt
und verständlicher geworden … Oh! Die herrliche Zeit damals, und ich
kann nicht glauben, daß sie nutzlos verlorengegangen ist! Und sie ist
es auch nicht – sie ist nicht verloren, selbst für diejenigen nicht,
welche nachmals in der Alltäglichkeit des Lebens untergingen … Wie
oft sind mir dergleichen Leute, einstige Kommilitonen, vorgekommen!
Man hätte glauben können, ganz vertiert wäre der Mensch, – und es
bedürfte nur des Namens Pokorski –, so wurde sogleich alles Gute, das
in ihm übriggeblieben war, rege, wie wenn man in einem schmutzigen und
finsteren Gemache ein liegengebliebenes Fläschchen voll Wohlgeruch
öffnet …«

Leschnew schwieg; sein bleiches Gesicht hatte sich gerötet.

»Weshalb aber, wann – haben Sie sich mit Rudin entzweit?« fragte
Alexandra Pawlowna mit verwundertem Blick.

»Ich habe mich nicht mit ihm entzweit; ich trennte mich von ihm, als
ich ihn im Auslande genau kennengelernt hatte. Aber schon in Moskau
hätten wir uns entzweien können. Schon damals spielte er mir einen
bösen Streich.«

»Was war denn das?«

»Das will ich Ihnen sagen. Ich war … wie soll ich mich ausdrücken? Zu
meiner Figur paßt das nicht … ich war von jeher sehr geneigt, mich zu
verlieben.«

»Sie?«

»Ja, ich! Das ist sonderbar, nicht wahr? Dem ist aber doch so … Nun,
ich verliebte mich also damals in ein sehr liebliches Mädchen … Warum
sehen Sie mich denn so an? Ich könnte Ihnen von mir eine bei weitem
wunderbarere Geschichte erzählen.«

»Was für eine Geschichte? Wenn ich fragen darf? Sie machen mich
neugierig.«

»Einfach folgende: Zu jener Zeit in Moskau pflegte ich bei Nacht
mich zu einem Rendezvous einzustellen … mit wem meinen Sie wohl? Mit
einer jungen Linde am Ende eines Gartens. Ich hielt ihren dünnen und
schlanken Stamm umfangen, und es deuchte mir, ich umfasse die ganze
Natur, und das Herz wurde mir weit und verging in Liebe, als ob
wirklich die ganze Natur sich in dasselbe ergossen hätte … Ja, so war
ich! … Doch was! Sie glauben vielleicht auch, ich hätte damals keine
Verse gemacht? Ich habe es dennoch getan, ja sogar eine Nachbildung des
›Manfred‹ von Byron! Unter den handelnden Personen kam ein Gespenst
vor, mit Blut auf der Brust, und, wohl verstanden, nicht sein eigenes
Blut, sondern das Blut der Menschheit überhaupt … Ja, ja, also wundern
Sie sich nicht … Doch, ich fing an, von meiner Liebe zu erzählen. Ich
machte also die Bekanntschaft eines jungen Mädchens …«

»Und hörten auf, zu der Linde zu gehen?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Hörte auf hinzugehen. Jenes junge Mädchen war ein herzensgutes,
allerliebstes Geschöpfchen mit lebhaften, klaren Augen und
hellklingender Stimme.«

»Sie schildern sehr gut,« bemerkte mit einem feinen Lächeln Alexandra
Pawlowna.

»Sie aber sind eine strenge Richterin,« erwiderte Leschnew. »Nun,
dieses Mädchen wohnte bei ihrem greisen Vater … Doch ich will mich
nicht in Details einlassen. Ich muß Ihnen aber wiederholen, daß dieses
junge Mädchen wirklich herzensgut war – goß sie mir doch immer beim Tee
das Glas bis zum Rande voll, wenn ich auch nur um ein halbes gebeten
hatte! … Drei Tage nach unserem ersten Zusammentreffen war ich schon
in Liebe zu ihr entbrannt, am siebenten Tage hielt ich es nicht mehr
aus und teilte Rudin alles mit. Junge Leute, wenn sie verliebt sind,
können es nicht für sich behalten; ich beichtete also Rudin alles. Ich
stand damals ganz unter seinem Einflusse, und dieser Einfluß, ich muß
es unverhohlen bekennen, war in vieler Hinsicht wohltuend. Er war der
erste, der mich nicht geringachtete, er gab mir den nötigen Schliff.
Pokorski liebte ich leidenschaftlich, aber ich empfand eine gewisse
Scheu vor seiner reinen Seele, Rudin stand mir näher. Als er von meiner
Liebe hörte, geriet er in unbeschreibliches Entzücken, gratulierte
mir, umarmte mich und begann sogleich mich belehren, mir die große
Wichtigkeit meiner neuen Lage auseinanderzusetzen. Ich war ganz Ohr
… Nun, Sie wissen ja, wie er zu reden versteht. Seine Worte machten
auf mich einen außerordentlichen Eindruck. Ich bekam auf einmal eine
merkwürdige Achtung vor mir selbst, nahm eine ernsthafte Miene an und
lachte nicht mehr. Ich weiß es noch, ich fing sogar an, vorsichtiger
aufzutreten, als trüge ich in der Brust ein Gefäß, mit kostbarer
Flüssigkeit angefüllt, die ich zu verschütten befürchtete … Ich fühlte
mich so hoch beglückt, um so mehr, da mir unverkennbare Beweise von
Wohlwollen zuteil wurden. Rudin äußerte den Wunsch, die Bekanntschaft
des Gegenstandes meiner Liebe zu machen, und vielleicht war ich es
selbst, der darauf bestand, daß er ihm vorgestellt werde.«

»Nun, ich sehe, sehe jetzt, wo dies hinausläuft,« unterbrach ihn
Alexandra Pawlowna. »Rudin hat Ihnen Ihren Gegenstand abgejagt, und Sie
können es ihm bis jetzt nicht verzeihen … Ich wollte wetten, ich habe
es getroffen!«

»Und Sie würden Ihre Wette verlieren, Alexandra Pawlowna: Sie sind im
Irrtum. Rudin hat mir meinen Gegenstand nicht abgejagt und wollte ihn
mir auch nicht abjagen; er hat aber dennoch mein Glück zertrümmert,
obgleich ich ihm jetzt, wenn ich es mit kaltem Blute betrachte, Dank
dafür wissen möchte. Damals aber verlor ich beinahe den Verstand. Rudin
wollte mir keineswegs schaden – im Gegenteil! Doch, getreu seiner
unglückseligen Gewohnheit: jede Regung des Lebens, des eigenen sowohl
wie des anderen, an ein Wort zu spießen, wie den Schmetterling an die
Nadel, begann er uns über uns selbst aufzuklären, unser Verhältnis,
unser gegenseitiges Benehmen zu analysieren, er zwang uns despotisch,
ihm Rechenschaft abzulegen von unseren Gedanken, erteilte uns Lob und
Tadel, ja – wollen Sie es glauben – er ließ sich mit uns sogar in
einen Briefwechsel ein! … Kurz, wir wurden durch ihn ganz und gar irre
aneinander! Ich würde wohl damals schwerlich meine Schöne geheiratet
haben, soviel gesunder Verstand war mir noch geblieben, wir hätten aber
immerhin, gleich Paul und Virginie, einige glückliche Monate verbringen
können; so aber kam es zu Mißverständnissen und Spannungen aller Art –
mit einem Worte, es wurde ein völliger Wirrwarr daraus. Das Ende vom
Liede war, daß Rudin eines schönen Morgens aus seinen eigenen Reden die
Überzeugung herausschälte: es läge ihm, als dem Freunde, die heilige
Verpflichtung ob, den greisen Vater von allem in Kenntnis zu setzen,
und das hat er auch getan.«

»Wäre es möglich?« rief Alexandra Pawlowna aus.

»Ja, doch nicht zu vergessen, mit meiner Einwilligung – das ist das
Wunderbare! Ich erinnere mich jetzt noch, welch ein Chaos ich damals
im Kopf mit mir umherschleppte: es drehte sich und verrückte sich in
demselben alles, wie in einer Camera obscura: was weiß gewesen, zeigte
sich schwarz, Schwarzes – weiß, Lüge schien Wahrheit, Einbildung –
Pflicht geworden zu sein … Oh! Noch jetzt fühle ich mich beschämt, wenn
ich daran denke! Rudin, – der verlor den Mut nicht … warum sollte er
es auch! Er flog nur so hinweg über Mißverständnisse und Verwicklungen
aller Art, wie die Schwalbe über den Teich.«

»Und so schieden Sie denn von Ihrem Mädchen?« fragte Alexandra
Pawlowna, das Köpfchen naiv auf die Seite neigend und die Augenbrauen
heraufziehend.

»Ich schied von ihr … und es war ein schlechtes, ein beleidigendes,
ungeschicktes, unnützerweise offenkundiges Scheiden … Ich weinte, sie
weinte und der Teufel weiß, was daraus wurde … Es hatte sich da ein
gordischer Knoten zusammengezogen – er mußte durchhauen werden, das tat
wehe! Übrigens fügt sich alles auf der Welt zum besten. Sie hat einen
braven Mann geheiratet und lebt jetzt glücklich …«

»Gestehen Sie es, Sie haben Rudin doch nicht vergeben können …« warf
Alexandra Pawlowna ein.

»Sie irren sich!« erwiderte Leschnew, »geweint habe ich wie ein Kind,
als ich bei seiner Abreise ins Ausland Abschied von ihm nahm. Die
Wahrheit zu sagen, ist mir aber doch, schon damals, ein Stachel in
der Seele steckengeblieben. Und als ich später im Auslande mit ihm
zusammentraf … je nun, da war ich auch schon älter geworden … Rudin
erschien mir in seinem wahren Lichte.«

»Was war es denn, was Sie an ihm entdeckt hatten?«

»Nun, alles, wovon ich Ihnen vor einer Stunde erzählte. Doch genug von
ihm. Vielleicht endet noch alles gut. Ich wollte Ihnen nur beweisen,
daß, wenn ich über ihn ein strenges Urteil fälle, ich es nicht tue,
weil ich ihn etwa nicht kenne … Was indessen Natalia Alexejewna
betrifft, so will ich nicht unnütze Worte verlieren; Sie aber mögen auf
Ihren Bruder achtgeben.«

»Auf meinen Bruder! Was ist denn mit ihm?«

»Sehen Sie ihn doch nur an. Bemerken Sie denn nichts?«

Alexandra Pawlowna senkte den Kopf.

»Sie haben recht,« sagte sie, »mein Bruder … seit einiger Zeit erkenne
ich ihn nicht wieder … Glauben Sie aber wirklich …«

»Still! Er kommt, deucht mir,« flüsterte Leschnew. »Natalia ist gewiß
kein Kind mehr, glauben Sie mir’s, obschon sie unerfahren ist wie ein
solches. Sie werden sehen, dieses kleine Mädchen wird uns noch alle in
Erstaunen setzen.«

»Wodurch meinen Sie?«

»So meine ich: solche kleine Mädchen pflegen sich ins Wasser zu
stürzen, Gift zu nehmen und dergleichen mehr. Beurteilen Sie sie nicht
nach ihrem ruhigen Aussehen, sie besitzt heftige Leidenschaften und
auch Charakter, verlassen Sie sich darauf!«

»Nun, mir scheint, Sie versteigen sich in das Reich der Dichtung. Einem
solchen Phlegmatiker wie Ihnen könnte auch ich noch als ein Vulkan
erscheinen.«

»O nein!« äußerte Leschnew lächelnd … »Was Charakter anbetrifft – davon
besitzen Sie, Gott sei Dank, nichts.«

»Was ist das wieder für ein unartiger Ausfall!«

»Wie? Ich bitte Sie, das ist ja das allergrößte Kompliment …«

Wolinzow trat herein und warf einen mißtrauischen Blick auf Leschnew
und seine Schwester. Er hatte in der letzten Zeit etwas abgenommen.
Beide redeten ihn an; er würdigte aber ihre Scherze kaum eines Lächelns
und hatte, wie sich einst Pigassow über ihn äußerte, die Miene eines
»melancholischen Hasen«. Es hat aber wohl kaum jemals einen Menschen
gegeben, der nicht, wenn auch nur einmal in seinem Leben, eine noch
schlechtere Miene gezeigt hätte. Wolinzow fühlte, daß Natalia sich von
ihm abwandte, mit ihr aber, so deuchte es ihm, schwand auch der Boden
unter seinen Füßen.




VII


Der folgende Tag war ein Sonntag, und Natalia verließ spät ihr Lager.
Tags zuvor war sie bis zum Abend sehr schweigsam gewesen, hatte sich
insgeheim ihrer Tränen geschämt und schlecht geruht. Halb angekleidet
vor dem kleinen Klavier sitzend, hatte sie, um Mlle. Boncourt nicht
zu wecken, kaum hörbare Akkorde gegriffen, oder war, die Stirn an die
kalten Tasten gedrückt, lange regungslos sitzengeblieben. Sie hatte
fortwährend, nicht sowohl an Rudin selbst, als vielmehr an dieses
oder jenes seiner Worte gedacht und sich gänzlich ihren Eindrücken
hingegeben.

Von Zeit zu Zeit tauchte Wolinzow in ihrer Erinnerung auf. Sie wußte,
daß er sie liebe, doch sie verwarf den Gedanken an ihn sogleich
wieder … Sie empfand eine eigentümliche Aufregung. Als der Morgen
gekommen war, kleidete sie sich rasch an, ging hinunter, und nachdem
sie ihrer Mutter einen guten Tag gewünscht hatte, benutzte sie einen
günstigen Augenblick, um sich allein in den Garten zu begeben. Es
war ein heißer, heller, sonniger Tag, wenn auch von Zeit zu Zeit von
kurzem Regen unterbrochen. Niedrige wollige Wolkenknäuel zogen ruhig
am reinen Himmel, ohne die Sonne zu verdecken, dahin und sandten den
Feldern in Zwischenräumen heftige und plötzliche Regengüsse. Große,
glänzende Tropfen fielen gleich Brillanten mit abgerissenem, trocknem
Geräusch; die Sonnenstrahlen spielten mitten durch den Regen; das Gras,
noch vor kurzem vom Winde bewegt, rührte sich nicht: es sog gierig
die Feuchtigkeit auf; das benetzte Laub zitterte an den Bäumen; die
Vögel hatten ihren Gesang nicht unterbrochen und es war eine Lust,
dem munteren Gezwitscher derselben beim kühlen Rauschen und Murmeln
des vorüberziehenden Regens zu lauschen. Kleine Staubwirbel zogen wie
Rauch auf der Landstraße dahin, die von den heftig aufschlagenden
Regentropfen wie gefleckt erschienen. Doch da ist das Wölkchen vorüber,
ein leichter Wind hat sich erhoben, in Smaragden und Gold spielt das
Gras … Blatt hat sich an Blatt gelegt, wie angeklebt, und lichter ist
es in dem Laube geworden … Starker Duft steigt überall empor …

Der Himmel hatte sich fast ganz aufgeklärt, als Natalia sich in
den Garten begab. Frische und Stille umfingen sie, jene sanfte und
beglückende Stille, welche im menschlichen Herzen sehnsuchtsvolles
Mitgefühl und unbestimmtes, heimliches Verlangen hervorruft …

Natalia wandelte den Teich entlang, in der langen Allee von
Silberpappeln, als plötzlich vor ihr, wie aus dem Boden
emporgeschossen, Rudin erschien.

Sie wurde verwirrt. Er blickte ihr ins Gesicht.

»Sie sind allein?« fragte er.

»Ja, ich bin allein,« antwortete Natalia, »ich habe übrigens nur für
eine Minute das Freie gesucht … Ich muß sogleich zurück.«

»Ich werde Sie begleiten.«

Und er ging an ihrer Seite hin.

»Sie scheinen betrübt?« sagte er nach kurzem Schweigen.

»Ich? … Und eben wollte ich Ihnen dieselbe Frage vorlegen! Sie sind,
wie mir deucht, nicht aufgelegt.«

»Vielleicht … ich bin es zuweilen. Mir kann man das leichter verzeihen
als Ihnen.«

»Weshalb das? Glauben Sie etwa, ich hätte keine Ursache, betrübt zu
sein?«

»In Ihren Jahren muß man das Leben genießen.«

Einige Schritte ging Natalia schweigend weiter.

»Dmitri Nikolaitsch!« begann sie.

»Was wünschen Sie?«

»Erinnern Sie sich … des Gleichnisses, das Sie gestern gebrauchten … es
war … von der Eiche.«

»Gewiß! Ich erinnere mich. Aber warum diese Frage?«

Natalia warf verstohlen einen Blick auf Rudin.

»Warum … was wollten Sie mit dem Gleichnisse sagen?«

Rudin senkte den Kopf und ließ den Blick in die Weite schweifen.

»Natalia Alexejewna!« fing er mit dem ihm eigenen, zurückhaltenden und
bedeutungsvollen Ausdruck an, der seine Zuhörer stets glauben machte,
er äußere kaum den zehnten Teil von dem, was ihm die Brust schwellte.
»Natalia Alexejewna! Sie haben bemerken müssen, daß ich von meiner
Vergangenheit wenig rede. Es gibt darin gewisse Saiten, die ich gar
nicht berühre. Mein Herz … wer braucht überhaupt zu wissen, was in
demselben vorgegangen ist? Solche Dinge zu offenbaren, habe ich stets
für einen Frevel gehalten. Ihnen gegenüber jedoch bin ich aufrichtig:
Sie erwecken mein Zutraun … Ich darf Ihnen kein Geheimnis daraus
machen, daß auch ich geliebt und gelitten habe, wie alle … Wann und
wie? davon lohnt sich’s nicht zu sprechen; genug, mein Herz hat der
Freuden und Leiden viel erfahren …«

Rudin hielt einen Augenblick inne.

»Das, was ich Ihnen gestern sagte,« fuhr er fort, »ließ sich in
gewisser Hinsicht auf mich anwenden, auf meine jetzige Lage. Doch
wahrlich, es lohnt nicht, davon zu reden. Diese Seite des Lebens ist
für mich bereits dahin. Mir bleibt jetzt nur, mich auf staubiger und
heißer Landstraße in elendem Wagen von Station zu Station fortrütteln
zu lassen … Wann ich mein Ziel erreichen – ob ich es überhaupt
erreichen werde – das weiß Gott … Lassen Sie uns lieber von Ihnen
sprechen.«

»Wäre es möglich, Dmitri Nikolaitsch,« unterbrach ihn Natalia, »Sie
erwarten nichts mehr vom Leben?«

»O nein! Ich erwarte vieles; doch nicht für mich … Der Tätigkeit, der
Freude am Handeln werde ich niemals entsagen; ich habe aber dem Genusse
entsagt. Mein Hoffen, mein Träumen und mein persönliches Glück haben
nichts miteinander gemein. Die Liebe (bei diesem Worte zuckte er die
Achseln) … die Liebe: – ist nicht für mich; ich bin … ihrer nicht wert;
ein Weib, welches liebt, hat das Recht des Anspruchs auf den ganzen
Mann, ganz aber kann ich mich nicht hingeben. Und dann – Gefallen ist
das Ziel und das Recht der Jugend: ich bin zu alt dazu. Wie sollte
ich noch fremde Köpfe verdrehen? Gott helfe mir, den meinen auf den
Schultern zu behalten!«

»Ich verstehe,« äußerte Natalia, »wer einem hohen Ziele entgegenstrebt,
darf nicht mehr an sich denken; warum aber wäre das Weib nicht
imstande, einen solchen Menschen zu würdigen? Mich dünkt im Gegenteil,
es würde sich eher von einem Egoisten abwenden … Alle jungen Leute,
jene Jünglinge, wie Sie sagen, sind insgesamt – Egoisten, nur mit sich
selbst beschäftigt, selbst wenn sie lieben. Glauben Sie mir, das Weib
ist nicht bloß imstande, Aufopferung zu begreifen, sie versteht es
auch, sich selbst zum Opfer zu bringen.«

Natalias Wangen hatten sich leicht gerötet und ihre Augen glänzten. Vor
ihrer Bekanntschaft mit Rudin würde man nie aus ihrem Munde eine so
lange und feurige Rede vernommen haben.

»Sie haben schon mehrmals meine Meinung von dem Berufe der Frauen
gehört,« erwiderte Rudin mit herablassendem Lächeln, »Sie wissen, daß,
meiner Ansicht nach, Johanna d’Arc allein Frankreich retten konnte …
doch, nicht davon ist die Rede. Ich wollte von Ihnen sprechen. Sie
stehen an der Schwelle des Lebens … Von Ihrer Zukunft zu sprechen,
macht Vergnügen und ist nicht ohne Nutzen … Hören Sie mich: Sie
wissen, ich bin Ihr Freund; ich nehme teil an Ihnen, wie etwa an
einer Verwandten … darum, hoffe ich, werden Sie meine Frage nicht
unbescheiden finden: sagen Sie mir, ist Ihr Herz bis jetzt ganz ruhig
gewesen?«

Natalia wurde feuerrot und antwortete nichts. Rudin blieb stehen und
sie tat dasselbe.

»Sind Sie mir böse?« fragte er.

»Nein,« sagte sie, »ich hatte aber durchaus nicht erwartet …«

»Übrigens«, fuhr er fort, »brauchen Sie mir nicht zu antworten. Ihr
Geheimnis ist mir bekannt.«

Fast erschrocken blickte Natalia ihn an.

»Ja … ja; ich weiß, wer Ihnen gefällt. Und ich muß Ihnen sagen – eine
bessere Wahl konnten Sie nicht treffen. Er ist ein vortrefflicher
Mensch; er wird Sie zu schätzen verstehen; das Leben hat ihn noch nicht
abgenutzt – seine Seele ist einfach und klar … er wird Sie glücklich
machen.«

»Von wem sprechen Sie, Dmitri Nikolajewitsch?«

»Sie sollten nicht verstehen, von wem ich spreche? Natürlich von
Wolinzow. Wie? Sollte ich mich geirrt haben?«

Natalia wandte sich etwas von Rudin ab. Sie war ganz außer Fassung.

»Liebt er Sie denn nicht? Gehen Sie doch! Er hat nur Augen für Sie
und folgt jeder Ihrer Bewegungen; läßt sich denn überhaupt die Liebe
verheimlichen? Und sind Sie ihm denn nicht selbst gut? Soviel ich
bemerken konnte, gefällt er auch Ihrer Mama … Ihre Wahl …«

»Dmitri Nikolaitsch!« unterbrach ihn Natalia, in ihrer Verwirrung die
Hand nach einem nahestehenden Strauche ausstreckend, »wirklich, es ist
mir peinlich, über diesen Gegenstand zu sprechen; ich versichere Ihnen
aber, Sie irren sich.«

»Ich mich irren?« wiederholte Rudin. »Ich glaube es nicht … Ich habe
zwar erst vor kurzem Ihre Bekanntschaft gemacht; kenne Sie aber bereits
gut. Was bedeutet denn die Veränderung, die ich an Ihnen wahrnehme,
deutlich wahrnehme! Sind Sie denn jetzt dieselbe, wie ich Sie vor
sechs Wochen gefunden habe? Nein, Natalia Alexejewna, Ihr Herz ist
nicht ruhig.«

»Kann sein,« erwiderte kaum hörbar Natalia, »Sie sind aber dennoch im
Irrtum.«

»Inwiefern?« fragte Rudin.

»Lassen Sie mich, fragen Sie mich nicht!« sagte Natalia und eilte
raschen Schrittes dem Hause zu.

Ihr selbst wurde Angst vor dem, was so plötzlich in ihr vorgegangen war.

Rudin eilte ihr nach und hielt sie auf.

»Natalia Alexejewna!« redete er sie an, »diese Unterredung darf kein
solches Ende nehmen: sie ist auch für mich gar zu wichtig … Wie soll
ich Sie verstehen?«

»Lassen Sie mich!« wiederholte Natalia.

»Natalia Alexejewna, um Gottes willen!«

Auf Rudins Gesicht war Unruhe zu lesen. Er war bleich geworden.

»Sie verstehen alles, müssen auch mich verstehen!« sagte Natalia, riß
ihre Hand aus der seinigen und entfernte sich, ohne sich umzusehen.

»Nur ein Wort!« rief ihr Rudin nach.

Sie blieb stehen, ohne sich jedoch umzudrehen.

»Sie fragten mich, was ich mit dem gestrigen Gleichnisse hätte sagen
wollen. So hören Sie es, ich will Sie nicht hintergehen. Ich sprach von
mir, von meiner Vergangenheit – und von Ihnen.«

»Wie? Von mir?«

»Ja, von Ihnen; ich wiederhole es, ich will Sie nicht hintergehen …
Jetzt wissen Sie, von welchem Gefühle, von welchem neuen Gefühle ich
in jenem Augenblick sprach … Vor dem heutigen Tage würde ich es nicht
gewagt haben …«

Natalia bedeckte rasch das Gesicht mit den Händen und lief dem Hause zu.

Sie war dermaßen durch den unerwarteten Ausgang ihres Gesprächs mit
Rudin erschüttert, daß sie Wolinzow, an dem sie vorbeigelaufen war,
nicht einmal bemerkt hatte. Er stand unbeweglich, mit dem Rücken
an einen Baum gelehnt. Eine Viertelstunde vorher war er zu Darja
Michailowna gekommen, hatte dieselbe im Gastzimmer getroffen, ihr ein
paar Worte gesagt und sich unbemerkt entfernt, in der Absicht, Natalia
aufzusuchen. Geleitet von dem, den Verliebten eigentümlichen Instinkt,
war er geradeswegs in den Garten gegangen und auf Rudin und Natalia
in dem Augenblicke gestoßen, als sie ihre Hand der seinigen entriß.
Wolinzow war es dunkel vor den Augen geworden. Nachdem er Natalia mit
den Blicken gefolgt war, verließ er den Baum und tat ein paar Schritte,
ohne selbst zu wissen, wohin und warum.

Rudin bemerkte ihn im Vorbeigehen. Beide blickten einander in die
Augen, tauschten einen Gruß und trennten sich schweigend.

Damit ist es nicht abgemacht, dachten beide.

Wolinzow entfernte sich an das äußerste Ende des Gartens. Ein
bitterpeinliches Gefühl hatte sich seiner bemächtigt; auf dem Herzen
lag es ihm wie Blei und das Blut in ihm wallte von Zeit zu Zeit
schwer und heftig auf. Es fielen wieder Tropfen. Rudin war auf sein
Zimmer zurückgekehrt. Auch er war nicht ruhig: im Wirbel drehten
sich die Gedanken in seinem Kopfe. Wer sollte durch die unerwartete,
vertrauensvolle Hingabe einer jungen, reinen Seele nicht verwirrt
werden!

Bei der Mittagstafel wollte kein Gespräch in Gang kommen. Natalia
war sehr bleich, hielt sich kaum auf ihrem Stuhle und hob die Augen
nicht auf. Wolinzow saß, wie er gewohnt war, an ihrer Seite, und zwang
sich von Zeit zu Zeit, das Wort an sie zu richten. Es traf sich,
daß Pigassow an diesem Tage bei Darja Michailowna speiste. Er war
der Gesprächigste von allen bei Tische. Unter anderen suchte er zu
beweisen, daß man die Menschen, wie Hunde, in zwei Klassen, in kurz-
und langohrige, einteilen könne. »Die Menschen«, sagte er, »haben kurze
Ohren, entweder von Geburt an oder durch eigene Schuld. In beiden
Fällen sind sie zu beklagen, denn nichts gelingt ihnen – es fehlt ihnen
das Selbstvertrauen. Der Langohrige dagegen ist ein Glückskind. Er
mag schlechter und schwächer als der Kurzohrige sein, er besitzt aber
Selbstvertrauen; er spitzt die Ohren – und alles bewundert ihn.«

»Ich«, setzte er mit einem Seufzer hinzu, »gehöre zur Klasse der
Kurzohrigen, und, was dabei das Schlimmste ist, ich habe mir die Ohren
selbst gestutzt.«

»Damit wollen Sie sagen,« warf nachlässig Rudin ein, »was übrigens
bereits lange vor Ihnen La Rochefoucauld gesagt hat: ›Vertraue
dir selbst und andere werden dir vertrauen.‹ Wozu aber da die
Ohrengeschichte!«

»So lassen Sie doch jeden,« bemerkte Wolinzow bitter und mit funkelndem
Blick, »lassen Sie jeden sich ausdrücken, wie es ihm gefällt. Man redet
von Despotismus … Nach meiner Meinung gibt’s keinen ärgeren Despotismus
als den der sogenannten klugen Geister. Fort mit ihnen!«

Alle waren über diesen Ausfall Wolinzows in Staunen geraten und
verstummt. Rudin warf einen Blick auf ihn, konnte aber den seinigen
nicht ertragen und wandte sich ab, lächelte verlegen und sagte nichts.

Oho! Auch du hast kurze Ohren! dachte Pigassow bei sich; Natalia bebte
vor Angst. Darja Michailowna maß Wolinzow mit einem langen, erstaunten
Blick und nahm endlich das Wort; sie begann von einem ungewöhnlichen
Hunde zu erzählen, der ihrem Freunde, dem Minister N. N., gehörte …

Wolinzow entfernte sich bald nach Tische. Beim Abschiednehmen von
Natalia hielt er nicht mehr an sich und sagte zu ihr:

»Warum sind Sie so verstört, als wären Sie sich einer Schuld bewußt?
Sie können sich – vor niemandem – einer Schuld bewußt sein! …«

Natalia hatte nichts verstanden und folgte ihm bloß mit den Augen. Vor
dem Tee trat Rudin zu ihr, und über den Tisch gebeugt, als überfliege
er die Zeitungen, flüsterte er ihr zu:

»Es ist wie ein Traum, nicht wahr? Ich muß Sie durchaus allein sprechen
… wäre es auch nur auf einen Augenblick.« Und zu Mlle. Boncourt
gewendet, sagte er: »Hier ist das Feuilleton, welches Sie suchten,«
dann neigte er sich wieder zu Natalia und setzte leise hinzu: »Suchen
Sie gegen zehn Uhr sich in der Fliederlaube neben der Terrasse
einzufinden, ich werde Sie erwarten …«

Der Held dieses Abends blieb Pigassow. Rudin hatte ihm den Kampfplatz
überlassen. Er machte Darja Michailowna viel lachen; zuerst erzählte
er von einem seiner Nachbarn, der dreißig Jahre unter dem Pantoffel
seiner Ehehälfte gestanden und sich bis zu dem Grade Weibergewohnheiten
angeeignet hatte, daß er einst, im Beisein Pigassows, beim
Überschreiten einer kleinen Pfütze, die Schöße seines Gehrocks aufnahm,
wie Frauen es mit ihren Röcken zu tun pflegen. Dann kam er auf einen
anderen Gutsbesitzer, der anfangs Freimaurer, dann Melancholiker
gewesen war und endlich Bankier zu werden gewünscht hatte.

»Wie haben Sie es denn angefangen, Freimaurer zu werden, Philipp
Stepanitsch?« hatte ihn Pigassow gefragt.

»Nichts leichter als das,« habe er geantwortet, »ich ließ mir den
Nagel des kleinen Fingers wachsen.« Über nichts jedoch lachte Darja
Michailowna mehr, als wenn Pigassow anfing, sich über die Liebe
auszulassen und zu beteuern, auch nach ihm sei geseufzt worden, und
eine feurige Ausländerin habe ihn sogar »ihr appetitliches Afrikänchen«
genannt. Darja Michailowna lachte, doch war es die Wahrheit, was
Pigassow erzählte: er hatte in der Tat ein Recht, mit seinen Siegen
zu prahlen. Er behauptete, nichts wäre leichter, als jedes beliebige
Frauenzimmer verliebt zu machen: man dürfe ihr bloß zehn Tage
nacheinander wiederholen, sie habe das Paradies auf den Lippen,
Seligkeit in den Augen und die übrigen Weiber seien bloß Lappen im
Vergleich zu ihr; und am elften Tage werde sie selbst sagen, sie habe
das Paradies auf den Lippen, Seligkeit in den Augen und wird sich in
Sie verlieben. In der Welt kommt alles vor. Wer weiß, vielleicht hatte
Pigassow recht.

Um halb neun Uhr war Rudin bereits in der Laube. Am fernen,
erbleichenden Horizonte tauchten eben die ersten Sternchen auf; im
Westen war der Himmel noch gerötet – auch war auf dieser Seite der
Horizont heller und reiner; der Halbmond schimmerte wie Gold durch
das dunkle Geflecht der Trauerbirke. Die übrigen Bäume standen
entweder vereinzelt mit durchscheinenden Laubkronen gleich finsteren,
tausendäugigen Riesen da oder verschwammen in dichte, düstere
Massen. Kein Blatt regte sich; die äußersten Zweige der Flieder-
und Akazienbäume strecken ihre Spitzen in die warme Luft hinaus, als
lauschten sie auf etwas. Das nahe Haus hüllte sich in Dunkel; wie
rötlich gefärbte Streifen hoben sich an demselben die erhellten,
länglichen Fenster ab. Die Nacht war milde und still; doch schien es,
als ob ein zurückgehaltener, leidenschaftlicher Seufzer geheimnisvoll
in dieser Stille verhallte.

Rudin stand, die Arme über die Brust gekreuzt und horchte mit äußerster
Spannung. Sein Herz klopfte heftig und unwillkürlich hielt er den Atem
an. Endlich glaubte er leichte, hastige Schritte zu vernehmen und
Natalia trat in die Laube.

Rudin stürzte ihr entgegen und ergriff ihre Hände. Sie waren kalt wie
Eis.

»Natalia Alexejewna!« redete er sie mit bebender Stimme an, »ich wollte
Sie sehen … ich konnte den morgenden Tag nicht erwarten. Ich muß Ihnen
sagen, was ich vor dem heutigen Morgen selbst noch nicht geahnt hatte,
mir noch nicht bewußt war: ich liebe Sie.«

Natalias Hände zuckten schwach in den seinigen.

»Ich liebe Sie,« wiederholte er, »und daß ich so lange mich täuschen,
so lange nicht ahnen konnte, daß ich Sie liebe … Und Sie, Natalia
Alexejewna … antworten Sie mir – und Sie?«

Natalia konnte kaum atmen.

»Sie sehn, ich bin hergekommen,« brachte sie endlich hervor.

»Oh! sagen Sie, lieben Sie mich?«

»Ich glaube … ja …« sagte sie leise.

Rudin drückte ihr noch heftiger die Hände und wollte sie an sich
ziehen …

Natalia blickte sich rasch um.

»Lassen Sie mich – es wird mir bange –, mir deucht, es belauscht uns
jemand … Um Gottes willen, seien Sie vorsichtig. Wolinzow ahnt etwas.«

»Mag er! Sie haben gesehen, ich habe ihm heute nicht einmal geantwortet
… Ach, Natalia Alexejewna, wie bin ich glücklich! Jetzt soll uns nichts
mehr trennen!«

Natalia blickte ihm in die Augen.

»Lassen Sie mich,« flüsterte sie, »es ist Zeit, daß ich zurückkehre.«

»Einen Augenblick,« bat Rudin.

»Nein, lassen Sie, lassen Sie mich …«

»Sie scheinen Furcht vor mir zu haben?«

»Nein; ich habe keine Zeit mehr …«

»So wiederholen Sie denn, wenigstens noch einmal …«

»Sie sagen, Sie sind glücklich?« fragte Natalia.

»Ich? Es gibt keinen glücklicheren Menschen als mich auf der Welt!
Zweifeln Sie etwa?«

Natalia erhob den Kopf. Wie schön war ihr bleiches, edles, junges,
aufgeregtes Gesicht – in dem geheimnisvollen Dunkel der Laube, beim
schwachen Lichte des nächtlichen Himmels.

»So wissen Sie denn,« sagte sie, »ich bin die Ihre.«

»O Gott!« rief Rudin aus.

Natalia aber machte sich los und ging fort. Rudin blieb einige Zeit
stehen, und verließ dann langsam die Laube. Der Mond erleuchtete hell
sein Gesicht; ein Lächeln schwebte auf seinen Lippen.

»Ich bin glücklich,« sagte er halblaut. »Ja, ich bin glücklich,«
wiederholte er, als suchte er sich selbst dazu zu überreden.

Er warf sich in die Brust, strich sein Lockenhaar zurecht und vertiefte
sich in den Garten, lustig die Arme schwenkend.

Unterdessen aber wurden in der Fliederlaube die Zweige behutsam
voneinandergebogen und es zeigte sich Pandalewski. Vorsichtig blickte
er sich um, schüttelte den Kopf, preßte die Lippen zusammen, sagte
mit bezeichnendem Tone: »So stehen die Sachen! Davon muß man Darja
Michailowna in Kenntnis setzen,« und verschwand.




VIII


Als Wolinzow nach Hause gekommen war, war er niedergeschlagen und
finster, gab so ungern der Schwester Antwort und verschloß sich so bald
in seinem Kabinett, daß sie sich entschloß, einen reitenden Boten zu
Leschnew zu schicken. In allen zweifelhaften Fällen nahm sie zu ihm
ihre Zuflucht. Leschnew ließ ihr sagen, er werde am folgenden Tage
kommen.

Wolinzow war auch am folgenden Morgen nicht heiterer gestimmt. Nach dem
Tee dachte er seine Arbeiten zu besichtigen, blieb jedoch, streckte
sich auf einen Diwan hin, und nahm ein Buch in die Hand, was bei ihm
nicht oft der Fall war. Wolinzow empfand keine Neigung für Literatur,
und vor Gedichten eine wahre Scheu. »Unverständlich wie ein Gedicht,«
pflegte er zu sagen, und zur Bekräftigung seiner Worte folgende Strophe
des Dichters Aibulat anzuführen:

    Und bis zum Ende meiner trüben Tage
    Wird die Erfahrung nicht und nicht Verstand
    Des Lebens blutige Vergißmeinnichte
    Entwenden mir mit rauher Hand!

Alexandra Pawlowna blickte ihren Bruder besorgt an, belästigte ihn
jedoch nicht mit Fragen. Ein Wagen fuhr vor. Nun, dachte sie, Gott sei
Dank, Leschnew … Der Diener trat ein und meldete Rudin.

Wolinzow warf das Buch auf den Boden und hob den Kopf in die Höhe.

»Wer ist gekommen?« fragte er.

»Rudin, Dmitri Nikolaitsch,« wiederholte der Diener.

Wolinzow erhob sich.

»Bitte ihn herein,« sagte er. »Du aber, Schwester,« setzte er hinzu,
sich zu Alexandra Pawlowna wendend: »laß uns allein.«

»Weshalb aber?« wandte sie ein.

»Ich weiß warum,« unterbrach er sie mit Heftigkeit, »ich bitte dich.«

Rudin trat herein. Wolinzow begrüßte ihn kalt, in der Mitte des Zimmers
stehend, und reichte ihm nicht die Hand.

»Sie hatten mich nicht erwartet,« fing Rudin an, »gestehen Sie es,« und
stellte seinen Hut auf das Fensterbrett.

Ein leichtes Zucken umspielte seine Lippen. Ihm war nicht behaglich
zumute; doch suchte er seine Verwirrung zu verbergen.

»Ich erwartete Sie nicht, gewiß,« erwiderte Wolinzow, »nach dem
gestrigen Tage hätte ich eher jemand – mit einem Auftrage von Ihnen
erwarten können.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen,« äußerte Rudin, sich setzend, »und
Ihre Offenherzigkeit freut mich sehr. So ist es viel besser. Ich bin
selbst zu Ihnen gekommen, wie zu einem Manne von Ehre.«

»Geht es nicht ohne Komplimente?« bemerkte Wolinzow.

»Ich wünsche Ihnen zu erklären, weshalb ich gekommen bin.«

»Wir sind miteinander bekannt, warum sollten Sie nicht zu mir kommen
können? Und dann erweisen Sie mir ja auch nicht zum ersten Male die
Ehre Ihres Besuches.«

»Ich bin zu Ihnen gekommen als Mann von Ehre zu einem Manne von
Ehre,« wiederholte Rudin, »und will mich jetzt auf Ihren eigenen
Richterausspruch berufen … Ich habe zu Ihnen volles Vertrauen …«

»Worum handelt es sich?« fragte Wolinzow, immer noch in derselben
Stellung, mit finsteren Blicken auf Rudin, und von Zeit zu Zeit die
Spitzen seines Schnurrbartes drehend.

»Erlauben Sie … ich bin, um mich zu erklären hergekommen, das kann man
aber nicht mit ein paar Worten abmachen.«

»Warum nicht?«

»Es ist noch eine dritte Person dabei im Spiel …«

»Eine dritte Person? und welche?«

»Sergei Pawlitsch, Sie verstehen mich.«

»Dmitri Nikolaitsch, ich verstehe Sie durchaus nicht.«

»Sie wünschen …«

»Ich wünsche, daß Sie ohne Umschweife reden!« unterbrach ihn Wolinzow.

Er wurde im Ernste böse.

Rudin zog die Brauen zusammen.

»Sehr wohl … wir sind allein … Ich muß Ihnen sagen – übrigens kommen
Sie gewiß selbst schon darauf (Wolinzow zuckte ungeduldig die Achseln)
– ich muß Ihnen sagen, daß ich Natalia Alexejewna liebe und mit Grund
vermuten darf, daß auch sie mich liebt.«

Wolinzow wurde bleich, antwortete jedoch nichts; er trat ans Fenster
und wandte Rudin den Rücken.

»Sie begreifen, Sergei Pawlitsch,« fuhr Rudin fort: »wenn ich nicht
überzeugt wäre …«

»Oh, bitte sehr!« unterbrach ihn hastig Wolinzow: »ich zweifle durchaus
nicht … Nun, dann viel Glück! Nur wundere ich mich, was zum Teufel Sie
bewogen hat, mit dieser Nachricht zu mir zu kommen … Was habe ich damit
zu schaffen? Was geht es mich an, wen Sie lieben, wer Sie liebt? Das
ist mir unbegreiflich …«

Wolinzow fuhr fort, zum Fenster hinauszusehen. Seine Stimme tönte hohl.

Rudin erhob sich.

»Ich will Ihnen sagen, Sergei Pawlitsch, weshalb ich mich entschlossen
habe, zu Ihnen zu kommen, weshalb ich mir sogar das Recht nicht
zutraute, aus unserer … unserer gegenseitigen Neigung ein Geheimnis vor
Ihnen zu machen. Ich habe gar zu große Achtung für Sie – deshalb bin
ich gekommen; ich wollte nicht … wir beide wollten nicht Komödie vor
Ihnen spielen. Ihre Gefühle für Natalia Alexejewna waren mir bekannt …
Glauben Sie mir, ich kenne meinen Wert: ich weiß, wie wenig würdig ich
bin, Ihre Stelle in ihrem Herzen einzunehmen; da es sich aber dennoch
so gefügt hat, wären dann wohl List, Betrug, Verstellung schicklich
gewesen? Könnte es wünschenswert sein, sich Mißverständnissen
auszusetzen, oder selbst nur einer solchen Szene wie der gestrigen bei
Tische? Sergei Pawlitsch, gestehen Sie es selbst.«

Wolinzow kreuzte die Arme über der Brust, als koste es ihm Mühe, sich
zu beherrschen.

»Sergei Pawlitsch!« fuhr Rudin fort, »ich habe Sie gekränkt, ich
fühle es … aber mißverstehen Sie uns nicht … Sie müssen begreifen,
daß uns kein anderes Mittel blieb, Ihnen unsere Achtung zu beweisen,
Ihnen zu zeigen, daß wir Ihren offenen Edelmut zu schätzen wissen.
Aufrichtigkeit, vollkommene Aufrichtigkeit würde jedem anderen
gegenüber unstatthaft gewesen sein, Ihnen gegenüber jedoch wird sie zur
Pflicht. Es ist uns ein Vergnügen, zu glauben, daß unser Geheimnis in
Ihren Händen …«

Wolinzow lachte gezwungen auf.

»Danke für dieses Vertrauen!« rief er aus, »obgleich ich,
wohlverstanden, weder Ihr Geheimnis zu wissen, noch das meinige Ihnen
zu entdecken gewünscht hatte, verfügen Sie dennoch darüber, wie über
Ihr eigenes Gut. Erlauben Sie aber, Sie reden zugleich im Namen einer
anderen Person. Also darf ich voraussetzen, daß Ihr Besuch und der
Zweck desselben Natalia Alexejewna bekannt ist?«

Rudin ward bei diesen Worten etwas verlegen.

»Nein, ich habe Natalia Alexejewna von meinem Vorhaben nicht
unterrichtet; weiß jedoch, daß sie meine Ansicht teilt.«

»Das ist alles sehr schön,« sagte nach einigem Schweigen Wolinzow und
begann mit den Fingern an der Scheibe zu trommeln. »Viel besser,
ich gestehe es, wäre es aber doch, wenn Sie etwas … weniger Achtung
für mich hätten. Die Wahrheit zu sagen, ist mir Ihre Achtung keinen
Groschen wert; was aber wollen Sie eigentlich von mir?«

»Nichts will ich … oder nein! ich will etwas: ich will, daß Sie mich
nicht für einen hinterlistigen und schlauen Menschen halten, daß Sie
mich kennenlernen … Ich hoffe, Sie können auch schon jetzt meine
Aufrichtigkeit nicht in Zweifel ziehen … Ich will, Sergei Pawlitsch,
daß wir als Freunde voneinander scheiden … daß Sie, wie ehemals, mir
die Hand reichen …«

Und Rudin näherte sich Wolinzow.

»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte Wolinzow, indem er sich zu Rudin
wandte und einen Schritt zurücktrat: »ich bin bereit, Ihren Absichten
volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das ist alles sehr schön,
sogar erhaben, wir sind aber schlichte Leute, an Marzipan nicht
gewöhnt, wir sind nicht imstande, dem Schwunge so hoher Geister, wie
des Ihrigen, zu folgen … Was Ihnen aufrichtig erscheint, dünkt uns
zudringlich und unbescheiden … Was Ihnen einfach und klar vorkommt, ist
für uns verwickelt und dunkel … Sie prahlen mit dem, was wir heimlich
halten: wie sollte unsereiner Sie verstehen! Verzeihen Sie mir: weder
als meinen Freund kann ich Sie betrachten, noch Ihnen die Hand reichen
… Vielleicht ist das kleinlich; ich bin jedoch selbst klein.«

Rudin ergriff seinen Hut.

»Leben Sie wohl, Sergei Pawlitsch!« sagte er betrübt, »meine
Erwartungen haben mich getäuscht. Mein Besuch war in der Tat etwas
ungewöhnlich, ich hatte jedoch gehofft … (Wolinzow machte eine
ungeduldige Bewegung) … Verzeihen Sie, ich werde nicht mehr davon
reden. Alles erwogen, sehe ich, daß Sie wirklich recht haben und
nicht anders handeln konnten. Leben Sie wohl, und erlauben Sie mir
wenigstens, daß ich Ihnen noch einmal, zum letzten Male die Lauterkeit
meiner Absichten beteuere … Von Ihrer Verschwiegenheit bin ich
überzeugt …«

»Das ist denn doch zu stark!« rief Wolinzow zitternd vor Zorn, »ich
habe mich Ihrem Vertrauen in keiner Weise aufgedrängt; und Sie haben
darum durchaus kein Anrecht auf meine Verschwiegenheit!«

Rudin wollte noch etwas sagen, spreizte jedoch bloß die Arme
auseinander, verneigte sich und verließ das Gemach, Wolinzow aber warf
sich auf den Diwan und kehrte das Gesicht gegen die Wand.

»Darf ich zu dir?« ließ sich an der Tür Alexandra Pawlownas Stimme
vernehmen.

Wolinzow gab nicht sogleich Antwort und fuhr mit der Hand hastig über
das Gesicht. »Nein, Sascha,« sagte er mit etwas veränderter Stimme:
»warte noch etwas.«

Eine halbe Stunde später näherte sich Alexandra Pawlowna von neuem der
Tür.

»Michael Michailitsch ist gekommen,« sagte sie, »willst du ihn sehen?«

»Gewiß,« erwiderte Wolinzow, »laß ihn kommen.« Leschnew trat herein.

»Ist dir nicht wohl?« fragte er und ließ sich auf einen Sessel neben
dem Diwan nieder.

Wolinzow erhob sich etwas, stützte sich auf den Arm, blickte seinem
Freunde lange, lange ins Gesicht und erzählte ihm dann sogleich Wort
für Wort sein ganzes Gespräch mit Rudin. Bis dahin hatte er nie vor
Leschnew seiner Gefühle für Natalia Erwähnung getan, obwohl er vermuten
konnte, daß sie kein Geheimnis für ihn waren.

»Du hast meine Verwunderung erregt, Bruder,« sagte Leschnew, als
Wolinzow seine Erzählung beendigt hatte. »Auf viele Sonderbarkeiten
seinerseits war ich gefaßt; dies aber … Übrigens erkenne ich ihn auch
hierin wieder.«

»Aber bedenke doch!« sagte Wolinzow, »das ist ja geradezu eine
Frechheit! Fast hätte ich ihn zum Fenster hinausgeworfen. Hat er vor
mir prahlen wollen oder im voraus Angst bekommen? Und zu welchem Ende?
Wie kann man zu einem Menschen gehen …«

Wolinzow hielt sich den Kopf mit beiden Händen und schwieg.

»Nein, Bruder, das ist es nicht,« erwiderte Leschnew gelassen. »Du
wirst mir’s nicht glauben, ich bin jedoch überzeugt, er hat es in guter
Absicht getan. Wahrhaftig … Siehst du, das hat so einen Anstrich von
Edelsinn und Offenherzigkeit, und bietet einen Vorwand zum Reden,
der Beredsamkeit freien Lauf zu gewähren; das eben brauchen wir ja,
ohne dergleichen könnten wir nicht leben … Ah, seine Zunge – seine
Rednergabe – sie ist seine Feindin … sie hat ihm aber auch recht brav
gedient!«

»Du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Feierlichkeit er
hereintrat und seine Rede vorbrachte!«

»Nun, das ist so seine Art. Knöpft er seinen Rock zu, so tut er’s, als
erfüllte er eine heilige Pflicht. Ich möchte ihn auf eine unbewohnte
Insel setzen und aus einem Hinterhalt beobachten, wie er da wohl
schalten und walten würde. Und der faselt dabei immer von Einfachheit!«

»Sage mir aber, Bruder, um des Himmels willen, soll das etwa
Philosophie sein?« fragte Wolinzow.

»Wie soll ich sagen? Von einer Seite – du hast recht – ist es in der
Tat Philosophie – von der anderen ist es durchaus keine. Man darf doch
nicht jeden Unsinn der Philosophie zur Last legen!«

Wolinzow blickte ihn an.

»Wenn er aber gelogen hätte, was glaubst du?«

»Nein, mein Freund, er hat nicht gelogen. Indessen, weißt du – wir
haben genug von ihm gesprochen. Wir wollen jetzt unsere Pfeifen
anzünden, lieber Bruder, und Alexandra Pawlowna herbitten … Wenn sie
dabei ist, spricht sich’s besser und schweigt sich’s leichter. Sie
wird uns Tee machen.«

»Meinetwegen,« erwiderte Wolinzow. »Sascha, komm herein!« rief er.

Alexandra Pawlowna trat herein. Er faßte ihre Hand und drückte sie fest
an seine Lippen.

       *       *       *       *       *

Rudin kehrte in einer eigentümlich unruhigen Stimmung nach Hause
zurück. Er war ärgerlich auf sich selbst und machte sich Vorwürfe über
seine unverzeihliche Voreiligkeit und sein knabenhaftes Betragen. An
ihm bewährte sich: daß es nichts Drückenderes gibt als das Bewußtsein,
eine Torheit begangen zu haben.

Reue marterte Rudin.

»Daß der Teufel«, murrte er durch die Zähne, »mir den Gedanken eingeben
mußte, zu diesem Menschen zu gehen! Das war eine schöne Idee! Habe mir
nichts als Grobheiten geholt! …«

In dem Hause Darja Michailownas ging unterdessen Ungewöhnliches vor.
Die Hausfrau selbst zeigte sich den ganzen Morgen nicht und erschien
auch nicht bei der Tafel: sie litt an Kopfweh, wie Pandalewski, die
einzige Person, die Einlaß bei ihr hatte, behauptete. Rudin sah Natalia
auch nur flüchtig: sie saß auf ihrem Zimmer mit Mlle. Boncourt … Als
sie mit ihm im Speisesaale zusammentraf, blickte sie ihn so traurig
an, daß ihm das Herz erbebte. Ihr Gesicht hatte sich verändert, als
wenn seit dem gestrigen Tage ein Unglück über sie hereingebrochen
wäre. Unbestimmte, ahnungsvolle Zweifel begannen Rudin zu quälen.
Um sich einigermaßen zu zerstreuen, machte er sich an Bassistow,
unterhielt sich mit ihm lange, und fand in ihm einen feurigen,
lebhaften Jüngling, voll begeisterter Hoffnungen und noch ungebrochener
Glaubenskraft. Gegen abend zeigte sich Darja Michailowna für ein paar
Stunden im Gastzimmer. Gegen Rudin war sie liebenswürdig, doch etwas
zurückhaltend, bald heiter, bald ernst, sprach etwas durch die Nase und
meist in Anspielungen … Sie war ganz Hofdame. In der letzten Zeit war
sie scheinbar kälter gegen Rudin geworden.

Wer löst mir dieses Rätsel? dachte er, ihr zurückgeworfenes Köpfchen
von der Seite betrachtend.

Nicht lange brauchte er auf dessen Lösung zu warten. Gegen Mitternacht,
im Begriff, sich auf sein Zimmer zu begeben, schritt er durch einen
finsteren Gang, als plötzlich jemand ihm einen Zettel zusteckte. Er
blickte sich um und sah ein junges Mädchen davoneilen, in welchem er
Natalias Kammerjungfer erkannte. Auf seinem Zimmer angelangt, schickte
er seinen Diener fort, öffnete den Zettel und las folgende von Natalias
Hand geschriebene Zeilen: »Kommen Sie morgen früh gegen sieben Uhr,
nicht später, zum Awdjuchinteich hinter dem Eichengehölz. Eine andere
Stunde vermag ich nicht zu bestimmen! Wir werden uns dort zum letzten
Male sehen und alles wird zu Ende sein, wenn nicht … Kommen Sie. Ein
Entschluß muß gefaßt werden …

~P. S.~ Komme ich nicht, dann sehen wir uns nie wieder: dann werde ich
Sie wissen lassen …«

Rudin versank in Nachdenken, drehte den Zettel in den Händen herum,
steckte ihn unter das Kissen, kleidete sich aus und legte sich nieder,
konnte aber lange nicht die Ruhe finden, welche er suchte; sein Schlaf
war unruhig und es war noch nicht fünf Uhr, als er erwachte.




IX


Der Awdjuchinteich, welchen Natalia Rudin als Ort der Zusammenkunft
bezeichnet, hatte schon längst aufgehört, Teich zu sein. Vor dreißig
Jahren hatte das Wasser den Damm durchbrochen, und seit der Zeit war er
so geblieben. Nur an dem ebenen und flachen Grunde der Vertiefung, den
einst fetter Schlamm überzog, sowie an den Überresten des Dammes konnte
man erraten, daß dort ein Teich gewesen war. Es hatte daneben auch ein
Edelhof gestanden. Auch dieser war schon längst verschwunden. Zwei
riesige Fichten allein erinnerten noch an denselben; mürrisch zogen
und rauschten ewige Winde durch ihr spärliches, hoch oben wachsendes
Grün … Die Volkssage erzählte von einer schauerlichen Missetat, die am
Fuße dieser Fichten vollbracht worden sei, ja man wollte sogar vorher
wissen, keine derselben werde fallen, ohne jemandem den Tod zu bringen;
vor Zeiten habe dort noch eine dritte gestanden, sei aber vom Sturme
umgestürzt worden und habe im Falle ein kleines Mädchen getötet. Die
ganze Gegend um den Teich herum wurde als nicht geheuer betrachtet;
wüste und kahl und dabei verwildert und düster sogar bei Sonnenlicht,
erschien sie noch düsterer und verwilderter durch die Nähe des alten,
längst abgestorbenen und verdorrten Eichengehölzes. Einzelne graue
Gerippe mächtiger Bäume ragten, finsteren Gespenstern gleich, über das
niedrige Gestrüpp empor. Unheimlich waren sie anzuschauen: als wären
es böse Greise gewesen, die sich da versammelt hätten und irgendeinen
schlimmen Plan berieten. Seitwärts zog sich in Windungen ein selten
betretener Fußweg hin. Wer nicht dazu gezwungen war, vermied es, am
Awdjuchinteiche vorüberzugehen. Natalia hatte mit Absicht diesen
einsamen Ort gewählt, der vom Hause Darja Michailownas kaum eine halbe
Werst entfernt lag.

Die Sonne war längst aufgegangen, als Rudin vor den Awdjuchinteich
kam; es war aber kein heiterer Morgen. Dicht aneinandergedrängte,
weißlich-graue Wolken bedeckten den ganzen Himmel; mit Pfeifen und
Heulen trieb der Wind sie heftig weiter. Rudin begann auf dem mit
dichten Disteln und schwarzgewordenen Nesseln bedeckten Damme auf und
ab zu gehen. Er war nicht ruhig. Diese Zusammenkünfte, diese neuen
Eindrücke interessierten ihn, regten ihn aber auch auf, besonders aber
nach dem gestrigen Zettel. Er sah ein, daß die Katastrophe nahe sei und
war insgeheim verwirrt, obgleich es niemand geglaubt hätte, der ihn so
mit gesammelter Entschlossenheit, mit auf der Brust gekreuzten Armen
um sich schauend, beobachtet hätte. Nicht unrecht hatte Pigassow, als
er einst von ihm sagte, daß bei ihm, wie bei den chinesischen Puppen,
der Kopf beständig überschlage. Doch wie stark auch ein Kopf immer
sein möge, so fällt es dem Menschen doch schwer, durch ihn allein auch
nur das zu erkennen, was in seinem eigenen Innern vorgeht … Rudin,
der kluge, scharfsichtige Rudin, war nicht imstande, mit Gewißheit zu
sagen, ob er Natalia liebe, ob er leide, ob er leiden werde, wenn er
sich von ihr trennen sollte. Weshalb nun mußte er, ohne den Lovelace
zu spielen – diese Gerechtigkeit lassen wir ihm widerfahren –, einem
armen Mädchen den Kopf verdrehen? Warum wartete er auf dasselbe mit
heimlichem Beben? Hierauf gibt es nur die eine Antwort: Niemand läßt
sich so leicht hinreißen, wie ein leidenschaftsloser Mensch.

Er schritt den Damm entlang, während Natalia geradeaus über das Feld,
auf feuchtem Grase ihm entgegeneilte.

»Fräulein! Fräulein! Sie werden sich die Füße naß machen,« sagte
Mascha, ihr Kammermädchen, kaum imstande, gleichen Schritt mit ihr zu
halten.

Natalia gab nicht darauf acht und lief weiter, ohne sich umzusehen.

»Ach, wenn man uns nur nicht belauscht!« rief Mascha zu wiederholten
Malen. »Selbst das ist schon zu bewundern, wie wir aus dem Hause
gekommen sind. Wenn die Mamsell nur nicht erwacht ist … Ein Glück,
daß es nicht weit ist … Und der Herr wartet auch schon,« setzte sie
hinzu, als sie plötzlich die stattliche Figur Rudins gewahr wurde, der
malerisch auf dem Damme stand, »doch, warum steht denn der Herr so
hoch, – besser wäre es, er stellte sich in die Vertiefung.«

Natalia blieb stehen.

»Warte hier bei den Fichten, Mascha,« sagte sie und schritt zu dem
Teich hinab.

Rudin trat zu ihr heran und blieb verwundert stehen. Einen solchen
Ausdruck hatte er noch nicht auf ihrem Gesichte bemerkt. Die Brauen
waren zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepreßt, der Blick war
fest, ja fast strenge.

»Dmitri Nikolaitsch,« begann sie, »wir haben keine Zeit zu verlieren.
Ich bin auf fünf Minuten hergekommen. Ich muß Ihnen sagen, daß Mama
alles weiß. Herr Pandalewski hat uns vorgestern belauscht und ihr von
unserer Zusammenkunft erzählt. Er war immer Mamas Spion. Gestern rief
sie mich zu sich …«

»Mein Gott!« rief Rudin aus, »das ist schrecklich! … Was hat Ihre Mama
gesagt?«

»Sie war nicht böse auf mich, hat mich nicht gescholten, nur Vorwürfe
machte sie mir über meinen Leichtsinn.«

»Weiter nichts?«

»Ja, dann erklärte sie mir, sie würde sich eher mit dem Gedanken
vertragen, daß ich stürbe, als daß ich Ihre Frau würde.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ja; und setzte noch hinzu, daß Sie selbst keineswegs willens wären,
mich zu heiraten, daß Sie bloß zum Zeitvertreib mir den Hof machten,
was sie von Ihnen nicht erwartet hätte; übrigens wäre sie selbst
daran schuld: warum habe sie es erlaubt, daß ich so oft mit Ihnen
zusammenkomme … sie rechne auf meine Einsicht, sei sehr erstaunt über
mein unüberlegtes Betragen … Kurzum, ich weiß wirklich nicht mehr, was
sie mir sonst noch sagte.«

Natalia sprach dieses alles mit eintöniger, fast lautloser Stimme.

»Und Sie, Natalia Alexejewna, was haben Sie ihr geantwortet?« fragte
Rudin.

»Was ich ihr geantwortet habe?« wiederholte Natalia. »… Was
beabsichtigen _Sie_ jetzt zu tun?«

»Mein Gott! Mein Gott!« erwiderte Rudin, »das ist hart! So rasch! … ein
so unerwarteter Schlag! … Und Ihre Mama war so entrüstet?«

»Ja … ja, sie will nichts von Ihnen hören.«

»Das ist schrecklich! Es bleibt also keine Hoffnung?«

»Keine.«

»Warum sind wir so unglücklich! Dieser abscheuliche Pandalewski! … Sie
fragen mich, Natalia, was ich zu tun beabsichtige? Der Kopf geht mir
in der Runde – ich kann keinen Gedanken fassen … Ich fühle nur mein
Unglück … ich begreife nicht, wie Sie so kaltblütig sind! …«

»Sie glauben, es wird mir leicht?« entgegnete Natalia.

Rudin begann wieder auf dem Damme auf und ab zu gehen. Natalia verlor
ihn nicht aus den Augen.

»Ihre Mama hat Sie nicht weiter ausgeforscht?« fragte er dann.

»Sie hat mich gefragt, ob ich Sie liebe.«

»Nun … und Sie sagten?«

Natalia schwieg einen Augenblick. »Ich habe ihr die Wahrheit gesagt.«

Rudin ergriff ihre Hand.

»Immer, in allem, edelmütig und groß. Oh, das Herz eines Mädchens ist
wie lauteres Gold! Hat aber wirklich Ihre Mama ihren Willen in bezug
auf die Unmöglichkeit unserer Verbindung so entschieden geäußert?«

»Ja, entschieden. Ich sagte Ihnen schon, sie ist überzeugt, daß Sie
selbst nicht daran denken, mich zu heiraten.«

»Sie hält mich also für einen Betrüger! Wodurch habe ich das verdient?«

Und Rudin faßte sich am Kopfe.

»Dmitri Nikolaitsch!« sagte Natalia, »wir verlieren unnütz die Zeit.
Denken Sie daran, ich sehe Sie zum letzten Male. Ich kam hierher nicht
um zu weinen, nicht um zu klagen – Sie sehen, ich weine nicht – ich
kam, um mir Rat zu holen.«

»Welchen Rat könnte ich Ihnen geben, Natalia?«

»Welchen Rat? Sie sind ein Mann; ich war gewohnt, Ihnen zu vertrauen,
ich werde Ihnen vertrauen bis ans Ende. Sagen Sie mir, welches sind
Ihre Absichten?«

»Meine Absichten! Ihre Mama wird mir vermutlich ihr Haus verschließen.«

»Wahrscheinlich. Bereits gestern erklärte sie mir, sie werde die
Bekanntschaft mit Ihnen abbrechen müssen … Sie antworten aber nicht auf
meine Frage.«

»Auf welche Frage?«

»Was, meinen Sie, sollen wir jetzt tun?«

»Was wir tun sollen?« erwiderte Rudin, »uns darein ergeben.«

»Uns ergeben,« wiederholte Natalia gedehnt und ihre Lippen wurden
bleich.

»Uns dem Geschicke unterwerfen,« fuhr Rudin fort. »Was ist dabei zu
machen! Ich weiß gar zu gut, wie bitter, schwer und unerträglich das
ist; bedenken Sie aber selbst, Natalia, ich bin arm … Freilich, ich
kann arbeiten; doch, wenn ich auch reich wäre, könnten Sie wohl die
gewaltsame Trennung von den Ihrigen, den Zorn Ihrer Mutter ertragen?
… Nein, Natalia, daran ist nicht zu denken. Es muß uns wohl nicht
bestimmt sein, miteinander zu leben, und jenes Glück, von welchem ich
geträumt hatte, ist mir nicht beschieden.«

Natalia bedeckte plötzlich das Gesicht mit den Händen und brach in
Tränen aus. Rudin trat an sie heran.

»Natalia, liebe Natalia!« sagte er mit Wärme, »weinen Sie nicht, um
Gottes willen, martern Sie mich nicht, beruhigen Sie sich.«

Natalia erhob den Kopf.

»Sie sagen mir, ich solle mich beruhigen,« begann sie, und ihre Augen
glänzten unter Tränen, »ich weine nicht über das, was Sie glauben …
Mich schmerzt nicht das: mich schmerzt, daß ich mich in Ihnen getäuscht
habe … Wie? ich suche bei Ihnen Stütze, und zu welcher Stunde! und Ihr
erstes Wort ist: Ergebung … Ergebung! So also äußert sich durch die Tat
Ihre Theorie von der Freiheit, von Opfern, welche …«

Ihre Stimme war gebrochen.

»Erinnern Sie sich doch, Natalia,« begann Rudin bestürzt, »ich nehme
meine Worte nicht zurück … nur …«

»Sie fragten mich,« fuhr sie mit neuer Kraft fort, »was ich meiner
Mutter geantwortet habe, als sie mir erklärte, sie würde mich lieber
tot wissen, als in meine Verbindung mit Ihnen einwilligen: ich gab
ihr zur Antwort, daß ich lieber tot, als die Frau eines anderen sein
wolle … Und Sie reden von Ergebung! Sie hat also dennoch Recht gehabt:
Sie haben wirklich zum Zeitvertreib, aus Langeweile Scherz mit mir
getrieben …«

»Ich schwöre Ihnen, Natalia … ich schwöre Ihnen …«, wiederholte Rudin.

Sie hörte aber nicht auf ihn.

»Warum hielten Sie mich nicht zurück? Warum mußten Sie selbst … Oder
glaubten Sie, auf keine Hindernisse zu stoßen? Ich muß mich schämen,
davon zu reden … es ist ja aber alles schon aus.«

»Sie müssen sich beruhigen, Natalia,« nahm Rudin wieder das Wort, »wir
wollen zusammen erwägen, welche Mittel …«

»Sie haben so oft von Aufopferung gesprochen,« unterbrach sie ihn,
»wissen Sie aber wohl, wenn Sie heute, jetzt zu mir gesagt hätten: ›Ich
liebe dich, kann dich aber nicht heiraten, ich stehe nicht für die
Zukunft ein, reich mir die Hand und folge mir,‹ – wissen Sie wohl, ich
wäre Ihnen gefolgt, wissen Sie’s, ich war zu allem entschlossen! Doch
vom Wort zur Tat ist’s weiter, als ich glaubte, und Sie haben jetzt
Furcht, ganz so wie neulich bei Tische vor Wolinzow.«

Die Röte stieg Rudin ins Gesicht. Die unerwartete Begeisterung Natalias
hatte ihn bestürzt gemacht; ihre letzten Worte jedoch waren ein
Stachel für seine Eigenliebe.

»Sie sind jetzt gar zu aufgeregt, Natalia,« fing er an, »Sie können
nicht verstehen, wie grausam Sie mich beleidigen. Ich hoffe, Sie
werden mir mit der Zeit Gerechtigkeit widerfahren lassen; Sie werden
begreifen, was es mich gekostet hat, dem Glücke zu entsagen, das, wie
Sie selbst sagen, mir keinerlei Verpflichtungen auferlegte. Ihre Ruhe
ist mir teurer, als alles auf der Welt, und ich wäre ein Elender,
wollte ich zu meinem Vorteile …«

»Vielleicht, vielleicht,« unterbrach ihn Natalia, »vielleicht haben Sie
recht, und ich weiß nicht, was ich rede. Bis jetzt jedoch glaubte ich
Ihnen, glaubte jedem Ihrer Worte … In Zukunft bitte ich Sie, wägen Sie
Ihre Worte ab, sprechen Sie dieselben nicht in den Wind. Als ich Ihnen
sagte, daß ich Sie liebe, wußte ich, was dies Wort bedeutet: ich war zu
allem bereit … Jetzt bleibt mir nur, Ihnen für die Lektion zu danken
und mich zu verabschieden.«

»Halten Sie ein, um Gottes willen, Natalia, ich beschwöre Sie. Ich habe
nicht Ihre Verachtung verdient, das schwöre ich Ihnen. Versetzen Sie
sich aber auch in meine Lage. Ich muß für Sie wie für mich einstehen.
Wenn ich Sie nicht grenzenlos liebte – dann, mein Gott! würde ich Ihnen
selbst sogleich den Vorschlag machen, mit mir zu entfliehen … früher
oder später würde Ihre Mama es uns doch vergeben … und dann … Doch
bevor ich an mein eigenes Glück denken durfte …«

Er hielt inne. Natalias Blick war gerade und fest auf ihn gerichtet …
Es ging nicht – er mußte schweigen.

»Sie bestreben sich, mir zu beweisen, daß Sie ein ehrlicher Mann sind,
Dmitri Nikolaitsch,« äußerte sie, »ich zweifle nicht daran. Sie sind
nicht imstande, aus Berechnung zu handeln; war es denn aber diese
Überzeugung, die ich zu gewinnen gewünscht hatte, war ich deshalb
hierhergekommen …«

»Ich hatte nicht erwartet, Natalia …«

»Ah! Nun endlich haben Sie es ausgesprochen! Ja, Sie hatten alles dies
nicht erwartet – Sie kannten mich nicht. Beruhigen Sie sich … Sie
lieben mich nicht, ich aber dränge mich niemandem auf.«

»Ich liebe Sie!« rief Rudin aus.

Natalia richtete sich auf.

»Möglich; wie aber lieben Sie mich? Alle Ihre Worte schweben mir vor,
Dmitri Nikolaitsch. Erinnern Sie sich, Sie sagten mir, ohne völlige
Gleichheit gäbe es keine Liebe … Sie stehen mir zu hoch, Sie passen für
mich nicht … Ich habe diese Strafe verdient. Beschäftigungen warten
Ihrer, die Ihrer würdiger sind. Den heutigen Tag werde ich nicht
vergessen … Leben Sie wohl …«

»Natalia, Sie wollen fort? Sollen wir denn so scheiden?«

Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie blieb stehen. Seine flehende
Stimme schien sie unschlüssig gemacht zu haben.

»Nein,« rief sie endlich, »ich fühle, es ist in mir etwas gebrochen …
Ich kam hierher, redete mit Ihnen, wie in Fieberhitze; ich muß meine
Sinne zusammennehmen. Es soll nicht sein, Sie selbst sagten, es dürfe
nicht sein. Mein Gott, als ich hierherging, nahm ich in Gedanken
Abschied von meinem Hause, von meiner ganzen Vergangenheit – und was?
Wen traf ich hier? Einen kleinmütigen Mann … Und woher wußten Sie, daß
ich nicht imstande wäre, die Trennung von meiner Familie zu ertragen?
›Ihre Mama gibt nicht ihre Einwilligung … das ist schrecklich!‹ Dies
war alles, was ich von Ihnen hörte. Sind Sie es, sind Sie es, Rudin?
Nein! Leben Sie wohl … Ach! Wenn Sie mich liebten, jetzt, in diesem
Augenblicke müßte ich es fühlen … Nein, nein, leben Sie wohl! …«

Sie wandte sich rasch um und lief zu Mascha, die schon seit geraumer
Zeit angefangen hatte, unruhig zu werden und ihr Zeichen zu machen.

»Sie haben Angst bekommen, nicht aber ich!« rief Rudin Natalia nach.
Sie gab nicht mehr acht auf ihn und eilte über das Feld nach Hause.
Glücklich kam sie auf ihrem Zimmer an; kaum aber hatte sie die Schwelle
überschritten, so verließen sie ihre Kräfte und bewußtlos sank sie in
Maschas Arme.

Rudin blieb inzwischen noch lange auf dem Damme. Endlich raffte er
sich zusammen, schritt langsam dem Fußwege zu und ebenso auf demselben
weiter. Er war tief beschämt … und erbittert. So etwas, dachte er, von
einem achtzehnjährigen Mädchen! … Nein, ich kannte sie nicht … Ein
außergewöhnliches Mädchen. Welch ein starker Wille! … Sie hat recht;
sie ist einer anderen Liebe wert als der, die ich für sie fühlte …
Fühlte? … fragte er sich selbst. Fühle ich denn keine Liebe mehr? Und
mußte alles ein solches Ende nehmen! Wie erbärmlich, wie nichtig war
ich im Vergleiche zu ihr!

Das leichte Rollen einer Reitdroschke zwang Rudin, die Augen zu
erheben. Ihm entgegen kam, auf seinem bekannten Traber, Leschnew
gefahren. Schweigend tauschte Rudin mit ihm einen Gruß, lenkte dann,
wie von einem plötzlichen Gedanken getroffen, vom Wege ab und ging
rasch in der Richtung zum Hause Darja Michailownas weiter.

Leschnew ließ ihn ein Stück Weges gehen, folgte ihm mit dem Blick,
wandte nach kurzem Nachsinnen sein Pferd um – und fuhr zurück zu
Wolinzow, bei dem er die Nacht zugebracht hatte. Er fand ihn noch
schlafend, ließ ihn nicht wecken, setzte sich in Erwartung des Tees auf
den Balkon und zündete sich die Pfeife an.




X


Wolinzow verließ gegen zehn Uhr sein Lager und als er hörte, daß
Leschnew bei ihm auf dem Balkon sitze, wunderte er sich sehr und ließ
ihn zu sich bitten.

»Was ist vorgefallen?« fragte er ihn. »Du wolltest ja nach Hause
fahren.«

»Ja, ich wollte, mir ist jedoch Rudin begegnet … Spaziert allein auf
dem Felde und das Gesicht so verstört. Ich dachte nicht lange nach und
kehrte um.«

»Du bist zurückgekehrt, weil dir Rudin begegnete?«

»Das heißt – die Wahrheit zu sagen – ich weiß selbst nicht, weshalb
ich zurückgekommen bin; vermutlich weil du mir in den Sinn kamst: ich
empfand das Verlangen, noch etwas bei dir zu sitzen, nach Hause komme
ich noch früh genug.«

Wolinzow lächelte bitter.

»Ja, an Rudin kann man jetzt nicht mehr denken, ohne zu gleicher Zeit
auch an mich zu denken … He!« rief er dem Diener laut zu, »bringe uns
Tee.«

Die Freunde nahmen das Frühstück ein. Leschnew begann von
Landwirtschaft zu sprechen, von einer neuen Art, die Scheunen mit Pappe
zu decken …

Plötzlich sprang Wolinzow von seinem Sessel auf und schlug so heftig
auf den Tisch, daß Tassen und Untertassen erklirrten.

»Nein!« rief er aus, »ich habe nicht die Kraft, es länger zu ertragen!
Ich werde diesen Schöngeist fordern und mag er mich zusammenschießen,
oder ich ihm eine Kugel durch seine gelehrte Stirn jagen!«

»Was ficht dich an, ermanne dich!« schalt Leschnew, »wie kann man so
schreien! Ich habe dabei mein Pfeifenrohr fallen lassen … Was ist dir?«

»Das ist mir, daß ich diesen Namen nicht gleichgültig anhören kann:
alles Blut steigt mir zu Kopfe.«

»Geh doch, Bruder, geh! Schämst du dich denn nicht!« erwiderte
Leschnew, die Pfeife vom Boden aufhebend. »Denk nicht mehr daran! – Hol
ihn der Teufel!«

»Er hat mich beleidigt,« fuhr Wolinzow fort, indem er im Zimmer
umherging … »ja! er hat mich beleidigt. Du mußt es selbst gestehen. Im
ersten Augenblick fand ich mich nicht zurecht: er hatte mich stutzig
gemacht; und wer konnte es auch erwarten? Ich will ihm aber beweisen,
daß ich nicht mit mir spaßen lasse … Ich will ihn, diesen verdammten
Philosophen, wie ein Feldhuhn über den Haufen schießen.«

»Ein großer Gewinn für dich! In der Tat! Von deiner Schwester gar nicht
zu reden. Eine bekannte Sache, die Leidenschaft behält bei dir die
Oberhand … wie solltest du an deine Schwester denken! Aber in betreff
einer anderen Person, glaubst du, du werdest besser reüssieren, wenn
du den ›Philosophen‹ tötest?«

Wolinzow warf sich in einen Sessel.

»Dann gehe ich fort, wohin es auch sei, nur fort von hier! Der Gram
preßt mir hier das Herz ab, so daß ich nirgends Ruhe finde.«

»Du willst fort … das ist eine andere Sache! Damit bin ich ganz
einverstanden. Und weißt du, was ich dir vorschlagen will? Wir wollen
zusammen nach dem Kaukasus oder auch nach Kleinrußland und uns an
Mehlklößen gütlich tun. Ein herrliches Ding das, Bruder!«

»Gut; wer bleibt aber bei der Schwester?«

»Und warum sollte denn Alexandra Pawlowna nicht mit uns reisen? Bei
Gott, das wäre herrlich. Ich übernehme es, für sie Sorge zu tragen! Es
soll ihr an nichts fehlen; wenn sie es wünscht, werde ich ihr jeden
Abend unter ihrem Fenster mit einer Serenade aufwarten; die Fuhrleute
will ich mit Kölnischem Wasser einparfümieren, die Wege mit Blumen
schmücken. Na, Bruder, und wir beide, wir werden wie neugeboren sein;
wir wollen uns dem Genusse rückhaltlos hingeben und solche Wänste mit
nach Hause bringen, daß keine Liebe uns mehr etwas wird anhaben können!«

»Du treibst immer Scherz, Mischa!«

»Ich scherze durchaus nicht. Das war ein brillanter Einfall von dir.«

»Nein! Unsinn!« rief Wolinzow wieder, »schlagen, schlagen will ich mich
mit ihm! …«

»Schon wieder, Bruder, bist du denn heute ganz von Sinnen!«

Der Diener trat mit einem Briefe in der Hand herein.

»Von wem?« fragte Leschnew.

»Von Rudin, von Dmitri Nikolajewitsch Rudin. Der Diener aus dem
Laßunskischen Hause hat ihn gebracht.«

»Von Rudin?« wiederholte Wolinzow. »An wen?«

»An Sie.«

»An mich … gib her.«

Wolinzow ergriff den Brief, erbrach ihn hastig und las. Leschnew
beobachtete ihn aufmerksam: ein eigentümliches, fast freudiges
Erstaunen war auf Wolinzows Gesicht zu bemerken; er ließ die Arme
sinken.

»Was gibt’s?« fragte Leschnew.

»Lies!« sagte Wolinzow halblaut und reichte ihm den Brief.

Leschnew begann wie folgt zu lesen:

        »Mein Herr Sergei Pawlowitsch!

Ich verlasse heute Darja Michailownas Haus, verlasse es für immer. Es
wird Sie das befremden, zumal nach dem gestrigen Vorfalle. Ich kann
Ihnen nicht auseinandersetzen, was mich zwingt, so zu verfahren; mich
dünkt aber, ich müsse Sie von meiner Abreise benachrichtigen. Sie
lieben mich nicht und halten mich sogar für einen schlechten Menschen.
Ich beabsichtige nicht, mich zu rechtfertigen: die Zeit wird es tun.
Meiner Ansicht nach ist es eines Mannes nicht würdig und zudem unnütz,
einem von vorgefaßten Meinungen befangenen Menschen das Unbegründete
seiner Vorurteile vorzuhalten. Wer mich verstehen will, wird mich
entschuldigen, wer mich nicht verstehen will oder kann – dessen
Beschuldigungen berühren mich nicht. Ich habe mich in Ihnen getäuscht.
In meinen Augen werden Sie wie vorher als edler und ehrenhafter Mann
dastehen; ich hatte aber gedacht, Sie würden es vermögen, sich über den
Kreis, in welchem Sie auferzogen worden sind, zu erheben … Ich habe
mich getäuscht. Was liegt daran! Es ist nicht das erste und wohl auch
nicht das letztemal, daß mir dies passiert. Ich wiederhole Ihnen: ich
reise ab. Ich wünsche Ihnen alles mögliche Glück. Sie werden gestehen,
daß dies ein durchaus uneigennütziger Wunsch ist, und ich gebe mich der
Hoffnung hin, Sie werden jetzt glücklich werden. Vielleicht werden Sie
mit der Zeit Ihre Meinung über mich ändern. Ob wir einander noch einmal
wiedersehen, weiß ich nicht, ich bleibe aber dennoch der Sie aufrichtig
achtende

            D. R.

~P. S.~ Die zweihundert Rubel, welche ich Ihnen schulde, werde ich
Ihnen zustellen, sobald ich auf meinem Gute, im T…schen Gouvernement,
angekommen sein werde. Ich bitte noch, in Darja Michailownas Beisein
von diesem Briefe nicht zu reden.

~P. S.~ Noch eine letzte, doch wichtige Bitte: da ich unverzüglich
abreise, hoffe ich, werden Sie gegen Natalia Alexejewna nicht meines
Besuches bei Ihnen Erwähnung tun …«

»Nun, was sagst du dazu?« fragte Wolinzow, als Leschnew den Brief
beendigt hatte.

»Was läßt sich dazu sagen!« erwiderte Leschnew. »Alles, was man tun
kann, ist, wie die Morgenländer: Allah! Allah! ausrufen und den Finger
als Zeichen der Verwunderung in den Mund stecken. – Er reist ab … Nun!
Möge der Weg vor ihm eben sein! Interessant ist’s aber, daß er diesen
Brief zu schreiben für Pflicht gehalten hat, ebenso wie er auch aus
Pflicht getrieben wurde, dir einen Besuch zu machen … Bei diesem Herrn
dreht sich’s immer um den Pflicht- und Schuldbegriff,« setzte Leschnew,
mit einem Lächeln auf das Postskriptum deutend, hinzu.

»Und was für Phrasen er da macht!« rief Wolinzow. »Hat sich in mir
getäuscht: er hätte erwartet, ich werde mich über einen gewissen Kreis
erheben … Himmel! Ist das ein Gewäsch! Noch ärger als Gedichte!«

Leschnew erwiderte nichts; nur in den Augen ward ein Lächeln bemerkbar.
Wolinzow erhob sich.

»Ich will zu Darja Michailowna fahren,« sagte er, »ich will hören, was
dies alles bedeutet …«

»Warte, Bruder: gib ihm Zeit, sich davonzumachen. Warum wolltest du
wieder mit ihm zusammentreffen? Er verschwindet ja – was willst du
mehr? Besser, du legst dich hin und schläfst aus; du hattest dich
ohnehin gewiß die ganze Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt!
Jetzt wird es ja besser mit deinen Angelegenheiten …«

»Woraus schließt du das?«

»Nun, mir kommt es so vor. Lege dich aber hin und schlafe ein wenig,
ich will unterdessen zu deiner Schwester – und ihr Gesellschaft
leisten.«

»Ich will ja nicht schlafen. Weshalb sollte ich schlafen! … Ich will
lieber die Felder besichtigen,« sagte Wolinzow, die Schöße seines
Mantels zurecht zupfend.

»Auch das! Reite hin, Bruder, reite hin, besichtige die Felder …«

Und Leschnew begab sich in die andere Hälfte des Hauses zu Alexandra
Pawlowna. Er traf sie in ihrem Gastzimmer. Sie bewillkommnete ihn
freundlich. Sie war wie immer über seinen Besuch erfreut, doch behielt
ihr Gesicht einen betrübten Ausdruck. Der gestrige Besuch Rudins
beunruhigte sie.

»Sie kommen vom Bruder?« fragte sie Leschnew, »wie ist er heute?«

»Es macht sich, er ist auf die Felder geritten.«

Alexandra Pawlowna schwieg.

»Sagen Sie mir,« begann sie, den Rand ihres Schnupftuches mit
Aufmerksamkeit betrachtend, »Sie wissen nicht, warum …«

»Rudin gekommen ist?« setzte Leschnew hinzu. »Ich weiß es: er kam, um
Abschied zu nehmen.«

Alexandra Pawlowna erhob den Kopf.

»Wie – um Abschied zu nehmen?«

»Jawohl. Haben Sie denn nicht gehört? Er verläßt Darja Michailowna.«

»Verläßt sie?«

»Für immer; so sagt er wenigstens.«

»Aber wie kann das sein, wie ist das zu verstehen, nach allem, was …«

»Ja, das ist eine andere Sache! Verstehen läßt sich’s nicht, es ist
aber so. Es muß dort etwas vorgefallen sein. Er hat wohl die Sehne zu
stark gespannt, und sie ist – gerissen.«

»Michael Michailitsch!« sagte Alexandra Pawlowna, »ich verstehe nichts;
Sie wollen, dünkt mich, Spaß mit mir treiben …«

»Nein! Bei Gott nicht … Ich sage Ihnen, er reist fort und teilt dies
seinen Bekannten sogar brieflich mit. Von einem gewissen Gesichtspunkte
aus betrachtet, ist das, wenn Sie wollen, nicht übel; seine Abreise
verhindert indessen die Ausführung eines der merkwürdigsten
Unternehmen, welches Ihr Bruder und ich soeben erst zu besprechen
begonnen hatten.«

»Was ist das für ein Unternehmen?«

»Sie sollen es hören. Ich machte Ihrem Bruder den Vorschlag, zur
Zerstreuung auf Reisen zu gehen und Sie zu entführen. Ich übernahm es,
speziell für Sie Sorge zu tragen …«

»Wie ist das schön!« rief Alexandra Pawlowna, »ich kann mir denken,
auf welche Weise Sie für mich Sorge tragen würden. Sie ließen mich
vermutlich Hungers sterben.«

»Das sagen Sie, Alexandra Pawlowna, weil Sie mich nicht kennen. Sie
glauben, ich sei ein Klotz, ein wahrer Klotz, ein Holzblock! Wissen Sie
aber, daß ich imstande bin, zu schmelzen wie Zucker und tagelang auf
den Knien zu liegen?«

»Das möchte ich wahrhaftig sehen!«

Leschnew erhob sich plötzlich. »Nun, nehmen Sie mich zum Manne,
Alexandra Pawlowna, dann werden Sie es erleben.«

Alexandra Pawlowna wurde bis über die Ohren rot.

»Was haben Sie da gesagt, Michael Michailitsch?« brachte sie verwirrt
hervor.

»Gesagt habe ich,« erwiderte Leschnew, »was mir schon längst und
tausendmal auf der Zunge geschwebt hat. Ich habe es nun ausgesprochen
und Sie können nach Gutdünken verfahren. Um Ihnen jedoch nicht störend
zu sein, will ich mich jetzt entfernen. Ja, ich entferne mich … Wenn
Sie meine Frau werden wollen … Wenn es Ihnen nicht zuwider ist, lassen
Sie mich nur rufen; ich werde es schon verstehen …«

Alexandra Pawlowna wollte Leschnew zurückhalten, er ging aber rasch
hinaus und begab sich ohne Mütze in den Garten und starrte, auf die
Gartentür gestützt, ins Weite hinaus.

»Michael Michailitsch!« ließ sich hinter ihm die Stimme des
Kammermädchens hören, »die gnädige Frau läßt Sie zu sich bitten.«

Michael Michailitsch wandte sich um, faßte das Mädchen zu seinem
großen Erstaunen beim Kopfe, küßte es auf die Stirn und begab sich zu
Alexandra Pawlowna.




XI


Als Rudin, kurz nach seinem Zusammentreffen mit Leschnew, nach Hause
zurückgekehrt war, hatte er sich auf seinem Zimmer eingeschlossen und
zwei Briefe geschrieben: einen an Wolinzow, den der Leser bereits
kennt, und einen an Natalia. An diesem zweiten Briefe hatte er lange
gearbeitet, vieles in demselben gestrichen und umgeändert, und
nachdem er ihn säuberlich auf einen Bogen feines Postpapier ins reine
geschrieben und ihn dann so klein als möglich zusammengelegt hatte,
steckte er ihn in die Tasche. Mit gramerfülltem Gesichte ging er einige
Male im Zimmer auf und ab, setzte sich in einen Lehnstuhl ans Fenster
und stützte sich auf den Arm; eine Träne zitterte auf seinen Wimpern …
Plötzlich, als raffte er sich zu einem letzten Entschlusse zusammen,
erhob er sich, knöpfte seinen Rock bis an den Hals zu, rief den Diener
und hieß ihn bei Darja Michailowna nachfragen, ob sie für ihn sichtbar
sei.

Der Diener kehrte bald zurück und meldete, Darja Michailowna erwarte
ihn.

Rudin begab sich zu ihr.

Sie empfing ihn in ihrem Kabinett wie das erstemal, zwei Monate vorher.
Jetzt aber war sie nicht allein: Pandalewski, bescheiden, frisch,
sauber und salbungsvoll wie immer, saß bei ihr.

Darja Michailowna begegnete Rudin freundlich, und dieser begrüßte
sie mit anscheinender Ungezwungenheit; beim ersten Blick auf die
lächelnden Gesichter beider wäre jeder einigermaßen weltkundige Mensch
jedoch leicht gewahr geworden, daß zwischen ihnen etwas Unangenehmes
vorgefallen, wenn auch nicht verhandelt worden sei. Rudin wußte, daß
Darja Michailowna böse auf ihn war, und diese ahnte, daß er bereits von
ihrem Vorhaben unterrichtet sei.

Pandalewskis Bericht hatte sie sehr aufgeregt. Der Standeshochmut hatte
sich in ihr geregt. Rudin, der unbegüterte, ranglose und bis jetzt noch
unbekannte Mensch, hatte sich erfrecht, ihrer Tochter – der Tochter
Darja Michailowna Laßunskis – ein Stelldichein zu geben!!

»Nehmen wir an, er sei klug, ein Genie!« sagte sie, »was folgt denn
daraus? Es könnte demnach ein jeder darauf hoffen, mein Schwiegersohn
zu werden?«

»Lange wollte ich meinen Augen nicht trauen,« hatte Pandalewski
eingewandt. »Wie es möglich ist, seinen Platz in der Welt nicht zu
kennen, das wundert mich!«

Darja Michailowna war sehr aufgebracht und Natalia hatte darunter zu
leiden.

Sie bat Rudin Platz zu nehmen. Er tat es, aber nicht mehr wie der Rudin
von ehemals, der fast Herr im Hause geschienen hatte, selbst nicht wie
ein guter Bekannter, sondern wie ein Gast und nicht sehr befreundeter
Gast. Alles dies war das Werk eines Augenblicks … So verwandelt sich
Wasser plötzlich in festes Eis.

»Ich komme, Darja Michailowna,« begann Rudin, »Ihnen für Ihre
Gastfreundschaft Dank zu sagen. Ich habe soeben wichtige Nachrichten
von meinem Gütchen bekommen und muß heute noch dahin abreisen.«

Darja Michailowna blickte Rudin scharf an.

Er ist mir zuvorgekommen, gewiß hat er Verdacht, dachte sie. Er
überhebt mich der lästigen Erklärungen, um so besser. Es leben die
klugen Köpfe!

»Wirklich?« sagte sie laut. »Ach, wie das unangenehm ist! Was ist da
zu machen! Ich hoffe, Sie diesen Winter in Moskau zu sehen. Wir reisen
auch bald von hier fort.«

»Ich weiß nicht, Darja Michailowna, ob es mir möglich sein wird, nach
Moskau zu kommen; sobald ich aber das Nötige dazu werde gefunden haben,
werde ich es für meine Pflicht erachten, Ihnen meine Aufwartung zu
machen.«

Oho, mein Bester! dachte Pandalewski jetzt bei sich: vor kurzem noch
hast du hier als Sultan geschaltet und gewaltet und drückst dich jetzt
in diesem Tone aus?

»Sie haben also unbefriedigende Nachrichten von Ihrem Gute erhalten?«
fragte er mit gewohnter Ziererei.

»Ja,« erwiderte Rudin trocken.

»Mißernte vielleicht?«

»Nein … etwas anderes … Glauben Sie mir, Darja Michailowna,« fuhr
Rudin fort, »ich werde die Zeit nie vergessen, die ich in Ihrem Hause
verbracht habe.«

»Ich meinerseits, Dmitri Nikolaitsch, werde mich immer mit Vergnügen
unserer Bekanntschaft erinnern … Wann reisen Sie?«

»Heute nach Tische.«

»So bald! … Nun, ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise! Übrigens,
wenn Ihre Geschäfte Sie nicht gar zu lange zurückhalten, könnten Sie
uns vielleicht hier noch treffen.«

»Das wird schwerlich angehen,« erwiderte Rudin, sich erhebend.
»Entschuldigen Sie mich,« setzte er hinzu, »ich kann nicht sogleich
meine Schuld abtragen, sobald ich aber auf meinem Gute …«

»Lassen Sie doch das, Dmitri Nikolaitsch!« unterbrach ihn Darja
Michailowna, »wie können Sie davon reden! … Doch wieviel ist’s an der
Zeit?« fragte sie.

Pandalewski langte aus seiner Westentasche eine kleine, goldene,
emaillierte Uhr hervor und die rosige Wange bedachtsam an den weißen,
steifen Hemdkragen schmiegend, beäugelte er das Zifferblatt.

»Zwei Uhr dreiunddreißig Minuten,« sagte er.

»Es ist Zeit, daß ich Toilette mache,« warf Darja Michailowna hin. »Auf
Wiedersehen, Dmitri Nikolaitsch!«

Rudin erhob sich. Die ganze Unterhaltung mit Darja Michailowna trug ein
eigenes Gepräge. So repetieren Schauspieler ihre Rollen, so tauschen
miteinander auf Konferenzen Diplomaten ihre zum voraus verabredeten
Phrasen …

Rudin ging hinaus. Er hatte jetzt an sich die Erfahrung gemacht, wie
Leute von Welt einen Menschen, den sie nicht mehr brauchen, beiseite
werfen, oder nicht einmal das, sondern ihn ganz einfach fallen lassen:
wie einen Handschuh nach dem Balle, ein Bonbonpapier, oder ein Billett
der Tombola, das nichts gewonnen hat.

Rasch packte er seine Sachen ein und wartete mit Ungeduld auf die
Stunde der Abreise. Alle im Hause waren sehr erstaunt, als sie seinen
Entschluß erfuhren; selbst das Dienerpersonal blickte ihn befremdet
an. Bassistow verhehlte nicht seinen Kummer. Augenfällig war’s, daß
Natalia Rudin vermied. Sie bemühte sich sogar, seinen Blicken nicht zu
begegnen; es gelang ihm aber dennoch, ihr seinen Brief zuzustecken. An
der Tafel äußerte Darja Michailowna nochmals, sie hoffe, Rudin noch vor
ihrer Abreise nach Moskau zu sehen, er erwiderte jedoch nichts darauf.
Häufiger als die übrigen richtete Pandalewski an ihn das Wort, und mehr
als einmal spürte Rudin das Verlangen, über ihn herzufallen und sein
blühendes, rosiges Gesicht zu ohrfeigen. Mit eigentümlich verschmitztem
Ausdruck in den Augen warf Mlle. Boncourt häufige Blicke auf Rudin:
solch einen Ausdruck kann man an sehr klugen Hühnerhunden bisweilen
bemerken … Ha, ha, schien sie sagen zu wollen, so also behandelt man
dich jetzt!

Endlich schlug es sechs Uhr und Rudins Tarantaß fuhr vor. Er nahm eilig
von allen Abschied. Es war ihm sehr unbehaglich zumute. Er hatte nicht
erwartet, daß er so aus diesem Hause scheiden werde: es hatte den
Anschein, als triebe man ihn davon … Wie ist das alles gekommen? und
warum brauchte ich so zu eilen? Doch das Ende bleibt dasselbe, – das
war es, was ihm durch den Kopf ging, als er mit erzwungenem Lächeln
nach allen Seiten hin grüßte. Zum letzten Male warf er einen Blick auf
Natalia, und es regte sich in ihm das Herz: ihre Augen waren auf ihn
gerichtet und gaben ihm ein trauriges, vorwurfsvolles Geleit.

Rasch lief er die Treppe hinunter und sprang in den Tarantaß. Bassistow
hatte sich erboten, ihn bis zur ersten Station zu begleiten und setzte
sich zu ihm.

»Erinnern Sie sich,« begann Rudin, nachdem der Wagen aus dem Hofe auf
die breite, mit Tannen besetzte Straße gerollt war, »erinnern Sie
sich, was Don Quijote zu seinem Knappen sagt, als sie das Schloß der
Herzogin verließen? ›Freiheit,‹ sagte er, ›Freund Sancho, ist eins der
kostbarsten Güter der Menschen, und glücklich ist, wem der Himmel sein
tägliches Brot beschert hat und wer anderen dafür nicht verpflichtet
zu sein braucht!‹ Was Don Quijote damals empfand, empfinde ich jetzt …
Gebe Gott, mein guter Bassistow, daß Sie niemals in die Lage kommen,
dies zu empfinden!«

Bassistow drückte Rudin kräftig die Hand und das Herz des ehrlichen
Jünglings klopfte heftig in seiner gerührten Brust. Bis zu der Station
sprach Rudin von der Würde des Menschen, von der Bedeutung der wahren
Freiheit – seine Worte waren warm, edel und aufrichtig – und als es zum
Scheiden gekommen war, hielt es Bassistow nicht mehr aus, warf sich ihm
um den Hals und brach in Schluchzen aus. Auch Rudin ließ einige Tränen
fallen; doch weinte er nicht darüber, daß er von Bassistow schied, es
waren Tränen der Eigenliebe, die er vergoß.

       *       *       *       *       *

Natalia begab sich auf ihr Zimmer und las Rudins Brief.

»Verehrte Natalia Alexejewna« – schrieb er – »ich habe mich
entschlossen, abzureisen. Ein anderer Ausweg bleibt mir nicht. Ich habe
mich entschlossen, abzureisen, bevor man mir unumwunden sagt, daß ich
mich entfernen möge. Mit meinem Scheiden hören alle Mißverständnisse
auf; bedauern wird mich schwerlich jemand. Wozu also noch zögern? …
Dies alles ist richtig, werden Sie denken, warum aber schreibe ich an
Sie?

»Ich scheide von Ihnen, vermutlich für immer, und es wäre gar zu hart,
müßte ich annehmen, daß ich einen schlechteren Ruf, als ich verdiene,
hinterlasse. Darum schreibe ich Ihnen jetzt. Ich will weder mich
rechtfertigen, noch irgend jemand beschuldigen, außer mich selbst: ich
will, so gut es geht, mich erklären … Die Ereignisse der letzten Tage
sind so unerwartet, so plötzlich hereingebrochen …

»Die heutige Zusammenkunft wird mir als Lehre dienen. Ja, Sie haben
recht: ich kannte Sie nicht, glaubte aber, Sie zu kennen! Auf meiner
Lebensbahn habe ich mit Menschen jeder Gattung zu schaffen gehabt,
bin mit vielen Frauen und Mädchen in Berührung gekommen; doch als Sie
mir begegneten, fand ich zum ersten Male eine vollkommen reine und
gerade Seele. Das war mir neu, und ich verstand nicht, Sie zu würdigen.
Ich fühlte mich gleich am ersten Tage unserer Bekanntschaft zu Ihnen
hingezogen – Sie müssen es bemerkt haben. – Viele Stunden verbrachte
ich mit Ihnen und habe Sie nicht kennengelernt; ja, ich gab mir nicht
einmal Mühe, Sie kennenzulernen … und ich habe mir einbilden können,
ich empfinde Liebe zu Ihnen!! Für diesen Frevel erdulde ich jetzt die
Strafe.

»Ich liebte vormals ein Weib und wurde wiedergeliebt … Das Gefühl, das
ich für sie empfand, war ein gemischtes, und so war auch das ihrige;
sie war aber kein Naturkind und so paßte denn eines zum anderen. Die
Wahrhaftigkeit zeigte sich mir damals nicht: ich habe sie auch jetzt
nicht erkannt, als sie vor mir stand … Zuletzt erst erkannte ich sie,
doch zu spät … Was vergangen, kehrt nicht wieder … Unser Leben hätte
sich in eins verschmelzen können – und wird es nun nimmer. Wie beweise
ich Ihnen, daß ich Sie mit wahrer Liebe – mit der Liebe des Herzens und
nicht der Einbildung hätte lieben können, wenn ich selbst nicht weiß,
ob ich einer solchen Liebe fähig bin!

»Die Natur hat mir viel gegeben – ich weiß es und will nicht aus falsch
verstandener Scham bescheiden vor Ihnen tun, vollends jetzt nicht, in
dieser für mich so bitteren, so schmachvollen Stunde … Ja, viel gab mir
die Natur; und ich werde sterben, ohne etwas getan zu haben, was meiner
Fähigkeiten würdig gewesen wäre, ohne von mir die geringste heilsame
Spur zu hinterlassen. Mein ganzer Schatz wird nutzlos verschwinden:
ich werde die Frucht meiner Aussaat nicht ernten. Es gebricht mir …
ich selbst weiß nicht zu sagen, woran es mir namentlich gebricht …
Es gebricht mir vermutlich an dem, ohne welches weder die Herzen der
Menschen sich bewegen, noch ein weibliches Herz sich erobern läßt;
die Herrschaft aber über die Geister allein ist eben so unsicher als
nutzlos. Sonderbar, fast komisch ist mein Geschick: ich gebe mich ganz,
mit wahrer Gier, vollständig hin – und kann mich doch nicht hingeben.
Das Ende wird sein, daß ich mich für irgendein Nichts, dem ich nicht
einmal glaube, opfern werde … Mein Gott! fünfunddreißig Jahre alt und
immer noch sich zur Tat zu rüsten!

»Ich habe mich noch gegen niemand so ausgesprochen, wie jetzt – dies
ist meine Beichte.

»Doch genug von mir. Mich verlangt, von Ihnen zu sprechen, Ihnen
einige Ratschläge zu erteilen: zu nichts anderem tauge ich … Sie sind
noch jung; doch wie lange Sie auch leben mögen, folgen Sie stets den
Eingebungen ihres Herzens, lassen Sie sich weder von Ihrem eigenen,
noch von fremdem Verstande beherrschen. Glauben Sie mir, je einfacher,
beschränkter der Kreis ist, in welchem das Leben sich abspinnt, desto
besser ist es; es kommt nicht darauf an, neue Seiten in demselben
zu entdecken, wohl aber, daß jeder Übergang in ihm zur rechten Zeit
stattfinde. ›Glücklich, wer von Jugend auf jung gewesen‹[5] … Ich
bemerke jedoch, daß diese Ratschläge weit mehr mich als Sie betreffen.

»Ich gestehe Ihnen, Natalia Alexejewna, mir ist sehr schwer ums Herz.
Ich habe mich niemals in der Natur jenes Gefühls, das ich Darja
Michailowna eingeflößt hatte, täuschen können; ich lebe jedoch der
Hoffnung, einen, wenn auch nur temporären Hafen gefunden zu haben …
Jetzt muß ich wieder durch die weite Welt irren. Was ersetzt mir Ihre
Unterhaltung, Ihre Gegenwart, Ihren aufmerkenden und klugen Blick?
… Ich bin selbst daran schuld; Sie werden aber zugeben, daß uns das
Schicksal wie vorsätzlich hart mitgespielt hat. Vor einer Woche ahnte
mir kaum, daß ich Sie liebte. Vorgestern abend im Garten vernahm ich
zum ersten Male aus Ihrem Munde … doch wozu sollte ich Ihnen ins
Gedächtnis rufen, was Sie an dem Abend sagten – und schon heute reise
ich ab, reise schmachbedeckt fort, nach der herben Unterredung mit
Ihnen und trage keine Hoffnung mit mir davon … Und noch wissen Sie
nicht, in welchem Grade ich Ihnen gegenüber schuldbeladen bin … Ich bin
nun einmal so tölpelhaft offenherzig und geschwätzig … Doch wozu davon
reden! Ich reise ab für immer.« (Hier hatte Rudin Natalia von seinem
Besuche bei Wolinzow zu erzählen angefangen, diese ganze Stelle jedoch
nach einigem Überlegen gestrichen und sodann in dem Briefe von Wolinzow
das zweite Postskriptum hinzugefügt.)

»Ich bleibe einsam auf der Welt, um, wie Sie heute früh mit grausamem
Lächeln zu mir sagten, mich anderen, mehr für mich geeigneten
Beschäftigungen zu widmen. O weh! wäre ich doch imstande, mich in der
Tat diesen Beschäftigungen zu widmen, endlich einmal meine Lässigkeit
zu überwinden … Doch nein! Ich werde dasselbe unvollendete Wesen, das
ich bisher gewesen bin, bleiben … Beim ersten Hindernis – falle ich
auseinander; der Vorfall mit Ihnen hat es mir bewiesen. Hätte ich
mindestens doch meine Liebe einer künftigen Wirksamkeit nach eigenem
Berufe zum Opfer gebracht; es war aber nur die Verantwortlichkeit, die
ich auf mich nehmen sollte, über die ich erschrak, und darum bin ich
wirklich Ihrer nicht würdig. Ich bin es nicht wert, daß Sie sich für
mich aus Ihrer Sphäre losreißen … Übrigens, wer weiß, wozu alles gut
gewesen … Aus dieser Prüfung werde ich vielleicht reiner und kräftiger
hervorgehen.

»Ich wünsche Ihnen alles Glück. Leben Sie wohl! Erinnern Sie sich
zuweilen meiner. Ich hoffe, Sie sollen noch von mir hören.

            Rudin.«

Natalia ließ den Brief Rudins auf ihre Knie fallen und blieb lange
unbeweglich mit auf den Boden gesenktem Blicke sitzen. Dieser Brief
bewies ihr klarer als irgendwelche Gründe es vermocht hätten, wie
recht sie gehabt hatte, als sie an diesem Morgen beim Abschiede von
Rudin unwillkürlich ausgerufen hatte, daß er sie nicht liebe! Doch
fühlte sie sich dadurch nicht erleichtert. Regungslos saß sie da; es
däuchte ihr, dunkle Wogen wären geräuschlos über ihr zusammengeschlagen
und sie versänke in den Abgrund, stumm und erstarrt. Eine erste
Enttäuschung preßt jedem das Herz ab; fast unerträglich aber ist
dieselbe für eine offene Seele, die keine Selbsttäuschung sucht,
und welcher Leichtfertigkeit und Übertreibung fremd sind. Natalia
gedachte ihrer Kinderzeit, wie sie abends, wenn sie spazierenging,
jedesmal bemüht gewesen war, dem erleuchteten Rande des Himmels,
dorthin, wo das Abendrot glühte, und nicht der dunklen Seite desselben
entgegenzuwandeln. Dunkel stand jetzt das Leben vor ihr, und sie hatte
dem Lichte den Rücken gekehrt …

Tränen traten ins Natalias Augen. Tränen sind nicht jedesmal wohltuend.
Erquickend und heilbringend sind sie, wenn sie, lange in der Brust
verhalten, endlich hervorbrechen – anfangs mit Anstrengung, dann immer
leichter, immer ruhiger; die stumme Angst des Grames löst sich in ihnen
auf … Es gibt jedoch kalte, spärlich rinnende Tränen: tropfenweise
entpreßt sie dem Herzen mit seinem schweren und steten Druck das auf
demselben lastende Leid; erquickungslos sind sie und bringen keine
Erleichterung. Solche Tränen weint die Not, und wer sie nicht vergoß,
war noch nicht unglücklich. Natalia lernte sie heute kennen.

Zwei Stunden vergingen. Natalia faßte ein Herz, stand auf, trocknete
die Augen, zündete ein Licht an, verbrannte an der Flamme desselben
Rudins Brief bis auf das letzte Stück und warf die Asche zum Fenster
hinaus. Dann schlug sie aufs Geratewohl Puschkin auf und las die
ersten Zeilen, die ihr in die Augen fielen (sie pflegte sich häufig auf
diese Weise aus ihm wahrsagen zu lassen). Auf folgende Stelle fiel ihr
Blick:

    Wer tief gefühlt, dem gönnt nicht Ruhe
    Das Schattenbild entschwundnen Glücks …
    Für ihn hat alles Reiz verloren,
    Erinnerung nur und Reue bohren
    Gleich Nattern sich ins Herz ihm ein …

Sie blieb eine Zeitlang stehen, warf mit kaltem Lächeln einen Blick auf
ihre Gestalt im Spiegel, machte mit dem Kopfe eine leichte Bewegung von
oben nach unten und begab sich ins Gastzimmer hinab.

Kaum hatte Darja Michailowna Natalia erblickt, so führte sie dieselbe
in ihr Kabinett, hieß sie neben sich Platz nehmen, streichelte
ihr freundlich die Wange und blickte ihr dabei aufmerksam, fast
neugierig in die Augen. In Darja Michailowna waren geheime Mutmaßungen
aufgestiegen: es kam ihr zum ersten Male der Gedanke – daß sie in
der Tat ihre Tochter nicht kenne. Als sie durch Pandalewski von der
Zusammenkunft mit Rudin hörte, war sie weniger entrüstet als erstaunt
gewesen, daß ihre verständige Natalia sich zu einem solchen Schritte
hatte entschließen können. Als sie sie aber zu sich rief und sie zu
schelten begann, nicht etwa im Tone einer feinen Weltdame, sondern
ziemlich schreiend und unmanierlich, da machten die festen Antworten
Natalias, ihre Entschlossenheit in Blick und Haltung Darja Michailowna
verwirrt, ja erschreckten sie sogar.

Die unerwartete, gleichfalls nicht ganz erklärliche Abreise Rudins nahm
eine Zentnerlast von ihrem Herzen; doch war sie auf Tränen, hysterische
Anfälle gefaßt … Und abermals machte Natalias äußerliche Ruhe sie irre.

»Nun, mein Kind,« nahm Darja Michailowna das Wort, »wie geht es heute?«

Natalia blickte ihre Mutter an.

»Er ist ja fort … jener Herr. Weißt du nicht, weshalb er sich so
schnell davongemacht hat?«

»Mama!« sagte Natalia mit leiser Stimme, »ich gebe Ihnen mein Wort,
wenn Sie nicht selbst seiner Erwähnung tun, sollen Sie von mir nie
etwas über ihn hören.«

»Du siehst also dein Unrecht gegen mich ein?«

Natalia senkte den Kopf und wiederholte:

»Sie werden von mir nie etwas über ihn hören …«

»Nun nimm dich in acht!« erwiderte Darja Michailowna lächelnd. »Ich
glaube dir. Vorgestern aber, erinnerst du dich, wie … Nun, nichts
mehr davon. Er sei beendigt, abgetan und vergessen. Nicht wahr? Jetzt
erkenne ich dich wieder; ich war aber wirklich ganz irre geworden. Nun,
gib mir doch einen Kuß, mein liebes, kluges Kind …«

Natalia führte Darja Michailownas Hand an ihre Lippen und diese
drückte einen Kuß auf den niedergebeugten Kopf ihrer Tochter.

»Beachte immer meine Ratschläge, vergiß nicht, daß du eine Laßunski und
meine Tochter bist,« setzte sie hinzu, »und du wirst glücklich sein.
Jetzt aber geh.«

Natalia ging schweigend hinaus. Darja Michailowna sah ihr nach und
dachte: so war ich – die wird sich auch fortreißen lassen: ~mais elle
aura moins d’abandon~. Und Darja Michailowna versank in Erinnerungen an
Vergangenes … längst Vergangenes …

Dann ließ sie Mlle. Boncourt rufen und blieb lange unter vier Augen
mit ihr eingeschlossen. Nachdem diese entlassen worden war, rief
sie Pandalewski zu sich. Sie wollte durchaus den wirklichen Grund
der Abreise Rudins erfahren … Pandalewski beruhigte sie indessen
vollkommen. So etwas schlug in sein Fach.

       *       *       *       *       *

Am folgenden Tage kam Wolinzow mit seiner Schwester zu Mittag. Darja
Michailowna war immer sehr liebenswürdig gegen beide, diesmal jedoch
empfing sie diese Gäste mit ausnehmender Freundlichkeit. Natalia war
unerträglich schwer zumute; Wolinzow dagegen war so ehrerbietig gegen
sie, so schüchtern, wenn er das Wort an sie richtete, daß sie im Herzen
nicht anders konnte, als ihm Dank dafür zu wissen.

Der Tag verging ruhig, ziemlich einförmig, doch als man sich trennte,
fühlte jeder sich wieder ins frühere Geleise gebracht; und das will
viel, sehr viel sagen. Jawohl, alle waren in das frühere Geleise
gekommen … alle, ausgenommen Natalia. Als sie allein war, schleppte
sie sich mit Mühe bis an ihr Bett und sank müde, wie gebrochen mit dem
Gesicht auf das Kissen. Das Leben dünkte ihr so herbe, so schal, es
widerte sie so sehr an, sie empfand eine solche Scham vor sich selbst,
vor ihrer Liebe, ihrem Gram, daß sie gewiß in diesem Augenblicke zu
sterben bereit gewesen wäre … Noch viele schwere Tage standen ihr
bevor, viele schlaflose Nächte, martervolle Aufregungen; sie war aber
jung – das Leben hatte für sie eben erst begonnen, das Leben aber
schafft sich, früh oder spät, sein Recht. Was für ein Schlag den
Menschen treffen mag, es wird ihm doch, wenn auch nicht an demselben
Tage, so vermutlich am folgenden – entschuldigen Sie den trivialen
Ausdruck – nach Essen verlangen, und da haben wir schon eine erste
Tröstung …

Natalias Leiden waren qualvoll; sie litt zum ersten Male … Doch die
ersten Leiden, wie auch die erste Liebe wiederholen sich nicht, – und
Gott sei es gedankt!




XII


Zwei Jahre etwa waren verflossen. Es war in den ersten Tagen des Mai.
Auf dem Balkon ihres Hauses saß Alexandra Pawlowna, jetzt nicht mehr
Lipin, sondern Leschnew; ungefähr vor einem Jahre hatte sie Michael
Michailitsch geheiratet. Sie war lieblich wie ehemals, nur in der
letzten Zeit etwas stärker geworden. Vor dem Balkon, von welchem
aus Stufen in den Garten führten, ging eine Amme umher mit einem
rotbäckigen Kinde in weißem Mäntelchen und weißem Besatz auf dem
Hütchen. Alexandra Pawlowna verwandte die Augen nicht von dem Kinde. Es
schrie nicht, saugte mit wichtiger Miene an seinem Finger und schaute
ruhig um sich herum. Es zeigte sich bereits als würdiger Sohn Michael
Michailitschs.

Neben Alexandra Pawlowna saß auf dem Balkone unser alter Bekannter
Pigassow. Er war seit wir ihn aus dem Gesicht verloren haben, merklich
ergraut, gebeugt, magerer geworden und zischte beim Sprechen: ein
Vorderzahn war ihm ausgefallen; das Zischen verlieh seiner Rede noch
mehr Bissigkeit … Seine Gehässigkeit hatte sich mit den Jahren nicht
vermindert, doch waren seine Witze stumpf geworden, und er verfiel
häufiger in Wiederholungen. Michael Michailitsch war nicht zu Hause,
man erwartete ihn zum Tee. Die Sonne war bereits untergegangen. Ein
langer, blaß-goldener, zitronengelber Streif zog sich am Abendhimmel
hin, während an dem entgegengesetzten Himmelsrande zwei solcher
Streifen sichtbar waren: einer, der untere, blau, der andere, obere,
rötlich-veilchenblau. In der Höhe verschwammen leichte Wölkchen. Alles
versprach anhaltend gutes Wetter.

Plötzlich lachte Pigassow auf.

»Was macht Sie lachen, Afrikan Semenitsch?« fragte Alexandra Pawlowna.

»Nichts, mir fiel ein … Gestern hörte ich, wie ein Bauer zu seiner
Frau, die gerade etwas redselig geworden war, sagte: knarre nicht!
… Mir hat der Ausdruck sehr gefallen. Knarre nicht! Und in der Tat,
worüber können die Weiber denn reden? Sie wissen, ich habe die
Anwesenden niemals im Sinne. Unsere Voreltern waren klüger als wir.
In ihren Legenden sitzt die Schöne am Fenster, mit einem Stern auf
der Stirn und dabei ist sie stumm wie ein Fisch. So muß es auch
sein. Und urteilen Sie selbst: da sagt zu mir vorgestern unsere Frau
Adelsmarschallin – wie ein Pistolenschuß schoß sie mir’s vor den
Kopf –, sagt die mir, ihr gefalle nicht meine Tendenz! Tendenz! Nun,
frage ich sie, wäre es nicht besser gewesen für sie, wie für alle, wenn
sie, kraft irgendwelcher wohltuenden Verfügung der Natur, plötzlich des
Gebrauches der Sprache beraubt worden wäre?«

»Sie bleiben sich immer gleich, Afrikan Semenitsch, Sie ziehen immer
gegen uns wehrlose … Wissen Sie, das ist auch ein Unglück in seiner
Art, gewiß. Sie tun mir leid.«

»Unglück? Wie können Sie das sagen! Erstens gibt es meiner Ansicht
nach überhaupt nur dreierlei Unglück auf der Welt: im Winter in kalter
Wohnung zu wohnen, im Sommer enge Stiefel zu tragen und in einem Zimmer
zu schlafen, wo ein Kind kreischt, auf das man kein Wanzenpulver
streuen darf. Übrigens bin ich nicht der friedfertigste Mensch von der
Welt geworden? Zu einer moralischen Sentenz, zu einem Rechenexempel bin
ich geworden! So sittsam ist jetzt mein Betragen!«

»Ein schönes Betragen, das Ihrige, ich muß es gestehen! Hat doch
gestern noch Helena Antonowna sich bei mir über Sie beschwert.«

»So–oh! Und was hat sie Ihnen erzählt, wenn ich fragen darf?«

»Sie sagte mir, Sie hätten den ganzen Morgen hindurch. auf alle ihre
Fragen nur eine Antwort gegeben, ›wa–as? wa–as!‹ und das mit so
winselndem Tone …«

Pigassow lachte.

»Es war aber eine gute Idee, das müssen Sie doch zugeben, Alexandra
Pawlowna …, wie?«

»Eine vortreffliche Idee! Darf man sich wohl gegen eine Frau so
unhöflich benehmen, Afrikan Semenitsch?«

»Was? Helena Antonowna ist eine Frau in Ihren Augen?«

»Was ist sie denn in den Ihrigen?«

»Eine Trommel, nichts weiter, eine gewöhnliche Trommel, worauf man mit
Stöcken paukt …«

»Ach ja!« unterbrach ihn Alexandra Pawlowna, um der Unterhaltung eine
andere Richtung zu geben, »man darf Ihnen, wie ich gehört habe, Glück
wünschen?«

»Wozu?«

»Zur Beendigung Ihres Prozesses. Die Glinow-Wiesen sind Ihnen ja
zugesprochen …«

»Ja, sie sind mir zugesprochen worden,« erwiderte finster Pigassow.

»Sie haben schon seit langer Zeit darnach getrachtet und scheinen jetzt
nicht zufrieden.«

»Ich muß Ihnen sagen, Alexandra Pawlowna,« brachte Pigassow langsam
hervor, »es kann nichts Schlimmeres und Verletzenderes geben, als wenn
ein Glück zu spät kommt. Freude kann es Ihnen doch nicht bringen,
dagegen raubt es Ihnen das Recht, das allerkostbarste Recht – das
Schicksal zu schelten. Ja, meine Gnädige, ein spätes Glück ist nichts
als ein bitterer und beleidigender Spott. –«

Alexandra Pawlowna zuckte bloß die Achseln.

»Amme,« sagte sie dann, »ich denke, es ist Zeit, daß Mischa zu Bett
gebracht wird. Gib ihn hierher.«

Und Alexandra Pawlowna machte sich mit ihrem Sohne zu schaffen, während
Pigassow sich brummend auf die andere Seite des Balkons zurückzog.

Auf einmal zeigte sich in der Nähe, auf dem Wege, der längs dem
Garten hinlief, Michael Michailitsch auf seiner Reitdroschke. Vor
derselben liefen zwei große Hofhunde her: der eine gelb, der andere
grau; er hatte sie sich vor kurzem erst angeschafft. Sie zerrten sich
unaufhörlich und waren die besten Freunde. Ein alter Dachshund kam
ihnen bis vor das Tor entgegen und sperrte das Maul auf, als wolle
er bellen, doch wurde daraus nur ein Gähnen und er kehrte, mit dem
Schwanze ruhig wedelnd, wieder um.

»Sieh einmal her, Sascha,« rief Leschnew schon von weitem seiner Frau
zu, »wen ich dir da mitbringe.«

Alexandra Pawlowna erkannte nicht sogleich die Person, die hinter ihrem
Manne saß.

»Ah! Herr Bassistow!« rief sie dann.

»Er ist es, er!« erwiderte Leschnew, »und was für vortreffliche
Nachrichten er bringt. Warte nur, du sollst sogleich alles erfahren.«

Und er fuhr in den Hof hinein.

Einige Minuten darauf erschien er mit Bassistow auf dem Balkon.

»Hurra!« rief er, seine Frau in die Arme schließend, »Sergei heiratet!«

»Wen?« fragte Alexandra Pawlowna bewegt.

»Versteht sich, Natalia … Unser Freund hier hat diese Nachricht aus
Moskau mitgebracht, und es ist auch ein Brief an dich da … Hörst du,
Mischuk?« setzte er hinzu, die Händchen seines Sohnes erfassend, »Dein
Onkel heiratet! … Das ist aber ein Phlegma! er blinzelt nur mit den
Augen dazu!«

»Der junge Herr wollen schlafen,« bemerkte die Amme.

»Ja,« sagte Bassistow, indem er zu Alexandra Pawlowna trat, »ich bin
heute von Moskau im Auftrage von Darja Michailowna gekommen – die
Gutsrechnungen durchzusehen. Hier ist auch der Brief.«

Alexandra Pawlowna öffnete hastig den Brief ihres Bruders. Er bestand
aus nur wenigen Zeilen. Im ersten Anfalle von Freude meldete er der
Schwester, er habe um Natalia angehalten, ihre und Darja Michailownas
Einwilligung bekommen, versprach mit der ersten Post ausführlich zu
schreiben und umarmte und küßte in Gedanken alle. Er schrieb offenbar
in einer Art von Betäubung.

Der Tee wurde gebracht. Bassistow mußte sich setzen. Man überschüttete
ihn mit Fragen. Alle, Pigassow sogar, waren über die erhaltene
Nachricht erfreut.

»Sagen Sie doch,« fragte Leschnew im Laufe der Unterhaltung, »es sind
uns Gerüchte über einen gewissen Herrn Kartschagin zu Ohren gekommen –
sollte an ihnen etwas Wahres sein?«

Dieser Kartschagin, welchen der Leser bisher noch nicht kennengelernt
hat, war ein hübscher junger Mann – ein Dandy, sehr aufgeblasen und
wichtigtuend; er hielt sich majestätisch und sah dabei so aus,
als wäre er kein lebendiger Mensch, sondern eine ihm selbst auf
Subskription errichtete Statue.

»Doch nicht so ganz unwahr,« erwiderte Bassistow mit einem Lächeln.
»Darja Michailowna war ihm sehr gewogen; Natalia wollte jedoch nichts
von ihm wissen.«

»Den kenne ich ja,« warf Pigassow dazwischen, »das ist ja ein
Doppeltölpel, ein Erzperückenstock … ich bitte Sie. Wenn alle Leute
ihm ähnlich wären, müßte man sich viel Geld zahlen lassen, wenn man
überhaupt leben sollte … wie ist das möglich!«

»Vielleicht,« erwiderte Bassistow, »in der Welt spielt er jedoch keine
der letzten Rollen.«

»Je nun, das ist uns gleich!« rief Alexandra Pawlowna aus, »lassen wir
ihn! Ach, wie bin ich froh um den Bruder! … Und Natalia ist heiter,
glücklich?«

»Ja. – Sie ist ruhig wie immer – Sie kennen sie ja – sie scheint aber
zufrieden zu sein.«

Der Abend verging unter angenehmen und heiteren Gesprächen. Man setzte
sich zu Tische.

»Ja, da fällt mir ein,« sagte Leschnew zu Bassistow, indem er ihm
Lafitte einschenkte, »wissen Sie, wo Rudin weilt?«

»Für jetzt weiß ich es nicht mit Bestimmtheit. Vorigen Winter kam er
auf kurze Zeit nach Moskau und reiste dann mit einer Familie nach
Simbirsk; wir tauschten eine Zeitlang miteinander Briefe: in dem
letzten benachrichtigte er mich, daß er Simbirsk verlasse – sagte
jedoch nicht, wohin er ziehe – und seit der Zeit hörte ich nichts mehr
von ihm.«

»Der geht nicht unter!« nahm Pigassow das Wort, »er sitzt irgendwo
und hält Reden. Dieser Herr wird immer zwei, drei Verehrer finden,
die ihm mit aufgerissenem Munde zuhören und ihm Geld vorschießen.
Geben Sie acht, das Ende davon wird sein, er stirbt in irgendeinem
Provinzialstädtchen – in den Armen einer überreifen Jungfer mit
falschem Haar, die ihm, als dem genialsten Menschen von der Welt, ein
heiliges Andenken bewahren wird …«

»Sie urteilen über ihn sehr scharf,« bemerkte Bassistow halblaut und
unzufrieden.

»Durchaus nicht scharf,« erwiderte Pigassow, »sondern der Wahrheit
getreu. Meiner Ansicht nach ist er ein Tellerlecker und weiter nichts.
Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen,« fuhr er, zu Leschnew gewendet,
fort, »ich habe ja die Bekanntschaft jenes Terlachow gemacht, mit
welchem Rudin die Reise ins Ausland machte. Jawohl, jawohl! Was der mir
von ihm erzählt hat, davon machen Sie sich keinen Begriff – das ist
wirklich lustig! Auffallend ist es, daß alle Freunde und Nacheiferer
Rudins mit der Zeit seine Feinde werden.«

»Ich bitte, mich aus der Zahl solcher Freunde auszuschließen!«
unterbrach ihn mit Feuer Bassistow.

»Sie, nun – das ist ein anderes Ding! Auf Sie ist es auch nicht
gemünzt.«

»Was war es denn, was Ihnen Terlachow erzählte?« fragte Alexandra
Pawlowna.

»Mancherlei: es fällt mir nicht alles ein. Die allerbeste Anekdote über
Rudin aber ist folgende: Ohne Unterlaß mit seiner Selbstentwicklung
beschäftigt (diese Herren sind es fortwährend, während andere,
einfach gesagt, schlafen und essen – befinden sie sich im Momente
der Entwicklung des Schlafens oder des Essens; ist es nicht so, Herr
Bassistow? – Bassistow antwortete nichts) … Also mit seiner Entwicklung
fortwährend beschäftigt, war Rudin auf dem Wege der Philosophie zu dem
Vernunftschlusse gekommen, daß er sich verlieben müsse. Er stellte
Nachforschungen über den Gegenstand an, der einem so wunderbaren
Vernunftschlusse entspräche. Fortuna lächelte ihm. Er machte die
Bekanntschaft einer Französin, einer allerliebsten Putzhändlerin. Das
ereignete sich, merken Sie wohl, in einer deutschen Stadt am Rhein.
Er besuchte sie, brachte ihr allerlei Bücher und sprach mit ihr über
Natur und Hegel. Stellen Sie sich die Lage der Putzhändlerin vor! sie
hielt ihn für einen Astronomen. Nun, Sie wissen, seine Figur ist nicht
übel: dazu war er Ausländer, Russe – er gefiel. Endlich bestimmte er
eine Zusammenkunft, ein höchst poetisches Stelldichein: in einer Gondel
auf dem Flusse. Die Französin willigte ein; legte ihr bestes Kleid an
und fuhr mit ihm in der Gondel spazieren. Auf diese Weise vergingen
zwei Stunden. Womit glauben Sie nun, daß er sich diese ganze Zeit über
beschäftigte? Er hat der Französin den Kopf gestreichelt, gedankenvoll
den Himmel angeschaut und ihr mehrmals wiederholt, daß er ›väterliche‹
Zärtlichkeit für sie fühle. Die Französin kehrte wutentbrannt nach
Hause zurück und hat nachher alles dem Terlachow erzählt. Solch ein
Kerl ist er gewesen!«

Und Pigassow lachte laut auf.

»Sie sind ein alter Zyniker!« bemerkte Alexandra Pawlowna ärgerlich,
»indessen gewinne ich immer mehr und mehr die Überzeugung, daß selbst
diejenigen, die über Rudin herfallen, ihm nichts Schlechtes nachsagen
können.«

»Nichts Schlechtes? Ich bitte Sie! Und sein beständiges Leben auf
fremder Leute Kosten, seine Anleihen … Michael Michailitsch? Gewiß hat
er auch von Ihnen geborgt?«

»Hören Sie, Afrikan Semenitsch!« begann Leschnew, und sein Gesicht
nahm einen ernsten Ausdruck an, »hören Sie: Sie wissen und meine Frau
weiß es auch, daß ich in der letzten Zeit keine besondere Zuneigung zu
Rudin gefühlt und oft sogar hart über ihn geurteilt habe. Bei allem
dem (Leschnew goß Champagner in die Gläser) will ich Ihnen folgenden
Vorschlag machen: wir haben soeben auf die Gesundheit unseres teueren
Bruders und seiner Braut getrunken; ich fordere Sie jetzt auf, auf die
Gesundheit Dmitri Rudins zu trinken!«

Alexandra Pawlowna und Pigassow sahen Leschnew mit Verwunderung an,
während Bassistow das Herz im Leibe hüpfte und er vor Freude rot wurde
und die Augen aufriß.

»Ich kenne ihn gut,« fuhr Leschnew fort, »von seinen Fehlern weiß ich
nur zu viel. Sie fallen um so mehr in die Augen, weil er selbst kein
Alltagsmensch ist.«

»Rudin – ist eine geniale Natur!« warf Bassistow ein.

»An Genialität fehlt es ihm nicht,« erwiderte Leschnew, »aber Natur
– das ist eben das schlimme – Natur hat er nicht … Doch nicht davon,
von dem Guten, Seltenen in ihm wollte ich sprechen. Er ist voll
Begeisterung; das ist aber in unseren Tagen, sie können es mir, dem
Phlegmatiker, glauben, die allerkostbarste Eigenschaft. Wir sind alle
unausstehlich überlegt, gleichgültig und träge geworden; wir sind
schläfrig, erkaltet und müssen es demjenigen Dank wissen, der uns, wenn
auch nur auf einen Augenblick, aufrüttelt und erwärmt! Es ist ja die
höchste Zeit! Erinnerst du dich, Sascha, ich sprach einmal mit dir von
ihm und beschuldigte ihn der Kälte. Ich hatte damals recht und unrecht
zugleich. Diese Kälte steckt bei ihm im Blute – daran ist er nicht
schuld – nicht aber im Kopfe. Er ist kein Mime, wie ich ihn nannte,
kein Betrüger, kein Schurke; er lebt auf fremde Kosten nicht wie ein
Schleicher, sondern wie ein Kind … Ja gewiß, er wird irgendwo in Elend
und Armut sterben; sollte man aber deshalb einen Stein auf ihn werfen?
Er selbst wird nie etwas vollenden, ausführen, weil ihm eben Natur
und Blut fehlen; wer hat aber das Recht, zu behaupten, daß er keinen
Nutzen bringen werde, nicht bereits Nutzen gebracht habe? Daß seine
Worte nicht schon viel guten Samen in junge Herzen gestreut haben,
denen die Natur nicht wie ihm Tatkraft und Verständnis zum Vollbringen
des Gedachten versagt hat? Habe ich ja doch, ich vor allem, alles
dieses an mir selbst erfahren … Sascha weiß, was Rudin in meinen jungen
Jahren mir gewesen ist. Ich entsinne mich ferner, behauptet zu haben,
daß Rudins Worte keine Wirkung auf die Menschen auszuüben vermöchten;
ich redete aber damals von Menschen, die mir meinem jetzigen Alter
nach gleichstanden, von Menschen, die das Leben bereits gekostet
haben, und die vom Leben etwas zerzaust sind. Ein falscher Ton in der
Rede – und sie verliert für uns jede Harmonie; beim Jüngling ist aber
glücklicherweise das Gehör noch nicht so ausgebildet, noch nicht so
verwöhnt. Wenn nur der Inhalt des Gehörten ihm schön dünkt, was kümmert
ihn da der Ton! Den wird er schon in sich selbst finden.«

»Bravo! Bravo!« rief Bassistow, »wie wahr ist das gesprochen! Was
jedoch Rudins Einfluß betrifft, da schwöre ich Ihnen, daß er nicht bloß
einen Menschen aufzurütteln imstande war, sondern ihn auch weiterschob,
ihm die Zeit nicht ließ, stehenzubleiben, ihn um und um kehrte, ihn
entflammte, begeisterte!«

»Sie hören es!« fuhr Leschnew fort, sich an Pigassow wendend, »welchen
Beweis brauchen Sie noch? Sie machen die Philosophie herunter; wenn Sie
von ihr reden, finden Sie nicht genug verächtliche Ausdrücke. Ich bin
ihr auch nicht besonders hold und begreife sie schlecht; doch nicht
von der Philosophie rühren unsere Hauptverbrechen her! Philosophische
Spitzfindigkeiten und Träumereien werden an dem Russen nie haften;
dazu besitzt er zu viel gesunden Menschenverstand; man darf aber auch
nicht die Philosophie als Vorwand benutzen, um jedes ehrliche Streben
nach Wahrheit und Erkenntnis anzufechten. Es ist Rudins Unglück, daß
er Rußland nicht kennt, und in der Tat ist das ein großes Unglück.
Das Vaterland kann einen jeden von uns entbehren, aber keiner von
uns das Vaterland. Wehe dem, der da meint, daß er’s könne; doppelt
wehe über den, der es in der Tat entbehrt! Kosmopolitismus – ist ein
Unding, der Kosmopolit – eine Null, ärger als eine Null; außerhalb
der Nationalität gibt es weder Kunst, noch Wahrheit, noch Leben, gibt
es nichts. Ohne Physiognomie ist nicht einmal das ideale Gesicht;
nur das gemeine braucht keine zu haben. Ich muß aber wieder darauf
zurückkommen, Rudins Schuld ist es nicht: sein Verhängnis ist es, ein
bitteres, schweres Verhängnis, das wir ihm doch gewiß nicht vorwerfen
werden. Es würde uns zu weit führen, wollten wir untersuchen, warum
Leute, wie Rudin, verkommen. Wir wollen ihm dagegen für das Gute, das
in ihm ist, dankbar sein. Dies ist leichter als ungerecht gegen ihn
zu sein, und wir sind ungerecht gegen ihn gewesen. Eine Strafe über
ihn zu verhängen, steht uns nicht zu, es wäre auch unnütz: er hat sich
selbst viel strenger bestraft, als er es verdiente … Und gebe Gott,
daß das Unglück alles Schlechte aus ihm ausscheide und nur das Schöne
in ihm zurücklasse! Ich trinke auf Rudins Gesundheit! Ich trinke auf
die Gesundheit des Kameraden meiner besten Jahre, ich trinke auf das
Wohl der Jugend, ihrer Hoffnungen, ihres Strebens, ihres Vertrauens und
ihrer Ehrlichkeit, auf das Wohl von allem, was unsere zwanzigjährigen
Herzen schon klopfen machte und was im späteren Leben nichts Besseres
aus unserem Gedächtnis verdrängen konnte, verdrängen wird … Ich trinke
auf dein Andenken, goldene Zeit, ich trinke auf Rudins Wohl!«

Alle stießen mit Leschnew an. Bassistow hätte im Eifer beinahe sein
Glas zerschlagen und stürzte dessen Inhalt in einem Zuge hinunter,
Alexandra Pawlowna drückte Leschnew die Hand.

»Ich hatte gar nicht vermutet, Michael Michailitsch, daß Sie so beredt
wären,« bemerkte Pigassow, »das war eines Rudin würdig! Ich muß
gestehen, das hat sogar mich gepackt.«

»Ich bin durchaus nicht beredt,« erwiderte Leschnew nicht ohne
Unwillen, »_Sie_ aber zu packen, glaub ich, ist keine leichte Sache.
Doch genug von Rudin; sprechen wir von etwas anderem …«

»Sagen Sie doch … jener, wie heißt er gleich? … Pandalewski! lebt der
immer noch bei Darja Michailowna?« fragte er, sich an Bassistow wendend.

»Gewiß, er ist immer noch bei ihr! Sie hat ihm eine einträgliche Stelle
ausgewirkt.«

Leschnew lächelte.

»Der wird nicht im Elend umkommen, dafür ließe sich bürgen.«

Das Abendessen war beendet. Die Gäste gingen auseinander. Als Alexandra
Pawlowna mit ihrem Manne allein geblieben war, blickte sie ihm zärtlich
ins Gesicht.

»Wie warst du heute schön, Mischa!« sagte sie, seine Stirn sanft mit
der Hand streichelnd, »wie klug und edel du gesprochen hast! Gestehe
aber, du hast dich heute ein wenig zum Vorteil Rudins hinreißen lassen,
wie ehemals zu dessen Nachteile …«

»Den am Boden Liegenden schlägt man nicht[6] … überdies befürchtete
ich damals, daß er dir irgendwie den Kopf verdrehen könnte,« fügte er
lächelnd hinzu.

»Nein,« erwiderte treuherzig Alexandra Pawlowna, »er ist mir von jeher
zu gelehrt vorgekommen, ich fürchtete mich vor ihm und wußte nicht,
wie ich in seiner Gegenwart sprechen sollte. Pigassow hat sich aber
doch heute ziemlich boshaft über ihn lustig gemacht, scheint dir’s
nicht?«

»Pigassow?« sagte Leschnew. »Darum namentlich nahm ich mit solcher
Wärme Rudin in Schutz, weil Pigassow da war. Er wagt es, ihn einen
Tellerlecker zu nennen! Meiner Ansicht nach ist aber die Rolle, die
er, Pigassow, spielt, hundertmal ärger. Er besitzt ein unabhängiges
Vermögen, macht sich über alles lustig und schwänzelt bei Vornehmen und
Reichen herum! Weißt du aber auch, daß dieser Pigassow, der mit solcher
Erbitterung auf alle und alles schimpft und über Philosophie und Weiber
herfällt, – weißt du wohl, daß er, als er sich noch im Amte befand, ein
Sportelreißer war und noch dazu ein arger!«

»Wäre es möglich?« rief Alexandra Pawlowna. »Das hätte ich nicht
erwartet … Höre, Mischa,« setzte sie nach einigem Schweigen hinzu, »was
ich dich fragen will …«

»Nun?«

»Wie denkst du, wird der Bruder wohl mit Natalia glücklich sein?«

»Wie soll ich dir darauf antworten … allem Anschein nach, ja … die
Oberhand wird sie behalten – unter uns brauchen wir kein Geheimnis
daraus zu machen – sie ist klüger als er; er ist aber ein herrlicher
Mensch und liebt sie von ganzer Seele. Was willst du mehr? Lieben wir
beide einander doch und sind glücklich, nicht wahr?«

Alexandra Pawlowna lächelte und drückte Michael Michailitsch die Hand.

       *       *       *       *       *

An demselben Tage, als das soeben Erzählte im Hause Alexandra Pawlownas
vorging – schleppte sich in einem der entlegensten Gouvernements
Rußlands, in der drückendsten Hitze, auf der Landstraße eine schlechte,
mit Matten bezogene Kibitka, vor welche drei Gutspferde gespannt waren,
mühsam dahin. Auf dem Vorderrande hielt sich, die Füße schräg auf das
Strängeholz gestemmt, ein grauhaariger Bauer in durchlöchertem Wams,
zog unaufhörlich an den Strickleinen und schwenkte dazu eine kleine
Peitsche; im Innern der Kibitka saß auf einem kärglich gefüllten
Mantelsack ein Mann von hohem Wuchse in Mütze und altem, staubigem
Mantel. Es war Rudin. Er saß gesenkten Hauptes da und hatte den Schirm
seiner Mütze über die Augen heruntergezogen. Ungleichmäßige Stöße des
Fuhrwerks warfen ihn von einer Seite auf die andere, er schien nichts
zu empfinden, als wäre er in Halbschlaf verfallen. Endlich richtete er
sich auf.

»Wann werden wir denn endlich zur Station kommen?« fragte er den vorn
sitzenden Bauer.

»Wart, Väterchen,« gab dieser zur Antwort und zog noch eifriger an
den Leinen, »sind wir erst den Hügel da hinaufgekommen, dann bleiben
nur noch zwei Werst, nicht mehr … Na, du! schläfst du … Ich will dich
lehren,« setzte er fistelnd hinzu und begann das rechte Seitenpferd mit
der Peitsche anzutreiben.

»Du fährst aber sehr schlecht, wie mir scheint,« bemerkte Rudin, »wir
schleppen uns schon seit dem Morgen und können nicht ankommen. Singe
mir wenigstens etwas vor.«

»Was soll man machen, Väterchen! Die Pferde, Sie sehen ja selbst, sind
ganz verhungert … und dazu noch die Hitze. Was nun das Singen betrifft
… das versteht unsereiner nicht: wir sind keine Fuhrleute … Heda, he!«
rief auf einmal der Bauer einem vorübergehenden Wanderer in braunem,
schlechtem Kittel und abgetretenen Bastschuhen zu, »heda, mache uns
Platz, Freundchen!«

»Seht mir den Kutscher,« brummte der Wanderer ihm nach und blieb
stehen. »Moskauer Blut!« setzte er mit dem Tone des Vorwurfes hinzu,
schüttelte den Kopf und ging des Weges langsam weiter.

»Wohin!« schrie der Bauer jetzt dem Mittelpferde zu und zog wieder
ruckweise an den Leinen; »ach du verdammtes! – ver–damm–tes! …«

So gut es ging, erreichten die ermüdeten Pferde endlich den Posthof.
Rudin stieg aus der Kibitka, bezahlte den Bauer, der ihm nicht
dafür dankte und das Geld lange in der hohlen Hand herumwarf – er
hatte vermutlich ein größeres Trinkgeld erwartet –, und trug seinen
Mantelsack selbst in das Postzimmer.

Einer meiner Bekannten, der in seinem Leben viel in Rußland
umhergereist war, hat die Beobachtung gemacht, daß, wenn in einem
Stationszimmer Bilder hängen, welche Szenen aus Puschkins »Gefangenen
im Kaukasus« oder russische Generale vorstellen, man bald Pferde
bekommen kann; wenn dagegen die Bilder das Leben des berüchtigten
Spielers Georges de Germany darstellen, der Reisende auf baldige
Beförderung nicht rechnen darf: er wird Zeit genug haben, sich
sattzusehen an dem emporgestrichenen Hahnenkamm, der weißen Weste
mit breiten Aufschlägen und den außerordentlich engen und kurzen
Beinkleidern des Spielers in seiner Jugend und an seiner rasenden
Physiognomie, als er, schon ergraut, mit hoch aufgehobenem Stuhle, in
einer Hütte mit schrägem Dache, seinen Sohn erschlägt. In dem Zimmer,
in welches Rudin trat, hingen gerade diese Bilder aus den »Dreißig
Jahren aus dem Leben eines Spielers«. Auf seinen Ruf erschien der
Stationshalter mit verschlafenem Gesichte (ich möchte wissen – ob wohl
jemand einen Stationshalter mit einem nicht verschlafenen Gesichte
gesehen hat?) und ohne Rudins Frage abzuwarten, erklärte er mit träger
Stimme, es seien keine Pferde da.

»Wie können Sie sagen, es seien keine Pferde da,« erwiderte
Rudin, »wenn Sie nicht einmal wissen, wohin ich fahre? Ich bin mit
Privatpferden hierhergekommen.«

»Für keinen der Wege sind Pferde da,« erwiderte der Posthalter. »Wohin
wollen Sie denn?«

»Nach …sk.«

»Es sind keine Pferde da,« wiederholte der Stationshalter und ging
hinaus.

Rudin trat ärgerlich ans Fenster und warf seine Mütze auf den Tisch. Er
hatte sich in diesen zwei Jahren nicht sehr verändert, war aber gelber
geworden; hin und wieder schillerten silberne Fäden in dem Haar und
die Augen, immer noch schön, schienen etwas matter geworden zu sein;
leichte Runzeln, Spuren bitteren und unruhevollen Denkens, zeigten sich
an den Lippen, den Wangen und den Schläfen.

Seine Kleidung war abgetragen und alt, von Wäsche war nirgends etwas zu
sehen. Die Zeit seiner Blüte war offenbar vergangen, er war, wie der
Gärtner zu sagen pflegt: in die Saat geschossen.

Er begann die Kritzeleien an den Wänden zu lesen … ein beliebter
Zeitvertreib sich langweilender Reisenden … plötzlich knarrte die Tür
und der Stationshalter trat herein.

»Pferde nach …sk sind keine da und werden noch lange nicht da sein,
aber nach …ow sind Retourpferde zu haben.«

»Nach …ow?« wiederholte Rudin. »Aber ich bitte Sie! das liegt ja gar
nicht auf meinem Wege. Ich reise nach Pensa, …ow liegt, wie mir deucht,
in der Richtung nach Tambow.«

»Was tut es? Sie können dann aus Tambow weiter, oder wenn es Ihnen
beliebt, werden Sie von …ow aus wieder hierher zurückkehren können.«

Rudin überlegte.

»Nun, meinethalben,« sagte er endlich, »lassen Sie einspannen. Mir ist
es ganz gleich; ich fahre nach Tambow.«

Die Pferde wurden bald vorgeführt. Rudin trug seinen Mantelsack hinaus,
stieg in den Postkarren, setzte sich und ließ wie vorhin den Kopf
hängen.

Es lag etwas Hilfloses und Trauervoll-Ergebenes in seiner gebeugten
Gestalt … Und das Dreigespann schleppte sich in kurzem Trabe unter dem
einförmigen Geklingel der Schellen dahin.




Epilog


Wiederum waren einige Jahre verstrichen.

An einem kalten Herbsttage hielt vor dem Eingange des Hauptposthofes
der Gouvernementsstadt S. eine Reisekalesche. Ächzend und sich reckend
stieg aus derselben ein Herr, er war noch nicht alt, besaß jedoch
bereits jene Fülle des Leibes, die man »respektabel« zu nennen pflegt.
Nachdem er die Treppe zum ersten Geschoß hinaufgestiegen war, blieb
er im Eingange des breiten Korridors stehen, und da er niemand gewahr
wurde, forderte er mit lauter Stimme ein Zimmer. Sogleich hörte man
eine Tür zuwerfen, ein langer Diener sprang hervor und lief eiligen
Schrittes den Gang voran, nur an dem Schmutzglanz auf der Rückseite und
den Ärmeln seines abgetragenen Rockes im Halbdunkel erkenntlich. Als
der Fremde in sein Zimmer trat, warf er sogleich Mantel und Plaid ab,
setzte sich auf einen Diwan, stemmte die Arme auf die Knie, blickte
wie schlaftrunken umher und befahl sodann, seinen Bedienten zu rufen.
Der Diener tat einen Schritt zurück und verschwand. Dieser Reisende
war kein anderer als Leschnew. Er war der Rekrutenaushebung wegen von
seinem Gute nach S. gekommen.

Leschnews Bedienter, ein junger, krausköpfiger und rotwangiger
Bursche, in grauem, mit blauer Schärpe umgürtetem Mantel und weichen
Filzstiefeln trat in das Zimmer.

»Nun siehst du, mein Lieber, da sind wir doch angekommen,« sagte
Leschnew, »und du hattest befürchtet, die Schiene am Rade werde
abspringen.«

»Ja, wir sind wirklich angekommen,« erwiderte der Bediente, und
versuchte über dem aufgeschlagenen Kragen des Mantels zu lächeln, »wie
aber die Schiene nicht abgesprungen ist, das …«

»Ist niemand da?« ließ sich eine Stimme im Korridor hören.

Leschnew fuhr zusammen und horchte auf.

»Heda! Wer da?« wiederholte die Stimme.

Leschnew erhob sich, trat an die Tür und machte sie rasch auf.

Vor ihm stand ein Mann von hohem Wuchse, fast ganz ergraut und gebeugt,
in einem alten Plüschrock mit bronzenen Knöpfen. Leschnew erkannte ihn
sogleich.

»Rudin!« rief er bewegt.

Rudin wandte sich um. Er konnte das Gesicht Leschnews, der mit
dem Rücken gegen das Licht stand, nicht erkennen und blickte ihn
zweifelhaft an.

»Sie erkennen mich nicht?« redete Leschnew ihn an.

»Michael Michailitsch!« rief Rudin aus und streckte die Hand vor, wurde
aber verwirrt und zog sie wieder zurück …

Leschnew ergriff sie mit beiden Händen.

»Treten Sie ein, herein zu mir!« sagte er zu Rudin und führte ihn in
sein Zimmer.

»Wie sind Sie verändert!« sagte Leschnew nach einigem Schweigen und
unwillkürlich die Stimme senkend.

»Ja, man sagt so,« erwiderte Rudin, mit dem Blicke im Zimmer
umherschweifend. »Die Jahre … Sie aber – sind wie früher. Wie geht es
Alexandra … Ihrer Gemahlin?«

»Ich danke, ganz wohl. Welch ein Zufall führt Sie hierher?«

»Mich? Das wäre eine lange Geschichte. In diesem Hause befinde ich
mich ganz zufällig. Ich suchte einen Bekannten. Übrigens freut es mich
sehr …«

»Wo speisen Sie?«

»Ich? Ich weiß nicht. Irgendwo in einem Gasthause. Ich muß heute noch
fort von hier.«

»Sie müssen?«

Rudin lächelte bedeutsam.

»Ja, ich muß. Man weist mir mein Gut zum Aufenthalt an.«

»Speisen Sie mit mir.«

Rudin blickte zum ersten Male Leschnew gerade in die Augen.

»Sie machen mir den Vorschlag, mit Ihnen zu speisen?« fragte er.

»Ja, Rudin, nach alter Art, wie Kameraden. Wollen Sie? Ich glaubte
nicht, mit Ihnen zusammenzutreffen und Gott weiß, wenn wir uns
wiedersehen werden. Wir können doch so nicht voneinander scheiden!«

»Gut, ich bin es zufrieden.«

Leschnew drückte Rudin die Hand, rief den Diener, bestellte das Essen
und befahl, eine Flasche Champagner auf Eis zu stellen.

       *       *       *       *       *

Während des Essens unterhielten sich Leschnew und Rudin, gleichsam wie
verabredet, ausschließlich von ihrem Studentenleben, kamen auf vieles
zu reden, auf Lebende und bereits Gestorbene. Anfangs sprach Rudin
gezwungen, doch, nachdem er ein paar Gläser getrunken hatte, wurde er
warm. Endlich nahm der Diener die letzte Schüssel vom Tisch. Leschnew
stand auf, verschloß die Tür, setzte sich dann an den Tisch, Rudin
gerade gegenüber und stützte still sein Kinn auf beide Hände.

»Nun, jetzt«, begann er, »müssen Sie mir alles erzählen, was sich mit
Ihnen zugetragen hat, seit ich Sie nicht gesehen habe.«

Rudin warf einen Blick auf Leschnew.

Mein Gott! dachte Leschnew nochmals, wie er aussieht, der arme Mensch!

Rudins Züge hatten sich noch immer nicht viel verändert, besonders
seit der Zeit, da wir ihn auf der Station trafen, obgleich bereits
Spuren des nahenden Alters darin sichtbar waren, der Ausdruck war jetzt
aber ein anderer. Die Augen blickten anders; aus seinem ganzen Wesen,
aus seinen bald langsamen, bald abgerissenen Bewegungen, aus seiner
schleppenden und gleichsam gebrochenen Rede sprach äußerste Ermattung,
geheimer und stiller Gram, der jener halbaffektierten Schwermut von
früher durchaus nicht ähnlich war, jener Schwermut, die einer von
Hoffnungen und vertrauungsvoller Selbstliebe erfüllten Jugend so gut zu
Gesichte steht.

»Ich soll Ihnen alles erzählen, was mir begegnet ist?« begann er.
»Alles läßt sich nicht erzählen und lohnt sich auch nicht … Abgeplackt
habe ich mich tüchtig und mich umhergetrieben, nicht mit dem Körper
allein – auch mit der Seele. Welche Enttäuschungen habe ich erfahren!
Mein Gott! Mit wem bin ich alles zusammengekommen! … Ja, mit wem,«
wiederholte Rudin, als er gewahr wurde, daß Leschnew ihn mit besonderer
Teilnahme anblickte. »Wie oft haben meine eigenen Worte mich angewidert
– nicht bloß in meinem eigenen Munde, sondern auch in dem Munde
jener Leute, die meine Ansichten teilten! Welche Übergänge habe ich
durchgemacht, von der Ungeduld, von der Reizbarkeit eines Kindes bis
zur stumpfen Gefühllosigkeit des Pferdes, das nicht einmal mehr mit
dem Schweife zuckt, wenn die Peitsche es trifft … Wie viele Male
habe ich mich umsonst gefreut, umsonst gehofft, gekämpft und mich
erniedrigt! Wie oft habe ich wie ein Falke meine Fittiche ausgebreitet
– und bin auf die Erde zurückgestürzt, um auf ihr fortzukriechen,
wie die Schnecke, deren Schale man zertreten hat! … Wo bin ich nicht
überall gewesen; welche Wege hat mein Fuß nicht betreten! Und es gibt
schmutzige Wege,« setzte Rudin hinzu und wandte sich etwas ab.

»Sie verstehen,« fuhr er fort …

»Hören Sie,« unterbrach ihn Leschnew, »einst sagten wir ›du‹ zueinander
… Willst du? Wir frischen das alte auf … Trinken wir auf das Du!«

Rudin erbebte, erhob sich und in seinem Blick flimmerte etwas, was
keine Sprache wiederzugeben vermag.

»Laß uns trinken, Bruder – Dank, Bruder, laß uns trinken.«

Leschnew und Rudin leerten jeder sein Glas.

»Du weißt,« begann Rudin wieder, mit Betonung des Wortes »du« und
lächelnd, »es sitzt in meinem Inneren ein Wurm, der an mir nagt und mir
nimmer Ruhe gönnen wird. Er stößt mich den Menschen entgegen – anfangs
empfinden sie meinen Einfluß, nachher aber …«

Rudin machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Seit ich Sie … dich zum letzten Male sah, bin ich um mancherlei
Erfahrungen reicher geworden … Mehrmals habe ich ein neues Leben
angefangen, mehrfach die Hand an ein neues Werk gelegt – und da siehst
du nun, wie weit ich gekommen bin!«

»Du hattest keine Ausdauer,« sagte, gleichsam vor sich hin, Leschnew.

»Wie du sagst, ich hatte keine Ausdauer! … Etwas erbauen, das habe ich
nie gekonnt! Und es ist auch nicht leicht, Bruder, etwas zu bauen, wenn
man keinen Boden unter sich fühlt, wenn man sein eigenes Fundament erst
selbst legen muß! Ich will dir nicht alle meine Abenteuer, das heißt,
all mein Mißgeschick, erzählen. Zwei, drei Vorfälle sollst du erfahren
… jene Vorfälle aus meinem Leben, wo, wie es schien, der Erfolg mir
bereits lächelte, oder nein, wo ich anfing, auf Erfolg zu hoffen – was
nicht ganz dasselbe ist …«

Rudin warf sein graues und schon lichter gewordenes Haar mit derselben
Handbewegung zurück, wie er früher zu tun gewohnt war, als er noch
dunkles und volles Haar hatte.

»Höre also,« begann er. »In Moskau kam ich mit einem ziemlich
sonderbaren Menschen zusammen. Er war sehr reich und besaß
beträchtliche Ländereien; er stand nicht in Staatsdiensten, seine
Hauptleidenschaft, seine einzige Leidenschaft war die Liebe zur
Wissenschaft, zur Wissenschaft im allgemeinen. Ich kann es bis jetzt
nicht begreifen, wie diese Leidenschaft bei ihm erwacht war! Sie stand
ihm ebenso, wie der Kuh der Sattel. Er selbst konnte sich nur mit
Mühe auf der Höhe der Vernunft behaupten und verstand es kaum, sich
auszudrücken; er rollte bloß bedeutungsvoll die Augen und schüttelte
bedenklich den Kopf. Eine wenig begabte und geistig ärmere Natur,
Bruder, ist mir nicht vorgekommen … Er erinnerte an jene weiten
Strecken im Smolenskischen Gouvernement, wo man nur Sand findet –
Sand, und weiter nichts, nur hie und da spärliches Gras, das kein Tier
fressen mag. Es wollte ihm nichts gelingen – alles glitt förmlich aus
seinen Händen, alles, und obendrein war er noch darauf versessen,
was leicht war, sich zu erschweren. Hätte es von ihm abgehangen, er
würde einen wahrhaftig noch dazu gebracht haben, auf dem Kopfe zu
gehen. Er arbeitete, schrieb und las unermüdlich. Mit einer gewissen
starrsinnigen Beharrlichkeit und grenzenlosen Geduld stürzte er sich
auf die Wissenschaften; sein Ehrgeiz war unbeschreiblich groß und sein
Charakter war eisern. Er lebte allein und galt für einen Sonderling.
Ich wurde mit ihm bekannt und … gefiel ihm. Ich muß gestehen, ich hatte
ihn bald durchschaut, doch sein Eifer rührte mich. Dann besaß er ein
so schönes Vermögen, es ließ sich durch ihn so viel Gutes, so viel
wahrhafter Nutzen stiften … Ich blieb bei ihm wohnen und fuhr endlich
mit ihm auf sein Landgut. – Großartige Pläne, Bruder, trug ich mit mir
herum; ich träumte von vielen Verbesserungen, Neuerungen …«

»So wie bei der Laßunski, erinnerst du dich,« bemerkte Leschnew mit
gutmütigem Lächeln.

»Nicht doch! Dort war ich mit meinem Innersten überzeugt, daß meine
Worte unfruchtbar bleiben würden; hier, hier jedoch … breitete sich vor
mir ein Feld ganz anderer Art aus … Ich schleppte agronomische Bücher
herbei … von denen ich, die Wahrheit zu sagen, nicht ein einziges bis
zu Ende gelesen habe … und dann machte ich mich an die Arbeit. Anfangs
ging es nicht, wie ich erwartet hatte, nachher aber schien es gehen zu
wollen. Mein neuer Freund schwieg zu allem und schaute zu, er störte
mich nicht, das heißt, bis zu einem gewissen Grade störte er mich
nicht; er nahm zwar meine Vorschläge an, führte dieselben auch aus,
aber starrsinnig, unnachgiebig und mit heimlichem Mißtrauen lenkte er
alles nach seinem Sinn. Er hielt mit Zähigkeit fest an jedem seiner
Gedanken, wie der Sonnenkäfer an dem Grashalm, dessen Spitze er nur
mit Anstrengung erklommen hat und nun dasitzt, scheinbar seine Flügel
zurechtzupfend, um weiterzufliegen – plötzlich aber herunterfällt, um
nochmals hinaufzukriechen … Du mußt dich nicht über diese Gleichnisse
wundern. Schon damals hatten sie sich in meinem Innern angehäuft.
Zwei Jahre schlug ich mich so herum. Die Geschäfte gingen schlecht,
ungeachtet aller meiner Anstrengungen. Ich fing an, ihrer überdrüssig
zu werden, mein Freund langweilte mich, und ich wurde ihm unbequem und
erdrückend; sein Mißtrauen ging in schlecht verhehlte Erbitterung über,
ein feindseliger Geist hatte sich unser beider bemächtigt, wir konnten
miteinander von nichts mehr sprechen; verstohlen, aber unaufhörlich
bemühte er sich, mir zu zeigen, daß er sich nicht meinem Einflusse
fügte; meine Verordnungen wurden entweder verdreht oder ganz widerrufen
… Ich wurde zuletzt inne, daß ich dem Herrn Gutsbesitzer nur als Mittel
zur geistigen Gymnastik diente … Ich war zu einer Art intelligenten
Parasiten geworden! Schmerzlich ward es mir, Zeit und Kräfte nutzlos zu
vergeuden, schmerzlich empfand ich es, daß ich aber- und abermals mich
in meinen Erwartungen getäuscht hatte. Ich wußte sehr wohl, wieviel
ich verlor, wenn ich fortging; vermochte es aber doch nicht über mich,
und eines Tages, infolge eines widerlichen und empörenden Vorfalles,
dessen ich Zeuge war und der mir meinen Freund in einem wirklich zu
unvorteilhaften Lichte zeigte, veruneinigte ich mich vollends mit ihm,
reiste ab und ließ diesen aus Steppenmehl mit Zutat deutschen Syrups
zusammengekneteten pedantischen Krautjunker fahren.«

»Das heißt: du hast dein Stück täglichen Brotes fahren lassen,« wandte
Leschnew ein und legte beide Hände auf Rudins Schulter.

»Ja, und stand wieder nackt und leicht da im leeren Raume. Fliege nun,
wohin du willst … Ha, trinken wir eins!«

»Auf deine Gesundheit!« sagte Leschnew, erhob sich und küßte Rudin auf
die Stirn. »Auf deine Gesundheit und auf Pokorskis Andenken … Er hat es
auch verstanden, arm zu bleiben.«

»Das war Nummer eins meiner Abenteuer,« sagte Rudin nach einer kleinen
Pause. »Soll ich fortfahren, wie?«

»Fahre fort, ich bitte dich.«

»He! Mit der Sprache will es nicht recht fort. Ich bin des Redens
müde, Bruder … Nun, es sei. Nachdem ich mich noch an verschiedenen
Stellen umhergetrieben hatte … ich könnte dir beiläufig erzählen, wie
ich bei einem pflichtgetreuen hohen Beamten Sekretär wurde und wie das
endete; es würde uns jedoch zu weit führen … nachdem ich mich also
an verschiedenen Orten umhergetrieben hatte, beschloß ich zuletzt …
ich bitte dich, nicht zu lachen … ein Geschäftsmann, ein praktischer
Mensch zu werden. Das kam folgendermaßen: ich wurde mit einem gewissen
… vielleicht hast du von ihm gehört … mit einem gewissen Kurbejew
bekannt …«

»Ich habe den Namen nie gehört. Aber ich bitte dich, Rudin, wie
konntest du mit deinem Verstande nicht einsehen, daß es gar nicht dein
Geschäft ist … entschuldige das Wortspiel … Geschäftsmann zu sein?«

»Ich weiß, Bruder, daß es nicht meine Sache ist; was ist denn aber
überhaupt meine Sache? … Hättest du nur Kurbejew gesehen! Stelle
ihn dir nur, bitte, nicht als einen hohlen Schwätzer vor. Man sagt,
ich wäre in früheren Jahren beredt gewesen. Ich bin im Vergleich
zu ihm nichts. Das war ein überaus gelehrter, belesener Mann; ein
schöpferischer Kopf, ein Kopf für Industrie und Handelsunternehmungen.
Die kühnsten, unglaublichsten Projekte sprühten in seinem Geiste. Wir
traten zusammen und faßten den Entschluß, gemeinschaftlich unsere
Kräfte einem gemeinnützigen Zwecke zu widmen.«

»Welchem? Sage doch!«

Rudin senkte den Blick.

»Du wirst lachen müssen.«

»Weshalb? Nein, ich werde nicht lachen.«

»Wir beschlossen, einen Fluß im K…schen Gouvernement schiffbar zu
machen,« äußerte Rudin, verlegen lächelnd.

»Ja so! Dieser Kurbejew war also Kapitalist?«

»Er war ärmer als ich,« erwiderte Rudin und senkte still seinen
ergrauten Kopf.

Leschnew lachte auf, hielt jedoch plötzlich inne und faßte Rudins Hand.

»Vergib mir, Bruder, ich bitte dich,« sagte er, »ich hatte das nun gar
nicht erwartet. Nun, euer Unternehmen blieb also auf dem Papier?«

»Nicht so ganz. Ein Angriff wurde gemacht. Wir mieteten Arbeiter … und
gingen ans Werk. Da stießen wir auf vielerlei Hindernisse. Erstens
wollte es den Mühlenbesitzern nicht einleuchten, zweitens konnten wir
mit dem Wasser ohne Maschine nicht fertig werden, für die Maschine
jedoch fehlte das Geld. Sechs Monate verbrachten wir in Erdhütten.
Kurbejews einzige Nahrung bestand in Brot; ich selbst wurde auch
nie satt. Ich bedauere es übrigens nicht: die Gegend da herum ist
wunderschön. Wir quälten und quälten uns ab, suchten die Kaufleute zu
überreden und sandten Briefe und Zirkulare in die Welt. Das Ende davon
war, daß mein letzter Groschen bei diesem Projekte aufging.«

»Nun!« bemerkte Leschnew, »ich denke, es war nicht schwer, deinen
letzten Groschen daran aufgehen zu sehen.«

»In der Tat war das nicht schwer … doch das Unternehmen war aber, bei
Gott, nicht übel und hätte großen Gewinn abwerfen können.«

»Was ist aber aus jenem Kurbejew geworden?« fragte Leschnew.

»Aus ihm? Er ist jetzt in Sibirien, Goldgräber ist er geworden. Und du
wirst sehen, er wird sich Vermögen erwerben; er wird nicht umkommen.«

»Mag sein! Du aber wirst es bestimmt nicht dahin bringen.«

»Ich? Was ist dabei zu machen! Ich weiß ja übrigens, daß ich in deinen
Augen von jeher für einen unnützen Menschen gegolten habe.«

»Du? Geh doch, Bruder! … Es gab eine Zeit, du hast recht, wo mir nur
deine Schattenseiten in die Augen fielen; jetzt aber, glaube mir’s,
habe ich dich schätzen gelernt. Vermögen wirst du dir wohl nicht
zusammenschlagen … Deshalb aber liebe ich dich …«

Rudin lächelte matt.

»Wirklich?«

»Ich achte dich deshalb!« erwiderte Leschnew, »verstehst du mich wohl?«

Sie schwiegen beide.

»Nun, soll ich zu Nummer drei übergehen?« fragte Rudin.

»Tu mir den Gefallen.«

»Gut. Die Nummer drei und die letzte. Von dieser Nummer habe ich mich
eben erst losgemacht. Langweilt es dich aber nicht?«

»Erzähle, erzähle.«

»Siehst du,« begann Rudin, »einmal in einer Stunde der Muße … an Muße
hat es mir niemals gefehlt … überlegte ich bei mir: Kenntnisse besitze
ich nicht wenig, ich wünsche das Gute du wirst doch nicht absprechen
wollen, daß ich das Gute wünsche?«

»Das fehlte noch!«

»Auf allen Punkten war ich mehr oder weniger durchgefallen … warum
sollte ich nicht Pädagog werden, oder um es einfach zu sagen, Lehrer? …
besser doch, als nichts zu tun …«

Rudin hielt inne und schöpfte Atem.

»Besser, als ein unnützes Leben führen, wird es doch sein, wenn ich
mich bestrebe, anderen das mitzuteilen, was ich weiß: vielleicht werden
sie aus meinen Kenntnissen einigen Nutzen für sich schöpfen. Meine
Talente sind doch am Ende keine alltäglichen; die Gabe der Rede habe
ich auch … Ich beschloß also, mich diesem neuen Fache zu widmen. Mühe
genug kostete es mir, eine Anstellung zu finden; Privatunterricht
wollte ich nicht erteilen; an Elementarschulen war mein Platz nicht.
Endlich gelang es mir, die Stelle eines Lehrers am hiesigen Gymnasium
zu erhalten.«

»Eines Lehrers – für welches Fach?« fragte Leschnew.

»Eines Lehrers der russischen Literatur. Ich kann dir sagen, noch keine
Sache habe ich mit solchem Eifer angegriffen wie diese. Der Gedanke,
auf die Jugend zu wirken, begeisterte mich. Drei Wochen war ich mit der
Abfassung meiner Antrittsvorlesung beschäftigt.«

»Hast du sie hier?« unterbrach ihn Leschnew.

»Nein, sie ist mir irgendwo verlorengegangen. Sie kam nicht schlecht
heraus und fand Beifall. Noch jetzt sehe ich die Gesichter meiner
Zuhörer vor mir, – diese guten, jungen Gesichter mit dem Ausdrucke der
treuherzigsten Aufmerksamkeit, Teilnahme, ja selbst des Erstaunens.
Ich bestieg das Katheder und hielt meinen Vortrag wie im Fieber; ich
hatte geglaubt, ich würde daran reichlich für eine Stunde haben, und
in zwanzig Minuten war ich fertig. Der Inspektor war auch zugegen –
ein trockener Alter mit silbergefaßter Brille und kurzer Perücke, –
von Zeit zu Zeit neigte er den Kopf nach meiner Seite hin. Als ich zu
Ende war und von meinem Sessel sprang, sagte er zu mir: ›Gut, doch
etwas zu hoch und unbestimmt, und von dem Hauptgegenstande ist zu wenig
gesagt worden.‹ Die Gymnasiasten jedoch geleiteten mich mit Blicken der
Achtung … wahrhaftig. Das eben gibt einen solchen Wert der Jugend. Die
zweite Vorlesung und auch die dritte hatte ich aufgeschrieben … dann
aber improvisierte ich.«

»Und hast Erfolg gehabt?« fragte Leschnew.

»Ich hatte großen Erfolg. Die Zuhörer fanden sich in Massen ein. Ich
teilte ihnen alles mit, was mir auf der Seele lag. Unter denselben
waren drei, vier in der Tat ausgezeichnete Knaben; die übrigen
verstanden mich nur halb. Ich muß indessen gestehen, daß auch
diejenigen, welche mich verstanden, mich bisweilen durch ihre Fragen
verwirrt machten. Ich verlor den Mut aber nicht. Liebten mich ja
doch alle: bei den Repetitionen gab ich allen gute Zensuren. Da aber
entspann sich gegen mich eine Intrige … oder nein! Eine Intrige war
es nicht; ich war, einfach gesagt, nicht in meine Sphäre geraten.
Ich war den anderen unbequem und die anderen waren es mir. Ich hielt
Gymnasiasten Vorlesungen, wie man sie Studenten nicht immer hält, und
meinen Zuhörern waren diese Vorlesungen doch nicht so sehr förderlich
… ich beherrschte die Tatsachen selbst … nicht recht. Zudem genügte
mir der Wirkungskreis nicht, der mir vorgezeichnet war … Du weißt ja,
das war immer meine schwache Seite. Ich wollte radikale Reformen und
schwöre dir, diese Reformen waren gut und ausführbar. Ich hoffte,
sie mit Hilfe des Direktors, eines braven und ehrlichen Mannes, auf
welchen ich anfangs Einfluß gehabt hatte, durchzusetzen. Seine Frau
stand mir bei. Ich habe, Bruder, in meinem Leben nicht viele solcher
Frauen getroffen. Sie war bereits nahe den Vierzigern, glaubte aber
noch an das Gute, liebte alles Schöne wie ein fünfzehnjähriges Mädchen
und scheute sich nicht, ihre Überzeugung, vor wem es auch sein mochte,
offen auszusprechen. Ich werde niemals ihre edle Begeisterung, ihre
Lauterkeit vergessen. Ihrem Rate folgend, hatte ich schon einen Plan
entworfen, doch da wurden geheime Umtriebe gegen mich eingeleitet und
ich ward bei ihr angeschwärzt. Besonders schadete mir ein Lehrer der
Mathematik, ein unansehnlicher, bissiger und gallsüchtiger Mensch, der
an nichts glaubte, in der Art wie Pigassow, aber bei weitem tüchtiger
als er … ja, sage doch, lebt Pigassow noch?«

»Er lebt und stelle dir’s vor, er hat eine Dienstmagd geheiratet, die,
wie man sagt, ihn prügeln soll.«

»Das geschieht ihm recht! Und Natalia Alexejewna, geht es ihr gut?«

»Ja.«

»Ist sie glücklich?«

»Ja.«

Rudin schwieg.

»Wovon sprach ich aber soeben … ganz recht, vom Lehrer der Mathematik.
Er hatte einen Haß auf mich geworfen, meine Vorlesungen verglich er
mit einem Feuerwerk, haschte im Fluge jeden, nicht ganz deutlichen
Ausdruck auf und führte mich einmal sogar in bezug auf ein Opus aus
dem sechzehnten Jahrhundert irre … Die Hauptsache aber war, er hatte
meine Absichten verdächtigt; meine letzte Seifenblase stieß an ihn wie
an eine Nadel und zerplatzte. Der Inspektor, zu dem ich mich gleich
anfangs nicht gut gestellt hatte, reizte den Direktor gegen mich auf;
und es kam zu einer Szene, ich wollte nicht nachgeben, wurde heftig,
die Geschichte kam den Oberen zu Ohren, und ich ward gezwungen, meine
Entlassung zu nehmen. Ich blieb nicht dabei stehen, ich wollte zeigen,
daß ich mit mir nicht so umspringen lasse … aber leider mußte ich
einsehen, daß man mit mir nach Belieben verfahren durfte … Jetzt muß
ich die Stadt verlassen.«

Es trat Schweigen ein. Beide Freunde saßen da mit gesenktem Kopfe.

Rudin nahm zuerst wieder das Wort.

»Ja, Bruder,« begann er, »ich kann jetzt mit Koltzow[7] ausrufen: ›Wie
hast du, meine Jugend, mir mitgespielt, mich umhergeworfen, ich weiß
nicht mehr, wo ein noch aus‹ … Und war ich denn wirklich zu nichts
gut, gab es denn wirklich gar nichts für mich zu tun auf der Welt? Ich
habe diese Frage oft an mich gerichtet und welche Mühe ich mir auch
gab, mich in meinen eigenen Augen herabzusetzen, so war mir’s dennoch
unmöglich, in mir das Vorhandensein von Kräften nicht zu fühlen, mit
denen nicht jedermann begabt ist! Weshalb bleiben denn diese Kräfte
unfruchtbar? Und dann noch eins: erinnerst du dich, als wir zusammen im
Auslande waren, war ich in Selbstvertrauen und Selbsttäuschung befangen
… Es ist wahr, ich war damals nicht deutlich dessen bewußt, wonach mich
verlangte, ich labte mich bis zur Übersättigung am Wortgepränge und
schenkte Trugbildern Glauben; jetzt aber, ich schwöre dir’s, darf ich
laut, vor allen, gestehen, was ich will. Ich habe nichts zu verhehlen:
ich bin im wahren Sinne des Wortes ein wohlgesinnter Mensch; ich werde
demütig, will mich in die Verhältnisse schicken, verlange wenig, strebe
nach keinem entfernten Ziele, möchte, wenn auch nur geringen, Nutzen
schaffen. Aber – es will mir nicht gelingen! Was bedeutet das? Was
hindert mich, zu leben und zu wirken, wie andere es tun? Ich trachte
ja jetzt nach nichts Höherem. Und doch! Kaum gelingt es mir, eine
bestimmte Stellung einzunehmen, auf einem gewissen Punkte Posto zu
fassen, so stößt mich das Geschick unerbittlich fort. Ich fange an,
Furcht zu bekommen vor meinem Geschicke. Woher das alles? Erkläre mir
dies Rätsel!«

»Rätsel!« wiederholte Leschnew. »Ja, es ist wahr. Warst du ja für mich
selbst ein Rätsel. Sogar in unserer Jugend, wenn du, wie es vorkam,
nach irgendeiner kleinlichen Äußerung plötzlich wieder das Wort nahmst,
daß uns das Herz im Leibe erzitterte, und dann wieder auf einmal
anfingst … nun, du weißt, was ich sagen will … selbst damals verstand
ich dich nicht: deshalb verlor sich auch meine Liebe zu dir … Es lag so
viel Kraft in dir, ein so unermüdliches Streben nach Idealen …«

»Worte, alles nur Worte! Die Taten fehlten,« unterbrach ihn Rudin.

»Die Taten fehlten! Was für Taten?«

»Was für Taten? Eine blinde Großmutter und die ganze Familie mit seiner
Hände Arbeit ernähren, wie Priaschenzow, erinnerst du dich – Da hast du
eine Tat.«

»Ja; aber ein gutes Wort – ist auch eine Tat.«

Rudin blickte schweigend Leschnew an und schüttelte still den Kopf.

Leschnew wollte etwas sagen, fuhr aber bloß mit der Hand über sein
Gesicht.

»Und so fährst du denn auf dein Gut?«

»Ja, ich fahre hin.«

»Hast du denn dein Gut behalten?«

»Etwas ist davon übriggeblieben. Zweiundeinehalbe Seele. Ein Winkel
für mich, wo ich den Tod erwarten kann. Du denkst vielleicht in diesem
Augenblicke: ›Auch dies vermochte er nicht ohne Phrase zu sagen.‹
Die Phrasen, es ist wahr, sie haben mein Unglück verschuldet, mich
aufgerieben, bis zum Ende habe ich sie nicht loswerden können. Was
ich aber soeben sagte, war keine Phrase. Dies weiße Haar, Bruder, ist
keine Phrase, diese Runzeln, diese durchgescheuerten Ellenbogen – sind
keine Phrase. Du bist immer streng gegen mich gewesen und das war recht
von dir; doch nicht von Strenge kann mehr die Rede sein, wenn schon
alles abgetan, in der Lampe kein Öl mehr und die Lampe auch bereits
zerschlagen ist und der Docht im nächsten Augenblicke zu verglimmen
droht … Der Tod, Bruder, muß am Ende alles aussühnen …«

Leschnew sprang auf.

»Rudin!« rief er aus, »warum sagst du mir das? Wodurch habe ich das von
dir verdient? Wer hat mich zum Richter bestellt, und was für ein Mensch
würde ich sein, wenn mir, beim Anblicke deiner eingefallenen Wangen und
Runzeln, das Wort Phrase in den Sinn kommen könnte? Du willst wissen,
was ich von dir denke? Wohlan! Ich denke: dieser Mensch … was hätte
der wohl mit seinen Fähigkeiten erringen können, über welche irdischen
Güter würde er wohl jetzt gebieten, wenn er gewollt hätte! … und ich
finde ihn hungernd und ohne Obdach …«

»Ich errege dein Mitleid,« brachte Rudin kaum hörbar hervor.

»Nein! Du irrst. Achtung flößest du mir ein – das ist es. Was
hinderte dich, lange Jahre bei jenem Gutsbesitzer, deinem Bekannten,
zu verbringen? Ich bin fest überzeugt, wenn du ihm nur zu Gefallen
hättest leben wollen, dein Auskommen wäre gesichert! Weshalb hast du
es im Gymnasium nicht ausgehalten, weshalb – sonderbarer Mensch! –
was auch dein jedesmaliges Sinnen im Anfang gewesen sein mag, mußte
dein Unternehmen allemal und durchaus damit enden, daß du deinen
eigenen Vorteil zum Opfer brachtest, keine Wurzel schlagen wolltest in
schlechtem Boden, wie fett er auch sein mochte!«

»Ich bin als Spielball auf die Welt gekommen,« fuhr Rudin mit
wehmütig-verächtlichem Lächeln fort. »Ich kann nicht stille stehen.«

»Das ist wahr; du kannst aber nicht stille stehen, nicht weil ein Wurm
in dir steckt, wie du vorhin sagtest … Kein Wurm steckt in dir, kein
Geist müßiger Unruhe: Liebe zur Wahrheit durchglüht dich, und wie man
sieht, glüht sie ungeachtet aller Misere in dir selbst lebhafter als in
vielen anderen, die sich nicht einmal für Egoisten erklärten und dich
vielleicht gar einen Intriganten nennen. Ich an deiner Stelle hätte
wahrlich schon längst jenen Wurm zum Schweigen gebracht und Frieden mit
allem geschlossen; du aber bist nicht einmal bitterer geworden, und ich
bin überzeugt, du wärst heute noch, in diesem Augenblicke, bereit, von
neuem wie ein Jüngling ans Werk zu gehen.«

»Nein, Bruder, ich bin jetzt ermattet,« erwiderte Rudin. »Es war für
mich genug.«

»Ermattet! Ein anderer wäre längst gestorben. Du sagst, der Tod sei ein
Sühneopfer; glaubst du denn, das Leben sei es nicht? Wer gelebt hat
und gegen andere nicht nachsichtig geworden ist, der verdient selbst
keine Nachsicht. Wer aber wollte behaupten, daß er keiner Nachsicht
bedürfe? Du hast gewirkt, wie du gekonnt hast, nach Kräften hast du
gekämpft … Was verlangst du mehr? Unsere Wege gingen auseinander …«

»Du, Bruder, bist ein ganz anderer Mensch als ich,« unterbrach ihn
Rudin mit einem Seufzer.

»Unsere Wege gingen auseinander,« fuhr Leschnew fort, »vielleicht eben
darum, daß mich, mit meinem Vermögen, mit meinem kalten Blute und
unter anderen, glücklicheren Verhältnissen, nichts daran hinderte,
ruhig sitzenzubleiben und, die Hände im Schoße, den Zuschauer zu
machen, während du auf das Feld hinaus mußtest, um mit aufgestreiften
Ärmeln dich zu plagen und abzuarbeiten. Unsere Wege gingen auseinander
… siehe aber, wie nahe wir einander sind. Reden wir ja beide fast
dieselbe Sprache, auf einen halben Wink verstehen wir einander, an
denselben Gefühlen sind wir herangewachsen. Von den Unserigen sind ja
wenige nur noch übrig, Bruder; beide sind wir die letzten Mohikaner!
In früheren Jahren, als wir noch das volle Leben vor uns hatten,
konnten wir verschiedener Meinung sein, ja sogar feindlich einander
gegenüberstehen; jetzt aber, da das Häufchen um uns lichter wird, da
neue Geschlechter an uns vorüberziehen, die anderen Zielen, als die
unserigen es waren, entgegeneilen, müssen wir zusammenhalten. Stoßen
wir an, Bruder, und laß uns nach alter Art singen: ~Gaudeamus igitur!~«

Die Freunde stießen mit den Gläsern an und sangen in gerührtem und
falschem, d. h. echt russischem Tone das alte Studentenlied.

»Du fährst jetzt auf dein Landgut,« nahm Leschnew wieder das Wort.
»Ich glaube nicht, daß du dort lange bleiben wirst, und kann mir nicht
vorstellen, wie, wo und auf welche Weise es mit dir enden wird. Vergiß
aber nicht, daß, was sich mit dir auch ereignen möge, du immer einen
Platz, ein Nest hast, wo du dein Haupt niederlegen kannst: mein Dach …
hörst du, altes Haus? Die Gedankenarbeit hat auch ihre Invaliden und
diese bedürfen eines Asyls.«

Rudin erhob sich.

»Danke dir, Bruder,« sagte er. »Habe Dank! Ich werde es dir eingedenk
sein. Doch eines Asyls bin ich nicht wert. Verdorben ist mein Leben,
und ich habe dem Ideal nicht gedient, wie sich’s gebührt.«

»Schweig!« unterbrach ihn Leschnew. »Ein jeder bleibt, wozu die Natur
ihn gemacht hat, und mehr läßt sich von ihm nicht fordern! Nanntest du
es nicht den ewigen Juden? … Wie kannst du es aber wissen, vielleicht
bist du dazu bestimmt, ewig umherzuwandern, vielleicht erfüllst du
dadurch ein höheres, dir selbst unbewußtes Verhängnis: nicht umsonst
heißt es im Munde der Volksweisheit, daß wir alle unter Gott stehen.
Ein Samenausstreuer bist du vielleicht! – Gehe also hin, wohin seine
Hand dich leitet,« fuhr Leschnew fort, als er bemerkte, daß Rudin seine
Mütze nehmen wollte. »Doch bleibst du nicht für die Nacht?«

»Ich will fort! Lebe wohl. Habe Dank … Mit mir endet es nicht gut.«

»Das steht bei Gott … Du fährst also bestimmt?«

»Ja. Lebe wohl. Behalte mich nicht in bösem Andenken.«

»Lebe wohl! Gedenke auch meiner nicht im Bösen, und vergiß nicht, was
ich dir gesagt habe. Lebe wohl …«

Die Freunde umarmten einander. Rudin entfernte sich rasch.

Leschnew ging lange im Zimmer auf und ab, hielt beim Fenster still und
sagte halblaut: »Armer Mensch!«, dann setzte er sich an den Tisch und
fing einen Brief an seine Frau an.

Draußen erhob sich der Wind und schlug mit unheilverkündendem
Heulen schwer und wie erbost an die klirrenden Scheiben. Eine lange
Herbstnacht war hereingebrochen. Wohl dem, der in solchen Nächten ein
Dach über sich weiß, einen warmen Winkel sein eigen nennt. Und möge
Gott alle obdachlosen Waller in Gnaden bewahren!

       *       *       *       *       *

In der heißen Mittagsstunde des 26. Juni 1848, in Paris, als der
Aufstand der »Arbeitervereine« fast unterdrückt war, stürmte ein
Bataillon Linientruppen in einer der engen Quergassen der Vorstadt
St. Antoine eine Barrikade. Einige Kanonenschüsse hatten sie bereits
in Schutt gelegt; die am Leben gebliebenen Verteidiger derselben
zogen sich zurück und waren nur noch auf ihre eigene Rettung
bedacht, als plötzlich auf dem höchsten Punkte der Barrikade,
auf dem eingeschlagenen Kasten eines umgestürzten Omnibuswagens,
ein hochgewachsener Mann sichtbar wurde in einem alten Rock, mit
einer roten Schärpe umgürtet, mit einem Strohhute auf dem weißen,
unordentlichen Haare. In der einen Hand hielt er eine rote Fahne, in
der anderen einen krummen, stumpfen Säbel und schrie mit angestrengter,
scharfer Stimme, indem er bemüht war, höher hinaufzuklimmen und mit
Fahne und Säbel Zeichen zu machen. – Ein Vincennes-Jäger legte auf ihn
an – ein Schuß fiel … dem hochgewachsenen Mann entglitt die Fahne – und
wie ein Sack stürzte er vornüber auf sein Gesicht, als wäre er jemandem
zu Füßen gefallen … Die Kugel war ihm gerade durchs Herz gegangen.

»~Tiens!~« sagte einer der fliehenden ~insurgés~ zu einem anderen, »~on
vient de tuer le Polonais!~«

»~Bigre!~« antwortete der andere, »~sauvons-nous!~« und beide warfen
sich in das Kellergeschoß eines Hauses, an welchem die Laden alle
verschlossen waren und dessen Wände überall Spuren von Kugeln und
Kartätschen zeigten.

Dieser »Polonais« war Dmitri Rudin.


Fußnoten:

    [1] Kleinrußland, weil dort das Landvolk und die untersten
        Klassen der Bevölkerung den Kopf rund herum rasiert tragen
        und nur auf dem Scheitel einen Schopf wachsen lassen.

    [2] So heißen die kleinrussischen Volkslieder.

    [3] Aus Gribojedow.

    [4] Petschorin, der Held in Lermontoffs Roman: »Der Held
        unserer Zeit«.

    [5] Puschkin.

    [6] Russisches Sprichwort.

    [7] Russischer Volksdichter.




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Leinen, 2 Bände 50 Mk.


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32 Mk.


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Eduard Berend. 1. Band: 1780–1794. Mit 6 Tafeln und einem Stammbaum.
2. Band: 1794–1797. Mit 6 Tafeln und einem Stammbaum. 3. Band: 1797
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Berend. Mit 15 Bildbeigaben. Geh. 4 Mk., Halbleinen 6 Mk.


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*

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(Die Weise von Kaiser Karls Fahrt gen Morgenland.) Nachdichtung aus
dem Altfranzösischen von Werner und Maja Schwartzkopff. Mit einer
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Mit zahlreichen Abbildungen. Kostenlos.


Der Indische Kulturkreis in Einzeldarstellungen.

Mit Abbildungen. Kostenlos.

*

Kaus, Gina: Der Aufstieg.

Novelle. Geh. 2 Mk., geb. 3 Mk.


Gottfried Keller


Sieben Legenden.

Mit 8 Holzschnitten von Hans Halm. Hergestellt in 1200 Expl. Die
Holzschnitte wurden von den Originalholzstöcken gedruckt. In Halbpergt.
geb. 10 Mk., Ganzpergt. 15 Mk.


Romeo und Julia auf dem Dorfe u. a.

Halbleinen 2 Mk.

Siehe unter Georg Müllers Zwei-Mark-Bücher.

*

Kierkegaard: Aus dem Tagebuch des Verführers. Diapsalmata.

Siehe unter Georg Müllers Zwei-Mark-Bücher und unter Bibliothek der
Philosophen.


Eugen Kilian


Goethes Egmont auf der Bühne.

Zur Inszenierung und Darstellung des Trauerspiels. Ein Handbuch der
Regie. Geh. 4.50 Mk., Halbleinen 5.50 Mk.


Dramaturgische Blätter.

Aufsätze und Studien aus dem Gebiete der praktischen Dramaturgie, der
Regiekunst und der Theatergeschichte. Geh. 3 Mk.


Aus der Praxis der modernen Dramaturgie.

Der Dramaturgischen Blätter zweite Reihe. Aufsätze und Studien aus
dem Gebiete der praktischen Dramaturgie, der Regiekunst und der
Theatergeschichte. Geh. 3 Mk.


Goethes Faust auf der Bühne.

Beiträge zum Probleme der Aufführung und Inszenierung des Gedichtes.
Geh. 1.50 Mk.


Shakespeare: Antonius und Kleopatra.

Trauerspiel in fünf Akten. Nach Baudissins Übersetzung für die deutsche
Bühne bearbeitet. 2. vielfach veränderte Aufl. Geh. 1 Mk.

*

Kin-Ku-Ki-Kuan: Chinesische Novellen.

Siehe unter Georg Müllers Zwei-Mark-Bücher.


Friedrich M. Kircheisen


Napoleon I. Sein Leben und seine Zeit.

1. Bd.: 1769–1796, 2. Bd.: 1796–1797, 3. Bd.: 1797–1799, 4. Bd.: 1799,
5. Bd.: 1800–1804. Jeder Band mit zahlreichen Abbildungen, Faksimiles,
Karten und Plänen. Leder je 70 Mk., Halbleder je 25 Mk.

(Bisher 5 Bände erschienen, weitere in Vorbereitung.)

Man verlange den illustrierten Prospekt: »Das Zeitalter Napoleons I.«


Napoleon im Lande der Pyramiden und seine Nachfolger 1798–1801.

Mit 100 Abbildungen, Faksimiles, Karten und Plänen. Geh. 7 Mk.,
Halbleder 20 Mk.


Fortsetzung des Bücherverzeichnisses siehe:

Goethes Tagebuch der italienischen Reise

(Georg Müllers Zwei-Mark-Bücher)


Druck von Mänicke & Jahn A.-G., Rudolstadt




    Weitere Anmerkung zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
    Unterschiedliche Schreibweisen insbesondere bei Namen wurden wie
    im Original beibehalten.
    Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Das Cover wurde aus dem unbeschrifteten Originalcover und der
    Titelseite zusammengesetzt und ist gemeinfrei (Public Domain.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK RUDIN ***


    

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Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

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