Das Labyrinth: Ein Lebenslauf aus dem 18. Jahrhundert

By Ina Seidel

The Project Gutenberg EBook of Das Labyrinth, by Ina Seidel

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Title: Das Labyrinth
       Ein Lebenslauf aus dem 18. Jahrhundert

Author: Ina Seidel

Illustrator: Alphons Wölfle

Release Date: January 11, 2015 [EBook #47941]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LABYRINTH ***




Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski and the
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                            [Illustration]

                              INA SEIDEL




                            DAS LABYRINTH


                        EIN LEBENSLAUF AUS DEM
                           18. JAHRHUNDERT

                            [Illustration]

                                 1922
                     VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS
                                 JENA

                Einband, Titel und Vignetten zeichnete
                            Alphons Wölfle

   Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen,
    vorbehalten. Copyright 1922 by Eugen Diederichs Verlag in Jena

                            Meiner Mutter
                    und dem Andenken meines Vaters
                               gewidmet




                             Erster Teil.
                             König Minos


                            [Illustration]

                            [Illustration]

Hinterher dachte George freilich, es wäre besser gewesen, den Mund zu
halten und die neu erworbene Kunstfertigkeit entweder schnell zu
vergessen oder sie nur auszuüben, wenn »Er« ferne war, -- etwa wie das
Schaukeln auf dem Wiesengatter, das George liebte und das »Er« des
Quietschens wegen streng verboten hatte. Aber wie hätte er, der kleine
George, hier an üble Folgen denken sollen? Unbefangen führte er sein
neues Können der Mutter vor, und Frau Justine mußte sich doch zu jemand
aussprechen, der das Ereignis besser in seiner ganzen Erstaunlichkeit zu
würdigen wußte, als der Wunderknabe selbst; dieser war nämlich in der
Stunde der Offenbarung seiner selbsterworbenen Fähigkeit genau so
rundäugig, gelassen und freundlich, wie vorher. Er hatte nun den Sinn
der sonderbaren Bilder auf den breiten Rücken der dicken
Schweinslederschwarten in Vaters Kabinett ergründet, -- Bilder, die
eigentlich keine Bilder waren, indem sie einzig nur sich selber glichen.
Er kannte sie, seit er begonnen hatte, auf dem Fußboden herumzurutschen,
er war ihren eigensinnigen Gestalten mit dem Fingerchen gefolgt und
hatte Gemeinschaft mit ihnen gehabt, denn sie gefielen ihm und er war
angenehm davon berührt, ihnen stets von neuem zu begegnen, wie sie sich
gesellig zusammen anfanden, immer die gleichen, aber nach geheimen
Gesetzen der Anziehung jedesmal anders gemischt. Etliche waren wie Tiere
mit festgestemmten Beinen und steilgereckten Schwänzen; andere
dickköpfig und menschlich; viele waren nur wie eine freundliche,
erstaunte oder einladende Gebärde, eins war wie eine brennende Kerze und
zwei von liebenswürdiger Brezelgestalt. Gewissen Lieblingen hatte er
bald eigene zärtliche Namen verliehen, so gab es ein »Pilzchen« und ein
»Tönnchen«, ein »Kugelrund« und einen »Butterkringel« unter ihnen. In
manchen Fällen bildeten sie Familien mit einem Vater oder einer Mutter
an der Spitze und einer Schar angereihter kleiner Kinder im Gefolge, die
dann alle einzeln benannt werden mußten. Einen liebte er gar nicht,
einen bösen Zickzack, der ihn anzuzischen und ihm ins Gesicht zu
springen schien, der hieß »Zetermordio«, -- wie konnte er anders heißen?
Dies war das Wort voll Angst. Allen aber wohnte eine seltsame Gewalt
inne, der das weiche Gehirn des Knaben willig erlag, der Wucht nicht
widerstrebend, mit der sie sich ihm einstampften. Dann kam er dahinter,
daß auch die großen Leute Beziehungen zu diesen Gestalten hatten, die da
in Schwarz oder Gold so regungslos verharrten und doch bedeutungsvoller
schienen als die blanken Nägelköpfe an Vaters Lehnstuhl, oder die
Tressen an seinem eigenen Sonntagsröckchen, oder die Mundtasse der
Mutter, -- denn auch diese Dinge, wie alles in der Welt, hatten ihr
eigenes Gesicht. Ja, der Vater wußte ebenfalls Namen für Pilzchen und
Tönnchen, er redete Pilzchen mit T an, und Tönnchen mit U, zu Kugelrund
sagte er O, und B zu Butterkringel. So ging es fort und war des
Aufmerkens wert, wie alles, was die große Stimme dieses Vaters über den
kleinen Kopf des Sohnes hindröhnte, -- wenn George sich auch seine
eigenen Bezeichnungen vorbehielt, ohne viel Geschrei darum zu machen.
Immerhin lehrte ihn der Vater nach seinem Verfahren ein neues
erheiterndes Spiel, indem er ihm an einem Winterabend einen ganzen
Aufmarsch der stummen Freunde auf ein Blatt Papier malte, einen nach dem
anderen deutlich benennend und diese Namen, an und für sich nichts auf
der Welt bedeutend als sich selbst, mit seiner Stimme verbindend und
zusammenziehend, daß sie plötzlich nicht mehr da waren, untergegangen in
einem Neuen, einem Wort, einem ganz bekannten Wort, -- einem
Menschennamen: George! Der nächste Aufmarsch in dieser besonderen Weise
aufgerufen ergab Forster und in der Folgezeit saß der kleine George
Forster manchmal grübelnd über dem Blatt, das er in seine Schatzecke
geschleppt hatte, wo er alles aufbewahrte, was ihm irgend belangvoll
erschien, neben Kastanien und Schneckenhäusern auch mancherlei Abfälle
vom Schreibtisch seines großen Vaters, abgenutzte Gänsekiele, winzige
Stückchen Siegelwachs und leider auch einen Schlüssel, von dem er wohl
wissen konnte, daß sein Erzeuger mindestens ebensoviel Wert auf seinen
Besitz legte, als er selber, denn er hatte der Suche nach diesem
Gegenstand, die in ein verzweifeltes Familienspiel ausgeartet war, mit
nachdenklich in den Mund versenkten Daumen beigewohnt. Durch fortwährend
wiederholte Vertiefung in die aufgemalte Zauberformel, -- durch
unwillkürliches Vergleichen mit anderen Buchstabenreihen, -- auf dem
Wege unermüdlichen blinden Herumtastens des führerlosen zarten Geistes,
-- unerklärlich im letzten Grunde, -- war es auf einmal reif gewesen,
das Wunder, und George, noch nicht fünf Jahre alt und in seinem roten
Kittelchen auf dem Schemel zu Frau Justinens Füßen sitzend, las seiner
Mutter aus einem zu Boden gefallenen Buch einen Satz vor, eine Zeile,
die sich in seiner ungeschickten Betonung für immer in das Gedächtnis
der Frau einprägte:

   »Doch mir sinket die Hand, die Geschichte der Wehmut zu enden ...«

Als sie sich dann fast bebend zu ihm niederbückte und andere Seiten
aufblätterte, gab er bereitwillig neue Proben seines Könnens, ja, er las
sogar ohne Stocken nur mit einem gewissen behutsamen Beschleichen dieser
schrecklich fremden Wörter das Titelblatt ab:

   »D--e--r M--e--ss--ias, ja, der Messias, -- ein Heldengedicht!«

In diesem Augenblick war »Er«, der Vater, dazugekommen, die Mutter hatte
gelacht und geweint, nun, und da war es eben herausgekommen, dies, aus
dem er allerdings nicht lange ein Geheimnis hätte machen können, was er
auch gar nicht beabsichtigt hatte; denn wußte er denn, was es für Folgen
haben würde?

Die nächste Folge war die, daß sich der kleine George mit diesem
Augenblick, dem Frauengemach, -- das hieß hier: der Küche, dem Stall und
dem Garten, -- hieß: der ständigen Gesellschaft der leisen, lächelnden
Mutter und der wuseligen kleinen Schwestern, -- entrückt sah und sich
einbezogen fand in den Kreis der männlichen Kraft des Hauses, das hieß:
nicht nur geduldet in dem Kabinett des Vaters, sondern dringend
genötigt, die schönsten Stunden des Tages daselbst zuzubringen,
gewürdigt der steten Gegenwart seines Erzeugers, der Atmosphäre von
Lavendelduft und Tabaksqualm, wie er bläulich aus den langen
holländischen Tonpfeifen quoll, deren Reinhold Forster, der Pfarrer von
Nassenhuben, sich das Jahr über unterschiedliche Dutzende aus Danzig
verschrieb; denn seine ungeduldigen Hände schlugen mit dem gebrechlichen
Rohr ebensooft den Takt zu seinen Gedanken, wie einen sanften
Trommelwirbel auf den Schultern des Söhnleins, das dann immer geduckt in
gelinder Spannung abwartete, ob es wohl wieder neue Rohrstücke zum
Seifenblasenmachen geben würde. Viel Zeit zum Seifenblasenmachen und
ähnlichen Belustigungen in der blauen Sommerluft hatte er nun allerdings
nicht mehr. Seine rundliche Grübchenhand ward mit einem Gänsekiel
bewaffnet, und mit der Zeit sah er unter seinen Fingern schnörkelhafte
Gebilde entstehen, deren Gelingen ihn solange innig erfreute, als sie
nur zum Selbstzweck da waren, zu ihrer eigenen Vervollkommnung immer
wieder aus dem schwarzen Nichts der Tinte und dem weißen des Papiers
entstehen mußten und höchstens dazu dienten, sich schön zu einem Spruch
zusammenzureihen oder zu einem Geburtstagscarmen für die Mutter, die
beim Empfang einer solchen Leistung immer ein wenig zu weinen pflegte,
-- aus Ratlosigkeit, aus Mitleid mit dem Knirps, Gott mochte wissen,
warum, -- was alsdann die »Männer« veranlaßte, einen Blick schweigenden
Einverständnisses zu wechseln. Es hob den kleinen George mit einem
Gefühl unerhörter Wichtigkeit, daß seit jenem Tage, da er lesen konnte,
der überwältigende Vater ihn als Kameraden behandelte, so etwa wie einen
Gleichstrebenden, den man um seiner verschiedenen Unzulänglichkeiten
willen, als da sind körperliche Winzigkeit und geistige Unbeholfenheit,
ein wenig verachtet, den man aber nichtsdestoweniger anerkennt und den
man unterstützt, da man selbst es in jeder Beziehung übrig hat. Oh,
welch ein Mann! Fegte sein Toupet nicht beinah die geschwärzte Decke,
wenn er in der niederen kleinen Studierstube auf und ab schritt, einen
Satz, den er dem Knaben diktiert hatte, zu seinem eigenen Vergnügen in
siebzehn Sprachen wiederholend, mit der gewaltigen Stimme singend,
rollend, zischend, je nachdem? Dann stand er am Pult, den mächtigen
Rücken widerwillig gekrümmt, und schrieb mit quietschender Feder und
weitausholenden Schnörkelbewegungen, schrieb tausendmal schneller als
George es konnte, der seine kurzen Beine um die hölzernen des Sessels
schlang, eines hohen, steifen Sessels, für ihn noch um einen aufgelegten
dicken Folianten erhöht, zumeist um Geßners »Naturgeschichte der Vögel«,
in der unter allen gefiederten Wesen zwischen Adler und Zaunkönig auch
die brave Fledermaus, als des Fliegens mächtig und darum hierhergehörig,
angeführt war. Geriet der Vater hitziger ins Arbeiten, so sank der
Unterricht in Vergessenheit, dafür wurde nach dem oder jenem Buche
geschrien, und eilfertig glitt der Knabe von seinem Sitz und schleppte
emsig herbei, was er vermochte, stand mit vorgestrecktem Bäuchlein da,
die Wucht staubiger Bände im Gleichgewicht haltend, und harrte geduldig,
daß sie ihm abgenommen würden, ließ sich anschnauzen und eilte zurück
wie ein stummer dienstbarer Kobold, klomm das schmale Leiterchen zu den
obersten Bücherreihen empor, glitt aus, stolperte und fiel unter einem
Hagel kleiner Elzevirbände, an deren Aufstellung er unvorsichtig
gerührt, -- ward wiederum angefaucht, verbiß sich das Weinen, räumte,
tief gedrückt, auf, -- -- -- hatte alsbald in riesigen Mappen nach einer
bestimmten getrockneten Pflanze zu suchen, einem Heilkraut mit einem
verzwickten lateinischen Namen, der von bitterer Zuträglichkeit nur so
triefte, aber entsetzlich schwer zu behalten war, besonders da er nur
einmal und eilig hervorgestoßen genannt wurde ... Saß, die kleine warme
Stirne gefurcht und mit bebenden Lippen diesen Namen immer vor sich hin
lispelnd, am Boden über den ungefügen Blättern der Herbarien und hatte
das Glück, das richtige Stück zu entdecken; bot es zaghaft und demütig
dar und erhielt ein zerstreutes Lob, das ihn ein wenig glücklich lächeln
ließ, aber gleich darauf stand er wieder ernsthaft und stramm, denn dies
verstand sich ja von selbst. Nun beobachtete er, während er im
Hintergrunde lautlos lateinische Vokabeln zu seinem Cornelius Nepos
auswendig lernte, daß die Arbeitswut des Vaters nachließ, -- die Feder
ruhte bisweilen und der Vater starrte nach dem vergitterten Fenster, vor
dem das rankende Geißblatt im Winde schwankte --, er murrte vor sich
hin, schrieb weiter und stöhnte dabei. George erkannte mit Befriedigung:
jetzt war der Vater hungrig geworden und gleich würde etwas geschehen,
-- richtig, da trat er ja schon an die Wand und langte mit der Miene
eines Schlafwandelnden den Hirschfänger herunter, der dort neben Büchse
und Pulverhorn hing, -- es würde etwas geschehen, wobei auch er, George,
gut wegkommen würde. Zugleich fühlte er eine leise durchdringende
Beschämung, als jetzt die Tür des Kabinetts knarrte, des Vaters schwere
Schritte über den Flur hallten und er sich vorstellte, wie nun die
Mutter in der Küche erschrak, »du liebes Gottchen!« sagte und einen
Blick in die Runde schweifen ließ über alles, was an Eßbarem dalag.
Hatte er nicht zu oft erlebt, daß sie weinte, wenn der Vater so gekommen
war, seine großen blauen, etwas vortretenden Augen zerstreut und hungrig
zum Beispiel auf den Rauchfang richtend, während sein rotbraunes Gesicht
unter der weißbestäubten Perücke schwer besorgt aussah? »Ja, meine
Liebe,« sagte er dann etwa, »die wird wohl dran glauben müssen!« und
reckte sich in seiner ganzen Länge auf, um mit dem Hirschfänger das
letzte magere Schlackwürstchen herunterzusäbeln, das dort oben baumelte.
Dann suchte er nach dem Brot, von dem er einen gewaltigen Kanten
abschnitt, und mit dem ersten stattlichen Bissen zwischen den Zähnen
verließ er die Küche, der Mutter kummervoll zunickend. »Geistige
Arbeit,« sagte er vielleicht noch mit erhobenem Zeigefinger, »geistige
Arbeit zehrt, meine Liebe!« und sah es durchaus nicht, daß die hilflosen
Lippen seiner Frau zuckten und blanke Tränen in den Brotteig sprangen,
den sie knetete. Er aber, George, er hatte es immer gesehen und sah es
auch jetzt vor sich, in gesammeltem Ernst auf dem Holzschemel neben
Vaters Ofen sitzend, die Fäustchen auf den Knien und die Augen nicht
erhebend, ein unschuldiger Heuchler, scheinbar ganz in seine Aufgabe
vertieft, als der Vater nun mit Elefantenschritten zurückkehrte. Er
blickte durchaus nicht auf, obgleich er angespannt und erwartungsvoll
lauschte, wie der Wurst jetzt knisternd die Haut abgezogen und sie samt
dem Brot in mundgerechte Brocken zerlegt wurde, denn mit dem
Hirschfänger als Messer und der eichenen Tischplatte als Unterlage ging
das nicht geräuschlos vor sich. Dazwischen kaute und schnaufte der
Vater. »George, -- da, -- iß!« sagte er, »geistige Arbeit zehrt, -- wir
sind geistige Arbeiter. Du auch. Das weiß Gott.« George hatte schnell
und neugierig den Kopf gehoben und die eine kleine Hand vor den Mund
gelegt, wie er immer tat, wenn er überrascht oder entzückt war.
Gleichzeitig bekam er einen furchtbaren Schreck -- die ganze Wurst! --
und was sollte es nun am Sonntag in die Erbsensuppe geben --, was nun?
Wo noch lange nicht wieder geschlachtet werden konnte, denn die Zeit war
doch noch nicht da und das Schwein noch behende wie ein Reh, -- so sagte
Malchus, der Knecht --, also was sollte die Mutter tun, nicht wahr?
Trotz seines tiefen Mitleids mit ihr kam er aber herbei wie ein
wedelndes Hündchen, nahm seinen Anteil in Empfang und verzehrte ihn in
seiner Ecke mit unruhiger Glückseligkeit und unter schwerem Nachdenken.
Da sah man's wieder, wie recht Malchus, der Knecht, hatte, wenn er beim
Stallausmisten oder beim Graben im Garten, -- Arbeiten, denen George in
achtungsvoller Untätigkeit beiwohnte, -- Erfahrungstatsachen aussprach,
wie: »Dein Vater ist der Herr. Denn warum? Ihm gehört's! Und darum: er
ißt so viel er mag!« Freilich, so war es! Zu Martini aß der Vater die
halbe Gans, und Frau, Kinder und Gesinde den Rest, er tat es nicht unter
siebzehn Klößen oder vierzehn Pfannkuchen, und rein zum Fürchten war es,
wenn Kartoffeln auf den Tisch kamen, heiß, dampfend, mit geborstenen,
erdbraunen Schalen, aus denen es weißmehlig hervorquoll. Da aß er an die
dreißig, tat sich Salz, zerlassenen Speck oder frische Butter darauf,
wischte sich den Mund und lachte nach einem tiefen Zug aus dem Bierkrug
dröhnend über seine bedrückte Tafelrunde, die hinter ihrem Hirsebrei
saß, denn Frau Justine hielt die unterirdische Knollenfrucht nun einmal
für giftig, rührte sie nicht an und litt es nicht, daß die Kinder sie
bekamen, -- selbst nicht dem König von Preußen zuliebe, der ihren Anbau
doch allenthalben poussierte. Ja, der Vater! Dem machte es nichts aus,
früh morgens um sechs auf nüchternen Magen einen ganzen Stachelbeerbusch
leer zu essen, der setzte dicke Milch auf ein halbes Schock Zwetschgen,
wenn es ihn so gelüstete, und lachte wiederum über George, der von allen
diesen Dingen mit jener Vorsicht nahm, die ihn üble Erfahrungen
frühzeitig gelehrt hatten. »Du hast einen kleinen kalten Magen, mein
Sohn!« sagte er mitleidig, und George ward betrübt und tat sein Bestes,
um des Vaters Ansprüchen auch in dieser Hinsicht zu genügen. So durchs
Haus gehen wie ein hungriger Wolf und die Eier austrinken, die Mutter
für die Glucke gesammelt hatte, oder am Freitag den Kuchen anschneiden,
der für den Sonntag bestimmt war --, würde er das je tun können? Nein
--, aber durfte er denn abweisen, was ihm der Vater _gab_? Er hätte es
nicht gedurft, auch wenn es schlecht geschmeckt hätte, das war klar! So
aß er, von leise nagender Reue geplagt und gleichzeitig von dumpfer
Bewunderung für den Vater erfüllt, dem alles gehörte, das Haus, der
Garten und das Feld, die Kirche draußen im Dorf, wo er des Sonntags von
der fichtenen Kanzel herabwetterte und seinen Halbpolacken das
Evangelium handgreiflich genug auslegte, -- die Kuh, die Ziegen und das
Schwein, und nicht zuletzt er selbst, samt der Mutter und den
Schwestern, Friederike und Sophie, und endlich Mareiken, der Magd, und
Malchus, dem Knecht. --

»Sieh nicht so hervor wie die Maus aus dem Loch!« sagte der Vater
schließlich unwirsch, wenn der beharrlich auf ihm ruhende Blick seines
Sprößlings ihm lästig wurde. Dann ging es weiter, -- Vokabeln, --
Zahlen, -- der Inseln, der Gebirge, -- der Gesteine, der Pflanzen und
der Tiere Namen, -- draußen dufteten die Linden, die Hühner kakelten
schläfrig, ab und zu hörte man die Stimmen der kleinen Schwestern, die
spielen durften, immer nur spielen, -- und George lernte, lernte und
lächelte manchmal gehorsam, wenn der große Vater Grund fand, einen Witz
zu machen anläßlich eines Versehens des Schülers ...

                   *       *       *       *       *

Auf Kreta aber, einer Insel, -- an sich schon furchtbar dadurch, daß sie
um und um so weit man sehen konnte, von Wasser umgeben war und gewiß
gestaltet wie die Gräte eines Schellfisches, vielleicht auch ähnlich
riechend --, auf Kreta stand derweilen das Labyrinth mit den tausend
verschlungenen, ineinandergeschobenen Gängen, in denen die armen
Ausgesetzten umherirrten. Hungernd, -- denn das letzte Stückchen Brot
aus Athen in Attika war längst verzehrt, -- und ganz im Dunkeln und ohne
ein warmes kleines Bett, in dem man sich die Decke über den Kopf ziehen
konnte zum Schutz vor dieser Dunkelheit. Und im Dunkeln immerfort das
tobende Geheul des Minotauros, der so unvorstellbar schrecklich
gestaltet war, der auf sie wartete, irgendwo auf sie wartete im Kerne
dieser Nacht ...

Es gab so viele andere Geschichten von den Alten, die der Vater ihm
erzählte und mit ihm las, und der kleine George wußte sie auch in
wohlgesetzten Worten zu wiederholen und bewahrte in seinem erstaunlichen
Schädelchen ein vortrefflich geordnetes Lager von Göttern und Helden,
Städten und Tempeln, Königen und Völkern, Schlachten und Siegen.
Indessen ruhte das alles in ihm wie in einem gutgehaltenen Herbarium
ohne Saft und Farbe, Blut und Kraft, und das lag nicht an dem Lehrer,
der, wenngleich ohne gestaltende Phantasie, so doch mit persönlichem
Feuer vortrug, Partei ergriff und keinen Anstand nahm, die großen
Griechen gelegentlich für eine Gesellschaft charakterloser Schöngeister
zu erklären. Georges Vorstellungsvermögen versagte, sobald seine
Empfindung, sein Gemüt nicht berührt wurden, und die erbebten wie
Sinnpflanzen nur vor der Vorstellung des Zärtlichen, Idyllischen, --
oder aber, und dann nachdrücklichst betroffen und mit der Fähigkeit, den
Eindruck immer von neuem erzitternd in sich wachzurufen: vor dem
Grausamen, dem Gräßlichen! Da waren Skylla und Charybdis mit ihrer
atembeklemmenden Angst, da war die Blendung Polyphems, der er, allem
innern Schaudern zum Trotz, immer wieder und in allen Einzelheiten
nachhing, ein krankhaftes Mitleid mit dem ungeschlachten Riesen
empfindend und den zugespitzten, in der Glut gehärteten Pfahl im eigenen
Auge fühlend, wie er aufzischend in Blut und Tränen wühlte. Oder mußte
er sich das vorstellen, gerade um diesen schmerzlichen Schauder zu
fühlen? Tat es ihm irgendwie wunderlich wohl, obgleich er sein kleines
Gesicht oft verzweifelt ins Kissen drückte, wenn ihn vor dem Einschlafen
die Ermordung der Freier heimsuchte? Entsetzlich, wie dem Antinous der
Pfeil in die Kehle fuhr, -- George hörte hier immer das trompetende
Angstgeschrei einer Schlachtgans, -- wie der arglose Agamemnon im Bade
starb! Mit bebenden Händen tastete er das Irrsal der Ödipussage nach,
und es war, als könnte er es nicht lassen, sich in diese Bilder zu
vertiefen und sie mit peinlicher Gewissenhaftigkeit bis ins kleinste
auszumalen, er, der im Leben ein kleiner Feigling war, und den der
Anblick von Blut hinfällig machte. Warum aber war nichts furchtbarer als
das Labyrinth jenes Königs Minos auf Kreta, von dessen letzten Schrecken
nie etwas gesagt war, über das man nur Vermutungen und Ahnungen haben
konnte? Wie, -- wie sah er aus, der Minotauros? Ein Mann mit einem
Stierkopf, -- gut! -- aber wie mochte das aussehen, wie gräßlich dies:
ein Mann mit einem Stierkopf! Diese Vermutungen waren es, die
Vorstellung einer ungeheueren Angst vor dem Unbekannten, die den Knaben
überkamen, wenn er, -- immer in jener gefürchteten und doch heimlich
ersehnten Stunde vor dem Einschlafen, -- in seiner Einbildung mit
trippelnden Schritten den finsteren Schlund des Einganges betrat. (Und
drinnen brüllte der Minotauros!) Es folgten ihm gewöhnlich eine Anzahl
von Kindern aus dem Dorf, bestimmt, sein Schicksal zu teilen, die
kleinen Schwestern waren darunter, die sich an sein Jäckchen
anklammerten, und Janusch, des Schweinehirten Sohn, der katholisch war
und sich vor nichts fürchtete, nun aber klein und demütig sich aller
polnischen Schimpfworte enthielt und George aufs Wort folgte, denn er
war ja fremd hier. (Und drinnen brüllte der Minotauros!) Es gab nun die
verschiedensten Abwandlungen dieses Traumspiels, und manche waren
ausgesprochen gemütlich, man verfügte zum Beispiel über Mundvorrat,
Brezeln, Pfefferkuchen und Gänseklein, man hatte Decken und Federkissen
mit und vor allem hatte man sich der gewaltigen Stallaterne des Malchus
bemächtigt und bei ihrem anheimelnden Schein schlug man in einer Ecke
des Labyrinths ein Lager auf, wo man aß, trank und sich vortrefflich
behagte, denn drinnen brüllte der Minotauros, aber nichts war sicherer,
als daß er nicht herauskommen würde, nein, die Gefahr war einzig die,
daß man zu ihm hineinlief. Diesmal hatte man den Faden der Ariadne,
(vorgestellt in der Gestalt von Mareiken, der Magd, in Holzpantoffeln
und ihres grauwollenen Strickknäuels), und draußen wartete geduldig das
Schiff zur Heimfahrt, man würde nicht vergessen, das weiße Segel anstatt
des schwarzen aufzuziehen, damit sich jener alte Vater nicht aufregte
und übereilt ins Meer stürzte. George legte keinen Wert auf den Ruhm des
Theseus, den Minotauros erlegt zu haben, er überließ das anstandslos dem
Janusch, der mit einem Prügel und Erdklößen bewaffnet war, wie meist.
George hatte keinen Zug zum Heroischen. Aber es kam vor, daß er jene
Gänge allein und ausgestoßen betreten mußte, daß er ohne Nahrung und
Licht war und außerdem barfuß und im bloßen Hemde (auf spitzen, kleinen
Steinen und bei eisigem Zugwind), daß er so hineinirrte in die saugende
Finsternis, sich an kalten, feuchten Mauern weiter tastete, immer in der
Angst, auf Kröten zu treten, (und immer hörend, wie es brüllte, --
brüllte!) -- daß dann, plötzlich, im Dunklen und an nichts anderem
erkennbar als an dem Duft von Küche und Kinderstube, einem sommerlichen
Duft, mit dem sie über einem zusammenschlug wie ein reifes Kornfeld, die
Mutter bei ihm war, -- oh, Wonne und Aufschluchzen, die Mutter! -- die
ihn auf den Armen hinaustrug, und dann war draußen nicht das Land der
Schellfischgräte, sondern der Garten mit seinem Lindenbaum und seinen
friedlichen Kohlköpfen. Mitunter war es auch die Starostschenka
Hermanowska aus dem Gutshause, die ihn so rettete, sie hatte das
geblümte Seidenkleid mit dem mächtigen Reifrock an und glich auf ihren
hohen Stöckelschuhen einer riesigen wandelnden Blüte, sie hob ihn mit
Schwung über diesen Wall hinüber an ihren tiefausgeschnittenen,
überpuderten Busen, an den sie seinen Kopf drückte, wie einstmals, als
sie seine Mutter besucht hatte. Auch sie duftete, aber anders,
durchdringender, köstlicher und widerlicher als alle Dinge der Welt
bisher geduftet hatten. Und dies war ein Erlebnis, in dessen Bestürzung
George sich ewig von neuem fallen lassen mußte, wie in ein bodenloses
Blumenmeer, um ohne Befriedigung, nur seltsam beklommenen Herzens,
daraus aufzutauchen.

Was bedeuteten jedoch solche Spielereien gegen die wahre Furchtbarkeit
und den nackten Ernst dieser Vorstellung, wenn sie ihn nächtlich
überfiel, während der Schlummer ihn lähmte und er ihr nichts
entgegenzusetzen hatte? Sie nahm wuchernd Besitz von den ausgestorbenen
Windungen seines Hirns, durch die der Schlaf kühl und feierlich wehte,
sie breitete sich böse und lautlos aus, bis sie das Zentrum des
Bewußtseins erreicht hatte und ihn -- ja, wen? Nun jedenfalls doch sein
eigentliches, innerstes Selbst, -- aufstörte und zu jagen begann. Dann
geriet er in einen Wirbel der Angst, in eine rasende Hoffnungslosigkeit,
-- er wußte nichts mehr vom König Minos, von der Insel Kreta, von
Theseus und dem Minotauros, es war nur noch die Idee des Labyrinths, die
ihn beherrschte, eine Idee, gleichbedeutend mit kreiselnder, nutzloser
Flucht, gehetzt in immer engeren Schlingen um einen heulenden
Mittelpunkt, dem er sich näherte, anstatt ihm zu entgehen, -- es war
Beben, Fiebern, Keuchen und -- das Schreien, das grauenhafte Schreien,
das er dann hörte, indem er sich unter der furchtbaren Last dieses
Traumes emporarbeitete, immer von neuem verschüttet wie von einem
Erdrutsch, -- dies gräßliche Schreien, von dem es dann immer hieß, er
selbst habe es ausgestoßen, er selbst ...

Übrigens stellte er sich den König Minos wie seinen Vater vor und es
half nichts, daß er selbst diese Vorstellung als einen Verstoß gegen das
vierte Gebot erkannte und unbehaglich dagegen ankämpfte. Leider war es
ihm auch schon früher so gegangen, als er noch klein war, -- (so dachte
der Siebenjährige) -- als er noch nicht lesen konnte, -- (und immer nur
spielte), -- als ihm die Mutter die Geschichte vom kleinen Däumling
erzählt hatte. Damals hatte der Menschenfresser so ausgesehen wie der
Vater, es war nichts dagegen zu machen, auch nicht mit der verzweifelten
Gegenfrage, ob denn der Vater aussähe wie ein Menschenfresser? Nein,
denn er war immer sauber und stattlich anzusehen, von dem schimmernden
Toupet abwärts bis zu den blitzenden Schnallenschuhen, und selbst wenn
er im Hause mit dem langen Schlafrock angetan herumwandelte, der die
Wirkung seiner ohnehin großen Gestalt ins Gespenstische steigerte, mit
dem Troddelstrick um den Leib und der Zipfelmütze auf dem Haupte, -- ja,
selbst wenn er von der Jagd heimkam, in den langen Stiefeln, die ihm
fast bis zur Hüfte gingen und über und über naß und mit Schlamm
bespritzt, -- wenn er dann eine blutige Beute auf den Fußboden warf und
mit Gedröhn das ganze Haus zu seiner Bedienung in Bewegung setzte, --
auf einen Küchenstuhl geworfen saß er da, Mareiken hielt ihn von hinten
an den Schultern fest, wobei sie die Backen aufblies und die Augen
aufriß, Malchus kniete vor ihm und zerrte ihm die Stiefel ab, verfehlte
auch nicht, mit jedem auf den Rücken zu kollern, (er war kurz und dick
wie Sancho Pansa), George schleifte den Schlafrock, Rieken und Fieken
die Pantoffeln herbei, die Mutter stand am Herde und rührte ein
Eierbier, -- nein, selbst dann wirkte er nicht wie der Menschenfresser,
und wenn er auch zum Schluß Rieken und Fieken packte und sie je in einen
Stiefel steckte, so daß sie nur mit Schopf und Augen hervorsahen und
kläglich mauzten wie junge Katzen, -- (ihn freute so was unbändig), --
so fraß er doch keine Menschen, sondern aß nur, was die Mutter kochte,
und das meiste pflanzte er sich selbst im Garten, friedfertig und
ernsthaft in der Erde wühlend, -- pflanzte Rüben, Bohnen, Erbsen, Gurken
nebst fettem, glänzendem Kohl und füllte das ganze dreieckige Stück Land
hinter dem Pfarrhause bis ans äußerste seiner Möglichkeit mit nahrhaftem
Gemüse, auf daß er, Reinhold Forster, und dann natürlich auch sein Weib
Justine, seine kleinen Kinder und sein Gesinde, -- aber doch besonders
und um Gotteswillen er selbst, dieser große, starke Reinhold Forster,
daß der viel, _sehr_ viel und gut zu essen habe! Und wenn er das lange
Messer wetzte, so tat er's doch nur, um ein Huhn oder eine Gans zu
zerlegen, aber nie, um einem kleinen Jungen die Beine abzuschneiden,
(nebenbei gedacht: was war der Däumling unverschämt zu dem
Menschenfresser, wann hätte George es je gewagt, dem Vater so zu
begegnen?!) Aber nochmals: der Vater glich weder einem König Minos noch
einem Menschenfresser, (nur diese beiden, sie glichen nun eben einmal
dem Vater, vertrackt!) der Vater fraß keine Menschen und duftete
außerdem nach Lavendel, seine Hemden und Bäffchen, seine Leintücher im
Bett, selbst die Polster seines Ohrenstuhles und des alten knarrigen
Kanapees, alles mußte jahraus, jahrein süß und eindringlich Rede stehen:
blau, blau, blau ist die Sommerszeit! Dies war das einzige Blumenbeet im
Garten, das der Vater selbst anlegte, und es lag unter der Sonne da wie
ein azurfarbenes Kissen, vom Winde gewellt. Tazetten und Goldlack,
Tulpen, Narzissen und Päonien, Fliegende Herzen, Stockrosen und Braut in
Haaren, all die bunten, üppigen Blumen, die die Mutter so liebte und
heimlich aussäete, sie fanden nur in ausgesparten Winkeln und an den
Rändern der Rabatten Platz, wo sie dann freilich üppig wucherten und den
Kindern die Schultern, den Erwachsenen die Knie streiften. Eine Ecke des
Gartens durfte niemand betreten, als der Vater allein und George, wenn
er mitgenommen wurde. Hier roch es streng und seltsam, wenn die Sonne
auf den kleinen, sorgfältig gehaltenen Beeten lag, die zum Teil mit
verstellbaren Glasplatten bedeckt waren. Fremdartige Kräuter mit krausem
Blattwerk erstanden dort aus den kostbaren Samen, die der Vater wie
Goldstaub hütete, wenn sie auf seine Bestellung endlich aus London oder
Antwerpen eingetroffen waren. Kam es dann zur Aussaat, so war er meist
in der besten Laune, wie stets beim Arbeiten in diesem Gartenwinkel, den
er je nach Stimmung einen »botanischen Garten von Qualität« oder »ein
Apothekergärtlein, ein miserables« nannte. Dann grunzte und pfiff er,
während er am Boden hockte und die Pflänzchen mit seinen starken Fingern
merkwürdig zart verpflanzte und umsetzte, er erbaute eine
Miniaturgebirgslandschaft, er legte einen winzigen Sumpf an, kurz, er
»schuf Bedingungen« und gelangte zu allerlei aufregenden Ergebnissen
seiner Mühe, deren Wichtigkeit er George eindringlich mitteilte, ehe er
in gründlichen Aufsätzen und Briefen der gelehrten Welt davon Kenntnis
gab. George hielt ihm sein rosiges Apfelgesicht mit ernsthaften, runden
Augen zugewandt und lauschte offensichtlich gespannt. Wußte ein Mensch,
daß er eigentlich dachte: wenn nur Fieken meinen kleinen Spatzen nicht
findet und ihm was tut, -- und etwa: heute gibt es Kaldaunen, ich
wollt', ich war verreist!? Dies und Ähnliches ließ er sich
angelegentlich durch den Kopf gehen, während sein Gehör und Gedächtnis
dem Vater zugewandt waren wie willenlose Schreibtafeln, so daß er später
imstande war, die schwierigsten Vorträge fast wörtlich zu wiederholen,
-- und dann, bei dieser Wiederholung, beteiligte er sich auch an dem
Inhalt dessen, was er sagte, und lernte wirklich dabei. Hinterher zeigte
es sich freilich, daß Fieken den kleinen Spatzen, der sich so weich und
zärtlich anfaßte und dessen zitterndes, kleines Herz man fühlen konnte,
wenn man ihn in die hohle Hand nahm, daß Fieken diesen selben geliebten,
kleinen Spatzen wohl gefunden und ihn unbedenklich der Hauskatze zum
Spielen angeboten hatte. George weinte nicht, er nahm auch keinerlei
Rache, aber eine ungeheure Bitterkeit erfüllte sein Herz gegen diese da,
die immer spielen durfte, -- nun ja, und so weiter! Er sah sie groß und
strafend an, empfand, daß sie sich gar nichts daraus machte, sondern
ungerührt fortfuhr, den toten Balg ihrer holzköpfigen Puppe um und um zu
drehen und anzuputzen, ihm Speise anzubieten, -- kleine Steine, die sie
dann hinter sich auf den Boden warf, -- eine alberne Gaukelei! -- (der
kleine Spatz hatte schon angefangen, eingeweichtes Brot von einer
Federpose zu sich zu nehmen, sicherlich, er hätte ihn großgezogen!) --
und ging dann hinaus, die Hände auf dem Rücken, das Gesicht etwas
verzogen und innerlich starr vor Schmerz. Eine lähmende Fremdheit stand
zwischen ihm und den Kindern, er gehörte nicht zu ihnen, er wußte es,
obgleich Fieken nur ein Jahr jünger war als er, und die übrigen, -- es
waren sechs hinter ihm, als er elf Jahre alt war, -- bildeten mit ihr
eine verbündete Macht. Wenn sie ganz klein waren, hatte er immer
irgendwie die Hoffnung, sie könnten ihm gehören, dann stand er manchmal
heimlich an der Wiege, streichelte sie behutsam mit seinen
tintenbeklecksten Fingern und war unsäglich gerührt von ihrer
verwunderten Hilflosigkeit. Aber sobald sie herumwackeln konnten, war es
aus, dann hatten sie Ansprüche, denen er ratlos gegenüberstand, und
Fieken zog wie selbstverständlich mit ihnen ab. Ganz schlimm wurde es,
als der Vater ihn dazu anstellte, unter seiner Aufsicht die Schwestern
zu unterrichten und ihnen die Künste beizubringen, die er selbst wie im
Schlaf gelernt hatte. Gewiß, er machte seine Sache nicht übel und die
beklemmende Feierlichkeit der Studierstube und besonders der ständige
Anblick des über das Pult gebeugten väterlichen Rückens hielt seine
Schülerinnen in Respekt, so daß sie höchstens in Augenblicken
unerträglicher Langweile die Feder oder das Schnupftuch fallen ließen,
um unter den Tisch kriechen zu können und ihn ins Bein zu kneifen,
sicher, daß er nicht schreien würde. Aber nun sammelten sich
Rachegelüste in ihnen an für die Sonderstellung, die er sich anmaßte,
für jeden geschnauften Tadel, den der Vater ausstieß, für jede Kopfnuß,
mit der dieser eine gesudelte Aufgabe verurteilte, und überhaupt dafür,
daß sie nicht mehr so viel spielen konnten, immer nur spielen,
leichtfertiges, auf Pläsier erpichtes Gesindel, das sie nun einmal
waren. So nannten sie ihn von vorn und hinten den Herrn Magister und
ahmten den etwas steifen Gang mit den auf den Rücken gelegten Händen
nach, den er sich angewöhnt hatte. Wenn er mitspielen wollte und im
Anfang alles gut ging, wenn er sich dann glücklich einmal vergaß, schrie
und tollte wie die anderen und unbeholfene Sprünge machte, dann fühlte
er ganz plötzlich, wie die Bosheit über sie kam, ohne einen sonderlichen
Grund, als den, daß er sich anders benahm wie sonst und sich
offensichtlich einbildete, zu ihnen zu gehören. Alsbald fiel es ihm wie
Reif aufs Herz, er ward unsicher, forschte in ihren verschlossenen
kleinen Fratzen, in denen die Lippen verkniffen waren oder breit und
höhnisch verzogen, er fühlte sich umlauert, ward bebend empfindlich und
gereizt, und dann war auf einmal Streit da und er immer der Schuldige.
Wie furchtbar war das! Wußte es die Mutter denn, wie unglücklich er war?
Sie rief ihn herein, wenn er an seinen Tränen würgend beiseite schlich,
sie schalt ihn mit keinem Wort, wenn die anderen ihn verklagten, -- sie
strich ihm kummervoll über den Kopf und gab ihm etwas zu tun, ließ ihn
Gemüse putzen und hatte unendliche Geduld mit seinen ungeschickten
Händen. Allmählich kamen sie dabei ins Plaudern und unterhielten sich
gedämpft und eifrig, gerieten von Bohnen und Kürbissen zu Apfelbäumen
und Weihnachten, erheiterten sich an Erinnerungen aus seiner frühesten
Kindheit, als er noch sehr klein und dumm und alles so wunderschön
gewesen war. »Denn damals,« sagte Frau Justine und blickte müde auf ihre
arbeitenden Finger, »damals war auch der Vater noch zufriedener,
Georgie, er hatte ... horch, kommt er da nicht? -- nein, es ist der
Malchus! -- er hatte noch nicht so viel Ideen von Ruhm und Ehre und der
weiten Welt. Aber er hat recht, -- er hat recht, -- er verkümmert hier,
seine Gaben liegen brach, er ist noch jung ...« so wiederholte sie
traurig eine Reihe oft gehörter Beweisgründe ihres Gatten und George
nickte ernsthaft dazu. Das sagte der Vater, sagte es in den letzten
Jahren mehrmals des Tages in den verschiedensten Tonarten, und
allmählich war die Atmosphäre im Hause geladen mit Unzufriedenheit und
harrte bebend des zündenden Funkens. Anders, anders sollte alles werden,
-- aber wie? und: -- mein Gott, konnte man hier nicht glücklich sein?

George entsann sich in späteren Jahren immer wieder eines Abends, der
mit seinem klaren, starken Bronzegold durch die schwarzen zitternden
Kronen der Pappeln vor dem Hause geschienen hatte. Das Küchenfenster
stand offen und der Oktoberduft von Rauch und modernden Blättern drang
mit der herben Luft herein. Draußen in der frühen Dämmerung hantierte
Malchus und ging mit seinen schweren Schuhen über den Hof; eine Kette
klirrte, -- die Stalltür knarrte und dann brüllte die Kuh. Irgendwo,
vielleicht hinten im Garten beim Nußbaum oder auf der Dorfstraße, wo der
Ziehbrunnen quietschte, kreischten die Schwestern mit Mareiken. Hier
drinnen war es dämmrig, still und warm. Auf dem Herde flackerte ein
Holzfeuer unter dem summenden Kessel, warf zuckende Lichter hinauf in
die Finsternis des Rauchfanges und ließ die kupfernen Geräte rötlich
auffunkeln, die an der Wand gereiht hingen. Es roch nach reifen Äpfeln,
-- nach Dill, der in großen Büscheln unter der Decke trocknete, und in
dem großen Holzschaff plätscherte es zuweilen, darin schwammen die
Karpfen, die der Starost vorher »mit einem ehrerbietigen Kompliment« an
die Frau Predigerin geschickt hatte und die es morgen Mittag geben
sollte. Der Vater war fern, es war heute nichts mehr zu lernen, zu
denken, sein Geist war ganz entspannt und gleichsam selig nicht
vorhanden. Nach dem Zank mit den Schwestern vorhin war sein Herz nun
gelöst in Dankbarkeit und Rührung. Er hätte gern noch ein wenig geweint,
eng an die Schulter der Mutter gedrückt, aber er ließ es bleiben und gab
sich einem träumerischen Fluten der Gedanken hin. Und auf einmal war es,
als ginge ihre Furcht davor, daß es jemals anders werden könnte, auf ihn
über, auf einmal empfand er wie noch nie die Welt da draußen jenseits
der heimatlichen Feldmark wie ein tosendes Meer, all die Städte, die
hohen Schulen, die Namen großer und gelehrter Herren, die der Vater
dauernd im Munde führte, kreisten mit bedrohlicher Wirklichkeit um sein
Haupt, und ein Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen, überkam ihn so stark,
daß er sich an den Arm der Mutter klammerte und flüsterte: »Wir bleiben
doch, -- Mutter, -- wir bleiben doch hier ...«

»Ach, Georgie,« murmelte sie schwach und schob ihn sanft bei Seite, denn
jetzt waren es wirklich Reinholds Schritte, die draußen erklangen, --
und, -- liebes Gottchen, -- seine Kartoffeln waren gewiß noch nicht gar!
-- »ach, -- mein Georgie ...«

Er war wie kein anderer in die Gemütszustände seines Vaters eingeweiht,
die dieser täglich in langen Selbstgesprächen vor ihm aufrollte. Ganz
abgesehen davon, ob einer den Predigerberuf in sich fühle oder nicht, --
und es gäbe Männer, die bei aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit
einzig dem täglichen Brot zuliebe nach diesem Amt hätten greifen müssen,
also weder berufen noch auserwählt, George! -- ganz abgesehen davon: war
es etwa eines Predigers würdig, fast einzig von seiner Hände Arbeit zu
leben und sich von dem zu nähren, was er dem Boden abrang, -- diesem
Sumpf- und Sandboden obendrein, der freiwillig nur Kiefern und Wacholder
hervorbrachte, -- wer die fressen wollte, müßte wohl einen Jesuitenmagen
haben, -- hoho! Nein, aber er habe es satt, wie ein Bauer zu leben und
im Winter bis zum Dach einzuschneien und gegen die Wölfe in Fehde zu
liegen! Er sei nun denn doch aus den Jahren heraus ... (Verstummen,
Aus-dem-Fenster-Starren, den Ellbogen auf das Stehpult gestemmt und mit
dem Rauch der Pfeife ungeheure Verachtung ausstoßend!) Ob er, Georgie,
wohl glaube, daß es gerecht sei, einen Mann, der siebzehn Sprachen
verstünde und über die gesamte Bildung seines Zeitalters verfügte, --
dessen brieflichen Umgang die feinsten Geister suchten und nach dessen
Gutachten so mancher Große schon verlangt hätte, -- ob es gerecht sei,
den in die finstere Polackei zu begraben und ihn dort vermodern zu
lassen? Aber -- (auf und nieder in der engen Stube wie ein Tiger im
Käfig und Dräuen in die Ferne mit der Faust) -- sie hatten nicht mit
Reinhold Forster gerechnet, sie kannten den Mann eben nicht und würden
ihn erst erkennen, wenn sie das Nachsehen hätten, denn außer Landes
würde er gehen, außer Landes ... (Neuerliches Verstummen, gegen den
Kachelofen gelehnt und offensichtlich durch die Wärme von hinten etwas
besänftigt.) Sodann, gemäßigt, im Plauderton: Da hatte man nun seine
Dienste dem König von Preußen angeboten, dem ersten deutschen Fürsten,
einem Mann von zweifellos (Achselzucken!) den größten Meriten nicht nur
um die Eroberung von Schlesien und die Einführung der Kartoffel. Und
hatte man nicht den Bescheid erhalten, daß man als Prediger bei seinem
Leisten zu bleiben und nicht in die Wissenschaften zu pfuschen habe?!
(Verächtliches Schnauben durch die Nase.) Hier sollte man also bei den
Jesuiten weiter Speichel lecken und Gott danken, wenn man nicht vom Volk
gesteinigt, wenn einem die Kirche nicht demoliert und das Dach über dem
Kopf angezündet wurde? Hätte Georgie Lust das zu erleben, -- he? Wenn
nun der Roskowski einmal hierher käme mit seinen zweierlei Stiefeln,
schwarz und rot, die Feuer und Tod bedeuteten, und der umherritt und die
evangelischen Prediger brandschatzte? Wollte Georgie zusehen, wenn er
dem Vater Hände und Füße abhackte und die Zunge ausrisse, hoho, -- na,
also, nicht wahr?! (Träumerische Benutzung des lavendelduftenden
Schnupftuches) Nein, nein -- (gewichtiges Kopfschütteln) _nein_, zum
Märtyrer fühlte er sich nicht geboren und ganz unbeschadet seiner
religiösen Überzeugung würde er eher in jesuitische Dienste treten, als
hier noch weiter einen verlorenen Posten verteidigen, er würde so zu
einem Märtyrer seiner Wissenschaft werden, man bemerke dies wohl! (Im
Vertrauen gesagt, George, denn die Weiber haben keinen Verstand davon:)
Unterhandlungen seien da im Wege, Unterhandlungen von weittragender
Bedeutung, -- man konnte jetzt noch gar nichts sagen, aber ...
Jedenfalls auch für Georges Zukunft von höchster Wichtigkeit, -- na,
kurz und gut: abwarten! (Gedankenvolles Saugen am Rohr, Vertiefung ins
Rauchgewölk: Ja, ja!) »Am liebsten ginge ich nach England.« Das wäre das
Land der Zukunft, da fände sich wahrer Weltbürgersinn und lebte sich aus
in gewaltigen erdumspannenden Plänen, ins Werk gesetzt von einer
unerschöpflichen Tatkraft. England, England! (Triumphmarsch durch die
Stube mit geschwungenem Pfeifenrohr und wehendem Schlafrock) »Georgie,
England unser Vaterland, vergiß es nicht! Vor hundert Jahren noch saßen
wir Forsters in der fetten Yorkshire-Landschaft an den Fleischtöpfen
Ägyptens, auf eigenem Boden, ehe wir auswanderten und ausgerechnet nach
diesem gottverlassenen Erdenzipfel!« -- »Sehr löblich, unsere
Beweggründe, sehr löblich, allerdings ...« setzte er pädagogisch hinzu,
denn sein Urgroßvater hatte England aus Treue gegen den enthaupteten
Karl I. verlassen, -- »Indessen,« -- abschließendes Gebrumm, -- »gab's
nicht auch andere Länder, um dahin zu flüchten? War Preußen näher als
die Niederlande etwa?« --

Projekte! Das war es! Projekte hinter den nachdenklichen Runzeln des
Vaters, Projekte hinter seinem zerstreuten Lächeln, Projekte hinter
jedem jähzornigen Aufbrausen. Man stand auf, man schlief ein mit
Projekten, man träumte Projekte, Projekte waren täglich Brot auch für
den Knaben. Freilich, es kamen Stimmungen über ihn wie an jenem
Oktoberabend, als er sich an die Mutter geklammert hatte, -- aber wenn
sie ihn jetzt zum Helfen zu sich rief und halblaut und zärtlich mit ihm
plauderte, als fürchtete sie immer, belauscht zu werden, -- »Unser
liebes Haus, nicht wahr, Georgie, unser schöner Garten ...!« dann fühlte
er sich unbehaglich und kam sich wie ein Verräter vor, wenn er nickte
und wohl auch einmal seufzte, um nicht ganz stumm zu bleiben. Ein
schöner Garten, ein liebes Haus, -- ja gewiß, -- aber wie mochte es denn
sein, wenn nun einmal ein Projekt in Erfüllung ging und die enge Welt
der Heimat aufsprang wie eine Eierschale, aus der er auskriechen würde
wie der hoffnungsvollste Gickelhahn?! So machte er sein einfältigstes
kleines Heuchelgesicht der Mutter zuliebe, deren Kummer er ganz deutlich
spürte und der ihm das Herz wund rieb, -- dachte aber trotzdem
unaufhörlich mit unruhiger Neugier an die letzten dunklen Reden des
Vaters, der wieder einmal in Danzig war, -- wohlgemerkt, mit einem neuen
mausfarbenen Rock aus feinstem Tuch und mit einem halben Dutzend seiner
krausesten Jabots versehen, von der Staatsperücke ganz zu schweigen! Was
tat er denn immer wieder in Danzig, wo sich zur Zeit auch Herr von
Rehbinder aufhielt, der russische Gesandte in Polen, ein ergebenster
Diener der großen Zarin, ein Werkzeug ihres Willens und ein charmanter
Mann obendrein?! Was mochte es zu bedeuten haben, daß er neuerdings
beständig vom »heiligen Rußland« fabulierte, von Europens Morgenland,
von der Edelsteinmauer des Ural und der wandernden Breite der Wolga, an
deren Ufern sich Deutsche niederlassen sollten wie in Paradieses Schoß,
-- couragierte Männer, deren Familien, hm, hm -- ein majestätischer
Blick zu Frau Justine hinüber -- es ihnen auf Knien danken würden, daß
ihr Mut Frau und Kinder von den mageren Weiden der Heimat in dies zweite
Kanaan versetzen würde, dem dringlichen Ruf Katharinas folgend, die in
werbenden Manifesten den Heimatlosen von ganz Europa Freistätten,
billiges Brot und unerhörte Vorteile in den noch unbewohnten Gefilden
ihres riesigen Reiches bot? Warum mußte er, George, auf einmal anfangen,
Russisch zu lernen, seine Zunge üben, das R zu schnurren wie ein
spinnender Kater und das kurz vorher leidenschaftlich begonnene
Holländisch liegen lassen? Warum lächelte der Vater oft so
gedankenverloren vor sich hin, wenn er arbeitete, warum tat er so, als
ginge ihn die Frühjahrsbestellung des Gartens nichts mehr an? So von
Neugier und Ungeduld zerfressen, und um den wehklagenden Augen der
Mutter zu entgehen, verging sich der Knabe gegen seine eigene Natur und
wilderte ein paar Wochen mit Janusch und ähnlichen Kumpanen umher, stahl
Äpfel, zündete Heuschober an und quälte Hunde und Katzen, alles Dinge,
deren Versuchungen bis dahin an ihm abgeglitten waren. Er benahm sich
ungeschickt genug dabei, wurde von den anderen regelmäßig vorgeschickt,
um die Kastanien aus dem Feuer zu holen, und hinterher ausgelacht, und
war eben bereit, gedemütigt und angeekelt in das alte Leben der
Stubenhockerei zurückzukehren, als die Pocken, die im Dorf umgingen,
über ihn herfielen und seinen dürftigen Körper eine geraume Zeit
zwischen Tod und Leben hin und her zerrten. Dann kamen hübsche Tage, in
denen er das fürchterliche Labyrinth der Fiebernächte wieder ganz
vergaß, Tage des Himbeersaftes und des Griesbreis und oh, der lieben
Gellert'schen Fabeln, -- Tage des Nichtmehrkrankseins und doch noch
Gehätscheltwerdens, Tage voll des Sonnenscheins mütterlicher Liebe und
eigener Verantwortungslosigkeit, -- nichts lernen, nichts schreiben,
immer nur deutsch sprechen, ach -- und immer nur spielen, -- Tage, so
selige, und die letzten seiner Kindheit. Denn als er aufstand,
narbenbedeckt, ein kleiner alter Mann, noch müde und elend und an nichts
weniger denkend als an Projekte, -- da war es so weit, da barst die
Eierschale und er mußte hinaus, ob er wollte oder nicht. Im Auftrag der
russischen Regierung, wie er sagte, wie er zweifellos auch annahm und,
-- jedenfalls durch Vermittlung des scharmanten Rehbinder, -- auf Kosten
der Krone, ging Reinhold Forster an die Wolga, um dort die Bedingungen
der ersten deutschen Ansiedelungen zu studieren, und er hatte es sich
ausbedungen, seinen ältesten Sohn, -- »einen hoffnungsvollen,
strebsamen, jungen Gelehrten« -- mitzunehmen. Ja, er nahm ihn mit sich,
als Hündchen, als Famulus, vielleicht auch nur, weil ihm der Knabe zur
unentbehrlichen Gewohnheit geworden war und in einem ersten plötzlichen
Zurückschauern vor den einsamen Wegen der Fremde. --

                   *       *       *       *       *

In der ersten Nacht auf See, nachdem der Leuchtturm von Zoppot im Nebel
hinter ihnen versunken war, und die Ostseewellen sich das rundbauchige
Schiff gegenseitig zuwarfen, machte George, in seinem schmalen Wandbett
unsanft hin und her geschleudert, wehleidige Zugeständnisse und rief
außer dem einen großen »Vater unser« noch alle Nebengötter vergangener
Jahre an, die er längst endgültig abgetan zu haben meinte: Maria nämlich
und Joseph, dazu Jakob, Abraham und Isaak, sowie Moses und Elias und
andere weißbärtige, wunderkräftige Gestalten des Religionsunterrichtes,
denen er als kleiner Knabe in endlosen geflüsterten Gebeten gemeint
hatte huldigen zu müssen, mit krankhafter Gewissenhaftigkeit bedacht,
nur ja keinen zu vergessen, der dann im Himmel traurig auf seinem
besonderen Thrönchen hätte sitzen müssen, vielleicht mürrisch, am Ende
gar zornig des gewohnten Weihrauchs harrend. Er versicherte nicht nur
_sich_ ihres Beistandes, sondern vor allem _sie_ seiner Ergebenheit, --
»denn ich habe euch ja alle so lieb« wisperte er nach ausführlicher
Namensnennung und fügte zur größeren Sicherheit abschließend hinzu: »und
_alle_ Engel!«, denn schließlich, _Engel_ war (seines Erachtens) ein
jeder von ihnen und so war es ganz gewiß, daß keiner vernachlässigt
worden war. Er hatte sich auf diese Weise früher oft in den Schlaf
gebetet und nur Fieken, die immer durchaus wissen wollte, _was_ er denn
so für sich zu flüstern habe, hatte ihm die Gewohnheit verleidet. In
dieser Nacht aber kehrte er reuig zu ihr zurück, demütigte sich
ausgiebig und gelobte Dienstbarkeit für alle Zeiten, wenn man ihn nur
lebendig aus diesem fürchterlichen Schiff entkommen und ihn jemals
wieder einen vergnügten kleinen Magen haben lassen wollte. In einer
Atempause des Sturmes, als das Ächzen, Knarren, Klatschen und Heulen für
einen Augenblick aussetzte, vernahm er neben dem unbehaglichen Stöhnen
und Würgen der beiden anderen Fahrtgenossen, -- des Herrnhuter Bruders
David Krüzner und des Jenaer Studenten Gotthold Betzel, -- ein
wohlbekanntes gründliches Knurschen und Schmatzen und stellte bei sich
fest, -- wobei sich sein Gedärme schmerzlich zusammenzog und süßliche
Flauheit sein Denken lähmte, -- daß der Vater da in der Finsternis Äpfel
aß, er meinte nun plötzlich auch den frischen heimatlichen Duft wie
einen schönen Fremdling durch die verdorbene Luft der niedrigen Kajüte
schweben zu spüren und krümmte sich gleicherweise vor Heimweh wie vor
Seekrankheit. Der Vater wurde nicht seekrank, mochte Gott wissen, wie er
das anfing, der stand am Morgen mit den possierlichsten Bocksprüngen auf
und verließ pfeifend den Raum, nicht ohne seinem Sohn und dessen
Leidensgenossen mit gerunzelter Stirn und teilnahmsvoll rollenden Augen
»eine kleine Collation« angeboten zu haben, da doch ein gefüllter Magen
den ganzen Menschen aufrecht zu halten imstande sei, wie er an sich
selbst erfahren zu haben meinte. George schüttelte angstvoll abwehrend
den Kopf, der Herrnhuter, der so im Bett mit der weißen Zipfelmütze über
den Ohren ein knittriges Altmütterchengesicht hatte, sah nur zum Himmel
und bewegte beschwörend die Hände, Gotthold Betzel aber verlangte
murrend nach einem ^Spiritus liquor^, den Herr Forster alsbald in
Gestalt eines Nösels Rum feierlich herbeitrug und den leidenden Bruder
tränkte, wie eine Mutter den Säugling. Er versäumte nicht, die Flasche
auch George und dem ehrwürdigen Krüzner mit aufmunterndem Blick
hinzuhalten, zuckte bedauernd die Achseln und nahm selbst einen
kräftigen Schluck, der ihn sichtlich bis zu den Schnallen seiner Schuhe
wohlig durchschüttelte. Sodann verschwand er und schickte den Janusch,
um für die Sauberkeit des Fußbodens zu sorgen, und Janusch wankte
herein, selbst grün und gelb aussehend, -- jawohl, der Janusch war
mitgenommen worden, denn was war ein Reisender ohne Kammerdiener? Er war
ein Baum ohne Schatten! -- und Janusch tat sein Bestes, aber dann rollte
er sich am Fußende von Georges Bett zusammen und George nahm mit
Ergriffenheit wahr, daß der ehemals so gefährliche Feind gebrochen war
wie er selber. Hatte er schon seit dem Tage seines Dienstantrittes ein
gewissermaßen abgeklärtes Wesen zur Schau getragen, daß sich George
gegenüber einstweilen in völliger Nichtbeachtung, gegen den Vater jedoch
in rasender Dienstfertigkeit ausprägte, so ward es jetzt offenbar, daß
er mit dem zerfetzten Wams auch die feindliche Gesinnung bis aufs letzte
abgestreift und mit den heilen Strümpfen, den ledernen Beinkleidern und
dem sauberen moosgrünen Kamisol, das Forster ihm zu Danzig in aller Eile
hatte anmessen lassen, eine begeisterte Unterwürfigkeit angezogen hatte,
auch für George, den er »Panje« nannte und ihm den Ärmel küßte, jetzt,
ehe er so zusammensank und den Kopf an die hölzerne Wandverschalung
lehnte. Er sagte nichts weiter, aber aus dem blassen schmutzigen Gesicht
sahen seine Augen grell wie die eines wilden Waldtiers, das aus seiner
warmen sichern Höhle gerissen war, und George ehrte diesen Zustand, als
den eines Leidensgenossen, und lag erschöpft still, keines Gedankens
fähig, als des einen, wie paradiesisch es sein müßte, jetzt zuhause in
einem stillstehenden Bett zu liegen, -- und meinetwegen die Pocken zu
haben, nur zuhause und, -- ja, -- bei der Mutter!

Unterdessen erholte sich der Herrnhuter so weit, daß er, allerdings im
Liegen und die Hände vorsichtig über den Magen gefaltet, imstande war
einen Psalm anzustimmen. Er wählte den zweiundvierzigsten und stärkte
sein Herz im Sprechgesang:

»Deine Fluten rauschen daher,« klagte er, »daß hier eine Tiefe und da
eine Tiefe brausen; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich
...«

Als er fertig war, blickte er die Knaben freundlich an und richtete sich
behutsam ein wenig auf. »Ist es nicht köstlich, meine Kinder,« fragte
er, »sich so völlig in der Hand des Herrn zu wissen und sich ihm ganz
überlassen zu müssen? Ach, daß wir uns doch nur im Unglücke so richtig
sein eigen fühlen, -- aber das Fleisch ist schwach.« Er hätte gewiß noch
mehr gesagt, aber Gotthold Betzel schüchterte ihn mit ärgerlichem
Grunzen hinlänglich ein und es verging noch manche Stunde, ehe eine
ergiebige Unterhaltung in Gang kommen konnte, wenn schon Reinhold
Forster mehrmals des Tags erschien wie das leibhaftige gute Wetter, um
jene kleinen Kollationen zu sich zu nehmen, deren er, wie gesagt, zu
seiner Aufrechterhaltung bedurfte. --

»Ihr werdet Hunger haben, immer,« hatte die Mutter kurz vor dem Abschied
mit weinenden Augen lächelnd gemeint, und: »Pah, Hunger!« hatte der
Vater geantwortet, der gerade ein Schinkenbein vorhatte und mit beiden
Backen kaute, -- »und wenn schon, meine Liebe! Die Wissenschaft ist
Opfer wert.« Nichtsdestoweniger widmete er sich jetzt hingebungsvoll dem
umfangreichen Vorratskorb, den Frau Justine mit so viel Sorgfalt gepackt
hatte, es schien die Zeit des Opferbringens noch nicht gekommen zu sein,
und auf einem Schemel auf dem Fußboden der Kajüte hockend, besagten Korb
zwischen den Knien, hielt er inmitten der Reisekumpane die
vergnüglichsten Kolloquien ab. »Du staunst, mein Sohn,« sprach er etwa
dabei und George lächelte zuvorkommend, wenn schon etwas matt, -- »ja,
du staunst und wie sollte ich es dir verdenken! Siehst du doch deinen
griesgrämigen Herrn Vater, der sich ganz darauf vorbereitete, hinter dem
Ofen zu vertrocknen als ein dürres Reis, mit einem Male gleichwie
versetzt an strömende Wasserbäche. Das Amt in Ehren, mein Herr Bruder in
Christo,« wandte er sich an den milden Krüzner, »in Ehren das Amt! Aber
wenn einem Manne für sein Dorf in der Polackei die Welt angeboten wird,
ja, wenn ihm die Größte aller Kaiserinnen eigenhändig --
vergleichsweise, nun, meine Herren, vergleichsweise! -- wenn sie ihm
also das Tor auftut zu ihrem gewaltigen Reich: Ich bitte um die Ehre,
Monsieur Forster! Ein Narr, nicht wahr, wer da nicht zugriffe, ein Narr!
Und außerdem, ich besitze gewisse Gaben, die über das Amt hinausgehen,
Herr Bruder, den Rahmen des Amtes sprengen, -- jawohl, -- wenn ich so
sagen darf ... Herr Bruder!« Er brummte noch verschiedene Male »Hm, hm!«
hinterher, wobei er mit zwei Fingern vorsichtig an seiner Nase zupfte
und verliebt vor sich hinblickte. »Jetzt kommen gleich die Verdienste um
die Erforschung der Wasserfauna und der Insekten, die Bekanntschaft mit
Herrn von Rehbinder, dem Geschäftsträger Ihrer Kaiserlichen Majestät,
die Korrespondenz mit Herrn von Haller in Zürich und die Fertigkeit,
sich in siebzehn Sprachen auszudrücken, -- endlich aber sein Vermögen,
den großen Zeh in den Mund stecken und mit dem Kopf zwischen den Beinen
hindurchgucken zu können, welch letzteres Kunststück er gewiß ^ad
oculum^ demonstrieren wird,« -- dachte George ergeben, der neben der
Bewunderung für seinen Vater zum erstenmal in seinem Leben eine leise
Befangenheit empfand, wenn dieser sich allenthalben so wohlig
entfaltete, wie eine Blume im Sonnenlicht. Doch hub jetzt David Krüzner
an, während er bescheiden aus einem leinenen Reisesacke zehrte und
sparsam nur mit den Vorderzähnen zu knabbern schien, -- er hatte eine
lange geduldige Oberlippe und große feuchte Kaninchenaugen, -- »Es geht
nichts über ein Wirken in der Stille, lieber Bruder, und der Herr weiß
es ja, wie ich ihn hätte preisen wollen, wenn er mir Armen ein solches
Amt verliehen hätte, wo ich meinen Mitbrüdern unangefochten hätte dienen
können. Indes, da es sein heilsamer Wille ist, mich hinauszusenden unter
Morduanen, Baschkiren und Kalmücken, -- ei, so geht David Krüzner, denn
es ziemt ihm nicht, wider den Stachel löcken.«

»Recht habt Ihr, Herr Bruder,« sagte Forster mit einer gewissen Öligkeit
in der Stimme, die George von der Kirche her an ihm kannte, -- dann
wußte er, jetzt dachte der Vater an ganz andere Dinge, was aber die
Leute durchaus nichts anging -- »das Schäflein bleibt in seines Hirten
Händen, -- auch unter den Heiden! Indessen ^suum cuique^, Herr Bruder,
^suum cuique^, -- meint Er nicht auch, Herr Studiosus?« Und während
David Krüzner murmelnd bekannte, ein demütiger Bruder zu sein und kein
Latein zu verstehen, hub Gotthold Betzel an: »Der Teufel hole Morduanen
und Baschkiren so gut wie jedes Amt in Deutschland, wo einen die Ratzen
bei lebendigem Leibe auffressen, da die lieben Tierlein selbsten nichts
zu nagen haben. Ich aber gehe nach St. Petersburg, dort kann man Kaiser
sein, ehe man sich's versieht, was mir übrigens ein viel zu heißer Boden
wäre. Ich werde aber der Kaiserin mein Projekt zur Beleuchtung
nächtlicher Paläste und Hütten mittelst eines aus Hammeltalg
destillierten Öles vorlegen, wobei der Mensch sich zugleich erwärmen
kann, und alsdann werde ich mit großen gewonnenen Schätzen in die Türkei
verreisen, -- allwo man weiter sehen wird.«

»^Ergo bibamus!^ Trink Er, Herr Bruder, ich hab mir auch einmal den
Rücken im Kollegio krumm gesessen«, sagte Forster teilnahmsvoll und
reichte ihm die Flasche, ohne weiter auf die Projekte des ^pp.^ Betzel
einzugehen. Gegen Ende der Reise, die in neun Tagen glatt und sicher
verlief, saß er übrigens mehr in der Kajüte des Kapitäns, dem er
gewaltigen Eindruck durch seine Kenntnis der fernsten Küsten und Völker
machte, und der ihn nichtsdestoweniger fabelhaft anlog, um ihn zu
übertrumpfen, was ihm aber nicht gelang, denn Forster hatte immer noch
etwas daraufzusetzen: auf das Meerweib die fliegenden Fische, auf den
Magnetberg die feuerspeienden Berge und auf das Nagelmeer die kochenden
Springquellen Islands, wobei sie sich gegenseitig vortrefflich
unterhielten und der Schipper Mandeweit, der alljährlich einmal um das
Kattegatt herum nach London segelte, im übrigen aber nie in seinem Leben
über die große Punschbowle der Nordsee hinausgekommen war, den gelehrten
Herrn für »'nen verdammten Slusuhr« erklärte, was einen hohen Grad von
Anerkennung bei ihm bedeutete. Er nahm Forsters Mitteilungen restlos in
seinen Lügenschatz auf und zwar als Glanzstücke, und wurde so zu einem
unfreiwilligen Verbreiter der Wahrheit. Auch Gotthold Betzel erholte
sich alsbald so weit, um von der Gesellschaft zu sein. Verschiedne
Spiele Karten bildeten einen Teil seines Reisegepäcks, und er weihte
Herrn Forster und den Schiffer in die Geheimnisse des Rabougierens ein,
nicht ohne gründlichen Gebrauch von seiner Überlegenheit zu machen, die
sich Mandeweit fluchend, Forster mit Gelassenheit gefallen ließ: er tat
wohl mit, gewiß, er war kein Spielverderber, aber im Grunde war dies
denn doch ein Amusement für seichte Köpfe und wenn man nicht unterwegs
gewesen wäre ... Zudem langweilten ihn die Karten von jeher gräßlich und
er verlor schon allein aus Gleichgültigkeit fortwährend und versetzte
dadurch Gotthold Betzel in unbändig gute Laune; dieser erinnerte sich
seiner musikalischen Gabe und sang nunmehr viel mit rauher Stimme, sang
Lieder, deren Inhalt den Bruder Krüzner wehmütig, George und Janusch
aber außerordentlich heiter stimmte. Diese beiden trollten auf Deck
umher und erschienen so wenig als Herr und Diener wie nur je in den
vergangenen Tagen zu Hause.

»Georgie, Panje, ist sich viel zu viel Wasser, ist sich fürchterlich!«
hatte Janusch am ersten Tage schaudernd erklärt, und George, obgleich
innerlichst geneigt, ihm zuzustimmen, hatte die Hände auf den Rücken
gelegt und mit vorgeschobener Unterlippe sein Magistergesicht
aufgesetzt. Mein Gott, wenn das noch alles Wasser wäre, was es auf Erden
gäbe, -- aber bewahre, -- dies war ja nicht mehr als daß ein kräftiger
Walfisch es auf einen Zug austrinken könnte! Und »Täubchen schöne« waren
das da oben auch nicht, sondern Wasservögel, Möwen, vermutlich, -- ja,
so etwas konnte man wissen, ohne einen von den groben Matrosen zu
fragen, die gleich mit der Gegenfrage bei der Hand waren, ob man wohl
belieben würde, mal unterzutauchen, mal Salzwasser zu schlucken, mal
sein Fell auswringen zu können? Die gelbbraunen Eulenaugen des Janusch
wurden vor Staunen immer runder und das nahm George wie eine
Aufforderung an seine Ehre, selbst unter keinen Umständen Verwunderung
an den Tag zu legen. Am achten Tage sah man einen Zug wilder Schwäne,
der von Süden kommend den Meerbusen kreuzte und sich untereinander
ermutigend geheimnisvolle Töne zurief, -- Namen vielleicht der
unendlichen Seen Finnlands. Am Morgen darauf tauchte Kronstadt aus dem
Nebel, wie das phantastische Bollwerk des Seekönigs und am Abend
desselben Tages schaukelten die Reisenden auf ihren festlandungewohnten
Sohlen die Newski-Perspektive hinab. Nun versagte die Haltung des nicht
zu Rührenden dennoch und es war erfreulich, einen Vater zu haben, dessen
Hand man ergreifen konnte, -- merkwürdigerweise schien diese große Hand
selbst einen gewissen Anhalt an der kleinen des Sohnes zu finden. Stumm
gingen sie diese ungeheuerste aller Straßen hinunter und sahen sich
immer wieder nach dem Janusch um, der unter der Last des Reisesackes
gebeugt hinter ihnen drein keuchte, unterstützt von einem freundlichen
schlitzäugigen Kerl, der sich mit dem übrigen Gepäck beladen hatte und
jedesmal aufmunternd grinste, wenn er angesehen wurde. Übrigens gewann
Herr Forster mit jedem Schritt an Sicherheit, und schon im Gasthaus
Peter Bierbergs trat er auf wie der siebenfach gebrühte Weltreisende,
der sich beileibe nichts vormachen läßt und alles an Erfahrung überragt.
Was Peter Bierberg demütig zu stimmen schien, ihn aber nicht hinderte,
die neuen Gäste unter Achselzucken und mancherlei Entschuldigungen in
einem Raum mit einer vielköpfigen polnischen Familie einzuquartieren, wo
Vater und Sohn zusammen ein Bett beziehen mußten und mancherlei an
Schamhaftigkeit auszustehen hatten, d. h. sie schämten sich fast zu
Tode, aber die dicke polnische Mama schien nur an feuriger Lebendigkeit
zu gewinnen. Indes verging dieser erste Aufenthalt in St. Petersburg
traumhaft schnell, und George hatte kaum Zeit sich darüber klar zu
werden, daß er nun zwar wieder auf festem Lande, aber doch unendlich
weit von daheim und der Mutter entfernt war, -- hatte seinen kleinen
Kopf kaum den Eindrücken dieser wilden großen Stadt angepaßt, ihren
Palästen und stattlichen Steinhäusern, die grün oder ^café au lait^
getüncht mit ihren bunten flachen Dächern und den anspruchsvollen
Säulenverzierungen ihrer Vorderseiten bereits anfingen, die alte
hölzerne Stadt Peters zu verdrängen, ihren Bazaren und Kuppelkirchen,
den Kanälen und vor allem der wimmelnden Newa mit ihren unheimlich
schwankenden Schiffbrücken, die doch Droschken, Roß und Reiter und die
ganze bunte treibende Masse des Volkes vom ersten Admiralitätsteil
hinüber nach Wassilii Ostrow trugen, -- mit diesem Volke endlich selbst,
so vielfältig an Erscheinungen, wie es sogar der Danziger Hafen, an
dessen Jahrmarktstrubel er bisher alles Wunderbare bemaß, nicht war und
nie sein konnte, -- er hatte also kaum begriffen, daß sein kleines Ich
nun diese ungeheure, schreiende, heulende, bewegliche, geheimnisreiche
Erweiterung erfahren hatte, -- denn jeder Ort stürzt sich unaufhörlich
nach Einheit gierig in die Gemüter, die ihn auffangen und widerstrahlen,
und jedes Ich hat seine Grenzen erst da, wo sein Bewußtsein aufhört, das
Bewußtsein eines Kindes aber verschwimmt mit dem Umriß seines Wohnortes,
-- kaum hatte er solchermaßen Nassenhuben abgestreift, mit der
vertrauten Enge von Haus und Garten und dem leeren Umkreis von
Kiefernheide und Ebene, -- kaum Danzig verwunden, das ihm hundert
Gesichter gehabt zu haben schien und ihn schmerzhaft ergriffen hatte mit
seiner angehäuften Kultur, seinem katholischen Prunk und seiner
Bevölkerung von lauter Pastoren und Starosten, ja, lauter Herren, wie es
daheim nur zwei gegeben hatte! -- kaum lag die See hinter ihm mit ihren
heftigen Anforderungen an Körper und Gemüt, von denen das ^nil admirari^
dem Janusch gegenüber vielleicht die schwerste gewesen war, -- denn es
ist unerhört hart, mit elf Jahren beständig die Würde zu wahren, -- so
kam St. Petersburg wie ein kurzer Fiebertraum und schon ging es weiter.
Ging weiter mit Vorspannpaß im eigenen Wagen, zweihundertfünfzig Werst
in vierundzwanzig Stunden, die wachsenden Tage und die immer heller
bleibenden Nächte hindurch, kaum daß es einmal ein Nachtquartier in
einem schmutzigen Gasthaus gab, wo der Wirt wohl in Ehrfurcht vor dem
Herrn, der in Geschäften der Krone reiste und darum nur halbes Postgeld
bezahlte, erstarb und Herrn Forsters Laune dadurch prächtig anfachte, wo
man aber dafür des Nachts von Ungeziefer halb gemordet wurde. Doch war
der Vater unterwegs außerordentlich frisch und lebendig und benutzte die
Zeit zu den eingehendsten Wiederholungen auf allen Gebieten des Wissens,
er botanisierte mit George neben dem Wagen her, wenn dieser mit
trostloser Langsamkeit durch die Sandwege unendlicher Wälder schaukelte,
und erging sich in verzückten Rhapsodien über die Ergiebigkeit und
Unberührtheit dieses Landes, sobald man mit frischem Vorspann wieder
feurig dahinrollte, fleißige kleine Pferde vor sich, die ihre zottigen
Köpfe begeistert warfen und schüttelten, wenn der Iswotschik sie weniger
mit der langen Peitsche als mit dem zärtlich singenden Ton seiner Stimme
aufmunterte. George gewöhnte sich an den Anblick von Januschs Rücken mit
dem hin und her tanzenden kurzen steifen Zopf vor sich auf dem Bock und
wartete oft sehnsüchtig darauf, daß der runde Kopf herumwanderte und ein
von Hochachtung und Mitleid gleicherweise sprechender Blick aus Januschs
Eulenaugen langsam über ihn hinwegging, -- worauf er sich wieder etwas
gestärkt fühlte, denn ein Leiden ohne Zeugen hätte auch den heiligen
Märtyrern nicht halb so viel Spaß gemacht, dessen sei man nur gewiß!
Zuhause hatte die Mutter doch manchmal bewundert, was alles er zu
leisten hatte, hatte ihm an besonders harten Tagen einen Apfel
zugesteckt oder gar einen Eierkuchen gebacken, -- sehr heimlich
freilich, und dann hatten sie ihn zusammen am Herde verspeist, weder
Rieken noch Fieken durften das wissen, auch nicht Malchus, der Knecht
oder Mareiken, die Magd. Hier aber mußte man die Lippen zusammenpressen,
tief durch die Nüstern schnaufen, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen,
und dann seine Antwort hervorschnurren, ganz ausgeliefert diesen
undurchdringlichen blauen Porzellanaugen und im Banne der starken Hand,
die ungeduldig am Wagenschlag trommelte und so leicht von dort abglitt
und Georges Kopf traf, der sich dann geduldig duckte, -- nein, hierbei
sollte Janusch keinen Anlaß haben sich umzudrehen, und es ging, es ließ
sich wahrhaftig aushalten, diese Kopfnüsse lautlos hinzunehmen! Zu
größeren Exekutionen, wie der Vater sie sonst als Unterbrechung der
Arbeitsstunden liebte, war ja in der Kibitka Gottseidank kein Platz; der
Vater sah ganz davon ab, nachdem er sich in den ersten Tagen hart am
Ellbogen gestoßen hatte, -- ein Zeichen, daß auch er sich beherrschen
konnte, wenn es sein mußte. George wußte schon von zuhause her, daß man
am besten dabei fuhr, wenn man dem Gewaltigen diente, als sei dies ganz
selbstverständlich; nun aber bildete er die Kunst, dem Riesen alles an
den Augen abzusehen und seinen Wünschen lautlos zuvorzukommen, vollends
aus. Der Riese war zuweilen äußerst schlechter Laune, -- schön war das
Reisen, ja, und wissenschaftlich war das Land ergiebig wie ein Pudelpelz
an Flöhen, aber es war doch auch geradezu widerwärtig groß und es nahm
gar kein Ende mit lichten wehenden, wehenden Birkenwäldern, mit den
bunten hölzernen Dörfern, mit der unendlichen mattgrünen Ebene, hinter
der der Horizont sich immer weiter hinausschob, wiewohl man an jedem
Abend glaubte, man würde morgen im ewigen Osten landen und hätte die
Wolga längst im Schlaf überschritten. Zudem widerstand ihm einstweilen
die landesübliche Kost, er verachtete Schtschi und Kascha, vor Kwas aber
ekelte er sich geradezu und behauptete lärmend, es sei unsittlich,
diesen gegorenen Unrat zu trinken, man könne nicht wissen, welche
Ingredenzien dazu verwendet würden. Einzig die Malinowka fand einige
Gnade vor ihm, er pflegte sie allenthalben ernsthaft zu fordern und
legte starke Verstimmung an den Tag, wenn dieses aus Kirschsaft, Zucker
und Wein gebraute Getränk nicht zu bekommen war. Endlich kam er
dahinter, daß die Russen Meister in der Kunst der Pastetenzubereitung
waren; nun war freilich alles gut, und sobald er so weit war, zu wissen,
daß sich die verschiedensten Piroggen, seien sie mit Pilzen, Fischen,
Fleisch oder Speck und Rosinen gefüllt, auch als Reisevorrat mitnehmen
ließen, gewann er einen bedeutenden Überschuß an Spannkraft. Er sorgte
für den Vorratskorb und allenfalls für die Kiste, die die Bücher und
seine wissenschaftlichen Notizen enthielt, welche George an den
spärlichen Rasttagen nach seinem Diktat sorgfältig ins Reine schreiben
mußte. Die Sorge für das übrige Gepäck überließ er dem Janusch und
erklärte ihn für einen exemplarisch vortrefflichen Bedienten, ohne zu
bemerken, daß sein kleiner Sohn den besten Teil der notwendigen Arbeit
verrichtete, denn der Janusch war den mannigfachen Besitztümern
gegenüber, die die Zivilisation seiner Herrschaft erforderte, ziemlich
ratlos und hatte nicht Zeit, über diese Ratlosigkeit hinauszuwachsen,
wie man bald erfahren wird. So begnügte er sich mit der Pflege des
Schuhzeuges und dem Zuschnallen und Schleppen der Koffer, während George
stillschweigend für Sauberkeit und geglättete Lage der Kleider sorgte.
Als Herr Forster ihn einmal bei diesem Geschäft zu bemerken geruhte,
stellte er nachdenklich fest: »Wie sehr du deiner Mutter gleichst, mein
Sohn!« legte weiter keinerlei Ergriffenheit an den Tag, machte aber in
Zukunft George für jeden Flecken auf den Kleidern verantwortlich.
Endlich erreichten sie Nishni-Nowgorod. Hier klaffte ein Riß in der
farblosen Haut der Ebene und die Seele Rußlands lag bloß, starrend bunt,
asiatisch üppig, wie das Innere der märchenhaften Kirchen:
Edelsteinhöhlen, von Rubinlicht durchblutet, -- wie die Völker, die hier
zusammenströmten mit dem Geruch unübersehbarer Pferdeherden und des
Leders, mit unerhörter Farbenfreude in den Gewändern und dem leisen
Geklirr von silbernen Kettchen und Klapperwerk an den hohen bunt
aufgenähten Mützen ihrer Weiber. Zudem strotzte alles von Fettigkeit und
Schmutz, aber den Reisenden, von Staub, Wind und blendender Sonne
gedörrt wie sie waren, tat die feuchtigkeitsgesättigte Luft der
Stromniederung wohl und unter den Segenswünschen des Iswotschik, -- ja,
er würde warten, bei Gott, nicht rühren würde er sich aus seiner
Herberge! am Ufer würde er stehen und sich blind schauen, bis das
hochverehrte Väterchen wieder flußaufwärts gefahren käme! möchte es nur
gefahren kommen, möchte es nur! -- bestiegen sie eine Schaluppe und der
Strom nahm sie auf. Wasser! hieß wiederum die Losung, aber anders war
ihr Klang als zuvor auf der See, anders, zielbewußter und beseelter
schien diese rastlos vorwärts sich wälzende Flutmasse in der ungeheuren
Schwermut ihres Willens, der nichts wußte von der tobenden
Regellosigkeit des Meeres. Nicht daß George es sich klar gemacht hätte,
aber er verstand, -- er verstand! Er kauerte hinter einer Rolle von
Tauen am Bug des Schiffes und blickte grade aus, es war alles so sanft
und ernst, wie die Wasser sich um die flachen Inseln teilten, wie die
Schilfwälder meilenweit wogten und raschelten, wie große Stelzvögel
majestätische Kreise darüber zogen. Er blickte nach Osten, wo die
Wasserfläche in die unendliche Ebene überging und mit dem Horizont
verschmolz; im Westen aber stand abends der Himmel tiefgolden hinter der
schwarzen ruhigen Festigkeit der Berge. Dann begannen die Burlaki zu
singen, während sie Anker warfen, und auch das verstand er, ohne
vielleicht ein einziges Wort zu erfassen, er hockte nur da, ein sehr
kleiner Junge trotz Schoßrocks und Haarbeutels, hatte den Kopf auf die
Knie gelegt und weinte. Es war ihm aber gar nicht schmerzlich zumute,
nur so, als müsse nun endlich alles leichter werden, und das war doch so
gut, -- so gut. Irgend etwas streichelte ihn, nahm ihn und wiegte ihn
ein, die übermäßige Spannung, die ihn seit Beginn der Reise bis an die
Grenze seiner Fähigkeit gestrafft hatte, löste sich, der »Herr Magister«
zog sich völlig ins Wesenlose zurück, ein Knabe blieb, kindlich,
zutraulich oder unartig, kurz, er fiel an seine eigene Natur zurück und
das nach sieben Jahren zum erstenmal, denn im Grunde hatte er sich von
ihr entfernt, damals, als er so plötzlich lesen konnte, -- ach ja, wie
war es nur gekommen? -- als es mit dem Spielen vorbei gewesen war. Dazu
kam, daß es dem Vater ähnlich erging wie ihm selber, Herr Forster
verbrachte ganze Tage in träumerischem Vorsichhinstarren und ließ sich
die Sonne auf den breiten Rücken brennen, wobei er manchmal blinzelte
und mauzend gähnte wie ein träger Kater. Zwischendurch erhob er sich
allerdings, reckte sich, daß die Gelenke krachten, rieb sich gewaltig
die Hände und begann dann eine hastige Teilnahme für die
vorübergleitenden Ufer an den Tag zu legen, fragte den Steuermann, der
unbewegten Gesichtes Auskunft gab, leidenschaftlich aus und stand
gebückt, auf dem linken hochgestellten Knie ein Schreibtäfelchen, in das
er eifrig Notizen eintrug. Es war aber nicht die Rede davon, sie
auszuarbeiten, wie George immer heimlich fürchtete, wenn er den Vater
bei dieser Beschäftigung sah, sondern Herr Forster blieb sanft und faul
und ward nur ein wenig munterer, wenn angelegt wurde und man an Land
ging, was alle zwei bis drei Tage einmal geschah. Alsdann suchte man
sich Reittiere zu verschaffen oder ging zu Fuß landeinwärts in die
wilden Wälder oder die öden Steppen hinein, sammelte Pflanzen und
stellte Tieren nach, bei welcher Gelegenheit Janusch wie wild hinter der
armen Tschokuschka, dem allerliebsten Zwerghasen her war, dessen
wachtelschreiähnlichen Lockruf er nachzuahmen verstand und dessen
unterirdische Laufgräben und Höhlen er mit dachshundgleicher Spürnase
aufzufinden wußte. Er gab sich dieser Unterhaltung mit einer Art
weinerlicher Leidenschaft hin und George fühlte es wohl, Janusch hatte
keine andere Freude mehr, Janusch war bitter enttäuscht und suchte hier
eine Entschädigung für seinen Tatendurst und seinen Ehrgeiz, denen ein
Leben auf dem Kutscherbock und auf der Ruderbank zu eng war. Dies war
klar, obgleich Janusch sich nie darüber äußerte, aber sein mürrisches
Schweigen, diese finstere Majestät seiner Verdrießlichkeit lasteten
schwer auf George, gerade weil er selbst so vergnügt war und sich mit
ängstlicher Seele bemühte, auch seine Umgebung heiter zu wissen, als
läge in deren Unzufriedenheit eine Gefährdung dieses harmonischen
Zustandes. Um die Wahrheit zu sagen, der Janusch haßte das Wasser, und
nun hatte er die Ostsee gerade überstanden und war schon wieder in so
einen hölzernen Trog gebannt, der auf dem widerwärtigen Element schwamm
und schwankte, daß einem vom bloßen Zusehen übel werden konnte. Ja, wohl
hatte er daheim die Pferde in die Schwemme geritten, aber das war auch
bei Gott etwas ganz anderes gewesen, da war er der Herr von Pferd und
Wasser, diesem Tümpel, dessen Blutegel und schlammgrüne gelbbauchige
Salamanderchen er alle persönlich kannte. Nun, und dann, so halbnackt
und naß wie irgend ein Wasserteufel ins Dorf zurückgaloppieren,
schreiend, peitschenknallend und fratzenschneidend, daß alle Kinder und
Mädels Reißaus nahmen, -- das war doch etwas anderes als so tagaus
tagein, so wiegala wogala in diesem verdammten Kasten sitzen zu müssen.
Der Janusch grollte. Der Janusch starrte den Treidelpferden nach, die so
geduldig am Ufer gingen und die schwer beladenen Barken zogen, und
beneidete die Bauern, die sie trieben. Tausendmal mehr noch aber
beneidete er andere Leute, die man zum erstenmal Anfang August auf dem
westlichen Ufer antraf, wo man eines Abends schon von weit her eine
Wolke schweben sah, eine Wolke von Rauch und Staub, die als sie näher
hinzukamen, von der sinkenden Sonne ganz golden durchglüht war, und
darin tummelte sich ein Gewimmel von Menschen und Tieren, entstanden,
wie Pilze aufschießend, dunkele, runde und zugespitzte Zelte und war ein
Geschrei, Gebrüll und Gewieher, von Peitschenknallen und Flintenschüssen
zerrissen, daß George und Janusch sogleich an Jahrmarkt dachten und
George wahrnahm, wie der Janusch ganz glühende Augen bekam und ungebeten
des Vaters große Stulpenstiefel bereit stellte, dann aber von einem Fuß
auf den andern tanzte und sich durchaus geberdete wie ein Hund, der die
Anstalten eines Aufbruches wittert und noch nicht genau weiß, ob er
mitgenommen werden wird. Herr Forster enttäuschte ihn denn auch nicht,
und obgleich der Steuermann murrte, man würde sich dies ganze Gesindel
auf den Hals laden, ließ er angesichts des Kalmückenlagers anlegen und
ging mit den beiden Knaben hinüber, unbewaffnet und seelenruhig wie auf
seiner Dorfstraße zuhause. Tief befriedigt kehrte er zurück, hatte aber
nichts dagegen, daß sogleich der Anker gelichtet und alsdann noch die
halbe Nacht stromabwärts gefahren wurde. Selbst auf dieser Strecke
folgte ihnen auf dem linken Ufer ein Haufe halbwüchsiger Knaben und
Kinder zu Fuß und zu Pferde, von großen weißen Windhunden geisterhaft
begleitet und umschwärmt, während die Schaluppe auf dem Wasser
dahinglitt und Strom und Steppe in dem grenzenlosen, vom
silberbläulichen Mondlicht erfüllten Rund der Himmelskugel lagen.
Janusch war ganz aufgeregt, er hockte neben George und flüsterte mit
heiserer Stimme von allem, was sie gesehen hatten, wobei er immer wieder
ins Polnische verfiel und zu den am Ufer Dahinreisenden hinüberstarrte,
mit bebenden Nüstern die Luft einziehend, als hoffte er den ihm so
köstlichen Geruch des Lagers noch einmal zu spüren, nach Pferden, nach
Leder, nach Schafmist, nach Milch, säuerlich und gegoren. Und dann war
auch hier alles so himmlisch fettig gewesen, sogar in dem Tee, der ihnen
feierlich in der Kibitka des Chans dargeboten worden war und der aus
einer kunstvollen kupferbeschlagenen Lederkanne herauskam, war
zerlassene Butter gewesen und außerdem Milch und Salz; man trank ihn aus
Bechern, die gleichfalls von hornhartem Rindsleder waren. Alle diese
gelbbraunen glänzenden Gesichter mit den schwarzen strähnigen Haaren,
den blanken Äuglein und den breiten Mäulern waren dem Janusch
ansprechend und zutrauenerweckend erschienen, die langen dünnen
Schnurrbärte der Männer ehrfurchteinflößend und die Rüstung des Chans
und seiner Umgebung mit Ringpanzer und rundem Helm, Bogen, Pfeilen und
kurzem Feuergewehr gewaltig und königlich. Er hatte das weiße Kamel aus
Buchara angestaunt, das ihn hochmütig übersah, denn es war ja das
_weiße_ Kamel und es durfte allein den kleinen zweiräderigen Wagen
schleppen, der die Heiligtümer enthielt, den fetten kleinen Buddha aus
vergoldetem Holz, die Räucherfässer und die Schriftrollen, unter denen
der Schamane jetzt zornig hantierte; denn ihm gefiel der Besuch eines
friedlichen fremden Mannes nicht, er hielt ihn für einen andern
Zauberer. Aber auch die gewöhnlichen Kamele waren sehenswert, wie sie
geduldig niederknieten und sich mit vorgebogenem Halse die unerhörten
Lasten abnehmen ließen, -- ganze Häuser trugen sie an den Seiten ihrer
wunderlichen Höcker, überhaupt, was waren das für Tiere? Die Pferde
waren zottiger und wilder, die Rinder kleiner und hochbeiniger als
zuhause, die Ziegen hatten keine Hörner und die Schafe so fette
Schwänze, -- kurz, es war alles, alles anders und doch berauschend,
schwindelerregend schön, es war kaum ein Unterschied zwischen Mensch und
Vieh, alles umdrängte, beschnüffelte und betastete einen, man kam sich
gegenseitig nahe, man roch und schmeckte sich und das war es, was
Janusch seit Monaten entbehrte, ja, das war es, und so war er jetzt wie
betrunken. Er aß Schafkäse und Dörrfleisch und trank gegorene
Stutenmilch, er kroch in jedes Zelt hinein, wo auf den Dreifüßen
frischer Tschipan in flachen eisernen Schalen gebraut wurde, und die
blanken Knöpfe an seinem grünen Kamisol verhalfen ihm zu einem billigen
Vorrang vor dem mausegrauen George, der hinter ihm herging, sich
unbehaglich fühlte und den Vater herbeisehnte, der endlos mit dem Chan
um Waffen und Ledergefäße handelte, ja, dem es sogar gelang, gegen ein
Bernsteinkettchen, nach dem es einer schiefäugigen kleinen Dame
gelüstete, einer Lieblingstochter des kahlköpfigen Oberhauptes offenbar,
eine Gebetsmühle einzutauschen, sehr zum Ärger des Schamanen, der dem
Chan die Verfolgung aller bösen Geister prophezeite und hinter den
Gästen dreinräucherte, am liebsten entschieden das ganze Lager
abgebrochen und an einem andern unentweihten Ort wieder aufgeführt
hätte. -- Nein, George hatte eine verschwiegene, aber sehr starke
Abneigung gegen alle diese bunten Zaubervölker, von denen immer neue
auftauchten, so daß nach ein paar Tagereisen die Städte und Dörfer ihr
Gesicht wechselten; er liebte es gar nicht, mit dem Vater in die Hütten
zu gehen und Gemeinschaft zu haben mit Morduanen, Tschuwaschen und
Baschkiren oder wie sie sonst hießen, er hielt sie in der Tiefe seines
Herzens allesamt für Räuber, von denen ihm Akim, ein alter Schiffer, mit
dem er sich notdürftig verständigen konnte, mehr durch aufgerissene
Augen, emporgehobene Hände, dumpfe Kehltöne und eine Gebärde, die das
Halsabschneiden anschaulich wiedergab, erzählt hatte. Er kam sich
merkwürdigerweise am sichersten vor, wenn weit und breit kaum eine
menschliche Ansiedlung zu erblicken war, wenn die Strombreite sich bis
zum Horizont ausdehnte, rastlos vorwärts ziehend, das erhabene Antlitz
voll der Farbe des Himmels, -- wenn ringsum nichts war, als das Rucken
der Ruder oder das Knarren des Segelgestänges, das leise hinstreichende
Rauschen und Glucksen am Kiel, der Schrei eines Wasservogels und die
schläfrige Unterhaltung der Matrosen. Vielleicht auch ihr Gesang am
späten Nachmittag oder an einem Morgen, wenn der Himmel mit seinen
Wolkenmassen allzu niedrig über der Ebene hing, daß alles so erdrückend
traurig ward und die Seele sich aufzulösen suchte, -- dann ward in
diesem Gesang alles eins, Himmel und Erde, Strom und Mensch, und die
sanft bewegte dunkele Linie der Berge war wie eine schwermütige
Begleitung, wenn die Töne verschwommen von dort zurückkehrten. Da waren
die graugrünen Weiden auf den langen niedrigen Sandinseln, sie
spiegelten sich im stillen Wasser und ließen ihre langen Zweige von der
Strömung mitschleifen; da waren Fischer, die im Wasser wateten, die ihre
Netze stellten und ihre Hütten am Ufer hatten, kaum als Menschen
empfunden, sondern als eine Äußerung der Landschaft, -- da waren die
Mündungen einströmender kleiner Flüsse, von Schilfwäldern verborgen,
schamhaft, wie ein Verschmelzen der Liebe. Da war der Geruch nach Teer
und Werg und bittrem Holzrauch, von der feuchten Reinheit des Gewässers
durchatmet, und zuweilen auch der nach Fischen und faulenden Pflanzen.
Das alles war gut, zärtlich und gelinde, George lächelte viel ohne
eigentlichen Grund, er saß und besah seine Hände, sehr kleine Hände, wie
er fand, sie erinnerten ihn irgendwie an Fieken, die Schwester, die doch
noch ein Kind war. Und siehe, da fiel es ihm ein, mitten auf der Wolga
fiel es ihm ein, daß er ja selbst nur ein Jahr älter als Fieken sei! Er
wunderte sich einen Augenblick, vergaß es aber wieder. Dort handelte der
Vater mit einem Bord an Bord mit ihnen fahrenden Fischer um Wälshaut zum
Schließen seiner Weingeistflaschen, in denen er gefangenes Gewürm
aufhob. George mußte dabei sein, stand daneben, lauschte dem Handel und
einem Streit über den Goldfisch, die Beschanaja Ryba, -- »Verzehre ihn
nicht, Väterchen, er macht toll und Gott gnade deiner hohen Familie!«
Ein Fressen für die Heiden sei er, die Morduanen und Tschuwaschen, --
Väterchen lachte und ließ ihn zum Abend bereiten, fand ihn aber
langweilig im Geschmack und zog auf die Dauer Sterlett vor, -- George
lächelte träumerisch und ging zum Bug zurück, wo auch Akim hockte und
Körbe aus Weiden flocht, -- da saß er und wartete, daß die Seele
wiederkehrte, der scheue Vogel, der ihn jetzt dauernd umschwärmte und
Wohnung machen wollte, da Formeln und Vokabeln nicht mehr den Platz
ausfüllten.

Übrigens staunte er manchmal, wenn er späterhin den Vater von dieser
Reise erzählen hörte; Herr Forster wurde dann ganz dithyrambisch und gab
Schilderungen von der Wucht der Gewässer, von dem Einfluten der Oka und
der Kama, -- die Rivalinnen der Wolga nannte er diese beiden, -- und der
übrigen gewaltigen Nebenströme, von dem Gewander der Barken und Flöße,
dem Gesumm der wachsenden Städte, dem Überfluß an Holz in den krachenden
Urwäldern und dem geheimnisvollen, unheimlichen und unerschöpflichen
Leben der wilden Tiere und Menschen, von denen beide Ufer überquollen.
Gewissenhaft suchte er dann in seiner Erinnerung und bemerkte, daß er
von alledem nichts wußte. Er erinnerte sich an Akim und an die Fischer
und daß er gerne Störrogen gegessen hatte, obgleich er sich ein wenig
davor ekelte. Er erinnerte sich an die Frau des reichen Tataren, den sie
in Kasan besucht hatten, wie sie auf dem Divan gesessen hatte, von
Goldstickerei, von Ketten und Ringen starrend und durch den Dampf ihrer
muschelzarten chinesischen Tasse mit den geschwärzten Zähnen zu ihm
hinüberlächelnd. Der Vater hatte ihn aus irgendeinem Grunde hier
zurückgelassen und war fortgegangen, er hockte klein und bescheiden auf
einem Polster neben dem Ofen, in dem ein Feuer brannte, obgleich draußen
warmer Spätsommer war. Auch er bekam eine bläuliche Eierschale voll Tee
und ein Häufchen klebriger Süßigkeiten auf einem schönen Tischchen vor
sich hingestellt, das mit Perlmutter ausgelegt war, aber er schämte sich
zu essen unter dem Lächeln dieser Frau, die ihre edelsteinbeladenen
feisten Hände nur bewegte, um die Tasse zum Munde zu führen und sie dann
leer der Dienerin zu reichen, die ebenfalls beständig lächelte, aber
doch mehr wie ein wirklicher Mensch. Er wollte vermeiden sie anzusehen,
und ließ seine Augen verzweifelt umherwandern, -- da war ein
wunderlicher bunter Holzkoffer, mit blankem Zierat beschlagen, kupferne
Waschbecken, ein Spiegel, ganz wie zu Hause, und auch Nelken und
Geranium am Fenster. Dann aber wieder ein Lackschränkchen mit goldenen
Blumen und Vögeln und der Samowar summend und fauchend. Er fühlte, wie
ihm warm wurde, übermäßig warm, seine Hände wurden ganz feucht und er
hätte sich gern einmal das Gesicht abgewischt, wenn nur die Tatarin ...
Nun hatte er doch hinübergesehen und war tödlich erschrocken: das
Gesicht seiner Wirtin löste sich auf, es rieselte ihr von der Stirn, zog
Bahnen durch ihre kohlschwarzen Brauen und rosigen Wangen, ja selbst ihr
lackroter Mund ward wie verschmiert, wie eine klaffende blutige Wunde.
Mein Gott, was war nur geschehen? Sie schwitzte, die Gute, sie
schwitzte; sie hatte diesen wohltuenden Ausbruch, der der Zweck ihres
Teetrinkens war, aber in diesem Augenblick saß sie völlig hilflos da,
bis die Dienerin mit dem Tuche zur Hand war, einem Tuche, das schon
mehrere Wochen zu diesem Zweck gedient zu haben schien. Alsbald war der
Samowar zur Seite geschoben, die Tatarin schnaufte zufrieden und genoß
ihren Zustand, immer aufs neue von der lächelnden Zofe abgetupft, bis
die Ergiebigkeit ihrer Poren erschöpft war. Sodann trat ein Kästchen aus
Zinkblech in Erscheinung, das in seinen Fächern vielfarbig leuchtete.
Die Tatarin hielt ihr Mondgesicht mit breit verzogenem Munde hin, und
nun ward gemalt, gestrichelt und gewischt, immer von dem flinken,
behutsamen Mädchen, während das entstehende Kunstwerk regungslos saß und
nur manchmal aus schmalen Augenschlitzen zu George hinüberblinzelte. Nun
vollendet, verharrte es unbeweglich, die rotgefärbten Fingerspitzen über
dem stattlichen Leibe aneinander gelegt und ins Leere lächelnd in dem
Bewußtsein übergroßer Schönheit. George geriet so unter den Bann des
Eindrucks, dort drüben befinde sich ein Edelsteinschrein, ein
Schnitzwerk vielleicht, ein Bild, nur eben kein Mensch, daß er es wagte,
die Beine zu bewegen und sich an der Nase zu kratzen, -- da sah er, wie
die Tatarin die Augen herumwälzte, und gleich saß er wieder versteinert.
Nun sagte sie auch etwas zu ihm, sagte dreimal den nämlichen Satz, wobei
er sie verzweifelt anstarrte, denn er verstand sie doch nicht, bis sie
endlich unzufrieden mit dem Kopf wackelte und verstummte. Dann sagte sie
plötzlich mit ganz heller Stimme auf Russisch: »Tschaj? Tee?« und nickte
mit schief geneigtem Haupte. Da er diesmal begriff, bejahte er
begeistert, um sie zu erfreuen und jedenfalls nicht zu erzürnen, und
sogleich richtete sie einen Strom hastiger Rede gegen die Dienerin, die
hinausglitt und mit einem frischen brausenden Samowar wiederkehrte, der
alsbald Wasser hervorsprudelte und Dampf spie, während ein
frühlingszarter Duft sich im Augenblick des Aufbrühens aus der Kanne
erhob, den das Götzenbild befriedigt schnuppernd einsog. Und indem das
Mädchen mit leisem Klingeln seiner Armreife und Ohrringe hin und her
eilte, um die Tassen zu füllen, -- sie trug ein lichtblaues Jäckchen mit
Silberstickerei und unter dem engen roten Obergewand weite Pluderhosen,
die über den Knöcheln zusammengebunden waren, -- indem die Tatarin der
heißen Tasse die Zähne zeigte, indem George verzweifelt pustete und die
Augen nicht von seinem Gegenüber ließ, kam es mit der Gleichmäßigkeit
eines bösen, stets sich wiederholenden Traumes zu demselben Auftritt wie
vorhin, einmal, und noch einmal: Teetrinken, Schwitzen und Schminken und
dann erst kam endlich der Vater mit dem Tataren zurück, -- ja, der Vater
hatte gut lachen! --

Überhaupt hatte er sich auf dieser Reise oft gefürchtet, daran erinnerte
er sich später besonders gut und daß er sich gewöhnt hatte, mit der
kleinen Pfote über den Augen einzuschlafen, wenn er nicht den Kopf ganz
im gebogenen Arm vergrub, das stammte von diesen Nächten im Schilf her,
in denen immer ein Mann mit geladenem Gewehr wachen mußte, denn die
Räuber entstammten nicht nur Akims Phantasie, sondern die Berge waren
voll von ihnen, und die Matrosen bekreuzten sich dankbar, wenn wieder
ein Wolok, -- eine jener angeschwemmten mit Weidengebüsch bestandenen
Landzungen vor den Einmündungen der Flüsse, -- umschifft war, _ohne_ daß
dort Geheul und Flintenknattern aus dem Hinterhalt aufgebrochen war.
Auch an die deutschen Ansiedlungen, deren Besuch der eigentliche Zweck
des ganzen Unternehmens war, erinnerte er sich nur in verschwimmenden
Umrissen, und eigentlich nur an jene Frau, die ihm die Füße gewaschen
und ihn zu Bett gebracht hatte wie einen müden kleinen Jungen, gar nicht
wie einen »hoffnungsvollen jungen Gelehrten«. Auch daran, daß er da,
nach Monaten zum erstenmal wieder in einem richtigen weißen Bett ruhend,
trotz aller Erschöpfung noch lange wachgelegen hatte, von einem jähen
nagenden Heimweh befallen. Alle diese Erinnerungen aber verblaßten vor
jenem letzten schrecklichen Erlebnis mit dem Janusch.

Sie hatten in der Nähe des Kaspi einen Ausflug landeinwärts gemacht, die
Sonne prallte blendend von der grauweißen Salzrinde der Wüste ab, die
Luft war flimmernd heiß und schwer zu atmen wie von Salzlösung
gesättigt, der Janusch war mürrisch und George tieftraurig. Beide
stapften sie in finsterem Schweigen hinter dem Vater her, der im Sande
grub und Versteinerungen suchte. Akim hatte sie begleitet und nahm die
Beute in einen seiner Weidenkörbe auf, die beiden Erwachsenen der
Unternehmung waren somit beschäftigt und in bester tätiger Laune,
besonders Herr Forster, der fortwährend vor sich hinpfiff und Akim durch
neckische Fragen zum Kichern brachte. Ein langgestreckter Hügelrücken
erhob sich unter der Menge der Flugsanddünen wie ein ruhender Löwe in
einer Herde geduckter Schäfchen, er hatte felsige Flanken und ein von
interessanten Tonschichtungen rotstreifiges Fell, also ging Herr Forster
auf ihn los wie ein witternder Jäger und sah sich in keiner Weise nach
George um, der hinter einem Flugsandhügel zurückblieb, und zwar weil
Janusch sich mit einem Laut verzweifelten Unmutes zu Boden geworfen
hatte. »Hunger hat er sich, Durst hat er sich, will er sich nachhause,
Janusch, armes Hund!« schluchzte er schnaubend und krallte seine mageren
Finger in die spröde bröckelnde Salzkruste. »Is sich furchtbares Land,
Wasser, viel zu viel, kein Stall, kein Schwein, kein Garnichts!« »Wir
geben dir doch immer zu essen, Janusch«, sagte George ratlos und
nestelte gebückt an dem Frühstückskorb, den der Heulende auf dem Rücken
trug, -- man mußte ihn stärken, -- o Gott! -- dies war gewiß ein Kollaps
der Kräfte, -- Herr Forster befürchtete für sich selbst dauernd Kollapse
der Kräfte und erörterte eingehend diese Möglichkeit, -- eine Kollation,
nicht wahr, über dem Spazieren ward man müde, mußte anbeißen: »Janusch!«

Aber der Janusch hatte sich hingesetzt und wehrte angeekelt ab, --
»nicht so!« Sein Gesicht war rot gescheuert von salzigem Sand, sein
krauses schwarzes Haar bestäubt, wie das einst so stolze grüne Kamisol,
er zog die Knie an, umschlang sie mit den Händen und starrte aus seinen
grellen Augen trostlos gradeaus in die leere Wüste. »Hat sich Hunger
schweinernes von Mutter, hu hu!« fügte er dann hinzu, steckte den Kopf
zwischen die Knie und gab sich weiter haltlos seinen Gefühlen hin, die
ihm in diesem Augenblick des Zusammenbruches die polnische Sumpfheide
mit Mutters Hütte als Paradies erscheinen ließen. Da waren sie alle
zerlumpt und zottelig und um den rauchenden Herd war kein Fleckchen ohne
irgendwelchen lieben persönlichen Dreck, der sich jahrelang hielt und
wärmte. Da roch es scharf und beißend nach ranzigem Speck und Fusel, die
so gut schmeckten, hintereinander genossen, versteht sich! Ach, für eine
Weile mochte es gut sein, gekleidet zu gehn wie ein Starost, mit
Georgie-Panje Gemeinschaft zu haben, sich allen Schimpfens und aller
Stallgewohnheiten zu enthalten und dem großen Pan Forster demütig zu
dienen wie einem lieben Gott in Stulpenstiefel. Aber seinesgleichen
waren sie nicht, diese Menschen, die nach gar nichts rochen außer etwa
so zahm und süß wie der Pan Forster nach Lavendel oder etwas anderem,
was nicht zu essen war, -- und übrigens roch er nicht einmal selbst so,
sondern nur seine Hemden und Röcke. Ach, Hemd und Rock, das hatte mit
dem Menschen verwachsen zu sein wie sein eigenes Fell und mußte ganz
durchtränkt von der Persönlichkeit werden! All diese Gedanken fanden
sich nicht etwa in kristallisierter Klarheit in den Hirngängen des
Janusch vor, aber sie quollen doch wie Lava rebellisch in seinem ganzen
Körper auf und nieder und drängten zum Ausbruch, -- denn der Janusch
dachte, fühlte und litt mit seinem Bäuchlein und mit seiner Zunge
ebensogut als mit dem Herzen und dem Kopf, es ging bei ihm alles
einheitlich und verschmolzen vor sich und manchmal hatte er abends
geweint, weil er nicht mehr so viel Läuse hatte wie früher und das
Kratzen vor dem Einschlafen doch so angenehm gewesen war. Nicht, daß er
sich dessen bewußt geworden wäre, aber eben: ihm fehlte etwas!

George war aufs tiefste peinlich berührt und empfand es auf einmal
deutlich, daß er den Janusch nicht liebte, ja mehr noch, daß der Janusch
trotz des sauberen Kamisols nicht aufgehört hatte, ihm widerlich zu
sein, wie daheim, seit seinen ersten Lebensjahren. Aber gerade deshalb
fühlte er einen dumpfen Zwang, dem anderen dienen zu müssen, und mit
schmerzlicher Überwindung beugte er sich nieder, um die zuckenden
Schultern des Janusch zu berühren, -- mein Gott, was sollte er nur
sagen, und geschah dem Janusch nicht eigentlich ganz recht? Wer hatte
immer mit Pferdeäpfeln geschmissen und nicht nur geschmissen, sondern
auch getroffen! und das war es doch eigentlich. Und gab es das wohl
überhaupt, Heimweh nach einem Stall, in dem Hühner, Katzen, Schweine und
Menschen zusammen hausten? Gleichviel, der Janusch heulte, er sprudelte
Flüssigkeit von sich in wütendem Schluchzen, er ließ sich gehen, war
menschlich, war arm ... Was tat man mit ihm? Wenn nur der Vater ...

In diesem Augenblick erzitterte von fernher die Erde, sie wußten beide
zunächst nicht, woher die glühende Lautlosigkeit der Wüste diesen
dumpfen Trommelwirbel nahm, der Luft und Boden erschütterte. Janusch war
aufgefahren und starrte George an, der seinerseits mit beiden Händen in
die Höhe gezuckt war und mit offenem Munde dastand. Er hatte aber keine
Zeit weder aufzuschreien noch davonzulaufen, er machte einen mühseligen
Versuch, die nächste Düne zu erklettern, blieb jedoch auf halber Höhe
liegen, Ärmel und Schuhe voll Sand. Und da lag er denn und sah. Auf
zottigen kleinen Pferden kam ein Reitertrupp herangebraust, von Waffen
starrend, die Ringelpanzer in der Sonne glänzend, Haarschöpfe hoch auf
dem runden Schädel scharf abgebunden, im Winde flatternd. Unmöglich,
einen einzelnen ins Auge zu fassen, wie die hundertmal wiederholte
Erscheinung eines höllischen Grinsens rasten sie vorüber auf die
Pferdeköpfe geduckt und schnatternde Schreie ausstoßend wie ein Zug
wilder Gänse. Flimmernder Staub umwölkte sie, Sand spritzte unter den
Hufen. Der letzte ritt in einigem Abstand und um einen Bruchteil
langsamer, er war der einzige, der die Knaben bemerkt zu haben schien,
denn mit wahnsinniger Geschicklichkeit drehte er sich ohne anzuhalten
auf dem Pferderücken herum, -- er ritt ohne Sattel und Bügel --, indem
er die eine Hand rückwärts aufstemmte und die lederumwickelten Beine
durch die Luft schwang. Er war unbewaffnet, -- war er der Hanswurst oder
der Koch des kriegerischen Zuges? --, er vollführte ein paar greuliche
Faxen mit aufgerissenem Rachen und wildfuchtelnden Armen, um die Knaben
zu erschrecken, zu unterhalten ... George war wie betäubt, wie
geblendet, er sah ohne zu sehen, aber der Janusch, um Himmels willen,
was kam dem Janusch bei? Mit ausgebreiteten Armen machte er ein paar
Schritte, lief er, ja wahrhaftig, da lief er dem Kerl nach und der, mit
derselben teuflischen Geschwindigkeit sich wieder im Sitz
herumschwingend, machte kehrt und kam zurückgeflogen, wie das schlagende
Wetter. Ein Niederbeugen im Fluge, ein gellender Raubvogelschrei, und da
saß der Janusch vor dem Kalmücken, die Arme um den Pferdehals geworfen
und noch einen Blick zu George sendend, in dem Gott weiß was lag, Angst
jedenfalls, aber auch Triumph ohne Grenzen, und George fragte sich
später immer wieder, ob es wohl möglich sei, daß der Janusch in jenem
Augenblick, als sein Schicksalsfaden wie rasend abrollte, imstande
gewesen war, ihm die Zunge herauszustrecken, -- oder ob das eine
Augentäuschung seinerseits war, hervorgerufen durch die Gewöhnung an
gewisse Eindrücke, ausgehend vom Mienenspiel des lieben Janusch?

Hierzu ist nur zu bemerken, daß es nicht gelang, dieses Bedienten
ohnegleichen wieder habhaft zu werden, und daß, wie schon gesagt, dieses
Erlebnis das letzte deutlich umrissene in Georges Erinnerung an die
Wolgareise blieb. --

                   *       *       *       *       *

Der andere Knabe war in die Uniform irgendeiner militärischen
Erziehungsanstalt gekleidet, einen knapp sitzenden blauen Frack mit
spärlichen Silberknöpfen; er hatte den schwarzen Dreispitz unter dem
rechten Arm und die linke Hand am Knauf des Degens, der fast wagrecht
von seiner Hüfte abstand. Er trug zwischen den mit Eiweißkleister
haltbar gemachten und dick überpuderten Haarrollen an den Schläfen ein
ungeheuer gelangweiltes Gesicht zur Schau, veränderte es aber aufs
liebenswürdigste, sobald der Blick einer Dame ihn traf, etwa gar das
hurtig wandernde Auge seiner gnädigen Tante, der Fürstin Daschkow, der
geistvollen jungen Staatsdame Katharinas, die ihn, den bedauernswerten
Michail Grigorjewitsch, zu dieser nichts weniger als glänzenden Soiree
bei Hofe mitgenommen hatte. Er hatte gehofft, Hofgesellschaft
anzutreffen, -- nun, etwa den »engeren Kreis«, -- und Stoff zur
Unterhaltung der Kameraden zu sammeln wie eine Honigbiene. Und nun war
hier, in den Sälen der Eremitage, fast die gesamte Akademie versammelt,
lauter greise Männerchen mit gebückten Schultern und die Hände auf dem
Rücken, wie er entrüstet in Bausch und Bogen feststellen zu müssen
glaubte, obgleich eigentlich nur der ^D.^ Pallas, der dort drüben mit
dem riesigen Deutschen plauderte, diese Haltung innehielt, und --
freilich, dies war lächerlich, -- neben ihm das Wunderkind, der Sohn des
Deutschen, in einem Ableger von seines Vaters mausegrauen Rock gekleidet
und mit Strümpfen, die über den Knöcheln Falten schlugen, das stand auch
so da und guckte von unten schief zu dem großen Pallas hinauf, der es
körperlich übrigens kaum überragte. Die Kaiserin war nicht mehr
anwesend. Sie hatte der Versammlung ihre Gegenwart nicht viel länger als
eine Viertelstunde gegönnt, und hatte den Eindruck hinterlassen, daß man
sie gelangweilt habe, weshalb eine Art von Schuldbewußtsein die Stimmung
der Gesellschaft drückte. --

George sah indessen nicht so sehr auf die farblosen Lippen des
Kollegienrates, als daß er mit einem Ausdruck verlegener Sehnsucht zu
dem anderen Knaben hinüberschielte, dessen Blick er spürte, den er aber
um nichts in der Welt anzureden gewagt hätte. Er hatte ihn entdeckt,
sobald er den Saal betreten hatte, und war sofort von der Hoffnung
befallen worden, der Vater möchte sich mit ihm still und bescheiden an
die Wand stellen, -- eben neben jenen Knaben, -- denn die Gesellschaft
dünkte ihn glänzend, großartig und furchteinflößend, so sehr
verwechselte er den Eindruck des durch hunderte von Kerzen erleuchteten
sechseckigen Spiegelsaales mit dem der sich darin bewegenden Menschen.
Einzig Simon Kotelnikow, der Oberbibliothekar, trug einen ponceauroten
Schoßrock und eine reichgelockte Staatsperücke und nahm sich zwischen
seinen Kollegen aus gleich einem Paradiesvogel unter einem Krähenvolk,
wie er so umherwippte und überall gastfrei den Deckel seiner goldenen
Dose aufspringen ließ, der Katharinas Bildnis ^en miniature^ zeigte.
Böse Zungen behaupteten, er sei einzig deshalb so freigebig, um das
Gespräch auf diese Dose, ein Geschenk der Kaiserin, zu bringen. In
Wirklichkeit war Kotelnikow dem Schnupftabak dermaßen ergeben, daß er in
der Stunde nicht weniger als sechs Prisen brauchte, -- »um den Olymp zu
entwölken« meinte er, auf seine gewölbte, von feinen Falten liniierte
Stirn weisend, -- deswegen hielt er in Gesellschaft seine Dose für
jedermann offen und bediente sich selbst wie aus Zerstreutheit zu
gleicher Zeit. Er besaß außer dem Ehrgeiz, Voltaire zu ähneln, keine
Eitelkeit, und sein häßlich-slavisches braunes Gesicht mit der
eingedrückten Nase und den funkelnden braunen Äuglein gab ihm ein
gewisses Anrecht darauf. Aber eine ganz hoffnungslose Güte, die
unausrottbar in seinem Herzen wurzelte, zerstörte immer von neuem seine
Versuche, dem großen Vorbild an spielender Bosheit ähnlich zu werden, so
sehr er auch dagegen anwütete und sich selbst den Bösen vormimte.

»Der zwölfjährige Jesus im Tempel«, sagte er eben mit dem verzweifelten
Versuch zu einer Blasphemie, die ihm selbst so widerstrebte, daß sich
sein ledernes Gesicht völlig verzerrte und es ihm in der Hand zuckte,
sich zu bekreuzen, welche Regung er, maßlos über sich selbst
erschrocken, noch rechtzeitig unterdrückte, indem er dem jungen Forster
die Hand auf die Schulter legte.

»Welcher Stolz mag das Herz eines Vaters im Besitz eines solchen Sohnes
schwellen!« fuhr er fort und hielt die geöffnete Dose ins Leere. »In der
Tat, Monsieur Forster,« sagte er mit fieberhafter Eindringlichkeit zu
Georges Vater aufblickend wie eine alte verliebte Frau, »Ihr Sohn hat
uns mit seinem Bericht über das Biberdorf in der Woloschka bei Fedorowka
alle beschämt, uns Veteranen der Wissenschaft, ist es nicht so -- he,
Pallas?« fragte er, mit der Dose den Kollegen bedrohend, der gelangweilt
eine halbe Schwenkung von ihm weg machte und sein Gespräch mit Forster
über die Völker längs der Wolga fortsetzte. »Sie werden mich besuchen,
Väterchen!« brach es nun unbezwinglich aus Kotelnikow hervor und er
umarmte George fast, »ich bin nur ein alter Mann, aber ich besitze doch
einiges, was Ihr Herz erheitern möchte. Wie, sollten Sie nicht meinen
Sekretär mit Musik zu sehen wünschen oder meinen zahmen Papagoyen? Er
stammt aus Surinam und ist ein Geschenk von Madame Merian, meiner
gelehrten und berühmten Freundin. Sie studiert speziell die Insekten und
malt und zeichnet sie samt den Blättern und Pflanzen, die sie zum
Aufenthalt bevorzugen, Sie werden diese kleinen Meisterwerke im Museum
der Akademie vorfinden. -- Ich, mein Freund,« setzte er hinzu, faßte
George vertraulich unter den Arm und zog ihn mit sich fort, »ich finde
unter uns gesagt mehr Geschmack an den schönen Künsten als an der
unverarbeiteten Natur. Aber lassen Sie das hier nicht laut werden,
alles, was Sie hier an Kapazitäten vereinigt sehen, huldigt den
Naturwissenschaften und der Mathematik, wie ich ja selbst zur
Mathematikklasse gehöre, -- aber ^passons çi-devant!^ Sehen Sie, dort
drüben, der Wohlbeleibte im blauen Frack ist mein Kollege Äpinus, -- er
hat den Annenorden, Pallas und Euler sind Ritter des Wlodomirordens. ^À
propos^, hören Sie ein Epigramm von mir, es ist allerliebst, ich muß es
sagen (es ist deutsch, des großen Lessing würdig):

   Zerbrach auch längst die Marmorsäule,
   Drauf Pallas stand mit ihrer Eule:
   Hier ist sie wieder aufgebaut,
   Wo Pallas seinem Euler traut.«

Er kicherte hastig, geriet ins Hüsteln und klopfte dem verlegenen George
auf den Handrücken. »Die beiden können sich nämlich gegenseitig nicht
ausstehen!« röchelte er ihm noch ins Ohr und verließ ihn, plötzlich auf
den Spieltisch zutänzelnd, an dem die Fürstin Daschkow mit dem
Astronomen Rumowski und dem Franzosen St. Pierre Platz genommen hatte.
George sah sich auf einmal völlig allein dem Glanz der Spiegel, der
kristallbehängten Kronleuchter und des eisblanken Parketts ausgesetzt,
etwas wie Platzangst lähmte ihn und er wagte keinen Schritt zu tun.
Außerdem kam er sich durch Kotelnikows Vertraulichkeiten ebenso wie
durch dessen plötzliches Vonihmablassen vor dem anderen Knaben
bloßgestellt vor und blickte unglücklich hinüber, ob dieser ihn wohl
beachtet habe. Er sah ihn noch immer in der gleichen Stellung vor dem
überlebensgroßen Bilde eines Generals mit der Allongeperücke, der auf
einem hochgebäumten Pferde saß, stehen, als sei er dort zur Ehrenwache
bestellt, die Linke am Degenknauf, die Nase keck und gelangweilt
zugleich in die Luft gestreckt. Aber obgleich er George nicht zu
beachten schien, ging mit einem Mal ein Ruck durch seine Glieder, er kam
mit etwas steifen abgemessenen Schritten auf ihn zu und blieb vor ihm
stehen.

»Mein Herr,« sagte er auf Französisch, »Sie kommen aus Deutschland:
haben Sie den König von Preußen gesehen?«

George fühlte all sein Blut zum Herzen schießen und seine Knie wankten.

»Nein, mein Herr!« stammelte er und hatte hierauf noch eine Sekunde das
Glück, die blaßblauen Augen Michail Grigorjewitschs aus nächster Nähe
mit dem Ausdruck mitleidiger Verachtung auf sich gerichtet zu sehen.
Hierauf wandte sich dieser junge Mann schweigend ab und schritt zu
seinem Standort zurück, während von der anderen Seite glücklicherweise
der Vater nahte, um George nach einigen Abschiedszeremonien mit sich
fortzunehmen.

In den Tagen nach dieser Soiree in der Eremitage war der Vater
auffallend schlechter Laune, was sich, wie immer, darin äußerte, daß er
nicht mehr als das Notwendigste sprach und sehr majestätisch und
vorwurfsvoll aussah. Ohne weitere Erklärungen abzugeben, entließ er den
Lohnlakaien und fand den Mietskutscher ab, welche beiden er sich seit
der Rückkehr nach St. Petersburg als unentbehrlich für die Gewohnheiten
eleganter Reisender gehalten hatte, ebenso wechselte er den teuren
Friseur vom Newski-Prospekt mit einem Biedermann, der in Gostinnoi dwor,
dem großen Bazar, eine Badestube für jedermann hielt. Schließlich, was
das Einschneidendste war, er befahl George die Koffer zu packen, und im
Umsehen vollzog sich eine Übersiedlung aus dem Demuth'schen Gasthof in
der Nähe des Winterpalastes zu der Witwe Olga Nikolajewna Demidow, die
im Wiborgschen Stadtteil ein hölzernes Häuschen besaß und den ganzen Tag
über billige Tränen darüber vergoß, daß Fremde in den Federbetten des
seligen Fedor Wassiliewitsch lagen, -- aber was tat sie nicht dem
Kollegienrat Stephan Rumowski zuliebe, ihrem Freunde, der sie überredet
hatte, diese Deutschen ins Haus zu nehmen?

Indessen war ein fabelhafter Winter hereingebrochen und lag über der
Stadt, den wollig weißen Bauch auf den Boden gepreßt wie ein ungeheures
Polartier. Er war eisblau und rauchig, er hatte sich in die Erde
gefressen, hielt störrisch stand, er wich und wankte nicht. Ganze Wälder
gingen in Flammen auf, um ihn aus den Häusern zu vertreiben, und die
russischen Öfen waren die einzigen wahren Freunde in der kalten fremden
Stadt. George wärmte seine Hände an den Kacheln, ehe er sich morgens an
sein mühseliges Tagewerk setzte, denn er übertrug ein deutsches Werk
über Pflanzenkunde ins Französische und saß gebückt über Papier und
Wörterbüchern, nur zuweilen aufstehend, um den Samowar zu bedienen, den
anderen Freund, der unerschöpflich belebenden Tee spendete. Der Vater
hatte sich angewöhnt, ihn nach russischer Art kochend heiß zu trinken,
Tee und Tabak, die waren es, die ihn aufrecht hielten, während er George
gegenüber ächzend an seinem Gesetzentwurf für die deutschen
Wolgakolonien arbeitete. Dieses Werk hatte die Regierung von ihm
gefordert, nachdem er zwei Monate lang in den Vorzimmern aller Großen
herumgesessen hatte, um seines, wie er meinte, mehr als wohlverdienten
Lohnes für die in einer Denkschrift niedergelegten Reisebeobachtungen
teilhaftig zu werden.

»Als ob ich mich ihnen an den Hals geworfen hätte!« schnaubte er
zwischendurch seinem Sohne zornig zu, und vergaß völlig, wie
angelegentlich er seinerzeit in Danzig Herrn von Rehbinder hofiert
hatte, vergaß auch, daß nach den leider nicht vertragsmäßig festgelegten
Abmachungen ein Teil seiner Belohnung in den Reisekosten bestanden
hatte, -- oder vielmehr, er vergaß dies nicht, redete sich aber
nachdrücklichst ein, daß natürlich der _größere_ Teil des ihm
Zukommenden noch ausstehe. Ha, wenn es ihm nur gelingen wollte, bis zu
Ihrer Kaiserlichen Majestät durchzudringen, aber da war ja ein Ring,
eine Kette war um sie hergezogen und niemals erfuhr sie vielleicht, daß
der unschätzbare Forster, den sie doch selbst herangezogen hatte, --
nun, hatte sie etwa nicht? -- »George, sage es selbst!« -- daß dieser
Mann in ihrer Nähe darbte, -- »ja, nächstens darben wir, George!« --
weil ihm »das ihm Zukommende« vorenthalten wurde.

Tatsache war, daß Graf Grigori Orloff, von Gardener unaufhörlich
überlaufen, eines Tages naserümpfend, da er alle wissenschaftlichen
Unternehmungen Katharinas gründlich verachtete, zur Fürstin Daschkow
gesagt hatte: »Dieser Deutsche redet so viel von seinen Verdiensten um
die Krone, -- worin bestehen sie eigentlich?« Worauf die gelehrte Dame,
ebenfalls naserümpfend, denn sie ihrerseits verachtete wiederum
gründlich die Liebhaberei der Kaiserin für so schöne dumme Tiere, wie
der Graf eins war, erwidert hatte: »Jedenfalls nicht in Bestrebungen,
dieser Krone Erben zu sichern!« Und mit dieser so spitzen und beinahe
schnippischen Antwort war die Angelegenheit Forsters zwischen dem
damaligen Günstling Katharinas und der zukünftigen Präsidentin der
russischen Akademie abgetan worden, so daß freilich keine Hoffnung mehr
bestand, die Kaiserin könnte gerade über diesen ihren wertvollen
deutschen Diener unterrichtet werden. Denn da die Aussendung Herrn
Forsters ins Wolgagebiet ganz mit Umgehung der Akademie vor sich
gegangen war, hatte auch diese vortreffliche Anstalt eine Neigung, seine
Leistungen so einzuschätzen wie eben die Liebhaberarbeiten eines
Privatmannes, und das war's, was Herrn Forster an jenem Abend klar
geworden war.

Er war ungeheuer empört und George trug dies in Demut, ohne ganz zu
begreifen, er nahm die Stimmung des Vaters, die sich immer wieder
prasselnd entlud, hin wie ein Schicksal und gedachte der Tage auf der
Wolga wie eines himmlischen Zufalls. Ja, schon in diesen Jahren legte er
den Grund zu der Anschauung, daß das Unglück der natürliche Zustand des
Menschen sei, Glück aber beinahe gleichbedeutend mit Unrecht. Mit dieser
Auffassung befand er sich im ausgesprochensten Gegensatz zu seinem
Erzeuger, der von Anbeginn an mit dem Leben schmollte, wenn es ihm sein
Behagen, seine Speckseiten, mit einem Wort: »das ihm Zukommende«
vorenthielt, -- _hatte_ er es aber, so bediente er sich seiner mit der
kindlichsten Selbstverständlichkeit, denn jetzt tat der liebe Gott ja
nicht mehr, als er schuldig war.

War nun in mühseliger Arbeit das kärgliche Tageslicht erschöpft, gegen
drei Uhr nachmittags also, so begann der Vater auf seinem Sessel unruhig
zu werden und langsamer zu schreiben, er blickte aus dem Fenster zum
Himmel, der sich über dem stumpfblauen Weiß der Dächer golden und rosig
zu färben begann, und plötzlich stand er auf und begann sehr eilfertig
seine äußere Erscheinung zu verschönern, wozu George schon am frühen
Morgen das Notwendige bereit gelegt hatte, vor allem die apfelgrüne
Schoßweste aus Seidensamt mit den Knöpfen aus Bergkristall, die der
Vater neulich in dem großen englischen Bazar der Brüder Hawksford
erstanden hatte, nachdem er wohl eine Stunde lang die zwölf Säle dieses
Wunderhauses durchkreist hatte und immer wieder vor der Weste gelandet
war, bis er endlich entschlossen sagte: »George, dein Urgroßvater war
Engländer!« Und hiermit waren die letzten Bedenken, sich für acht Rubel
zum Besitzer dieses köstlichen Kleidungsstückes zu machen, überwunden
gewesen. --

So weißgepudert und rosig von Angesicht leuchtete er über schneeweißem
Jabot und grüner Weste, wie der leibhaftige Frühling von Yorkshire, und
glich in nichts einem preußischen Prediger, was auch sein Ehrgeiz nicht
war. Übrigens hatte man sich selbstverständlich auch mit Pelzwerk und
den riesigen russischen Überschuhen versehen müssen, und so ausgerüstet
betrat man alsbald die Straße, der Vater neugierig, vergnügungssüchtig
und hungrig wie eine große stürmische Dogge, die vor lauter
Lebensüberschuß tobt und bellt, George hinterdrein wie ein verfrorenes
Pinscherchen, das nur ausgeht, weil es muß. Obgleich er den ganzen Tag
noch nichts zu sich genommen hatte, als des Morgens zum Tee einen
Kalatsch, eine dieser zähen russischen Semmeln, war er sich seines
Hungers doch nicht bewußt, sondern nur einer allgemeinen grausamen
Erschöpfung, einer Sehnsucht nach dem warmen Bett und eines flauen
Geschmackes im Munde. Die Kälte machte ihm den Atem stocken und legte
sich mit Klammern um seine Brust; Hände und Füße erstarrten, die Augen
tränten ihm und halbblind stolperte er hinter dem Vater drein, der
gewaltig ausschritt, vom weißen Gewölk seines Atems prächtig umwallt, im
Siebenkragenpelz wie ein wandelnder Berg. Saßen sie dann glücklich in
der sauren Wärme einer Garküche dem Ofen möglichst nahe und die Hände um
das dampfende Teeglas gelegt, das sofort vor jeden Gast hingestellt
wurde, so wurde es ja etwas besser, langsam, ganz langsam kam dann auch
ein wenig Appetit über ihn, er leckte wie ein Kätzchen seine Schale mit
Kascha aus und knusperte seine Pirogge, mit leiser Spannung auf ihren
Inhalt bedacht und enttäuscht, wenn das Fisch war. Der Vater war sich
wohl bewußt, daß es eigentlich unter seinem Stande war, zu einem
Trakteur zu gehen, aber sein Hunger war größer als sein Standesgefühl,
und ehe er in einen Gasthof ging, wo es für schweres Geld doch nicht
satt zu essen gab, zog er mit dem Knaben lieber von einem fliegenden
Händler zum andern, um an jeder Straßenecke etwas zu sich zu nehmen und
dabei der Unterhaltung mit dem Volk zu pflegen, was er liebte, George
aber fürchtete, denn er argwöhnte nicht ohne Grund, daß das Volk sich
über das deutsche Väterchen belustigte und ihm mehr Geld abnahm, als
sich mit der Rechtlichkeit vertrug. »Ein solches Leben, mein Sohn, läßt
sich nur nach den strengsten Grundsätzen der Ökonomie führen«, sagte
Forster jedoch nach derartigen Mahlzeiten befriedigt zu seinem Sohn und
schlug den Weg zur Newa ein, um dem letzten Tagesschein noch eine
Wenigkeit Amüsement abzugewinnen. Hier spielte das dicke Wintertier
Fangball mit seinen Russen und der ganze breite ebene Raum der
erstarrten Flußfläche zwischen Wassili Ostrow und dem Wiborgschen
Stadtteil war eine einzige große Kinderstube voller Geschrei und
Getümmel. Da gab es Eisberge mit Rutschbahnen, die auf flachen kleinen
Schlitten hinunterzusausen Herrn Forsters Wonne, aber Georges Schrecken
war, da veranstalteten die Schafpelze, die Bauernkutscher, die lustigen
schmierigen Iwanuschki, die den Winter über in »Piter« ihr prächtiges
Auskommen fanden, Wettrennen auf der spiegelebenen, schneestäubenden
Bahn, andere spielten Fußball, rangen und boxten und aus den
Bretterbuden der Kabacken stieg unaufhörlich der schöne bläuliche
Holzrauch, jedem Erschöpften Wärme, Tee und ein Schälchen verheißend.
Dazwischen, auf den mit Tannenzweigen abgesteckten Verkehrswegen wälzte
sich das Leben der wimmelnden Stadt schellenklirrend und geschäftig
herüber und hinüber, während hinter der Kuppel der Isaakskirche der Tag
verlohte und hier unten die Pechpfannen und Fackeln aufglühten, sich im
Nebel mit zitternden Kreisen wechselnden Lichtes umgebend. Es war
allenthalben eine Herzlichkeit sondergleichen, man war zärtlich für
einander besorgt und rieb sich die Nasen mit Schnee, auch wenn es noch
gar nicht nötig war, die Kälte zauberte Kräfte hervor, die Kälte machte
betrunken und selig, weil man selbst so von innerer Wärme strotzte, die
Kälte, kurz, war die eigentliche Mutter der Petersburger, sie säugte sie
mit Tee und Schnaps und machte sie wieder zu Kindern. Hier war Reinhold
Forster in seinem Element, sein großes Lachen dröhnte hinter den
Iwanuschki her, die ihre Pferdchen peitschten und anschrieen, und mit
ihm lachte behaglich das Volk, daß ihm die Bärte wackelten. Es mußte
wohl alles so sein, dachte George, der von einem Fuß auf den andern
trat, weinerlich vor Kälte und mühselig schnüffelnd. Aber, mein Gott,
wie sehr zog er es vor, den Abend in der Studierstube eines Freundes zu
verbringen, etwa bei dem gelehrten und gütigen Pallas, wo der Vater
disputierend doch auch glücklich war, und wo man ihn, der hinter dem
Ofen auf einem Schemel hockte, vergaß, so daß er im Halbschlummer
sonderbare Traumreisen in die sommerlichen Wolgagefilde oder in den
Lichtkreis von Mutters Kerze antrat, die jetzt doch auch brannte, fern,
irgendwo, wo er vor hundert Jahren einmal im Paradiese gewesen war.

Im Frühjahr, hieß es immer, -- und: wenn das Eis bricht, -- und
schließlich: wenn die Geschäfte abgewickelt sind ... dann, ja dann würde
die Heimreise angetreten werden. Was freilich dann begonnen werden
sollte, darüber grübelte der Knabe manchmal vergeblich nach, denn es
beunruhigten ihn unklare Ahnungen von der Gefährdung ihrer Existenz und
ein instinktiver Zweifel an seinem so prächtigen Vater, den er jedesmal,
wenn er sich bemerkbar machte, erschrocken wieder ins Unterbewußtsein
hinabstieß, von seiner Sündigkeit überzeugt. In einem der spärlichen
Briefe, die von der Mutter kamen, hatte gestanden, daß sie schon im
Herbst genötigt worden war, die Pfarre einem neuen Prediger zu räumen,
da von obrigkeitlicher Seite auf den im Auslande säumenden Herrn Forster
verzichtet wurde. Der Vater hatte sofort gerufen, daß er dies nicht
anders erwartet habe, daß es aber trotzdem eine Infamie sei und daß er
mit den Herren schon abrechnen werde, -- schon abrechnen ... Jedoch ließ
sich einstweilen nichts daran ändern, daß die Mutter mit den fünf
Kindern bei Verwandten in Danzig Wohnung nehmen mußte und daß diese
Tatsache zusammen mit der unsicheren Zukunft Herrn Forster gelegentlich
beunruhigte, wie ein kranker Zahn, der doch einmal weh tun _könnte_. In
solchen Tagen ließ er sein unterirdisch arbeitendes Pflichtgefühl, --
eine lästige, -- eine höchst lästige Krankheitserscheinung, -- an George
aus, es hagelte Wiederholungen auf allen Gebieten des Wissens und der
Himmel ward zum Zeugen angerufen, daß es nicht seine, des unglücklichen
Vaters, Schuld sei, wenn die Bildung des Knaben lückenhaft bleibe. War
es nicht der Himmel, so war es Herr Dilthey, der deutsche reformierte
Prediger, den man Forster als Beirat bei seiner Arbeit zugeteilt hatte,
-- auch so eine Kabale, zweifelte man an seinen Fähigkeiten?! -- und
Herr Dilthey, ein pünktlicher Herr im schwarzen Habit und kein Freund
von Extravaganzen, der in diesem vagabondierenden Amtsbruder einen Hohn
auf die Würde des Standes sah, bemerkte gelangweilt:

»Wir haben hier Schulen, Verehrtester, bedienen Sie sich derselben!«
worauf Forster ihn mit einem schiefen Blick ansah und in mürrisches
Schweigen versank, denn er hatte nun einmal den Ehrgeiz, den Quell von
Georges Bildung aus der Brunnenstube des eigenen Wissens zu speisen, --
zudem kosteten Schulen Geld. Indes, um vor den Augen dieses Dilthey zu
bestehen, entschloß er sich in den nächsten Tagen zu entscheidenden
Schritten, und seiner Beredsamkeit an gewissen Stellen gelang es diesmal
wirklich, im Gymnasium der Akademie wenigstens einen halben Freiplatz zu
erlangen. So geschah es, daß George, zwölfjährig, in den drei ersten
Monaten des Jahres 1767, zum erstenmal in seinem Leben eine Schule
besuchte. Dort verhöhnte man ihn um seiner Aussprache des Russischen
willen, man versteckte seine Bücher und verdarb seine Federn, man malte
mit Kreide abscheuliche Dinge auf den Rücken seines mausegrauen Rockes
und nannte ihn »Krähenfresser«, weil er unvorsichtigerweise einmal
erzählt hatte, daheim habe der Vater manchmal Krähen geschossen und
dieselben schmeckten gebraten nicht übel. Trotz alledem war er in dieser
Zeit oft sehr glücklich, denn er hatte eine heimliche zitternde Neigung
zu einem viel älteren Knaben, einem großen, faulen Schlingel, der sich
von ihm den Horaz übersetzen und ihm dafür gelegentlich einen lässigen
Schutz angedeihen ließ. Dieser Immanuel Oberhof, eines deutschen
Kaufmanns Sohn, erinnerte ihn so stark an den Kadetten, den er bei der
Fürstin Daschkow gesehen hatte, daß er der unausgesprochenen Überzeugung
war, es tatsächlich mit diesem zu tun zu haben, und das Gespräch immer
wieder auf den König von Preußen brachte, in der Hoffnung, sich
hierdurch interessant zu erweisen. --

Die Butterwoche des Karnevals vor den Fasten war noch ein Höhepunkt in
Reinhold Forsters Petersburger Aufenthalt. Er hatte seine Arbeit
beendet, sie war in den Händen des Grafen Orloff und somit seiner
Ansicht nach auf dem besten Wege zur Kaiserin selber, der er in der
nächsten Zeit vorgestellt zu werden hoffte. Er dankte nunmehr Herrn
Dilthey ab, der nachgerade anfing, ihm überlästig zu werden, das heißt,
er verabschiedete sich mit einer feierlichen Vormittagsvisite von diesem
zugeknöpften Herrn, der dies mit gehaltener Verwunderung entgegennahm
und behutsam anfragte, ob Monsieur Forster denn glaube, seine
Angelegenheit würde sich nun mit Geschwindigkeit abwickeln? Warum sie
das nicht solle? fragte Herr Forster streitbar zurück. Er hatte zu der
apfelgrünen Weste einen neuen pfirsichfarbenen Rock an, angeschafft für
sein Erscheinen vor Ihrer Majestät, jetzt aber einzig mit der Absicht
angelegt, Herrn Dilthey zu ärgern. »Warum also nicht?« wiederholte er
angelegentlichst und richtete seine Augen mit der unschuldigen
Selbstzufriedenheit eines gesättigten Säuglings auf sein verkniffenes
Gegenüber, wobei er die gesunden roten Backen unmerklich ein wenig
aufblies. Herr Dilthey ließ einen mitleidigen Blick von ihm zu George
gleiten und begnügte sich damit »^Mon Dieu!^« zu sagen. Der Ton aber, in
dem dies geschah, war geeignet, den Gast zu verstimmen. Er brach denn
auch bald auf und war, kaum war die Haustür hinter ihnen zugefallen, im
Begriff, sich seiner Meinung über diesen knöchernen Gesellen George
gegenüber gründlich zu entäußern, als er fast zusammenstieß mit einem --
nun mit einem Subjekt, -- einem Subjekt in einem abgeschabten Schafpelz,
das sich demütig beiseite drückte, als Herr Forster auf deutsch fluchte,
dann aber standhielt, als der Fluch überging in die verwunderte
Begrüßung: »Der Kuckuck, -- Betzel! -- Er ist das?!«

In der Tat war es der ehemalige Reisegefährte, der da vor ihnen stand
wie der Schatten seines einstigen Selbst, und Forster wiegte mitfühlend
sein Haupt, indem er leise mit der Zunge schnalzte, als er diese
Erscheinung musterte, die im Vergleich mit ihrer früheren Gedunsenheit
jetzt wie ein Gummiball aussah, der ein Loch bekommen hat. Betzel lachte
ein wenig krampfhaft und gab an, zu dem Ehrwürdigen Dilthey zu wollen,
in der Hoffnung, durch dessen Vermittlung eine Stelle zu finden, denn
seine Projekte seien fehlgeschlagen, jawohl, es sei nichts mit jenem aus
Hammelfett destillierten Öle, und er sähe ja selbst ein ... Er führte
nicht des näheren aus, was er einsähe, aber er stand so ungemein
bescheiden und kummervoll vor dem prächtigen Forster, daß George vor
peinlicher Beschämung nicht aufzusehen wagte. Indessen lachte der Vater
überlaut und drehte Gotthold Betzel um, ihn unter dem Arm ergreifend und
mit sich fortziehend. Jetzt werde man erst einmal miteinander
frühstücken, dann sei es immer noch Zeit, Schritte zu tun, wenn denn
Schritte nötig waren. Der Tag verlief hierauf auf das fettste und
lustigste, und nachdem Gotthold Betzel etliche Schälchen zu sich
genommen hatte, war er ganz der Alte, und Forster belustigte sich damit,
seine Bierbankprahlereien immer höher zu schrauben und neue Projekte aus
ihm hervorzulocken, kurz, er spielte ganz den großen Herrn, dem sein
gutes Geld es gestattet, einen Hanswurst zu halten, und George saß
daneben, bald ihn, bald Betzel anstarrend wie ein böses teuflisches
Schauspiel. Ihm war weinerlich zumute, er hätte nicht sagen können
warum, doch spürte er wohl mit unendlich viel zarteren Nerven als der
Vater, daß der Strudel sie schon erfaßt hatte, daß der Wirbel sie mitriß
und der Abgrund an ihnen saugte. -- -- --

Herr Forster begann nicht zu trinken, obgleich er es hundertmal die
Woche verschwor, er schlug George auch nicht mehr als sonst, -- das
Erlebnis wachsender Hoffnungslosigkeit und steigender Verzweiflung war
zu neu für ihn, als daß er sogleich die Stellung herausgefunden hätte,
die er dem gegenüber einzunehmen hatte. Aber es fiel so allmählich alles
von ihm ab, sein ganzes gehaltvolles Auftreten sank in sich selbst
zusammen, es war, als drehte ihm eine unsichtbare Hand die Rückenwirbel
einzeln heraus. Ende Februar hatte er noch die Kraft, in seinen vier
Wänden gewaltig zu toben, und dann, gleichsam mit Entrüstung
vollgepumpt, stürzte er zum Grafen Orloff, um in dessen Vorzimmer die
schöne angesammelte Spannkraft in stundenlangem Warten langsam
entweichen zu fühlen. Würde man ihn etwa wieder nicht vorlassen?

George hatte es sich angewöhnt, mit zur Schau getragenem fieberhaften
Eifer zu arbeiten, wenn der Vater von diesen Gängen heimkehrte, manchmal
lag er auch schon im Bett und schien zu schlafen, denn nichts fürchtete
er so, wie des Vaters leeren Blick, in dem eine Ratlosigkeit
sondergleichen stand. Ebenso schrecklich empfand er das veränderte Wesen
des Gestrengen, das auf einmal gleichweit entfernt von aller lärmenden
Anmaßung wie von jener pausbackigen Lustigkeit war, die etwas
Kindliches an sich hatte und seinen Ansprüchen den Schein von
Selbstverständlichkeit gab. George fühlte, daß er einen sanften Vater,
der um seine Stiefel _bat_ und für kleine Dienste _dankte_, weniger
ertragen konnte als den alten König Minos. Da der Vater nun gänzlich
aufgehört hatte, zu arbeiten, aber dennoch eine geheimnisvolle
Geschäftigkeit mit Briefschreiben und Ausgängen, auf denen George nicht
mitgenommen wurde, an den Tag legte, schloß er mit Recht auf den
bevorstehenden Aufbruch und lauschte den empörten Klagen des Vaters über
den Grafen Orloff zwar mit demütig entrüstetem Gesicht und indem er
bisweilen ein zorniges dumpfes: »O!« hervorstieß, war aber tief
innerlichst überzeugt, daß, je ärger es dieser Graf treibe, ihre Abreise
desto näher bevorstände, -- hatte ihm nicht der Vater schon ein letztes
Wort, -- »ein unwiderruflich letztes, George!« sagen lassen, nämlich er
wünsche noch vor Ablauf des April in seine Heimat zurückzukehren, und
nicht nur das, er hatte das Spiel so weit getrieben, die Anzeige seiner
bevorstehenden Ausreise in die Petersburger Blätter einrücken zu lassen,
wie es jeder Fremde gehalten war, dreimal zu tun, ehe er der Residenz
den Rücken drehte, damit die Herren Gläubiger nicht um ihr Recht kämen.
Ja, er spielte ^va banque^ und haute dabei auf den Tisch:
tausendundeinen Rubel forderte er als sein Douceur, wohlgemerkt, einen
mehr als tausend! hatte er dem Grafen ganz ohne eine diesbezügliche
Anfrage mitteilen lassen, denn tausend seien nun einmal zu wenig für
seine Dienste! Haha! welche Ironie, nicht wahr, welch feingeschliffener
Spott, -- vielleicht gar zu fein für die Lederhaut des hohen Herrn?
Wollen sehen!

Erstaunlich, daß der Vater dermaßen mit einem Grafen umsprang,
erstaunlich, aber zugleich ein wenig beängstigend, fand George; Gotthold
Betzel aber, der gerade anwesend war und dem zu Ehren diese ganze
Geschichte vielleicht zum besten gegeben ward, klatschte sich die
Schenkel und lachte unmäßig. Er fand diese Art des Vorgehens
außerordentlich spaßhaft. Der wackre Gotthold befand sich in besseren
Umständen und war wieder ganz obenauf: er war als Hauslehrer, -- als
Pädagog, als Utschitschel, -- in der Familie eines reichen Kaufmanns
angekommen, wo er nicht allein eine Reihe von Sprößlingen in Zucht und
Ordnung hielt, sondern auch eine Art von Haushofmeister darstellte, die
Rechnungen zu führen hatte und vor allem Madame vorlesen mußte, -- ein
vielseitiges Amt also, das nicht viel Zeit zu Projekten übrigließ, bei
dem man aber kleine Vorteile herausschlagen konnte, -- kleine Vorteile,
über die Gotthold Betzel sich nicht näher ausließ, aber bei deren
Erwähnung er liebenswürdig zwinkerte. Über dem klopfte es stark an der
Haustür, und der ans Fenster eilende George sah gerade noch die
Rückseite eines prächtig goldbetreßten Läufers davontänzeln, während die
alte Köchin Katinka mit allen Anzeichen erschütterter Demut ein
Briefchen hereintrug, das Reinhold Forster ein wenig zu hastig für seine
sonst zur Schau getragene Gelassenheit aufriß. »Die Sache macht sich!«
bemerkte er alsdann, richtete sich auf und rückte ein wenig mit den
Schultern. Also kam man doch zum Ziel. Er war für den nächsten Morgen
auf sechs Uhr zum Grafen Orloff bestellt. --

Wie sich diese Audienz abgespielt oder vielmehr nicht abgespielt hatte,
das erfuhr George bruchstückweise am Nachmittag des folgenden Tages,
während er mit ungeschickter Hast die Koffer packte. -- Ja, mein Gott,
sie würden reisen, -- Dank dir, lieber, guter Gott! -- und heute noch,
heute abend noch! Daß das alles traurig genug war, was der Vater da
erlebt hatte, nun ja, gewiß, -- aber reisen! Heimreisen! Wieder zur
Mutter zu kommen! Seine kleinen Hände wurden heute kaum mit den
widerspenstigen Sachen, den dicken groben Stoffen von Vaters gewaltigen
Kleidern, den poltrigen Stiefeln und Büchern, den zarten Jabots und
Spitzenmanschetten fertig und er ließ den Inhalt einer Puderdose über
Manuskripte und Reithosen niederschneien, die die große lederne Vache
schon zur Hälfte füllten, während er mit offenem Munde einem
Zornesausbruch des Vaters lauschte und dabei doch nichts dachte, als:
»In acht Tagen vielleicht, -- aber ganz sicher in vierzehn Tagen sind
wir in Danzig!«

Die Sache war die gewesen, ganz einfach die, daß, als Reinhold Forster,
-- im pfirsichfarbenen Frack und in der apfelgrünen Weste, wie es sich
von selbst versteht, -- bei grauendem Morgenlicht im Palais des Grafen
angelangt war, -- daß er daselbst erfahren hatte: nein, -- der Herr Graf
seien nicht zuhause, seien zur Jagd, -- seien auf den Schnepfenstrich
gefahren, -- hätten gewiß wieder vergessen, das Väterchen, wie schon so
oft, daß sie den deutschen Herrn bestellt hatten ... Möchten der
deutsche Herr vielleicht morgen ...

Aber da hatte Forster dem gemütlichen Dwornik mit einem Fluch den Rücken
gedreht und war durch den spritzenden Schneeschlamm davongerannt. Es war
aus, er fühlte es nun endlich mit unentrinnbarer Gewißheit. Nachdem er
zwei Stunden lang mit vorgeschobenem Kopf und geballten Fäusten in der
unbekümmerten Stadt umhergeirrt war, gleich einem wildgewordenen Stier,
sammelte er sich in einer Garküche bei einem Glas Tee und einigen
Piroggen so weit, daß sein Blut wieder sanfter kreiste und er sich,
schwermütig kauend, zugeben konnte, daß hier, in der Tat, ein Projekt
von großer Schönheit gescheitert wäre, -- freilich ohne seine Schuld --,
daß aber, wie schon oft im Leben bewiesen, Reinhold Forster nicht zu
entwurzeln sei. Es war ein Mißerfolg, gewiß --, indessen war es ein
Mißerfolg auf breiter Grundlage und dies war es, was ihn vorteilhaft von
allen bisherigen verunglückten Unternehmungen unterschied. Ein Mißerfolg
auf breiter Grundlage, hierunter verstand dieser schalkhafte Logiker die
Berührung mit Hofkreisen und die Wolgareise an und für sich, was beides
er nun einmal genossen hatte, -- er hatte es sozusagen weg, und kein
noch so mißgünstiger Teufel würde es ihm streitig machen können. Ein
solcher Mißerfolg war schon beinah ein Erfolg zu nennen, und diesen
negativen Erfolg mußte man nun eben auszunutzen suchen.

»Aufwärter! Noch ein Schälchen!«

Neue Projekte von ebenfalls und zweifellos gleich großer Schönheit hatte
es ja von jeher so zahlreich wie Kohlweißlingsraupen in einem bösen Jahr
in Reinhold Forsters Haupt gegeben, sie hatten sich seinerzeit verpuppt
und krochen jetzt zu Dutzenden aus, um ihn mit zärtlichem Flügelbewegen
tröstlich zu umgaukeln. Es galt, den nun Passenden auszuwählen und dann
aber sofort und ohne Zögern und rücksichtslos zu handeln und die
Schlappe auszugleichen. Und bei unterschiedlichen Schälchen faßte
Reinhold Forster sein neues Ziel ins Auge, wurde warm und lebendig
dabei, vergaß völlig die große Enttäuschung. Geld brauchte er, -- hm,
hm, -- er brauchte Empfehlungen, hm! Da waren Euler, Wolf, -- auch
Rumowski war gut. Und dann auf die Reede, ein Schiff ausfindig zu
machen!

Und also traf Reinhold Forster Maßnahmen.

Die »Mütterchen Elisabeth«, ein schwerfälliger russischer Kutter, der
Holz geladen hatte und außer den Forsters keine Passagiere führte,
stampfte schon zwei Tage lang westwärts, als George endlich aus der
ersten Reisebetäubung aufwachte. Übrigens war er diesmal kaum seekrank
geworden, es hatte sich nur nach der Aufregung des Reiseentschlusses und
der Anstrengung des Packens eine Erschöpfung bei ihm eingestellt, der er
sich selig hingab, fast schon in dem Gefühl, von der Mutter zu Bett
gebracht worden zu sein. Nun, am dritten Tage, stand er vergnügten
Herzens an der Reeling neben Wanja, dem Koch, und sah zu, wie die Möwen
auf die Abfälle herabstießen, die Wanja ihnen mit einem schrillen Schrei
zuschleuderte, worauf er dann eine grünliche Reihe spitziger Fischzähne
entblößte und seine tranblanken Augen hinter schrägen Fettwülsten fast
verschwinden ließ, während er George triumphierend zugrinste und seine
Finger, -- waren nicht Schwimmhäute dazwischen? -- unbedenklich an
seiner Bluse abwischte: Konnte er nicht großartig schmeißen,
vortrefflich?! Und erst die Möwchen, verteufelt, nicht wahr! Ja, ja, der
Wanja! -- Es rauschte, es knatterte und brauste, Tropfenschauer sprühten
aus dem schäumenden Gewoge da unten, das an die Schiffswände klatschte,
der Himmel war weit und blau, von langem, treibendem Gewölk
durchschifft. Wind, Fahrt und die unerklärlich prickelnde Erregung, die
von der bewegten See ausgeht, überkamen den Knaben rauschmäßig; seine
Kappe mit beiden Händen festhaltend, begann er von einem Fuß auf den
andern zu springen und Schreie auszustoßen, mit einer Art von Tanz und
Lobgeheul den Göttern der Ostsee zu huldigen, nicht wenig gestärkt durch
Wanjas Beifall, der sich vor Vergnügen auf die Schenkel schlug,
anfeuernde Rufe ausstieß und nicht übel gewillt schien, auch seinerseits
in einen Tanz auszubrechen, denn er stemmte die Arme in die Seiten und
begann mit eingeknickten Knien in verwunderlicher Weise vor- und
zurückzuspringen. In diesem Augenblick hielt George inne, -- war er von
einer Ahnung überkommen, daß es sich immer strafte, wenn er sich selber
vergaß? -- sah um sich, bemerkte den Vater in einiger Entfernung, nahm
Haltung an, bemerkte aber, immer noch, von innerem Jubel geschüttelt und
übermütig genug: »Ha, -- wenn er anhält, der Wind, sind wir übermorgen
in Danzig? He, Wanja, so ist es?« Wanja hierauf, ein paar blutige
Fleischstücke auflesend, die aufs Deck gefallen waren, und sich wieder
in Schleuderhaltung aufstellend, antwortete: »Wai, Väterchen, Danzig?«
Warf sodann ein Stück Rinderherz in prächtigem Bogen einer grauen Möwe
entgegen, die herumschwenkend silberweiß aufglänzte, -- wandte sich
George ganz zu und sagte unbefangen: »Legen wir doch gar nicht in Danzig
an, Väterchen, -- halten wir nicht, eh' in London am Themsekai,
Towerstairs ...« und bemerkte es gar nicht, daß George einen Schritt von
ihm zurückwich und mit beiden Händen nach seinem Herzen griff, -- ja, es
ist wahr, er nahm diese romantische Pose ein, woraus zu ersehen ist, daß
es keineswegs ein abgenutzter Theatertrick ist, sich nach dem Herzen zu
greifen, wenn es vor Schreck stillzustehen droht, denn hier war es die
unmittelbarste Bewegung von der Welt. Ganz matt, mit blutlosen Lippen,
drehte er sich zu Herrn Forster um, der soeben herantrat, dem Anschein
nach harmlosen Frohsinnes voll, und legte die zitternde Hand auf seinen
Ärmel. »Aber Vater!« sagte er jammervoll, -- wie würde er diesen Schlag
tragen, der Vater? -- »hören Sie doch nur, was dieser Mann da behauptet!
Er sagt, daß wir in Danzig gar nicht anlegen, sondern erst -- in London
...« Es war zunächst nichts als Angst vor dem Eindruck, den diese
Mitteilung auf den Gewaltigen ausüben würde, die die arme kleine Stimme
beben ließ, ja fast ein Schuldbewußtsein, -- der Vater machte ihn für so
viele Dinge verantwortlich --, hätte er nur aufgepaßt, hätte er
vielleicht vorgestern auf der Reede in Petersburg gefragt: »Geht es auch
nach Danzig, dies Schiff, die >Mütterchen Elisabeth<, mein Herr
Kapitän?« In der Tat, dann hätte es abgewendet werden können, dies
Unheil! Nun, er wußte ja, was es zu bedeuten hatte: Zeitverlust, -- man
denke: die vergebliche Reise nach England und von dort wieder zurück
nach Danzig, und dann: unendliche Kosten, Geld, Geld, das nicht
vorhanden war, das man aufnehmen mußte, Schulden also, und -- demnächst
würden sie darben müssen, wie Herr Forster immer beteuerte, am liebsten,
wenn er so recht behaglich beim Essen saß. O, nun dauerte es noch so
viel länger, bis man die Mutter wiedersah und es gut bei ihr hatte, --
aber dieser Gedanke trat ganz zurück hinter der unmittelbaren Furcht,
welche Formen die Enttäuschung des Vaters annehmen würde. Herrgott, wenn
er nur nicht ins Wasser spränge im ersten Schrecken, -- man konnte nicht
wissen --, wenn er dem Kapitän nur nichts antäte oder Wanja am Kragen
nähme! Sie konnten nichts dafür, freilich, -- aber wenn dem Vater etwas
schief ging, hatte immer der Nächstbeste schuld, und so, -- George trat
tapfer wieder einen Schritt vor --, so war es vielleicht besser, der
Schlag traf ihn, und er zog die Schultern etwas an, des Ausbruchs
gewärtig, dessen Notwendigkeit er sich während kaum mehr als einer
Minute dramatisch vorgestellt hatte. Indessen geschah ihm wie einem,
der, mit schrecklicher Angst vor dem Knall, ein Gewehr abzufeuern sich
entschließt, das dann versagt, kurzum, auf des Vaters Gesicht malte sich
durchaus keine entsetzte Überraschung, kein Schreck, keine
Entgeisterung, Herrn Forsters Augen drückten nichts aus als unruhvolle
Verlegenheit, er wandte sich halb ab, er griff nach dem Taschentuch, er
schneuzte sich ausgiebig und starrte dabei in die Ferne. Räusperte sich
sodann, ließ ein betretenes: »Du weißt es also noch nicht, mein Sohn!«
vernehmen und blickte jetzt einigermaßen hilflos auf den Knaben nieder,
der mit hängenden Armen und so verzweifelt begreifend zu ihm aufsah, daß
selbst diesem niemals um eine Begründung seiner eigenen Taten verlegenen
Herrn das Wort versagte und er zunächst nur murmelte: »Allerdings, --
ich hätte dich einweihen sollen!«

Hatte ihn nun die Angst vor der unerfreulichen Begleitung eines
enttäuschten und heimwehkranken Kindes davon abgehalten, George
rechtzeitig von seinem Plane, nach England zu gehen, in Kenntnis zu
setzen, so hatte er dem Augenblick, in dem George sich über die
Veränderung des Reisezieles klar werden würde, doch beständig mit
peinlichen Befürchtungen entgegengesehen und konnte nicht umhin, sich
nun angenehm überrascht zu sehen. Er gab angesichts der tanzenden Ostsee
einige hastige, wortreiche Erklärungen ab, verglich die Aspekte, die die
Heimat bot, mit denen, die einem Gelehrten von seinen Fähigkeiten in
England leuchteten, erwähnte Empfehlungen an die Londoner
Freimaurerloge, die er in der Tasche trug, eröffnete Ausblicke, -- nun
eben, Ausblicke! und fand den Knaben an seiner Seite blaß, aber
aufmerksam lauschend. Die Mutter, natürlich, die Mutter würden sie
nachkommen lassen, sobald sie in London festen Fuß gefaßt haben würden,
dies verstand sich doch von selber, setzte er am Schluß in plötzlichem
Besinnen hinzu und sah erleichtert ein mattes Lächeln über das kleine
Gesicht gleiten, während ein leises: »^Merci bien, très cher papa!^« ihn
auf einmal davon überzeugte, daß er im Grunde doch außerordentlich
dankenswert gehandelt habe. George benahm sich ^raisonable^, aber, beim
Jupiter, wie sollte er auch nicht, dies war eigentlich nicht mehr als
seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Soweit war der Fall für ihn
erledigt und abgeschlossen, er war für den Rest des Tages besonders
gutgelaunt und blieb es die ganze Reise über, obgleich er am Kattegatt
zum erstenmal seekrank wurde, und zwar gleich so ausgiebig, daß er sich
verschwor, den Eltern des Janusch bei erster Gelegenheit den
rückständigen Lohn ihres Sohnes zukommen zu lassen, -- und hierin
offenbarte sich, vom Dämon eines erschütterten Verdauungsgewindes ans
Licht getrieben, die Erkenntnis, daß einer der Gründe, die ihn der
Heimkehr aus dem Wege gehen ließen, dieser war, daß er den Janusch nicht
wieder mitbrachte. Er hatte sich zwar längst eingeredet, der Janusch
habe am Hofe eines Mongolenkhans eine Stellung eingenommen, die seinen
Meriten besser entspräche als der Dienst bei einem schlichten Pilger der
Gelehrsamkeit, -- aber, immerhin, -- ganz ließ sich sein Gewissen nicht
betäuben und ein Verantwortungsgefühl lebte zuweilen auf und mußte durch
Opfer und Versprechungen beruhigt werden wie ein unzufriedener Götze,
bis es nicht mehr störte.

»^Merci bien, très cher papa!^« -- ja, was hätte er im Augenblick, als
statt des erwarteten Zornesausbruchs so sanfte schnelle Erklärungen
kamen, anders empfinden und denken können, vielleicht grade wegen der
ungeheuren Enttäuschung, die mit einem Schlage sein ganzes
Auffassungsvermögen lähmte und totes Grau auf die Welt herniederriß, die
eben noch so farbig und verheißungsvoll geleuchtet hatte. Es ist die
Erwartung der Liebe allein, die einem Herzen von der Demut, ja fast
Unterwürfigkeit des kleinen George Schwung und Feuer zu leihen vermag;
und seine Liebe hatte sich seit Wochen mit immer zunehmender Sehnsucht
auf die Mutter gerichtet und damit unbewußt auf ein Leben der
Geborgenheit in friedlicher, reinlicher Häuslichkeit. Er hatte die
vielen Wunder so zum Sterben satt gehabt, ohne es einem Menschen, am
allerwenigsten sich selber, eingestehen zu können. Satt hatte er die
ausgestopften Märchentiere im Museum der Akademie, den Elefanten und den
weißen Meerbären, die mongolische Kuh mit dem Pferdeschweif und das
wilde Schaf mit den Riesenhörnern, -- ganz zu schweigen von den vielen
Mißgeburten in Spiritus und der Hornkröte, der Pipa, von der ewig die
Rede war und die ihre Eier auf dem Rücken ausbrütete. Er war gelangweilt
von dem Gottorpschen Globus mit seinem Planetarium, und es war ihm ganz
gleichgültig, daß dies das achte Weltwunder vorstellen sollte, -- ebenso
wie ihm die botanischen Gärten auf der Apothekerinsel, das hölzerne
Häuschen Peter des Großen und die Mammutsknochen gleichgültig waren, die
Pallas mit ebensoviel Scharfsinn als Gelehrsamkeit als aus einer
allgemeinen Überschwemmung herrührend erklärte. Was war ihm die
surinamische Goldschnepfe, was gingen ihn die tangutischen Manuskripte
an, die Peter der Große schon 1720 nach Paris gesandt hatte, um zu
erfahren, was eigentlich darin stünde. (Ein Abbé Bignon hatte sie
sogleich ins Lateinische übertragen und den großen Zaren durch eine
gewisse klassizistische Geistesfärbung dieser Mongolenweisheit
höchlichst überrascht, und wiederum war es dem ebenso gelehrten als
scharfsinnigen Pallas vorbehalten geblieben, festzustellen -- mit
empörter Genugtuung festzustellen! -- daß auch nicht ein Wort des
Originals in dieser Übersetzung stand!) Mit einem Wort: was ging einen
kleinen Knaben, der müde, blaß und elend war, die ganze bunte
aufdringliche Welt an, wenn er noch irgendwo bei einer Mutter ein
wohlgeschütteltes Bett, sein sorglich bereitetes Essen und die ganze
Heimatluft einer vollen Kinderstube haben konnte, -- konnte, --
_konnte_, denn besessen hatte er diesen Segen ja in Wirklichkeit nie,
und darum quälte ihn wohl diese beständige dunkle Sehnsucht danach, ließ
ihn seine Pflichten verrichten, wie eine stöckrige Maschine und mit
müdem, kleinem Muffgesicht an den Kuriositäten vorüberschleichen. Im
Anfange hatte er sich eingebildet, die Kaiserin Katharina sehen zu
müssen, hatte ihrem Amtssiegel, einem Bienenkorb mit der russischen
Umschrift »Nützlich« auf einem Schreiben an den Vater Ehrfurcht erwiesen
wie einem Fetisch und mit starker Neugier auf die Geschichten gehorcht,
die man sich an allen Straßenecken von dem Leben am Hofe erzählte. Auch
dies hatte völlig an Interesse verloren, je länger der Petersburger
Aufenthalt dauerte, je tiefer das Wunder der Wolgareise hinter ihm
versank und je mehr im Verhältnis dazu seine Gesundheit abnahm.
Schließlich hatte er nur noch an die Mutter denken können, wie ein
Verdurstender in der Wüste auch nur eines Gedankens fähig ist, und dann,
dann hatte er sich eben unvorsichtig, ohne den geringsten Zweifel, ohne
eine innere Mahnung an vergangene Enttäuschung zu erhalten, übermäßig
beglückt, berauscht, tölpelhaft selig hatte er sich der Gewißheit des
nahen Wiedersehens hingegeben. Ja, und nun ...

Und nun weinte er weder noch ballte er tückische kleine Fäuste oder
stampfte den Boden, als der Vater den Rücken gewandt hatte. Er legte
sich einfach für den Rest der Reise in seine Koje, dies war es, was er
sich leistete, dort lag er stundenlang mit offenen Augen und dachte
immer wieder dasselbe, das anfing: Also nicht nach Danzig ... aber
ebenso schlief er auch stundenlang mit bleichem Gesicht und geöffnetem
Munde. Wenn der Vater zu ihm kam, empfing er ihn freundlich und aß
gehorsam, was ihm gebracht wurde, aber der Verkehr mit ihm war nicht
viel ergiebiger als mit einer sprechenden Gliederpuppe, und so blieb er
viel allein, was ihm auch recht war, denn: hätte es nicht doch plötzlich
eintreten können, daß er dem Vater in sein zufriedenes, rotes Gesicht
hinein hätte weinen müssen, weinen, weinen ... Es kam ja nie dazu, aber
es war sehr wunderbar, denn er träumte doch so oft, daß er weinte, --
nur im Wachen gelang es ihm nicht, da war alles so fern, wie hinter
Glas.

Jedenfalls war ein anderer George Forster am Newski-Prospekt auf die
»Mütterchen Elisabeth« gegangen als der, der nach drei Wochen die
Tower-Stairs in London emporstieg. Wohl erschließen sich auch solche
Blüten noch, um Frucht zu bringen, die in der Knospe vom Frost getroffen
wurden. Aber, guter Gott, wie sehen sie aus und wer will sie noch Blüten
nennen? --

                   *       *       *       *       *

Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Pelikan auf dem Hühnerhofe übles
Aufsehen erregen würde und der Gockel hingegen nicht in das Dschungel
paßte. Es ist wahr, daß jeder von ihnen in der ihm angemessenen Umgebung
seinen Platz ausfüllt und gleichsam darin aufgeht, so daß man kaum noch
weiß, ist der tropische Sumpf für den Pelikan oder der Pelikan für den
tropischen Sumpf geschaffen. Herr Forster in polnisch Preußen auf dem
Lande, berufen, einer verlotterten Bevölkerung das kristallkantige Ideal
friederizianischer Selbstzucht vorzuleben und Kultur auszustrahlen, das
war gewesen, als wollte man Wasser mit Öl mischen, um eine gelindere
Flüssigkeit zu erzielen: es nutzte gar nichts, das Öl blieb oben, ein
großes, einsames Fettauge, und bald schwamm es von dannen. Herr Forster
in Petersburg, inmitten einer aus allen Völkern gemischten Gesellschaft
von Aristokraten, Gelehrten, Projektenmachern und Schwindlern, nahm
sich, zwar selbst ein Projektenmacher ersten Ranges, aber geschäftlich
und diplomatisch, ja, selbst gesellschaftlich unerfahren und nahezu roh,
-- er nahm sich aus wie ein leidenschaftlich spielendes Kind, dem sich
die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen und das, da es
nun eben einmal ein Mann und kein Kind mehr ist, lächerlich, ja,
anstößig wirkt. Herr Forster endlich, in England, hatte kaum den
geheiligten Boden seiner Vorfahren betreten, kaum den ersten Mundvoll
der ihm so geläufigen Sprache freigiebig an Lastträger, Hafenbummler und
den Hausknecht von Warwicks Boardinghouse verschwendet und dafür echten
^slang^ eingetauscht, nicht recht verständlich zwar, aber kostbar und
herzansprechend, -- Herr Forster endlich in England also, ging im Teig
auf wie die Pflaume im Plumpudding, mit anderen Worten, war nicht der
Plumpudding selber, auch nicht der Weingeist, aber immerhin ein
Bestandteil, eins seiner häufigsten, eins von hundert Bestandteilen,
unauffällig, selbstverständlich, kein Fremdkörper, kein Kuckucksei, und
war selber erstaunt und beseligt darüber.

Es war bereits etwas vom Rhythmus der Gewohnheit in der Art und Weise,
in der Forster und Sohn fremde Städte betraten, Schiffsplanken hinter
sich stoßend, Reisetaschen sieghaft schwenkend, zudringliche Lastträger
übersehend, Blicke auf Wesentliches richtend! Forster senior, dem der
Kaviar und die Piroggen, bei denen er gedarbt, mit der Zeit zu einem
Bäuchlein verholfen hatten, trug seinen Nabel stattlich vor sich her,
als wüßte er den Unsichtbaren vergoldet, verborgene Berlockes klirrten
bisweilen musikalisch unter seinem Mantel und gaben die Begleitung zu
dem ebenfalls nur ihm selber hörbaren Einzugschor seiner Gedanken, der
etwa also lautete: Er kommt, er kommt, der große Forster kommt! -- was
indessen nicht etwa mit diesen Worten sein Bewußtsein füllte, sondern
nur den allgemeinen Inhalt seiner Stimmung ausmachte. Zugleich, es ist
nicht zu leugnen, war er in guter und ehrlicher Weise freudetrunken vom
Anblick von St. Pauls Kuppel und der drohenden Towermauern, wie schon
die ferne Vision der wimmelnden Londonbridge ihn in Begeisterung
versetzt hatte, und dann: dieser Hafen! O Gott, die Newa war breit und
Petersburg war gewaltig, aber was wollte das gegen diesen majestätischen
Ausgangsort und Ruheport der gewaltigsten Handelsflotte der Welt, was
gegen diese Werften, diese Docks, dieses planvolle Gewühl der kleinen
Boote und Yachten, dieses gelassene Ein- und Ausstreichen der
hochgebugten Riesenschiffe mit der tausendbusig geschwellten Takelage
und den unzähligen starrenden Kanonenrohren sagen? -- »Ostindien!« hatte
Forster ergriffen geflüstert und Georges Hand gepreßt, diese kleine
Hand, die solcher Gebräuche ungewohnt, sich ihm schlaff und verwundert
überließ, -- »Ostindien, George! Van Diemensland! Amerika und China!
Bambus, Zuckerrohr und Cocosnuß! Weihrauch, Gold und Myrrhen! Ingwer,
Zimt und Nägelein! Papagoyen und Koffee! Das Beuteltier!« Er wäre in
seiner traumhaften Aufzählung fremdländischer Wunder gewiß fortgefahren,
wenn nicht in diesem Augenblick die »Mütterchen Elisabeth« Anker
geworfen hätte und er nunmehr in der Lage war, den undankbaren
russischen Boden endgültig verlassen zu können. Zwei Tage weidlichen
Herumtreibens im Weichbild der City folgten und zählten gewiß zu den
glücklichsten in Reinhold Forsters Leben, während auch George ein
gewisses unwilliges Behagen empfand und sich in die dumpfe Wehmut der
Enttäuschung nicht zurückfinden konnte.

Waren sie so tagsüber mit langen Schritten und mit beständig im
neugierigen Drehn und Wenden der Köpfe hin- und herpendelnden Zöpfen
durch die Straßen gezogen, hatten nicht nur die modischen Spaziergänge
wie Newbordstreet, Pallmall und Hydepark, sondern auch St. Giles besucht
und dort gar in einer unterirdischen Garküche gespeist, wo die Bestecke
mit Ketten am Tisch befestigt gewesen waren, -- hatten sie besichtigt,
was nur zu besichtigen war, -- und George tat das auf einmal mit
kritischer Teilnahme, als sei plötzlich eine Kapsel von seiner Seele
gesprungen, er puffte auch Vorübergehende, die ihm nicht aus dem Wege
gingen, -- kurz, er brach sich Bahn, körperlich und seelisch, -- da es
denn doch nichts half! -- (dies war vorübergehend eine Zeit, in der er
sich selbst fast brutal behandelte, er tat es, ohne es zu wissen oder zu
wollen, weil er sonst zugrunde gegangen wäre,) -- hatte man sich
solchergestalt müde und hungrig gelaufen, so folgten erquickliche Abende
im Gastzimmer des Logierhauses, gegen dessen Kamingitter der Vater
sachgemäß die Fußsohlen stemmte, während er aus seiner Tonpfeife
rauchte, Porter trank und George ein wenig Ingwerbier genoß. Gleichviel,
daß andere Gäste anwesend waren und den redseligen Herrn offenbar als
willkommenes Schauspiel betrachteten, gleichviel, daß hinter ihm laut
erörtert wurde, ob nicht auch andere Leute ein Recht auf den Platz am
Feuer hätten? -- wobei George unbehaglich hin- und herrückte, Herr
Forster jedoch nur geistesabwesend über die Schulter zurückblickte und
einen Mund voll Rauch nach den unzufriedenen Mitmenschen blies, womit
sich jene alsbald beruhigten, -- Herr Forster schien den Landesbrauch
gefühlsmäßig zu treffen. -- »Es ist ein Wunderbares, ein Fabelhaftes,
ein Göttliches um den Zusammenhang der irdischen Länder, mein Sohn, wie
sie aus dem Nichts des Gedankens hervortauchen und sich
aneinanderreihen,« sagte er an einem solchen Abend und sah diesmal ohne
Zweifel gläubig und erschüttert aus, soweit es im Bereich seines
fleischigen Gesichtes lag, diesen Ausdruck anzunehmen. »An Rußland habe
ich immer noch eher glauben können, weil es sich von Westpreußen aus
auch zu Fuß hätte ergehen lassen, -- freilich in mühseliger Arbeit, aber
doch immerhin, -- das ist wie aus einem Stück Tuch und keine Naht
dazwischen. Die Inseln hingegen! Mein Sohn! Im Vertrauen will ich dir
sagen, ich habe England nicht für möglich gehalten! Nun aber, da es
unter meinen Füßen standhält, bin ich geneigt, auch an Vandiemensland zu
glauben, ohne daß meine Augen es gesehen haben.« Er lächelte fast
kindlich. »Wunderbar! Wunderbar ist die Gestalt der Erde!« sagte er
andächtig und nahm die Pfeife aus dem Mund, um die Ellbogen auf die
breit auseinandergestellten Knie zu setzen und, die linke Faust unters
Kinn geschoben, verzückt ins Feuer zu starren. »Manchmal halte ich sie
im Traum in meinen Händen und rolle sie behutsam von West nach Ost
meinen Augen entgegen, als sei ich die Sonne, in deren Glanz sie sich
wälzt, oder ich sehe sie schweben, im goldenen Dunst, den göttlichen
Ball, mit der sphärisch erklingenden Seele. -- Dann gedenke ich ihrer
Hülle, George,« sagte er träumerisch, -- »Gras und allerlei Kräuter, und
wie das Wasser überall durch sie sickert und kreist und aus ihr atmet,
und ich fühle die Wucht der Gebirge und das Keimen der Kristalle und die
sonderliche Kraft der Formen, wie sie blind sich auswirkt in tausend
Gestalten. Du wirst hier Gott eingefügt haben wollen, George,« -- und er
wandte sich dem Knaben mit einem geistreichen Lächeln und einer
verbindlichen Handbewegung zu, »gut und wohl, -- indessen reden wir hier
nicht als Pastoren und somit können wir uns zugestehen, daß es kein
Gottesleugnen ist, wenn ich ihn in die Schöpfung hinein projiziere,
anstatt ihn mir außerhalb selbiger zu denken, -- du verstehst mich?«
Und, ohne eine Antwort abzuwarten, sein glattes Kinn streichend und mit
der Pfeife in steilaufgereckter Hand gestikulierend, fuhr er fort: »Ich
denke mir die Erde nackt und bloß, ihre gewaltigen Glieder so wie sie
der Sintflut entstiegen, ohne die Grenzmarken des Menschen, ohne die
Larven der Nationen über ihrer göttlichen Unschuld. Schrankenlos
hingerollt die Ebene, sich aufbäumend im Gebirge, niedergleitend unter
die wallende Fläche des Ozeans, jungfräulich wieder aufsteigend unter
einem andern Himmel und sich neu offenbarend. Ich denke mir ...« die
surinamische Goldschnepfe strich durch den Raum, Kondorgeflügel
erbrauste, Büffelherden nahten und stoben vorüber wie schmetternde
Wolken. Indessen auch die Ameislein und die Bienen und sonstigen
Insekten, die surinamischen Schmetterlinge und die Vögleins Colibri, die
Honigvögleins, die sich durch die Luft schwingen wie fliegende Funken
und mit langen nadelspitzen Schnäblein aus Blüten trinken, -- Blüten ^à
propos^ ... Es blieb _nichts_ ungesagt in dieser Stunde, und Herr
Forster phantasierte sublim über den Inhalt der Erde, er tat es mit
Wildheit, Schwung und Feuer und vergaß nicht die Tiere und Gemüslein,
die er gerne aß, und endlich das wunderbarste Getier, die Menschheit
selbst, wie sie gleichzeitig an allen Orten der Erde hauste und sich so
emsig betätigte, -- er legte den Finger an die Nase und gedachte des
indischen Brahmanen, der über seine Schriftrolle gebückt säße in eben
diesem Augenblick, da der wilde Sohn der nordamerikanischen Prärien sich
im Kriegstanz um sein Lagerfeuer schleudere, oder der emsige Bewohner
von O'Tahiti seine Rindenmatte walke, während der deutsche Bürger --
»oder sagen wir: der große Haller zu Zürich« -- sich soeben die
Zipfelkappe für die Nacht über die Ohren ziehe, »und wir, mein Sohn, an
diesem Kaminfeuer sitzen, auf britischem Boden sitzen, vom Ozean umspült
wie auf dem Gipfel eines Berges Arrarat und das Selbstbewußtsein der
ganzen Erde gegenwärtig in unsern Hirnen kulminiert, -- wunderbar,
höchst wunderbar ...«

Herr Forster blickte plötzlich um sich und nahm wahr, daß es leer in der
Gaststube geworden war, daß hinter der Tonbank Mr. Freeling, -- von Mrs.
Freeling stets als »^my little old man^« bezeichnet, -- mit knackenden
Kiefern gähnte, -- daß George die Augen mit einem Ausdruck glasiger
Starrheit auf ihn gerichtet hielt, und er verstummte. Er machte ein paar
krampfhafte Bewegungen mit Stirn- und Gesichtsmuskulatur, wobei er die
Augen wie ein Geblendeter zukniff und aufklappte, sog ein paar Mal
hastig an dem erkalteten Rohr und fuhr dann, von sich selbst ernüchtert,
mit der Hand über die Augen. »Du hast keine Imagination, mein Sohn,«
bemerkte er verdrießlich und klopfte die Pfeife am Kamingitter aus,
worauf er sich erhob und federnd davonschritt, sich selbst nicht recht
klar darüber, was ihn soeben überkommen und aus ihm geredet hatte.
George folgte ihm gedemütigt, überholte ihn und riß die Türe vor ihm
auf, -- wohl, es mochte ihm an Imagination mangeln oder an etwas
dergleichen, kurz, er konnte sich nicht so verwundern und dieser
Verwunderung so prächtige Worte verleihen wie der Vater, es schien ihm
alles so selbstverständlich, -- dies, daß man nach England kam, wenn man
nach England reiste, und fraglos, daß man ein Land namens Surinam
erreichen würde, falls man ein dorthin segelndes Schiff bestiege, --
aber er empfand diesen Mangel in dieser Stunde irgendwie als
beunruhigend und beschämend. Als er in seinem riesigen, von Vorhängen
umwallten Bette lag und zitternd darauf wartete, daß die feuchten Laken
sich erwärmen möchten, als er die Hände vor die Augen preßte, um nicht
in die fremde englische Finsternis starren zu müssen, -- der Vater blies
längst in gesund atmendem Schlummer melodisch vor sich hin, -- da dachte
er sich aus, wie gut es sein müßte, eine Mutter zu sein und niemals
reisen zu müssen, eine Mutter mit guten kleinen Kindern in einer warmen
duftenden Küche, in der es lauter behagliche Arbeit gab, wie
Rübchenschaben, Suppenkochen, Kuchenrühren und Topfauslecken, und als er
darüber endlich einschlief, war es nicht mehr die Mutter, die es so gut
hatte, sondern das kleinste Kind in der hölzernen Wiege im Eckchen beim
Herd, das von nichts wußte als von Schlummer, Milch und Liebe, und dies
kleinste Kind war er. --

Dalrymple zu besuchen, Dalrymple, den unbekümmerten Pfadfinder im
indischen Meer, den Autor gründlicher geographischer Werke, den
unübertroffenen Zeichner der berühmtesten Landkarten, -- Dalrymple also
aufzusuchen, sich ihm vorzustellen und seine russischen
Empfehlungsbriefe bei ihm abzugeben, war nach den ersten Londoner
Schlendertagen Herrn Forsters vornehmstes Ziel. »Forster und Sohn«,
sagte er, hinter einem bräunlichen, turbangekrönten Diener einen hellen
länglichen Raum betretend, dem drei Schiebefenster Licht gaben und wo
ein Herr in kaffeebraunem Frack von einem langen Arbeitstisch sich erhob
und ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen einigermaßen erwartungsvoll
entgegenblickte, -- »Forster und Sohn, von St. Petersburg eingetroffen,
aus den Diensten Ihrer Kaiserlichen Majestät nach der beispiellosen
Wolga-Expedition rühmlichst entlassen, -- Forster und Sohn, mein Herr,
die sich bei ihrem ersten Betreten britischen Bodens beeilen, Ihnen ihre
Huldigung darzubringen, nachdem sie Ihre Verdienste jahrelang aus der
Ferne staunend empfunden haben!«

Forster und Sohn, die sich, schräg hinter einander aufgestellt, bei
jeder Nennung ihrer Namen mit dem Hut in der Rechten und mit der Linken
auf dem Herzen emphatisch verneigt hatten, überreichten nunmehr, -- das
heißt, Reinhold Forster überreichte, zwei oder drei Briefe, deren Siegel
Mr. Dalrymple hastig erbrach, die er mit kurzen Ausrufen, -- Ausdrücken
seliger Überraschung und unerwarteten Glückes ohne Zweifel, -- überflog,
um sodann ... Aber während er las, hatten die Forsters Zeit gehabt, sich
umzusehen. »Verehrtester! Welch ein Arbeitsraum!« rief Reinhold aus, als
Dalrymple ihn nun auf einen der hochlehnigen Sessel vor dem Kamin
nötigte und George auf dem Rande eines Taburetts Platz genommen hatte.
»Welch ein Raum, welch ein Geist, welch ein Ausblick! Nicht genug, daß
die ganze Erde von den Wänden sieht,« -- und er wies auf die äußerst
sauber ausgeführten Landkarten, die mit der Hand koloriert in heiterem
Blau und anderen kräftigen Farben ringsum hingen, -- »Boten aus aller
Welt blicken Ihnen in die Fenster hinein und versichern den wirkenden
Geist dauernd einer schöneren Ferne!« Er sah entzückt nach den Fenstern,
vor denen wimpelgeschmückte Mastspitzen und ein Gewimmel von Rahen im
straffen Taugeflecht in der blaugoldenen Luft des Apriltages schwankten
und tanzten. Mitunter schob ein ausfahrender großer Segler seine
Schwanenbrust leuchtend hindurch, und unzählige Möwen belebten das Bild
mit dem Rhythmus ihres Hin- und Wiederschwebens: Dalrymple's Haus lag am
Strand und draußen flutete die Themse. Nun lächelte er und schlug ein
Bein über das andere. »Es läßt die Reiselust nicht einschlafen, dies
Bild, es erhält den Geist auf der Wanderschaft, ich bedarf seiner als
eines Surrogates für das Leben an Bord, mein Wertester,« sagte er
freundlich und ließ seinen blaugrauen Seemannsblick über Vater und Sohn
hingehen, wie über ein Gewölk am Horizont, -- »aber kommen wir zur
Sache!« »Das Leben an Bord!« fiel Forster begeistert ein, die Rechte
gegen Dalrymple ausreckend, als wollte er ihn umhalsen, »wie gut ich Sie
verstehe, Verehrter! Die Grenzen der Kontinente sprengen und sich dem
schrankenlosen Ozean überlassen, -- welch ein berauschender Gedanke!«

Herr Dalrymple neigte höflich zustimmend sein Haupt: »Sehr wohl,«
bemerkte er, »indessen, -- kommen wir zur Sache!«

»Ein Mann und sein Pflugsterz, ein Mann und sein Schwert, -- Ein Mann
und sein Segel, -- ein Mann und sein Pferd!« schwärmte Forster weiter,
»verzeihen Sie die deutschen Verse, mein Herr, aber sie sind es, die die
Essenz meines Geistes enthalten! Ich bin ein Gelehrter, Herr, aber kein
Bücherwurm, was Sie meiner ganzen Konstitution unschwer anmerken werden,
auch ohne Lavater gelesen zu haben. Ich bedarf der Motion, um mich frei
entfalten zu können, -- ist's nicht an dem, George ...«

»Ich bezweifle das nicht,« gab Dalrymple zu und seine hellen Augen
bekamen etwas Starres, »aber sagen Sie mir nun gefälligst ...«

»Ich bin vom feurigsten Enthusiasmus für England beseelt!« rief Forster
nun, »England ist ohne Vergleich an Unternehmungslust und Macht, England
läßt sich die Erde schmecken und sie bekommt ihm wohl, das ist's, was
mich begeistert! Engländer zu heißen, mein Herr, würde für mich einer
Erhebung in den Adelsstand gleichkommen, und mit wehmütigem Stolz
gedenke ich meiner Vorväter, die treue Diener der Stuarts waren und mir
doch kein Anrecht auf diese Heimat hinterließen, als meinen Namen und
einige unverfälschte Tropfen englischen Blutes. Machen Sie mich zum
Engländer, Herr, indem Sie mich für England arbeiten lassen, und Sie
werden sehen ...«

»^Well!^« Mr. Dalrymple fühlte Boden unter den Füßen und war offenbar
erleichtert. »Meine russischen Freunde sind des Lobes voll über Ihre
wissenschaftlichen Leistungen, mein Herr, -- gestatten Sie, daß ich die
Kupfer zu meinem neuen Werk, die soeben eingetroffen sind, Ihrem Urteil
unterbreite.«

Die beiden Männer vertieften sich alsbald an der Hand dieser Abbildungen
in ein Gespräch, bei dem George ein wenig das unheimliche Gefühl hatte,
daß seinem Vater auf den Zahn gefühlt werde, was dieser indessen nicht
zu bemerken schien und seine Kenntnisse mit bereitwilliger Fröhlichkeit
entfaltete. Nach einer Weile schlug Mr. Dalrymple mit zufriedenem
Gesicht die Mappe zu, und nach einem kurzen Blick auf das blaue
Emailzifferblatt seiner kugelförmigen goldenen Uhr sagte er, daß er nun
in eine Sitzung müsse, ob Mr. Forster etwa bereit sei, ihn zu begleiten?
Er würde einen Kreis von Männern antreffen, die nichts anderes als
willens seien, das Gute und Vortreffliche zu unterstützen, wo immer sie
es anträfen, -- kurz, es handelte sich um einen Besuch in der Loge »Zur
goldenen Gans«, eine der kostbarsten Tochterlogen der Großloge von
England, von der Forster zweifellos schon gehört hatte, -- hatte er etwa
nicht? -- und zu deren Aufsehern Dalrymple zu gehören sich schmeicheln
durfte. Ob Forster davon gehört hatte?! Aber hier stand er ja mit einem
Schritt am Ziel seiner Wünsche, am Ziel der Wünsche aller Pläneschmiede
und Projektenmacher seiner Zeit, und mochte man immer in Deutschland
noch vielfach die »Freymäurer« für Deisten und Libertiner, für
Independenten schlimmster Art halten, darüber war er denn doch hinaus,
vor allem, da er hier nicht als preußischer Prediger stand, -- und
überhaupt, gleichviel! Wenn er nur Hilfe und Unterstützung fand, -- und
waren die hier nicht jedem Strebenden gewiß? Ob man den Knaben mitnehmen
konnte? Aber nein, dies ging nicht an, und so wurde George angewiesen,
zu warten, ja Mr. Dalrymple legte ihm, unter der Tür noch einmal
umkehrend, ein Buch in die Hände, das George gleich an dem rauhhaarigen
Mann auf dem Titelblatt, der, strumpf- und schuhlos, aber mit zwei
Flinten und einem riesigen umgeschnallten Säbel bewehrt, auf einem
unverkennbaren Eiland fußend dastand, als eine englische Ausgabe des ihm
wohlbekannten »Robinson« erkannte. Da er von jeher keine große Vorliebe
für die ungemütlichen Schicksale dieses Helden gehabt hatte, legte er
das Buch auf den Tisch, sobald Schritte und Stimmen der Männer verhallt
waren, und nun blickte er sich im Zimmer um, und eine ganze Weile tat er
nichts anders als dies, daß er um sich blickte und, -- von Entzücken
überwältigt, -- lächelte.

Wie war das alles so über die Maßen schön und wunderbar!

Er hockte auf seinem Taburettchen an dem einen Ende des langen Tisches,
der in seiner Mitte, dort wo der hochlehnige Sessel mit der Stirnseite
zum Fenster gewandt davorstand, als Schreibtisch diente und auf
wohlumgrenztem Raum mit Schriftwerk aller Art, einem außerordentlich
schönen Schreibzeug aus Bergkristall und Gänsekielen in reicher Auswahl
bedeckt war, am entgegengesetzten Ende aber den Zweck eines
Zeichentisches erfüllte, auf dem Reißbretter, Zirkel und Winkelmaß nebst
den verschiedensten Farbennäpfchen und Fläschchen chinesischer Tusche
mit Pinseln, Papieren und Pergamenten sich breit machten, -- während auf
der ihm zugewandten Seite ein kunstvoller Himmelsglobus stand, von den
fremdartigsten Instrumenten umgeben, wie er sie wohl in der Kajüte und
in den Händen der Schiffer gesehen, aber nie in solcher Nähe vor sich
gehabt hatte. Dies war ein Kompaß und jenes da ein Sextant, er wußte es,
aber ihr Gebrauch war ihm doch mehr oder weniger rätselhaft. Und welche
Auswahl jener wundersamen Rohre, in deren Rund die Ferne sich einfangen
ließ, lag hier auf Purpursamt gebettet und funkelte sanft! Dicht vor ihm
stand ein solches Rohr aufgestellt, aber senkrecht gerichtet und ein
Glasplättchen unter sich, auf dem ein perlmuttern gefleckter
Schmetterlingsflügel lag, -- ein Mikroskop --, er kannte auch dies, und
das zweibeinige Ungeheuer am Fenster, das breitstelzig dastand und seine
Mündung auf die Wolken richtete wie ein Geschütz, mochte ein
Himmelsfernrohr sein, mit dem Dalrymple in den seltenen klaren Nächten
nach Mond und Sternen sah. An dem letzten Fenster ruhte eine gewaltige
Erdkugel von verschossenem Grün in einem tischhohen Gestell, vor dem
Kamin hing ein kunstvolles Schiffsmodell mit einer Menge winziger
drohender Kanonenrohre von der Decke herab, und dort, wo die Wände nicht
von Karten bedeckt waren, standen Regale mit Büchern gefüllt und von den
merkwürdigsten Gegenständen gekrönt, einer blendend weißen, wunderbar
verästelten Koralle etwa oder einem ausgestopften metallisch
erglänzenden Vogel von sonderbar jüdischem Aussehen, einer Blaurake, wie
er später vernahm. Auch gab es einen Glasschrank, der Erzstufen und
Kristalldrusen, aufgespannte lasurfarbene Schmetterlinge, rosige
ostindische Muscheln und dergleichen zu bergen schien, jedoch erhob sich
George durchaus nicht, um diese Merkwürdigkeiten näher in Augenschein zu
nehmen, sondern es genügte ihm vollkommen, hier zu sitzen, ganz an das
unerklärliche Behagen hingegeben, das dieser Raum auf ihn ausströmte.
Wohl, er kannte alle Gegenstände im einzelnen, kannte sie bis zum
Überdruß aus dem Petersburger Museum und hatte dieses und jenes
Instrument in den Studierzimmern der gelehrten Freunde seines Vaters
wahrgenommen, Arbeitsräumen, die gemeinhin verräucherte Höhlen waren, in
denen mehr oder weniger in ihrer äußeren Erscheinung vernachlässigte
Männlein lichtabgewandt hausten, wie syrische Anachoreten. Das Kabinett
des Vaters daheim mit den fichtenen Büchergestellen und dem wackligen
Stehpult fiel ihm ein, er sah den Schatten des Gaisblatts auf den
blankgescheuerten Dielen tanzen, sah ein kleines Geschwister dort
kriechen und danach haschen und sich sodann irgendwie unwürdig benehmen,
auch das Petersburger Quartier sah er vor sich, in dem ungemachte
Betten, Kleider, Bücher, Stiefel, Manuskripte und Tabakspfeifen ein
hoffnungsloses Durcheinander gebildet hatten, -- dies alles zog zum
Vergleich herausfordernd an ihm vorüber, und nur mit dem Erfolg, daß er
sich auch weiterhin nicht rührte, um sich blickte und lächelte. So mußte
es sein, ach ja, ganz so, und nicht anders, und hier mußte man am Tisch
sitzen gleich dem ruhmreichen Dalrymple, sauber und korrekt vom Scheitel
bis zur Sohle, ohne die geringste Vernachlässigung im Anzug, einem
Offizier mehr gleichend als einem Bücherschreiber, von elastischer
Straffheit in jeder zielbewußten Bewegung, eine Klarheit von Stirne,
Augen und dem Lächeln des Mundes ausstrahlend, die den wundervoll
geordneten und durchgebildeten Aufbau der inneren Welt verriet, wo alles
durchsichtig und gesetzmäßig lebte und arbeitete. Hier entstand kein
Gedanke, der sich nicht dem Ziel untergeordnet hätte, auf das Dalrymples
Arbeit just gerichtet war, und nichts war sicherer, als daß das Rad der
Tätigkeit in diesem gleichmäßig wachen Haupt nie stille stand, mochte es
auch zuweilen sanfter gehen, etwa nur von den Eindrücken eines
Morgenrittes im taufeuchten Hydepark, eines Abendganges am Flußufer, den
heimkehrenden Herden entgegen, oder auch allein von den lichtvollen
Traumbildern einer Nacht bewegt. In seines Geistes Fülle versenkt, doch
mit dieser Arbeit, dem Element seines Lebens, unmittelbar der Wohlfahrt
seiner Mitbürger dienend, ihren Handel und Wandel, wie er sich vor
seinen Fenstern tausendfältig und ameisenhaft entfaltete und abspielte,
fördernd, unsichtbar eingreifend, Richtlinien gebend und Ziele
verleihend, Englands Sohn mit Leib und Seele auch darin, daß er
seefahrtskundig sein Schiff mit eigener Hand durch die Meere zu steuern
verstand, -- doch auch dies nur zweckerfüllt und niemals aus dumpfer
Schwärmerei oder Abenteuerlust unternehmend --, siehe, da war das Ideal
des kleinen George Forster, wie es, ihm selber unbekannt und annoch in
sieben Schleier gehüllt in seiner Seele schlummerte, plötzlich Fleisch
und Blut geworden, trat vor ihn hin und lockte sein Spiegelbild hervor,
daß es dem Knaben vor Augen trat, freilich unklar wie aus beschlagenem
Glas. Es deuchte ihn eine fast unausdenkbare Seligkeit und doch das
einzig begehrenswerte Ziel, in einem Gemach gleich diesem hausen zu
dürfen, Besitzer zu sein solcher geordneter schimmernder Bücherreihen,
mit solchen blanken ernsthaften Geräten, in denen der erhabene Geist der
Mathematik sich in klaren einfältigen Formen offenbarte, rasch und
sicher hantieren, mit raschelnder Feder perlenschnurgleiche
Buchstabenreihen über reines körniges Papier ziehen und so ganz und gar
bis in die kleinste Einzelheit von Ordnung und Zweckmäßigkeit umgeben
sein zu können. Diesem Kinde hatte Arbeit das Spiel zu früh ersetzen
müssen; was Wunder, wenn seiner Art zu arbeiten lebenslänglich etwas von
der Methode des Spielens anhaftete, daß sie einer gewissen Verklärung
durch die Phantasie bedurfte, um fruchtbar zu sein, eines Anreizes in
der Gestalt ihrer äußeren Hilfsmittel, daß ihre Spannkraft im höchsten
Grade von Abwechselung abhängig war, -- ja, daß sie sich selbst zuweilen
mit ihrem Schatten, mit einer Absicht, einem Plan, einem Projekt
verwechselte? Gleichviel! Als George etwa eine Stunde allein in diesem
Heiligtum der Wissenschaft gesessen hatte, war er von dem schweigsamen
Geiste der Tätigkeit, der hier herrschte, so durchdrungen, daß er von
sich selbst gerührt war und ein so reinliches Gewissen in sich fühlte,
als habe er angestrengt gearbeitet, zugleich aber empfand er eine
inbrünstige sehnsüchtige Kümmernis, die sich uneingestanden aus
hoffnungsloser Verzweifelung, aus einem armen kleinen Neid
zusammensetzte.

Ein Kompaß lag vor ihm auf dem Tisch, die Magnetnadel unter einer
schwach gewölbten Scheibe von Bergkristall eingelassen in eine
handtellergroße sechseckige Bronzeplatte mit eingeritzten Ziffern, auf
die ein niederzuklappender Weiser mit seinem Schatten deuten mußte, --
eine winzige Sonnenuhr also, ein äußerst sauberes, zierliches,
handliches Gerät, das man in seinem Futteral von rotem Maroquin überall
bei sich tragen konnte, -- er widerstand der Versuchung nicht, es in die
Hand zu nehmen, und betrachtete es andächtig. ^Bion à Paris^ stand im
Halbkreis um den Kompaß herum zu lesen, -- ach ja, solche Gegenstände
galt es zu besitzen und sich ihrer unter freiem Himmel zu bedienen, --
er seufzte ein wenig und legte das Instrumentchen zärtlich auf den Tisch
zurück. In diesem Augenblick tat sich die Türe auf, und ehe er es sich
versah, stand ein Kind in der Mitte des Zimmers, ein kleines Mädchen in
zierlich gerafftem lichtblauen Kleid, stockte bei seinem Anblick und
sagte in den ausdrucksvollsten Tönen: »^What are you doing here? In my
fathers room and in our house? How did you come in?^« Dabei blitzte sie
ihn mit empörten grünbraunen Augen an und hob eine große weiße
Angorakatze, die mit ihr gekommen war und ihre Knie umschmeichelte, mit
beiden Händen auf, es war nicht zu erraten, ob als Waffe und um sie
gegen ihn zu schleudern, oder um sich an dieses befreundete Wesen
anzuklammern, denn sie selbst machte eine ganz kleine Wendung zur Tür,
bereit, sich bei der geringsten verdächtigen Bewegung des Eindringlings
zurückzuziehen. George indessen, dem sein Englisch auf einmal
wegschwamm, war aufgesprungen, ließ die Arme hilflos hängen und
stammelte erschrocken eine deutsche Erklärung für seinen unbegreiflichen
Aufenthalt in diesem Heiligtum, die er gleich darauf, etwas gefaßter,
auf Englisch wiederholte, als er den ratlosen Ausdruck der jungen Dame
wahrnahm. Während dieser Erklärung, in der »^my father and Mr.
Dalrymple^« den festen Kern eines Knäuels verwirbelter Perioden bildeten
und die Wendung »^You know^« zur Ausfüllung von Verlegenheitspausen
oftmals wiederkehrte, begann das Kind zu lächeln, die rosige Wange in
das Fell des Tieres schmiegend, und sodann, auf ihn zutretend und mit
spitzen Fingerchen auf ihn deutend, sagte sie in hohen zwitschernden
Tönen: »Du bist kein Engländer, du, -- das bist du nicht!? Aber du
kommst nicht aus Indien wie Arya.« Hierauf, mit demselben Fingerchen
sein Gesicht berührend, die kleine Nase ein ganz klein wenig angeekelt
kraus ziehend, nachdenklich: »Was ist das? Was hast du da? Haben alle
Leute in deinem Lande so kleine Löcher in ihrer Haut?« Worauf George,
mit der eigenen Hand über seine pockennarbige Wange streichend, beschämt
eingestand, daß dieser beleidigende Anblick von einer Krankheit
herrühre, wobei er sich trostlos verhedderte, da ihm die nötigen
Ausdrücke fehlten und schließlich: »^Bad cough, you know!^« sagte, weil
dies im Grunde die einzige Krankheitsbezeichnung war, die er auf
Englisch wußte, da Mrs. Freeling an einem ^bad cough^ litt und ihre
Gäste einzig davon zu unterhalten pflegte. Er war äußerst peinlich
berührt und von einer nach Tränen verlangenden Erregung durchzittert,
darüber, daß dies fremde Mädchen ihn so ohne weiteres auf seine
körperlichen Mißstände anredete, zumal da es ihn nach seiner Erklärung
durchaus nicht mitleidig, sondern weiter mit kühler Neugier betrachtete,
wie ein ausländisches Tier. Jedoch ging nun plötzlich wieder jenes
Lächeln über ihr Gesicht, das tanzende Sternchen in die Augen zu zaubern
schien, und aus dem goldbraunen Geringel der Locken gleicherweise wie
aus den vereinzelten lustigen Sommersprossen in der zarten Haut, den
blaßroten Lippen und den weißen Zähnchen leuchtete; sie sagte
nachsichtig: »^You look like a little old man!^« drehte sich einmal auf
dem Absatz um, mit einer Handbewegung, die das ganze Zimmer vorstellend
umfaßte: »^Mr. Dalrymple is my father^,« und, wieder Aug' in Auge mit
ihm, schloß sie: »^And that's Pussy^,« wobei sie ihm die Katze mit
beiden Armen hinreichte und die Krallen des Tieres mit einem
ausdrucksvollen »^Don't, Pussy!^« aus dem Musseline ihres Kleidchens
löste. »Halte sie einen Augenblick! Ich werde dir etwas Komisches
zeigen.« Eilig lief sie zu dem großen Globus in der Ecke des Zimmers,
umspannte die Kugel mit beiden rundlichen Armen und versuchte sie aus
dem Gestell zu heben. »Nein, ich kann es nicht allein,« rief sie zornig,
»schnell, komm her und hilf mir. Aber so halte doch die Katze!« Und da
George nun ratlos dastand, denn er hatte die Katze losgelassen, um die
Hände frei zu bekommen, und Pussy zog sich eilig in die Nähe des Kamins
zurück, trommelte sie mit beiden Fäustchen auf den Globus, rief lachend
und aufgebracht: »^How funny a boy you are!^« und brachte es dann unter
Stöhnen und Prusten mit seiner Hilfe zustande, daß die große hohle
Kugel, auf der die Weltteile und Ozeane von Abbildungen der seltsamsten
Fabelwesen, wie von Einhörnern, Meerweibern und Seeschlangen bevölkert
waren, in die Mitte des Zimmers gerollt wurde. Nun hieß es: »^Try to
catch Pussy!^« denn Pussy hatte sich, entschieden ahnungsvoll, auf die
hohe Lehne eines der Kaminsessel zurückgezogen und beobachtete die
Vorbereitungen mit Mißtrauen, -- entwich bei der Annäherung der Kinder
von dort und schritt mit vorgetäuschter Würde und affektierter
Zierlichkeit über alle Geräte, Papiere und Bücher des Arbeitstisches
hinweg, raste sodann in einem Ausbruch von Verzweiflung in dem ganzen
Raum herum, wobei ihre Besitzerin vor Lachen umfiel, George aber seinen
ganzen Ehrgeiz entfaltete und sie griff, indem er ihr den Weg
versperrte. »^I have her, Miss!^« schrie er triumphierend, erntete ein
vor Lachen atemloses: »^Oh, how awfully funny! Don't call me Miss! I am
Evelyn!^« und nun ward das sich scheinbar in sein Schicksal ergebende
Tier, -- ein Kater übrigens, -- mit allen Vieren auf die Kugel gestellt.
Sofort begann es unbehaglich einen Fuß vor den anderen zu setzen, um
hinunterzugelangen, hierdurch geriet die Kugel in Bewegung, Pussys
Unbehaglichkeit steigerte sich zum kläglichen Miauen, er reckte den
Schwanz steil auf und, unentwegt weiter trippelnd rollte er auf der
Kugel durch den ganzen Raum, von Evelyn jauchzend umtanzt und von George
unter Staunen begleitet. Als nun wiederum jemand eintrat, und zwar
diesmal eine hagere ältliche Dame, die von seinem Anblick ebenso
überrascht schien wie Evelyn vorhin, hatte er doch bereits genug
Unbefangenheit gewonnen, um auf des Kindes vergnügte Einführung seiner
Person: »^Only listen, Miss Jones!^« und zu ihm gewandt: »^Now tell her
that of Mr. Dalrymple and my father!^« eine leidlich wohlgesetzte
Erklärung seiner Anwesenheit fertigbringen zu können, die zwar Evelyn
enttäuschte (»^You told it otherwise and much more funny last time!^«),
jene würdige Dame aber hinreichend befriedigte. Er wurde nun mit ins
Wohnzimmer genommen, er bekam Tee mit geröstetem Brot, Butter und
Marmelade, er mußte der Miß von Deutschland und St. Petersburg
berichten, wozu sie abwechselnd »^Awfully!^« oder »^How strange!^« sagte
und gelegentlich seine Sätze verbesserte. Evelyn jedoch setzte ihm drei
Puppen auf den Schoß und erklärte ihn zu deren Großvater, -- denn der
Vater sei nun einmal Pussy, von jeher, und könnte doch nicht abgesetzt
werden! --

                   *       *       *       *       *

Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß das Leben eines jeden Menschen
in seinem Verlauf Strecken aufweist, die, obschon durch Jahre getrennt,
einander doch seltsam ähneln, weniger ihrem Inhalt als ihrem äußeren
Rhythmus nach. Als der Vater mit ihm in Warrington nahe bei Manchester
angelangt war, wo er am Predigerseminar die Stelle eines Lehrers für
Naturgeschichte und Sprachen angenommen hatte, -- als sie dort ein
kleines Haus inmitten eines Gärtchens voller Stockrosen und
Stachelbeeren bezogen hatten, -- als schließlich die Mutter mit den
Geschwistern angelangt war, und sie sich nun alle mitsammen, da der
Winter ins Land zog, eng aneinanderschlossen, der Kälte und der Fremde
Trotz boten und sich gegenseitig zur Heimat wurden --, da schien es
George anfangs, als steige verjüngt und verklärt die erste Zeit seines
Lebens wieder herauf. Dem Himmel sei Dank, man war nicht nach Amerika
gesegelt, um dort ein gewisses gottverlassenes Gebiet näher zu
untersuchen, wozu Lord Baltimore die nötigen Mittel herzugeben bereit
war, denn dieser Würdenträger schien besonders neugierig auf die
Verhältnisse in jenem Landesteil. Man hatte auch auf die Pfarre
verzichtet, die Lord Shelburne in Persacole, einem äußerst idyllischen
Ort, zu vergeben hatte, jawohl, man tat sich nicht wenig auf seine
Grundsätze zugute, ließ sich nicht ein auf ein nicht ganz fest
gesichertes Unternehmen, -- (»war nicht die Schachfigur irgend so eines
Großen, verstehst du, mein Sohn!«) und machte sich nicht noch einmal im
Leben zum Schuhputzer eines Patrons, indem man den Büttel im
Predigerrock darstellte (»jawohl, denn darauf kam es doch schließlich
heraus!«). War es auch etwas Entzückendes um das Entgegenkommen all
dieser Brüder im Geiste der Loge, man hatte doch seine persönliche
Freiheit zu wahren, (dies war der neueste Standpunkt), und letzten
Grundes wollte man sich nicht festlegen, weil Mr. Dalrymple da einige
Andeutungen gemacht hatte, -- einige ganz unverbindliche Andeutungen ...
Kurz und gut, Reinhold Forster schied von London, nachdem er Mitglied
einer Loge geworden war und auf die »Vereinigung aller Guten zum Guten«
schwur. Jedoch, so ausgiebig er die Grundsätze der Verbindung in seiner
Unterhaltung anbrachte, die Gleichheit aller Menschen vor dem höchsten
Gesetz war ihm keineswegs in Fleisch und Blut übergegangen und er, für
sein Teil, bewahrte seit den Petersburger Erfahrungen ein dumpfes
Mißtrauen gegen die, die er »die Großen« nannte, war auf seiner Hut und
würde sich nicht noch einmal übertölpeln lassen. Leider drang ihm dies
Bewußtsein seiner Überlegenheit dermaßen aus allen Poren, daß er
allerlei Anstoß damit erregte, worüber er sich wiederum nicht wenig
wunderte, da er sich für außerordentlich diplomatisch hielt. Auf George
hatte die Schilderung der freimaurerischen Gebräuche und Feierlichkeiten
einen tiefen und beseligenden Eindruck gemacht, und es erhöhte den
Zauberschein, der Mr. Dalrymple in seiner Vorstellung umgab, noch
bedeutend, daß dieser in seiner Loge ein Ehrenamt bekleidete und somit
von priesterlicher Würde umflossen war. Im stillen hatte er es sich fest
vorgenommen, seinerzeit die kleine Evelyn zu heiraten und als demütiger
Famulus um Dalrymple herum zu leben, betraut mit der Instandhaltung der
Instrumente und dem Kolorieren von Landkarten, auch mit Schreibarbeiten,
die er besonders künstlich und schön auszuführen gedachte, wenn er dabei
nur in jenem unvergeßlichen Raum leben durfte, -- aus dem er übrigens
Pussy verbannt wissen wollte. Dies Ziel vor Augen begann er seinen Weg
mit einer ersten Ahnung von Bewußtheit zu gehen. Es war ein Jammer, daß
der Vater Mr. Dalrymple so wenig glich, daß er so gar keinen Wert auf
Akkuratesse und Pünktlichkeit legte und trotz seiner Vorliebe für ein
elegantes Auftreten, oder vielmehr einer Neigung für das Bunte und
Prächtige, sein Äußeres vernachlässigte, wenn man nicht auf ihn achtete.
Er, George, begann jetzt, seinen eigenen Sinn für peinliche Ordnung
wie ein Steckenpferd zu pflegen und erzielte unter seinen
Gebrauchsgegenständen, seinen Büchern, Papieren und Schreibgeräten eine
ihn selbst entzückende Nettigkeit, die sich auch auf seine Kleider und
Schuhe erstreckte und so weit ging, daß er aufgebracht wurde, wenn die
Mutter sich dieser Dinge wieder annehmen wollte oder gar Fieken, die
während der Trennung etwas, wie ihm schien, aufdringlich
Hausmütterliches angenommen hatte. Die Mutter, immer noch in der ersten
bitteren Ergriffenheit von seinem Anblick, da sie ihn so gewachsen,
abgemagert und mit einem Schatten von stillem, grauen Ernst auf dem
schmal gewordenen Gesicht wieder gefunden hatte, ließ ihn gewähren und
meinte in diesem ihrem ersten Kinde ihr eigenes Herz zu erkennen, wie es
sich in den vierzehn Jahren ihrer Ehe aus kindlichem Lebensvertrauen in
die stumme Ergebenheit des Dienenmüssens geschickt hatte. In den ersten
Tagen nach ihrer Ankunft geschah es einmal, daß sie in der Dämmerung des
Oktoberabends mit ihm allein war, oder doch wenigstens ohne den Vater
und die größeren Geschwister. Sie saß am Fenster, mit dem Jüngsten auf
dem Schoß, und blickte tödlich erschöpft in den erlöschenden Herbsttag,
ohne einen anderen Gedanken als den der Dankbarkeit, daß sie nun festen
Boden unter sich fühlte und nicht mehr den schwankenden des Schiffes
oder der Postkutsche. Daß sie das nun hinter sich hatte, Sturm und
Wellen, Kattegatt und Skagerrak, sie allein mit den fünf Kindern! Mein
Gott, sie schauderte immer wieder unter einem Rückkehren der
körperlichen Angst dieser letzten Wochen und lächelte matt und erlöst zu
George auf, der schon eine Weile an ihre Schulter gelehnt neben ihr
stand, ohne sich zu rühren. Jetzt glitt er nieder und kniete vor ihr,
Augen und Hände scheinbar mit dem Kleinen beschäftigt, dessen Fingerchen
er festhielt. Dann aber begann er über das Kleid der Mutter hinzutasten,
zögernd und ungeschickt, als begrüßte er die bunten Streublümchen in dem
braunen Perkal alle einzeln, und nun faßte er nach dem Medaillon aus
dünnem Golde, das ihr an einem Sammetband um den Hals hing, und das, er
wußte es, ein Löckchen von ihm selbst aus seinen ersten Lebensjahren
barg. »Ach, -- auch das ...« murmelte er und schlug plötzlich die Augen
voll zu ihr auf, die im nächsten Augenblick von Tränen überflossen,
während er das Gesicht an ihre Knie drückte, ihren Schoß mit beiden
Armen umspannte und so krampfhaft schluchzte, daß sein ganzer Körper
bebte. Sie, erschrocken, und doch nicht unvorbereitet auf diesen
Ausbruch, legte die Linke auf seinen Kopf, -- die Rechte umfaßte und
hielt den kleinen Christian --, und so, ihn ab und zu sanft streichelnd,
sagte sie nichts weiter als: »Georgie, -- mein Georgie ...« in einem Ton
hoffnungsloser Ermüdung, in dem aber mehr Zärtlichkeit und Verständnis
lagen, als mit vielen Worten sich hätte ausdrücken lassen. Endlich, als
das Weinen verebbte und seine Arme sich ein wenig lösten, wandte sie den
Blick vom Fenster zu ihm und sich über ihn neigend, selbst
aufschluchzend in einer Wallung von Gram und Zorn, fragte sie mit rauher
Stimme: »Hat er dich geschlagen, oft geschlagen, mein Kind?« -- und fuhr
dann fort, ihn stumm zu liebkosen, indem sie den Oberkörper hin und her
wiegte und mit einem Ausdruck unsäglicher Bitterkeit über ihn weg ins
Leere blickte. --

Während harter, trockener Arbeit, die ihn an sein Tischchen in der
Fensternische des großen Wohnzimmers spannte wie einen Ackergaul vor den
Karren, -- hier saß er gebückt und übersetzte, er, der zwölfjährig sechs
Sprachen beherrschte, -- da war es doch gut, war tröstlich, draußen die
Mutter hantieren zu hören und den gleichmäßigen Verlauf häuslichen
Lebens um sich zu spüren! Wie hätte er wohl sonst dies ausgehalten, dies
Nachbauen großer systematischer Werke mit einem anders gefärbten
Material, aber so, daß Stein um Stein sich deckte, daß ein Gebäude
entstand, dem Vorbilde aufs Haar gleichend, in jedem Türmchen und
Eckchen, in jedem Geräte der Einrichtung, -- oh, dies beständige Hin-
und Herblicken von Buch zu Buch, dies Vergleichen, dies Abwägen der
Worte, -- und was dann endlich vor ihm lag, war nichts Neues, war ewig
wieder dasselbe, was schon einmal dastand. Indessen wußte er jetzt, daß
es ein Hilfsmittel gab, solche Arbeit erträglich zu machen, es war eine
rastlose geduldige Hingabe an die Genauigkeit und Buchstabentreue, an
der er sich erbauen konnte, wie an der rechtwinkligen Aufstellung seiner
Bücher und Geräte oder an dem tadellosen Anblick einer fertigen
Manuskriptseite. Hier war er seiner selbst sicher, keinen Anfechtungen
und Zufällen ausgesetzt wie beim Unterrichten der Geschwister oder der
englischen Knaben in jener Schule, die er dreimal wöchentlich mit
größter Überwindung betrat und mit dem Gefühl bitterster Demütigung
wieder verließ, halb ohnmächtig von der Anstrengung, die ihn das
Aufrechthalten seiner Würde, das Übersehen und Überhören des Spottes
seiner Schüler und die reinliche Erfüllung seiner Pflicht kostete.
Gleichzeitig war er von Hunger geschwächt, der ihn in diesen Jahren zu
überfallen pflegte, wie ein reißender Wolf, denn sein Körper streckte
sich nun und befand sich in fortwährendem Aufruhr gegen die Lebensweise,
der er unterworfen wurde. Dann führte ihn sein Heimweg an jener
Bäckerbude vorüber, -- ach nein, -- er führte gar nicht daran vorüber,
aber man konnte doch durch jene Straße gehen, wo sie sich befand,
magisch anziehend mit dem stillen Glanz ihres Schaufensters, hinter dem
die leckersten Apfel- und Fleischpastetchen lagen, während ein
köstlicher warmer Duft nach frischem buttrigen Gebäck das ganze Gebäude
umwitterte. Er würde vorbeigehen, dies war ihm meist zwei Schritte von
der verhängnisvollen Türe entfernt noch ganz klar, gewiß, er würde nicht
erliegen, -- nicht einmal die Augen wollte er der Versuchung zuwenden,
-- ach, warum war er überhaupt durch diese Straße gegangen? Und welche
Gewalt war es, die ihn dann hinriß, eine scharfe Biegung auf die Türe zu
zu machen und sie aufzustoßen? Manchmal gelang es ihm, vorüberzukommen,
aber nach zehn Schritten kehrte er dann um und lief beinah zurück, mit
wässerndem Munde und die Faust in der Tasche um ein armes kleines
Geldstück geballt, manchmal auch ging er rasch, aufrecht, mit trotzig
vorgeschobener Unterlippe auf den Laden zu, und das meist, wenn er gar
kein Geld hatte und darauf rechnete, daß die Bäckersfrau ihm auf den
Namen und Stand seines Vaters hin Kredit geben würde. Hierauf konnte er
es kaum erwarten, den stillen Heckenweg zu erreichen, wo er die Tüte
öffnen und hastig und gierig über die Kuchen herfallen konnte, die er
verschlang, ohne recht zu kauen, atemlos, während ihm Tränen aus den
Augen liefen und er nur den letzten mit zögernder Andacht verzehrte. Da
nun der Hunger gestillt war, überkam ihn die schrecklichste Reue, wie er
dermaßen habe schwelgen können, ohne der Mutter und den Geschwistern, --
nicht allen, aber Friederiken etwa, der zweiten Schwester, die er
liebte, -- etwas abzugeben; er schämte sich fast zu Tode und mußte sich
doch von Zeit zu Zeit noch den Mund lecken, indem er langsam nach Hause
ging. Diese Sündenfälle wiederholten sich zu seiner Verzweiflung immer
wieder und sein Schuldkonto wuchs. Eines Tages ereignete es sich, daß
die dicke Bäckersfrau, nachdem sie eine Weile mit mürrischem Gesicht und
angelecktem Daumen in ihrem Rechnungsbuch geblättert und mit der
Stricknadel Zahlen zusammengezählt hatte, sich unter ihrer Haube kraute
und erklärte: »^You must pay me first, Master!^« und wenn nicht anders,
müsse sie sich an den Herrn Vater halten. Worauf sie das Buch zuklappte
und hinter George drein die Nadeln klirren ließ. Er schlich mit
hängenden Armen aus dem Dufte der Pastetchen, von so viel Härte wie von
einem Schlag ins Gesicht getroffen, -- einer Härte, die er im Grunde als
berechtigt anerkennen mußte; es hatte so kommen müssen, er hatte es ja
genau gewußt und hatte doch wie ein Blinder darauf los gesteuert. Der
Schweiß brach ihm aus, während er mit äußerer Fassung dahinging; er rang
nach Atem und fühlte sich von körperlicher Angst durchrieselt, -- hier
ging er, ein Verworfener, ein Verschwender, -- »verbrachte sein Gut mit
Prassen!« fiel ihm ein, -- und nun, in dem stillen Heckenweg, dem Zeugen
so vieler Sünden, angelangt, rang er buchstäblich die Hände. Die Folgen
seines Tuns waren ihm schrecklich klar, Zornesausbrüche und Schläge
seitens des Vaters, stille Tränen der Mutter, -- dies alles aber war
nicht so quälend wie die innere Überzeugung, es nicht besser verdient,
die Erkenntnis, sich miserabel benommen zu haben, so, wie er es nie und
nimmer von sich erwartet hatte, und daß andere nun Zeugen dieses
Zusammenbruchs werden sollten! Er hatte nicht mehr gebetet, seit jenem
Tag auf der »Mütterchen Elisabeth«, seit jenem betretenen »Du weißt es
also noch nicht, mein Sohn« des Vaters, -- nicht etwa aus
Prometheustrotz, sondern die Gewohnheit war von selber eingeschlafen, er
hatte sich ihrer begeben aus einer Erschöpfung der Hoffnungskraft
heraus, die einer schweren Erkrankung, einer seelischen Lähmung
gleichkam, -- jetzt in diesem Augenblick war zum erstenmal ein
gespanntes Gefühl stark genug, das angestaute Eis zu durchbrechen, die
innere Vergletscherung aufzutauen: er betete, er schrie und flehte
stumm, aber heiß und stürmisch mit aufgehobenen Händen um Errettung,
weniger vor der Strafe als vor der Demütigung, gelobte, zu einem jungen,
blühenden Kirschbaum als einem Vertreter Gottes aufblickend,
Selbstzucht, Reinheit, Enthaltsamkeit, geriet ins Schluchzen,
umklammerte mit den Händen die eigene schmale, tobende Brust und lehnte
an einem Zaun, um sich auszuweinen, jetzt schon erhört sich wähnend,
einfach durch die Linderung, die er nach diesem Ausbruch im Herzen
verspürte. Langsam nach Hause wandelnd, geriet er in eine sanfte,
traumhafte Stimmung, empfand Vogelruf und Baumesblüte, lichtblauen,
wolkendurchschimmerten Himmel und fächelnden Wind mit erstauntem Glück
wie unerwartete Zärtlichkeit, fand, sich noch einmal ungern an den Grund
seines Kummers erinnernd, daß er längst beschlossen habe, der Mutter
alles zu beichten, und gab sich dann ganz einer neuen schwärmenden
Seligkeit hin, die sein aufgepflügtes Herz hervorgehen ließ wie
kindliche Saat. Er war schon in die Straße eingebogen, an deren Ende
sein Ziel war, aber immer noch heiter und sorglos schreitend, von
unbekanntem Leichtsinn getragen, versuchte er eine Pfütze zu überhüpfen,
die er sonst wohl umwandelt hätte, und natürlich trat er hinein und
blickte ein wenig bestürzt und ernüchtert nieder auf das schwerfällige
linke Bein, dessen stramm sitzender grauer Strumpf mit Schmutzspritzern
bedeckt war, während der stumpfe Schnallenschuh einen betrüblichen
Gegensatz zu seinem blanken gepflegten Bruder darbot. Nachdenkend, ob es
wohl gegeben sei, das Schnupftuch hier anzuwenden, durchzuckte es ihn
plötzlich von den Augen zum Herzen, daß ihm das Blut einen Augenblick
stockte, und aus dem Schlamm einer Wagenspur hob er mit bebenden Fingern
auf, was golden dort blinkte, hielt es, lächelte verwirrt, zog nun
wirklich das Schnupftuch, rieb und putzte, ging dabei weiter wie ein
Schlafwandelnder, stand wieder still und starrte auf das kleine blanke
Ding in seiner Hand, das nicht verschwand, sondern dalag und glänzte,
sich erwärmte und sich ihm zum Eigentum gab: »O mein Gott,« dachte er
mit versagenden Worten, »wahr und wahrhaftig!« Es war eine Guinee. --

Da war er nun erhört, auf eine recht greifbare Art erhört, dermaßen
erhört, daß ihm der Segen den Schädel fast einschlug, und er sich
zunächst gar nicht zu sammeln vermochte. Er dachte seltsamerweise
zunächst an einen silbernen Fingerhut, den die Schwester Friederike sich
wünschte, und daß er ihn nun kaufen und ihr mitbringen könne, dachte an
ein kleines ausgezeichnetes Federmesser für sich selbst, dessen er
entschieden bedurfte, und dazwischen natürlich immer wieder an die
Bezahlung jener Schulden, aber gar nicht so, als habe der Himmel ihm
dies Goldstück nur eigens zur Errettung aus dieser Not und in
Beantwortung seines Hilfegeschreis in den Schoß geworfen. Er empfand
dunkel ein Mißverhältnis zwischen dem Rausch gelösten Gefühls von vorhin
und dieser glatten Erledigung aller Schwierigkeiten, ja, er war beinahe
geneigt, diesen Fund für einen glücklichen Zufall und nichts anderes zu
halten, denn er hatte seine Erhörung dahin, sie hatte einzig in der
wundervollen Erleichterung seines Herzens nach dem Gebet gelegen. Wenn
er nun betroffen innerlich Dank stammelte, so geschah es keineswegs mit
dem Jubel des von Gott mit Gnade Überschütteten, sondern
pflichtschuldigst. Ein leiser Widerschein der ersten Seligkeit kehrte
zurück, als er Friederiken sein Geschenk überreichte und das Aufleuchten
ihrer Augen sah; übrigens geschah dies heimlich vor den anderen und
selbst vor der Mutter. Er vertraute der Schwester sein ganzes Erlebnis
an, sah auf ihrem beglückten kleinen Gesicht alle Schattierungen des
Mitleids und des Staunens wechseln, wurde von ihr gestreichelt und sogar
ganz schüchtern geküßt und empfand männliche Rührung, teils über sich
selbst, teils über den Eindruck, den er hervorrief. Mit diesem Tage war
in seiner Brust etwas gelockert, er gab sich von nun an gern solchen
Rührungen hin und suchte sie sogar auf, er betete, rein um des Betens
willen, und war oft recht untröstlich unglücklich, ohne zu wissen warum.
Viel Zeit zu solchen Ergriffenheiten hatte er nicht, so vertrieb er sich
des Abends im Bett die Zeit mit ihnen, wie einst mit den grausigen
Spielereien, die das Labyrinth betrafen, an die er jetzt gewissermaßen
anknüpfte, indem er sich _Gott_ in den Mittelpunkt der Irrgänge gebannt
vorstellte und _seine_ Stimme dort hörte, nicht schaurig rollend, wie
die des Minotauros, sondern stark, schwingend und summend, in einer
Harmonie, deren Süße ihm den Brustkasten vibrieren ließ. Sich zu ihm
_hinzubeten_, das war's, was es jetzt galt, und er betete zielvoll,
inbrünstig, bis zum körperlichen Taumel, bis zur Betäubung. Friederike
ward mit in diese Ekstasen hineingerissen, nur, daß es ihr oft schwer
fiel, zu warten, bis das gesunde laute Atmen von Sophie und dem Bruder
Karl verriet, daß diese beiden, einer Teilnahme an dem Geheimnis nicht
Gewürdigten, eingeschlafen waren: sie ward müde, die kleine Friederike,
und gab keine Antwort mehr, wenn er endlich flüstern konnte: »Wachst du,
Riekchen?« --

Beim Vater fand er keinerlei Nahrung für solche Übungen, Herr Forster
hatte sich nun vollends gehäutet und wies nirgends mehr ein Kennzeichen
des preußischen Predigers auf, wenn er sich schon stets nach dem
Grundsatz richtete, daß ein Weltmann allezeit die Gefühle seiner
Umgebung schonen müsse. Indessen ging ihm denn doch die Freiheit des
Denkens über alles (und nebenbei war der Zwang der regelmäßigen
Lehrstunden im College wahrhaftig recht lästig!), und so hatte er sich
bald mit dem Rektor Sullenham und dem Reverend Holliday, seinen
unmittelbaren Vorgesetzten, gründlich überworfen, -- Fragen des
naturwissenschaftlichen Unterrichts gaben den Anlaß, welche die Herren
in den wolligen Perücken auf biblischer Grundlage, Herr Forster indes im
Sinne der Aufklärung behandelt haben wollte. Er zog sich aus dem College
zurück, blieb jedoch trotzig in Warrington und begann eine freie
Lehrtätigkeit, deren Aufblühen ihn hauptsächlich im Hinblick auf die
Bekniffenheit des ehrwürdigen Holliday zu freuen schien, dessen
Privatstunden nicht eben überlaufen waren. Daneben entfaltete er einen
in der Tat unermüdlichen Eifer im Übersetzen von Reisebeschreibungen,
und nacheinander schleppte er George mit sich nach Indien, an den
Mississippi und nach Cumana in Südamerika, wobei der Knabe,
hineingerissen in das rastlos arbeitende Räderwerk dieser brutalen
geistigen Maschinerie, die keine Erschlaffung kannte und auch bei andern
nicht anerkannte, Handlangerdienste zu leisten hatte und diesem
unerschrockenen Reisenden auf den Spuren von Kalm, Osbeck, Bossi und
Löffling atemlos im Urwald der Vokabeln Bahn hieb. Es war wahr, der
Vater war wieder von der stürmischen Tatkraft vergangener Jahre beseelt,
und die Zeit der Gebrochenheit schien George ein peinlicher Traum zu
sein, so völlig stand er von neuem unter dem Eindruck der Berechtigung
der ungleichmäßigen, aber immer heftigen Lebensäußerungen seines
Erzeugers, und war eins in dem Eifer stummer Botmäßigkeit mit der Mutter
und den Geschwistern. Hingen sie nicht von ihm ab, säugte er sie nicht
an seinem Busen wie der Riese im Märchen? Saßen sie nicht auf der Straße
ohne ihn? »Nun -- nicht wahr?« -- majestätisches Augenrollen um den
Tisch herum. Hinzufügung: »Auf der Straße hier im wildfremden Lande!«
Also! Und somit gerechtfertigte Besitzergreifung der beiden letzten
Hammelrippchen auf der Schüssel -- »Du warst doch satt?« -- zur Mutter
gewandt. Aber wie sollte sie anders! Übrigens gab es zwei
Persönlichkeiten im Hause, die bei solchen Gelegenheiten mürrisch wurden
und ihre Verstimmung unverhohlen zur Schau trugen, die Schwester Sophie
nämlich und den Bruder Karl, -- ja, es war erstaunlich und unerhört,
aber diese beiden widerstanden ihm mit Worten und Werken, und
sonderbarerweise ernteten sie nicht nur weniger Kopfnüsse als die andern
Kinder, sondern wurden gewissermaßen als ernst zu nehmende Gegner
angesehen, über die er sich zuweilen heimlich bei Frau Justine beklagte.
Fieken, ja, das war ein ganz gefährliches Kind, egoistisch und obstinat
nannte er sie, und der kleine Karl war gefräßig und futterneidisch, war
so etwas wohl erhört!? Hier habe die Edukation einzugreifen, sagte er
vorwurfsvoll, und zog sich zurück, nachdem seine Frau demütig und
erschrocken alles versprochen hatte. Nun hatte sie wieder ein paar Tage
damit zu tun, daß sie die Kinder innerlich vor ihm verteidigte, mit der
Frage: Woher hatten sie's denn, dies Wesen, -- etwa von ihr? Und welches
andere von den Kindern war ihm so ähnlich wie Fieken, -- sah er das
nicht selbst, und konnte er sich in dem kleinen Karl nicht spiegeln?
Doch hielt sie solche Gedanken für schwere Anfechtungen und fast schon
für Übertretungen des sechsten Gebotes. Zu ihm aufsehend vergaß sie
Heimweh, Unzufriedenheit und Ermüdung; er war der Herr und sie sehr
schwach und unwürdig. Bitterkeit war Sünde, -- mein Gott, daß sie auch
immer wieder da hinein verfiel! Und sie beugte sich über ihre Arbeit,
sie schaffte von früh bis tief in die Nacht, die Kleinsten wärmten ihr
Herz, Fieken unterstützte sie auf rauhe aber tatkräftige Weise, mit
George aber und Riekchen lächelte sie manchmal mitten unter Tags, als
tauschten sie ein heimliches Zeichen. --

Sie fanden alle, daß es so hätte weiter gehen können, -- wer das nicht
fand, war Herr Forster. »Aber, meine Teure,« sagte er, »hattest du
wirklich angenommen? Du bist überrascht? Nun, in der Tat ...« Er blickte
wieder in den Brief, den ihm die Post gebracht hatte, lächelte abwesend
und streichelte sein Kinn. Endlich nun, nach zwei Jahren, hielt
Dalrymple Wort, er machte ihm den Vorschlag, ihn nach Ostindien zu
begleiten, -- »Ostindien, George!« -- auf eine Insel, ein Inselchen im
heißen blauen Meer, Balangbangan hieß es, wo die Ostindische Companie,
dies unvergleichliche Institut, unter seiner, Dalrymples Leitung eine
Niederlassung gründen wollte. Ohne erst Zeit mit dem Einziehen von
Erkundigungen zu verlieren, brach Herr Forster seine Zelte ab, das
heißt, er selbst eilte seiner Familie voran nach London und überließ es
seiner Frau, den Umzug zu leiten, eine unendlich mühselige Unternehmung.
George war von neuem von dem seltsamen Fieber ergriffen, das ihn damals
in des Vaters erster Projektenzeit beherrscht hatte, zerrissen zwischen
der Teilnahme für die Mutter und einer prickelnden Neugier auf das
Kommende, der Spannung, Dalrymple wiederzusehen, und dem erlösenden
Gefühl, daß eine Veränderung der Arbeits- und Lebensweise bevorstehe,
wie er sie, halb unbewußt, ersehnt hatte. Als es sich nun herausstellte,
daß dieses hastige Abbrechen gesicherter Beziehungen und der
Familienaufbruch nach London ergebnislos gewesen waren wie ein Schlag
ins Wasser, als es klar zu Tage trat, daß Herr Forster wieder einmal
Anfragen für Versprechungen genommen hatte, daß er gewissen Ansprüchen
nicht zu genügen schien, -- hier war Intrigue am Werk gewesen, man hatte
ihn verleumdet, ihm einen windigen Charlatan vorgezogen! -- als die
Familie gerade in der Stunde mit der hochbepackten Mail-coach durch das
New Gate einfuhr, als Mr. Dalrymple in See stach und Herr Forster
sozusagen ohnmächtig auf dem Themsekai tobte, -- da machte sich die
Wucht wiederholter Erfahrung doch im Gemüte des Knaben geltend. Dunkel
empfand er Glücksjägertum und den Mangel an Würde, den es voraussetzte;
eine dumpfe Beschämung belastete ihn im Hinblick auf Dalrymple, von dem
er sich ganz persönlich verachtet und verworfen vorkam. Der Vater
mietete nun eine kleine Mansardenwohnung in Warwick Lane und eine Zeit
verzweifelter Bemühung um das tägliche Leben begann, um so bitterer
empfunden, als da hinten in der lichten Frühsommerlandschaft Warrington
mit seinem Häuschen und dem geliebten kleinen Stachelbeergarten lag, wie
ein Paradies, dessen Pforten man mit frevelhaftem Leichtsinn hinter sich
zugeschlagen hatte. Daß die Mutter und die älteren Schwestern für Geld
Stickereien anfertigten, war quälend genug mitanzusehen, nun aber geriet
der Vater auf den Gedanken, daß er, George, für seine Jahre mehr leisten
könne, als er es am Schreibtisch zu tun vermöchte, daß, -- er sagte es
sonderbar unumwunden, -- seine Kraft besser ausgemünzt werden müsse, er
kam auf den furchtbaren Gedanken und führte ihn ohne Zögern aus, George
bei einem Kaufmann in die Lehre zu geben, einem Mann, namens Hitch, der
mit Tuchen handelte und sein äußerst respektables Geschäft in der
innersten City nicht weit vom Temple hatte. Daß dies hieß, einem
Zahnlosen Nüsse zu knacken zu geben, oder von einem Fisch zu verlangen,
auf dem Trockenen zu leben, kam Herrn Forster nicht in den Sinn, als er
eines Morgens den blassen Jungen mit der ihm eigenen Wichtigkeit seinem
Chef vorstellte. Er hatte sich nicht darin verrechnet, daß George sein
Bestes tun würde, -- oh, gewiß, er tat seine Pflicht, und, das grüne
Tuch über dem Arm, lief er stundenlang kreuz und quer durch die tosende
Stadt, eine arme kleine Ameise unter Millionen anderen, immer in der
Gefahr, zerdrückt oder zertreten zu werden, sich in dem ungeheuren
Gewirr der sich teuflisch gleichenden Gäßchen verirrend, sich
abängstigend und der blutlosen Strenge seines graugekleideten Herrn
gewärtig, wenn er zu spät kam, -- einen beständigen Jammer dabei in der
Brust, eine Sehnsucht nach einem stillen Eckchen, nach seinem Tischchen
in Warrington mit den Büchern und dem allerliebst geordneten
Schreibgerät, -- Erinnerungen nachhängend, soweit sein erschöpftes
Gehirn sie hervorbringen wollte, von der Wolga träumend und eingedenk
des Janusch, -- später über Rechnungsabschlüssen, die er ausführen
sollte, völlig versagend und mit puritanischer Ironie von Mr. Hitch
Esqu. vernichtet, -- so brachte George die Tage dieses unglücklichen
halben Jahres hin, während der Bruder Karl daheim an seiner Stelle
Wörterbücher wälzte und den Vater unterstützte, wobei es allerdings
weniger still und feierlich zuging, als früher, denn Karl quittierte
recht hörbar mit Brummen und Schreien über Tadel und Züchtigung, und
zudem war in der Bücherei und unter den Manuskripten bald eine Unordnung
eingerissen, die George ins Herz schnitt, wenn er abends müde und stumpf
nach Hause kam. Um Weihnachten herum, nachdem er sich in dem
fürchterlichen gelben Nebel draußen, den man fast kauen konnte und der
seinen Lungen widerstand, als sollten sie Wasser einatmen, nachdem er
sich also einen Husten geholt hatte, in Wahrheit einen ^bad cough^, den
Mr. Hitch schon allein des unmusikalischen Geräusches wegen mißbilligte,
nahm ihn der Vater mit einem stoßweisen Entschluß aus dem Geschäft
heraus, aus Gesundheitsrücksichten angeblich, im Grunde jedoch, weil er
die Plage mit Karl satt hatte, der nun seinerseits in ein Kontor
wanderte, wo er sich trotz seiner Jugend als bedeutend brauchbarer
erwies als am Schreibtisch und als viel anstelliger als George. Dieser,
an sein Tischchen zurückgekehrt, erschien dem König Minos zunächst als
gänzlich verwahrlost, als völlig verblödet, so viel schien er verlernt
zu haben; er wurde angeschrien und das Pfeifenrohr fuchtelte ihm um den
Kopf, ohne daß es mehr bewirkte, als daß er sich duckte und auch dies
für Gewinn hielt. Endlich ward unter Gemurr die Erlaubnis erteilt, daß
Frau Justine ihn für einige Tage pflegte, sie bettete ihn in ein Bett
allein, -- sonst teilte er das Lager mit Karl, -- und erreichte es, daß
er nach einer Woche Essens und Schlafens wieder lächelte und sprach,
denn dies beides schien ihm verlorengegangen zu sein, und eine
Gewohnheit tief und stöhnend aufzuseufzen, blieb ihm aus dieser Zeit
körperlicher Frone zurück. Endlich wieder imstande, der alten
Beschäftigung nachzugehen, erfüllte er seine Aufgabe zwar artig, sanft,
liebenswürdig und außerordentlich akkurat und korrekt bis ins kleinste,
aber doch etwa so, wie ein blindes Göpelpferd im Kreise geht. Zuweilen
dachte er an seine erste Kindheit und verglich: es war alles wie einst,
nur daß sie enger und ärmlicher wohnten, daß draußen die gewaltige Stadt
toste und daß er die Mutter nun fast überragte, wenn er neben ihr stand.
Als der ^bad cough^ und die Heiserkeit im Frühjahr endlich überstanden
waren, hatte er eine tiefe Stimme bekommen, er war nun in der Tat kein
Kind mehr und hätte nicht mehr spielen mögen, selbst wenn er die Zeit
dazu gehabt hätte; auch an jene Gebetsekstasen dachte er unbehaglich
zurück, wie an etwas Unwürdiges. Er studierte, er las, -- er schrieb
nach Diktat, er machte Auszüge, er übersetzte, sein Blick bekam etwas
Gedecktes, als sehe er beständig gegen eine Wand, -- die Zeit ging hin,
er war siebzehn Jahre alt, und: »Georgie,« sagte die Mutter eines
Abends, als er sie am Arme durch Pall Mall führte und sie lächelnd von
den Eigenschaften der Schlupfwespe unterhielt, ohne dem
vorübergaukelnden bunten und eleganten Leben, ohne schönen Pferden oder
strahlenden Frauen einen Blick zu schenken, -- »mein Georgie, -- _wann_
wirst du jung werden?«

                   *       *       *       *       *

»Man lobt dich in der Stille, du mächtiger Herr Zebaoth«, brummte Herr
Forster mit pfiffigem Gesicht vor sich hin, indem er die Treppe
emporstieg, sich haltlos einer Erinnerung an seinen Predigerberuf
überlassend und durchaus nichts weiter ausdrücken wollend, als dies, daß
es gut sei, Projekte für sich zu behalten, bis sie reif wären,
unterirdisch zu wühlen, wie der Maulwurf. Er übersah dabei, daß der
Maulwurf, ohne es zu beabsichtigen, seine heimliche Tätigkeit doch nicht
verbergen kann und daß eine Schwangerschaft, ob sie schon wesentlich im
Dunklen sich vollzieht, sich dem Auge aufdrängt. Somit war es für George
und seine Mutter längst nur noch die Frage, _was_ sich wohl vorbereite,
wes Geschlechtes und Aussehens das Kind sein würde, dessen Geburt um so
zweifelloser bevorstand, als Herr Forster immer schwangerer wurde, was
sich in einer peinlichen Zerstreutheit und Unruhe, erhöhter Reizbarkeit
und täglichen Ausgängen zeigte, von denen er äußerst nachdenklich
zurückzukehren pflegte.

»Na, da staunt ihr?« sagte er herablassend, sah aber zugleich etwas
verstimmt von einem zum anderen: denn die Familie zeigte sich viel
weniger aus den Wolken gefallen als er es zur Belohnung für seine lange
Enthaltsamkeit erwartet hatte. Frau Justine nickte ergeben, als habe sie
derartiges befürchtet, -- aber, mein Gott, nun gleich die Südsee, -- wo
lag sie doch nur? Und ihr Blick schweifte hilflos zu dem Globus hinüber,
der auf dem Bücherbord stand. Herr Forster hielt seine Augen mit einem
sonderbar strahlenden Ausdruck auf George gerichtet, der ihn freundlich
und aufmerksam anblickte und sich nun auch erhob, um den Tisch herumkam,
dem Vater die Hand küßte und herzlich sagte: »Welche Freude, teurer
Papa!« aber mehr so, als freue er sich des Glückes eines anderen und
nicht seines eigenen, -- dieses unglaublichen, dieses einzigartigen
Glückes, daß er, in seinem siebzehnten Jahr und ohne weiteres Verdienst
als jenes, das der Besitz eines außergewöhnlichen Vaters verlieh, mit
eben diesem Vater den großen Kapitän Cook auf seiner zweiten Weltreise
begleiten sollte. Dies, kein Projekt mehr, sondern handgreifliche
Gewißheit, ein Ding, das sich von heut auf morgen aus der Puppe bloßer
Pläne und Verträge in glanzvolle Wirklichkeit entfalten sollte, war's,
was Herrn Forster berauschte und auf Flügeln trug, so daß er um zehn
Jahre verjüngt einherschritt und sich den Geschäften der Vorbereitung
aufs liebenswürdigste widmete, indem er anordnete, widerrief, Bücher,
Instrumente, Arzneimittel und die überraschendsten Gegenstände, die er
zur Reise für nötig hielt, aufhäufte, so daß es kaum noch
menschenmöglich war, ein System der Ordnung hineinzubringen, -- George
aber machte es möglich, -- und indem er vor allen Dingen in Begleitung
von Karl in die Bazare ging und von dem Geld, das ihm bereits zur
Verfügung gestellt war, in unbedenklicher Großartigkeit Einkäufe machte
an Wäsche, warmen Kleidern, -- dabei hatte man noch das russische
Pelzwerk, fast neu und von Frau Justine sorgfältig vor Motten geschützt;
sie seufzte ein über das andere Mal --, an Glashäfen und Herbarien und
an Tabak, besonders an Tabak! Daß man sich in der Umgebung des Südpols
aufhalten würde, wo es, -- erstaunlich, aber nicht zu bezweifeln, --
ebenso kalt war wie am Nordpol, wenn nicht gar kälter, -- daß man in der
Südsee, -- diese aber war heiß, fast kochend! -- von Insel zu Insel
schlendern würde, der Menschenfresser gewärtig und ähnlicher Zufälle, --
dies bildete den Gesprächsstoff der nächsten Mahlzeiten, wozu Frau
Justine ratlos und bange aussah, während George ihr aufmunternd
zulächelte. Zudem ward immer wieder betont, daß es sich um jahrelange
Abwesenheit handeln würde, -- jahrelang! -- und mit den Schicksalen
aller möglichen Seefahrer der letzten Jahrzehnte ward die
Wahrscheinlichkeit, daß man überhaupt nicht wiederkehren würde,
ausführlich in Betracht gezogen, ja Herr Forster schwelgte förmlich in
der Ausmalung aller Möglichkeiten eines martervollen Todes, etwa durch
Verdursten in einem kleinen Boot inmitten einer unabsehbaren
Wasserfläche, -- besonders qualvoll das, meine Liebe, man fühlt sich an
Tantalus erinnert! Selbst ziemlich unberührt durch all diese Erwägungen,
die er mit großen Augen und gerunzelter Stirn von sich gab, da sie ihm
nicht mehr als eine gesunde Emotion der Phantasie bedeuteten, gelang es
ihm doch, ohne es zu beabsichtigen, in George und seiner Mutter eine
Stimmung von Abschied fürs Leben zu erzeugen, der sie sich am letzten
Abend mit vielen Tränen überließen. Die Vorstellung, in diesem fremden
Lande mit Karl als einziger männlicher Stütze zurückbleiben zu sollen,
löste ähnliche Gefühle in Frau Justine aus wie die eines an morschem
Seil über einem Abgrund Schwebenden, obgleich, -- papperlapapp! -- für
sie und die Kinder gesorgt war, vollauf gesorgt durch einen Teil der
Reiseentschädigung, die die Regierung ihr in Gestalt einer Pension
auszuzahlen angewiesen war, -- also nochmals papperlapapp! Daß er nun
einen Wechsel auf die Zukunft in der Tasche hatte, denn, -- gesetzt den
Fall, man kehrte glücklich heim! -- er würde durch die Beschreibung der
Reise, die ihm übertragen, die seine ganz besondere Aufgabe war, Ruhmes,
Reichtums und der Anwartschaft auf die größten europäischen Lehrstühle
gewiß sein, -- das natürlich wurde wieder einmal nicht ins Auge gefaßt.
Freilich, -- denn was das Motiv von Justinens traurigen Gedankengängen
bildete, was immer wiederkehrte, wenn sie stumm und ergeben zu ihm
aufsah, der so prächtig, gesund und von Leben strotzend war und den sie
doch liebte, -- wenn ihr Blick auf George ruhte, der so bleich und
kränklich schien, -- dies Motiv, -- o, wer wollte es ihr verdenken und
wer verstand es nicht, daß es hieß: ... und gesetzt den Fall, sie
kehrten nicht zurück ...?

                   *       *       *       *       *

Das Schiff war ein Erdteil für sich. War ein Weltkörper, im Raume
schwebend und blindlings Gesetzen folgend, die seinen Lauf von dem der
Gestirne abhängig machten. War, -- gleichzeitig, -- zusammengesetzt aus
allen Stoffen der Erde bis zu ihrem feinsten, dem Menschenhirn, -- ein
selbständiges Wesen, denkend und zielbewußt und von harter
Entschlossenheit, seinem Namen gemäß: ^The Resolution^. War, -- ein
Schiff! -- weiblich, mit ausladendem Schoß und zärtlichem Schwung der
Linien, von männlichem Geiste gelenkt und ihm dienstbar, -- Heimat
diesem Geiste, wie die Insel dem Zugvogel im grenzenlosen All des
Ozeans, wo Himmel und Wasser ineinander übergehen und oben nicht mehr
von unten zu scheiden ist. War Zuflucht, Obdach, Mutterschoß und
nährender Boden den Männern, die auf ihm zusammengedrängt ins Unbekannte
fortgerissen wurden, ausgeliefert an Wind und Wogen, freiwillig
ausgeliefert, hingegeben allen Gefahren und sie nutzend und meisternd,
bis ans Äußerste ihrer Spannkraft geladen mit der Lust des Siegers,
dauernd auf der Hut und des Todes gewärtig. Diese Männer --
hundertundzwölf an der Zahl, -- und das Schiff waren in einem Verhältnis
wie Mann und Weib von Anfang her. Es war ihnen Mutter und Geliebte, sie
beteten es an und traten es mit Füßen, seine Schönheit war ihnen
köstlich, sie schmeichelten ihm und sorgten für seinen Schmuck; aber sie
machten kein Heiligtum aus ihm, nichts weniger als das, kein segelndes
Kloster. Denn dafür haßten sie es ja, daß es ihnen diese Enthaltsamkeit
auferlegte und sie an sich band wie mit Ketten, und dafür rächten sie
sich in ihrer Art, daß bald kein Fleck auf ihm war, den der giftige
Brodem ihrer unterdrückten Triebe nicht verpestete. Indes, das Schiff
blieb, was es war, wundervoll sich wiegend und die Wellen im Spiele
nehmend, lächelnd im Glanze der geschwellten, leuchtenden Takelage, sich
unterwerfend scheinbar und dennoch herrschend, voll Unberechenbarkeit
und dauernder Aufsicht bedürftig, -- aber auch gut, warm, schützend wie
nichts auf der Welt. Es war so vorzüglich ausgerüstet wie nie zuvor ein
Schiff gewesen war, es führte Proviant für Jahre, es hatte unendliche
Fässer voll Sauerkohl, voll Maische und Orangenmarmelade, um seine
Kinder vor Skorbut zu bewahren, es hatte Steinkohlen, um der Polarkälte,
Sonnensegel, um dem stählernen Glanz des Tropenhimmels zu widerstehen,
es hatte Ballen von wärmenden Kleidern, -- und es hatte, -- wer durfte
es bezweifeln, -- die großartigste Mannschaft, die untadeligsten
Offiziere, den scharfsinnigsten Astronomen, den bewundernswertesten
Maler, den vorzüglichsten Wundarzt, -- es hatte, -- und dies war am
wenigsten zu bezweifeln, -- den besten Kapitän seiner Zeit und
schließlich: es hatte Reinhold Forster, hatte Forster und Sohn an Bord!
War es ein Wunder, daß dieses Schiff den Ozean unter sich trat wie der
heilige George jenen Lindwurm?

Es war natürlich kein Zweifel, daß jeder dieser hundertundzwölf Männer,
aufwärts vom kleinsten Schiffsjungen bis zum Haupte des Ganzen, Kapitän
Cook, -- oder war es Herr Forster? -- das Schiff als _sein_ Schiff
betrachtete, als die Planke, die ausgerechnet _ihn_ vom Tode trennte,
als den Vorrat, der _ihn_ vor dem Verhungern bewahrte, und nicht zuletzt
galt jedem einzelnen die ganze übrige Besatzung als zwar einzig um
seinetwillen vorhanden, aber auch als der unberechenbarste, am
gefährlichsten zu behandelnde Teil seiner Reiseausrüstung, dessen man
sich mit äußerster Vorsicht zu bedienen hatte. Wohl, man war aufeinander
angewiesen, der Kapitän war nichts ohne die Mannschaft und die
Mannschaft eine Enthauptete ohne ihn, der einzelne Mann brauchte die
Kameraden wie die Finger einer Hand einander brauchen, und wären die
Herren Gelehrten nicht an Bord gewesen, welchen Zweck hätte alsdann der
ganze Aufwand von harter Arbeit und den Bergen von Guineen gehabt, die
Billy, der Koch, sich und den übrigen Burschen als das Ergebnis mühsamer
Berechnungen auszumalen liebte? Jedoch war nicht zugleich einer des
andern bitterster Feind, -- oh, nicht ausgesprochen, aber lag nicht
solche Feindschaft in ihnen allen schon in der Knospe, bereit, geil
auszuschlagen, sobald die Verhältnisse ihr günstig sein würden? Konnte
man einander lieben, wenn man nicht Wochen, nicht Monate, nein, Jahre
denselben engen Raum miteinander bewohnen sollte, ohne eine Möglichkeit,
sich aus dem Wege zu gehen? So etwas in Betracht ziehen hätte geheißen
den Teufel an die Wand zu malen, und Kapitän Cook hätte die Möglichkeit
solcher Menschlichkeiten auf einem seiner Schiffe nie zugegeben, schon
weil er selbst innerlich so durchsichtig und reinlich arbeitete und so
sachlich war wie nur einer von Mr. Wales', des Astronomen,
vortrefflichen Chronometern; weil er außerdem vollständig davon
überzeugt war, -- und mit einigem Recht überzeugt, -- die wichtigste und
unantastbarste Person der Unternehmung zu sein und seine Macht mit einer
Selbstverständlichkeit handhabte, die die Atmosphäre gesund erhielt und
wohltuend wirkte, -- es sei denn auf Individuen, die die Ausdehnung
dieser Machtbefugnis anzweifelten. Das fiel nun keinem ernstlich ein,
außer Herrn Forster, dem leider eine Verwechslung Kapitän Cooks mit
jenen wackeren Männern und Seebären unterlief, mit denen er bisher seine
Erfahrungen gemacht hatte, dem Schipper Mandeweit ergötzlichen Andenkens
und dem eskimopelzigen Väterchen mit den blanken Tranaugen, das sie
sicher an Kattegatt und Skagerrak vorbei geleitet hatte. Herr Forster
hatte, -- bedauerlicherweise! -- von jeher Kapitän Cooks Erfolge, auf
die ganz England stolz war, nicht ernst genommen und war mit der
bewußten Absicht an Bord gegangen, »dem Burschen« für diesmal seine
Anmaßung zu legen und es nicht zuzulassen, daß er ehrwürdige Gelehrte
wieder um ihren verdienten Ruhm brächte. Er war also mit dem ihm nötig
erscheinenden Nachdruck aufgetreten, und noch ehe man das Kap erreichte,
hatte er es fertiggebracht, daß die Beobachtung des Verhältnisses
zwischen ihm und dem Kapitän den anderen Herren ein Anlaß heiterer
Spannung bildete, während George qualvoll darunter litt.

Bis zum Kap war die Reise einigermaßen abwechslungsreich gewesen, -- man
hatte Madeira und die Kapverdischen Inseln angelaufen und erfreute sich
überhaupt mit noch frischer Empfänglichkeit aller Eindrücke und des
köstlichen Müßiggangs dieser beiden ersten träumerischen Monate, als man
unter günstigem Wind an Afrika entlang segelte und nichts zu tun hatte,
als die Seele der Verwunderung über die Grenzenlosigkeit der Erde zu
überlassen, ähnlich wie damals, als man in der Kibitka durch das heilige
Rußland schaukelte, das auch kein Ende nehmen wollte. Im Tagebuch wurde
allerlei Ergötzliches vermerkt, Delphine und fliegende Fische, Wale, die
auf der scharfen Linie des abendlichen Horizontes ihre Fontänen gegen
den goldenen Himmel springen ließen, die großen Glocken der Quallen,
durchsichtig wallend und in den zartesten Farben wechselnd, wie sie das
Schiff tagsüber umgaben, und nachts die Wandlung des Meeres in eine
geheimnisvoll bewegte bläuliche Glut, von langen weißen Blitzen
durchwandert und funkensprühend, welches Phänomen Herr Forster aufgeregt
prüfte und über seine Ursache mit Mr. Wales in einen Streit geriet. Als
jedoch das Kap hinter ihnen lag und mit ihm für Jahre die letzte
Berührung mit Europäertum, als von all den gefühlvollen Abschiedsfeiern
und aufregenden Exkursionen ins Innere des Landes nichts geblieben war
als eine greifbare Erinnerung in Gestalt des Doktor Sparrmann, eines
dicken kleinen Schweden, der mit einer Hornbrille, einem
Schmetterlingsnetz und einer Botanisiertrommel im letzten Augenblick an
Bord gekommen war, -- »um einen kleinen Luftwechsel zu haben«, wie er
sagte, -- als es südwärts ging und immer noch südwärts, und dennoch mit
jedem Abend der Wind eisiger blies und die Wellen verlassener brüllten,
-- da begann das Gefühl des Abenteuers, des Losgelöstseins von aller
Verantwortlichkeit, -- da begann die _Gefahr_. Nicht die Gefahr allein,
die hinter den Eisbergen lauerte, die ihnen nun Tag und Nacht
begegneten, gespenstisch aus dem Dunst hervorwachsend und mit bösen
kaltem Drohen vorübergleitend, nicht die Gefahr jener wölfischen
Krankheit, gegen deren Überfall Kapitän Cook nicht genug Vorkehrungen
treffen zu können meinte, zum Verdruß Herrn Forsters, denn diese
Maßnahmen bestanden zum Teil in einem immer wiederholten Lüften der
Schiffsräume und im täglichen Säubern des Fußbodens mit Strömen von
Wasser, somit gab es fortwährend Zug und Glatteis, -- nein, nicht solche
Gefahren allein. Es gab nun auf einmal kein England mehr, keine Heimat,
keinen König, kein Gesetz. Hier regierten Winter und Meer, Gewalten,
denen nicht zu gehorchen war, sondern denen man sich mit
zusammengebissenen Zähnen entgegenwarf, sie waren unerträglich, äußerst
widermenschlich. Hier herrschte also der Kampf, der Krieg, die
beständige Schlacht: fortwährende Todesgewißheit und darum das
Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen um jeden Preis. Daneben sank jedes
Gefühl, das bisher in Fleisch und Blut übergegangen schien, in nichts
zusammen, erwies sich als gedankenhaft blaß, ja als ein schlechter
Scherz, wenn man es dem Hunger entgegenstellte. Oder war dies die große
Prüfung, in der jeder zu beweisen hatte, inwieweit er gefeit war, war
dies eine Zumutung des Schicksals, war dies etwa eine Gelegenheit, sich
zum Geist zu bekennen? -- -- --

»Petersburg!« dachte George, wenn ihm des Morgens die Kälte ins Antlitz
fletschte, und er lächelte innerlich verächtlich. Er kannte sie jetzt,
diese Anläufe des Satans, und er war ihnen gewachsen. Ob sie ihm
unangenehm war, die Kälte, ob sie ihn in Nase und Ohren biß, seinen
Hauch gefrieren machte, noch ehe er die Brust verlassen hatte, ob sie
ihm Finger und Zehen fast zerbrach? Allerdings war sie ihm unangenehm,
allerdings, allerdings! Aber wer merkte es ihm an? War denn den Matrosen
etwas anzumerken, fror ihnen nicht die Haut ihrer Hände an den eisigen
Trossen und Tauen fest und lachten sie nicht trotzdem bei ihrer Arbeit?
War den Offizieren etwas anzumerken, dem kleinen Leutnant Bligh etwa,
der seinen Dienst bei Tag und Nacht versah und nichts danach fragte, ob
Eisnadeln in der Luft waren oder ob das Schiff durch die Finsternis
sauste wie in einen gähnenden heulenden Schlund gezogen? Und endlich, --
der Kapitän! Sich vor dem Kapitän schwach zu zeigen, schien ein Ding der
Unmöglichkeit. Cook widerstand dem Winter mit seinen eigenen Waffen, der
ganze Mann schien eisig und kristallen, seine Art und Weise hatte etwas
an sich, das durch Mark und Bein drang wie der Frost und darum sehr
einprägsam, ganz unwiderstehlich war. Er war gleichmäßig, er war
unerschütterlich, er hatte den Tag in der Gewalt, und es geschah nichts,
was er nicht bis ins Kleinste vorausbestimmt hatte. Die Luftströmungen
strichen durch ihn hindurch und seine Nerven bewegten sich noch ehe sie
davon erreicht waren: er ahnte Temperaturstürze voraus, er ließ Pelzwerk
austeilen und bestellte schon am Morgen den steifen Grog, den es am
Abend zu geben hatte, so daß die Mannschaft mehr den Eindruck einer
Extraration als einer Vorbeugungsmaßregel hatte. ^Well, Jimmy was a
smart fellow^, jedoch blieb er unter allen Umständen ganz ausgesprochen
und unantastbar der Herr, eisblaue Augen unter den blonden Brauen in dem
rötlichen festen Gesicht und den Mund zu einer schönen schmalen Linie
geschlossen. Er gab sehr knappe Befehle zum Besten der Besatzung und des
Schiffes aus, indessen war das ganze Schiff so sauber und behaglich, war
die Küche so abwechslungsreich und vorzüglich, als leite eine Mutter
diese Angelegenheiten. Er selbst jedoch schlief in einer Hängematte wie
der letzte Mann, und seine Kabine ward kaum je durchwärmt, er brüllte
nicht nach Federbetten und Kohlenbecken wie gewisse andere Leute, o
nein, aber er hatte auch keine große Achtung vor jenen andern Leuten,
das war klar. Schon darum war es ausgeschlossen, zu jenen andern Leuten
zu gehören, und daß er in einem so nahen verwandtschaftlichen und
abhängigen Verhältnis zu ihnen stand, das war George oft außerordentlich
schmerzlich und beschämend. Indessen konnte er es sich erleichtert
eingestehen, daß niemand ihn für das paschahafte Auftreten seines
Erzeugers verantwortlich machte, und wenn sie ihn »Lady George« nannten,
so entbehrte das völlig eines höhnischen Beiklanges, und er wußte im
Stillen ganz gut, wußte es mit einem heimlichen verschmitzten Lächeln,
daß er sich gern so nennen hörte, um der Schonung und leisen
Zärtlichkeit willen, die in dieser Bezeichnung lagen. Die ersten
Reisemonate hatten ihm merkwürdig wohlgetan, die paradiesische Zeit der
Wolgareise schien morgenrötlich verjüngt zurückgekehrt zu sein, und nach
den staubigen Jahren der Sklaverei und des Krummsitzens dehnte und
breitete sein Körper sich nun unter dem weiten Himmel und dem
beständigen Durchströmen der reinen feuchten Luft wie eine verkümmerte
Pflanze, die endlich in bekömmliches Erdreich gesetzt ist. Die gute
Ernährung und das Aufhören jeglichen Zwanges zur Tätigkeit taten das
ihre dazu und das Wunder begab sich: George ward jung. Ja, der Äquator
lag schon hinter ihnen, es war etwa auf der Höhe von St. Helena, als
ihnen auf einmal die Augen darüber aufgingen, daß sie einen Knaben an
Bord hatten, einen schlanken, hübschen Jungen voller Diensteifer und
einer gewissen feurigen Bescheidenheit, besonders dem Kapitän gegenüber,
-- mit einem Ausdruck schalkhaften Glücks in den guten, grauen Augen,
wie ihn Gesundheit und heiter spielende Laune verleihen, und diese
Entdeckung war um so überraschender für sie, als die meisten von ihnen
sich nur an ein grises und mageres Männchen erinnerten, das in Plymouth
mit Sr. Majestät Herrn Forster an Bord gekommen war, einen
stubenfarbigen Jüngling von gedrücktem Aussehen und greisenhaftem
Benehmen, mit dem der junge Forster jetzt nur die Blatternarben
gemeinsam hatte, die ihm freilich geblieben waren. Möglich, daß der
Kapitän die Veränderung beobachtet hatte, denn er hatte George von
Anfang an bei Tisch neben sich gehabt und in einer sehr wortkargen aber
zwingenden Manier für die Auffütterung des jungen Menschen Sorge
getragen. Nun, da die anderen hinter den Erfolg dieser Bemühungen
gekommen waren, als George vergnügt, plauderhaft und ausgelassen wurde,
kurz, eine vom Himmel gefallene Unterhaltung für die ganze Messe, da
schmunzelte dieser Kapitän und bekannte sein Wohlwollen ganz unumwunden.
»^Where is my lady?^« pflegte er zu fragen, wenn er die Kajüte betrat,
wo man sich zum Essen versammelte, und dann bot er George den Arm und
führte ihn an seinen Platz, welches scherzhafte Auftreten ihm ein wenig
fremdartig zu Gesicht stand, -- ungewohnt, -- aber immerhin, es stand
ihm zu Gesicht.

Alles in allem, die Sache war die: George war auf einmal jung, weil hier
niemand ihm etwas anderes zutraute als was seine Jahre, -- sechzehn,
siebzehn Jahre, in der Tat! -- voraussetzten: holde Eselei,
Traumverlorenheit, ein Kaulquappenschwänzchen, das heiter stimmen
mochte, wenn es unversehens zum Vorschein kam, Verantwortungslosigkeit
also, Jugend, Jugend, die alle diese hart arbeitenden oder gealterten
Männer wie einen Luxusgegenstand empfanden, den sie selbst sich nicht
leisten konnten, auf den sie aber um alles in der Welt nicht verzichten
wollten, und den sie darum hier, wo er so einsam unter ihnen glänzte,
mit einer gewissen Rührseligkeit betrachteten und ihn seiner Kostbarkeit
gemäß behandelten. George war ein wenig in Verlegenheit gesetzt, fühlte
sich dieser allgemeinen Nachsicht nicht recht gewachsen: wußten sie denn
alle nicht, daß er, dem sie begegneten, als habe er bisher nur in
Rosengärten gespielt, ein armes, gedrücktes Arbeitstier war, ein Sklave,
ohne Anrecht auf Heiterkeit? Er ließ gelegentlich etwas von seinen
Kenntnissen durchblicken, -- nun, konnte man das alles wissen, ohne von
Kindheit an im Joche der Gelehrsamkeit gegangen zu sein? Und wußten sie,
was das zu bedeuten hatte? O, er wollte nicht täuschen und enttäuschen,
den ganzen dunklen, ungeheuren Ernst, der sich in den letzten Jahren von
seinem Herzen aus über sein ganzes Wesen ausgebreitet hatte, bot er auf,
um sie von seiner wahren Natur zu überzeugen, aber er erreichte nichts,
als daß sie ihn scherzend bewunderten und sein Wissen und Können nur als
eine Folie zu betrachten schienen, von der seine übrige anmutige
Unbeholfenheit sich um so reizvoller abhob, -- kurz, er konnte es sich
nicht vorenthalten, daß irgendeine Wirkung von ihm ausging, für die
bisher niemand empfänglich gewesen war, deren Ursache ihm selbst
unbekannt und die vielleicht bisher überhaupt gebunden gewesen war. So
gab er denn nach und ließ sich gehen, und siehe da, es war leicht, es
war angenehm, sich gehen zu lassen; es atmete sich freier, dünkte ihn,
und so vielem Wohlwollen gegenüber kam die Tyrannis des Vaters nicht
mehr zu ihrem alten Recht. Herr Forster war verstimmt und wußte selbst
nicht warum; es war nichts auszusetzen an dem Knaben, er war, wenn
möglich, aufmerksamer auf seine Wünsche als je. Indessen, indessen, --
nun, wer wollte sich das ganz klar machen, -- da war vielleicht auf
einmal etwas wie freier Wille in dieser dienstbereiten Hingabe zu
spüren, und damit eine Art von Überlegenheit, kaum wahrzunehmen
allerdings, und nur für die gereizten Nervenstränge Herrn Forsters
bemerkbar. Herr Forster, auf dem ungeheueren Ozean in einer Gesellschaft
von Männern, die offensichtlich sich nicht im entferntesten des Glückes
bewußt waren, ihn in ihrer Mitte zu haben, Herr Forster wurde etwas
mürrisch und gelegentlich sogar sentimental, ohne damit den gewünschten
Eindruck auf George zu erzielen. Er begab sich in Gefahr, jawohl, -- an
einem windstillen, aber deshalb nicht weniger kalten Tage, als der
Nebel, der das Schiff seit Wochen einschloß, in der Mittagsstunde zum
erstenmal zurückgetreten war und die falsch und eisgrau glitzernde See
in einem Umkreis von einer Meile etwa freigab, erzwang er es sich mit
finsterer Erhabenheit, daß ein Boot für ihn herabgelassen wurde, um Jagd
auf einige Pinguine zu machen, die auf einer unfern dahingleitenden
Eisscholle ihr Wesen trieben. Cook zuckte die Achseln und George war
tief bekümmert, Herr Forster aber, ohne einen Menschen anzusehen, den
Blick schwermütig ins Leere gerichtet, deutete mit sparsam sich
öffnenden Lippen an, Pflicht sei Pflicht, und: die Wissenschaft sei
Opfer wert! stieg mit verkniffenem Gesicht die Strickleiter herab und
wurde von zwei verdrießlich dreinschauenden Matrosen mit kräftigen
Ruderschlägen auf die unbefangen erwartungsvollen Pinguine zugerudert,
worauf eine unhörbare Stimme »Vorhang fällt!« zu diktieren schien und
der Nebel sich eilig und lautlos wieder zusammenschloß, die Pinguine und
das Boot mit dem tollkühnen Herrn Forster auslöschend. Man hörte es
gleich darauf sehr schreien, konnte aber, obgleich man noch regungslos
mit den Gesichtern in der Richtung des verschwundenen Bootes dastand,
nicht feststellen, von welcher Seite der angstvolle Laut kam,
ebensowenig wie das Flintengeböller, das sodann anhob. Kapitän Cook
murmelte etwas, aus dem man mit Leichtigkeit: »^Damned old fool!^« hätte
verstehen können, nach einem Blick in Georges erblaßtes Gesicht jedoch
beeilte er sich, Maßnahmen zu treffen, die die Fahrt des Schiffes auf
die geringste Geschwindigkeit herabsetzten, und ließ auch seinerseits
alle zwei Minuten Schüsse abfeuern, während er durch das Sprachrohr die
ungeheuerlichsten Beleidigungen in den Nebel hinausschrie, -- natürlich
an die beiden Matrosen gerichtet. Nach einer halben Stunde, die den
machtlos Wartenden qualvoll lang geworden war, -- George lehnte mit dem
Rücken am Hauptmast, keines Gedankens fähig als des einen: »Lieber Gott,
errette ihn!« zugleich aber von einem bohrenden Zwang zur Selbstprüfung
gepeinigt, -- wie, ja, _wie_ wäre ihm eigentlich, wenn er nicht
wiederkäme, der Vater?! --, nach dieser halben Stunde, endlich, endlich,
schrammte das Boot an der Schiffswand entlang und Herr Forster entstieg
dem Nebel wie ein preislicher Vollmond. O, hatte man sich exaltiert? Er
seinerseits hatte keinen Augenblick an der Einsicht des Himmels
gezweifelt und -- nun, man sah es ja, hier war er, frisch und gesund. Es
hatte niemand die Stirn, des Geschreis im Nebel zu gedenken, und man
feierte den wiedergewonnen Herrn Forster mit einem Extragrog, auf den er
ja wohl freilich Anspruch hatte, seiner gefährdeten Gesundheit wegen.
Kapitän Cook war viel zu froh, ohne Menschenverlust davongekommen zu
sein, als daß er seinem Unmut weiter Luft gemacht hätte. Er begegnete
Herrn Forster mit einem gewissen starren, grimmigen Lächeln, das dieser
für eitel Wohlwollen nahm, und unter dem Einfluß des ^Spiritus liquor^
erschloß er sein Herz, legte dem Kapitän die Hand auf den Ärmel und war
außerordentlich liebenswürdig zutraulich, so daß es schwer war, ihm zu
widerstehen, und für diesen Abend wenigstens der Anschein
eines herzlichen Einvernehmens hervorgerufen wurde. Die
fürchterlich-großartige Eintönigkeit der Polarreise war indessen nicht
geeignet, einen Zustand inneren Einklanges aufrechtzuerhalten, -- zu
gewaltig waren die Anforderungen, die diese erbarmungslos starrende
Kälte an den Körper stellte, allzu fremdartig und übermenschlich die
beständige Zumutung dieser Natur an den Geist. Es schien nicht
zuträglich für das menschliche Gemüt, tagaus, tagein nur Eis zu sehen,
Eisberge, Eisinseln, Eisfelder bis zum dunstigen Horizont, wo der Himmel
weiß war vom Widerschein der kristallenen Massen, -- Massen in den
Formen unwirklicher Traumgelände, Inseln voller Türme, zackiger Säulen
und blauschimmernder Grotten, an denen die schäumenden Wellen sich
brachen, belebt von dem sonderbaren, verzauberten Volke der Albatrosse
und Mallemucken, und von blasenden Walfischen umschifft. Es schien nicht
zuträglich, in dieser ungeheueren Welt zu hausen, ohne für sie geboren
zu sein, sich mit einem empfindlichen, aber begrenzten Naturgefühl den
Eindrücken dieser fabelhaften Sonnenuntergänge ausgesetzt zu sehen, die
Saphir und Beryll ringsum mit einemmal golden und purpurn durchglühten
und ein stummes Fest eisiger Glut begingen. Mit der Zeit schien sich nur
einer als der Sache gewachsen zu erweisen, und das war der Kapitän, der
einzig Wache unter einem Volke widerwillig Schlaftrunkener, der sich
ihrer bediente, wie sich der Geist des Körpers bedient, und diese ganze
mürrische, scheeläugige Menge mit seinem Willen im Genick hielt und bis
in die äußersten Glieder mit schütternden Kraftströmen durchbebte. Sie
hatten es alle satt und fragten sich, welcher Teufel sie geritten hatte,
auf diesem verdammten Schiff bis ans Ende der Erde mitzugehen? Es gab
keine wissenschaftliche Ausbeute, es gab keine malerischen Punkte, es
gab tagaus, tagein die gleichen langweiligen Messungen und
Aufzeichnungen mit erstarrten Fingern, und es gab für die Mannschaft
verflucht harte Arbeit, ohne daß je eine Küste aus dem ewigen Milchnebel
des Horizontes auftauchen wollte. Alle Hirne waren gelähmt von der Kälte
und die Gedanken kreisten einzig um die einfachsten Bedürfnisse: Essen,
-- Schlaf, -- Wärme! Auch George erlag, unwillig und verzweifelt, aber
er erlag seinem Körper, er nahm wahr, daß der Papa eine bemerkenswerte
Gabe, sich vor der Unbill der Witterung zu schützen, an den Tag legte,
und er ahmte ihm nach, er ging eingewickelt bis zur Nasenspitze umher,
er machte Gebrauch von den Wolljacken, Pelzwesten und Decken, die der
Alte sich listig aus den Mannschaftsräumen zu verschaffen wußte, und
baute sich, ebenfalls nach väterlichem Vorbild, in seiner Koje eine
gepolsterte Höhle aus Federkissen und Decken, in die er sich verkroch,
wenn keine Mahlzeit mit den daran anschließenden Spaziergängen auf Deck
sein Erscheinen an der Öffentlichkeit erforderte. Sinnreiche
Vorrichtungen zwangen Bücher und Schreibgeräte, auch bei bewegtem
Seegang neben diesen Höhlen auszuhalten, und ebenso war eine Flasche bei
der Hand, -- zur inneren Erwärmung, der auch das heiße Pfeifenrohr
diente, das beständig aus dem Bettengebirge des Vaters herausqualmte und
das zugleich mit den Grunz- und Räusperlauten der von Rum und Tabak
mitgenommenen Kehle, mit gesättigtem Gestöhn zur Verdauungszeit oder
ärgerlichem Gemurr bei schlecht arbeitendem Stoffwechsel und anderen
Tönen tierischer Natur, -- entspringend dem ^Corpus materiale^, dem
elementarischen Leibe des Paracelsus! -- Zeugnis ablegte von dem auch
unter unbehaglichen Umständen ungebrochenen Fortbestehen seines
kostbaren Aufbaus. Kein Zweifel, daß der Vater es verstand, sich auch
unter diesen Verhältnissen sehr wohl zu fühlen, ja, daß die
zigeunerhafte Ungebundenheit des Reisezustandes einem Zug seines Wesens
entsprach, jenem Zug eben, für den George so empfindlich geworden war,
seit er den Unterschied im Klang einer straff gespannten Saite, wie sie
Mr. Dalrymple und Kapitän Cook für ihn darstellten, mit dem einer
schlaffen vergleichen konnte und die inbrünstige Begierde kannte, selbst
seine Pfeile von schwirrender Sehne mit reinem, starkem Ton zu
versenden. Jedoch, -- wie hart, wie bitter schwer war dies, wie
unmöglich schien es durchzuführen ohne die Gunst eines gemäßigten
Himmels über sich, ohne eine Schreibtischecke mit gut geordnetem
Arbeitsgerät und dem unmerklichen wohltätigen Einfluß, den ein
regelmäßig geleiteter Haushalt, weiterhin eine rastlos arbeitende Stadt
und ein gelassen tätiges Staatswesen mit seinen großen, ruhigen
Pulsschlägen auf den geistig Strebenden ausüben? Wie tief mußte einem
das alles ins Geblüt gedrungen sein, ehe es als Halt zu entbehren war,
ehe der Rhythmus des metallenen Pendelschlages der Pflicht im Leben des
einzelnen selbsttätig und alleinherrschend geworden war, wie etwa in
Kapitän Cook! Dieser Mann war stark genug, um hier, abertausend Meilen
von Europa entfernt, inmitten einer ungeheueren Welt übermenschlicher,
meerwälzender Gesetze, zwischen denen die hirnentstammte Moral hohnvoll
zermalmt und vernichtet zu werden schien, neben denen es, -- nun ja, --
lächerlich, unnütz erschien, sich aufstraffen, als mehr bestehen zu
wollen, denn als Wassertropfen im Wüstenstaube, -- dieser Mann, Kapitän
Cook, der Erforscher von Neufundland und der Besieger der Franzosen am
Amazonenstrom, er _war_ es imstande, _hier_ England darzustellen und
aufzutrumpfen, nicht mit der Faust auf dem Tisch, nein, gelassen,
stahlnervig, mit einem verächtlichen Zug zwischen Nasenflügeln und
Mundwinkeln, der Kälte mit etwas begegnend, das mehr als Kälte war, mit
schneidender Sachlichkeit, mit einem Körper, der es längst gewohnt war,
in seinen natürlichen Äußerungen nicht bemerkt zu werden, der sich ganz
und gar auf seine Pflicht zu beschränken hatte, dem Geist ein
geschmeidiges Werkzeug zu sein, einem Geist übrigens, der sich seiner
selbst kaum bewußt und mit diesem seinem soldatisch straffen und
spannkräftigen Körper zu einer kostbaren Einheit verschmolzen war, eins
wertlos ohne das andere, wie Roß und Reiter. Wer unmittelbar unter
seiner Befehlsgewalt stand, war nur ein Glied von ihm, konnte sich
seinem Willen nicht entziehen, arbeitete, vielleicht mit meuterndem
Unterbewußtsein, aber _arbeitete_, rastlos, pünktlich, mit verbissener
Genauigkeit, ob auch die Haut der Handflächen am Tauwerk hängen blieb
oder das Gesicht nur noch eine starre, gefühllose Maske schien. Wer
nicht von ihm abhing, wie Patton, der Wundarzt, Wales, der Astronom,
oder Sparrmann, der Schwede, nun, der fühlte wenigstens etwas wie einen
unwiderstehlichen Zwang zur Selbstzucht von ihm ausgehen und wahrte den
Anschein männlichen Gleichmuts, blieb gesellig, heiter, in irgendeiner
Weise tätig, sei es auch nur beim schweigsamen Pikettspiel oder in
endlosen Diskussionen über die Artung des Sonnenballs etwa, ein Thema,
das Sparrmann durch die abenteuerlichsten Hypothesen schmackhaft für die
Streitsucht des Pedanten Wales zu erhalten wußte. Selbst Hodges, der
Maler, der den ganzen Tag zitterte wie ein geschorenes Lamm, er hielt
sich aufrecht und zeichnete mit klammen Fingern Skizzen, wobei er
Antarktis zu einem zweiten Arkadien umschuf, in dem freundlich hüpfende
Pinguine eine Schäferrolle spielten. Einzig Herr Forster, -- George
erlebte es täglich neu mit einem nagenden Gefühl der Beschämung, --
einzig der Vater entzog sich diesem Einfluß, ja, er schien ihn nicht
einmal zu empfinden, so daß von einem bewußten Entziehen nicht die Rede
sein konnte. Unbefangen sprach er die Erwartung aus, man werde ihm die
Mahlzeiten in seiner Kajüte anrichten, falls »die Witterung einmal das
Aufstehn unmöglich mache«, und da Cook hierfür nur ein eisiges »^No,
Sir!^« gehabt hatte und durchaus keine Aufmerksamkeit für Forsters
schmollende Unterlippe oder die über den Tisch erfolgende vernehmliche
Befragung Mr. Pattons nach den Anzeichen des Skorbuts, -- denn er,
Forster, war drauf und dran, den Skorbut zu bekommen bei dieser
Lebensweise, hatte ihn schon im Blut vermutlich, war doch selbst
Mediziner genug, um zu sehen ... Bedurfte also der Schonung, der
besonderen Ernährung, he, nicht wahr? »Sehen Sie nur, Doktor!« und
vorgebeugt entblößte er, bedenklich abwärts gerollten Auges, sein
tadelloses bläulich-rotes Zahnfleisch, mit dem Zeigefinger vorsichtig
einen stattlichen Eckzahn berührend, der augenscheinlich ein wenig
wackelte, -- worauf Kapitän Cook unbeweglichen Gesichtes die Tafel
aufhob, -- da also in keiner Weise Rücksicht auf seine Wünsche genommen
wurde, so erschien Forster von da an, solange das Schiff zwischen
Eisschollen abenteuerte, zwar regelmäßig, aber wie die Verkörperung
verletzter Würde bei Tisch, von höflicher Milde zwar, aber -- ein
Dulder, ein Dulder! George kam und verschwand in seinem Gefolge wie ein
trauriger Schatten, einer Hörigkeit jetzt wieder ganz und gar
schmerzlich bewußt, die es ihm verbot, blank, straff, dem Kapitän
ebenbürtig zu sein, und dabei nicht minder von der noch tiefer
beschämenden, nur halb eingestandenen Erkenntnis durchdrungen, daß
sein Körper, -- ach, es war doch immer noch ein armseliger,
widerstandsunfähiger Körper, die Frische der ersten Reisemonate war
erstaunlich schnell aufgebraucht worden, -- daß sein Körper dankbar war,
sich _nicht_ stramm halten zu müssen, und daß er es nicht unbehaglich
empfand, die Tage wie ein Höhlentier, hindämmernd, lesend oder schlafend
zu verbringen, solange der Himmel so erbarmungslos war. Zudem nagte an
ihm wirklich der Skorbut, wie an einem Teil der Mannschaft, -- seine
Beine waren angeschwollen, er war beständig von einer niederziehenden
Schläfrigkeit befangen und sah aus trüben, dunkel umrandeten Augen um
sich. »Lady George?« Nein, es wurde nicht mehr gesagt, -- es wurde nicht
mehr mit ihm gescherzt, er war jetzt einer unter ihnen wie sie alle,
kaum, daß der Kapitän je einen besonderen Gruß für ihn hatte. Nichts war
natürlicher bei der allgemeinen geistigen Erschöpfung. Ihm jedoch schien
es, als sei er wohlverdienter Nichtbeachtung anheimgefallen, -- jawohl,
sie hatten nun eingesehen, daß er nicht der heitere Sonnenknabe war, für
den sie ihn gehalten, daß er, -- nun eben, langweilig und staubig und
ein wenig nichtswürdig sei. Nichtswürdig, gewiß, -- aber auch traurig,
sehr traurig! --

Als sie sich alle mehr oder weniger mit diesem trostlosen Zustand
abgefunden hatten, als sie gerade im Begriff waren, sich einem Dasein
schneeblinder Gedankenlosigkeit anzupassen, als ihnen, wie Patton
behauptete, eine undurchlässige Fettschicht gewachsen war und sie Tran
abzusondern begannen, -- als sie gleichgültig gegen die Kälte wurden und
den Schmutz nicht mehr empfanden, -- gut, -- als sie anfingen sich wohl
zu fühlen, nichts mehr dagegen hatten, mochten sie denn am Skorbut
verrecken, warum auch nicht, -- und in der Tat, unten im
Mannschaftslogis lagen bereits zwei arme Kerle und verfaulten bei
lebendigem Leibe, -- da plötzlich, -- in diesem Augenblick dumpfer
Ergebung erlebten sie es, daß Gott gnädig war, -- ja, Gott war gnädig,
oder war es eigentlich Kapitän Cook? Er rief sie zusammen, und nach
einer stundenlangen angespannten Beratung, in der jedes Für und Wider
der Möglichkeit, Land zu entdecken, peinlich erörtert wurde, --
Erörterungen, bei denen Cook sich allerdings von einer ganz
überheblichen Versessenheit auf die Richtigkeit seiner Privatmutmaßungen
erwies, -- beschloß man mit freudiger Einhelligkeit, für dieses Mal von
der Sache abzulassen und den Kurs nordöstlich zu nehmen! Und das Meer
öffnete sich, die Eisinseln blieben dahinten und die Pinguine
verschwanden böse kroaxend im Nebel ... wozu aber von den einzelnen
Graden der Entzückung reden? Genüge es doch: man _war_ entzückt, man
lebte auf, man schmolz dahin. Am 17. März hörte George einen jungen,
irischen Matrosen bei der Arbeit singen, -- er verstand kein Wort, aber
er fühlte etwas seine Kehle beengen und ließ zwei Tränen über Bord
fallen, von denen er meinte, sie müßten heiß genug gewesen sein, um die
letzten schmutzigen Schollen zum Vergehen zu bringen. Ward auch die
Hoffnung auf eine Landung in Vandiemensland durch widrige Winde zunichte
gemacht, -- an einem Morgen brach der Horizont doch auseinander und
»Land! Land!« hieß es, -- ja, »Land! Land!« wie in alten
Seefahrergeschichten, und es fiel nicht auf, daß Herr Forster Mr. Hodges
in die Arme schloß, denn sie waren alle sehr glücklich.

                   *       *       *       *       *

Die Männer, die da am 26. März 1773 vor Neuseeland Anker warfen, sie
kamen aus Europa, -- dem gelehrten Europa des 18. Jahrhunderts, --
verstehen wir es ganz, -- aus einem gemäßigten Klima, nicht nur im
geographischen Sinn. Sie waren über das erste dumpfe, jubelnde Erstaunen
des entdeckenden Menschen hinaus, hatten gelernt, Eindrücke zu
beherrschen, einzuordnen, waren kaltblütig, gelassen, Diener einer
jungfräulichen Wissenschaft, die imstande schien, mit lichtem Speer alle
Nebel blöder Ignoranz und schnöden Aberglaubens zu zerteilen, einer
Göttin überdies, in deren Umgang man vor Rückfällen ins Barbarentum
gefeit war. Trockene, durchsichtige Helle, Kühle und Klarheit des
vollendeten Frühlings, ein frostiger, nordischer Maitag von kristallener
Bläue und unsagbarer, schneeiger Keuschheit des Blühens, -- dies war die
Atmosphäre ihrer Geister, der ein gewisses, ungewolltes ^Nil admirari^
entsprach. Nein, sie waren nicht gewärtig erstaunlicher Dinge, was immer
sich ihren Augen auch bieten sollte. Sie würden diese neue Welt und ihr
ganzes strotzendes, verwirrendes Leben mit ungetrübten Blicken aufnehmen
und einordnen, in Systeme einfügen oder für Unvorhergesehenes neue
Systeme schaffen. Gerüstet, alles mit dem Verstande, diesem blanken,
geschmeidigen Instrument, zu bewältigen, gab es im Grunde nichts
Unvorhergesehenes für sie. Dennoch wurden sie überwältigt, -- dennoch,
-- ja, wer hätte es vermutet?

Cook jedenfalls war nicht ahnungslos von dem, was der Besucher harrte,
die zum erstenmal in die Südsee einfuhren, als die Felsenufer von
Neuseeland hinter ihnen versanken und sie Anfang Juli durch einen
furchtbar festlichen Tanz turmhoher, wandernder Wasserhosen den Kurs
weiter nordöstlich nahmen. George, mit einer feinen Witterung für die
Stimmungen des Gewaltigen begabt, merkte ihm etwas an, -- es war kaum
der Rede wert, ein verschmitzter Zug um den Mund herum, das Zukneifen
eines Auges, nur so ein Zucken im unteren Lid, aber genügend, um auf
diesem gesammelten Gesicht wie ein Lächeln zu wirken, -- dies alles beim
Zusammensein während des Essens oder bei ähnlichen Gelegenheiten, wenn
der eine oder der andere Äußerungen eines rätselhaften Behagens tat, das
ihn urplötzlich überkommen hatte, -- o, durchaus nicht einzig als Folge
des erholsamen Aufenthaltes auf dem Eiland der Winde und Wasserfälle, in
dessen feuchten Urwäldern voller Schlinggewächse und Farnkräuter man
sich nach Herzenslust die Beine vertreten hatte, umrauscht von dem
stehenden Gesang der Sturzbäche und unzähliger Drosseln, -- nicht allein
neu belebt durch die veränderte Nahrung aus wildem, grünem Gemüse und
frischen Fischen und Wasservögeln, von denen die Buchten gewimmelt
hatten, -- durch die Abwechslung köstlich erregender Jagdausflüge und
ergiebiger Forscherfahrten. Nein, es war noch ein anderes, etwas, das
erwachte, unter dem beständigen zärtlichen Fächeln des Südostpassats,
vielleicht auch nur eine gewisse Einschläferung unter demselben warmen,
holden Blasen, das mit süßem Harfensang im Takelwerk sauste. Hodges
redete viel vom Mittelmeer, vom Golf von Neapel, und verlor sich in
Träumereien über das ewige Rom, denen niemand recht zuhörte, denn jeder
war in seiner Art geschwätzig geworden und der Mannschaft hatte sich
eine geschäftige Aufregung bemächtigt, die sie ganz ohne Branntwein in
bester Stimmung erhielt, -- waren doch einige unter ihnen, die schon
Cooks erste Expedition mitgemacht hatten und die wußten, was sich von
O'Tahiti erwarten ließ, -- nun, und die nicht darüber geschwiegen
hatten. Der irische Leichtmatrose, -- er hieß Larry, -- sang und pfiff
den ganzen Tag und immer diese »^Rakes of Mallow^«; George, bei dem
sonst keine Melodie haften bleiben wollte, ertappte sich, wie er eines
Tages etwas Ähnliches vor sich hinbrummte und Larry, der in seiner Nähe
Loggleinen aufrollte, grinste ihn wohlwollend an, indem er seine blanken
breiten Zähne zeigte. Die Sache war die, daß zwischen George und Larry
ein unbeschworenes Bündnis bestand, eine Art Anlächelverhältnis auf
Gegenseitigkeit, ein stummes Einverständnis, begründet von Larrys Seite
auf grenzenloser Bewunderung von Georges gelehrten Beschäftigungen des
Schreibens und Lesens und seitens Georges auf der Erfahrung von Larrys
eisernen Muskeln, die er auf einem Ausflug auf Neuseeland kennengelernt
hatte, als er sich den Fuß verstaucht und der brave Bursche außer
allerhand Gerät, Proviant und der gesamten Jagdbeute ihn selbst
stundenlang nahezu geschleppt hatte. Seitdem fühlte er hier ein
körperliches Vertrauen, eine uneingestandene heiße Dankbarkeit, -- ja,
Larry hatte für ihn gesorgt, hatte Geduld mit ihm gehabt, als die
anderen alle vorausgingen und niemand sich um ihn kümmerte (»Nimm dich
ein wenig zusammen!« hatte der Vater gesagt), als es in dem fremden Wald
so entsetzlich naß, dampfig und unheimlich gewesen war. Nun und weiter,
-- Larry am Lagerfeuer, das er mit erstaunlicher Geschicklichkeit an den
feuchtesten Tagen anzufachen verstand, unermüdlich in die Glut blasend
und mit geröteten, rauchgebeizten Augen vergnügt blinzelnd, -- Larry,
eine vorzügliche Löffelgans schmunzelnd am selbstgeschnitzten Spieß
drehend, -- Larry, des Nachts unter dem notdürftig schützenden Zeltdach
geruhig schlummernd wie in der Mutter Schoß, während George, unmäßig
erregt durch diese lebendige, bewegte Finsternis, kühl durchschauert vom
Nachtwind, namenlos bedrückt durch das unaufhörliche Rauschen der
Gewässer, keinen Schlaf fand, ehe er sich nicht nah an den anderen
gedrängt und den Kopf an Larrys Schulter gebettet hatte, oder auf Larrys
Bein, gleichviel, dieser merkte ja nichts und atmete so stark und
tröstlich, war so beruhigend durchwärmt wie ein großer, zottiger Hund
...

So war Larry. Er hatte keine Auffassung für empfindsame
Sonnenuntergänge, vermutlich. Aber als an jenem Abend Hodges an der
Schulter von Mr. Forster schluchzte und stammelnd mit der Rechten nach
Westen wies, während Mr. Forster gewaltig dastand, breitbeinig und die
Arme verschränkt, die Glut des Himmels in unbeweglichen blanken
Augäpfeln spiegelnd, -- als George verwirrt lächelnd unwillkürlich die
Hand auf seine Brust legte, in der das Herz zu steigen begann wie im
Rhythmus großer Gesänge, -- mein Gott, wie ward ihm nur diesem
aufgerissenen Himmel gegenüber, aus dem Purpur und Safran quoll und in
den das Meer feierlich einströmte, das Schiff erklingend mit sich
ziehend, -- und da löste sich von der Topmastspitze ein schimmernder
Vogel und strich ihnen mit hartem Sehnsuchtsschrei vorauf, die glatte,
spiegelnde Dünung fast streifend, langschwänzig, edelsteinglühend, --
^well^, da pfiff auch Larry anerkennend durch die Zähne. --

Am nächsten Morgen lag O'Tahiti vor ihnen, ein waldiger Inselberg,
gekrönt von schaumigem Rosengewölk, einen sanften Strand voll winkender
Palmen ins Meer sendend. Das Abenteuer der Inseln nahm seinen Anfang. --

Immerhin, man lieferte sich ihm nicht aus, -- immerhin, man bewahrte
Haltung. Man blieb dessen eingedenk, blieb es ganz unwillkürlich, daß
man einen Leibrock trug, eine Schoßweste und tuchene Hosen, lange
Strümpfe und Schnallenschuhe, und zu allerunterst ein Hemde, kurzum, daß
man bekleidet war, daß man das Haar in strammer Tracht gebändigt hielt,
daß man es gewohnt war, auf Stühlen zu sitzen, sich beim Essen der
Teller und der Bestecke zu bedienen, -- daß man eine christliche Moral
und eine menschliche Gesittung hatte, die einen instand setzten, diese
Wilden zu bemitleiden und zu belächeln, -- daß -- kurzum, kurzum, -- man
sein Europäertum besaß, diesen Schatz und Schutz, und es nicht nötig
hatte, hier mehr zu sehen als etwa menschenähnliche Tiere von
bemerkenswerter Geschicklichkeit. Aber da war eine Versuchung in ihnen
allen, in der Knospe mitgebracht aus eben diesem wundervollen Europa und
unterwegs erblüht und gereift, eine Versuchung, dies alles übellaunig zu
verachten, zu verachten, weiß Gott, dies, daß man auf Stühlen saß und
mit Gabeln aß, ein Jabot trug und es vermied, laut aufzustoßen. Sie
hatten irgendwelche Bücher gelesen, -- Cook nicht, der natürlich nicht,
aber doch Hodges, der Maler, Wales, der ein Schöngeist war, soweit die
Betrachtung des Universums ihm Zeit dazu ließ, Forster,
selbstverständlich, und sogar George, -- Bücher eines Franzosen, jenes
Jean Jacques Rousseau, aus denen ein Niederschlag von Schwermut in ihren
Adern lag, der nicht wohl fortzuschwemmen war, einer Schwermut, die
ihnen den Blick geklärt hatte für die Windigkeit dieser ganzen
sogenannten Zivilisation, und aus der sie ein Recht schöpften,
sympathisch über die einfachen Zustände dieser Völker zu philosophieren,
-- ja, sie zu beneiden. Dies zugestanden: trotzdem bewahrte man
selbstverständlich Haltung und hatte vielleicht eine Hemmung mehr, sich
jener sanften Gehirne und verlockenden Körper allzu unbedenklich zu
bedienen, hatte eine gewisse wehmütige Achtung vor ihnen, empfand einen
Abstand, als von Brüdern, die am Sündenfall nicht teilgehabt hatten ...

Wie sie da an Bord gekommen waren, täppisch-zutraulich, gleich arglosen
jungen Tieren, nackt bis auf das Lendentuch, mit dem bezaubernden Spiel
der geschmeidigen Muskeln unter der mahagonibraunen mattglänzenden Haut,
Augen und Nüstern in ständiger witternder Bewegung! »Tayo!« sagten sie
lieblich und grinsten ganz unwiderstehlich, »Willkommen!« und sie
bewegten einen Pisangschoß als grünen Friedenswimpel. Es war nahezu
empörend, daß der Kapitän angesichts von so viel harmlosem Vertrauen
kalten Blutes den Befehl ausgab, Gewehre mit scharfer Ladung bereit zu
halten! Indessen erlebte es sich, daß, während Herr Forster zum Beispiel
eben mit einem treuherzigen Burschen um ein paar Kokosnüsse handelte und
ihm eine Schnur bunter Glasperlen verlockend vor der Nase tanzen ließ,
daß ein anderer, ein ebenso treuherziger Bursche, gleichzeitig daran
ging, ihm von hinten die blanken Knöpfe über den Rockschößen behutsam
abzusägen, vermittelst eines ganz kleinen, ganz scharfen Messerchens aus
Feuerstein! O gewiß, er hatte dem königlichen Fremden nicht weh tun
wollen, der königliche Fremde hatte es ja gar nicht merken sollen,
gleich ihnen selbst unbewußt gereiften köstlichen kleinen Früchten
hatten sie geerntet werden sollen, diese vortrefflichen blanken
Korallchen von dem Rücken des Fremden ... Jedoch nun gab es ein zorniges
Gebrüll und Herumfahren und etwas wie die Gebärde einer Ohrfeige ins
Leere hinein, wobei die Glasperlen herumgeschleudert wurden und
sonderbar schnell verschwanden, und der Ertrag dieses Erlebnisses
bestand für Herrn Forster in dem Entschluß, nicht mehr ohne sein
Meerrohr in der Hand mit diesem Volk zu verkehren, das, nun freilich,
ganze Bootslasten voll köstlicher Früchte an Bord gebracht hatte,
darunter eine safttriefende Apfelart von ananasähnlichem Geschmack, --
das aber der Ansicht schien, alles bewegliche Gut stünde zu
allgemeinster Besitzergreifung frei, und daß das meiste auch wert sei,
mitgenommen zu werden. Als der Kapitän nach Sonnenuntergang einige
blinde Schüsse abfeuern ließ und damit das Verdeck in kürzester Frist
von den anhänglichen Gästen gesäubert hatte, da hatten auch die
gefühlvollsten Herzen nichts mehr gegen diese Maßregel einzuwenden.
George sah ihnen nach, wie sie in den schnellen flachen Booten zwischen
den Riffen hindurchkreuzten, lärmend und glückselig ihrem Eiland
zufahrend, das geheimnisvoll dunkelnd unter dem türkisblauen, grün und
golden getönten Himmel lag. Düfte wehten von dort herüber, und eine
wunderliche Sehnsucht, an Land zu gehen, durchströmte ihn magnetisch, so
daß er die Arme auseinanderwarf und sich reckte und schüttelte, nur um
diesen bezaubernden körperlichen Drang zugleich zu genießen und sich
seiner zu entledigen. Indessen war ein gewaltiges Treiben an Bord, um
die Spuren des Besuches zu vertilgen, ganze Haufen von goldenen Äpfeln
und Bananen wurden zusammengefegt, und den bloßbeinigen Kerlen lief der
Saft vom Munde, während doch allgemeine zornige Erregung darüber
herrschte, daß die Bande kein Fleisch, kein Schweinefleisch mitgebracht
hatte. Denn nach frischem Fleisch waren sie lüstern wie die Raubtiere
geworden, ihre Zähne juckten danach, und was hatte ihnen Billy, der
Koch, so viel von den Tahitianer Schweinchen erzählen müssen, die so
zarten rosigen Speck hätten und deren Schinken auf der Zunge
zerschmölzen wie junge Grasbutter und schmeckten, -- nun, etwa nach
Haselnuß. Es erübrigt sich, der Vergleiche zu gedenken, die Billy von
hier aus zu der weiblichen Jugend von Tahiti gezogen hatte, -- kurz und
gut, Jan Maat war alles andre als beseligt von dem bloßen Anblick der
Insel, als zufrieden mit frischem Obst, von dem man Koliken bekam, --
was denn sonst? Er stierte gefährlich landeinwärts, er murrte, -- die
ganze Nacht über war das Volkslogis unruhig wie ein Bienenstock vor dem
Schwärmen und Cook, der die zweite Wache selbst übernommen hatte, kniff
die Lippen schmäler zusammen als je. Jedoch geschah es, daß George, als
er mitten in der Nacht von seiner seltsam seligen Unruhe geweckt, wach
lag, ihn flöten hörte, -- es hätte vielleicht niemand außer ihm
vermutet, daß dies Captain Cooks Odem sei, der da unter den dunstig
verschleierten Sternen der Südsee so süß und glasklar sang, wie daheim
eine Grasmücke im Gesträuch, -- aber er kannte es, er hatte es zuweilen,
-- abgerissen, -- gehört, als eine Lebensäußerung des Gestrengen, die
niemand zu beachten pflegte, -- und jetzt lag er, hingegeben an die
großen stillen Bewegungen des Schiffes, das sanft am Anker zerrte, lag
und spürte etwas Fremdes, Beglückendes in der Luft, meinte ein Rauschen
zu vernehmen, nicht von Wogen, sondern von vollen Baumwipfeln im
Morgenwind, durchrieselt von diesem in sich selbst gekehrten Getön, --
lag und lächelte ins Dunkel und schlief wieder ein. Am nächsten Morgen
erlangte man auch Schweinchen, soviel das Herz nur begehren konnte,
erlangte sie von König Aheatua, der die Fremden, im Kreise seiner fetten
Vasallen sitzend, mit furchtsamen Blicken empfing. Er trug einen
blendend weißen Schurz, sonst war er nackt und rührend in irgendetwas,
durch eine sanfte Schönheit, vielleicht dadurch, daß seine Haut heller
war, als die seiner Untertanen, daß sein langes Haar nicht gekräuselt,
sondern schlicht und lichtbraun war, an den Spitzen bernsteinfarben, --
ja, er rührte ungemein, und wahrscheinlich, weil er sich so
offensichtlich fürchtete, nicht nur vor den Europäern mit ihren
schwarzen Lederfüßen und dicken Tuchröcken, mit ihren rötlichen
Gesichtern und harten hellen Augen, -- nein, er fürchtete sich
entschieden auch vor den nackten fetten braunen Männern seiner Umgebung,
die doch so demütig waren, und die Schultern in seiner Gegenwart
entblößten ... König Aheatua war sehr jung, fast ein Knabe noch. Es
gelang Cook, ihn zu veranlassen, von seinem Throne zu steigen und die
Fremden an einen Ort zu begleiten, von wo aus er die »Resolution« liegen
sehen konnte. Dies versetzte ihn augenblicks in eine ausgesprochen
sprühende Laune, die sich durch eine unnachahmliche Albernheit kundgab.
Sie wurde durch das Geschenk einer kleinen Axt ins Groteske gesteigert
und Seine Majestät gaben sich nun mit dem Ausdruck eines zufriedenen
Kaninchens der Beschäftigung hin, Gestrüpp in kleine Stücke zu
zerhacken, wobei ihm seine Umgebung ernsthaft, neugierig und ersichtlich
nicht ganz neidlos zur Seite stand. Dann begann ein schottischer Matrose
auf Cooks Befehl den Dudelsack zu spielen; König Aheatua horchte
entzückt auf, sicherte die Axt, indem er sich darauf setzte, sehr zum
Mißvergnügen seines ersten Ministers Tuahau, der vergeblich versuchte,
den begehrten Gegenstand unter der königlichen Basis hervorzuzupfen (--
er wurde angefaucht und bekam einen Tatzenhieb über die Finger --), und
lauschte hingerissen, die Augen schließend und den Oberkörper hin- und
herwiegend. Der Dr. Sparrmann fühlte sich bewogen, einen nachdenklichen
Vergleich zwischen diesem Monarchen und dem unter so düsteren Umständen
verstorbenen Gemahl der großen Katharina, dem Großfürsten Peter, zu
ziehen, -- hatte jener nicht ähnliche Liebhabereien gehabt und einem
Knaben mehr geglichen als einem Mann? Dies gab den Anlaß zu einem
äußerst angeregten Disput darüber, was einem Barbarenfürsten _noch_
erlaubt sei und einem europäischen Herrscher _nicht mehr_, -- und somit
war die ganze Gesellschaft von dem Ergebnis dieses Audienzmorgens sehr
befriedigt, Cook von seinem diplomatischen Erfolg, denn er hatte nun für
sich und die Besatzung die Erlaubnis freier Bewegung auf der ganzen
Insel, -- die Herren Gelehrten von ihren höchst geistreich zugespitzten
Beobachtungen und die Matrosen, -- nun, ohne Zweifel von der Aussicht
auf Schweinebraten. Zudem war man hinter das Geheimnis gekommen, weshalb
ihnen gestern die Schweine verweigert worden waren und wer jener
rätselhafte Peppe sei, von dem die Eingeborenen gefabelt hatten: ja,
_Peppe_ hatte es dem Könige verboten, Schweine zu verschenken, und Peppe
war sehr mächtig, hatte ein ebenso großes, ein ebenso wildes Schiff wie
Captain Cook, -- nur, er hatte es eben einmal fortgeschickt, dies
Schiff, und ... Nun, es stellte sich heute heraus: Peppe war ein
zottiges, tierisches Geschöpf, das demütig herbeikroch, als es die
Fremden so wohl empfangen sah, Peppe war im Kerne seines Schmutzes ein
ehemaliger spanischer Matrose, von irgendeiner Expedition auf der Insel
zurückgelassen, vielleicht von der Mannschaft des Gros Ventre, der vor
Jahresfrist in diesen Gewässern sein Wesen gehabt hatte. Er selbst
schien nicht imstande, Auskunft über sich zu erteilen, war aber
außerordentlich bereit, den Fremdenführer für die Matrosen zu machen,
und etliche vertrauten sich ihm an, seine Erfahrung witternd. Georges
Blick folgte ihnen nachdenklich: da ging auch Larry hin, nachdem er eine
Weile gezaudert hatte, -- hin ging er mit zur Schau getragener
Gleichgültigkeit im Schlenderschritt, die Hände in den Gurt geschoben,
auf den Lippen die ewigen »^Rakes of Mallow^«, und sandte noch einen
schiefen Blick zurück zu George, indem er das rechte Auge zukniff.
Hierauf warf er plötzlich den Kopf auf, legte die Ellbogen an und setzte
sich in einen wilden Trab, um die Kameraden einzuholen, seine starken
nackten Beine flogen auf und nieder, und jetzt machte er einen
Luftsprung und schlug den langen Ben auf die Schulter. Da ging er also
hin, -- und George brauchte sich keinen Grübeleien darüber hinzugeben,
wohin, er war ganz unterrichtet, denn diese Dinge waren oft genug
berührt worden: sie gingen zu Mädchen, Tänzerinnen etwa, um sich zu
belustigen. Dies, -- so hatte George aus den Gesprächen der Herren
entnommen, -- war nicht mehr als ihr gutes Recht und also gar nicht
verwunderlich. Die Frage war nur, ob es auch ihn, George, belustigen
könnte, Larry zu begleiten, und in der Unlösbarkeit dieser Frage lag
eine leise Beunruhigung, etwas wie ein Grund zur Traurigkeit.
Schließlich, -- er gehörte nicht zu Larry, sondern zum Vater und den
übrigen Herren, -- und diese, -- dachten sie auch wohl im entferntesten
daran, zu gehen, um sich zu belustigen? Besprachen sie nicht
wissenschaftliche Fragen, waren so angeregt wie nur je, übertrumpften
sich mit Schlagworten, waren witzig, lärmend, ausgelassen, strotzend von
Geist? Und George ging langsam hinterher, den Blick von Wundern
überfüllt, geblendet von Blatt- und Blumenformen, wie sie
leidenschaftlich üppig ausgeprägt, aufgetan und von Frucht und Samen
überquellend waren, von den Farben der Blüten, des Himmels, des Meeres
und der Wälder, dem innersten Blute der Erde unter dünner bebender Decke
scheinend. Er ging dahin, diese ganze Welt stand um ihn in der nackten
ruhigen Majestät ihrer unablässigen Fruchtbarkeit und zog ihr heißes
Licht zusammen in der Gestalt eines jungen Weibes, das im Schatten eines
ungeheueren Brotfruchtbaumes vor ihrer Hütte saß und an einer Matte
flocht, die schlanken Beine gekreuzt, die feuchten Tieraugen zwischen
den feuerroten Blumen an ihren Schläfen lächelnd zu den Fremden
aufgeschlagen, -- er ging hindurch, mit bebenden Knieen, beklommen
glücklich, aber verwirrt und in sich selbst vergeblich nach einem
Maßstab suchend, nach einer Möglichkeit, sich diesem allen anzupassen
... Anders Herr Forster. Er war lärmend glücklich. Alle paar Schritte
blieb er stehen, breitete die Arme aus und sang die Landschaft an in
haltlosen Deklamationen, die sein Busen nicht länger bemeistern konnte.
Dies hier, dies war die Luft, in der es sich atmen ließ! Hier Mensch zu
sein, wie unbeschreiblich selig! Und er machte ergriffen halt vor einer
Gruppe, die ebenfalls vor einer stattlichen Hütte am Boden saß, und als
Mittelpunkt einen großen Mann hatte, der wie eine sanfte Hügellandschaft
gediegener Fleischmassen voller Fetthöcker, Wülste und Grübchen auf
einer Matte lagerte, das schwerwuchtende Haupt sinnreich gestützt und
schläfrig in das Blätterdach der Pisangs blinzelnd, während eine
größtenteils weibliche Dienerschaft emsig damit beschäftigt war, ihm mit
Palmwedeln die tanzenden Insekten abzuwehren und ihm Kühlung
zuzufächeln, ihm die Fußsohlen zu kratzen und ihm Nahrung in sein
breites Maul zu schieben, an der er lange und träge kaute, bisweilen
auch in dieser Beschäftigung minutenlang innehaltend. Die Fremden
beachtete er mit keinem Blick, jedoch wurden ihm auf einen Wink seines
Zeigefingers alsbald einige frische Blumen in sein filziges Haar
geschoben und er bettete seine schwammigen Hände, an denen ungemein
lange gebogene Nägel glänzten, wie ein Adelsschild recht sichtbar auf
seinen Magen. Lange Nägel, bemerkte Cook im Weitergehen, gälten hier als
ein Ausweis der Vornehmheit und des Reichtums, die Hand, die sich mit
langen Nägeln schmückt, besitzt Hände, die für sie arbeiten ... Ein
neuer Anlaß, die bedeutendsten Vergleiche zwischen heimischen und
hiesigen Verhältnissen zu ziehen, ein Gespräch, an dem Herr Forster sich
lebhaftest beteiligte, das Meerrohr auf dem Rücken haltend und Europens
Vergeistigung preisend. Indessen, plötzlich brach es aus ihm hervor, er
legte die Hand auf seine Mitte, sah begeistert um sich und rief nicht
ohne Treuherzigkeit aus: »Meine Freunde, -- etwas, -- etwas hat es doch
für sich!« Setzte aber gleich darauf abschwächend mit leichter
Beschämung hinzu: »Gewinnt der Geist nicht, wenn einem die Nahrung so
gleichsam ins Maul wächst?« Eine Frage, die nur der sanftmütige Hodges
mit schwimmenden Augen rückhaltlos bejahte. --

»Sieh, mein Sohn, dies ist's, was mir lebenslänglich gefehlt hat!«
bekannte Herr Forster George einen Abend später, als sie in der
Matavi-Bucht Groß-Tahiti gegenüber vor Anker lagen, von einem
unüberwindlichen Drang nach Mitteilung übermocht. Die Nacht war unfaßbar
schön, bläulich vom Mondlicht, in dem der starke Silberschein der Sterne
matt ward. Eine Perlenschnur kleiner roter Feuer glimmte im Halbkreis am
Strande um die Bucht herum und von dort her kam Freudengetön,
fremdartig, schrill und eintönig, und wiederum heimatlich vertraut, vom
Dudelsack begleitet. Sogar ein deutsches Lied kam herüber, -- George
lauschte bestürzt und Mareiken, die Magd, stand plötzlich vor seiner
Seele, am Herde sitzend und das Spinnrad tretend, dazu -- langgezogen,
klagend -- »Anke von Tharau ist's, dir mir gefällt ...«

Freilich, dies war der Matrose Friesleben, ein Deutscher. Also nichts
Wunderbares, -- nur, daß er für gewöhnlich nicht sang ...

»Was mir lebenslänglich gefehlt hat,« fuhr der Vater fort, und es war
ein Schwanken in seiner Stimme, daß George aufhorchte und versuchte, in
dem ungewissen Licht den Ausdruck seines Gesichtes zu erkennen, -- er
nahm aber nicht mehr wahr, als eine empfindsame Seitenneigung des
umfangreichen Hauptes, denn Herrn Forsters Antlitz war beschattet, --
»dies, teurer George, war der natürliche Überfluß der Erde. Denn siehst
du, ich bin eine armselige Kreatur, laß es mich nur aussprechen, denn
ich bin mir dessen wohl bewußt, -- eine armselige, eine Kreatur, die
viel für ihres Leibes Notdurft braucht.« Herr Forster schnaufte ein
wenig und griff nach einer Banane, -- eine Riesentraube lag neben ihnen
auf Deck wie ein mattgolden leuchtendes Schuppentier.

»Es ist mir,« fuhr er bekümmert fort, während er der Frucht behend ihren
weichen duftenden Pelz abstreifte, »es ist mir immer unmöglich gewesen,
geistig zu arbeiten, wenn ich nicht sehr satt war. Daß ich mich aber
immer so plagen mußte, um satt zu werden, siehst du, George, -- das hat
mir so viel Zeit genommen und hat mich aufgerieben, George, --
aufgerieben, aufgerieben, -- wenn man es mir auch nicht anmerkt. Und nun
hier, mein Sohn, -- ach ja!« Er legte eine schwere heiße Hand auf
Georges Schulter und nickte nachdrücklich. »Hier sollten deine Mutter
und deine Geschwister bei uns sein, wir sollten eine geräumige Hütte
bewohnen, uns von Früchten, Fischfang und Jagd ernähren und ihr solltet
sehen, was ihr für einen Vater hättet, wenn selbiger sich nicht mehr um
das tägliche Brot die Hände schwielig zu schaffen brauchte! Jawohl, --
schwielig!« fügte er befriedigt hinzu, hierauf in Schweigen versinkend
und auch George seinen Betrachtungen überlassend, Betrachtungen, die
darin mündeten, daß er sich nach Europa, nach einer volkreichen,
wimmelnden, arbeitenden, winterkalten Stadt sehnte, -- nach Büchern,
Gemälden, ja, selbst nach Kuriositätensammlungen und Kaufläden, fast
sogar nach dem finstern Kontor des Mr. Hitch mit seinem muffig-süßlichen
Geruch der Tuchballen, -- dies alles trotz oder gerade wegen der
Aussicht auf einen sorglosen Cherub von Vater, der ihm auf einmal
weniger unter dem Bilde eines Menschenfressers und Königs Minos
erschien, -- welche Vorstellung sich ohnehin längst abgenützt hatte, --
als unter dem jenes überfütterten Insulaners im Bananenschatten.
Obgleich er auch heute wie einst eine derartige Gedankenvorspiegelung
als schief erkannte, sie bekämpfte und verwarf, -- denn, wer konnte und
wollte es leugnen: arbeitete der Vater nicht als ein trefflicher,
scharfblickender Gelehrter, liebte er ihn im Grunde nicht mit
bewundernder Hingabe und war es nicht ein seltsam schmerzliches Glück,
ihm zu dienen?

Und am Ende, -- aber dies fragte sich der kleine George nicht
buchstäblich und in Worten, obschon er sich jetzt zuweilen
philosophischen Meditationen hingab, -- dies fühlte er nur dunkel, wie
man ein Gesetz seines Lebens ahnt: wie war es anders möglich zu leben,
als im Dienen? -- -- --

Die Europasehnsucht, dies während einer verzauberten Südseenacht
befremdende Heimweh nach einem mißvergnügten Himmel, war am andern
Morgen verschwunden, und die nächsten Wochen, ja Monate ließen es nicht
wieder aufkommen. Denn da man nicht zum Genuß, sondern zur Arbeit
hierher geschickt war, dieses Zweckes nunmehr mit Ernst eingedenk, --
Stirnrunzeln und Zeigefingerheben in goldener Morgenfrühe, -- so ging
man jetzt geradeaus auf sein Ziel los. Forster und Sohn arbeiteten. Die
Schiffsgesellschaft erlaubte sich zunächst anzügliche Gesichter und
Bemerkungen, höhnisch verzogene Lippen, zum Himmel gerollte Augen,
mißvergnügt wackelnde Häupter, bezeichnend gezuckte Achseln, -- war
nicht bisher alles mit Muße vor sich gegangen? -- jedoch umsonst.
Forster und Sohn arbeiteten. Die Ausflüge an Land nahmen den Charakter
von bis ins kleinste vorbereiteten Unternehmungen an, von wahren
Feldzügen gegen die selige Unbewußtheit der Inseln, mit so viel Werkzeug
und Genauigkeit wurde ihren Geheimnissen zu Leibe gegangen, mit
Untersuchungen, Messungen, Zählungen, ihre Berge wurden erklettert, auf
ihren schroffen steilen Graten zwischen den fast senkrecht abfallenden
vulkanischen Klüften krochen Forster und Sohn umher, ebenso wißbegierig
wie in ihren feuchten, von Wachstum strotzenden Schluchten, keine
Erdfalte blieb undurchspäht, kein Kräutlein, das sich fernerhin heiter
der Einordnung in das System des großen Linné entzogen, keine Fliege,
die in Zukunft unbenannt im Sonnenschein getanzt, kein Vogel, der sich
weiter leichtsinnig eines steckbrieflosen Daseins gefreut hätte, -- sie
alle waren nun gebucht, fanden sich eingehend und genau beschrieben, in
Listen niedergelegt, bestimmt, aus ihrem selbstgenügsamen Unerkanntsein
in das schattenlose Licht europäischer Magistergehirne hinüberzugehen
und dort fortan über ihrem harmlosen Dasein im Inselmeer noch ein
zweites, ein zweifellos höheres im Reich des Geistes, das Dasein einer
verwickelten Vorstellung, dargestellt durch einen, wenn irgend möglich
doppelten, lateinischen Namen, zu führen. Indessen blühte, duftete,
tanzte, blitzte und summte, tirilierte und brütete das Leben unter
tahitianischer Sonne fort, unbekümmert wie seit seinem Schöpfungstag,
unmerklich und lächelnd entwand sich hier wie überall die Natur den
Händen ihrer neugierigen Liebhaber, ihr letztes Geheimnis wahrend und
nach wie vor, allem zerlegenden Verstande zum Trotz, blieb sie eins,
blieb gelassen wunderbar, spielend und spottend.

Herr Forster hatte Augenblicke, in denen er das fühlte. »Die Namen,
George,« sagte er einmal schwerfällig, den Blick in eine frisch
gepflückte Blume versenkt, »die Namen betrügen uns um die Dinge. Ist es
nicht eine ungeheure Anmaßung, Namen zu verleihen, anstatt jedes
Geschöpf demütig um seinen Namen zu befragen?« Und da George ihn nicht
ganz verstehend ansah, sagte er ungeduldig: »Nun ja, nun ja ... Ich zum
Beispiel wollte manchmal, ich hätte keinen Namen. Ich bin nun einmal der
Herr Forster, und muß der Herr Forster sein, wie ihn die Leute sich
denken. Hat man mich je gefragt, wer ich eigentlich bin? Im Grunde heiße
ich vielleicht ganz anders, -- nur, daß ich selbst es auch vergessen
habe ...«

Das letzte wurde ganz undeutlich gemurmelt und in der Folge sah der
Vater mürrisch aus, da er es selbst nicht liebte, sich mit solchen
Erwägungen zu beunruhigen, deren er sich doch zuweilen sonderbarerweise
nicht erwehren konnte. George aber war etwas unglücklich, da er nicht
begriff, und, leidenschaftlicher Liebhaber des Begreifens, der zu sein
er bestimmt war, an diesem Brocken ungeläuterter Erkenntnis stundenlang
mühsam herumarbeiten mußte, bis er schließlich hoffnungslos davon
abließ. Wo blieb das königliche Vorrecht des Menschen vor aller andern
Kreatur, wenn es nicht dieses war, sie zu benennen? --

Er hatte durch die Arbeit sein Gleichgewicht völlig wiedergewonnen, er
fühlte sich gesund und heiter und die verwirrenden Eindrücke der ersten
Tage glätteten und verteilten sich. Die Neigung, alles wissenschaftlich
zu betrachten, gewann die Oberhand und sein Tagebuch füllte sich mit
exakten Schilderungen von Erlebnissen, sei es nun von Wanderungen,
malerischen Punkten, -- auf deren Romantik der wackere Hodges nimmermüde
hinwies, -- oder Volksfesten, gleich dem, als Tedua-Taurai, die
Schwester König O-Tu's von Groß-Tahiti, aus Anlaß des Besuches der hohen
Fremden zur Nasenflöte tanzte. Diese Tedua-Taurai war ein überaus
ansehnliches Stück Weiblichkeit von hoher Gestalt und muskulöser
Schlankheit, während die meisten Frauenzimmer klein und fett waren.
Ebenso hob sich ihr einsamer Tanz vorteilhaft von den Massenvorführungen
ab, die man bisher genossen hatte, er war feierlich wie eine
gottesdienstliche Handlung, wenn es auch durchaus deutlich blieb, daß es
der Gott der Fruchtbarkeit war, dem er huldigte. Jedoch wirkte
Tedua-Taurai in ihrem Gewand aus gebleichten Aoto-Bast, das knapp unter
der Brust ansetzte, mit den weißen Lilienblüten des Huddu-Baumes in den
Ohrläppchen und dem starren Brennen ihres unbewegten Blicks, -- die Arme
hielt sie während des Tanzes regungslos hinter ihrem Haupte verschränkt
und die tätowierten Linien um Brüste und Schultern bewegten sich
schlängelnd im unmerklichen Spiel der Muskeln, -- sonderbar aufregend
auf die Männer aus Europa. Auch George war außerordentlich beklommen. Er
war nach dem Tanz einmal nahe an Tedua-Taurai vorbeigestreift und hatte
etwas wie einen wilden Raubtierdunst geatmet. Er notierte sich, daß die
Prinzessin wahrhaft königliche Würde besitze, fühlte aber selbst, daß
dies nicht der Ausdruck seines Eindrucks sei. In der Nacht darauf
träumte er von der Starostschenka Hermanowska, an die er seit seiner
Kinderzeit nicht wieder gedacht hatte, so daß er sich beim Erwachen
besinnen mußte, wem eigentlich diese Traumgestalt im geblümten
Seidenkleid mit dem bloßen Busen geglichen habe. Es blieb ihm aber in
der Tat nicht viel Zeit zum Aufstellen von Betrachtungen und zur Hingabe
an jene sanft drängende Schwermut, die ihn immer wieder befallen wollte.
Da war das Ordnen der Sammlungen, der Herbarien und Spirituspräparate,
da war die Arbeit mit dem buckligen Ausstopfer Jacopo, einem Italiener,
mit dem Hodges gelegentlich schwärmte und der jetzt ganz prall und glau
vor Behagen wurde, nachdem er im Eismeer fast gestorben war, und während
George so an Bord beschäftigt war, nicht unzufrieden und harmlos wie ein
junger Sperling, nahm Herr Forster genug Anlaß, sich an Land rudern zu
lassen und dort stundenlang zu verweilen, -- ebenso wie die anderen
Herren übrigens, Cook ausgenommen, der viel in seiner Kajüte arbeitete.
So geschah es vor Tahiti, so geschah es vor Ea-Uhwe, Tonga und Tabu und
vor den Gesellschaftsinseln war es nicht anders gegangen. George
schöpfte keinen Argwohn, der Vater trieb Handel, der Vater vertiefte
sich in das Volksleben, der Vater war recht in seinem Elemente; kam er
nicht immer wie ein Sendling der Götter heim, mit Ausbeute beladen,
beseligt von Einblicken, die er getan, meist sehr gesättigt und fast ein
wenig betrunken vor Wohlwollen und Menschenliebe? Es war nicht recht zu
verstehen, warum der Kapitän dem Vater gegenüber immer noch sein steifes
Wesen beibehielt, diesem Vater, der nicht nur groß und schön und stark
und prächtig war, sondern jetzt auch so arbeitswütig wie ein Bauer in
der Erntezeit, so fruchtbar wie der schaffende Sommer selber und
außerdem tagaus tagein in der entzückendsten guten Laune, die
Gesellschaft mit Späßen, Schnurren und der ganzen ungewollten Entfaltung
seines ihm selbst wohlgefälligen Wesens unterhaltend. George war ein
wenig bekümmert über diesen ständigen Gegensatz, wie konnte man dem
Vater widerstehen, wenn er so war wie jetzt? Er selbst hing bei Tisch
mit strahlenden Augen an ihm und ließ den Blick beseligt zu Cook
hinüberwandern: Bitte, so ist mein Vater, ja, _dies_ ist er eigentlich!
Indessen blieb Cook schweigsam, scharfkantig und abweisend, und es war
unzweifelhaft, daß der gutgelaunte und arbeitsame Herr Forster ihn
ebenso, wenn nicht mehr reizte, als der faule und weinerliche. Bei Tisch
behielt er zwar George an seiner Seite, hatte ein halbes Lächeln, einen
trockenen Scherz für ihn; er besuchte ihn wohl auch einmal bei seiner
Arbeit, wenn sie allein an Bord waren, blieb neben ihm stehen, rauchte
schweigsam seine kurze Tonpfeife und sah ihm auf die Finger, -- ja, er
rief ihn gelegentlich in seine Kajüte und ließ sich von ihm bei seinen
Berechnungen helfen. Je länger die Reise aber dauerte, desto betonter
ward seine Zurückhaltung, nicht nur Herrn Forster, sondern der gesamten
Gelehrtenschaft gegenüber, er schob seine Offiziere und Patton, den
Wundarzt, zwischen sie und sich. Schließlich hatte er es nicht nötig,
sich mit jedem Satz belehren zu lassen, auch wenn er sich nicht auf
hohen Schulen die Augen blind studiert hatte, und man würde es ja sehen,
wessen Beobachtungsergebnisse die wertvollsten sein würden ...

Jeder Tag war _ein_ Lächeln von Morgen bis Sonnenuntergang. War er nicht
Arbeit, -- eine Arbeit, so aus der Fülle von Kraft und Anschauungsvorrat
heraus wie nie zuvor und darum unendlich beglückend, kaum ermüdend, --
so war er Schlendern in Palmenhainen, Plätschern in lasurblauer Bucht,
Schwelgen im Duft unerhörter Blumen, üppig in Form und Farbe und
unablässig sich erneuernd, während unter ihnen safttriefende Früchte aus
dem dunklen Laub quollen, -- Anbetung waren diese Tage in jedem Atemzug
und wiederum Angebetetwerden, ein Leben im Weihrauch der Bewunderung
schöner menschlicher Wesen, die so viel unschuldiger, reiner und
kindlicher schienen als man selbst sich in seinen Kleidern aus
englischem Tuch vorkam, -- ob sie schon stahlen wie die Raben,
eingestandenermaßen, und ihre eigenen seltsamen Gebräuche hatten,
allerdings! Aber dann ließ sich doch immer darüber philosophieren, ob da
Sünde war, wo es kein Gesetz gab, und Herr Forster rief gar den Apostel
Paulus in die Südsee, um für die Sündlosigkeit der Heiden einzutreten,
-- was kann ein toter Apostel dagegen machen? -- verzieh man doch auch
den Tieren ihre Streiche, und hier auf Huahaine, säugten die Weiber,
weiß Gott, Hündchen und Ferkelchen, wenn es ihrer eigenen Brut nicht
gelang, sie vom Andrang des süßen Überflusses zu befreien. So freute man
sich seines Ansehens als guter, mächtiger Götter und Besitzer
fabelhafter Reichtümer in Gestalt unzähliger Glasperlen, Nägel, kleiner
Äxte und Messer, um derentwillen einem demütig gehuldigt und geopfert
wurde. England dahinten jenseits des Erdbauches erschien einem zuweilen
selbst verlockend und fabelhaft, wenn die braunen Freunde herzbeweglich
bettelten, mit in das Wunderland genommen zu werden. Nun, ab und zu ließ
man sich scheinbar erweichen und solange man zwischen den Inseln
kreuzte, nahm man den einen oder den andern mit, etwa den Knaben Porea
aus Eimeo, der darob ganz überheblich wurde und bei der Landung auf
Huahaine bereits wünschte von den Eingeborenen für einen Engländer
gehalten zu werden, was indessen zu seiner Enttäuschung nicht eintrat.
Zäher als alle anderen erwies sich O-Heddi, genannt Mahaine, der sich
ihnen auf Bora-Bora anschloß, und es durch sein schlechthin
bestrickendes Wesen und außerordentlich gutes Benehmen wahrhaftig
erreichte, daß er an Bord bleiben durfte, selbst als die »Resolution« am
7. Oktober den Kurs südöstlich auf Neuseeland zu nahm. Der Sommer brach
an. Ja, erstaunlich, diese lachenden Tage voller Blüte und Frucht waren
Winter gewesen, jetzt erst kam der Sommer der südlichen Halbkugel, jetzt
lockerte sich wieder das Eis um den Pol und es galt, die günstige Zeit
zu neuen Forschungen dort unten auszunutzen. Abschied zu nehmen galt es,
Abschied von dieser großen Seligkeit, vielleicht auf Nimmerwiedersehen,
denn wer konnte wissen, was dem wackern Schiff drohte, das wiederum so
kühn und verächtlich dem Grauen entgegenstürmte? George hätte sich wohl
ganz einer wehmütigen Verdrießlichkeit überlassen, wie sein Papa es
hemmungslos tat, wenn nicht dies lebendige Stück Inselglück dagewesen
wäre, das ihm von Cook ganz besonders ans Herz gelegt worden war, --
Mahaine also. Mahaine war außerordentlich schön, lichtbraun, mäßig und
sinnreich tätowiert, so daß die eingebrannten Linien nur das Ebenmaß
seiner Glieder hervorhoben, er trug einen Ausdruck kindlicher Würde, er
war ohne Schüchternheit zurückhaltend, er war ernsthaft, sanft und
höflich. Er wurde nicht müde, das Schiff von oben bis unten zu
durchforschen, auf seinen nackten Sohlen tauchte er überall auf und man
vergaß es, bei seinem lautlosen Erscheinen zu erschrecken, man gewöhnte
sich an ihn, wie an ein zahmes Tier und selbst Wales, der Astronom,
ereiferte sich nicht mehr, wenn Mahaine hinter seinem Rücken stehend
verharrte und ihm großäugig auf die schreibende Hand sah. Mr. Wales
hatte nämlich ganz im Anfang einmal ein Erlebnis mit Mahaine gehabt, das
ihn sehr peinlich berührt hatte, er war in seiner Hängematte von lindem
Schlummer erwacht und hatte Mahaine über sich gebeugt gefunden, wie
dieser ihn mit wildem Forscherblick betrachtete und den ausgestreckten
Zeigefinger zurückzog, mit dem er ihn soeben offenbar im Gesicht hatte
antippen wollen. Es war Mahaine dann bedeutet worden, daß der Schlaf der
weißen Männer ungeheuer heilig sei. -- Er stand stundenlang neben dem
Steuerruder und blickte abwechselnd auf die Hände des Mannes, wie sie
mit nie fehlender Sicherheit ins Rad griffen, blickte auf in das
unbeweglich in die Ferne gerichtete Antlitz und dann geradeaus auf die
rastlos wandernde, schäumende Fläche. Er hielt Andacht vor dem
Kompaßhäuschen, dessen zuckende Nadel er für einen mächtigen Gott der
weißen Männer ansah, -- und hatte er nicht Recht? -- er erstarrte in
Ehrfurcht, wenn Cook in der Mittagsstunde mit dem Sextanten auf Deck
erschien und die Sonnenhöhe aufnahm, -- eine feierliche Handlung, mit
Zauberei verbunden, von der der Ausfall der Mahlzeiten abhängen mochte!
Mahaine liebte es nicht, alles zu essen, was die weißen Männer aßen. Er
verzehrte seinen Anteil einsam, am Boden hockend, und allen den Rücken
drehend, er war sauber wie eine Katze und hinterließ keinerlei Spuren
oder Überreste, nichts, womit ein böser Mensch ihn hätte verzaubern
können. Ja, Mahaine war einsam, schutzlos in einer fremden Welt, allen
möglichen unbekannten Teufeleien preisgegeben, aber er begegnete den
Gefahren mit gelassener Standhaftigkeit, -- wichtig, wichtig über alle
Maßen war es, daß er, O-Heddi, genannt Mahaine, Einblick gewann in die
unerhörten Wunder der weißen Männer, daß er endlich einmal die fremden
Inseln sah, die er zuweilen am Horizont hatte dämmern sehen, wenn eine
kühne Fahrt sein Kanoe aus den heimatlichen Fischgründen geführt hatte.
Und lohnte es sich nicht? Hatte er nicht schon das Eiland der roten
Papageienfedern entdeckt, die auf seiner Insel und auch auf Tahiti,
Huahaine und den benachbarten so unerhört selten und kostbar waren!? Auf
Tonga-Tabu war es ihm gelungen unermeßliche Reichtümer in Gestalt von
Kopfputz und Schürzen aus diesen wundervollen heißbegehrten Federn
einzuhandeln, indem er hingab, was er an Tauschwert besaß, alle Perlen,
Korallchen und Nägel und schließlich sogar ein kleines Messer, bisher
sein größter Schatz, für das er sich eben erst sein schönstes Gewand vom
Leibe gezogen hatte. Alles gab er hin, schweigsam, glühend und zitternd,
dies könnte wieder rückgängig gemacht werden, könnte sich auflösen,
verschwinden, die Federn samt den Korallchen, -- und was dann, Mahaine,
nackt und bloß? O, er spielte ein hohes Spiel, ein banges Spiel, aber
dann, als das Schiff vor Tonga-Tabu den Anker gelichtet hatte, da
grinste er auch tagelang ganz unmäßig vor sich hin und wurde vor lauter
Seligkeit nicht wieder seekrank wie bisher. Er hockte in einem Winkel
auf Deck und befreite seine Edelsteine aus ihrer Fassung, das heißt er
löste jene Schürzen- und Kopfzierate in ihre Bestandteile auf und
ordnete die Federn nach ihrer Größe in anmutige Sträußchen, die er mit
Kokosfaser zusammenband, -- was verstanden diese im Überfluß wühlenden
Tonga-Tabuaner von wahrer Schönheit? -- und wenn jemand zu ihm trat, hob
er den Kopf und zeigte in überströmender Wonne alle zweiunddreißig
Zähne. Durch seinen leidenschaftlichen Eifer aufmerksam gemacht, hatte
übrigens auch der Kapitän große Vorräte dieser roten Federn einhandeln
lassen und erlebte gleich auf Neuseeland den Erfolg seiner klugen
Handlung, der Tauschverkehr war außerordentlich belebt,
Muschelhörner, hölzerne Trompeten, Rohrflöten, Schmuck aus Jadestein,
Boghi-Boghi-Mäntel, -- alles ward auf den Markt geworfen, nur um dieser
Federchen habhaft zu werden, dieser vertrackten, entzückenden. Daneben
galten Matten und Gewänder, Waffen und Geräte aus der Südsee auf diesem
rauhen und rohen Eiland als begehrteste Tauschstücke, hatten weit
höheren Wert als Europens Blendwerk aus farbigem Glas und Messing, und
wenn die Engländer hier bestaunt und gefürchtet wurden wie fremde
Geschöpfe, eine unerklärliche Zwischenstufe zwischen Göttern und Tieren,
so begegneten die Neuseeländer Mahaine wie einem reisenden Fürsten mit
gehaltener Ehrfurcht. Kurz, es war aus allem ersichtlich, daß in der
Südsee ihr Land der höheren Kultur lag, wie ihre armen Schilf- und
Schorfköpfe sie zu fassen und zu ersehnen vermochten.

So war man denn wieder auf Neuseeland, diesem letzten Ruhehafen vor den
uferlosen Schrecken des Polarmeers, und es muß gesagt werden, sie
zögerten, das wilde, nasse Wald- und Felseneiland zu verlassen, sie
umschwärmten es von allen Seiten, sahen an den nackten Felsen die Hütten
der Eingeborenen wie Adlernester kleben und landeten immer wieder, zur
Jagd, zum Fischfang in den Buchten, zum Handel, -- um das Schiff
auszubessern, um die Bodenbeschaffenheit zu erkunden, -- weiß Gott, es
gab der Vorwände genug. In einer Art von blindwütiger Verzweiflung
glaubten die Matrosen sich im voraus für die kommenden Entbehrungen
schadlos halten zu müssen und ihre Zusammenkünfte mit den eingeborenen
Weibern entbehrten durchaus jeder Verborgenheit, -- Cook schien nichts
zu sehen und zu hören. George war aufs tiefste angeekelt, weniger von
dem, was sich vor seinen Augen abspielte, als davon, daß diese Weiber so
zottig, schmutzbedeckt und übelriechend waren. Ebensowenig liebte er die
derben Scherze seines Vaters und der übrigen Herren, die jetzt in Blüte
standen, er gewöhnte sich daran, seine Ausflüge in Begleitung von Larry
und Mahaine zu unternehmen, und gefiel sich in dem Gefühl genußreichen
Trotzes gegen die ganze Gesellschaft. Sie benahmen sich ein wenig wie
die jungen Jagdhunde, trieben allerlei zwecklose Körperübungen,
verschwendeten überschüssige Kraft in gewagten Unternehmungen und
kletterten zum Beispiel an den Steilufern umher, um die in ihren
unterirdischen Nestern kakelnden und quakenden Sturmvögel zu entdecken.
Auch gaben sie Mahaine ein Gewehr in die Hand und hießen ihn, auf einen
Strandläufer anlegen. Mahaine packte die Waffe wild, mit Inbrunst,
fletschte die Zähne, zielte, drückte ab, -- der Vogel hob die Flügel,
tat einen possierlichen Satz und fiel, ganz in sich zusammenklappend.
Mahaine jedoch, im Augenblick, da der Schuß dröhnte, warf das Gewehr von
sich, hielt die Hände an die Ohren und rannte von dannen, den Mund
kreisrund geöffnet, aber ohne einen Laut auszustoßen. Von dem Vogel
wandte er sich ab, als sie ihn ihm später brachten. Wer konnte wissen,
ob er nicht den Göttern dieser Insel heilig gewesen war? Mahaine
fürchtete diese Götter, und seine neuseeländischen Brüder, die unter
einem so unfreundlichen Himmel ihr karges Dasein fristeten, dauerten
ihn. Als man ihm entdeckte, daß diese Brüder einander gelegentlich
auffräßen, verfiel er in eine ernsthafte Schwermut, die erst von ihm
wich, als Neuseeland im Nebel hinter der »Resolution« versank.

Übrigens hatte dies Abenteurerleben zu dreien insofern bald ein Ende
genommen, als Larry anfing, sich von ihnen abzusondern und eigene Wege
zu gehen, kurz, als Larry, dieser Schwerenöter, Toghiri gefunden hatte
und nicht mehr Meister seiner Sinne war. Larry nämlich, obgleich er sich
seinen Kameraden bei ihren Belustigungen immer angeschlossen hatte, war
merkwürdigerweise bisher derselbe Endymion geblieben, als der er auf die
Reise gegangen war, freilich nicht aus eben den gleichen Gründen, die
George so bewahrt hatten, nicht aus Unerfahrenheit und Ekel, sondern
infolge einer außerordentlichen Schüchternheit dem andern Geschlecht
gegenüber, die er hinter einem lärmenden Auftreten immer so lange zu
verbergen wußte, bis es Zeit war, sich vor den letzten Folgerungen einer
gemeinsamen Unternehmung geräuschlos zurückzuziehen. Nun aber hatte er
Toghiri gesehen, hatte sie ganz allein für sich entdeckt, als sie am
Strande Möweneier suchte, war ihr gefolgt und in ihre Hütte
eingedrungen, wo Toghiris Vater ihm alsbald alles abgelockt hatte, was
er an Angelhaken, Knöpfen und ähnlichen Wertgegenständen bei sich trug,
worauf er ihm zum Zeichen der Freundschaft die Stirn mit einem
übelriechenden Öl salbte. Solchergestalt in einen Familienkreis
aufgenommen, fühlte Larry den Feuerstrom seines Gefühls in geordnete
Bahnen gelenkt, und es dauerte nicht lange, so war ihm Toghiri als
Eheweib überlassen, er bezog mit ihr eine Hütte neben der ihrer würdigen
Eltern und verbrachte alle freie Zeit im Schoß seiner neuen Familie.
Allen Hänseleien der Kameraden setzte er ungerührten Gleichmut entgegen.
»^She is my wife, hold your tongue!^« sagte er und versorgte sich
ausgiebig mit verdorbenem Schiffszwieback, von dem ihm Billy ein ganzes
Faß zur Verfügung gestellt hatte, und den seine Schwiegereltern gerne
aßen. Für Toghiri indessen, -- nun, es fand sich schon dieser oder jener
Bissen, um so ein Vögelchen zu füttern! -- Aber sie an Bord zu bringen,
wie Mr. Forster ihn einmal dringlich aufforderte, -- nein, das ging doch
nicht! »Sir, sie ist ein wenig verlaust!« bekannte er, übrigens ohne zu
erröten, nur mit einem verschämten Grinsen, daß keinen Zweifel daran
aufkommen ließ, daß wenigstens er nicht Anstoß nahm ...

Alles Hinzögern, Aufschieben, Verweilen aber mußte einmal ein Ende
nehmen. Bösesten Wetterzeichen zum Trotz ließ Cook am 24. November die
Anker lichten. Der Schiffszimmermann brachte mit der Feuerzange einen
scheußlich haarigen Skorpion auf Deck, den er im Volkslogis gefunden
hatte, und warf ihn dem Kapitän vor die Füße, Jacopo folgte ihm und rang
die langen dünnen Finger, -- konnte es gewagt werden, unter einem so
schlimmen Omen auszufahren!? Cook schleuderte das Tier mit einem
Fußtritt durch ein Speigatt. Am Abend waren sie rings von
graphitschwarzer rollender See umgeben, und mit der Finsternis brach der
Sturm los, die Matrosen fluchten und brüllten und nur Cook bewahrte
angesichts des drohenden Untergangs eine kalte steinerne Ruhe. George
dachte nicht gern an diese Sturmnacht zurück, ein verschwommenes
Erinnerungsbild, -- verschwommen, weil er von Anfang an angstvoll
bedacht gewesen war, es nicht festzuhalten, -- wollte ihm dann immer den
Vater zeigen, wie er den schwächlichen Mr. Hodges beiseite stieß, um
selbst in die Nähe des Rettungsbootes zu gelangen (mit dem Ausruf: »Ach
was, jeder ist sich selbst der Nächste!«). Am anderen Morgen jedoch war
nichts als ein melancholisches Sausen zurückgeblieben und auf langen
glatten Wogen schaukelte ein schlafender Albatros ihnen entgegen und an
ihnen vorüber. Dies war Erschöpfung, -- Ergebung. Schweigsam wurde an
der Wiederherstellung des Schiffes gearbeitet, -- schweigsam und
verdrossen hingenommen, was da kommen mußte, der erste Schnee, die
ersten wandernden Eisschollen. Der einzige, der noch eines Menschen
Antlitz trug, einen Ausdruck freundlichen Staunens, war Mahaine, der
Wilde, der nach wie vor lautlos umherging, obgleich er seine Beine jetzt
mit Lappen umwickelte und sich in einen neuseeländischen
Boghi-Boghi-Mantel hüllte. Er führte ein sonderbares Tagebuch aus
Stäbchen, die er in seiner Ecke auf Deck zu immer neuen Figuren auf dem
Boden anordnete. »Whemuatua-tua«, das weiße Land! so stand das erste
Treibeis darin verzeichnet; Schnee aber hieß »der weiße Regen«, und in
einem Schneegestöber konnte man Mahaine sitzen sehen, mit den braunen
Händen nach den Flocken haschen, ihr Zergehen auf seiner Haut oder ihre
sternige Gestalt auf dem rauhen Gewebe seines Mantels ratlos beobachten.
George holte ihn hinunter in die große Kajüte, die von Pfeifenqualm und
Dunst erfüllt war. Mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl in einem
Winkel der Kajüte sitzend, der Gesellschaft den Rücken drehend, Mahaine
vor sich, der am Boden hockte und mit klugen zutraulichen Augen zu ihm
aufsah, erhielt er seine tägliche Unterweisung im Tahitianischen, sog er
mitten im Eis der Polnähe, während draußen die bleiche ^Aurea australis^
gespenstisch über den starren Himmel spielte, den leuchtenden blauen
Sommergeist dieser kindlichen Sprache in seine Seele. Dies dünkte ihn
besser, als mit am Tisch zu sitzen, in dem Konvivium, das hier von früh
bis spät tagte. Er war sehr unglücklich, war es mit allen Kräften des
jungen, eben erst zum vollen Bewußtsein seiner selbst gelangten
Menschen. Alles, was er an körperlichem Unbehagen, an Gram über den
Vater, an Unbefriedigung über seinen eigenen Zustand im Vergleich zu dem
stetig untadelhaften Cook empfand, verkleidete er mit der einen Maske
des Heimwehs und ergab sich ausgiebig einem schwärmerischen und
tränenreichen Gottesdienst vor den Erinnerungsbildern der Mutter und der
Schwester Riekchen, dem er in der Einsamkeit seiner Koje oftmals haltlos
nachhing, von einem unwiderstehlichen Ansturm der Gefühle überwältigt. O
Gott, o Gott, es kümmerte sich niemand um ihn, und in seinem Innern, da
war eine Hölle, aus der alle Versuchungen stiegen, alle die ersten
stummen unbenannten Forderungen seiner Jahre an seinen Körper, gekleidet
in die Bilder der letzten Monate. Bis in seine Träume verfolgten ihn
diese schmierigen Neuseeländerinnen, die er doch haßte. Übrigens fühlte
er sich ernstlich krank. Die Nahrung, dieses ewige übelriechende
faserige Salzfleisch, widerstand ihm bis zum Erbrechen, das Zahnfleisch
schwoll ihm an, er litt qualvoll an einem Überfluß von Speichel und
konnte sich kaum auf den dick angelaufenen Füßen herumschleppen. Er sah
zum Erbarmen aus, aber nicht, daß sich jemand besonders seiner erbarmt
hätte! Er erwartete es auch gar nicht. Ging es ihnen nicht allen so oder
ähnlich? Starrten sie sich nicht alle aus gedunsenen Gesichtern und trüb
unterlaufenen Augen an wie eine Gesellschaft Ertrunkener, die, halb
verfault, ihr böses, spukhaftes Spiel in diesem fürchterlichen Teil des
Weltalls trieb, -- nein, nicht mehr auf Erden, denn dies war die gute
Erde nun und nimmermehr! Fortgerissen von verfluchten Strömungen und
Winden, ausgeliefert an dies unselige Schiff, zwischen dessen Wänden die
Gedanken hin und her jagten und sich die Köpfe stießen wie gefangene
Vögel, angewiesen einer auf den zum Überdruß, ja, bis zum Widerwillen
wohlbekannten anderen, der gewiß, o, es war wahrhaftig wahr, noch
schmutziger, noch kränker aussah als man selber, waren sie alle von
einer gellenden verzweifelten Lustigkeit. Rum, Tabak und Karten, dies
war's, was einzig aufrechterhalten konnte, denn es lag kein Trost mehr
in dem Gedanken, daß in ihnen der Geist der Menschheit seine Ausbreitung
erkämpfte, die Wissenschaft, sie war keine Göttin in Monaten, wo die
Überzeugung, daß England auf ewig für sie versunken sei, an ihrem Herzen
fraß. Und dabei fortwährend den nagenden Vorwurf der Anwesenheit dieses
Mannes zu spüren, der sich in der Kajüte nicht anders mehr zeigte als
eine vorübergehende Erscheinung, bösen und kalten Blickes und lippenlos
zusammengekniffenen Mundes, verächtlich durch die Nüstern schnaubend,
wenn er über den mit Gläsern, verschüttetem Grog und Tabaksasche
bedeckten Tisch hinsah, -- der sich seine Mahlzeiten jetzt in seiner
eigenen Kajüte anrichten ließ, -- aus Gesundheitsrücksichten, wie er
einmal verlauten ließ, denn auch er litt und sein Antlitz war gelb bis
ins Weiß der Augen hinein von der Galle, die ihm das Blut verdarb, --
aber nicht dies war der Grund, George fühlte es wohl. Cook, von seinem
Leutnant Bligh bedient und umgeben, einer schattenhaft gehorsamen
Kreatur, die das Uhrwerk ihrer Verrichtungen dem straffen beherrschten
Rhythmus in der Brust ihres Meisters aufs Haar angeregelt hatte, ließ
George jeden Nachmittag rufen, wies ihm fast wortlos eine Arbeit an oder
ließ ihn seine eigenen Papiere holen und an seinem Tisch schreiben, der
mehr Bequemlichkeit bot als die Einrichtung in der Kajüte der Forsters.
Dann saß der Jüngling über seine Aufzeichnungen gebückt, von dumpfer
Dankbarkeit erfüllt, daß er hier atmen durfte, in diesem Raum, wo alles
Bezug auf den großen Zweck der Fahrt hatte und wo ihm ein geistiges
Licht zu strahlen schien, ausgehend von dem gesammelten Antlitz ihm
gegenüber, das sich doch oft düster und verzweifelt genug über die
Karten und Berechnungen neigte. »Ein Narr!« schalt der Vater, wenn sie
abends in den Kojen lagen, -- ein vernagelter Narr, der hier nach Land
suchte in dieser starrenden Eiswüste! Von Wasser war der Pol umflossen,
umkreist von Strömungen, die ihren Weg von hier aus geheimnisvoll um den
Erdball nahmen und sich wieder vereinigten wie die Blutwege des
Menschenkörpers. Ein sonderbares, jawohl, ein höchst sonderbares Tier,
die Erde, ein Tier mit zwei Herzen, die an seinen äußersten Enden lagen,
den beiden Polen im Norden und Süden! Denn daß hier das Leben gesammelt
zitterte, lehrten das nicht schon die Lichter, die den Horizont bebend
umflammten? Nun, sie waren seltsam und nicht ganz wissenschaftlich
begründet, die Theorien des Herrn Forster, vielleicht waren sie auch in
ihrem Entstehen ein wenig von dem langen Tisch in der Kajüte beeinflußt,
an dem sich so prächtig über sie debattieren ließ, ähnlich wie über den
Stein der Weisen, dessen Möglichkeit der kleine Dr. Sparrmann in aller
Bescheidenheit standhaft verfocht. Jedoch hätte es umgangen werden
müssen, daß Mr. Forster sich eines Nachmittags, -- es war am 25.
Dezember, am Weihnachtstage, und die »Resolution« lag fast fest, wehrte
sich nur ganz leise auf und nieder bebend gegen einen Ansturm
unabsehbaren Treibeises, von dessen Stößen der Schiffskörper dröhnte und
schütterte, -- man hätte es verhindern sollen, daß der ältere Forster an
diesem Nachmittag urplötzlich seinen Stuhl zurückschob, mitten in einer
angeregten Diskussion mit Wales, daß er mit erhobenen Fingern schnalzte
und wie unter dem Zwange blitzähnlicher Eingebung ausrief: »Das muß ich
doch gleich einmal ...« worauf er sich erhob und, die linke Hand auf dem
Rücken, die Rechte mit ausgestrecktem Zeigefinger an die Nase gelegt,
sehr eilig zur Kapitänskajüte hinüberging, wo Cook ihm stirnrunzelnd und
George einigermaßen erschrocken entgegensah, während Mahaine, neben der
Kohlenpfanne hockend, gleichmütig fortfuhr, mit seinen Zehen zu spielen.
Der ganze Auftritt bildete späterhin eine der furchtbarsten Seiten in
Georges Erinnerung. Der Vater hatte sich breitbeinig mit
selbstgefälligem Schmunzeln niedergelassen und angehoben: »Mein lieber
Kapitän, ich muß Ihnen doch einmal meine Ansicht über den Aspekt unserer
Fortschritte ^in puncto^ der Entdeckung eines Erdteils in diesen Breiten
darlegen.« Er hatte alsdann mit nichts zurückgehalten, was seine Zweifel
an dem Vorhandensein eines solchen Erdteils überhaupt ausmachten, hatte
die Theorie von den Strömungen anmutig hindurchgeflochten und der ^Aurea
australis^ gedacht als einer Ausstrahlung pulsierender, magnetischer
Kräfte, bei welch unbeweisbarer Vorstellung er besonders liebevoll
verweilte, hatte des öfteren »mein lieber Kapitän« gesagt, und zwar in
einem Ton aufmunternder Nachsicht, hatte auch schließlich
zusammenfassend seinen Rat für den weiteren Verlauf der Unternehmung
gegeben, der auf eine schleunige Rückkehr in die lieblichen Gewässer der
Südsee hinauslief, -- und bei alledem hatte er durchaus nicht bemerkt,
was George mit wachsendem Bangen sah, daß nämlich Cooks Augen eine
gefährlich kaltblaue Färbung angenommen hatten und aus dem gelben
Gesichte schienen wie nur irgendein Stück Polareis, daß es um sein
hartes Kinn zuckte und daß seine Hand eine Kartenrolle knackend
zusammenpreßte. Was dann kam, hatte unter vergifteter Höflichkeit
begonnen, -- gedämpfte Satzanfänge wie: »Mein Herr, ich bin zwar von dem
Wert Ihrer Kenntnisse hinreichend überzeugt ...« hafteten George später
ebenso im Gedächtnis wie das Anschwellen der Stimme hinter dem »aber, --
aber, aber!« »Muß Sie _aber_ ganz ausdrücklich bitten ...« »Nun was denn
etwa?« -- »Bitten, Ihre Befugnisse nicht zu überschreiten, -- gefälligst
in Ihren Grenzen zu bleiben ...« Dabei war Cook nicht sitzengeblieben,
sondern er stand am Tisch und krampfte die Hände um die Kante, daß die
Knöchel weiß anliefen. -- »Wertester, ich kannte den ruhigen Mann nicht
wieder!« bekannte Herr Forster späterhin unbefangen dem schaudernd
lauschenden Mr. Hodges. Cook, in der Tat, er stand da etwas
vornübergebeugt wie auf dem Sprunge und bleckte die Zähne, eine
Grimasse, die Mahaine, der ihn starr und staunend ansah, nachahmte und
sie durch eine krallende Gebärde der vorgestreckten Hände verstärkte. In
solchen Fällen, dachte Herr Forster blitzschnell, gilt es, die äußerste
Ruhe zu bewahren, -- laut äußerte er aber unglücklicherweise: »George,
weißt _du_, was Mr. Cook meint?« wozu er etwas unbehaglich lachte und
auf seinem Stuhl herumrückte, -- sich dann allerdings zurücklehnte und
die Arme hoheitsvoll kreuzte, indessen hatte er sich nun einmal die
Blöße gegeben und einer innerlichen Erfahrung zuwidergehandelt, die da
besagt, daß man gefährlichen Tieren auch nicht einen Schatten innerer
Unsicherheit zeigen dürfe, man gebe ihnen damit zugleich ein Gefühl
ihrer Überlegenheit. Diese Überlegenheit von seiten des Kapitäns stürzte
denn auch unmittelbar in die Bresche des Gegners und nahm Formen an, --
bediente sich Redewendungen ... nun, Mr. Forster blies sich auf,
dunkelrot, wie er allmählich wurde, ließ seine runden Augen vorquellen
und -- suchte vergeblich nach Worten, schnaubte, stieß ein »Unerhört!«
um das andere hervor, und: »George, verlasse das Zimmer!« -- worauf
George, der in tödlicher Verlegenheit in sein Heft gestarrt hatte, sich
bleich erhob, denn: -- »Lassen Sie Ihren Sohn aus dem Spiel, er ist ein
braver, unglücklicher Jüngling, dessen Fleiß und dessen Gründlichkeit
von Ihnen schamlos ausgebeutet werden ...« hatte Cook vorher geschrien,
-- »Mein Herr, Sie beleidigen in mir die Würde der Wissenschaft!« »Mein
Herr, Sie selbst sind ein Hohn auf die Würde der Wissenschaft!«

»Mein Herr, Sie, -- ja, bei Gott, Sie sind ja ein ganz anmaßender
Poltron!«

»Mein Herr, Sie sind ein geschwätziger Charlatan!« -- dies etwa waren
die Sätze, die ihm noch in die Ohren gellten, während er aus der Kajüte
glitt. Er warf sich in seine Koje, verzweifelt, blutleeren Herzens,
wagte nicht zu denken, sich des fürchterlichen Erlebnisses klar bewußt
zu werden, schluchzte wild gegen die Wand und lag, wie von einem Schlag
aufs Haupt betäubt, regungslos still, als der Vater eintrat. Jedoch
suchte Herr Forster sein Lager merkwürdig lautlos auf und nahm keinen
Anlaß, sich durch eine Aussprache weiter über seine Niederlage zu
erleichtern. Nachdem er seinen massigen Körper krachend hingeworfen und
mit umständlichem Wälzen einigermaßen erträglich geordnet hatte, hörte
George ihn wohl noch ein paarmal: »Unerhört!« murmeln, alsdann aber zu
seinem grenzenlosen Erstaunen bald tief und gesund atmen, gemäßigt und
anmutig wie nur je schnarchen, -- kein Zweifel, der große Mann schlief,
schlief sanft in dem ihm von seinen Sternen verliehenen
unerschütterlichen Selbstgerechtigkeitsgefühl! Die geisterhaft helle
Polarnacht stand draußen vor den runden vereisten Fenstern und füllte
den Raum mit einem trüben unwirklichen Licht, George sah seinen Atem
dampfen und zog Kleider und Decken schaudernd enger um sich zusammen.
Ununterbrochen krachte und dröhnte der Schiffsrumpf im Kampf mit den
Schollen, sie scheuerten ihre harten rauhen Leiber schurrend an seinen
Flanken, sie zwangen seinen Bug, über sie hinwegzusteigen oder ihre
Massen in Verzweiflung knirschend zu durchschneiden, sie drängten ihn
mit einem fürchterlich klirrenden Getöse der Übermacht gegen den Wind
rückwärts ... Es schien George ausgemacht, daß dies seine letzten
Stunden seien, daß das Schiff nicht standhalten könnte, es ächzte, es
schrie, es mußte in jedem nächsten Augenblick dem Druck erliegen, sich
in seinen Fugen verschieben, als ein Haufen trümmerhaften Holzgebeins
mit ihnen allen zugrunde gehen! Er rührte sich nicht, er lag auf dem
Rücken, die Hände auf der Brust verkrampft, die Augen starr und blicklos
geöffnet, mit heißen zersprungenen Lippen sinnlos flüsternd, Bruchstücke
von Gebeten, Abschiedsworte an die Mutter, an Riekchen, -- dennoch ohne
Furcht, nur mit steinerner Todesgewißheit, mit einem bittern, rasenden
Schmerz über die Verächtlichkeit des Lebens im Herzen, -- dieses Lebens,
das jetzt eben noch in den Schiffsgängen und -räumen polternd torkelte,
viehisch brüllte. Denn es war Weihnachten, die Matrosen hatten Rum,
soviel sie wollten, ja, es war Weihnachten, dachte George mit stumpfem
Hohn, die heulten ihre unflätigen Lieder und der Vater hatte sich mit
dem Kapitän auf Leben und Tod geschlagen, war es nicht so? Mit Degen,
mit Messern? Nein, der Kapitän hatte den Vater mit der neunschwänzigen
Katze gezüchtigt wie einen verfluchten Meuterer und hatte vor ihm
ausgespien, aber der Vater hatte sich nichts daraus gemacht, nur er,
George allein, trug die Schande. Oh, ein Glück, -- ein Glück, daß sie
untergingen! Der Kapitän hatte Recht gehabt, er war der liebe Gott,
kristallen rechtschaffen, wie ein lieber Gott zu sein hatte, sie waren
Gewürm, Gesindel, Zigeuner, ein Dreck zum Wegfegen. Er zog den Strich,
sein Leben, zwanzig Jahre, ergab eine Summe von Mühsal und Plackerei und
Demütigung. »Ja, ja, und du bist schuld!« flüsterte er, in aller
Verwirrung zum erstenmal sein Schicksal ganz begreifend, vielleicht noch
unter dem Eindruck der Worte Cooks, »den Sie schamlos ausbeuten ...« --
er wandte sich ab von diesen Worten, wie seine Sohnespflicht es ihm zu
gebieten schien, und doch, sie flüsterten von allen Seiten in seine
Ohren. In einer bohrenden Fiebervorstellung fühlte er sich auf dem
schnarchenden Atem des Vaters in der Koje unter ihm tanzen, wie eine
Seifenblase, abhängig von dem brutalen Blasebalg dieser ledernen Lunge.
Dazu orgelte der Matrose Friesleben draußen »Vom Himmel hoch, da komm
ich her ...«, ward von trunkenem Gelächter und dem Geheul englischer
Stimmen überschrien, die Mutter schien in der Kajüte auf- und
niederzuschweben, eine brennende Wachskerze in der einen, ein
bluttropfendes Herz in der andern Hand ... Betäubender Urweltslärm brach
wie eine Sturzsee über ihm zusammen. -- -- --

Auch eine solche Nacht, -- auch Fiebertage gingen vorüber. --

Cook berannte den Pol wie ein Stier. -- Aber Land wurde nicht gefunden.
--

Dies auszuhalten, diesen verbissenen Kampf des Willens gegen eine
gleichgültig und machtvoll widerstehende Natur, und nicht nur gegen die
Natur, mehr noch, stumm und zäh, gegen die hohnvoll sich überlegen
dünkende, unausgesprochene Überzeugung des Gelehrtentisches, gegen den
dumpfen, erbitterten Widerstand der Mannschaft, die nicht gewillt war,
oh, keineswegs gewillt, sich hier unten im Dienst einer Idee an den
Skorbut oder den Tod im Eise zu verkaufen, -- diesen Kampf mit
anzusehen, wäre für einen, der dem Kapitän so bedingungslos ergeben war,
wie George, und der sich doch nicht befähigt fühlte, ihn zu
unterstützen, unerträglich gewesen. Der Himmel half ihm mit einer
Lähmung seiner Empfindung, mit der Hülle ergebener Schwermut wie einst,
als die »Mütterchen Elisabeth« ihn und den Vater von Petersburg nach
London trug, -- als es nicht nachhause zur Mutter gegangen war, wie er
unzweifelhaft angenommen hatte, sondern nach London, -- nun ja, das
waren Erinnerungen. Er beherrschte überhaupt ein ungeheueres Aufgebot
von Erinnerungen, so stellte er in dieser Zeit fest, er hatte Muße genug
sie heraufzubeschwören, und fand eine Art von bitterem Behagen darin,
sie auf ihre Einheitlichkeit hin zu prüfen, immer unter dem Leitwort:
»... den Sie schamlos ausbeuten ...« -- ausbeuten, jawohl! Er kam zu dem
Ergebnis, daß des Kapitäns Beobachtung richtig sei, er stellte es sich
als mathematische Aufgabe, den Satz zu beweisen, und, mit sonderbar
abgetötetem Gefühl, übersah er seine Lage scharf und klar und -- fand
sich damit ab.

Dies, George Forster, waren entscheidende, nur allzu entscheidende
Wochen in deinem Leben. Dir war Erkenntnis aufgegangen, Erkenntnis,
George, die erste Bedingung, um handeln zu können! Indessen, -- du
begnügtest dich. Du handeltest nicht. Wozu auch? Mit welchen Waffen
vorgehen gegen diesen Chronos? Nun, nun, wußtest du nichts von leidendem
Widerstand, nichts von stillem Eigensinn, von unterirdisch wühlenden
Plänen zur Entthronung des Tyrannen? Nichts? Wandtest dich nur ab von
ihm, gefaßt und blaß, die Unterlippe ein wenig eingezogen, ja, wandtest
dich auch seelisch von ihm ab, daß er von nun an nie wieder dein volles,
aufrichtiges Sohnesantlitz zu sehen bekam? So tatest du und -- gingest
weiter im Joch, -- George, George, du bist in der Tat sanftmütig und
freundlich, bist liebenswürdig, -- oh, jawohl, in der Tat, nur allzu
liebenswürdig, kleiner George! -- -- --

Ende Januar setzte Cook eine Sitzung an, zu der Offiziere und Gelehrte
am frühen Morgen zu erscheinen hatten, noch ungefrühstückt, was Herr
Forster ungeheuer übel nahm, so daß er am Abend zuvor, nachdem Bligh den
Befehl mitgeteilt hatte, polternd verkündete: Fiele ihm gar nicht ein
...! Dächte auch gar nicht daran ...!! Er lag auch noch in der Koje, als
George bereits schattenhaft lautlos aufgestanden und entschwunden war,
dann erschien er aber doch in der Kajüte, genau eine halbe Minute,
nachdem Cook seinen Platz an der Spitze der Tafel eingenommen hatte,
sagte: »Na, guten Morgen!« stellte gekränkt fest, daß auf seinem Stuhl
Wales säße, und verankerte sich sodann umständlich auf dem einzig
freigebliebenen Sitz, Cook gerade gegenüber, von wo aus er sich
aufmunternden Blickes umsah und fragend äußerte: »Nun, und ...« Cook,
der ihn völlig übersah und überhörte, -- freilich sah er niemand an, --
gab in gedämpftem Ton einen kurzen Bericht über die bisherigen
Ergebnisse der zweiten Polarfahrt, ließ diesen Bericht von Bligh, --
nicht etwa, wie das vorige Mal von einem der gelehrten Herren, nun, war
das nicht kennzeichnend?! -- um einige Zahlenangaben ergänzen, räusperte
sich sodann trocken und sagte, ohne seinem versteinerten gelben Gesicht
irgendeinen Ausdruck zu geben: »Da unser Bemühen, in diesen Breiten Land
zu entdecken, bis dato keinen Erfolg gezeitigt hat, geben wir dies
Bemühen nunmehr auf, uns unsrer Verantwortung gegen Leben und Gesundheit
von Untertanen Seiner Majestät voll bewußt.« Und, nachdem er noch eine
knappe wissenschaftliche Begründung seiner Handlungsweise gegeben hatte,
-- nichts von Erdblutströmungen, nichts von magnetischen Strahlungen kam
darin vor, -- fügte er beiläufig hinzu, daß die »Resolution« den Kurs
seit einer Stunde nordöstlich genommen habe. Hierauf hieß es: »Ich habe
die Ehre, meine Herren!« und wahrhaftig und ohne auch nur von ferne
abzuwarten, ob nicht einer seiner ihm von der Regierung beigegebenen
Berater etwas zu äußern habe, verließ er steif, doch eilfertig hinkend
den Raum, -- er litt seit Wochen böse an einem rheumatischen Anfall, --
gefolgt von seinen Offizieren, von denen Blandey, der zweite Leutnant,
alsbald zurückkehrte, und, in der Tafelrunde frühstückend, in
achtungsvoller Haltung taub gegen den erregten Meinungsaustausch seiner
Umgebung blieb.

George, -- er blieb nicht taub, -- George, er litt tief, ahnungsvoll
erfaßt habend, was diese Stunde Cook gekostet haben mochte. Ein »Hat
er's endlich eingesehen, der Dickkopf?« seines behaglich kauenden Papas
haftete wie die Nachempfindung eines Schlages an ihm in fast
körperhafter Erinnerung. --

So trieben sie nordwärts, -- nordwärts ohne den beschleunigten Rhythmus
freudiger Erwartung im Blut zu spüren wie damals, als sie das erstemal
an den Rätseln des Poles abgeglitten waren, nordwärts, nur mit dumpfer
Befriedigung, mit der mürrischen Hoffnung auf wärmere Luft, auf eine
Nahrung, die nicht stank und von Würmern wimmelte. Cook lag seit Wochen
in seiner Kabine, nicht imstande, ein Glied zu rühren, niemand außer dem
Doktor und Bligh bekamen ihn zu sehen und mit innerem Grauen nahm George
wahr, wie in diesen Wochen die Ausstrahlung des Geistes, die von der
Kapitäns-Kajüte ausging, schwächer und schwächer ward, gleichsam als
würde diese Kraft von dem, der sie aussandte, wieder eingesogen, weil er
selbst ihrer bedurfte. Anfang März, ja, da starrte das Schiff von
Schmutz, Abfälle und gefrorener Unrat lagen überall in den Gängen, man
glitt darüber aus und die Luft war verpestet. Kein Mensch beklagte sich
darüber, -- waren sie denn nicht selber ...

»^Now^, Lady George«, sagte Patton eines Morgens, als er mit gewohnter
Todesverachtung zum ersten Frühstück seinen Haufen Sauerkohl
hinunterschlang, ohne ihn viel zu besehen. Dies war nun einmal seine
Pflicht, als ärztliche Leuchte an Bord mit gutem Beispiel voranzugehen,
und sah man nicht den Erfolg? Er stopfte die langen Fäden des heilsamen
Gemüses mit Gabel und Messer nach in den Mund und blickte dabei mit
gerunzelter Stirn über seine Hornbrille zu George hinüber, -- wer war
der Gesundeste an Bord geblieben? »Also, Master George, da ist ein
Bursche im Logis, er wird's nicht lange mehr machen, -- er wünscht Sie
zu sehen. Habe den Herrn Vater vorgeschlagen, als geistlichen Beistand
...« er warf Forster einen schiefen Blick zu, -- »indes, der Junge ist
nun einmal darauf versessen, gerade Sie ... ^Poor fellow!^ Der Rotkopf
ist's, mit dem breiten Maul, war immer fidel, -- jawohl, der Irländer!«

Larry! George tastete sich an den Wänden zum Mannschaftsraum hinüber,
die Knie versagten ihm und eine würgende Übelkeit stieg ihm im Halse
hoch, als die beißende Raubtierhöhlenluft aus der Tiefe ihm
entgegenquoll. Da schaukelte ein qualmendes Öllämpchen irgendwo in der
Finsternis, er folgte dem Schein, der über ein paar Hängematten hin und
her zuckte, in denen regungslose Gestalten lagen. Nun, wo war Larry?
George starrte schauernd in die gedunsenen Gesichter, deren Augen ihm
blicklos zugewandt waren, von einer trüben Haut beschlagen wie tote
Fischaugen, -- o Gott, er kannte keine von diesen -- diesen Leichen!
Aber da ging eine schwache Bewegung über das eine Gesicht, die
geborstenen schwärzlichen Lippen, von zahnlosen blauroten geschwollenen
Kiefern gesprengt, schienen sich noch ein wenig weiter zurückziehen zu
wollen, es war die verzerrte Spiegelung eines Lächelns, kein Zweifel,
dieser da, mit der Absicht des Lächelns, das war Larry und -- er hatte
Larrys Haare! »Larry, -- ich -- ich hatte dich nicht vergessen!«
stammelte George erschüttert und neigte sich über den Kranken. Dabei
fiel ihm quälend ein, -- was -- was war nur einmal so ähnlich gewesen,
so als hätte er dies schon einmal geträumt? Und auf einmal sah er sich
in einer hügeligen Sandwüste, schmeckte heiße salzige Luft, beugte sich
-- nun ja, über den Janusch, der da heulte, der sich gehen ließ wie ein
Tier, -- ach, das war es, dies Gefühl, sich nun -- auf alle Fälle -- um
des anderen willen selbst überwinden, sich niederbeugen, ihn anrühren zu
müssen, obgleich dieser da -- sehr übel roch. »Mensch, Bruder, --
Larry!« dachte George in Verzweiflung und legte seine Hand auf den
schrecklichen Fleischklumpen, der aus dem Hemdsärmel hervorquoll.
»Larry, was kann ich für dich tun?« fragte er leise und bekümmert.
Larrys Linke lag auf seiner Brust und schlug die grobe Decke mühsam
zurück, ohne daß er in der erbarmungslosen Kälte erschauert wäre, -- er
fühlte wohl nicht viel Unterschied mehr zwischen dem Grad seiner
Blutwärme und dem dieser fürchterlichen Grabesluft, -- und dann zerrte
er an einer Schnur, die ihm um den Hals hing, -- wo die Schlüsselbeine
spitz hervortraten. Er öffnete die Hand ein wenig und zwei Amulette
wurden sichtbar, -- und nun wieder dieses Lächeln, dieses entsetzliche,
und zugleich ein heiserer, rauher Ton, -- nein, das war nicht die Stimme
der ^Rakes of Mallow^, jene vergnügte Metallstimme von den Inseln her.
»Toghiri!« röchelte es da mühsam und noch einmal zupfte die Hand an der
Schnur.

George glaubte zu verstehen. Mit bebenden Fingern berührte er die kalte,
schweißige Haut, knüpfte die Schnur los. »Toghiri bringen?« fragte er
kopfnickend und hielt nun beide Heiligtümer dem Sterbenden vor die
Augen, -- ein Schutzstein aus grünem Jade war's und eine Münze mit der
Mutter Gottes auf der einen und St. Patrick auf der anderen Seite. In
Larrys Augen trat ein Ausdruck beseligter Dankbarkeit und dann schloß er
sie, -- nicht um zu sterben, nein, nur zufrieden, verstanden zu sein, --
ja, das war nun erledigt, er brauchte sich nicht weiter abzumühen an dem
Bewußtsein, daß noch etwas geschehen müsse, etwas, das ihm immer wieder
entglitt, -- was, -- was war es nur? Nun durfte er vergessen. Noch
einmal hob er die Augendeckel schwer, die Lippen zuckten, -- George
verstand, dies war der Abschied. »^Fare well^, Larry!« sagte er stockend
und suchte seinen Weg hinaus, in der Dunkelheit stolpernd und ganz
stumpf vor Kummer.

Übrigens lebte Larry noch tagelang und sie waren längst hinaus aus dem
Bereich der Treibschollen und Pinguine, ja, graue Meerschwalben, die um
die Masten strichen, schienen Land zu verkünden, als sie eines Morgens
eine steife Puppe, in Segeltuch gehüllt und mit einer Kanonenkugel
beschwert, vom Achterdeck aus versenkten. Bligh sprach ein eintöniges
Vaterunser hinter der Leiche drein und George stand dabei und sah
Mahaine hinter einer Taurolle mit großen entsetzten Augen
hervorlauschen. Und nachher lehnte er an der Reeling, starrte
stundenlang in das Gewander der Wogen und pfiff die ^Rakes of Mallow^,
-- falsch, er wußte es, -- aber dennoch, -- immer wieder. --

Die Osterinseln waren das erste Stück Land, das ihnen der freie Ozean
stumm darbot, wie er sie vor Jahrzehnten dem Jakob Roggewein hingehalten
hatte. Mahaine bemerkte in seinen rätselhaften Aufzeichnungen: das Volk
ist gut, aber die Insel sehr elend, während George sich unter anderen
Bemerkungen aufschrieb, daß die großen Hüte aus Flechtwerk, die in zwei
breiten Krempen auf die Schultern fielen, den Frauen ein
»leichtfertiges, buhlerisches Aussehen« gäben. Dies schrieb er gleichsam
mit zusammengebissenen Zähnen nieder, irgendwelche verzweifelten
Absichten im Herzen, daß, wenn sie nur erst wieder auf Tahiti wären ...
Jawohl, er war entschlossen, -- wenn anders sich sein Zustand von
bedingungsloser Verzweiflung und vorbehaltloser Gleichgültigkeit gegen
alles, was eine lange Kindheit über ungestört in ihm geblüht hatte, --
wenn man dies als Entschlossenheit bezeichnen kann. Er trug einen
wütenden Ekel in sich herum, gegen das verschmutzte Schiff, in dessen
Planken man gezwungen war auszuharren, gegen dies ewige, ewige Wasser,
gegen das Essen, das er aß, das Bett, in dem er schlief. Er haßte alle
Fahrtgenossen und wußte, daß sie sich untereinander haßten, daß sie sich
nicht mehr sehen konnten, sich verachteten, im Geiste anspien, -- er
hörte das alles aus ihren fortwährenden widerwärtigen Zänkereien, ja,
diesen »wissenschaftlichen Disputen!« -- er haßte den eigenen
ungepflegten, verkommenden Körper mit all den abscheulichen Merkmalen
des Skorbuts, er haßte, -- oh, nicht zuletzt und am wenigsten, -- den
Vater, der infolge mangelnder Bewegung fett geworden war und so
unantastbar gesund blieb (was er auf das Pfeifenrauchen schob, er pries
tagaus, tagein seine Weisheit, sich so wohl mit Tabak versehen zu haben.
Wie haßte aber George auch diesen süßlichen Qualm, in dem er Tag und
Nacht geräuchert wurde!). In dieser Stimmung also faßte George
Entschlüsse, -- ja, Entschlüsse, die im Grunde nichts anderes waren als
ein der Versuchung weinerlich Nachgeben und darauf ein tage- und
nächtelanges Umhertaumeln zwischen fieberhaften Vorstellungen. Jedoch
genügte es, daß Cook wieder auftauchte, ausgemergelt wie ein Gespenst
seiner selbst, aber in der alten Straffheit und einen kalten
Willensglanz in den eingesunkenen Augen, einen Blick, unter dem die
Sauberkeit des Schiffes und die äußere Regelmäßigkeit des Dienstes sich
hoben, ohne daß es irgendwelcher Anschreierei bedurft hätte, -- oh, man
wußte wohl, was man Jimmy schuldig war, und erfüllte es ohne weiteres,
eigene Wege an Land vorbehalten, -- es genügte für George, diesen Blick
auf sich ruhen zu fühlen, um an schlechtem Gewissen fast zu sterben,
innerlich doch aufschluchzend vor Befriedigung in dem Gefühl, daß dieser
Mann ihm rückhaltlos vertraute, ihn für seinesgleichen hielt,
wahrhaftig, daß er, George, außer den Offizieren der einzige war, mit
dem er unbefangen sprach, und der einzige an Bord überhaupt, mit dem er
scherzte. Cook war seine Rettung, jawohl. Und seine Aufmerksamkeit für
den Kapitän bekam etwas Unruhiges, Fieberndes, er warf sein Inneres auf
ihn wie auf einen Felsen, um es aus dem anstürmenden Meer der
Versuchungen zu retten, -- ach, der Versuchungen zum Haß, zum Aufruhr
der Seele und des Körpers, die ihn so maßlos unglücklich machten, weil
ihre Anforderungen, er fühlte es wohl, eben über seine Kraft gingen. Als
sie in der bösen See, in der Gegend der flachen Inseln, kreuzten, wo
Roggewein die afrikanische Galley eingebüßt hatte, bemerkte Bligh bei
Tisch, daß diese Gewässer voller Untiefen »das Labyrinth« genannt
würden, und schreckhaft sprang bei diesem Wort eine Erinnerung in George
auf, der er noch nachhing, während die anderen über die Berechtigung
dieser Bezeichnung stritten. »Auf Kreta aber, einer Insel mitten im
Ägäischen Meer, hauste der Minotauros, eingeschlossen in die
Schneckengänge des Labyrinthes,« und, -- o nein, -- er hatte sie nicht
vergessen, die Wanderungen vor dem Einschlafen, süß und schaurig, denn
drinnen heulte der Minotauros, er selbst aber war sehr klein. Jetzt
aber, -- er horchte auf, Hodges bestritt, daß etwas ein Labyrinth
genannt werden könne, dem eben dieser Minotauros fehle, und Dr.
Sparrmann spießte fein wie einen seltenen Schmetterling die Bemerkung
auf die Nadel, daß man ja nie wissen könne, ob denn nicht doch ein
Minotauros vorhanden sei, da ja ein solcher Minotauros bis zuletzt eine
unbekannte Größe zu bleiben pflege. »Allerdings, allerdings,«
übertrumpfte ihn Wales, sein Kinn hastig reibend, »es ist wie mit dem
Tode, teuerster Doktor, der in jedem Leben hockt ...« »Ihr werdet euch
wundern,« sagte hier Mr. Forster und sagte außerdem »hö, hö!« was sein
ihm eigenes, nicht jedem durchaus angenehmes, etwas fettes Lachen war,
»ihr werdet euch wundern,« wiederholte er, indem er breitbeinig
aufstand, »wenn ihr euer Labyrinth durchwandert habt! Was sitzt darin?
Was ist der Minotauros? Eine Überraschung, ein Osterei, -- hö, hö -- du
_selbst_, mein teurer Freund, du selbsten sitzest drin, bereit dich zu
zerreißen, hast dich vor dir selbst gefürchtet dein Leben lang ...« und
nachdem Mr. Forster diese merkwürdige Erkenntnis mit einem sonderbar
vergnügt ins Leere gerichteten Blick und ruckweise vorstoßendem dicken
Zeigefinger stehend von sich gegeben hatte, verließ er die Kajüte, nicht
ohne nochmals »hö, hö« gemacht zu haben, -- sehr zum Ärger von Mr.
Wales, der Nase und Mund vornehm-verächtlich hängen ließ.

George aber war betroffen, -- war erschüttert. -- --

Er wollte an Bord bleiben, als sie endlich wieder vor Tahiti lagen, er
schützte Arbeit vor, die während der Fahrt zu lange geruht habe, er
schützte Schmerzen in seinem immer noch geschwollenen Fuß vor, er hätte
sich am liebsten wie ein Tier verkrochen, -- indes sah Cook ihn mit
durchdringenden Augen an, die auch hier unter dem flammend blauen Himmel
nichts von ihrem Polarglanz verloren, und sagte: »Sie gehen mit mir,
George!« in einem Ton, der an Selbstverständlichkeit nichts zu wünschen
übrig ließ. Und so ging er mit an Land und duldete, was ihn elend
machte, den Anblick dieses heißen nackten Lebens, an dem er nicht
teilhaben zu dürfen glaubte, denn hier war Cook, der durch das alles mit
verächtlich geschürzten Lippen hindurchging und der ihn schweigend
verworfen haben würde, wenn er sich hätte gehen lassen, -- und dies wäre
unerträglich gewesen, denn er bewunderte, er liebte Cook. Liebte er ihn?
Oder -- haßte er zuweilen auch diesen, haßte ihn um seiner
unerschütterlichen hochmütigen Tugend willen, wegen jenes Auftrittes in
der Kajüte, als Cook den Vater züchtigte und anspie, und damit ihn
selbst? Denn tief, tief fühlte sich George doch mit dem Vater verbunden
und wußte es, ohne es sich einzugestehen, daß er geringer war als
dieser, in irgendeinem Betracht geringer, und deshalb mit Recht abhängig
von ihm, und sei er zehnmal moralisch vorzüglicher. Ja, -- _haßte_ er
manchmal auch Cook? Oh, er wußte es nicht, wußte nichts mehr, als daß er
grenzenlos unglücklich war. Er hatte keine Spielgefährten mehr, um mit
ihnen den körperlichen Überschuß auszutoben, Larry war tot und Mahaine,
-- Mahaine hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt als hinzugehen und zu
heiraten, natürlich, denn dieser Herr, weitgereist und im Besitze so
vieler roter Federn, war den stammverwandten Tahitianern unbeschreiblich
merkwürdig und begehrenswert. Gleich in einer der ersten Nächte ward er
zur Königin Porea »zur Aufwartung« befohlen, und als er sich von dieser
Strapaze erholt hatte, warf er sein Auge auf eine unschöne kleine
Insulanerin, die indessen die Tochter eines Eri war und ihm eine
erhebliche Mitgift an Land und Ansehen einbrachte, -- allein den
Tau-Tau, den Leibeigenen, der ihm von nun an folgen und ihn bedienen
mußte! Mahaine also ward mit einem Schlage ansässig und bürgerlich,
verzichtete auf alle weiteren Reisegelüste und dachte nicht mehr daran,
mit nach England zu gehen. Er legte es George nahe, -- »Teori« nannte er
ihn und »Teori« sagte lockend das braune kindliche Mädchen, das er
mitbrachte, und lachte den Fremden mit breiten weißen Zähnen an, --
seine Schwägerin Tehamai zu heiraten und sich ebenfalls auf Tahiti
niederzulassen, -- ja, im Eifer nahm er Georges Hand und führte sie über
Tehamais feste warme Glieder, sprachlos verwundert, als der Freund sich
losriß und ihn samt seiner vorzüglichen Ware ohne ein Wort stehen ließ.
Schließlich, schließlich ging ja alles vorüber, vorüber gingen auch die
Tage auf den Sozietätsinseln, wo das Schiffsvolk sich noch einmal in
allen Freuden der Südsee wälzte, vorüber gingen wie Fieberträume die
Erlebnisse der Tänze und Vorstellungen, die den Taumel immer noch
steigerten, vorüber die Wochen, in denen jenes Mädchen aus Eimeo an Bord
war, dem sie Offizierskleider angezogen hatten und das auf Huahaine von
den Eingeborenen in einer wüsten Pantomime verspottet wurde, -- alles
ging vorüber und ließ sich ertragen, wenn anders man es nur sachlich
betrachtete und sich Anmerkungen darüber machte. Gesegnet die
Schreibtafel, die einen begleitete wie einen Talisman, gesegnet jedes
Blatt Papier, das sich zwischen ihn und die aufdringliche Wirklichkeit
der Dinge schieben ließ! So überwand er die Südsee, nahm Abschied von
den lachenden Inseln, ohne die Spur eines Brennens im Herzen, fuhr
vorüber an den Pfingstinseln, an den Hebriden und an Neu-Caledonien, so
wie er einst in St. Petersburg durch die Museen gestolpert war,
grenzenlos ermüdet und abgewandten Herzens, nur maschinenmäßig Eindrücke
aufnehmend und verarbeitend, -- so betrat er noch einmal Neuseeland,
fühlte eine schwache Wehmut, Larrys eingedenk, und versuchte es, Toghiri
aufzufinden, um sich seiner Botschaft zu entledigen, -- gab es indessen
auf, da Toghiri von ihrer alten Wohnstätte verschwunden war und sich
auch sonst nicht blicken ließ, -- armer Larry in der eisigen See, so
schnell vergessen! -- und schlenderte tagelang einsam am Strande umher,
nach Osten spähend und im Winde etwas wie ein gemäßigtes Klima ahnend.
Ach, Europa! nun gab es nichts anderes mehr als _dieses_ Ziel der
Gedanken! Als ein Knabe war er hinausgefahren, hundertfach abhängig,
erwartungsvoll auf die Menschen blickend, und, wie oft auch schon
getäuscht, doch ungebrochen im Vertrauen. Jetzt lag ein Zug
entsagungsvoller Erkenntnis in seinen Augen und um seinen Mund, der
seine zwanzig Jahre Lügen strafte, und hinter seinem unverändert
liebenswürdigen Auftreten, hinter der jungen Lady George, wohnte einer,
den sie alle nicht kannten, ein Einsamer, von zartem, schmerzlichen
Stolz, von einer entschlossenen Selbstgenügsamkeit -- einstweilen! Denn
irgendwie hatten jene Eismeerwochen der Einsicht und Erkenntnis doch
Früchte gezeitigt, irgendwoher keimte eine trotzige Gleichgültigkeit in
ihm, irgendwann war es ihm aufgegangen, daß er ja nicht für alle
Zukunft, nicht sein Leben lang mit dem Vater zu rechnen habe ... Er und
das Schiff! das Schiff, das _seinem_ Willen zur Heimkehr diente! -- und
alles andere war gleichgültig, war Beiwerk, war Nebensache, Geschwätz im
Tauwerk und belangloses Geflügel. Er stand am Bug und starrte voraus auf
die unabsehbare graue, unheimlich von innen sich wölbende und atmende,
tobende und drohende graue Halbkreisfläche, -- ach, Tag für Tag, Woche
um Woche derselbe leere gähnende Osten! -- er packte, er ordnete wieder
und wieder, als müsse er bereit sein, morgen von Bord zu gehen, -- Kap
Horn lag noch vor ihnen, -- er war zur Stelle, wenn der Vater, wenn Cook
ihn wünschten, -- alles in einer ungegenwärtigen Art und Weise und
innerlich mit nichts beschäftigt, als sich sprungbereit für die nächsten
Möglichkeiten in London zu halten und, -- wie sollte er anders, --
Projekte zu entwerfen, Projekte, in denen der Vater ganz und gar keine
Rolle mehr spielte. Er überwand, -- körperlich überwand er die Erde,
trat Feuerland hinter sich, entsetzliche Weihnachtstage auf Feuerland in
Schnee und Regen, unter tierähnlichen Geschöpfen, die »Pesseräh!« sagten
und weiter nichts, in allen Tonarten »Pesseräh«, und hier verlor man
Zeit, so viel Zeit! Er jauchzte innerlich, als nach Staten-Island und
Georgia nun bis zum Kap keine verfluchte Insel mehr zu erwarten war, --
er schluchzte auf, -- übrigens nicht als der einzige an Bord, -- als das
erste europäische Schiff, ein holländischer Segler, ihnen in einer
kalten Mondnacht in Rufweite gegenüberlag und ihnen wie aus Geistermund
die Botschaft wurde, daß ganz Europa Frieden habe!

Das war im Februar 1775. Acht Tage später ankerten sie in der Tafelbai,
inmitten einer Flotte holländischer Ostindienfahrer und französischer,
deutscher und dänischer Handelsschiffe, portugiesischer Kriegsschiffe
und spanischer Fregatten, ganz Europas Flaggen grüßten sie und sie
gingen an Land wie die Träumenden, europäische Herren, den Dreispitz
unterm Arm, das Meerrohr in der Hand, anderen europäischen Herren
ebenfalls mit dem Dreispitz unterm Arm begegnend, europäischen Herren,
die gar nicht verwundert schienen, daß sie einherspazierten und sogar
Damen mit sich führten, Damen in Kleidern aus Paris, zweifellos, -- mein
Gott, das gab es noch, Europa stand noch, war es denn so möglich?!
Überdies gab es Speisen in unsagbar köstlicher, ganz vergessener
Zubereitung, an denen man sich notwendig überessen mußte, -- Herr
Forster tat es, -- es gab Zeitungen, gab -- nach beinah drei Jahren, --
wieder Briefe von zu Hause! Ach, nicht nur hatte ganz Europa Frieden,
auch die Mutter, auch die Geschwister, sie lebten, sie tauchten wieder
auf aus dem Nebel der Unerreichbarkeit ... George lächelte, seit jener
Nacht im Polareis, als die Mutter ihr blutendes Herz an ihm
vorübergetragen hatte, hatte er sie tot geglaubt. Nun sah er so deutlich
ihr blasses Leidensgesicht, die durchsichtige, ein wenig vorspringende
Stirn über den müden breiten Lidern vor sich, -- sah ihren Blick,
unendlicher Liebe und Müdigkeit voll. George preßte die Hand aufs Herz:
nun kam er wieder, ein Mann, nun hatte ihr Leiden ein Ende. Er schwur es
sich, unbewußt des bitteren Reuegiftes, das solche Schwüre in sich
tragen.

Sie kosteten hier schon einen Vorschmack des Ruhmes, der ihrer in der
Heimat wartete, kosteten ihn auf den Festmahlen, die fremde Kapitäne und
Offiziere ihnen gaben, waren aber nur halb bei der Sache, ungeduldig auf
die Weiterreise bedacht. Der kleine Dr. Sparrmann drückte sie
umschichtig an sein abschiedstrauriges Herz und stand mit dem
Schmetterlingsnetz winkend am Hafen, als das Boot sie überholte. Und nun
kam noch einmal das Schiff, Wochen um Wochen: das Schiff! Das Schiff,
ein Erdteil für sich, im Raume, in der Wasserwüste jagend, stampfend,
schlingernd, -- drohend, jetzt noch, ja jetzt noch, und mit Willen nicht
früher, mit ihnen allen in die Tiefe zu fahren, ihnen seine Macht
weisend in bösen Äquinoktialstürmen, -- das unbändige, das mütterliche,
das verhaßte und geliebte Schiff, das am 29. Juli mitternachts den
Leuchtturm von Eddystone tanzend grüßte und Tags darauf im Hafen von
Spithead schaukelte, vornehm und rätselhaft, sie alle entlassend, die
selig auseinanderstrebten, ganz ohne geheuchelte Schmerzlichkeit, denn
jetzt konnten sie einander entbehren, o ja, jetzt konnten sie wohl. --
-- --

                            [Illustration]




                            Zwischenspiel


                            [Illustration]

Ein Weg von vier Jahren und kein Weg durch die Rosenfelder der Jugend,
wie endlich anzunehmen wohl Berechtigung vorhanden gewesen wäre, -- ein
Weg, wenn nicht mehr unterm Joche des väterlichen Willens, so doch unter
dem Zwange des eigenen unentrinnbaren Gewissens vor den Karren des
Familienunglücks geschirrt, -- genug, ein Kalvarienweg mit unzähligen
Leidensstationen, das war der Weg _vom Themsekai nach Cassel_ gewesen.
George Forster, in einiger Hast durch den dünnen Neuschnee auf dem
holprigen Pflaster der engen Gassen dem Hause des Ministers General von
Schlieffen am Königsplatz zustrebend, noch ganz erfüllt von all der
aufgewühlten Bitterkeit der letzten vierzehn Tage, von dem Wiedersehen
mit den Seinen in Halle, wo der Vater nun endlich als Professor der
Naturgeschichte installiert war, wie er selbst schon seit einem Jahre
hier am Carolinum zu Cassel, -- George, so ganz gegen seine Gewohnheit
dahinstürmend, die eine Hand an dem niedrigen englischen Hut, die andere
zwischen die Knöpfe des Redingotes geschoben, er dachte voll
Schicksalstrotzes, jetzt, jetzt erst nach diesem ersten Jahre der
Niederlassung in Deutschland sei er endgültig angelangt in Cassel, als
in einem Ruheport und Friedenshafen. Jetzt erst, so dachte er voll
erzwungenen Freiheitsgefühls, das weiche Gesicht gegen den peitschenden
Schnee erhebend und angestrengt nach dem Turm der Martinskirche spähend,
von dem herab es eben fünf Uhr über die Dächer sang, jetzt erst hatte es
sich vollendet, was damals in der eiskrachenden Christnacht am Pol in
seinem Herzen aufgesprungen war, um gegen den Stachel zu löcken. Oh, in
der Tat, jetzt war er los und ledig und es galt, dies Sömmerring zu
erzählen, es galt sich auszusprechen, das übervolle Herz in den Busen
des Freundes hinein zu entlasten, zu manifestieren die Einsetzung des
eigenen freien Willens als Daseinsfaktor. Indessen, es würde kaum Zeit
sein, Sömmerring noch vor der Sitzung allein zu sprechen, dachte George;
er hatte sich wieder einmal verspätet, hatte sich in Jakobis »Woldemar«
verlesen, sich dann über der Toilette versäumt. Mit langen Schritten
nahm er die letzte Gasse. Jene Leidensstationen, jawohl, sie lagen nun
abgegrenzt in einem Bezirk der Erinnerung, das nicht in die Gegenwart
hineinreichte; dies schrieb er streng sich vor. Dahinten lagen die
demütigenden Verhandlungen mit dem Londoner Admiralitätskollegium über
die Veröffentlichung der Reisebeschreibung Forsters, des Älteren. Oh,
diese Verhandlungen, über denen die ausgelaugte Maske Lord Sandwich'es
hing wie der kalte Mond einer Scheingerechtigkeit, in deren verwirrendem
Licht alle Begriffe zu schwanken begannen! Hier wurde blank
ausgefochten, was auf dem Schiff dumpf in Haß gebrütet hatte, -- und,
nun ja, -- wer fragte jetzt nach Lady George? Die Klingen kreuzten sich
über das weiche Herz hinweg, und die stählerne siegte über die gläserne!
Forster, der Ältere, oder der Ruhm von England, Kapitän Cook? War das
eine Frage? George wünschte sich nicht zu erinnern. Vorüber, dachte er
mit fieberndem Hirn, vorüber, vorüber. Vorüber das Hungerleben in
London, das Schachern mit Naturalien und Kuriositäten, an denen das Herz
doch irgendwie hing, -- George entsann sich im Fluge der geschnitzten
Frauenhand von der Osterinsel, -- hatte er sie nicht geliebt? Sie hatte
drei Guineen eingebracht, gewiß! Vorüber der Ansturm von Gläubigern mit
Bulldoggengesichtern, von Gerichtsverhandlungen vor ungeheuern Perücken,
vorüber das Gespenst des Schuldturms zu Kingsbench, dessen Quadern das
Herz der Mutter zermalmten, oh, unerträgliche Qual! Hier saß Reinhold
Forster zwei Jahre lang und, Gott verzeihe mir, dachte George, aber ich
will das alles noch einmal erleiden, wenn ihm nicht wohl war im Gefühl
des übergroßen Unrechtes, das ihm geschah. Ja, wahrhaftig, Gott verzeihe
mir, dachte George verzweifelnd, wie immer, wenn die Säure unterdrückter
Aufsässigkeit durch seine Gedanken fraß. Und er brauchte nicht mehr
betteln zu gehen, -- vorüber die Bittstellergänge an die Logen in Paris,
in Holland, -- an die deutschen Fürstenhöfe, wo er antichambriert hatte,
den Hut in der Hand, seine Reisebeschreibung gegens Herz gedrückt, ein
berühmter Weltumschiffer, blutjung und bettelarm!

Vorüber, triumphierte er in gewolltem, inneren Jubel und flog über den
breiten, geschweiften Absatz der schön sich windenden hölzernen Treppe
des Schlieffenschen Palais hinauf, drei, vier der niederen Stufen auf
einmal nehmend. Aus der Reihe von Überkleidern, die im Vorzimmer hingen,
entnahm er mit einigem Schrecken den Grad seiner Verspätung, erfuhr von
dem diensttuenden Lakaien, daß Ihre Gnaden, die Frau Marquise von
Mombert noch nicht anwesend seien, atmete ein wenig auf und tupfte vor
dem Spiegel das schneefeuchte Gesicht mit dem Tuche ab. Er sah wohl aus,
stellte er in Eile befriedigt fest, die Wangen gerötet, die Augen klar,
nichts von seiner gewöhnlichen Stubenblässe.

»Der Professor Müller gekommen?« hörte er sich fragen, wie ihn dünkte,
ganz ohne seinen Willen, und ehe er die Antwort hörte, trat er schon an
dem Respektvollen vorüber in die warme Kerzenhelle des Salons und
schritt in eiliger Verlegenheit auf den General zu, der dort vor dem
Marmorkamin in gedämpfter, phlegmatischer Unterhaltung mit einem großen
Herrn in Hofuniform stand, einem Herrn, der sein gepudertes Haupt und
den Oberkörper zurückwarf, als er Georges Namen hörte, und ihm beide
Hände entgegenstreckte. Der Freiherr von Knigge? Nun ja, dies war ein
Herr mit blauen Emailleaugen. George, die Hand am Degengriff, machte die
Runde durch den Halbkreis der Gäste, flüsterte ein-, zweimal seinen
Namen vor unbekannten Erscheinungen, erfuhr, daß es sich um die Herren
Richers und Greve handele, beide von den Hannoveranern in Hanau,
Leutnant Greve und Hauptmann Richers, zu dienen, -- schüttelte Hände,
sah liebenswürdig entzückt in andre liebenswürdig entzückte Augen und
erholte sich endlich, neben Sömmerring verharrend, mit einem kleinen
Hüsteln von dieser Übung gesellschaftlicher Befähigung, die ihn stets
ein wenig Kraft kostete. Jetzt erst stellte er mit einem scheinbar
ziellos umherwandernden Blick fest: ja, Müller war anwesend. Er hatte
ihn begrüßt, ohne ihn zu erkennen. Jene kleine Unruhe am Herzen, die
eben nachließ und ausschwang, war die vielleicht entstanden, als er
Müllers Hand berührt hatte? Er lächelte ein wenig bestürzt und wandte
sich Sömmerring zu, -- was ging denn jener kühle, glatte Mensch mit den
rätselhaft unzufriedenen Augen ihn an? Ach, sein Sömmerring, der bebte
vor Wonne, ihn wiederzusehen nach der halbmonatlichen Trennung, klares
Wasser stand in seinen Augen, die sich voll Bewegung auf George
richteten. Nein, schön war Sömmerring nicht, aber er wurde schön in
seinem Gefühl, und war nicht dies die Seele, die ihm den kalten, fremden
Ort zur Heimat gemacht hatte?

»Unendliches habe ich zu erzählen, Freund!« flüsterte George, die Hand
auf des anderen Arm, wandte sich aber im selben Augenblick der Flügeltür
zu, wie alle Anwesenden. Die acht Männer verneigten sich, als bräche
eine sonderbare Gewalt ihre Nacken. Und die Frau, die in dem apfelgrünen
Seidenkleide dort vor dem weißgoldenen Hintergrund der Türe stand,
starrend in der Hoftracht einer schon halbverschollenen Mode von Paris,
mit den unbeweglich über dem Schoß zusammengelegten Händen die goldene
Dose, das Geschenk des Landgrafen haltend, dem sie, wie es hieß, eine
rührende Zusammenkunft mit dem Geist seiner verklärten Ahnfrau, der
heiligen Elisabeth, verschafft hatte, -- diese Frau rührte kaum die
halbgesenkten Lider, als sie nun dem schwerfällig auf sie zueilenden
General die Fingerspitzen reichte und mit schmerzlicher Hast halblaut
sagte: »Beginnen wir, schnell! Sie haben alles vorbereitet?«

George verspürte ein Rieseln zwischen den Schulterblättern -- wie gut
kannte er das, diese Schauer des Labyrinthes! -- als er jetzt das
überpuderte Antlitz mit den zarten, emporgezogenen Brauen, den leicht
verzerrten Lippen und bebenden Nasenflügeln der sonderbar berühmten
Marquise von Mombert an sich vorübergleiten sah. Der General geleitete
die Dame mit befangenem Tänzelschritt, als ginge es zum Menuett, durch
den Saal zur Türe des Kabinetts. Ein buckliges Geschöpf in
goldgesticktem Schoßrock mit einer übergroßen Lockenperücke trippelte
hinter den beiden drein und brachte durch devoteste Bücklinge und
schadenfrohe Blicke jetzt erst seine Anwesenheit zum allgemeinen
Bewußtsein. Aha, dachte George, dies war der Reisemarschall der
Marquise, war der Monsieur Touchet, der die empfindsamen Dramen schrieb
und überdies die Gabe besaß, durch Handauflegen zu heilen, wie er von
sich zu verbreiten verstanden hatte. Sollte etwas Wahres daran sein? Was
würde man heute erleben? Und nun wurde es ihm plötzlich wieder ganz
bewußt: heute galt es mehr als einen geselligen Zeitvertreib, heute galt
es eine Probe anstellen auf Tod und Leben, einen Beweis erlangen, --
endlich vielleicht. Die Spannung, die den Tag über in seinen Gliedern
gelegen hatte wie unterdrückte Krankheit, schoß auf einmal zusammen und
straffte Geist und Körper zu unerhörter Aufmerksamkeit. Auf der Schwelle
ewiger Geheimnisse stehen, welcher Augenblick! fuhr es ihm durch den
Sinn. Freilich, ein Skeptiker, ein Müller ... dachte er sogleich
geärgert weiter, wahrnehmend, wie dieser, einer Bitte des Generals
folgend, mit undurchdringlichem Lächeln die Kerzen in den Armleuchtern
löschte.

»Die Marquise wünscht es so«, hörte er den General im Ton gedämpfter
Erregung halblaut sagen. »Indessen ist sie für heute nicht disponiert,
uns, wie wir wünschten, einen Blick in die Geisterwelt tun zu lassen.
Sie wird uns jedoch«, übertönte er die flüsternde Enttäuschung der
Gäste, »Zukunft und Vergangenheit auslegen, durch Betrachtung der Linien
unserer Hände und durch Anwendung ihres übernatürlichen
Ahnungsvermögens. Ich, meine Herren,« fügte er hinzu und bewegte
abwehrend die Hand, indem er sich mit halb verhaltenem Ächzen in einen
breiten, tiefen Armsessel niederließ, »ich lege keinen Wert darauf, die
Grenzen meiner etwaigen Zukunft zu erfahren oder gar die Stunde meines
Todes. Dies Amüsement scheint mir völlig eine Affaire junger Leute.« Und
mit dem seltsam mißtrauischen, rührenden Forschen alter Menschen nach
den Mienen seiner Gäste spähend, -- aus der offenstehenden Tür des
Kabinetts fiel eine breite Straße Lichtes in den Saal und verbreitete
eine schwache Helle, -- fragte er: »Nun, wer ist encouragiert genug, den
Anfang zu machen?« Und gleich darauf in gerafftem Ton: »Meine Herren,
lassen wir die Dame doch nicht warten!«

»Stellen wir es doch auf die Probe, dies ausgezeichnete
Ahnungsvermögen!« ließ sich aus einer beschatteten Ecke Müllers Stimme
vernehmen und George ballte heimlich die Hand. »Weiß die Dame, wer hier
anwesend ist? Nicht? Kennt sie einen von uns schon von Angesicht? Nein?
Unmöglich, da sie erst seit drei Tagen hier ist? Nun, -- so wollen wir
an ihr vorbeidefilieren und sie soll zunächst einmal den -- nun,
vielleicht den am weitesten Gereisten -- und den zugleich Berühmtesten
unter uns feststellen!« Hatte ein heimliches Lachen in dieser ruhigen
Stimme gelegen? George war weit entfernt davon, in das Urteil »Eine
süperbe Idee!« einzustimmen, das Schlieffen ausstieß; dieser Mensch
legte es darauf an, ihn zu demütigen, -- nun gleichviel. Welche Komödie!
Da ging man im Gänsemarsch hinüber, Müller an der Spitze. »Wohl dem, der
nicht wandelt im Rate der Gottlosen, noch sitzet da, wo die Spötter
sitzen ...« ging es George bitter durch den Sinn. Aber, was lag daran?
Spielte dieser Mensch etwa auf Eitelkeiten an, die er bei ihm, George,
vermutete? Konnte er so mißkannt werden? Oder kannte er sich selbst so
schlecht? Wie, ward er etwa unruhig bei dem Gedanken, die Marquise
könnte, -- könnte vielleicht den Schotten Richers bezeichnen, der in
Amerika gegen die Franzosen gekämpft hatte, -- er entsann sich
plötzlich, von diesem Fremden gehört zu haben. Aber würde er nicht
trotzdem Forster bleiben, Forster, der Jüngere, mit einem Wort, der
junge Forster? Ah, welche Gedanken auf einem Weg von einer halben
Minute! Keine Gedanken, würdig der Ewigkeit, die sich hier offenbaren
sollte! Galt es nicht, die Verbindung mit dem Herrn zu suchen in dieser
Stunde? Jetzt schritt Knigge, jetzt wandelte Prizier an der Seherin
vorüber, sie rührte sich nicht, ihre Hände lagen regungslos auf dem
Buchsbaumtischchen, hinter dem sie saß; sie schien mit zurückgelehntem
Haupte und halbgeschlossenen Augen den Duft der Räucherkerzchen
einzuatmen, die Touchet dort über der züngelnden Flamme des Leuchters
verbrannte. Jetzt Greve, -- jetzt -- Richers, -- zuckte etwas in den
Zügen der Frau? Vorüber! Und George, ein paar Schritte hinter dem
Hauptmann, fühlte sich törichterweise erleichtert, zauderte, ging, von
Sömmerring leise geschoben, vorwärts und ... Es war die Stimme Touchets,
die da plötzlich sagte: »^Restez ici, Monsieur, Madame a fait son
choix!^«

Madame hatte gewählt, in der Tat. Es war geschehen durch eine kaum
merkliche Bewegung des Hauptes, der linken Hand. George fühlte sich auf
einmal allein, hörte ein Gemurmel hinter sich ersterben, atmete den
süßlichen Kirchengeruch der Luft und sah verwirrt in diese blicklosen
Augen, Augen, die wie beschlagene Spiegel wirkten: die Iris war nach
oben gedreht, die Pupille nur halb sichtbar und das Überwiegen des trüb
geäderten Augapfels gab dem farblosen Antlitz mit den scharfumrissenen,
hellroten Lippen einen blinden, einen übermäßig leidenden Ausdruck.

»Man weiß im Geisterreich von seinen Verdiensten«, sagte jemand im
Nebenraum, Gelächter und Gemurmel quoll noch einmal auf, ein Stuhl ward
behutsam gerückt. Dann stand im Raum die atmende Stille der Erwartung.

»Was wünscht Monsieur zu wissen?« hörte George jetzt die Stimme Touchets
mit einer scharfen Süßlichkeit in Ton und Ausdruck. »Die Vergangenheit
oder die Zukunft? Ah, -- die Zukunft, -- nicht wahr!?«

»Die Vergangenheit!«

George stieß es heftig hervor. Es galt eine Probe. Es war nicht ruchlose
Neugier, daß er hier stand! Dies im Auge behalten, sich den Zweck nicht
trüben lassen!

Die Vergangenheit! Erfahren, ob es möglich war, daß Gott den Menschen
würdigte ... Und mit einer ungeduldig heischenden Bewegung stieß er der
Somnambule seine geöffnete Linke hin und fühlte sie von schlaffen,
kühlen Fingern umfaßt, -- Fingern, von denen doch eine beängstigend
saugende Kraft ausging. George dehnte den Brustkasten in einem seltsamen
Gefühl der Schwäche. Wie, -- stürzte all sein Blut in seine Hände?

Und während er in diesem fremdartigen Taumel die Augen schloß, fühlend,
daß der stumpfe Blick der Frau an ihm emportastete, -- war nicht damals
am Kap die große Fledermaus so an seiner Brust hinaufgeklettert, die
sich in seinem Jabot verkrallt hatte ... da hörte er etwas wie einen
tönenden Seufzer, -- zwei, drei Worte ...

Nun, dies war wirklich zum Lachen!

Und er raffte sich zusammen und sah mit halbem Lächeln auf die Sitzende
nieder.

»Nun, Madame, beliebt es? Die Vergangenheit, wenn ich bitten darf!«

Eine Schleuse schien geöffnet. Die Worte kamen unaufhaltsam.

»Da ist eine Reise, wenige Tage zurück, -- oh, keine große Reise für
Monsieur, -- hundert Meilen über Land zu fahren, was will das heißen für
Monsieur, der die ganze Erde kennt? Eine Reise zu Verwandten, Monsieur?
Die Verwandten sind lange in einem Land fern der Heimat gewesen. Ich
sehe -- Armut. Das ist vorbei. Monsieur hat gearbeitet für seine alten
Eltern. Sind es die Eltern, Monsieur? Gut! Aber die Eltern sind nie
zufrieden mit Monsieurs Erfolgen. Ist es ^Madame Mère^? Nein. Aber der
alte Mann ... Ich sehe einen Berg. Ich sehe eine bittere Galle. Ich
fühle -- Neid. -- Ah, ^assez!^ Monsieur wünscht das nicht zu hören. Es
hat wenig Freude gegeben beim Wiedersehn. Streit, -- Kummer. ^Assez!^
Monsieur ist jetzt sehr allein. Da ist eine Frau, -- braune Augen.
^Prenez garde, monsieur!^ Monsieur hat Freunde, ah, sehr gute Freunde,
-- da sind _hohe_ Herren. Die letzten Jahre? Viel Arbeit, viel Reisen,
-- immer für den alten Mann. Aber -- ist es nicht so? -- Monsieur haßt
den alten Mann ...«

George, der seine Hand an sich reißen wollte, fühlte eine Lähmung,
fühlte Schwindel, fühlte sich wie unlöslich an diese saugenden Finger
geschlossen.

»Oh, wie der alte Mann wächst, je weiter es zurückgeht! Er macht den
Himmel dunkel. Viel Wasser, -- viel. Oh, welche Länder ...«

Hier legte Touchet seine Hand um das Gelenk der Frau und willenlos
öffnete sich ihr Griff um Georges Linke.

»Genügt Ihnen dies, -- Monsieur?« flüsterte der Franzose von unten
herauf mit einem Entblößen seiner Zähne, einem Hochziehen der Oberlippe,
das seinem zugespitzten Gesicht einen Ausdruck von Bosheit verlieh.

George nickte stumm. Er wandte sich, schwankte in den Saal zurück und
suchte seinen Stuhl. Und nun er endlich saß und seine Stirn mit dem
Taschentuch betupfte, seine linke Hand heimlich abrieb, um die
Erinnerung an jene schlangenhafte Berührung los zu werden, kam er
allmählich wieder zu sich, empfand die beruhigende Wärme, die von seinem
Nachbar Sömmerring ausging, der fast Schulter an Schulter mit ihm saß,
seufzte auf und wußte wieder: hier, dies war der Salon im Hause des
Ministers, dort auf dem Kamin blinkte in einem Lichtstrahl die glasierte
chinesische Vase, leise und geschwätzig pendelte von der Kommode her der
Gang der Boule-Uhr durch die Stille. Dies neben ihm, atmend und Leben
verratend, war Sömmerring, ach, der _Freund_, und an seiner Rechten,
Müller, o, trotz allem, auch eine heimatliche Seele. Indessen, mein
Gott, gab es hier nicht einen kleinen Anhalt dafür, daß er -- er selbst
war, -- oh, wollte niemand ihn anreden und diesem Kreiseln seines
Gehirns Einhalt tun? Da stand von Knigge nun vor dem Tisch im Kabinett,
das starke, rosige Gesicht unter dem gepuderten Toupet vom Kerzenlicht
angestrahlt und mit selbstgefälligem Lächeln dem lauschend, was Madame
ihm zu sagen hatte. In der fahlen Maske ihres Gesichts bewegte sich der
krankhaft rote Mund unaufhaltsam und quoll über von jenem rauhen, tiefen
Geflüster mit der röchelnden Betonung gewisser Worte, diesem Geflüster,
das hier nicht zu verstehen war. Da war, durch einige Stühle von ihm
getrennt, der General, man hörte deutlich sein kurzes, mühsames Atmen
und das Klingeln seiner Berloques, mit denen er wie gewöhnlich spielte.
Da war Prizier, er wippte mit dem Stuhl und trug Langeweile zur Schau;
freilich, dies hatte mit Alchemie wenig zu tun. Und da waren, ein wenig
nach Stall und Leder riechend, die beiden Herren Greve und Richers,
jawohl, von den Hannoveranern in Hanau, er hatte von ihnen gehört, sie
waren zu Pferde herübergekommen, um die Seherin zu hören, -- Angehörige
übrigens der Loge »Friedrich von der Freundschaft«, also nicht strikter
Observanz, noch nicht, -- diese waren ganz Andacht, saßen vorgebeugt da,
hielten die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, die Hände gefaltet
zwischen den Knien, beobachteten starr den Eindruck, den die Worte der
Seherin auf den Zügen von Knigges hervorriefen, warfen sich zurück,
schüttelten ratlos die Köpfe, griffen sich grübelnd ans Kinn ... Gute,
junge Leute das, der Hauptmann und der Leutnant, dachte George, einer
unbehaglichen Rührung voll, der eigenen sechsundzwanzig Jahre nicht
eingedenk, -- und doch, -- was erinnerte ihn plötzlich daran? Jene
ersten Worte der Seherin, jener gehauchte Ausruf bei seinem Anblick, --
nein, -- lächerlich! Dennoch, was hatte sie gemeint! -- Gegenwärtiges?
Zukünftiges? Stand ihm etwas bevor, das jenen Seufzer rechtfertigte? War
es also noch nicht genug gewesen, -- das alles, was hinter ihm lag? Aber
er wollte sie nicht um die Zukunft befragen, nein, er hatte genug von
der Erfahrung, daß zwischen ihm und jener Fremden dort am Tisch kein
Schleier waltete, daß kein noch so dünnes Häutchen seine Erinnerung von
ihrer Seele schied, -- daß hier, -- ja, daß hier also in der Tat ein
seltsames Ineinanderwogen der unsichtbaren Wesenheiten verschiedener
Personen statthatte. Ein Ineinanderwogen, ein Verschmelzen nicht nur der
Seelen, -- auch die Zeitbegriffe waren aufgehoben, -- Vergangenheit,
Zukunft, das stand aufgerissen da in einer weiten, raumhaften Gegenwart,
in der alles nebeneinander ragte, was bestimmt war, ein Leben fließend
zu füllen. Welch ungeheurer Frieden, dachte George bestürzt, müßte dort
wohnen hinter der niederen Stirn von Madame! Ja, dieses Wesen in dem
mitgenommenen Kleid aus verschlissener, grüner Seide, in der Robe einer
halbverschollenen Mode von Paris, es war im Besitz der All-Einheit, es
mußte strahlen von gesammeltem Lichte, -- es war -- -- seltsam, seltsam!
-- nichts als ein greifbarer Ausdruck göttlicher Allwissenheit. Ach,
aber es wohnte da kein Frieden; da war Qual. Qual sprach aus den
gereckten Zügen dieser Frau, aus ihrem blinden Tasten nach den Händen
der Fremden, aus ihrem Zusammenzucken, wenn die Stimme Touchets in ihr
Hirn drang. Das war keine Herrscherin im Unsichtbaren, -- nur ein armes
Werkzeug, ein geknechteter Schalltrichter für übermenschliche Stimmen.
Aber ich, dachte George weiter, gepeinigt, das Erlebnis bis ins Letzte
auszuschöpfen, wenn es _mir_ gelänge, das Trennende auszulöschen,
durchzustoßen das Häutchen, zu zerreißen den Schleier, -- wenn ich mich
nur hingebe, mich strömen lasse, -- es gelingt, -- es gelingt! Und
wieder empfand er das Kreiseln des Gehirns, das Aufgehobensein des
Selbstbewußtseins, jene Ahnung des Schwebens, wie er sie erfahren hatte
in den Gebetsrasereien der vergangenen Monate. Gleich, -- gleich, --
dachte er krampfhaft, -- oh, schon hatte er aufgehört, George Forster zu
sein, was war dieser Name, wen hatte er einmal bezeichnet? Einen
gefeierten, jungen Gelehrten? Einen Professor der Naturwissenschaften am
Carolinum zu Cassel? Einen Schützling von Fürsten? Einen Freund guter
Freunde? Ein Schwall von Erinnerungen stürzte zwischen ihn und sein
Bemühen, auszulöschen. Irgendeine Stimme, empfunden wie ein bohrender
Punkt glühenden Lichts, der die Dunkelheit nicht aufkommen ließ,
wiederholte eigensinnig: »Cassel! Carolinum! Collegium! Gold, Gold und
wiederum Gold! Landgraf und Konsorten! George, George, Forster, Freund!
Bruder Amadeus!« und widerwillig gab er nach, ließ ihn wachsen, den
Punkt, anschwellen das Licht, erkannte sich, jawohl, George Forster,
Professor der Naturwissenschaften am Carolinum zu Cassel, der
Gelehrtenschule des Landgrafen von Hessen, George Forster, Mitglied des
geheimen Rosenkreuzerzirkels, mit dem Bundesnamen Amadeus, der hier saß,
als hätte er Zeit übrig für -- müßige Charlatanerien, -- nicht wahr, so
würde der Vater das nennen, -- als müßte er nicht über seiner Arbeit
brüten, um Geld zu verdienen, Geld! _Viel_ Geld, denn was tat man ohne
Geld, ohne Bücher, Instrumente, gute Kleider, wie sie seine
Lebensstellung nun einmal nötig machte, also Geld für sich und dann, --
aber, o mein Gott, immer noch und endlos, für den Alten, der jetzt dort
in Halle saß, und sich mit Lust der Erkenntnis hingab, daß die
Postverbindung zwischen ihm und dem Sohne nun außerordentlich viel
besser war, als zwischen London und Hessen-Cassel!

George rückte sich ein wenig zurecht und kam durchaus zu sich. Er
schauderte zusammen, es war kühl im Saal, das Feuer im Kamin war
niedergesunken. Eben kehrte Sömmerring von der Seherin zurück, das
Lächeln verlegener Ratlosigkeit um den Mund, das er für unerklärliche
Fälle vorrätig hatte. »Rätselhaft!« raunte er George zu, indem er sich
niederließ, »sie hat mir mein ganzes Leben gesagt. Dinge, die niemand
wissen konnte. Ich bat um die Vergangenheit, -- wie du!« Dieses »wie du«
stand als Motto über Samuel Sömmerrings Tagen, seit er George kannte.
Indessen ging eine Bewegung durch den Kreis und es ward festgestellt,
daß niemand mehr da war, der Madame befragen wollte.

»Nun, meine Herren, in der Tat? Sie sind befriedigt?«

Der General spähte nach den Mienen seiner Gäste und verweilte prüfend
auf den ihm zunächst Sitzenden, Richers und Greve, die immer noch in den
Anblick der Pythia versunken waren. Zuweilen murmelte Greve etwas wie:
»Unübertrefflich!« worauf Richers, der ein Schotte war, regelmäßig aus
tiefster Seele »^Rather!^« antwortete. Dann, mit leisem Ächzen seine
schwerfälligen Massen in Bewegung setzend und sich auf der Lichtstraße
nach dem Kabinett zu schiebend, nachdem er durch eine Glocke den Diener
hereingerufen hatte, gab er das Zeichen, sich zu erheben. George stand
ernüchtert im Schein der wieder aufflammenden Kerzen. Er meinte, dort im
Kabinett einen Papierumschlag auf den Tisch flattern gesehen zu haben,
die Marquise, hochmütig und erschöpft ins Leere blickend, beachtete ihn
nicht, aber Touchet griff gierig danach. Hier ward ein Handel
abgeschlossen, jene Frau dort lebte vom Verkauf ihrer Ewigkeitsnähe;
freilich, weder sie noch ihr Begleiter wirkten wie fleischgewordene
Gottesgrüße und es war ohne Zweifel eine ganz alltägliche Person, die
dort ein wenig mürrisch den Komplimenten des Generals lauschte. Würde
sie der Gesellschaft noch einmal die Gunst ihrer Offenbarungen erweisen,
ihnen das Geisterreich auftun? -- oh, sie konnte ja sehen, daß die
Herren erschüttert waren wie Moses auf dem Sinai, hier befanden sich
weder Zweifler noch Spötter! Die letzten Worte, die Schlieffen halb in
den Salon hinein gewandt sprach, lösten unterdrücktes dankbares
Gemurmel, durch das die Marquise mit abwesendem Ausdruck
hindurchschritt, während Touchet eilig und widerlich freundlich
Verbeugungen erwiderte, die ihm nicht gegolten hatten. Nun, gehörte jene
Frau etwa diesem krummen Zwerg? War sie in seine Gewalt geraten und
trieb er Raubbau mit ihren Fähigkeiten? George erlag dieser Vorstellung
einen Augenblick, indem er nach der Tür starrte, hinter der die Fremde
verschwunden war. Dann begegnete er Müllers Blicken, in jenem
unbegreiflichen Lächeln auf sich gerichtet, das dieser Mann immer für
ihn hatte. Er raffte sich zusammen. »Ein wunderliches Schicksal,« sprach
der andere ihn an, »dies ist eine Frau von Welt, ihr sogenannter
Reisemarschall aber wirkt wie ein Jude. Wie dem auch sei, -- eine
interessante Demonstration!«

»_Eine_ Empfindung ist zehntausend Demonstrationen wert!« gab George
kalt zurück. Wo war Sömmerring? Man brach auf. Und ein Blick in den Saal
zurück zeigte ihm Schlieffen, den Arm auf das Kaminsims gestützt, tief
nachdenklich vor sich niedersehend. Ein alter, schwerer und müder Mann.
Die Seelen werden ihrer Masken müde, wenn das Leben sich neigt, ging es
George schwermütig durch den Sinn.

Schweigsam schritt er hinter den anderen die Treppe hinunter, hob
aufatmend den Blick, als er ins Freie trat. »Orion!« dachte er wie ein
Gebet. Und nun, -- es schlug erst sieben vom Turm, es war noch Zeit zu
einem Spaziergang, ehe man sich zum Kammerherrn von Canitz begab, wohin
die Gesellschaft auf den Abend gebeten war, gewisser Besprechungen
halber. Er ergriff Sömmerring beim Arm.

»Ich versichere Ihnen, meine Herren, daß sie dies alles nicht wissen
konnte, sie hatte nicht den geringsten Anhalt«, hörte er hinter sich die
Stimme von Knigges, der zwischen Richers und Greve einherschritt. »Es
ist ein Phänomen, ein unerhörtes Naturspiel ...«

»Was sagst du, George?« murmelte Sömmerring. »Ich komme nicht darüber
hinweg, daß die Huren Allwissenheit haben sollen und die Augen reiner
Jungfrauen gebunden sind ...«

»Oh, mein Wertester!« sagte Müller und wandte sein rätselvolles Gesicht
über die Schulter zurück, George mit seinem traurigen Lächeln streifend,
»sind Sie noch in dem Traum von der Vestalinnen Reinheit befangen?«

Prizier lachte zischend. »Schäker!« meckerte er, »ein Schäker, das, der
Professor!«

»Ich weiß es nicht«, sagte George, aus seinen Gedanken auftauchend und
sich Sömmerring zuwendend. »Vielleicht haben wir erleben sollen, daß das
Gefäß gar nicht dürftig und demütig genug sein kann, um das heilige
Leuchtöl aufzunehmen. Diese Frau ist am Leben zerbrochen. Das Gefäß ist
nichts, der Inhalt alles. Selig, die am Geist Armen, ists nicht so? Sind
wir nicht einfach genug, Freunde?

   »Wir treiben viele Künste
   Und kommen weiter ab vom Ziel ...««

Er sprach es träumerisch und wie für sich allein. Müller hatte sich
Prizier zugewandt. Ihre Schritte klangen dumpf auf der schneebedeckten
Straße. Der Fluß dampfte zu ihrer Rechten, lichte Fenster säumten das
jenseitige Ufer wie Reihen riesiger Glühwürmer, im Nebel hob sich
gespenstisch geballt der Turm der Martinskirche.

»Ja, ich habe meinen Beweis!« raunte George und preßte den Arm des
Freundes an sich, »was mir noch fehlte zum vollen Glauben, es ist
gewonnen. Oh, freilich wohl: selig der Glauben, ohne gesehen zu haben.
Aber, -- selig auch, der gewürdigt wird, zu sehen!«

Sie hatten ihre Schritte verlangsamt und blieben hinter den andern
zurück.

»Es geht mir ähnlich, wie dir«, murmelte Sömmerring erschüttert.

»Es ist unmöglich, daß sie meine letzten Jahre kannte,« fuhr George
leidenschaftlich fort, »die Plackerei und Mühsal für den Vater seit der
Heimkehr aus der Südsee, -- all die Reisen für ihn, -- und nun sein
malcontentes Benehmen, seit er glücklich in Halle installiert ist. Nun,
aber du weißt, ich frage nicht nach Dank!«

Dies letzte gehörte nicht zur Sache. Er stieß es hitzig heraus und
schüttelte Sömmerrings Arm.

»Ich weiß, Teuerster, ich weiß ...«

»Oh, nichts weißt du! Sprachen wir uns denn seit meiner Rückkehr aus
Halle? Den Abgrund hat dies Wiedersehn zwischen mir und ihm aufgerissen!
Aber wer ahnte das schon? Welche Seele hätte ich auch nur ganz von ferne
einen Blick in meine tun lassen? Nun, diese Frau sagte es mir: Ihr haßt
den alten Mann ... Sömmerring, Sömmerring, wie wurde mir da!«

Er stieß einen Ton aus, lachend, keuchend. »Guter Gott!« Sömmerring
suchte vergeblich Worte. George beruhigte sich.

»Du siehst mich exaltiert«, sagte er, die Augen zum Firmament erhebend.
»Oh, Freund, ich bin so über die Maßen glücklich, wieder hier zu sein!
Ich war in der Wüste. Ich fand nicht die mindeste Rezeptivität für die
Begriffe, die unsere Glückseligkeit ausmachen. Vielleicht noch für die
physikalische Seite der Sache. Gold machen können, -- o ja! Nicht übel!
Aber -- aber -- Nun, du verstehst mich. Ich hatte dort keinen Augenblick
der Sammlung, die Zeit, die ich unserm Herrn zu weihen pflegte, mußte
ich mich in einfältiger Gesellschaft ennuyieren und über ihre Späße und
Zoten lachen. Tagsüber sortierte ich die Herbarien, wie als Junge. Der
Geist verhalf mir zu Demut, Geduld und Liebe. Meine Schwestern ...«

»Halt!« flüsterte Sömmerring in diesem Augenblick und umkrampfte seine
Hand. »Halt! Schweige!«

Sie waren stehengeblieben. Georges Herzschlag setzte einmal aus. Eine
vermummte Gestalt, übermäßig groß, wie es schien, aber geduckt und den
Kopf zwischen hochgezogenen Schultern bergend, tat schleichende Schritte
an ihnen vorüber, die vom steigenden Monde fahl beleuchtete Häuserwand
entlang, ihren grotesk verkürzten Schatten mit sich führend wie einen
widerwillig gebändigten üblen Geist. Sie überholte die Freunde, um
lautlos in die Schwärze eines Seitengäßchens zu tauchen.

»Manegogus!« flüsterte George mit versagender Stimme. Sie schritten
weiter, die Arme voneinander gelöst, die Köpfe gesenkt, wie ertappte
Sünder. Einmal blickte Sömmerring scheu zurück. »Wie lange mag er hinter
uns gegangen sein?« murmelte er, »man hört kaum einen Schritt in dem
frischen Schnee.«

»Du vergißt, daß es schwer zu verstehen ist, was vor einem Hergehende
sprechen!« redete George hastig. »Außerdem sprachen wir nicht laut. Wir
sprachen auch nicht von Ordensdingen. Oder, ich bitte dich! _sprachen_
wir von Angelegenheiten des Zirkels?«

»Nein, nein!« stieß Sömmerring beteuernd hervor und wandte wieder den
Kopf zurück.

»Du siehst es, du siehst es!« George faßte mit der Hand an den Kopf.
»Überall. Auf Schritt und Tritt! Wußte er von dieser Séance? Natürlich,
er wußte es! Mein Gott, aber dies ist mehr als natürlich.«

Er blickte hinüber nach dem Museum Fridericianum, dessen Fassade drüben
neben der schwer gegliederten Masse des Schlosses in ihren edlen
Verhältnissen unwirklich dastand wie ein vom Monde geborener Traum.
Irgendein Sehnen nach jenen Kammern und Sälen voller Realitäten, nach
reinlich geordneten Sammlungen, nach fest umrissenen Arbeitsstunden
rührte ihn in der Tiefe des Unbewußten an, -- ein junger Baum, der Zucht
des Gärtners gewohnt, was _weiß_ er viel, wenn der Stab ihm plötzlich
fehlt und er in jedem Winde schwankt? George Forster seufzte auf.

Sie stampften den Schnee von ihren Stiefeln und betraten das Haus des
Kammerherrn, dessen ächzende Torflügel ein Bursche vor ihnen aufgerissen
hielt. --

»Ah, auf ein paar Worte, meine Herren, -- mein teurer Freund ...« der
Kammerherr war eilig und ein wenig erhitzt in das Vorzimmer
herausgekommen, wo George und Sömmerring ablegten. Der Diener schien
beauftragt gewesen zu sein, ihr Eintreffen zu melden, jetzt zog er sich
zurück.

»Ich bin untröstlich!« fuhr Canitz aufgeregt und gleichwohl zerstreut
fort, indem er seine Erscheinung im Spiegel musterte und unzufrieden an
seinem Jabot nestelte, »ich muß auch Sie bitten, heute abend alle
Angelegenheiten des Bundes, speziell unsres Zirkels, falls denn die Rede
daraufkommen _sollte_, nur in ganz allgemeiner Weise zu berühren. Wir
müssen davon absehen, die Herren Richers und Greve gerade heute zu
gewinnen. Mit einem Wort, -- wir sind nicht unter uns!«

Er rannte mit kurzen Schrittchen zu einer Flügeltür, öffnete halb und
rief in das zarte Klappern und Klirren von Porzellan und Silber hinein:
»^Mon dieu^, Emil. Er hat doch das Couvert für den Herrn Grafen so
aufgelegt, daß S. Gnaden zu meiner Rechten und zur Linken des Herrn
Professors Forster zu sitzen kommen? Ah, sehr gut so!« Schloß die Tür
wieder und erklärte mit unbeteiligtem Schmunzeln:

»Jawohl, lieben Freunde, -- ein junger Graf Puschkin aus St. Petersburg,
an mich rekommandiert durch die Fürstin Gallizin, ja, durch die Charitin
Amalia! ...« Er lächelte gerührt und fügte hinzu: »Ein _junger_ Herr!
Mit seinem Gouverneur auf Reisen. Er brennt darauf, von der Südsee zu
hören, Allergelehrtester!«

Indem er nun, als vergäße er sie vollkommen, die Freunde wieder verließ
und hinter der Türe verschwand, aus der er gekommen war, tauschten
George und Sömmerring einen Blick, wobei einer von ihnen »^Damned!^«
murmelte. »George,« sagte Sömmerring in diesem Augenblick einer
plötzlichen Erinnerung nachgebend, -- »die Marquise -- was sagte sie als
erstes Wort zu dir? Du fuhrst zusammen, ich sah es.«

George lachte kurz auf. »^Nonsense!^« rief er aus, tat mit seinen
Handschuhen einen Schlag durch die Luft und ging dem andern voran in das
Empfangszimmer. --

»Er hat Weihrauch auf den Lippen und Säure im Gemüt«, dachte er kurz
darauf etwas ergrimmt, als er über die Schulter des jungen Russen
blickend und mitten in einem wohlgebauten Satz über den Hofstaat des
Königs O-Tu den Augen Müllers begegnete, der dort hinter dem Rücken des
Gastes lautlose Schritte auf und nieder machte, Wandleuchter, Bilder und
Spiegel gelangweilt musternd, die Hand in den Westenausschnitt geschoben
und mitunter einen der Anwesenden mit seinen schweifenden Augen
gleichgültig freundlich anblickend. George empfand Kritik in jedem
Auftreten dieses Mannes, jener nahm nichts ernst und hing an die
heiligsten Sentenzen sein skeptisches Fragezeichen. War es die
Beschäftigung mit der Historie, die die Unbefangenheit zersetzte? Woher
nahm er das Recht, alles anzuzweifeln? Hielt er es für ein Recht des
Philosophen? Indessen war er etwa allein Philosoph? Hier stand er,
George Forster, der die halbe Erde gesehen hatte, -- _gesehen_, meine
Herren, der nicht nur ein blasses Bücherwissen hatte wie Sie alle! --
hier stand er im blauen englischen Frack und unterrichtete einen
halbasiatischen Würdenträger über die Eigenschaften der Südseeinsulaner,
entledigte sich dieser Aufgabe in dem weltmännischen Plauderton, den ihm
die Gewohnheit des Umgangs mit hohen Herren verliehen hatte. War dies
ein Anlaß, ein Auge zuzukneifen und die Mundwinkel hängen zu lassen, oh,
nur für eine Sekunde, und dann sah man wieder aus wie ein harmloser
Zuschauer des Lebens; aber George hatte es wohl bemerkt. Er fühlte
entrüstet, daß ihm der Faden der Rede entgleiten wollte, einfach über
dem Gedanken, daß er diesen pflaumenfarbenen Rock noch nie an Müller
bemerkt habe und daß dies im Grunde eine sehr hübsche Farbe sei, nahm
erschrocken wahr, daß die lichten Brauen des Knaben vor ihm sich leise
hoben, seine blassen Augen sich etwas weiteten, daß Herr von Hippel, der
Gouverneur, wunderlich lächelte, -- wußte, daß er sich wiederholt habe,
stockte verwirrt, blickte vor sich nieder und vernahm in diesem
Augenblick dankbar die Aufforderung zu Tisch zu gehen.

»Priziers Vortrag fällt also ins Wasser?« fragte ihn Müller, zu seiner
Rechten sitzend, halblaut in das erste Aufrauschen der Unterhaltung
hinein, nachdem man sich um die runde Tafel herum niedergelassen hatte
und der Graf Puschkin für Minuten völlig von Canitz in Anspruch genommen
wurde, der selig irgendwelche Erinnerungen an allerhöchste Verwandte
Höchstdesselben auspackte.

»^Mon dieu^, was für ein verlorener Abend!«

»Ich halte es nicht für Raub an meiner Arbeit, Stunden im Umgang mit
Menschen zuzubringen«, gab George steif zurück, sich nicht bewußt, daß
seine Augen es verrieten, wie er selbst sich getroffen fühlte. Er sah
auch nicht, daß der andere lächelte, denn er vermied es, ihn
anzublicken. »Mag sein, daß ich meine Arbeit nicht so hoch einschätze«,
fügte er kampfbereit hinzu.

»Wann werden Sie einmal einen Abend bei mir zubringen, Forster?« fragte
Müller herzlich, den Ton der Antwort völlig überhörend. »Ich denke doch,
wir würden manches auszutauschen haben. Ich würde sagen, bringen Sie
Sömmerring mit, indessen es plaudert sich nun einmal zu zweien ungleich
leichter als zu dreien.«

»Haben Sie Neuigkeiten von Jakobi?« fragte er nach einer Weile, als
George nichts erwiderte und ihn nur mit einem unsichern Blick gestreift
hatte.

»Ich danke Ihnen, ja,« sagte der Gefragte nun hastig. »Er ist mit den
Seinen wohlauf. Ach, Pempelfort, -- ein Paradies der Freundschaft!«

Er bediente sich mit Fisch, griff nach seinem Glase und lächelte Müller
nun freimütig an. »Der Freundschaft Angedenken!« sagte er und hob den
grünlichen Römer mit einer schwärmerischen Gebärde, zugleich Sömmerrings
Blick suchend, auf den er alsbald traf, denn Sömmerring, dort drüben
zwischen Richers und Greve, schien mit diesem Blick längst in
Bereitschaft gelegen zu haben. Müller, der bedächtig getrunken hatte und
sich nun seinem Fisch in ausgesucht zierlicher und besonnener Weise
widmete, sagte langsam: »Ich schätze den Menschen Jakobi ungemein. In
bezug auf seine Schriften aber bin ich ein wenig Goethes Meinung.«

George fuhr auf.

»Goethe«, sagte er schnell, »ist ein großes Genie und ein kaltes Herz,
ohne Hingabe und ohne Treue, unfähig, eine Seele wie Fritz Jakobi zu
umfassen. Goethes Geist gleicht der Pracht antarktischer Breiten, mein
Herr, und der »Woldemar« entsprang einem wärmeren Himmelsstrich.«

Er sah Müller hochmütig an, seine Lippen bebten. Müller war ein wenig
erschrocken. Er machte »Oh!« und wandte sich Herrn von Hippel zu, gerade
als der Graf, von dem der Kammerherr endlich erschöpft abließ, um mit
dem Ausdruck eines rosigen apoplektischen Mopses vor sich hinzustarren,
seine Hand behutsam auf Georges Ärmelaufschlag legte.

»Bitte, Herr Professor,« sagte er leise und zutraulich, wie ein
schmeichelndes Kind, »unterrichten Sie mich ein wenig über das Wesen der
Maçonnerie und ...« er ließ einen geschwinden Blick zu seinem Gouverneur
wandern und senkte die Stimme noch mehr, -- »und -- verwandte Dinge. Sie
sind Maurer, -- welcher Mann von Welt wäre es nicht?«

»Sie befehlen, Graf« -- George gedachte der Warnung des Kammerherrn und
war einen Augenblick verwirrt. Dann faßte er sich. In der Tat, --
Maurer, -- wer war es heutzutage nicht?

»Allerdings gehöre ich einer Loge an,« antwortete er zurückhaltend
soweit es die Artigkeit zuließ, »diese Dinge aber sind so allgemein, daß
ich Sie nicht damit ennuyieren darf. Denn ohne Zweifel gehören Sie
selber der Verbindung aller Guten zum Guten an?«

Der junge Mann, knabenhaft noch, blaß über seinem dunkelgrünen
goldbordierten Leibrock und unter dem Puder der Haartracht, senkte die
gewölbten Lider und schob die volle Unterlippe unzufrieden vor.
Irgendeine Erinnerung sang in George auf, -- ach, -- wo doch nur?
Richtig, -- jener vornehme Knabe in der Petersburger Eremitage, -- ihm
sah der Graf ähnlich. Mein Gott, -- dies lag bald zwanzig Jahre zurück.
Er machte eine fast zärtliche Bewegung gegen seinen jungen Nachbarn:
»Belieben Sie nur zu fragen, Graf,« sagte er, »meine Erfahrung steht
völlig zu Ihren Diensten!«

Der Graf, ohne aufzusehen, die Hände ungeduldig bewegend, sprach nun
schnell und leise: »Ich bin Mitglied der Loge zu den drei Weltkugeln in
Berlin. Ich bin aber nur ein einziges Mal mit Hippel dort gewesen, eben,
als man mich aufnahm. Immerhin, ich bin im Bilde, was die Maurerei
angeht. Jedoch, mein Herr Professor,« -- jetzt blickte er George fest an
und sprach lauter, als er wahrscheinlich beabsichtigte, -- »was ist es
mit der strikten Observanz? Was ist es mit der Rosenkreuzerei? Wozu
dient die Alchemie? -- Dies alles wünsche ich zu erfahren,« endete er in
scharfem Flüsterton und behielt dabei Hippel im Auge, der jetzt von
Knigge verfallen war und seinem Zögling keinerlei Aufsicht schenken
konnte. Müller, von seinen beiden Nachbaren im Stich gelassen, saß mit
seinem gewöhnlichen Lächeln unbeteiligt da, George versuchte, mit seiner
Person die Worte des Grafen aufzufangen, war aber überzeugt, daß Müller
zuhörte und alles verstand. »Sie setzen mich in Verlegenheit,« brachte
er hervor, »ich wüßte nicht, von welchem Belang diese Dinge für Sie sein
könnten.« Er überlegte, durchaus im unklaren darüber, welche Art von
Aufklärung hier erlaubt und zulässig sein möchte.

»Da unser Freund in Verlegenheit zu sein scheint,« hörte er da zu seinem
Schrecken Müllers Stimme reden, machte eine Gebärde, als wollte er
Schweigen gebieten, ließ mit einem hilflos empörten Blick zu Canitz
hinüber aber die erhobene Hand wieder sinken, -- »so gestatten Sie mir,
Graf, Sie ein wenig zu unterrichten.«

Müller lächelte fast schalkhaft, er saß zurückgelehnt, nur den Kopf ein
wenig vorgebeugt und seitlich gewandt, seine schönen Hände, die mit den
Flächen nach oben auf dem Tischtuch lagen, bewegten sich zuweilen
leicht.

»Die Alchemie, Graf, nach der Sie fragten, wenn mein Ohr mich nicht
täuschte, ist eine Wissenschaft, deren Beherrschung jeder von uns sich
angelegen sein lassen müßte, denn sie geht darauf aus, uns armen
Sterblichen alles zu verschaffen, wonach unsere innersten Wünsche
stehen, Gold nämlich im Überfluß und langes Leben durch die Erfindung
des ^Aurum potabile^, das einstweilen nachweislich nur Moses, Elias und
Esra besessen haben. Ist's nicht so, meine Herren?«

Er sah sich unbefangen-behaglich im Kreise um und schien sich dessen gar
nicht bewußt zu werden, daß ein verdrießliches Schweigen seinen Worten
folgte, während nun die Diener Teller wechselten und den neuen Gang
herumboten. Erst als sich die Türen hinter den Aufwartenden geschlossen
hatten, denn es gehörte zu den Gesetzen des engeren Zirkels im Hause des
Kammerherrn, daß die Speisenden während der Tafel sich selbst bedienten,
brach Canitz in die Worte aus:

»Ich bin auf das peinlichste überrascht, Sie, mein Wertester, dem ich
mit Fug eine gerechte Mäßigung in allen Fragen der Wissenschaft meinte
zutrauen zu dürfen, von einer so wichtigen Materie leichthin und nahezu
mit Frivolität handeln zu hören!«

»Mit Spötterei!« fiel der ehrliche Sömmerring über den Tisch hinüber
ein.

»Tja, tja ...« keuchte der Kammerherr unter ruckweisem Vorstoßen des
Kopfes und blickte Müller mit vorwurfsvoller Erwartung an.

»Oh!« machte Müller liebenswürdig erstaunt, richtete sich gerade auf und
wandte sich dem alten Herrn mit vollendeter Verbindlichkeit zu.
»Verehrtester, ich bitte aufrichtig um Vergebung. Indessen, da weder
Moses, noch Elias, noch auch jener Esra, dessen Verdienste mir eben
nicht gegenwärtig sind, noch nachweislich unter uns weilen, glaubte ich
mich berechtigt, ihren Besitz der Tinktur anzuzweifeln und mithin
überhaupt das Vorhandensein jenes Lebenselixiers.«

»Niemand«, fügte er unschuldig lächelnd hinzu, »möchte das Geschenk
einer solchen Wunderessenz lebhafter begrüßen als ich. Denn, -- meine
Freunde, -- ich liebe das Leben!« Er hob sein Glas und trank dem
Freiherrn von Knigge zu, der ihm mit einem kaum merklichen Lächeln
Bescheid tat, einem Lächeln, das er nun mit der breiten weißen Hand
gleichsam von seinen Zügen wegwischte, als er das Glas absetzte und mit
seiner etwas fetten Stimme bedächtig sprach:

»Moses, Elias und Esra mögen zuversichtlich in der richtigen geistigen
Verfassung gewesen sein, die den wahren Adepten ausmacht, indessen waren
sie allem Anschein nach nicht darauf bedacht, den flüchtigen Geist zu
materialisieren, und auch nicht im Besitz der Chimie, als eines Mittels,
^Lapis philosophorum^ zu kristallisieren und somit seine Bedingungen auf
den Körper anwendbar zu machen. Denn, meine Herren,« und er wälzte
bedeutungsvolle Blicke von dem Hauptmann Richers zu dem Leutnant Greve,
zwischen denen er seinen Platz hatte und die mit dem sprungbereiten
Ausdruck begieriger Lehrlinge dasaßen, »'s ist der Geist, -- der
flüchtige Geist, der in der wahren Chimie eingefangen wird. Der Geist
ist's, der lebendig macht ...« er aß nachdenklich und hingebungsvoll
einen Bissen, -- »ja, ja, und das Fleisch ist schwach.«

»^Rather!^« bemerkte Richers zustimmend. Der kleine Graf richtete seine
schräg geschnittenen, etwas schwimmenden Augen wieder auf George, zu dem
er das meiste Vertrauen zu haben schien. »Die Herren,« sagte er in
seinem harten rollenden Französisch, »scheinen der Ansicht zu sein, daß
die Alchemie eine schwierige Wissenschaft sei, bitte, ^Monsieur le
Professeur^. Ist es Ihnen bereits gelungen, Gold herzustellen?«

George hantierte hastig mit seinem Besteck. »Graf,« sagte er mit
unverhältnismäßiger Inbrunst, »die Goldmacherei ist eine Nebenfrage für
den wahrhaft Strebenden.«

»Oh! und ich denke es mir so hübsch. Haben Sie von dem Grafen Cagliostro
gehört? Er soll in St. Petersburg gewesen sein ...«

»Der sogenannte Graf Cagliostro ist ein Nekromant und huldigt der
schwarzen Magie, -- ohne Zweifel ...« rief Sömmerring mit etwas
atemloser Stimme über den Tisch hinüber, sah errötend um sich und blieb
mit einem hilfesuchenden Blick an George hängen. »Ich meine nämlich ...«

George aber, in Erregung, dem Grafen zugewandt, aber Müller ins Auge
fassend, sprach hastig wie von einer sonderbaren Eingebung überfließend:
»Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, -- so wird euch solches
alles zufallen. Den _Seinen_ gibt es der Herr schlafend. Alles ist euer,
-- ihr aber seid Christi!«

Auf diese Worte, die eine ungeduldige junge Prophetenstimme in den Kreis
geschleudert zu haben schien und die für eine Minute körperlos strahlend
von der Gewalt ihres Geistes im Raum hingen, war es still geworden, bis
Herr von Hippel von seinem Teller aufsah und mit einem gutmütigen
Lächeln sagte: »Der Herr Professor ist bibelfester als man das
heutzutage bei den Herren von der reinen Wissenschaft anzutreffen
pflegt.« Und, über den Tisch gelegt, begann er, Sömmerring, der ihm,
seiner westpreußischen Mundart wegen, als ein halber Landsmann
erscheinen mochte, eine breite Geschichte von einem kurländischen
Pastoren und einem littauischen Bauern zu erzählen, die auf einen derben
Scherz hinauslief.

»Rosenkreuzerei,« sagte er sodann zu von Knigge, indes die Bedienten
wieder um den Tisch gingen, -- »wart', wart', Freund, -- was hab' ich
doch davon gehört? Nichts Gutes, wie mir scheint!«

»Sie sind ohne Zweifel unterrichtet«, gab Knigge gleichmütig
liebenswürdig zurück.

»Bitte, mein Herr«, sagte der kleine Graf, durch das Klappern der Teller
gedeckt, jetzt leise zu Müller, ihn aufmerksam mit glänzenden Augen
ansehend: »Ich habe gehört, daß es in den Kreisen der Rosenkreuzer
Zauberei und Teufelsanbetung gebe ...«

»Ach, mein Graf, --« Müller schlug einen Ton herzlicher Ergebenheit an,
-- »was hört man nicht alles in dieser bösen Welt! Zauberei und
Teufelsanbetung! Ich wollte, ich hätte einen Rosenkreuzer bei der Hand,
um Ihnen ganz seine Ungefährlichkeit darzutun! Schauen Sie sich unsern
Forster an, werfen Sie einen Blick auf unsern liebenswürdigen Wirt! So
und nicht anders würde ein Rosenkreuzer auch aussehen, -- oder etwa wie
der wackere Doktor Sömmerring dort drüben, wenn schon im ^Opus
mago-cabbalisticum^ zu lesen steht, daß der »^doctor-Titul^ gleichfalls
ein Mahl-Zeichen des Tieres oder des Weibes Jesabel sei«.«

»Ich verstehe nicht ganz«, warf der Graf mit verklärtem Lächeln ein.

»Ist auch nicht nötig, ist ganz und gar nicht nötig, Verehrter, denn das
^Mago-cabbalisticum^ kann kein Sterblicher verstehen, so wenig wie die
^Aurea catena Homeri^. Dies interessiert Sie aber gar nicht, Graf, Sie
wünschen über die Rosenkreuzer ^in praxis^ zu hören, und da sage ich
Ihnen, wenn sich schon die heutigen Rosenkreuzer für die Brüder der
alten Pythagoräer und Gnostiker zu halten belieben, so tun sie das ohne
Recht, denn es fehlt ihnen der Mut, Mysterien zu feiern, und wenn die
Templer Schafskleider umnahmen, wenn sie in die Welt gingen, so sind die
Rosenkreuzer von heute höchstens Schafe in Wolfskleidern, -- sie beißen
nicht, Graf! Und da Ihnen dies alles wahrscheinlich orphische Worte
sind, so will ich mich zum Schluß ganz kurz und klar fassen: es ist zu
viel Wasser in diesen Wein geschüttet, die Rosenkreuzerei von heute ist
ein öffentliches Geheimnis und eine Angelegenheit braver Bürger.«

»Ich weiß nicht, warum Sie einen Gegensatz zwischen der Rosenkreuzerei
und den Qualitäten des Bürgertums zu wünschen scheinen, mein Werter«,
sagte Prizier verschnupft, als fühlte er sich persönlich getroffen.

Herr von Hippel trommelte mit den Fingern auf dem Tischtuch und bemerkte
von oben herab: »Sie haben da recht beruhigende Observationen gemacht,
mein Herr. Mir sind böse Dinge zu Ohren gekommen, die in den
Rosenkreuzerlogen ihr Wesen haben sollen.« Er hob die Hand vor den Mund
und raunte dem Freiherrn von Knigge über den Tisch hinüber ein Wort zu,
das mit Achselzucken aufgenommen ward. Müller wandte sich kalt ab.

»Magie im höhern Sinne, Chimie und ein verborgener Staat, der die
Begebenheiten der Welt sehr dirigieret, sind mit der Hauptzweck dieser
segensreichen Verbindung, Graf. Lassen Sie sich nicht irre machen!« Der
Kammerherr sprach böse und kurzatmig und sah mit geröteten Augen scheel
nach Müller hin, um dann unruhige Blicke über seine Gäste wandern zu
lassen.

»Ich weiß nicht, warum wir uns alle so exaltieren,« sagte jetzt Müller,
irgendwie gelöst durch die Wellen ausgesprochenen und verschwiegenen
Widerspruchs, die ihn trafen. Er gab seine lässige Haltung auf und faßte
Sömmerring lächelnd ins Auge, der ihn finster betrachtete, soweit seine
Gesichtsbildung diesen Ausdruck zuließ. »Wir sind auf dem Wege, über
einer harmlosen Frage unseres wißbegierigen Gastes einen Wortkrieg zu
entfesseln, als seien wir verschiedener Meinung über das Wesen einer
Gesellschaft, während wir es tatsächlich doch nur über ihre
Erscheinungsformen sind.«

»Belieben Sie sich ein wenig deutlicher auszudrücken, Herr Professor,«
sagte Herr von Hippel einigermaßen mürrisch. »Die Institution der
Maçonnerie ist eine ehrwürdige, sanktioniert durch den Beitritt
allerhöchster Herren und Souveräne. Was darüber ist, das -- soll vom
Übel sein ...«

»Die Institution der Maçonnerie,« sagte Müller und blickte angestrengt
auf die Kerzen des Armleuchters vor sich, kleine goldene Funken standen
in seinen braunen Augen, »die Institution der katholischen Kirche, die
Institution des Luthertums, -- und -- wie mich deucht, -- auch die der
Rosenkreuzerei sind Ordensbildungen, sind Kristallisationen innerhalb
des wogenden Ozeans von Geist, der sich nach Christi Tod aus seinen
Schranken befreit in die Welt ergossen hat. Der erste Orden, meine
Freunde, --« er sah sich mit einem seltsamen, nahezu schüchternen
Lächeln im Kreise um und sprach sehr sanft, -- »der erste Orden war der
Orden der Brüder vom reinen Willen. Er war -- und er _ist_. Er hat keine
Gebräuche und Statuten, es gibt keine Grade in ihm, weder blaue noch
rote. Dies ist die unsichtbare Bruderschaft. Wir werden in sie
hineingeboren, oder wir finden sie nie. Wer ihr angehört, erkennt den
Bruder am Klang der Stimme oder am Lächeln des Herzens, -- ich weiß
nicht, -- aber verbunden über alle Grenzen und Weiten sind die Brüder
vom reinen Willen ...«

»Schwärmerei eines Freigeistes!« murrte Prizier.

»Sie unterschätzen geflissentlich den Wert der festen Konventikel, mein
poetischer Freund!« warf von Knigge mit einem rätselhaft hohnvollen
Ausdruck über den Tisch, »moralische Übungen sind für die Seele erfunden
wie der preußische Drill für den Körper. Gesetzt den Fall, -- nun, aber
ich will ganz allgemein bleiben. Sagen Sie uns: ist jener -- reine Wille
ein Präservativ gegen die Versuchungen des Fleisches?«

»Wollen Sie mit jenen wie Nicolai und Lessing keine Christen mehr haben,
sondern nur Menschen, -- Menschen ohne Vorurteile, weder in Moral,
Religion noch Politik? Meinen Sie nicht, daß Sie sich damit auf der
Suche nach der Wahrheit die Mittel abschneiden, sie zu finden?«
Sömmerring fragte es leidenschaftlich, seine Neigung zum Stottern
vergessend und überwindend. Und indem nicht Müller, sondern der
Kammerherr die Frage auffing und nachdrücklich über den Wert der Demut,
der Notwendigkeit der Verachtung alles dessen, was die schnöde Welt
hochachtet, zu dozieren begann, wandte sich Müller an George, der ihn
stumm anblickte, und sagte mit unterdrückter Stimme:

   »Die unsichtbare Bruderschaft,
   Zu der ich auch gehöre,
   Hebt Nacht für Nacht zu neuer Kraft
   Mein Herz durch ihre Chöre ...

Ist dieser Vers Ihnen irgendwo auf Ihren Fahrten begegnet, mein weit
gereister Freund. Weiß Gott, woher er stammt ...«

»Beachten Sie dies, Graf, -- und --« zu Richers und Greve gewendet, --
»auch Sie, meine Herren, wenn anders Sie ein Interesse an diesen Fragen
haben, -- bei der Rosenkreuzerei kommt es meines Wissens -- nun, meines
Wissens! ich habe --« Canitz ließ seine Augen wandern, »nehmen Sie an,
ich hätte einmal jemand gekannt, der mich ein wenig eingeweiht hätte, --
also, es kommt darauf an, Gott nahe zu kommen und in ihm konzentriert
alles zu übersehen, was in anscheinend unbegreiflicher Unordnung da vor
uns liegt.«

Redend erhob er sich, die Linke auf den Tisch gestützt und sich gegen
seine Gäste verneigend. Man folgte seinem Beispiel.

»Innige Vereinigung im Geiste mit diesem höheren Wesen,« sprach der
Kammerherr weiter, die eine Hand auf der Schulter des jungen Russen, mit
der andern das eigene Kinn umspannend und angestrengt vor sich
hinblickend, »das ist's, was der Jünger anzustreben hätte. Und der Weg
dazu? Eine grenzenlose, eine seraphische Liebe zu Ihm, wie auch zu den
Brüdern, beständige asketische Gemeinschaft im Geist und in der Wahrheit
und -- hm, hm, --« er starrte nachdenklich ins Leere, -- »endlich
kontemplative sowohl als auch praktisch experimentierende Erforschung
der Natur!« schloß er triumphierend und sah sich nach Forster um, --
»Nun, ist's nicht so, mein Freund?«

In der Tat, George erkannte mit einigem Staunen eigene Wortreihen
wieder, einem Vortrag entstammend, den er vor nicht allzulanger Zeit im
vertrauten Kreise gehalten hatte.

»Die Herren scheinen mir sonderbar unterrichtet,« sagte Herr von Hippel,
der ein wenig hastig neben seinen Zögling getreten war. Der Kammerherr
meckerte vergnügt.

»Eine kleine Tabagie, meine Herren,« rief er aus, »wie wär's mit einer
kleinen Tabagie und einem Spielchen? Und begeben wir uns der großen
Fragen!«

Bierkrüge und Tonpfeifen, ein Kartentisch warteten im Nebenzimmer, einem
kahlen Raum. Von Hippel blieb seinem Grafen zur Seite, zog Richers und
Greve heran und brachte das Gespräch auf Pferde. Canitz saß mit Knigge
und Prizier beim L'Hombre und fluchte gelegentlich unwirsch. George und
Sömmerring bildeten stumme Zuschauer. Müller lehnte an der Wand unter
einem Bilde des preußischen Königs und sah melancholisch und angewidert
aus. Wieder mußte George an den Petersburger Knaben denken, -- warum
nur? War's die Vorstellung des Königs, von dem jener Knabe damals zu ihm
gesprochen hatte, -- ja, und dies, daß er damals so sehr gewünscht
hatte, der Knabe möchte zu ihm sprechen? Währenddessen war von Hippel,
wohl in der Überzeugung, seinen Zögling endgültig und wirksam in die
zulässigen Bahnen zurückgeleitet zu haben, an den Kartentisch
herangetreten, hatte sich einen Stuhl neben den des Kammerherrn gezogen,
rittlings darauf Platz genommen und begleitete das Spiel mit seinen
Bemerkungen. Wohl, dachte George, es mag nicht immer selig sein, einen
Erben zu hüten. Und, indem er sich selbst, von Sömmerring gefolgt, der
Ecke näherte, in der die jungen Leute saßen, war er bemüht, sich in der
Überzeugung zu bestärken, daß er seinen Platz aus Interesse für den
Russen wechselte, -- und nicht etwa, weil Müller jetzt dort an dem
holländischen Kachelofen lehnte, einer Erzählung Greves zuhörend. Und,
-- oh, es war durchaus nicht immer noch die Beschreibung der Reitschule
in Hannover, der der Knabe mit glühenden Ohren lauschte! Nein, hier in
dieser Ecke unter dem tröpfelnden Wandleuchter, wo es nach Tabak, Leder
und ein ganz klein wenig nach Stall roch, -- denn wie schon erwähnt, der
Hauptmann und der Leutnant, sie waren zu Pferde von Hanau
herübergekommen und saßen nun einmal da, wie sie gekommen waren, in
Reithosen und hohen Stiefeln, -- hier war im gedämpften Ton der
Begeisterung die Rede von der Marquise, hier klang der Name Cagliostros
auf, hier ward die wunderbare Geschichte von dem Polen Sendivogius
erzählt, der, ein Rosenkreuzer ohne Furcht und Tadel, im Besitz des
Steins der Weisen gewesen war.

Graf Puschkin, wieder mit Augen von dem Glanz derer eines Kindes, das
nie für wahrscheinlich gehaltene Märchen von Blutzeugen erhärtet hört,
wandte sich an Müller: »Und Sie, ^monsieur^,« sagte er dringlich, --
»ein Mann der Wissenschaft, -- Sie halten es auch für möglich, Gold zu
machen?«

»Mein Gebiet, Graf, ist das der Weltgeschichte. Ich habe zu hören und --
aufzuzeichnen. Indessen, -- hier stehen zwei Männer vom Fach, -- zwei
Naturforscher. Nehmen wir ihr Urteil an!«

Ja, Müller lächelte. Und gequält wiederholte George oft gesprochene
Worte, deren Inhalt auf einmal einen seltsam schmalen Geschmack hatte
--: »Die Wissenschaft in der Hand jenes Glaubens, der Berge versetzen
kann, -- was vermöchte sie nicht, meine Herren?«

                   *       *       *       *       *

Eine halbe Stunde später unter den kalt funkelnden Januarsternen
zwischen Sömmerring und Müller eilig durch die Gassen schreitend, sagte
George mit einem etwas gewaltsamem Atemholen: »Die Brüder vom reinen
Willen, -- ich habe nicht ganz verstanden, -- ist es eine Institution?«

»^Mon dieu^, -- nein, Freund, -- Sie haben nicht verstanden.« Müller
lachte kurz auf.

»Also, --« George tastete, -- »eine Idee, -- ein Einfall -- ein Wunsch?«

»Es gibt Ideen mit dem Charakter von Tatsachen,« sagte Müller, wieder
mit jenem ungeduldigen Auflachen, indem er den Kragen seines Mantels
hochschlug. »Aber wenn Sie es denn gesagt haben wollen: die Brüder vom
reinen Willen sind die Menschen, denen das Gesetz ihres Lebens in
Harmonie mit dem Gesetz des Universums eingeboren ist, -- und wenn es
Grade unter ihnen gibt, so mögen die unter ihnen die größten sein, die
dieses Gesetz in sich am reinsten vernehmen. Aber ich weiß nicht, ob wir
uns verstehen ...«

George und Sömmerring schwiegen. Müller mochte Mißtrauen fühlen und
seufzte ungeduldig auf. Diese drei Männer, alle noch diesseits der
Grenze der Dreißiger, schritten miteinander durch die Nacht, von den
durch sie kreisenden Strömen verwandter Ideen und Leidenschaften mit
aller Heftigkeit der Jugend angezogen und abgestoßen.

»Sie wissen nichts vom Bunde und ahnen nicht, wie sehr Sie im Herzen der
Unsre sind!« Georges Stimme schwankte ein wenig und klang werbender, als
er selbst es vielleicht wünschte.

Müller zögerte.

»Ich empfinde die Schönheit des Bundes,« sagte er vorsichtig, »und
glaube, daß ihm anzugehören die moralische Glückseligkeit stärkt. Lassen
wir die Chimie beiseite, -- auf sie kommt es nicht an ...«

»Oh, ein wahres Wort!« rief Sömmerring begeistert.

»Freund!« George legte eine bebende Hand auf Müllers Arm. »Sie werden
der Unsre! Ich ahnte es! Jetzt! In dieser Stunde! Kommen Sie mit uns!«

Er nahm Schweigen für Zustimmung. Er ging weiter im seltsamen Taumel,
die andern durch seinen Schritt zur Eile mitreißend. Sie erreichten das
Haus, in dem er wohnte. Er schloß auf und ohne weitere Verabredung
folgten ihm die beiden andern die dunkle steile Treppe hinauf, an der
Wand entlang tastend. In Georges Zimmer angelangt, wo die aufflammende
Kerze ihm die blasse gespannte Miene Sömmerrings, die verschlossene
Müllers zeigte, entledigten sie sich ihrer Mäntel. George räumte mit
fliegenden Händen einen Tisch ab, holte zwei Bronzeleuchter und
entzündete feierlich die Wachskerzen, legte eine Bibel zwischen sie und
entnahm dem Schrank endlich einen eingewickelten Gegenstand, ein
Kruzifix aus Elfenbein, das er enthüllte und aufstellte. Mit fremder
Stimme sprach er: »Meine Freunde! Christus sagt: wo zwei oder drei
beisammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen ...« Und
zwischen den beiden andern niederkniend, die gefalteten Hände auf die
Kante des Tisches gestützt, begann er zu beten.

Vom Flüstern anschwellend zum gedämpften Schrei riß seine Stimme sein
Herz auf. Entsetzen quoll hervor, Angst, Not, Einsamkeit. Er beichtete.
Er enthielt sich keines Geständnisses. Und sei es aus Scham, sei es aus
Hingerissenheit, -- flüsternd fiel Sömmerring, stammelnd fiel Müller
ein, die drei Stimmen, verborgenste Gedanken in Worte sammelnd und
ausstoßend, stiegen nebeneinander auf und vereinigten sich in eine
steile Rauchsäule des Opfers. Diese Drei, die Häupter zurückgeworfen,
die Augen verzückt aufgeschlagen, die Lippen verkrampft, wie sie dort
knieten, sich haltlos in den Hüften wiegend im Sturm der Anbetung -- sie
wurden eins im Rausch. Ihre gefalteten Hände lösten sich, tasteten
nacheinander. Sie umschlangen einer des andern Schultern,
aneinandergelehnt, Schläfe an Schläfe fühlten sie eine unfaßbare
Vermischung ihrer Wesenheit. Und wie der Sturz der Worte nachließ, wie
er mählich in Seufzern verebbte, verharrten sie dennoch kniend, blieben
sie umschlungen, bis ihre Arme in Ermattung niedersanken und Forster
sich als erster wieder erhob, bebend und in den Knien wankend, die Augen
getrübt.

Und da, in diesem Augenblick, als er die beiden andern unsicher ansah,
war es ihm klar, daß dies nicht der Weg gewesen war, Müller zu gewinnen,
Müller, der dort abgewandt stand und die Schnallen seiner Beinkleider
anzog, die sich beim Knien gelockert hatten. Verzweifelte Ernüchterung
überkam ihn. Er verbarg sie hinter einem gleichmütig gesellschaftlichen
Auftreten, das seltsam von dem eben erlebten Taumel abstach.

Sie sprachen nicht mehr viel. Fröstelnd, die Kerze in der Hand,
begleitete George die beiden die Treppe hinunter. Die Wände glitzerten
von Eiskristallen, der Atem rauchte.

»Noch eines war's, was ich fragen wollte, Freund,« sagte Müller auf den
letzten Stufen stehen bleibend und zu George aufblickend. »Die Seherin,
-- sie hatte ganz im Anfang ein Wort für Sie, das Sie zusammenfahren
ließ, -- was war es, -- darf ich es wissen?«

»Ach, Teuerster!« George schritt an ihm vorbei und vollends hinunter,
vor sich hinlächelnd, während er an dem Schlosse der Haustür hantierte.
»Was sie da sagte, war nicht gerade vom Geist eingegeben und im Grunde
ridikül.«

»Und was war es, -- wenn ich doch fragen darf?«

George hielt die Tür auf und erschauerte in dem eisigen Luftzug, sein
schmales Gesicht leuchtete geisterhaft blaß.

»Sie sagte, -- nun, damit Sie etwas zum Lachen haben, -- sah mich an und
sagte -- zu mir: ^Mon pauvre ami, -- Au revoir à Paris!^«

                   *       *       *       *       *

Wann war er nur je erwacht, _ohne_ diesen Druck zu spüren, diesen
dumpfen, fürchterlichen Druck auf seinem Herzen? Mochte es in seiner
frühesten Kindheit gewesen sein, vielleicht auch auf der Wolga, --
vielleicht in den ersten Wochen der Südseereise, -- jene Morgen
jedenfalls, die er sorgenlos begrüßt, jung, froh und erwartungsvoll, ihr
Licht ward aufgetrunken von der grauen Winterschwermut, die nun einmal
das Übliche zu sein schien.

Was für Gestirne, dachte George an diesem Märzmorgen verzweifelnd,
während er sich überstürzt ankleidete, was für Gestirne mag ich über mir
haben? Lag denn sein Leben ganz im bleiernen Schatten des Saturn? Was
aber das Schlimmste war, er empfand es heute wieder mit fürchterlicher
Klarheit, das war dieses: sein Unglück kam nicht mehr von außen her!
Früher war es, -- nun ja, er stöhnte auf und riß an seinen
Schnallenschuhen, -- früher war es eben der Vater gewesen, der diesen
Druck ausübte, der Vater und seine Unrast, der Vater und seine
Arbeitswut, die wie mit der Hetzpeitsche hinter ihm gestanden hatte.
Schließlich, in diesen letzten Jahren, der Vater -- und seine Schulden;
vielleicht auch -- der Vater und seine unverhüllte Eifersucht auf die
Erfolge des Sohnes, obgleich es ein seltsamer geheimer Triumph war,
diesem nackten Neid immer wieder zu begegnen, -- eben noch, bei seiner
Anwesenheit in Halle, wie hatte der Alte es ihn immer wieder merken
lassen, daß er, George, mit seiner Bearbeitung und Veröffentlichung der
Südseereise im Grunde schmarotzt habe -- schmarotzt! »Ich habe die
Südseereise beschrieben,« murmelte George vor sich hin, knöpfte an
seiner Weste und lief erregt in dem engen Alkoven auf und nieder, --
wohl, er wußte ganz gut, daß er sich scheute, sein Arbeitskabinett zu
betreten, weil eine Unordnung darin starrte, deren er kaum noch Herr zu
werden vermochte, »ich habe sie beschrieben auf seinen eigenen,
hundertmal als Befehl ausgesprochenen Wunsch, weil die verfluchten
Engländer, -- Cook nehme ich aus, -- Herrgott, verzeihe mir den Fluch
...!« (Er zog ein Notiztäfelchen und bemerkte sich unter vielen
Aufzeichnungen ähnlicher Art: den 28. März frühe, geflucht.) »Weil also
die Engländer ihm seine eigene Arbeit zu veröffentlichen verboten. Ich
habe sie geschrieben, um ihn aus dem Schuldturm zu retten und uns alle
vor dem Verhungern. Ich habe ihm durch meinen Fleiß und meine
Konnexionen Unabhängigkeit und die gesicherte Position in Halle
verschafft. Macht alles nichts: ich habe schmarotzt, schmarotzt,
schmarotzt! So! Und wer hat denn auf der Reise das Material sammeln
dürfen, wer hat Tagebuch geführt?« Er lächelte böse und sah sich in dem
Spiegel.

»Sie werden weiterhin für Ihren Herrn Papa arbeiten dürfen, Mr.
Forster,« sagte er schneidend zu der graugekleideten, schlanken und
ebenmäßigen Figur da im Glase, die ihn so tödlich ernst aus kummervollen
grauen Augen anstarrte. Gestern war ein Brief aus Halle gekommen: der
Vater bat, o nein, der Vater _ersuchte_ um 150 Gulden. Es war nicht der
erste Brief dieser Art. Woher das Geld nehmen, schrie es in George,
woher?

Und nach einem Augenblick des Händeballens, nach einem krampfhaften
Schütteln, das seinen ganzen Körper durchlief, zog er wiederum das
Notiztäfelchen und machte unter demselben Datum eine weitere Eintragung:
Gehaßt!

Indessen, -- was ging der Vater ihn noch an? Hatte er kein Geld, so
würde er eben keins hinschicken. Empfand er solche Briefe denn im Grunde
tiefer als Mückenstiche? Nein, nein, -- das Schlimmere war es eben, daß
sein Leid nicht mehr durch äußere Verhältnisse kam, daß er stumpf
geworden war gegen das beständige Rütteln des Schicksals, -- das
Schlimmere war, -- daß er sich selbst zum Leid geworden war und -- das.
Er überschritt entschlossen die Schwelle zum Nebenzimmer und sah mit
trostlosem Blick auf das Durcheinander von Büchern, Schriften und
wissenschaftlichen Geräten, das Tische, Stühle, ja, den Fußboden
bedeckten. Keine innere Sammlung, kein Entschluß, keine zusammengeraffte
Arbeit war noch möglich in dieser Umgebung, und diese Umgebung war ein
Abbild seines Kopfes. So dünkte es ihn. Er blieb an der Tür stehen,
lehnte die Stirn an den Rahmen und überließ sich der Ratlosigkeit.

Die Sache war diese: George Forster, -- Forster der jüngere, der
Forster, den älteren, an europäischer Berühmtheit zweifellos überragte,
-- dieser Verfasser einer Reisebeschreibung, die ebensowohl in den
Büchereien ernsthafter Gelehrter, als in den Händen von Fürsten,
Weltleuten und Damen zu finden war, -- dieser liebenswürdige Mann,
dessen Jugend den Reiz seiner interessanten Persönlichkeit noch erhöhte,
den man allenthalben, -- ach, in Paris, in Antwerpen, in Berlin, an
diesen und jenen kleinen Höfen, -- verwöhnt und umworben hatte, diese
Freundesseele, die man mit Betrübnis scheiden sah, wo immer sie je ihr
sanftes Licht gespendet hatte, -- George, kurzum, dem Joche entronnen
und freier Herr seines Lebens, George sah sich nach drei, vier Jahren
dieser Freiheit auf einmal einer sonderbaren, einer erschreckenden
Erkenntnis gegenüber. Wo war der Mann, für den er sich gehalten hatte?
Wo war der Dalrymple Ebenbürtige, der geistige Sohn Cooks, straff, klar,
von jener biegsamen und stählernen Schaffenskraft, von jener
durchsichtig arbeitenden Gehirntätigkeit, -- dieser, der in einer
Atmosphäre strahlender Geistigkeit seine Bestimmung erfüllte, jede
Viertelstunde ausnutzend für den großen Zweck der eigenen
segenverbreitenden Vervollkommnung? Mein Gott, dieses dumpfe Geschöpf
hier unter dem Türrahmen, das bleich aussah und trübe, umschattete Augen
mit geröteten Lidern hatte, wie der Spiegel es ihm soeben höhnisch
gezeigt, sich in diesem Augenblick kaum anderer Zustände bewußt, als
einer bedrückten, von ziehenden Schmerzen gepeinigten Körperlichkeit und
einer quälenden Schuldenlast, die ihm der Anblick der halb ausgepackten
Bücherkiste dort am Boden eindringlich ins Gedächtnis rief, -- dies
also, -- dies war der George Forster, von dem er sich einst unbedenklich
das Höchste versprochen hatte! Er war pünktlich auf die Minute, er war
reinlich, sparsam, akkurat bis zum Peniblen gewesen, solange er unter
dem Vater arbeitete, der das Gegenteil von alle diesem gewesen war. Und
nun? Er begann herumzuhinken und mit verzweifeltem Herzen Ordnung zu
machen; nun, hier sah es aus, wie bei einem Säufer, schlimmer als in der
Petersburger Wohnung des Vaters, wo er auch nie Herr über die
Gegenstände geworden war und den Vater dafür so verachtet hatte, -- aber
trank er denn, -- spielte er, -- hatte er irgend ein Laster? Hier lagen
unbezahlte Rechnungen, -- Rechnungen über Landkarten, kolorierte Stiche,
Bücher, über den blauen englischen Frack, der so hübsch war, über einen
Degen zum Galakleid, -- zwischen den Manuskriptseiten angefangener
Arbeiten. Hier lag ein Spitzenjabot, -- er hatte es längst vermißt! --
in einen Folianten eingeklemmt und auf der Schreibkommode stand ein
einzelner Schuh. Stöhnend sortierte er, schuf reinliche Anhäufungen
gleichartiger Papiere, stellte Bücher auf und stäubte sie ab; vergrub
zwischendurch den Kopf in den Händen und tat das, was er »sich
Rechenschaft ablegen« nannte. Er hatte keine Laster, bei Gott! Er hatte
zu keiner Zeit seines Lebens so bewußt gegen schlimme Anlagen gekämpft,
so meinte er, sich der selbstzerfleischenden Beichten im Kreise der
Logenbrüder erinnernd und der unbarmherzigen Kritik, die sie aneinander
übten. Durfte er sich's nicht eingestehen, daß Menschen ihn liebten, war
die Freundschaft, deren er genoß, ihm nicht Bürgschaft für seine
moralischen Qualitäten? Was war's denn mit dieser Unordnung, die er in
seine Lebensführung einreißen sah, mit dieser Dämmerung, die nun schon
seit Monaten unbeweglich über seiner Seele lagerte? Und standhaft sich
abwendend von der Einsicht in die eigentlichen Gründe seines Zustandes
(gekleidet in ein von grausam unbefangenem Gelächter begleitetes Wort
des Vaters aus den letzten Weihnachtstagen in Halle: »Die Rosenkreuzerei
mitsamt der Alchemie ist eine Sünde wider den heiligen Geist, mein
Sohn!«) jene Klarheit von vorhin erfolgreich verdunkelnd, machte er eine
saubere Aufstellung. Schuld an seinem Unglück war einfach der
Geldmangel, die schlecht dotierte Stelle, die er innehatte, er, der
seinem Ruf und Rang doch ein einigermaßen elegantes Auftreten schuldete
und der kostbare Arbeitsmittel nötig hatte. Ganz zu schweigen von den
Ansprüchen, die der Vater immer noch an ihn stellte, und die er, er
wußte es gut genug, trotz aller harten Vorsätze immer wieder
berücksichtigen würde, denn -- konnte er die _Mutter_ leiden lassen? Er
brauchte also Geld, mehr, als er je durch seine Arbeit verdienen konnte,
nun -- und Gott hatte ihm ja den Weg gezeigt, dachte er eigensinnig und
blätterte, ohne es zu wissen in der ^Aurea catena Homeri^, die vor ihm
auf dem Tisch lag. Gott, der die Seinen erhörte über Bitten und
Verstehen und vor dem die wissenschaftliche Erfahrung nichts galt,
sondern das Wunder.

Hier rührte ihn irgendeine Erinnerung an, kaum spürbar, wie der Schatten
eines vorüberhuschenden Vogels. Er wurde unruhig, faßte sich an die
Stirne, blickte um sich. Was war es nur? Wo hatte er doch etwas erlebt,
das sich zu seinem jetzigen Erleben verhielt wie der Keim zur Frucht,
ach, etwas Ungreifbares, -- da -- wo war es doch? Und plötzlich fiel
Licht auf einen Heckenweg der Vergangenheit wie aufflammender Blitz, und
da sah er sich stehen, einen blühenden Kirschbaum umschlingend,
geschüttelt von einem Ausbruch des Gebetes, _eines Gebetes um Gold_, --
und _da war ihm Gold aus dem Schmutz der Straße geworden_!

Die Wirkung dieser Erinnerung war überwältigend. Er griff mit beiden
Händen an die Schläfen, öffnete den Mund zu lautlosem Gelächter,
stammelte, schluchzte auf wie erlöst. Ein Zeichen, ein Gleichnis, eine
Verheißung; ein Pfand für Gottes Güte hatte er besessen, ach, aus so
frühen Tagen schon. Der Herr, der mich aus Ägypten geführt hat, dachte
er erschöpft und beseligt. Ja, er war auf dem rechten Wege. Er senkte
das Haupt, er faltete die Hände. Er dankte stumm.

Oh, aber daß dieser Teufel nicht von ihm weichen wollte, auch jetzt
nicht, da er leichten Herzens an die Tagesarbeit gehen wollte. Daß es
wiederum begann ihn anzugrinsen und ihn höhnte mit der fahrigen Hast der
eigenen Bewegungen, mit der unbestimmbaren Angst, die ihm am Herzen
hämmerte und ihn hetzte in der Erkenntnis, daß er ausgeliefert sei an
eine dunkle Macht, ein Verirrter, ein Narr, ein -- woher kam ihm nur
dies Wort? -- ein herrenloser Hund! -- -- --

                   *       *       *       *       *

»Der Professor zu Hause? Ist nicht zu Hause? Ist verreist? Schon wieder
verreist? Ist in Göttingen? Potztausend, -- in Göttingen! -- So, so, --
in Göttingen!«

Diese Feststellungen, keinesweges in Wirklichkeit ausgesprochen und
belauscht, sondern lediglich hervorgebracht von der etwas überreizten
Gehirntätigkeit Georges, der, soeben der Postkutsche entstiegen, über
das holprige Pflaster des Göttinger Marktplatzes eilte und in eine der
winkligen Straßen einbog, die zur Universität führten, bewirkten, daß er
sich in bescheidener Weise erheitert fühlte. Wer mochte jetzt in Cassel
dem wackeren Mühlhausen, seinem Bedienten, solche Fragen vorlegen und
sich in Betrachtung versunken wieder von seiner Türe entfernen?
Vielleicht Runde, der Jurist? Die Herren von der Anatomie, Stein und
Bollinger? Nun, die würden versuchen, Sömmerring auszufragen. »So, so,
-- in Göttingen! Schon wieder in Göttingen.« Ja, doch, -- da war man
wieder einmal in Göttingen, hatte hinter sich den kleinen gestohlenen
Reiserausch einer Nachtfahrt und jetzt das Gefühl, weit weg von Cassel
in einer erstaunlich anderen Luft zu sein ... Zudem hatte man die Nacht
sehr seltsam verbracht, hatte einen Reisegefährten gehabt, dessen
Bekanntschaft eine Acquisition von unschätzbarem Wert ergab, einen
jungen Mann, den George zunächst für einen Herrn von Adel gehalten, der
sich alsdann freilich unter dem Namen Meyer vorgestellt hatte, jedoch,
was für ein artiger, interessanter Herr Meyer! George blickte sich
einmal vorsichtig um, auch Herrn Meyers Reiseziel war Göttingen gewesen.
Indes Herr Meyer war verschwunden. Ja, also, da war man wieder einmal in
Göttingen und George fragte sich, ob diese kleinen Reisen, mit denen er
alle paar Wochen einmal aus Cassel ausbrach, etwas wie Fluchtcharakter
trügen? Atmete es sich nicht freier, sobald der Burgfriede jener Stadt
hinter einem lag, klärte sich einem nicht der Kopf, vergaß man nicht
dies und jenes, Zustände, Gedankengänge, die aus der Ferne auf einmal
unwesentlich, ja lächerlich scheinen wollten, so bedrohlich sie einen
bis gestern umdrängt hatten? Oh, es gab Gründe genug nach Göttingen zu
fahren, übergenug! Hatte Cassel eine wissenschaftliche Bibliothek von
einigem Belang aufzuweisen? Reichten seine Sammlungen, seine Institute
auch nur entfernt an die der Universität heran? Hatte Cassel Männer wie
einen Heyne, einen Lichtenberg? Oh, also Gründe genug, und kein Vorwand
nötig, um diese häufigen Fahrten zu entschuldigen! Wenn nur nicht in
einem selber tief innerlich das lächelnde Bewußtsein gelebt hätte, daß
alle diese triftigen Gründe eben eigentlich doch nur Vorwände waren!
Denn letzten Endes gab es allein zwei Erklärungen für die magnetische
Kraft von Göttingen, und die eine davon war, daß diese Stadt außerhalb
jedes magischen Zirkels zu liegen schien, daß die Luft hier dem
unerbittlichen Gedanken, der demütigen Arbeit, der exakten Forschung
dienlicher war. Daß, -- George verhehlte es sich keineswegs -- die
Männer, die er hier verehrte, gewissen geheimnisvollen Bemühungen, denen
man in Cassel mit leidenschaftlich verbohrtem Ernst oblag, gleichmütig
gegenüberstanden, ohne Zustimmung, aber auch ohne Spott, ja, wie einer
ganz und gar belanglosen Angelegenheit. George war aber in dieser Stunde
der Ankunft, während er seinen Mantelsack im »König von England« abgab
und bald darauf an einem Pult im Gewölbe der Bibliothek lehnend sich
Notizen machte, in seinem Geiste weit weniger mit diesen Begründungen
beschäftigt, als mit der Erinnerung an jene ungewöhnlichen
Nachtgespräche. Vor allem ward er nicht müde einen Satz hin und
herwendend auszuspinnen, den der elegante Fremde mit lässiger Schwermut
in die Mondesdämmerung hineingesprochen hatte, die Hände zwischen den
Knien verschlungen, vorgebeugt und das schöne Gesicht zu den Gestirnen
erhoben: »Jedes Leben, mein Herr Professor, hat zwei Pole, die Geburt
und den Tod. Es entfernt sich von dem einen, um sich dem andern zu
nähern. Von einem bestimmten, immer individuellen Zeitpunkte an hört die
anstoßende Wirkung der Geburt auf -- und beginnt die Anziehung des Todes
...« Und ich, -- dachte George aufgewühlt, -- und ich? In seiner
Einbildungskraft, die ihn mit ihrer sonderbaren Symbolik so gewalttätig
meisterte wie je zuvor, nahm die Vorstellung des abstoßenden Pols die
Gestalt nicht der ihn Gebärenden, sondern die seines Erzeugers an: ha,
es war der alte König Minos, pausbackig und puderperückig, der ihn da
hinausschleuderte in die Bahn, ihm nachblickend, wie er dahinfuhr,
mürrischen Angesichts, unzufrieden, ihn aus der Hand gelassen zu haben.
George, zerstreut kritzelnd, und die Blätter der Bücher, die er für
seine Arbeit nötig hatte, lässig wendend, lächelte vor sich hin bei
seinen Gedanken, und blickte nun, seitlich geneigten Hauptes, hinaus in
die grüne Dämmerung der Kastanienbäume. Ja, ich bin dir entronnen,
dachte er, heute frei von Bitterkeit und sommersüßen Blutes froh, dein
Anstoß war nicht schlecht, aber du hast keine Gewalt über mich. Ich
fahre nun dahin ... Er schrieb weiter. Siebenundzwanzig Jahre, dachte es
dabei in ihm fort, und er dehnte sich in den Schultern, -- ich bin noch
jung. Und während er, zum Abschluß gekommen seine Papiere ordnete und
die Bände auf ihre Plätze zurückstellte, ging es ihm durch den Sinn:
wann wird mein Tod beginnen, mich zu locken -- und in welcher Gestalt
...?

Aber sein Herz, das heute so voll Lächelns war, ließ auch diese Frage im
Licht untergehen. Er entzog sich diesen Gedanken, er hörte statt aller
Antwort den Namen: Therese, in sich aufklingen, -- Therese, -- und immer
wieder Therese ...

Es war Juni. In den Gärtchen an der Leine blühten die Zentifolien.
George Forster ging, Therese Heyne aufzusuchen. -- -- --

Er, der die malaiischen Urwälder kannte bis in die verborgenste Blüte
ihrer dampfenden Erdspalten, -- der sich den lauen Wassern der Südsee
hingegeben hatte und vergeblich geworben um das starrende Geheimnis der
Antarktis, -- George Forster kannte nicht die Frau. Er hatte unter
Männern gelebt, so lange er denken konnte. Was hatte die Mutter, was
hatten die Schwestern bedeuten können in dem Ozean von Männlichkeit, den
Reinhold Forster darstellte? Verschlingt nicht das Meer das süße Wasser
der Ströme? Ja, im salzigen Wind männlicher Art hatte George gelebt,
Männer hatten ihn erzogen, geknechtet und neben ihm gearbeitet, Männer
hatte er bewundert und zu Freunden begehrt, -- männlich, geistig, hart
und herbe war sein Frühling gewesen. Es gab gewisse einsame Erlebnisse
seines Körpers, die er vergaß, sobald der Aufruhr der Nerven sich gelegt
hatte. Die fürchterliche sinnliche Erregung der zweiten Polarfahrt war
eins dieser Erlebnisse gewesen, dies war der erste, und, wie ihm
geschienen hatte, der letzte Ausbruch von in ihm wallenden Gluten
gewesen. Der Herd war erschöpft, jahrelang hatte er es nicht anders
annehmen können. Er war der Zärtlichkeit fähig und bedürftig, er trieb
die Freundschaft bis zur Schwärmerei. Frauen? O ja, mehr als eine hatte
sich ihm genähert, seit Europa ihn wieder hatte, mehr als eine,
angezogen von dem exotischen Duft seines jungen Ruhmes, von der Milde
seines Geistes, seiner brüderlichen Freundlichkeit, -- diese und jene
vielleicht auch von dem Gerücht, daß er gelegentlich tahitianische
Kuriositäten als Souvenir verschenkte. Dies, er wußte es selbst genau,
waren angenehme Erfahrungen gewesen, aber ganz und gar ohne die tiefe
Magie seelischer Berührung, wie sie seine Begegnungen mit Männern wie
Jakobi oder Sömmerring, -- ohne den geheimen stachelnden Reiz einer aus
rätselhaften Gründen bekämpften gegenseitigen Anziehung, wie ihn sein
Verhältnis zu Müller hatte; frei endlich von dem Glück, -- ja, er
gestand es sich ein in Stunden zermalmter Demut, -- von dem Glück
sklavischer Abhängigkeit, daß er trotz allem unter dem Joch des Vaters
empfunden. Diese Begegnungen waren, -- verwundert sann er manchmal
darüber nach, -- ihm niemals mehr geworden wie die Erinnerung an Bäume,
Blumen und Schmetterlinge. Und war es einmal mehr gewesen, so war es
begleitet gewesen von körperlicher Angst, die Flucht befahl, -- Angst,
die aus irgendwelchen Abgründen das Bild der Starostschenka
heraufbeschwor und das der Tatarenfrau in Kasan, zugleich mit einem Duft
nach Patschouli, nach asiatischem Lack, Holzkohlenrauch und
irgendwelcher erstickenden menschlichen Ausdünstung. Hierher gehörten
auch die Träume von neuseeländischen Weibern, die ihn von Zeit zu Zeit
überfielen wie ein Alb. Kurz und gut, er haßte diese Offenbarungen der
Natur. Völlig ohne Erfahrung, wie er war, ahnte er doch, daß sie
Anforderungen an seinen zarten Körper stellten, denen er sich keineswegs
gewachsen fühlte.

Dennoch hatte er eines Tages die Grenze überschritten und jenes Land
betreten, unerforscht, und rätselvoller als alle Urwälder der Welt. Oh,
nicht von heut auf morgen, aber er entsann sich nicht der Stadien dieser
jahrelangen Reise, auf der er, sich selbst dessen kaum bewußt, ein
junger Mann von einigen Ansprüchen in bezug auf Kleidung, Bedienung und
Auftreten geworden war. Er wußte deutlich nur um die letzte Erfahrung
auf diesem Wege: denn Karoline Michaelis, so meinte er, sei die Frau
gewesen, bei der er zum erstenmal eine Ahnung des Aufschwungs des Leibes
und der Seele gespürt habe, dessen er fähig war. Es mag dahingestellt
bleiben, inwieweit er sich irrte, wie wenig er imstande war, die Grade
zu ermessen, die sein Gefühl durchlaufen hatte, um zu reifen. Diese
Karoline jedenfalls, die ihn ein seltsam reizendes neues Gefühl
geistreichen Schmachtens gelehrt hatte, ein Glück, das einen leichten
Anhauch von Entsagung hatte: also _dies_ war es, -- nun ja, es _war_ ein
Glück, immerhin ... Diese Karoline war drauf und dran gewesen, ihn an
den Rosenketten ihrer achtzehn Jahre sanft triumphierend mit sich fort
zu führen, als, -- ebenfalls achtzehnjährig, mit ein paar kurzen
herrischen Schritten und böse funkelnden Augen, -- Therese dazwischen
getreten war, ihre Herzensfreundin Therese, und jene Rosenketten ganz
ohne alle Rücksichtnahme mit festen kleinen Händen zerrissen hatte.

Göttingen, -- das war die einzige Stadt unter dem Himmel Europas, die
diesen bezaubernden Schimmer hatte, die diesen Rauschduft atmete, die
Erregungen ausstrahlte, jenes Fluidum, das einen geliebten Körper
umgibt. Eine kleine staubige Stadt an einem träge schleichenden Flüßchen
voll satter professoraler Bürgerlichkeit, das mochte Gott wissen!
Dennoch, -- die Stadt der Gärten voll Geißblattlauben und Rosen. Die
Stadt geheimer Dichtertrunkenheit und öffentlicher Tollheit, die Stadt
der Jünglinge, der Schwärmer, der Poeten. Genug! Göttingen, -- das war
die Stadt der Frau. -- -- --

George, an diesem Juninachmittag den Platz vor der Bibliothek eilig
überquerend, empfand einen sommerlichen Taumel, der ihm alle Gedanken
raubte. Jenes Gartenhäuschen dort, das sein geschwungenes Dach mit der
Bekrönung des spitzen Pinienapfels über die Mauer des Heyneschen Gartens
reckte, von blühenden Rosen umrankt, jene Taxushecken, auf deren starrem
dunkelgrünen Polster sich wuchernder Jasmin in der Überfülle seiner
weißgoldenen Blumen wälzte, -- die Linden, weingelb überblüht, -- diese
Luft, süß, schwer und warm, -- hatte er das alles irgendwo auf Erden
erlebt? Er fühlte ein Stechen am Herzen, seufzte auf und ging langsamer.
Wohl, dachte er, und blickte sich um wie ein Träumender, dies alles ist
-- wie Karoline. Therese aber, -- wieder ging er schneller, der
Schmerzen in der Brust uneingedenk, -- Therese war inmitten seiner voll
aufgeblühten Empfindung wie eine zärtliche Knospe, die sich nicht
erschließen wollte, war stachelnd wie die tahitianische Ananas, war --
wie dieser kurze warnende Schmerz in ihm, auf den er doch mit einer
seltsamen Neugier wartete. Er seufzte wieder, schloß die Augen einen
Atemzug lang und lächelte mit verzogenem Gesicht. Stellte er sich
Therese nicht immer vor, wenn er Schmerzen hatte? Therese _war_ ein
Schmerz. Doch dieser Schmerz tat wohl.

Er war der Mann, der Deutschland mit der andern Hälfte der Erdkugel
verband, -- einer von den paar Männern, die sich an den Fingern
herzählen ließen. Wer immer es erreichte, ihm die Hand zu drücken, tat
es wohl zuweilen in dem Gefühl, einen Urwaldbaum anrühren zu dürfen;
seine Augen, die so viele Wunder gesehen hatten, strahlten den Zauber
einer andern Sonne, heftigerer Sterne aus. Abenteuer umflackerte ihn in
der Vorstellung der Gesellschaft, der stete Glanz unerhörter Leistung
umgab ihn wie eine Gloriole. Zudem: er plauderte allerliebst, er hatte
eine beziehungsvolle Art in Frauenaugen zu blicken, er stand in
anmutiger Haltung an Türpfeiler gelehnt und über Stuhllehnen geneigt,
und diente jedem Salon zur begehrten Zierde. Er war, mit einem Wort:
ach, -- der junge Forster! Ja, selbst in seinem eigenen Bewußtsein
schaltete sich das Ich bisweilen völlig aus und seine Stelle nahm der
junge Forster ein, eine interessante Persönlichkeit von hohem Reiz, ein
Mann von großen Meriten, dessen Gesamteindruck es sicherlich vergessen
ließ, daß er pockennarbigen Antlitzes war und seine Zahnreihen vom
Skorbut böse mitgenommen. Der sonderbaren rauschartigen Glückseligkeit,
mit der ihn diese innere Verwechselung mit dem eigenen Spiegelbilde
erfüllte, zum Trotz, kannte er einen Zustand entsetzlicher Müdigkeit, in
dem die Frage, ob denn kein Mensch um seine wahre Gestalt wisse, wie ein
Schrei war. Ein Mensch, -- oh ja, es gab einen solchen Menschen! Aber
mit Blindheit geschlagen, gleich allen, deren Gestirne ihnen Irregang
vorschreiben, -- geschlagen mit dieser erstaunlichen Unempfänglichkeit
für das eigene Glück, legte George seine Hand in die von Karoline
Michaelis wie in die einer Schwester und ergriff die kleine bräunliche
von Therese Heyne mit einem Zucken seines Herzens, das sich in einem
kurzen Laut, halb Stöhnen, halb Gelächter, befreien mußte. Ah, nun war
er da, -- nun, Gott sei Dank!

Die beiden Mädchen waren ihm Arm in Arm durch die Rabatten
entgegengekommen. Er wandelte neben ihnen zurück, dem kleinen Lusthause
an der Gartenmauer zu. Er begrüßte die Professorin, Theresens heitere
junge Stiefmutter, er begrüßte den Professor, lächelte, tat Ausrufe, gab
das Rätsel auf: mit wem er wohl heute nacht gefahren sei? -- denn Meyer
hatte ihm Grüße an das Haus Heyne aufgetragen, -- empfand dunkel eine
unerklärliche Beunruhigung, als er die Wirkung des Namens seines
Reisegefährten auf den Gesichtern der Mädchen sah, eine aufflammende
Überraschung, die sogleich wieder von einer nicht ganz echten
Gleichgültigkeit niedergehalten wurde, -- vergaß das augenblicklich,
indem er eine Tasse Kaffee aus Theresens Händen entgegennahm, und fand
ungesucht die zierliche Wendung, auf die er sich vorher mühsam besonnen
hatte, bittend, sie möge als Gegengabe für diese Schale morgenländischen
Rauschtranks dies Gewand der Insel aus dem Meere des Mittags
allergnädigst aus seinen Händen anzunehmen geruhen. Das Stück
schimmernden Aotobastes, das er bei diesen Worten aus dem mitgebrachten
Päckchen befreite und über den Schoß des Mädchens breitete, ward mit
einem kleinen Jauchzen begrüßt, und George hörte nichts als Freude aus
Theresens wortreichem Dank, den er mit einem Handkuß abzuwehren
trachtete, taub dafür, daß hier und in der erregten Heiterkeit, die sich
ihrer in der Folge bemächtigte, ein Triumph mitschwang, denn, -- hatte
er es ganz vergessen, daß er vor einem Jahr Karoline ein ähnliches
Geschenk gemacht hatte? Karoline war nun nicht mehr die einzige
Besitzerin eines Ballkleides aus der Südsee, -- oh, Therese war an
diesem Nachmittag ausgesucht zärtlich zu der etwas schweigsamen
Freundin, und die Professorin war ein wenig kühl zu George und sehr
holdselig zu den beiden Mädchen, -- aber wer sollte das wohl beobachten?
Heyne nicht, der nahm seinen jungen Freund alsbald mit stiller
Gründlichkeit für die Frage in Anspruch, inwieweit die Homer-Übersetzung
des wackeren Voß die bis dato vorliegenden Versuche von Bodmer und
Stolberg überrage ... George selbst, -- oh, auf keinerlei Weise, -- so
innig zerstreut er durch das Gespinst der Philologensätze hindurch auf
das Geplauder der Damen lauschen mochte ... Gewiß, jawohl, der gute Voß
war nicht gerade mit peinlichster Genauigkeit vorgegangen, hatte sich
gar getraut, in den Homer hineinzudichten ... Therese, dachte George
erschüttert, ist gar nicht schön, -- ihr Kopf scheint zu schwer für die
Zierlichkeit ihrer Gestalt. Was ist das, dachte er, Therese hat eine
bräunliche Hautfarbe, ihre Nase ist zu kurz, ihr Mund nicht klein. Wenn
Therese nicht jung wäre und ohne das Feuer ihres beweglichen Geistes in
den großen etwas vortretenden Augen, -- Therese wäre häßlich! Dennoch:
Therese! Oder gerade darum: Therese! Soeben kam sie mit ihren kleinen
festen Schritten den Gartenweg hinunter, sie hatte im Hause etwas zu
besorgen gehabt, und wie sie nun stehen blieb, die Gesellschaft
anblitzend und ihn vor allen andern, ausrufend, man werde jetzt zur
Weender Mühle aufbrechen und dort zur Nacht speisen, -- war da einer im
Zweifel, daß es so geschehen müsse, obgleich zuvor kein Mensch daran
gedacht hatte, dies zu unternehmen? Seufzte nicht die Professorin
ergeben, -- nun ja, sie würde bei den Kindern bleiben, -- eilte nicht
Heyne, sich mit Hut und Stock zu versehen? Daß George die heilige Stätte
noch nicht kannte, an der vor zehn Jahren der »Hain« sich begründet
hatte, -- nein, das war unverzeihlich. Und so wurde hinausspaziert, das
Glück wollte es, daß der Professor Lichtenberg auf seinem Abendgang
begriffen sich ihnen anschloß und Heyne mit Beschlag belegte. Die beiden
Männer gingen voran, George, am rechten und linken Arm die jungen
Mädchen, hinterdrein. Die sanfte Landschaft, von dem stillen Gewässer
durchzogen, tat sich ihnen auf, der Himmel war weit, von silberrandigen
Wolken erfüllt, -- sie schwiegen, und dann seufzte eines von ihnen den
Namen Klopstock. Die Herzen wurden ihnen groß, sie blickten sich in die
Augen, gewiß, daß kein Fühlender diesen Boden betreten konnte, ohne der
Jünglinge zu gedenken, die vor kaum einem Jahrzehnt im Angesicht dieser
Eichen für Gott, Vaterland und Tugend erglüht waren, -- so sprach
Therese es schwärmerisch aus und drückte des Freundes Arm gegen ihre
Brust, während Karoline sich von ihnen löste und Blumen und grüne Zweige
brach, um sich und die Gefährten zu bekränzen. Oh, er war George nicht
fremd, dieser Ton, er fand einen Widerhall in seinem Herzen dort, wo im
Elysium seines Innern der Tempel für Jakobi errichtet war; er kannte
diese sanfte Wollust des Gedankens, die gern in Tränen schmolz, und gab
sich ihr unbedenklich hin. Als der Höhepunkt des Gefühls erreicht war,
als sie wirklich im Schatten der Bäume dort im Weender Talgrund standen,
die dem Schwur der Bundesbrüder zugerauscht hatten, da wurden sie
freilich ein wenig ernüchtert. Denn hier lagerte bereits eine kleine
Gesellschaft und bei näherem Zusehen blieb kein Zweifel, daß es der
unglückselige Monsieur Bürger war, der hier inmitten seiner beiden
Frauen des schönen Abends genoß. »Dieser Anblick«, äußerte Therese im
Weitergehen voller Wehmut, »bringt einem die Hinfälligkeit aller edlen
Vorsätze und Schwüre recht ins Bewußtsein.« Denn Bürger, wenn schon kein
Mitglied des ursprünglichen Bundes, galt er nicht in Göttingen als der
letzte dort wohnende Vertreter jener Dichtergeneration? Und nun
entweihte er mit seinem Treiben selbst jenen Boden göttlichster
Erinnerung! Übrigens war Bürger so übel nicht, darüber waren Karoline
und Therese sich ganz einig. Die Frauen waren es, die ihn herabzogen,
diese schlechterzogenen Schwestern, selbstverständlich. Der Arme!

»Ei was! Der Arme!« der Professor Lichtenberg hatte die letzten von
Therese in getragenem Ton ausgesprochenen Worte gehört, denn jetzt ließ
man sich im Grasgarten der Mühle um einen der langen rohen Brettertische
nieder. Lichtenberg zog sein seidenes Schnupftuch und begann eifrig
wedelnd die Mücken von seinem geröteten Antlitz abzuwehren. »Ein Mann,
der auf den Hund oder auf das Frauenzimmer kommt, hat das immer sich
selbst zuzuschreiben, Demoiselle Thereschen, merk Sie sich das! Ist's
nicht an dem, mein weitgereister Freund? Die Bestie unter der dem Fuß
halten, -- wie? Den Hund, den Hund, meine Lieben, -- oh kein
Echauffement! Exküsieren Sie, Karolinchen!« Er schlug derb auf
Karolinens vollen Arm.

   »Ein Mückchen sog sich satt
   An Linchens süßem Blut
   Es stirbt in Trunkenheit
   Wie sanft solch Tod wohl tut!«

»Freund! Freund!« Heyne schwenkte entsetzt die Hand an sein Ohr.

»Nun, das ist Bürgers Dunstkreis,« redete Lichtenberg unbekümmert, »da
dichten auch die Steine. He, Mamsellchen, --« dies galt dem aufwartenden
Mädchen. »Mir eine Milch -- und wenn Ihr ein wenig Beerenobst habt ...«

»Wir, die wir unsere Kräfte in Geist umsetzen, und Ihr, Wesen gleich
Sylphen und Schmetterlingen,« fuhr er fort, als die andern ähnliche
Wünsche geäußert hatten, »müssen unseren Körper aus leichten Speisen,
flüchtigen Essenzen aufbauen. Im Ernst, teure Freunde,« -- er legte den
Goldknauf seines Stockes an die Nase und blickte Heyne und George
eindringlich beschwörend an, -- »es helfen uns einige weiche Eier, eine
Tasse starken Kaffees, ein wenig Gallerte von Kalbfleisch meist eher zu
einem Gefühl der Sättigung und der Rekonvaleszenz als eine derbe
Mahlzeit. Oh, ich bin kein Kostverächter. Aber ich habe meine
Erfahrungen gemacht ...«

In diesem Augenblick gab es einen kleinen Aufstand unter den jungen
Leuten, Therese rief halblaut: »Karoline!« und es war ersichtlich, daß
sie unter dem Tisch der Freundin einen Stoß mit dem Fuß gab. George aber
hatte sich erhoben und blickte freudigst einem Herrn entgegen, der sich
dem Tische näherte, den Hut in der Hand und augenscheinlich überrascht,
aufs angenehmste überrascht, hier Bekannte anzutreffen.

»Wer von uns beiden, mein Wertester,« sagte er lächelnd zu George,
nachdem er die beiden älteren Herren begrüßt und den Damen seine
Reverenz bezeugt hatte, -- »wer von uns beiden hätte es vor zwölf
Stunden geahnt, daß uns so bald ein freundlicher Gott die Gelegenheit
geben würde, unsere zufällige Bekanntschaft fortzusetzen?« George, der
einigermaßen bezaubert auf seinen eleganten Reisegefährten von heute
Nacht blickte, konnte nicht umhin, dessen Worten zuzustimmen. Wurde
Heyne schweigsam, seit Meyer neben ihm saß? Blickte Karoline mit kühlem
Mißtrauen auf die Freundin, als die Bemerkung vom Gott dieser
Gelegenheit fiel? Oh, George nahm dies durchaus nicht wahr. Angeregt
gleichermaßen durch das Gegenüber Theresens wie durch die Gegenwart des
neuen Bekannten, geriet er in einen leichten Rederausch, um, endlich zu
sich kommend, zu bemerken, daß niemand außer Heyne und Karoline
Anteilnahme für seine Pariser Erlebnisse aus dem Jahre 78 zu haben
schien, -- und hatte er nicht eben ganz charmant von dem alten Franklin
erzählt? War denn Therese je in einer Gesellschaft in Paris gewesen,
zusammen mit dem großen Franklin, hatte sie schon gewußt, was für ein
umgänglicher alter Scherzbold das war, der sich »Papa« nennen ließ und
von oben bis unten grau in grau gekleidet ging? Nein, gewiß nicht!
Dennoch, sie mußte während solcher interessanter Erzählungen, -- ja --
und wäre es nicht eben George gewesen, der erzählte! -- sie mußte sich
in ein Geflüster mit Herrn Meyer vertiefen und Lichtenberg schien das
letzte Tageslicht zu benützen, um auf seiner Schreibtafel etwas
auszurechnen. George sah sich unsicher um und verstummte; Unbehagen
überkam ihn, was half es, daß Heyne ihn auf den Rücken klopfte und
»trefflich, trefflich!« ausrief? daß Therese ihm jetzt plötzlich einen
tiefen Blick und ein Lächeln schenkte? daß Meyer ihm aufs
Liebenswürdigste sein schönes festes rosig-blondes Gesicht mit den
kühlen, spiegelnd blauen Augen zuwandte und etwas Scherzhaftes von
seinem Neid auf Georges Erinnerungen verlauten ließ? Als aufgebrochen
wurde, reichte er ausdrücklich Karoline den Arm und schritt mit ihr
hinter den andern her, sah die Nebel über den Wiesen wogen und den Mond
groß und rot aufsteigen. Das Mädchen an seiner Seite plauderte, -- der
junge Erzbischof von Osnabrück war kürzlich in Göttingen gewesen, hatte
man in Cassel von ihm gehört und wußte man, was für ein hinreißender
Kavalier dieser junge Kirchenfürst war? Er hatte draußen in Weende einen
veritabeln ^bal champêtre^ gegeben und sich dabei belustigt wie ein
Knabe; ja, Karoline bereute es jetzt bitter, sich durch eine tugendhafte
Erwägung um den Besitz einer solchen Erinnerung gebracht zu haben; denn
sie war nicht zu diesem Fest gegangen, obgleich sie unter den geladenen
Damen gewesen war. »Wie kommt es nur, mein Freund,« sagte sie mit
allerliebstem, sinnendem Ernst, »daß es meist unsere Tugenden sind, die
uns hinterher Reue kosten?«

George lächelte ein wenig bitter.

»Es nützt nichts, sich dergleichen vorzuhalten, teure Freundin,« sagte
er, den Blick auf das vor ihnen herschreitende Paar, Meyer und Therese,
geheftet. »Nehmen wir uns vor, bei zukünftigen Gelegenheiten weniger
gewissenhaft zu sein!«

Karoline seufzte. George bemerkte es nicht. Vom Fluß herüber kam das
Quarren der Frösche und nun, -- zagend, wie stammelnde Sehnsucht, -- der
Ton einer kunstlosen Flöte. Die Ebene klagte.

George schlug einen schnelleren Schritt an, um gleich wieder
einzuhalten. »Seltsam!« sagte er schwer aufatmend und drückte die Hand
auf seine Brust. »Seltsam, daß ich zu manchen Zeiten das Gefühl habe,
als hinge mein vergangenes Leben mit der Schwere eines Jahrhunderts an
mir. Als müßte ich eilen, irgend etwas einzuholen ... Oh, Karoline, --
sollte dieser Abend Symbol meiner Zukunft sein?«

»Welch trübe Ahnungen, bester Freund!«

Und nach einer Weile setzte das Mädchen wie gegen ihren Willen hinzu:
»Meyer ist gewiß ein unendlich liebenswürdiger Mensch von Geist und
Kenntnissen. Aber, glauben Sie mir, -- Therese weiß zu unterscheiden ...

Sie weiß es, so gut wie ich ...«

Dies kam so verloren hintennach. Ach, George überhörte es völlig.
Therese wußte, zu unterscheiden! War diese Versicherung nicht Grund
genug, Karolines Hand an die Lippen zu ziehen? --

                   *       *       *       *       *

»Nein, ich träumte nicht, denn ich schlief ja noch gar nicht!« dachte
George, gewaltsam die Augen öffnend und im Mondlicht jede Einzelheit
seines schlichten und dennoch komfortabeln Logierzimmers im »König von
England« wahrnehmend. »Rechnet man denn im Traum?« dachte er weiter.
Herrn Meyers Stimme hatte, -- dicht an seinem Ohr, -- soeben gesagt:
»Nunmehr beginnt die Anziehung des Todes ...« und »Ich bin
siebenundzwanzig Jahre alt,« hatte George hierauf erwogen, »folglich
siebenundzwanzig und siebenundzwanzig macht vierundfünfzig ...«

»Bergab brauchen Sie nur die halbe Zeit, Herr Professor!« hatte da
jemand anders gesagt, und George hätte darauf schwören mögen, Therese
vernommen zu haben.

Von der Johanniskirche schlug es eins.

»Natürlich habe ich geträumt,« seufzte George schlaftrunken, und --
»Therese weiß zu unterscheiden!«

Er lächelte in die Dunkelheit hinein und sank in Schlummer zurück, die
Hand über die Augen gelegt zur Abwehr feindlicher Gewalten, wie einst,
als er ein sehr kleiner Knabe war. --

                   *       *       *       *       *

Ein Mann, der eine Familie begründen will, bedarf der Mittel, um sie
standesgemäß zu erhalten, -- das steht außer aller Frage. Ein Mann, auf
dessen geistige Kundgebungen ganz Europa mit liebender Ehrfurcht
lauscht, und, -- innerhalb des eigenen Bewußtseins ist ein solches
Zugeständnis wohl erlaubt? -- er _war_ ein solcher Mann! -- hatte die
Verpflichtung, das kostbare Triebwerk seiner Schaffenskraft
ununterbrochen zu speisen und in Gang zu halten. Er bedurfte also der
Bücher, der Kupfer, der Landkarten, der Instrumente, der Gesteinsproben,
der Kuriosa aller Art, -- bedurfte kurzum der Arbeitsmittel im weitesten
Ausmaß. Ein Mann, der sich in der Welt bewegt und der alle Tage gewärtig
sein kann, vor irgend einen hohen Herrn treten zu müssen, er darf sich
äußerlich nicht vernachlässigen, er hat auf eine soignierte Erscheinung
zu achten, auf eine gewisse solide Eleganz, -- für die das Leben in
England ohnehin den Grund gelegt hatte, -- er bedarf, da ihm selbst
seine Geschäfte keine Zeit für dergleichen Peinlichkeiten lassen, einer
geschulten Bedienung.

Dies alles zusammengefaßt und ruchlos nackt ausgedrückt: ein Mann von
solchen Ansprüchen bedarf des Geldes. Wenn er kein Geld hat, wird er,
verlockt durch den Kredit, auf den er überall und ohne Anklopfen trifft,
Schulden machen. Schulden aber werden ihn, infolge übler Erfahrungen aus
frühen Tagen, nächtlich drücken wie ein Alp. Hat er gleich von früh auf
gelernt, daß man, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, eben Geld
bedürfe, komme es aus welcher Quelle es wolle, falls sie nur ehrlich
sei, so ist er doch durch Schaden so klug geworden, zu wissen, daß
manche Quellen die Eigenschaft haben, sich selbsttätig zu vergiften. Er
wird also andere untrügliche und ursprüngliche Quellen suchen, und dies
tat George Forster, einer kindlichen, trotzigen Gläubigkeit voll. In
diesem Gang des Labyrinthes hallte das Heulen des Minotauros sehr süß,
ganz Gold und ganz Therese. Daß sie nur wieder vernehmlich war, diese
Stimme der Gefahr, diese Lockung ins Ungewisse, der zu folgen süßer
Schwindel war, ein Taumel Geistes und Blutes, der Rausch, der es erst
wert war, Leben zu heißen! Daß man nur wieder unter Projekten
einherging, Aussichten erwog, auf dem Schachbrett der Möglichkeiten
Verdienst und Beziehung gegen bestimmte armselige Figuren ausspielte!

»Im Vertrauen, Freund,« sagte George zu Sömmerring, den Blick in
seltsamem Strahlen auf die Türme der Stadt gerichtet, die vor ihnen in
der Morgensonne blitzten, »ich konnte von je nicht glücklich sein, ohne
die Veränderung vor Augen, den Aufstieg, die Wendung zum Guten. Eine
Unruhe ist mir angeboren, -- oder anerzogen.«

»Dies verdankst du deinem Herrn Papa,« bemerkte Sömmerring trocken.

»Wie dem auch sei,« gab George unberührt zurück, »in diesem Augenblick
der ungeheuern Spannung fühle ich meinen Fuß nicht, der mich auf dem
Hinweg so unerträglich molestierte.«

Er blieb stehen, lüftete das Seidentuch, das ein irdenes Gefäß in seiner
Rechten verhüllte, und blickte angelegentlichst hinein. »Ohne Zweifel,«
murmelte er, »ohne allen Zweifel! ^Materia prima^, -- ^materia prima^
...« Dies letzte flüsterte er kopfschüttelnd, verklärt, sah auf und
beeilte sich Sömmerring einzuholen, der mit mürrischem Gesicht
weitergegangen war und seinen Stock auf eine betont unentwegte Art und
Weise durch die Luft schwenkte. »Du bist verstimmt,« sagte George
unwillig, »nun, ich begreife dich nicht ... Jetzt auf der Schwelle der
Gebetserhörung ...«

Sömmerring blickte zur Seite. --

Sie waren beide in derben Kleidern, hatten vollständig durchnäßtes
Schuhwerk und sahen auch sonst mitgenommen aus wie Männer, die vor Tau
und Tag zu irgendeiner harten Arbeit aufgebrochen waren. Sie hatten eine
Morgenwanderung hinter sich, eine Forschungsfahrt, eine kleine
wissenschaftliche Expedition, die von Erfolg begleitet gewesen war.

Im ^Opus mago-cabbalisticum^ steht geschrieben: »Wenn der
nitrosulphurische Zunder, woraus Blitz und Donner entstehen, in unserem
Luftkreis keine wässerigen Dämpfe oder Wolken antrifft, die ihn
zusammentreiben und einschließen können, so bleibt dieser auf die
sublimste Art gleichsam in einer geistlichen Gestalt in unserer
Luftregion hin und wieder zerteilet, dessen grobe Teile aber werden
durch ein schleimiges merkurialiches Wasser globulieret, und des Tages
über durch die Sonnenstrahlen entzündet, daß dieselben des Nachts bei
hell gestirntem Himmel den Fixsternen gleich scheinen, bis ihr Schwefel
verzehrt ist, da sie dann wieder auf die Erde fallen; und ein solches
Meteorum heißt der Pöbel Sternschnuppe.«

Dieser Sternschnuppensubstanz, diesem geheimnisvollen Stoff voll
unabsehbarer Verwandlungskräfte waren sie auf der Spur gewesen, hatten
sie gesucht wie es angegeben war, an einem Frühlingsmorgen nach einem
nächtlichen warmen Gewitterregen, eh noch die Sonne ihre Strahlen darauf
geworfen hatte. Wie die Kraniche waren sie im hohen Gras einer sumpfigen
Wiese vor dem Dörfchen Weckerhagen umhergestelzt in stoischer
Gleichgültigkeit gegen einen bäuerlichen Volksauflauf, der sich jenseits
des Rains auf der Landstraße ansammelte. Und es war geglückt!
Wasserblau, gallertartig und zähe, kugelig und wie von Fett strotzend
hatte es in Vertiefungen des Erdbodens gelegen, sie hatten sich
klopfenden Herzens darüber hergemacht und die Gefäße gefüllt. Sagte ein
Bauernjunge, der, seine Neugierde nicht länger beherrschen könnend,
herangekommen war, grinsend: »Das mache die Frösch' ...«? Das Volk war
roh! Und das war recht gut. Nur dem Eingeweihten, dem Magier lächelte
die Natur ohne Schleier ins wissende Auge.

»Konnte jener Flegel dich in deinem Glauben wankend machen?« fragte
George heftig, »bist du der Gnade so wenig wert?«

Sömmerring wandte ihm die kleinen, ein wenig schräg gestellten Augen
bekümmert zu. »Der Kerl sprach etwas aus, was ich längst vermutete,«
sagte er in klagendem Westpreußisch, »diese Materie ist als die
Ablagerung gewisser Kröten, Frösche oder Schnecken zu betrachten, mit
ihrem Fortpflanzungsgeschäft zusammenhängend, wenn nicht alles täuscht.
Es entspricht dies Beobachtungen, die ich als Knabe auf den Wiesen an
der Weichsel gemacht habe. Man betrügt uns. Als ich uns dort im Grase
hocken sah und deines Weltruhmes gedachte, überkam mich Scham, -- ich
hätte weinen können!«

»Schweig!« herrschte George ihn an. »Du hast keine Demut! Uns ziemt zu
glauben und zu gehorchen!«

Er schritt stürmisch vorwärts, die Lippen zusammengepreßt; Sömmerring
folgte verkniffenen Gesichtes. Lerchen träufelten ihren Gesang über die
jungen Saaten, am Wege lockten Ammern in den Apfelbäumen. Ländliche
Fuhren überholten sie, von Bauern in blauen Kitteln geführt, Mädchen,
die kurzen, gefältelten Röcke wippend, Lasten auf den Köpfen tragend,
schritten schwatzend vorbei, in den Straßen der Stadt empfing sie das
Gewimmel eines Markttages. Die Professoren Sömmerring und Forster
rannten finster hindurch. Die ersten Worte, die einer von ihnen nach
jenem Gespräch auf der Landstraße hören ließ, sagte George, sagte sie
ein wenig atemlos zu dem Hofrat Prizier, der ihnen schwarzbekittelt in
seinem Arbeitsgewölbe in den Kellern der Residenz entgegentrat. »Wir
haben sie!« sagte er in herausforderndem Ton und reckte die Hand mit dem
irdenen Töpfchen aus. Nun, war er etwa nicht von Glück überströmt? Was
galt's nun noch, als aus jenem astralischen Subjekte die kostbare,
die unschätzbare ^tinctura universalissima^, den Stein der
Weisen auszuscheiden, sie von ihrem Fluch zu reinigen und zur
Übervollkommenheit zu bringen?

George, erregt in dem weiten Gewölbe auf und nieder schreitend, und
blitzenden Auges über Sömmerring hinwegsehend, wiederholte sich
krampfhaft die Verheißungen des Annulus Platonis. Reichtum, -- Weisheit,
-- ein Leben über Jahrhunderte hinaus ... war's nicht so? Prizier
hantierte mit Tiegeln und Retorten, auf dem Herd in der Ecke blakte ein
Feuer auf. Sömmerring hatte einen schwarzen Kittel über seine Kleider
gezogen und arbeitete auf einmal schweigsam und angespannt. Der Blasbalg
fauchte zwischen seinen Händen. »Ich sollte mehr von der Chemie
verstehen,« dachte George träumerisch, seiner Ermüdung nachgebend, an
einem der schießschartenähnlichen Fenster lehnend und den ganzen Aufwand
des Adepten betrachtend, Hunderte von Büchsen und Fläschchen, von ihrem
Inhalt rubinen, smaragden, schwefelgelb glühend. »Ich sollte die
einfachsten Grundlagen meiner Wissenschaft besser beherrschen,« redete
jene unbeaufsichtigte Stimme noch einen Augenblick lautlos weiter, --
»was bin ich mehr, als der vom König Minos dressierte Pudelhund?« »Den
Seinen gibt's der Herr schlafend!« fiel sich George hier selbst heftig
ins Wort und dachte zugleich: »ist's meine furchtbare Müdigkeit, die
mich immer wieder nach diesem Wort greifen läßt, -- gerade nach diesem?«
Er näherte sich Prizier, der mit fanatischem Gesicht und feierlichen
Gebärden an einem Tisch hantierte, Essenzen auf die grauweiße
Sternschnuppensubstanz tropfte und ihre Wirkung mit fiebernden Augen
beobachtete. Seiner Verpflichtung endlich eingedenk, fuhr George nun
auch in ein Arbeitskleid und tat Handreichung, murmelte gewisse Sprüche
und suchte mit Gewalt das zu übertönen, was seit Sömmerrings Worten auf
der Landstraße unaufhaltsam in ihm reden wollte. Mein Gott, dieser
Sömmerring, der jetzt so hingegeben auf Priziers Finger sah, als hinge
seine Seligkeit von dem Erfolg seiner Bemühungen ab! Was hatte er ihn
angerührt, ihn, den so gern und glücklich Schlafwandelnden? George,
vergessend den Geist zur Sache zu zwingen, ließ die Augen wiederum
wandern. Und da plötzlich, -- war's ein Wort, das gefallen war, ein
Geräusch, der flüchtige Duft irgendeines Arkanums, eine kaum gespürte
Blutwallung in seinem Gehirn? -- plötzlich überkam ihn das rätselhafte
Behagen, das er einst in frühen Morgenstunden in des Vaters Kabinett
hatte empfinden können, ehe die Tagesarbeit begonnen hatte und wenn alle
Gegenstände, Bücher, Papiere, Schreibgerät, so sachgemäß und rüstig
dagestanden hatten, als würden sie sich sogleich selbständig in
Tätigkeit setzen, -- das ihn einst wie ein Rausch überkommen hatte bei
dem Aufenthalt in Dalrymples Arbeitsraum und aus dem er auf der Reise
Kraft gesogen beim Anblick von Cooks rechteckig aufgestelltem und
blinkendem Gerät. Nun, -- Prizier war kein Cook, er war kein Dalrymple.
Er war dem Vater in keiner Weise vergleichbar. Jedoch, er stand hier als
der Meister und Sömmerring und er selbst als gläubige Schüler.
Handreichung tun und gehorchen, sich von der Stimmung dieses Raums,
diesem magisch-wissenschaftlichen Aufbau, dem ausgestopftem Krokodil an
der Decke, dem grinsenden Totenkopf dort auf der schweinsledernen Bibel
unter dem Kruzifix in das selig verantwortungslose Gefühl des
Zauberlehrlings hineinsteigern zu lassen, -- dies war das verlockende
Spiel einer Phantasie, die sich selber ernst zu nehmen liebte. George
war für Minuten völlig glücklich. Verzückte Sammlung aller Strahlen des
Gefühls auf den einen Brennpunkt gelang ihm: so wie göttliche
Schöpfungs- und Verwandlungskräfte sich niedergeschlagen hatten in
dieser köstlichen Masse, diesem wahren ^sperma astrale^, dem
Weltensamen, so meinte er einen übermenschlichen Grad aller Spannkräfte
des Gemüts erreicht zu haben, -- als eine schroffe Bewegung Priziers,
der das Prüfgläschen gegens Licht erhoben hatte, ein unwilliger Laut,
ihn herausriß. »Nichts!« stieß Prizier hervor und warf das Glas klirrend
auf den Tisch. Und »Nichts!« wiederholte eine andere Stimme und eine
Gestalt trat mit lautlosem Schritt neben George, ihm die Schulter
berührend, daß er mit einem unwillkürlichen Schrei zurückfuhr. Woher war
sie gekommen, aus welchem Schatten des Gewölbes? »Du hier, Bruder
Manegogus?« murmelte George erschüttert und blickte auf Sömmerring,
dessen Hände schlotterten.

»Ich hier, -- jawohl, Bruder Amadeus! -- wann wäre ich nicht um euch?«

Eine entsetzliche Kälte, ein Unlustgefühl sondergleichen überkroch
George, als er den Ankömmling anblickte, der nun an Priziers Stelle an
der Breitseite des Tisches lehnte, sich aufstützend und seine lange
flache, bis zum Halse schwarz eingeknöpfte Gestalt vornüberschwanken
ließ. Das im Gegensatz zu der niederen Stirn und der geringen Nase
schwere eckige Kinn schob sich höhnisch vor, die rechte Hand hob sich,
um geballt auf die Tischplatte zu fallen, daß die Gläser erklirrten.

»Und ich sage euch, es fehlet am Glauben!« sagte die verschleimte
Stimme, »am Glauben fehlt es, -- ich weiß nur noch nicht, bei welchem
von euch!« Die breiten Kiefern mahlten, die Äuglein gingen lauernd
zwischen Sömmerring und George hin und her. »Wo das Gebet lau ist,
schläft der Glaube ein. Wachet und betet. Die Oberen sind unzufrieden
mit euch. Strafe droht. Hat einer von euch -- Geheimnisse verraten?«

Und während Sömmerring den Kopf hängen ließ, wie ein gescholtener Knabe,
war in George auf einmal der Ekel stark genug, daß er den Mann dort
hinterm Tisch nicht anders sah, als er war, die Enttäuschung über das
mißglückte Experiment hatte ihn ernüchtert wie ein Sturz kalten Wassers.

»Was will mir der Schleicher, der verfluchte Pfaffe?« dachte er in
kalter Empörung, indem er zurücktrat und sich des Arbeitskittels
entledigte, als sei er allein ...

»Ich bin nunmehr doch der Überzeugung, Herr Hofrat,« sagte er zu
Prizier, der mit untergeschlagenen Armen und stieren Augen an der Wand
lehnte, den Mann, dem eine letzte Hoffnung fehlgeschlagen ist, mit der
mimischen Begabung seiner französischen Herkunft darstellend, -- sagte
es in leichtem Ton, als berühre er längst Vermutetes, »daß es sich hier
nicht um eine Verdichtung des ^spiritus mundi^ oder der ^terra virginea^
handelt, sondern -- um den Laich von ^bufo vulgaris^, der gemeinen
Erdkröte. Darf ich mich für heute empfehlen? Du kommst noch nicht,
Sömmerring? Nun, auf ein ander Mal! Gehorsamster Diener allerseits!« --
--

Der Bogen war überspannt worden.

                   *       *       *       *       *

»Was europäischer Ruhm und Fürstenfreundschaft, Glanz der Wendekreise um
mein armes Haupt und südliches Inselmeer zu meinen Füßen!« dachte George
Forster, und er dachte mit Pathos, der großen Stunde angemessen, --
»wäre ich ihr genaht, ein bescheidener junger Gelehrter, -- etwa ein
Sömmerring,« -- schaltete er ein, >beiseite< denkend, wie die Helden im
Schauspiel beiseite sprechen, -- »unbekannten Namens, ohne einen andern
Ruhm als den meiner Redlichkeit und eines fühlenden Herzens, -- wäre ihr
genaht an der Hand ihres wackeren Vaters etwa, die eigene Hand auf der
Brust und die Augen zu Boden geschlagen ...« George verlor sich dermaßen
in diese Vorstellung, daß er sich selbst in der sparsam amöblierten
Wohnstube des Hauses Heyne stehen sah vor Therese, die in einer
zuchtvollen Haltung nähend am Fenster saß, und den Alten
wohlwollengetränkte Worte über sich reden hörte, -- er blickte
träumerisch über den Brief hinweg, in dem er gelesen hatte, und bewegte
ekstatisch den Kopf ... »dann, -- ja dann könnte ich es glauben, dies
Glück! Oh, Götter, aber warum zweifle ich?!«

Er sprang auf und ging mit langen Schritten in dem Kabinett auf und
nieder, in dem alles zum Aufbruch gerüstet stand, die Kisten dort, mit
seinen Büchern, Instrumenten, Sammlungen, -- die ledernen Reisekoffer,
der Mantelsack, noch nicht zugeschnallt, des letzten Eigentums harrend,
-- ach, dieser gute, treue Mantelsack, in London für die Pariser Reise
gekauft und nun, mitgenommen und abgerieben wie er war, von all den
einsamen Fahrten der letzten Jahre erzählend, letztlich von den
nächtlichen Ritten nach Göttingen! George berührte ihn gedankenverloren
und zärtlich mit der Hand, -- o ja, es ging nun einmal Reiz und Zauber
ohnegleichen von den Dingen aus, die der Reise dienten!

»Merkur muß über mir stehen so gut wie Saturn,« dachte er inbrünstig und
der Rausch des Reisefiebers ließ ihn wieder lächeln, so haltlos, wie
sich ein Mensch nur in der Dunkelheit oder völligen Einsamkeit dieser
seltsamen Grimasse überläßt. Und, wohl empfindend, aus welcher Quelle
dieses unendliche Lächeln sich speiste, trat er ans Fenster, um im
letzten Schein des Aprilabends Theresens Brief von neuem durchzulesen.

Durch Jahre hindurch kannte er nun diese flüchtigen, launisch bewegten
Schriftzüge, kannte sie aus kurzen Billets, rasch hingeworfenen Grüßen,
spielerischen Fragen nach seinem Wohlergehen, Einladungen, -- kannte sie
aus langen, schwärmerischen Episteln, Antworten auf Ergüsse seines
eigenen gepreßten Herzens, aus einem Briefwechsel, bei dem es dem
Anschein nach um eine Vertiefung in Gott und Welt und um die wahre
Glückseligkeit des Herzens gegangen war, der ein behutsames Abtasten
seelischer Grenzgebiete, ein zartes Ausforschen von Wegen in die
rätselvollen Landschaften des fremden Ichs hatte bedeuten sollen und
der, -- George nahm vielleicht an, er allein sei sich dessen bewußt
gewesen, Mann, der er war, mit einer Vorstellung von der
schmetterlingshaften Ziellosigkeit weiblichen Gemütslebens, geeignet,
ihn beliebig in Rührung zu versetzen, -- der von Anfang an das gewesen
war, was Spiel und Tanz den Geschlechtern sein muß, Werbung von der
einen, Hinhalten auf der anderen Seite. Und nun, überrascht, ja,
überwältigt trotz aller Gewißheit seiner Hoffnung, in diesem Augenblick,
da er sich Gott übergeben hatte, um nach Litauen zu gehen, an die
Universität Wilna, wohin sein Gönner, der Hofrat Czempinski in Warschau,
ihn an die Universität empfohlen hatte, -- nun sah er sich am ersten
Ziele der Wünsche, auf die dieser Briefwechsel aufgebaut gewesen war: er
las, mit ungläubigen Augen und zitterndem Herzen zum drittenmal den
Satz, daß Therese Heyne »demütigen Herzens geneigt sei, die zukünftigen
Schicksale ihres liebsten Freundes zu teilen, wie immer sie auch fallen
möchten.« Er las diese fast allzu deutliche Antwort auf eine verhüllte
Anfrage seines letzten Briefes, und endlich, endlich spürte er den
Schauer des Leibes und der Seele, auf den er gewartet hatte, der doch
eintreten mußte, vergaß zu zweifeln, fühlte sein Blut heiß und
gewalttätig steigen, wußte, dies, -- ja, dies war eine Angelegenheit des
Blutes, und all die Jahre hindurch bei dem ganzen Aufwand von Geist,
Papier und Tinte hatte es sich zunächst um diesen einen Augenblick
gehandelt, -- drückte in einem kurzen Taumel oder aus Folgerichtigkeit,
oder, weil er sich diesen Augenblick der Erfüllung nun einmal von jeher
so vorgestellt, den Brief erst an die Lippen und dann ans Herz, blickte
verzückt in die Wolken und bekämpfte bei alledem in sich die bittere
Enttäuschung über den Schluß des Briefes, der als Wunsch des alten Heyne
den Satz enthielt, daß auf ein Wiedersehn, etwa jetzt auf der
Durchreise, zu verzichten sei. »Der Vater meinte, daß wir fernerhin
korrespondieren möchten und uns einstweilen im schriftlichen Austausch
unserer Seelen genügen lassen. Ich bin gewöhnt, mich seinem Willen zu
fügen, auch dort, wo es mir schwer fällt, und ich bin überzeugt, der
beste Sohn der Welt, als den ich meinen Forster kennenlernen durfte, muß
mir hier recht geben ...« so schrieb Therese und: »Oh, ja,« dachte
George bitter, »der unaufhörlich zärtlich gehorsame Sohn, wie sollte er
nicht?« Gewiß, Therese war jung, -- aber wußte Heyne denn nicht, wie er,
George, verzehrt von Glut und Einsamkeit war?

In einem Jahr, stand da noch, in einem Jahr, wenn er sich in Polen
eingelebt habe und zu Besuch nach Deutschland kommen würde ...

Nun, wußte dieser alte Mann mit seinem Schatz sicher erworbener
gleichwertiger Jahre auch, was ein Jahr mehr für den hieß, dem die Jahre
bisher Unrast, Qual und Heimatlosigkeit bedeutet hatten? Noch ein Jahr
der Verlassenheit, des Leids, des Verlangens, der Askese? Gut, gut, er
würde sich fügen; aber dies war hart!

Auf dem Flur schepperte die Glocke, die Wirtin schlurfte draußen
vorüber, um zu öffnen. Morgen bin ich fort, dachte George unbewußt. Ach,
er würde wenigstens die Alltäglichkeit dieses Ortes abstreifen! Nun kam
Sömmerring, der Teure, um den letzten Abend mit ihm zu verbringen. Und
indem er den Freund in der letzten Dämmerung umarmte, -- »Bruder!«
flüsterten beide im Einklang ihrer Bewegung, -- fühlte er die Frische
des Frühlingsabends auf seinen Wangen und ließ die Hände niedergleiten
mit der wehen Empfindung, als müsse er etwas Unwiederbringliches fahren
lassen. Was widersinnig war, -- indessen, -- wer war ihm in seinem Leben
bis jetzt das gewesen, was Samuel Sömmerring war? »Lassen wir das
Licht!« sagte Sömmerring mit belegter Stimme, »Teufel auch, liegt denn
auf jedem Stuhl etwas? So. Und dies ist nun unser letzter Abend.«

»Ich habe dir etwas zu sagen, Bester!« sagte George.

»Ich dir auch.« Sömmerrings Stimme klang erregt. »Ich habe sie nicht!«
-- »Was? Wen hast du nicht?«

»Guter Himmel! Da fragst du! Worauf warten wir denn? Die
Exemptuspatente!«

»Die Exemptuspatente! Gut, gut,« murmelte George zerstreut, »du bist
noch eine Weile hier, du wirst sie mir nachsenden.«

Es handelte sich um die Bestätigung ihres Austrittes aus jener geheimen
Gesellschaft, deren Mitglieder sie bis vor kurzem gewesen, deren Ziele
ihnen weltbewegend erschienen waren, so wie die Entdeckung, daß ihr
Aufbau Scheinarchitektur und hohle Kulisse sei, sie erschüttert hatte,
gleich dem Zusammenbruch eines Tempels. Indessen, -- dies alles sank ja
von George wie ein altes Kleid.

»Verzeih mir,« sagte er etwas lebhafter, »ich gebe dem allem keine große
Importance mehr. Die Exemptuspatente. Nun ja. Und wenn wir sie
schließlich auch nicht bekämen ...«

»So würden wir aller Orten als wortbrüchige Brüder und Verräter unseren
Steckbrief haben und der Verfolgung und Rachsucht der Oberen ausgesetzt
sein! Du fürchtest sie nicht mehr? Nun, du würdest sie wieder fürchten
lernen!« Sömmerring rang die großen Hände. »Unglückliche, Blinde, die
wir in dies Verhängnis rannten! Manegogus haßt uns. Er wird uns Stein um
Stein in den Weg rollen.«

»Er ist ein Narr,« sagte George ruhig, »bleibe ja kalt und gelassen in
allem, was ihn betrifft! Höre mich an!«

Er trat ans Fenster und legte einen Augenblick die Stirne an die kühle
Scheibe. Messerscharf stand die Firstlinie des Daches gegenüber gegen
den grünlich-klaren Himmel. Alte Dächer, dachte er, ich seh euch nicht
wieder im Sonnenlicht! Ach, die Orte, die er schon hinter sich hatte
versinken sehen!

»Du kennst meinen Charakter,« begann er, sich ins dunkle Zimmer
zurückwendend, »es waren nicht Vorspiegelungen, Bestechungen mit
angenehmen Aussichten auf Wohlleben und dergleichen, die mich verführten
...«

»Nein, bei Gott,« beruhigte er sich selber, »denn die Hoffnung auf Gold,
sie war mir aus den edelsten Gründen teuer, -- war es nicht so?«

»... sondern Wahrheitsliebe, brennender Durst nach Überzeugung von
gewissen Wahrheiten und der schwärmerische Hang, sie für wahr zu halten,
-- das war's doch einzig, was mich die vier Jahre hier laborieren ließ!
Darum habe ich an meiner vermeintlichen Geistesreinigung gearbeitet,
mich kasteit, allen unschuldigen Freuden des Lebens entsagt, habe voll
redlichem Enthusiasmus in unseren Versammlungen geredet, bin bei den
Bundesbrüdern die Runde gegangen, habe sie ermahnt und angefeuert, habe
Geld und Ruhm in die Schanze geschlagen, kurz, alle Kräfte aufgeboten,
um das Ziel zu erringen, welches man uns als erreichbar gezeigt hatte.
Und nun, da ich endlich eingesehen habe, daß mich diese Verirrung nicht
nur jene 500 Taler bar gekostet hat, sondern gewiß mehr als 1500 an
verschwendeter Zeit und unschätzbare Summen an Kenntnis, die ich mir in
den vier Jahren hätte erwerben können, und so viel an Freuden des
Lebens, die meinen Kopf hätten aufhellen, meinem Herzen hätten Schwung
geben können, -- seitdem ich mich und auch dich als so betrogen erkannt
habe, seitdem« -- und er stieß den Stuhl, dessen Lehne seine Hände
umfaßt hielten, heftig auf den Boden, -- »seitdem erlaube ich es mir,
eine schlechte Sache schlecht zu nennen und ihre Vertreter zu verachten.
Ja, Sömmerring, für mein Leben fluche ich der Schwärmerei! Freimaurerei
und Rosenkreuzerei sind abgetan für mich. Meine Natur ist dem Mystischen
entgegen. Es war nicht Frömmelei, die mich zum Betbruder machte. Es war
-- etwas anderes ...«

»Du meinst?« fragte Sömmerring zaghaft aus dem Dunkel.

»Ach, genug! Ich habe viel entbehrt, Bruder. Bitterer, als andere. Ich
weiß es jetzt.«

»Therese!« dachte er, in einem plötzlichen Aufruhr des Herzens, --
»Therese!«

Gleich darauf lächelte etwas in seiner Stimme, als er abschließend
sagte: »Die Arbeit, Freund! Die Wissenschaft! Und -- die Brüder vom
reinen Willen über alle Welt verstreut! Oh, er hatte recht, jener
Müller!«

»Ein Treuloser!« murrte Sömmerring, »wo mag er sein?«

»Gleichviel!« sprach George. »Mein teuerer, einziger Sömmerring, was ich
dir zu sagen hatte, es war dies: ich bin mit Therese einig.«

Nach diesen Worten blieb es sonderbar still. George, jetzt mit dem
Rücken am Fenster lehnend, erblickte drüben im Spiegelglas seinen
Schatten von einem trüben Abendrot umflossen und den Querbalken des
Fensterkreuzes zu seinen Häupten.

»Du bist mit Therese einig,« wiederholte Sömmerring sodann. Es gab ein
Geräusch, als bewegte er ruhelos die Hände, riebe sie aneinander, ein
trockenes aufreizendes Geräusch.

George, im tiefsten Herzen erkältet und von einer rätselhaften
ohnmächtigen Angst überfallen, raffte sich zusammen und rief in
erkünstelt zornigem Ton: »Das ist alles, was du mir zu sagen hast? Nun,
beim Himmel ...«

»Versteh mich richtig, versteh mich richtig!« sagte die Stimme aus der
Dunkelheit hastig in hilflosem Ton. »Ja, dein Glück liegt mir am Herzen,
wie mein eigenes, Bruder, -- heißer noch, angelegentlicher. Und deshalb,
gerade deshalb ...«

»Sömmerring!« sagte George beschwörend. »Oh, Forster!« seufzte der
andere, »Forster, -- ist sie denn deiner auch wert?«

»Therese?« fragte George zurück, und der Ton seiner Stimme sagte, daß er
lächelte, »Therese?«

»Ja, -- Therese!« Sömmerring kam herüber und legte mit einer
unbeholfenen Gebärde seine Hände auf Georges Schultern, -- es war ja
dunkel. »George, wir kennen sie beide, und es gab eine Zeit, da durfte
man noch in deiner Gegenwart ohne Rückhalt über sie sprechen. Aus jener
Zeit mußt du dich entsinnen, -- nun, -- sie galt für eins von den
Mädchen, deren größte Freude es ist, wenn sie Sklaven an ihrem
Triumphwagen schleppen können. Und unter diesen Sklaven einen Fürsten zu
haben, einen Forster --«

»Oh, schweige!« George wandte sich ab.

»Ich schweige nicht,« sagte Sömmerring mit verzweifelter
Rücksichtslosigkeit, ein wenig stotternd und mit dem Zeigefinger eifrig
unterstreichend. »Diese Liaisons mit dem jungen Rougemont, mit Meyer,
haben die Sperlinge auf den Dächern beredet und du allein warst taub und
blind.«

»Was will das sagen?« gab George hastig zurück, »habe nicht auch ich --?
Denke an Philippine, an Karoline Michaelis -- nun, willst du mir nicht
auch sagen, ich sei Theresens nicht würdig? Nun?«

»Oh, George!« sagte Sömmerring, vor so viel Harmlosigkeit verlegen.
»Aber das waren Spielereien, schöngeistige Korrespondenzen ...«

»Nun, und ...? Willst du etwa andeuten, daß Theresens Beziehungen zu
jenen Männern weiter gingen? Und selbst wenn sie sich ihnen näher
attachiert gehabt hätte, --« er redete lauter als nötig, wie einer, der
sich selbst übertönen will, -- »was willst du ihr vorwerfen?«

»Nichts, als daß sie gleichzeitig mit dir und jenen Hohlköpfen ihr Wesen
hatte!«

»Ach, du kennst sie nicht. Sie ist so jung. Sie ist beweglichen Geistes.
Du solltest ihre Briefe lesen, Freund, -- du würdest zufrieden sein. Was
ich dir sagen könnte, es würde mich beschämen, -- aber sei beruhigt, --
es ist kein Mann mehr für sie vorhanden außer mir. Meyer ist mir Freund
und Bruder und sie, o Sömmerring, sie wird mir einst Freundin und
Gehilfin sein, wie sie mir jetzt die einzig Begehrte und Geliebte ist.«
Er sank dem Freunde an die Brust.

»Vergib mir, vergib mir!« stammelte der ergriffen. »Ich weiß, ihre
Qualitäten sind außergewöhnliche. Du bist der Mann, sie zu lenken. Sei
glückselig! Ich bin es mit dir.« -- --

Es klopfte. Mühlhausen, der Bediente, kam herein, der Schein des
Leuchters in seiner Hand fiel auf ein verschnupftes, verweintes Gesicht.

»Ja, ja, Mühlhausen! Sein guter Herr!« Sömmerring klopfte ihn auf die
Schulter, »aber warum folgt Er ihm nicht?«

»O Herr! So in die finstere Polackei! Ja, wenn der arme Mühlhausen nicht
Weib und Kind hätte!«

»Lassen wir die Sentiments! Seien wir Männer!« Forster trat aus dem
Nebenzimmer, eine triefende Flasche in der Hand; Mühlhausen, der den
einfachen Abendimbiß auf den Tisch gesetzt hatte, entfernte sich.

»Ich habe hier eine Bouteille Johannisberger, Freund, -- nun, 's ist
immerhin ein guter Tropfen zum Abschied, und einstweilen bist du den
Hochheimer ja noch nicht gewöhnt, -- du Rheinländer!«

Sömmerring war wie George im Begriff, Cassel zu verlassen. Er folgte
einem Ruf Sr. Eminenz des Kurfürsten an die Universität Mainz. George
füllte die Gläser. Sömmerring sah ihm schmunzelnd zu.

»Ich gedenke ein guter Preuße und Lutheraner zu bleiben unter den
Verführungen Roms«, sagte er. »Der Hochheimer soll ein Reservat der
Herren Domdechants sein.«

George setzte sich. »Oh, du wirst Freunde unter ihnen gewinnen. Tritt
nicht zu schroff auf. Ein Mann von Welt betont seine Überzeugungen
nicht. Er hat sie, -- das genügt.«

»Daß wir beide unter die Pfaffen fallen müssen! Und warum nicht am
selben Ort! Oh, George, -- Wilna könnte mich nicht locken, du weißt es,
-- aber ich werde alles daran setzen, dich an den Rhein zu bekommen!«

Sie hoben die Gläser. »Tu es!« sagte George angeregt. »Auch ich werde
für dich arbeiten. In Prag, -- in Wien, -- wo du willst. Bruder,
Connexionen und Connaissancen sind alles!«

»Du hast sie durch deinen Namen,« Sömmerring sah auf seinen Teller.
»Woher sollte ein bescheidener Jünger Äskulaps sie haben, wenn nicht
durch seinen Freund und Bruder?«

»Oh, schweige!« rief George, »du bist eine Hoffnung deiner Wissenschaft,
du weißt es. Weißt du auch, wieviel Protektion wir dem Bunde verdanken?«

»Du magst recht haben,« -- Sömmerring sah sich unruhig um, -- »indessen
wünschte ich dennoch ...«

»Du nimmst es zu tragisch. Ich werde es unterwegs zunächst nie
ableugnen, einer Loge anzugehören. Kenntnis von Geheimnissen gibt ein
Air. Und in Leipzig will ich dem Schrepferschen Zirkel näher treten.
Wissenschaftshalber, verstehst du.«

»In Leipzig, --« Sömmerring lenkte ab, -- »du wirst auch nach Halle
kommen?«

»Jawohl,« erwiderte George verdüstert, -- »ich muß wohl. Die Götter
mögen über meinem Reisegeld wachen. Aber auch ohne das, ich werde fest
bleiben. Ich habe jetzt andere Rücksichten zu nehmen.«

»Du wirst den Deinen Mitteilung von deiner Liaison machen?«

»Um Gottes willen! Das geschieht erst in einem Jahr, -- wenn ich mir
Therese hole. Der Alte möchte mir Berge in den Weg legen. Freilich, für
ihn ist der Packesel dann endgültig verloren!« Er lachte kurz auf. Sie
tranken sich zu. Sömmerring legte sich über den Tisch und griff nach
Georges Hand.

»Mein George,« sagte er mühsam mit schwimmenden Augen, »du bist die
beste, uneigennützigste Seele der Welt. Du bist der wahre Amadeus.«

»Sömmerring, Sömmerring!« George bedeckte die Augen mit der Hand. »Laß
uns nicht weich werden!«

»Doch, doch!« Samuel Sömmerring schluchzte beinah. »Du bist's! Und nun
bist du den Alten glücklich los -- und da kommt diese Frau ...«

George richtete sich auf. »Sömmerring!« rief er, »deine Freundschaft
verführt dich! Laß mich annehmen, es ist der Wein! Laß mich annehmen, es
ist der Wein!«

Sömmerring verbarg das Gesicht in den Händen. In der Tat, er vertrug
nicht mehr als ein Glas.

»Schick mir einen Elenskopf aus Polen, Bruder,« bat er kläglich, »das
Gehirn in Weingeist! Auch einen Bärenkopf besäß ich gern. Mein Gott,
mein Gott, du gehst ja in die Wildnis!«

George kam um den Tisch herum. George streichelte den gefällten Riesen.
George tröstete. Aber da war nichts zu machen.

»Du -- du bist nun einmal zu gut dafür, um nichts zu sein als das weiße
Tuch für das Schattenspiel der andern!« schluchzte Sömmerring.

George sah mit sonderbar auflauschendem Ausdruck über diese Worte hin
ins Leere.

                   *       *       *       *       *

George durchwachte diese Nacht; er hatte es nicht anders erwartet.
Hingegeben an das Rauschen seines Blutes lag er da, und _daß_ es
rauschte, daß es endlich wieder einmal mit Hochdruck durch seine Adern
stürzte, ach, er wußte es wohl, das war nicht Theresens Brief allein,
der das machte. Dieser Brief mit seinem hinhaltenden Schluß hatte eher
etwas in ihm zurückgestaut; ja, wenn er sich denn nun nicht sogleich von
dem vollen Aufstrom seiner Seligkeit an ihre Brust tragen lassen durfte,
so sollte dieser Strom wenigstens Mühlen treiben, gut, gut, -- Forster
war nicht der Mann sich haltlos einer Enttäuschung zu überlassen. Und da
er denn nun in der fürchterlichen Dunkelheit nicht weinte vor bitterer
maßloser Enttäuschung darüber, daß er sein Mädchen morgen abend in
Göttingen nicht sehen sollte, wie er mit zweifelloser Sicherheit
angenommen hatte, -- daß er nicht, ehe er noch einmal in eine so
gramvolle Einsamkeit und Fremde ging, ein Wort, eine kleine Gebärde der
Zärtlichkeit mitnehmen würde, nicht ihr Haar, nicht diese flaumige
bräunliche Haut ihres Halses einmal berühren durfte, -- oh, seltsames
Verlangen, wunderliche Wünsche mußten nun zurück in das stumme innerste
Herz! -- da kam dieser verzweifelte Trotz, dieses hohnvolle Lebensgefühl
über ihn: _dennoch_ wollte er glücklich sein! Und nun stand ja diese
Reise bevor, dieser angenehme Umweg nach dem Ort der neuen Pflichten,
der über den Harz, über Dresden, Prag und Wien führen würde und
zwischendurch die freundliche Einschaltung eines Badeaufenthaltes in
Teplitz voraussah. Nein, sein Herz klopfte nicht allein unter dem Druck
jener bittersüßen Erfüllung, es war der wohlbekannte Frühlingssturm der
Projekte und des Reisefiebers, der das Schiff an der Ankerkette tanzen
ließ, diese verworrene gläubige Erwartung größter Dinge und Ereignisse
hinter der nächsten Wegbiegung, zum erstenmal empfunden, als der Vater
damals mit der Wolgareise schwanger ging. Er wurde nun hellwach, fühlte
die letzte Neigung einzuschlafen, entweichen, wälzte sich herum, stemmte
den Kopf in die Hand und starrte mit leise brennenden Augen in die
Dunkelheit. Wohl, Cassel war erledigt. Oh, Gott im Himmel sei Dank,
diese Leidensstation lag hinter ihm, nie wieder betreten würde er diesen
Gang des Labyrinthes. Und mit einer Art phantastischer Fröhlichkeit der
alten Vorstellung erliegend, warf er sich zurück und lachte lautlos auf.
Ja, drinnen heulte der Minotauros und hier, -- hier ging er, George
Forster, der gemeint war, nicht mehr ein kleiner demütiger Knabe, nicht
mehr ein dürftiger überarbeiteter Jüngling, -- auch nicht der dumpfe
Schwärmer der letzten vier Jahre, -- nein, hier ging ein freier
zielbewußter, und nebenbei ein berühmter und ^à la mode^ gekleideter,
kurz, ging ein Mann, ein ganzer Mann seinen Weg hinein in neue lockende
Windungen der dunklen singenden Riesenmuschel. Sich selbst hellsichtig
aus dem Nichts erschaffend, gewahrte er sich, wie er in Klausthal mit
dem Berghauptmann von Trebra in die Bergwerke einfahren würde, fühlte
seine Kenntnisse der praktischen Gesteinskunde mühelos durch Anschauung
um das vermehrt, was man von Polen aus für die Anwendung auf dortige
noch zu hebende Bodenschätze von ihm verlangt hatte, -- sah sich diese
genußreiche Art des Studiums in Freiberg bei dem berühmten Inspektor
Werner fortsetzen, zwischendurch in Leipzig und Dresden seinen Kreis
bedeutender Bekanntschaften und ergebener Freunde durch die einfache
Tatsache seines Auftretens erweitern, in Teplitz allerliebste
Beziehungen anknüpfen und sodann durch verschiedentliche Triumphbögen in
Österreich eingehen. Besonders von Wien versprach er sich viel und, --
da er ja noch nicht gebunden war, -- so würde er sich mit der Freiheit
des Weltmannes bewegen. So nahm er sich vor, fühlte aber sogleich aus
irgendeinem Winkel der Erinnerung Beschämung sich ankriechen, -- was war
das doch nur, -- war's jener Vorsatz auf die Schönen von Tahiti, den er
damals im Eise des Pols gefaßt -- und nie ausgeführt hatte? Mit Ernst
gebot er derartigen störenden Erinnerungen Einhalt, legte sich auf die
andere Seite und überzählte im Geiste die Empfehlungsbriefe und
Adressen, die er mit sich führen würde. Ein Wolkenbruch von Namen ergab
sich, das gesamte geistige Deutschland, soweit es an jenen Straßen
ansässig war, hatte er sozusagen in der Tasche und das, was jetzt nicht
an seinem Wege lag, -- er schloß erschrocken die Augen, -- oh, nur nicht
diesen Hexensabbat von Erscheinungen heraufbeschwören, die seit der
Rückkehr aus der Südsee an ihm vorübergezogen waren, -- gab es denn
_eine_ einigermaßen hervorragende Existenz, von deren Bedingungen er
nicht einen Begriff hatte, wenn er sie nicht schon persönlich kannte
oder im Briefwechsel mit ihr gestanden hatte? Jetzt bin ich wie der
Vater war, damals in Nassenhuben, als er so viel korrespondierte, dachte
er mit kindlichem Vergnügen und jener Unumwundenheit innerster
unbeobachteter Gedankengänge, -- nur, daß ich jünger bin, als er damals,
und dennoch -- mehr!

^Pater meus major est me!^ fügte er freilich sofort hinzu, sich
gleichsam bekreuzigend aus alter Gewohnheit. Und, das schwere Federbett
von der Brust wegschiebend, dachte er aufseufzend und mit einem dumpfen
Gefühl in der Brust: Er hat die Gesundheit, er steht wie ein Baum, Gott
weiß, wohin er es noch bringt, wenn er noch einmal anfängt. Ich aber ...

Aber das sollte ja in Teplitz besser werden. Sein armer Leib, immer
wieder von rheumatischen Schmerzen geplagt, von rätselhaften Schwären
verunziert, mit ständigem Kopfweh und chronischen Koliken geschlagen, er
sollte sich erneuern durch und durch. Und eingestandenermaßen, sein
Geist schien abhängig von den Gezeiten jenes Giftes, das _seit den
Skorbuttagen im Südmeer in seinem Blute auf- und niederstieg_: er
arbeitete besser, wenn es ihm nicht allzu gut ging, -- oh, er wußte es
mit heimlich asketischer Inbrunst, -- zuviel Gesundheit vertrug sich
nicht mit seiner Einsamkeit! Später vielleicht, -- in einem Jahr, wenn
er Therese besaß.

Der Schwung der Erregung hatte nachgelassen, er fühlte es. Er fror
plötzlich, er zog die Decke über sich. Er war doch müde.

Er wollte ja Therese nicht nur, um dies wahnsinnige Verlangen seiner
Sinne zu stillen, nicht nur zur Gefährtin seiner Arbeit. Er brauchte
einen Menschen neben sich, endlich, endlich, wollte diese Verstoßenheit,
diese körperliche Verlassenheit vergessen können, wie er es einst, --
ach, vor undenklichen Zeiten gekonnt hatte, wenn er des Nachts die
Atemzüge der Schwester neben sich hörte. Er wollte jemand haben, der
still und zärtlich um ihn waltete, nichts von ihm verlangte als das, was
er in Einfalt geben konnte, ohne Aufwand von Geist und Willen. Es sollte
ihm geschenkt werden, da war dieser Brief, -- er tastete in der
Dunkelheit nach ihm und drückte ihn an sein Herz, -- nur noch ein klein
wenig Geduld, nein, er wollte nicht murren! Diese Menschen, diese
schrecklich emsigen, erwartungsvollen, klugen, geistreichen Leute, die
auf ihn blickten und vor denen man sich dauernd Haltung geben mußte, --
ahnten sie, daß Forster -- der jüngere Forster, wohlgemerkt, der Ruhm
Deutschlands! -- hier in der Dunkelheit des Alkovens weinte wie ein
Kind? Oh, nichts weiter sein dürfen, als das duldende, menschenliebende
Geschöpf, als das Gott einen gewollt hatte, geliebt um seines Wesens,
nicht um seines Wissens, seines Namens willen, so sehr geliebt, daß die
Leute den Forster nur allzu gern immer um sich gehabt hätten, -- wie
selig mußte es sein! Aber wenn es nur einen, einen solchen Menschen gab,
der ganz ihn kannte! Oh, er war freilich zu weich, sein eigener Herr zu
sein! War er vielleicht nicht glücklich gewesen als Sklave seines
Vaters? Und dies, was Sömmerring da gesagt hatte, dies mit dem weißen
Tuch und dem Schattenspiel, -- traf es nicht zu?

Er fuhr empor und griff sich mit den Händen an den Kopf. Wie, sollte er
nicht lieber gleich die Pistole nehmen? Dies war Selbstmord. Es war die
Müdigkeit, nicht wahr, ach, nicht wahr, -- die Angst vor den Fährnissen
der Reise, für die er trotz aller inneren Unrast nicht geschaffen war,
Angst vor dem tagelangen Fahren auf schlechten Straßen, den
Nachtherbergen voll Schmutz und Ungeziefer, vor Nässe und Kälte. Es war,
-- ach, es war die Angst des im Labyrinthe Verirrten, des
Ausgelieferten, Verlorenen. Aber nun kam ja Ariadne, -- nun kam --
Ariadne ...

Entwirrung, -- Klärung, -- Vereinfachung! Er würde arbeiten, sich
ausströmen an die Welt. Zunächst kamen nun Briefe, Tagebücher, -- oh,
liebevoll, sorgsam, geduldig wollte er sein ...

Als Mühlhausen eine Stunde später mit dem Leuchter in der Hand und dem
Reiserock über dem Arm zum Wecken eintrat, fand er seinen Herrn fest
schlafend, die Linke über die Augen gelegt, einen lächelnden Zug um den
armen häßlichen Mund. -- -- --




                            Zweiter Teil.
                               Ariadne


                            [Illustration]

                            [Illustration]

Las dieser letzte Satz seines Briefes sich etwa so, als wollte er,
George, sich beklagen? Da sei Gott vor, -- nicht einmal vor sich selbst
tat er das, -- geschweige denn dem guten Sömmerring gegenüber! Ganz im
Gegenteil! Er überlas noch einmal die letzten Zeilen, -- malte er da
nicht ein Bild häuslichen Glücks, daß es dem armen Teufel, der immer
noch allein hauste, beim Lesen ganz verlassen zumute werden mußte? Und
diese Worte, die er eben geschrieben hatte: »Therese ist trotz ihres
Zustandes von unbegreiflicher Beweglichkeit des Körpers und des Geistes
...« die fielen doch gar nicht aus dem Rahmen heraus, klangen doch nicht
anders als die Feststellungen über seinen eigenen Gemütszustand, seinen
Tageslauf, seine Arbeiten! Es störte ihn doch auch gar nicht, störte ihn
nicht im geringsten, dachte er und horchte hinaus, daß das Haus von früh
bis spät widerhallte von Theresens Geschäftigkeit! Was tat sie jetzt
wieder? War es eigentlich möglich, daß eine Frau mit zwei Mägden bei der
Tätigkeit des Wäschenähens -- ja, es entstanden Hemden für ihn, zwölf
neue Taghemden, fühlte er mit gebührender Erschütterung, und die zwölf
alten waren ausgebessert worden! -- daß sie bei dieser sitzenden
Tätigkeit einen derartigen Aufwand von Geräuschen machte, die für den
Außenstehenden nicht unmittelbar zur Sache gehörten? Daß zunächst Lieder
gesungen worden waren, heimatliche deutsche Lieder, die Liese, die
Getreue, aus Göttingen in fühlender Erinnerung an den fernen Geliebten
anstimmte, nun, das mochte angehen. Indessen schien es ihm doch, als sei
Therese ein wenig unmusikalisch; wenn sie mit ihrer tiefen Stimme
einfiel, wurde die Melodie immer so seltsam unkenntlich. Dann gab es
einen zornigen Aufschrei und heftige Scheltworte, -- aha, Marischa, das
polnische Mensch, hatte wieder einmal etwas versehen! Wenn es, dachte er
ein wenig gepeinigt, nur nicht wieder zu Maulschellen kommt, die
hinterher gleich mit Küssen null und nichtig gemacht werden! Therese
handelte oft so -- unmittelbar. Nun fiel etwas Schweres dumpf hin, ein
Ballen Leinwand etwa, -- war das ein Grund, derartig zu kreischen? Und
warum wälzten sich jetzt mehrere erwachsene Menschen auf dem Fußboden
herum? Therese lachte und schimpfte, plattdeutsch und polnisch
durcheinander, -- nun kam auch noch Joseph, der Hausknecht, mit frischem
Holz für den Kamin die Treppe hinaufgepoltert, das würde einen neuen
Anlaß zur Heiterkeit geben. Joseph, der seine Pflichten für acht Taler
Lohn, einen Schafpelz und ein Paar Stiefel jährlich unvollkommen
erfüllte, war von polnischem Adel und darum trotz seiner Schmutzkruste
in den Augen Liesens von Glorie umgeben. In den nächsten Minuten
steigerte der Lärm sich ins Ungeheure, der Joseph schien mit Jubel
aufgenommen worden zu sein, wie Merkur unter den Grazien, das Holz
krachte, der Joseph schien unglaublich scherzhaft und Therese leutselig,
jemand begann auf einem Kamm zu blasen und -- war es möglich? -- wurde
jetzt der neulich begonnene Unterricht Liesens im Mazurkatanzen
fortgesetzt? Nun fehlte nur noch Michael, der Bediente und Gemahl der
Marischa, um den Zirkus zu vervollständigen. George wurde ein wenig
unruhig. Nun Therese -- Therese amüsierte sich, Therese war zwanzig
Jahre alt, es fehlte Therese hier an einem passenden Umgang. Er wußte,
jetzt saß sie da und hielt sich die Seiten vor Lachen. Warum auch nicht,
warum auch nicht, -- sie verlangte ja nicht, daß er, George, dabei war.
Und es störte ihn nicht, o, es störte ihn nicht im geringsten, er
arbeitete doch eben nicht, er erledigte Korrespondenzen, -- nur, es war
ihm im Augenblick nicht möglich, seine Gedanken zu sammeln. Also:
Therese ist trotz ihres Zustandes von einer unbegreiflichen
Beweglichkeit ... Freilich, wohl war sie das. Wenn sie nur um Himmels
willen nicht wieder selbst tanzen wollte, wie neulich, als sie den bösen
Fall tat! Ob er doch einmal hinüberging? Nun kam der Michael wahrhaftig
... Er brachte jemanden mit, er geleitete einen Besuch ... Aber das ging
doch nicht! George sprang erregt auf, drüben verstummte jäh der Lärm,
und gleich darauf ließ sich eine lachende Stimme in Wiener Mundart
vernehmen. Ach, die Langmayer! Da ging Therese plaudernd mit ihr über
den Flur ins Wohnzimmer, die Männer liefen die Treppe hinunter, Liese
fing wieder an, zu singen, schmachtend, langgedehnt: »Wenn ich ein
Vöglein wär ...« Ja, nun war Ruhe, und nun konnte er weiter schreiben.
George starrte nach dem Fenster, vor dem in der grauenden Dämmerung die
Flocken tanzten. Gedämpft durch die Schneeluft klang das Angelusläuten
von der Universitätskirche herüber. Sie schneiten ein. Meilen über
Meilen, grenzenlose Flächen weit breitete es sich um Wilna wie
Leichentücher, und Deutschland lag auf einem anderen Stern. George
machte Licht. Es war gefährlich, in der polnischen Winterdämmerung nach
Deutschland hinzudenken. Im Reich des Geistes gab es keine Trennung. Er
wollte korrespondieren, wollte weiter Sömmerrings brüderliche Seele
beschwören, sich an ihr erwärmen!

»Therese ist von unbegreiflicher Beweglichkeit ...«

                   *       *       *       *       *

Ob sie nun Hemden zuschnitt oder winzige Wäschestücke für das erwartete
Kind, -- den Jungen, natürlich, den Jungen! -- nähte ... Ob sie in der
Küche Fleischklümpe drehte und zugleich der Marischa aufklärende
Vorträge über den Wert der Sauberkeit beim Zubereiten der Speisen hielt,
-- oho, Georgie, hätte die Miß Therese nichts gelernt, so äße die Panji
Forstrova und ihr ganzes Haus jetzt mit den Schweinen! Pfui Teufel,
selbst die Steckrüben fraßen diese Barbaren ungeschält! -- Ob sie mit
ihren knospenden Hyazinthen am Fenster plauderte und ^Le Coeur aimable^
ermunterte, baldigst aufs ^aimableste^ zu duften und ^La Beauté blanche^
ein wenig anbetete, -- es waren auch Küchenkräuter, Kerbel, Kresse und
Petersilie mit in die Töpfe gesät, die Schönheit allein macht nicht
satt, Georgie! -- Ob sie mit des Bischofs Gärtner, Feureißen, einem
wackern Landsmann und gutem Hannoveraner, Pläne machte für die
Bestellung der Beete im Frühjahr und Betrachtungen über die moralische
Minderwertigkeit des Katholizismus einfließen ließ, -- Feureißen würde
doch sein Kind, das Kind, das seine Frau, eine katholische Ermländerin,
erwartete, nicht etwa den Pfaffen in die Hände fallen lassen (»o,
Feureißen!«) -- und sich alsbald von der Weitherzigkeit Feureißens
überwältigt zeigte, der ihr treuherzig versicherte (»o, liebe Madam!«),
es käme ihm zunächst darauf an, sein Kind zu einem Ehrenmann zu erziehen
(auch er erwartete einen Jungen, natürlich!), alsdann würde es jeder
Sekte Ehre machen ... Ob sie, mit riesigen Überschuhen bewehrt, durch
den kniehohen Schnee watete, um irgendwo irgendein vorteilhaftes
Geschäft abzuschließen, das dem Haushalt zugute kam, in Holz, in Ölfarbe
für die Wände, in Fleisch, -- es mochte ein Edelmann seinen Wald
abgeholzt, mochte eine Jagd veranstaltet haben, woher aber wußte Therese
dergleichen immer früher als andere Leute? George staunte. Ob sie ihre
Möbel, ihre allerliebsten, nagelneuen Möbel abrieb und blitzblank
putzte, ob sie eine Liste der Leute aufsetzte, die nun demnächst endlich
einmal eingeladen werden mußten (schon wieder? dachte George), denn
freilich, die Menschen hier waren horribel, ohne Erziehung, ohne
Geschmack, indessen, was blieb einem übrig ... Ob sie Journale las oder
einen neuen Roman, in die Ecke des grünen Kanapees gekuschelt, die Füße
unter den Rock gezogen, die Hände ins Haar gewühlt, lachend und weinend,
Gott und Georgie anrufend, oder ob sie, an dem kleinen Mahagonibureau
sitzend, Korrespondenzen erledigte, ihre unübersehbaren Korrespondenzen
... Therese war trotz ihres Zustandes von einer unbegreiflichen
Beweglichkeit des Körpers und des Geistes!

Denn George begriff nicht. Er begriff nicht ganz. Er war so glücklich,
wenn es still um ihn her war, um ihn und um Therese. Er war im Geheimen
und unerachtet häufiger nachdrücklicher Seufzer über die geistige
Einöde, in die er verbannt sei, einverstanden mit Wilna, einverstanden
mit der Entfernung von den deutschen Freunden, sonderlich freilich von
den Göttinger Freunden Theresens, er nahm im innersten Herzen den
lächerlichen Zustand dieser Pseudo-Universität leicht und leicht den
unvermeidlichen Umgang mit den Paters, den Exjesuiten, seinen Herren
Kollegen. Er war gerührt und begeistert von seiner Wohnung, er liebte
den großen winkligen Gebäudekasten des ehemaligen Klosters, in dem sie
sich befand wie der Kern in der Nuß, er wollte von der Welt nichts
weiter, als eben dieses Asyl seiner Zärtlichkeit. Er hatte seinen
Briefwechsel einschlafen lassen, er hatte seit der Hochzeit im August
bis in den Winter hinein nur das Notwendigste an Arbeit erledigt,
ruhend, wie Langmayer fröhlich behauptete, auf Amors Wolken und den
Lorbeeren des Erfolges, den sein Memoire an die Regierung zugunsten der
naturwissenschaftlichen Institute der Universität gehabt hatte.

Diese Denkschrift hatte ihn im vorigen Winter beschäftigt. Er hatte
seine ganze Enttäuschung über die vorgefundene Lotterwirtschaft und den
verrotteten Pfaffenbetrieb, über den Mangel an Anschauungsmaterial und
den Zustand der geringen Sammlungen darin niedergelegt, hatte sich
stringenter Beweise bedient, war scharf, war deutlich gewesen wie einer,
der den Fuß schon über die Schwelle gesetzt hat, um wieder davonzugehen.
Was hätte auch daran gelegen, wenn sie auf ihn verzichtet hätten,
anstatt seine Ansprüche zu erfüllen, hatte er nicht noch jenes
Kaiserwort im Ohr, mit dem damals in Wien Joseph die Audienz
abgeschlossen hatte: »Sie werden in Polen nicht bleiben ...« O, Wien!
Oder auch Prag, -- selbst Budapest! Nun, das waren wieder Projekte
gewesen. Hingegeben an die negative Arbeit der Verurteilung der gesamten
Wilnaer Einrichtungen, eine Arbeit, die zugleich zur Begründung eines
etwaigen Rücktritts hätte dienen können, hatte er dem alten Laster des
Plänemachens gefrönt wie nur je und sich hinweggeholfen über die tote
Zeit der Sehnsucht und Erwartung. Den überraschenden Erfolg seiner
Vorstellungen, die Bewilligung aller seiner Forderungen durch die
Regierung, hatte er auf der Hochzeitsreise in Warschau einheimsen
können. Und, nun wohl, -- jetzt gab es keine Pläne mehr. Jetzt war nur
noch Therese und Therese bedeutete in den ersten Monaten des Besitzes
eine seltsame Auflösung aller Lebenskräfte, bedeutete, so hatte er
schwindelnd gedacht, die Mündung des Stromes in den Ozean und den
Untergang der Flamme in der Glut. Über sein Pult gebeugt, fühlte er
Theresens Atmen in dem toten Holz unter seinem Arme, fühlte die eigenen
Glieder wie den Körper seines Weibes. Manchmal sann er, irgendwo
hingelehnt, ein Buch in der Hand, die schwimmenden Augen ins Leere
gerichtet, seinem ganzen Leben nach. Dies war der Sinn, fühlte er
erschüttert, der Sinn der Sinnlosigkeit. Alles hatte sein müssen, damit
dies eine sein konnte. Dies war das Ziel, die Erlösung aus allem Irrsal,
diese lebende, zur stummen Raserei gesteigerte Hingabe an ein anderes
Leben und das Hinnehmen dieses Lebens so natürlich wohlig, wie das Kind
die Muttermilch sog. Ach, Therese! daß er sie hatte finden dürfen, sie,
die einzig seinen Sinnen Antwort zu geben vermochte, sie, deren Blut ihm
die Essenz aller Süßigkeit der Erde bedeutete. War er so weit, dann
merkte er, daß er sein Kabinett verließ, und lächelte. Wo war Therese?
Er ging durch das ganze Haus, er suchte sie in der Küche, im Garten, bei
der Langmayer und wo er sie auch fand, sie verstand sein wortloses
Drängen, verstand es hinter seinen belanglosen Vorwänden. Sie lächelte.
Sie folgte ihm. Und da war dies grüne Kanapee, und da war Therese an
seiner Seite, seinem Herzen nahe, sein Gesicht lag an ihrer Brust, er
atmete ihren Duft, -- da waren ihre Hände, ihre Arme ... Sie wehrte ihm
nicht. Er hörte sie manchmal »Georgie!« flüstern, er fühlte ihre kleine
unruhige Hand über sein Haar gleiten. Er suchte ihre Augen und fand sie
voller Tränen, abgewandt, aus Fernen heimkehrend zu ihm. »Du weinst?«
stammelte er befremdet. »Mein Freund!« sagte sie sanft, und während er
nun aufschluchzte und meinte, es sei aus Seligkeit, weil er jenes Gefühl
grenzenloser unerklärlicher Angst und Fremdheit nicht wahr haben wollte,
das ihn überschauert hatte, trocknete sie ihre Tränen, und ihn
aufmerksam betrachtend, fragte sie spielerisch-ernsthaft, mit der Hand
ihm die Brauen glättend: »Ist's auch mein Tod, an den du denken mußt,
mein Freund, der Tod deiner Therese, du Armer?«

Auch dies begriff er nicht. Therese dachte immer an ihren Tod. Therese
war des Morgens vor Tage auf, trillerte wie eine Lerche, -- und dachte
an den Tod. Therese hielt in aller Frühe eine Heerschau über ihr Gesinde
ab, gab die Losung für den Tag aus, verteilte die Arbeit, nicht ohne die
Marischa in scherzhaften Wendungen, die durchs ganze Haus schallten, von
ihrer Meinung über ihren mangelnden Reinlichkeitssinn unterrichtet und
den Joseph ob seiner Trägheit bedroht zu haben, -- und dachte an den
Tod. Therese saß mit ihm am Frühstückstisch, ihre Hände bewegten eine
Strickarbeit, ihre Augen hingen gebannt an den Seiten eines
französischen Buches, beim Umblättern fand sie Zeit einen Bissen, einen
Schluck zu nehmen, ihm einen Blick, ein Wort zu schenken, sei es
»Forster, mein Engel!« oder »Iß, mein Georgie!« -- und dachte an den
Tod. Therese tanzte treppauf, treppab durchs Haus, kramte in Schränken,
klimperte auf dem Klavizymbel, sortierte Sämereien, betrachtete ihre
Souvenirs und Silhouetten, ordnete ihre Schmucksachen, lief mit der
Langmayer in die Kirche, einem Hochamt beizuwohnen, brach in sein
Kabinett ein, um sich sowohl über die Langmayer -- »sie verpolackisiert,
Georgie, es ist eine Schande!« -- als über den Katholizismus auszuhalten
-- »Pfaffenglanz, Affentanz!« -- Therese rief: »Ich störe dein Werk,
vergib mir!«, eilte lachend hinaus -- und dachte an den Tod. Es mochte
ein Fest geben, eine der Assembleen, die ihn so schrecklich langweilten,
etwa fetierte ein Würdenträger seinen Namenstag mit einer Schmauserei
und Musik. Therese machte aufs sorgfältigste Toilette, Therese putzte
ihn, -- George, -- aufs gewissenhafteste, daß er auch nicht im Kleinsten
gegen die Mode verstieß, Therese strahlte an seinem Arm durch die
Gemächer, war huldvoll, war graziös, funkelte vor Belustigung über die
schwarzen Dohlen, die Herren Paters, die nun wahrhaftig in ihren langen
Weiberröcken zur Polonaise antraten, neben sich die schillernd sich
brüstenden polnischen Damen. Therese kokettierte nichtsdestoweniger
wahllos, sowohl mit den Schwarzröcken als mit den polnischen Granden,
wanderte von einem Arm an den andern und bezauberte selbst Monseigneur,
den Bischof bis zu folgender Unterhaltung, an die sie sich in den
nächsten vier Wochen unter großem Gelächter alle paar Tage erinnern
mußte, die, dies war nicht zu bezweifeln, in jeden ihrer zahlreichen
Briefe eingeflochten wurde:

»^Mais en conscience, Madame^,« hatte Se. Eminenz hinter der scherzhaft
vorgehaltenen Hand gefragt, »^Quel âge avez-vous donc?^«

»^En dix ans, mon Prince^ (nein, Georgie, dieser alte violette
Suitier!), ^je ne vous dirai plus la vérité. Aujord'hui j'ose la dire,
-- j'ai vingt et un ans passé.^«

»^Comment! Mais vous avez l'air d'un enfant de treize ans!^«

»Ha ha ha, Georgie, und das mir, einer Frau, die nächstens Mutter sein
wird. »^Grâce à ma conduite folle, grâce à ma conduite folle,
Monseigneur!^« hab ich gesagt, ha ha!!«

Solche und ähnliche Erlebnisse hatte Therese in Hülle und Fülle, --
indes, sie dachte an ihren Tod. Sie litt zeitweise unter den
Widerständen, die ihr Körper der Entwicklung seines neuen Zustandes
entgegensetzte, unter den Anfällen von Übelkeit, unter einer krankhaften
Abneigung gegen gewisse Speisen, sie beobachtete peinlich berührt, daß
Hals und Arme an Fülle einbüßten, je schwerer die Last ihres Leibes
ward. Sie ließ sich die Ader schlagen -- »Unnützerweise, Freund, -- doch
es beruhigt sie und wird nicht schaden«, sagte der wackre Langmayer zu
George, -- sie litt an Blutandrang zum Kopf, an Schwindel, an einem
Zittern der Knie. Sie litt nicht im Verborgenen, o nein, das Haus erfuhr
es, daß sie litt, doch schien dies Leiden mehr oder weniger ebenso gut
ein Anlaß zum Bewußtwerden der Daseinswonnen und eine Art von Genuß zu
sein, als ihr niemals gebrochener Tätigkeitsdrang. Es war dies nicht der
Grund, daß Therese an den Tod dachte, fühlte George, und daß sie ihre
Briefe zu Abhandlungen über die letzten Dinge werden ließ, --
Abhandlungen, die sie ihm gelegentlich vorlesen mußte, wenn sie
besonders wohlgelungen schienen. Da saß sie vor dem geliebten kleinen
Mahagonibureau, das er ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, samt all den
Erinnerungen bitterer und süßer Arbeitsstunden unter allen
Himmelsstrichen, die es barg, -- sie hatte es ^The Resolution^ getauft,
um die Meere des Gefühls darauf zu befahren, -- da saß sie, die Füße auf
dem Kohlenbecken, vorgebeugt auf die Schreibplatte, den Blick schwimmend
zum Fenster erhoben, die Feder an den Lippen. Er ging behutsam durchs
Zimmer, oh, er hatte ja nicht herantreten wollen, es hätte nicht dieser
Bewegung bedurft, als wollte sie das Geschriebene vor seinen Blicken
schützen! Sie schrieb, sie korrespondierte, auch er tat das, gewiß, wenn
schon nicht so -- pflichtgetreu wie sie. Da waren die Eltern, -- eine
Frau, eben noch selbst Kind in der Hut zärtlicher Eltern und nun in der
sarmatischen Wildnis, in dieser Lage, sie bedarf ihrer Mutter! -- da
waren die Freundinnen, Musen und Grazien auf dem Parnaß, der Göttingen
hieß, und unter denen sie nicht die Letzte gewesen war, -- da war --
jener, der Assad genannt wurde. Jener, der in einer Mondnacht zwischen
Cassel und Göttingen einst das seltsame Wort von dem Pol der Geburt und
dem des Todes gefunden hatte, der sein schönes Gesicht so fern, so
beruhigend fern von Wilna durch die Welt trug und seine Bonmots immerhin
verschwenden mochte, wo es ihm beliebte, da er dann nicht darauf
versessen schien, sie Briefen anzuvertrauen, ^grâce à Dieu^! Warum aber
bedurfte jener, der Assad genannt wurde, -- und warum wurde er so
genannt? »O, Lieber, -- weil er so um sich werben ließ, wie Lessings
Tempelritter, ehe er Zutrauen faßte«. -- »Und das sagst du mir?« --
»Aber -- Georgie ...?« Warum bedurfte jener so häufiger, so
ausführlicher Berichte über das Leben, die Gefühle, die Todesnähe
Theresens, Berichte, unter deren Abfassung ^The Resolution^ schwankte
wie nur je im Südwestpassat? Warum mußte von ihm gesprochen werden,
abends, wenn George bei Therese auf dem grünen Kanapee saß und
Archenholtzs »England und Italien«, aus dem er vorgelesen hatte, sinken
ließ, weil er schon seit einer Weile fühlte, daß Theresens arbeitende
Hände ruhten und sie ins Kerzenlicht sah? Er hatte vielleicht gedacht,
Therese sähe so still ins Kerzenlicht, weil sie müde sei und wünschte,
auch er, George, möchte bald ein wenig müde werden. Wollte er nicht
gerne müde sein, müde mit Therese? Aber da wandte sie ihm die Augen zu
und ihr Mund hatte jenes unbestimmte fortgleitende Lächeln, als sie
sagte: »Georgie, -- ist das nicht zum Lachen? Assad spricht in seinem
Brief, -- dem Brief, weißt du, vor vier Wochen, -- von meinen
zukünftigen Kindern, und in demselben Brief nennt er mich eine
Vestalin!«

Was, so fragte sich George, nachdem er etwas von ^contradictio in
adjecto^ gemurmelt hatte, was gingen Assad, -- und zum Teufel, er hieß
einfach Herr Meyer! -- was also gingen Herrn Meyer Theresens zukünftige
Kinder an, -- und meinte er etwa, sie kämen durch Überschattung des
heiligen Geistes zustande? Ich kenne die Frauen nicht, erklärte George
sich selbst, jetzt erst erfahre ich, mit welcher Zärtlichkeit sie der
Freundschaft die Treue halten. Mochte denn das Wohnzimmer ein Tempel des
Gedenkens sein, er trug die Silhouetten seiner Eltern, seiner Freunde
herbei, um sie neben denen von Theresens Teueren aufzuhängen. Er war der
Letzte, das Glück des Erinnerns, des Sichversenkens in die Seelen der
fernen Geliebten zu verdammen, und gab es ein edleres Vergnügen als mit
Therese in Wonne und Wehmut zu vergehen vor dem Bilde eines Jakobi, vor
den Zügen seines Sömmerring, Tränen zu vergießen in den Gefühlen, wie
sie der Anblick des Pastells heraufbeschwor, das ein Abglanz war der vom
Tode berührten Schönheit jener unglücklichen Auguste, die an Theresens
Herzen gestorben war? O, er wollte nicht ausgeschlossen sein von
Theresens Freundschaftstempel, wollte mit ihr anbeten, schwärmen, sich
entzücken, Balsam finden für die Wunden der Vereinsamung unter diesen
bunten polnischen Tieren, wollte mit ihr vereinigt sich hinschwingen in
den Kreis der ihm verwandten Seelen. Hatte er nicht mehr als guten
Willen, sie zu begreifen, hatte er nicht dieselben Bedürfnisse des
Herzens, wie sie? Sie waren doch eins, -- eins auch in diesen Dingen?
Indessen, -- warum mußte Meyers Schattenriß dort allein in der
Fensternische hängen, wo Therese ihn vor Augen hatte, wenn sie an ihrem
Tischchen saß und ^The Resolution^ sie nach Deutschland trug? Warum
stand ein Topf mit Immergrün auf einem Brettchen darunter, warum
hauchten Hyazinthen, Goldlack und Tazetten den langen Winter und den
grauen zögernden Frühling hindurch ihren Duft zu Assads schönem,
hochmütigen Profil empor, wie Opferrauch? Wenn er mein Freund wäre,
dachte George einmal, als er vor Tisch in das Zimmer gekommen war, und
es noch leer gefunden hatte, und betrachtete das Bild mit sehnsüchtiger
Erbitterung, -- aber er ist nicht mein Freund! Er wußte es trotz aller
Grüße und Komplimente, die ihm mit jenem unbegreiflichen Lächeln
ausgerichtet wurden, -- Meyer war nicht sein Freund. Nie war ein Mensch
von dieser gleitend geistreichen Art und dieser Selbstverständlichkeit
des eleganten Auftretens, nie war so ein beneideter sorgloser Plauderer
sein Freund gewesen. Sie schienen Geheimnisse zu wissen, diese Menschen,
deren Erwerbung ihn seine zwangvolle Jugend hatte versäumen lassen. Mit
Aufbietung aller Kräfte konnte er ein paar Stunden, einen Abend lang
Schritt mit ihnen halten, -- immer aber fühlte er, daß er Blöcke wälzte,
wo sie mit Bällen spielten, -- ja, ihre Zustimmung, ihre Bewunderung,
empfand er sie nicht meist wie Heuchelei, wie Hohn? Waren sie nicht
Feinde, glatte, glänzende Feinde, die hinter der Maske des Gönners ihren
Neid auf den bitter erworbenen Ruhm verbargen? Nein, Meyer war nicht
sein Freund. Aber ich will ihn lieben, dachte George, mit einer
fanatischen Umschaltung des Willens, ich will ihn lieben, denn ich
gehöre Theresen. Ich gehöre Theresen, dachte er verzweifelt, und was
wäre ich, wenn ich mein Herz nicht in ihres fügte, wohin es immer gehen
möge?

Assad also, morgens, mittags und abends. Assad um Mitternacht, in
Augenblicken, da die Welt völlig versunken zu sein schien vor dem Glück
der gegenseitigen Nähe. Ja, Assad selbst in solchen Augenblicken! »Der
arme Assad, Georgie, er ist immer so allein!«

Therese, hatte George bei Gelegenheit dieses Ausspruches sich selber
innerlich zugerufen, -- er mußte etwas in sich überschreien; es war da
nichts zu jammern, für sein Herz, o nein! -- Therese ist ein Kind,
wahrhaftig, sie ist ein Kind! Und sich herumwälzend, daß er nahe neben
ihr lag, den Kopf in die Hand gestützt und ihr eindringlich in die Augen
blickend, sagte er: »Therese, Assad ist gar nicht allein. Du bist seine
Freundin, ja, wir lieben ihn, aber wir sind nicht die einzigen, die das
tun. Du weißt es doch. Assad hat viele Freunde.«

»Assad hat viele Freundinnen«, fuhr er fort, mit uneingestandener
Genugtuung bemerkend, daß Theresens Augen sich weiteten und sie seinen
Worten entgegensah mit einem hilflosen Beben ihres Mundes, das ihm ein
sonderbares Gefühl der Macht über ihr Herz gab, ein sehr seltenes,
berückendes Gefühl, -- »du weißt es doch, wie wir alle in Göttingen es
wußten: Assad fliegt von Blume zu Blume, er ist ein schöner
Schmetterling.«

»Meinst du?« fragte Therese tonlos und ihre Augen wanderten, -- »ja, du
magst recht haben ...«

Sie duldete seine Liebkosungen. Er fühlte müde kleine Hände seinen
Nacken streicheln und überließ sich besinnungslos der Zärtlichkeit, die
aus seinem Herzen brach. Er lag, veratmend, neben ihr, die Stirn an
ihrer Schulter, fühlte sein Blut so sanft, wußte: nun kommt Schlaf, --
da hörte er ihre Stimme:

»George«, flüsterte sie, »du und Langmayer, ihr glaubt es nicht, -- aber
wenn ich dennoch stürbe ...«

»Therese!«

»Ich weiß, Freund, ich weiß, -- du ertrügest es nicht. Und ich muß
leben, deinetwegen. Aber dennoch, -- was ist unser Wille? Und _wenn_ ich
stürbe und du gehst allein nach Deutschland zurück, -- geh zu Assad,
George, er wird dir wohltun, er wird um mich weinen, -- er kannte mich
gut, -- obschon ich weiß, er hat viele Freundinnen ...«

Therese dachte an ihren Tod. Therese dachte an Assad. Aber nun atmete
sie im Schlummer wie ein Kind, und George wachte und starrte ratlos in
die Nacht.

                   *       *       *       *       *

Des Morgens frühe mit der Sonne auf, einen Gang durch das Gärtchen
getan, Zwiesprach gehalten mit den guten Geistern der Erde, den Teller
voll Obst mit Milch, seien's Himbeeren, seien's Erdbeeren geschluckt,
wie es der wackere Sömmerring verordnet hatte zur Reinigung des
Geblütes; ausgeruhten Kopfes alsdann am Schreibpult gestanden und bis
zum Frühstück die Übersetzung der Reisebeschreibung Cooks um ein paar
saubere Seiten gefördert, das war der Auftakt zu jedem fruchtbaren
Arbeitstag, -- oh, nun seit Monaten schon! Das kurze Beisammensein mit
Therese am Tisch, von gutem Gespräch belebt, etwa über die Frage, ob
Therese, die Tochter, -- da war sie, da schrie sie, da näßte sie Windeln
nun fast schon ein Jahr lang und war kein Junge und doch so
unbegreiflich lieb, -- ob dieses annoch lallende Würmchen würde Polnisch
lernen müssen oder nicht. Und da Polnisch so viel hieß wie Katholisch,
bewahre sie also der Himmel! Ja, die Pfaffen strichen ums Haus wie die
Aasgeier, fand Therese mit großen Augen streitbar, da war besonders so
ein langer, dürrer mit spitzen Ohren und knolliger Nase, der versuchte
seit gestern die Liese in Gespräche zu verwickeln, wenn sie das Kind
spazieren trug, -- näherte sich ihr mit Blumen in der Hand ...

»Es war der Pater Liborius, er brachte mir ein paar Zypressenzweige für
die Raupen von ^Deilephila euphoribae^ und konnte unsere Wohnung nicht
finden,« sagte George begütigend.

»Gleichviel. Es sind alles Vorwände! Wölfe in Schafskleidern!« grollte
Therese. Nun, von solchen Gesprächen, die auch um die Politik der
Kaiserin gegen die Türken, oder um die Heiratsprojekte des guten
zögernden Sömmerring oder um die Anmaßung des Herrn Kant in Königsberg,
über die Verschiedenheit der Menschenrassen mitreden zu wollen, oder um
die Schlamperei der Langmayer, ein ergiebiges Thema! -- gehen mochten,
-- von solchen Gesprächen also erfrischt und gestärkt nach je einem
Kusse auf die Stirnen von Weib und Kind wieder das Kabinett aufgesucht,
Folianten gewälzt, Papier gefalzt, mit der Feder geraschelt, kurzum
betriebsam gewesen, Material zusammengetragen für die Elementarlehre des
Naturreichs für Schulen, zu der der große Camper in Harlem ihn angeregt
hatte, an den Ausarbeitungen der Vorlesungen über Mineralogie im
kommenden Semester geschrieben ... Zwischendurch auf und niederwandelnd
mit sich selbst über Mendelssohns »Morgenstunden« deraisonniert, sich im
Geiste mit Lessing und Jakobi darüber auseinandergesetzt und sich in der
Stille der eigenen Klarheit gefreut, -- auch sich Notizen gemacht für
einen Brief darüber an Sömmerring; -- Lavatern abgetan, der ein
Schwärmer war und blieb, zu Cagliostro gehörte, zu Schrepfer, Gaßner und
ähnlichen; endlich noch vor Tische den Bisonskopf, den der junge
Studiosus von Howen am Morgen gebracht hatte, zum Versand an Sömmerring
präpariert und mit Langmayer ein weniges über die Struktur des
Wiederkäuerschädels geschwatzt, -- ha, war das nicht exemplarisch der
Vormittag eines Mannes im Zenith seiner Kraft, auf der Höhe des
geistigen Schaffens? Im Sommer schien auch in Polen die Sonne und reifte
die Saat; ein Mann, mochte er in der Welt stehen, wo ihn das launische
Schicksal hinwarf, er fand seinen Wirkungskreis, und Befriedigung quoll
einzig aus dem stolzen Gefühl des eigenen Busens. Die Welt, die ihn eine
Weile vergessen zu haben schien, hatte sich seiner mit Heftigkeit wieder
erinnert, wie ihn dünkte, und wenn die Nachmittagsstunden nach kurzer
Ruhe der Abfassung populärer gelehrter Aufsätze für die deutschen
Journale, sei's für die Göttinger Anzeigen, für Bertuchs »Journal für
Luxus und Mode« oder für Lichtenbergs Kalender, und der Erledigung der
Korrespondenzen gewidmet waren, so war's eine knappe Zeit zu nennen,
gemessen an der Überfülle dieser Arbeiten. Immerhin, er beherrschte
jetzt die Materie, es war Methode in seiner Art, den Stoff zu
überschauen und zu gliedern, sein Stil war geschmeidig und ein
brauchbares Werkzeug, um die spröde Masse der Wissenschaft in Anschauung
umzusetzen. ^Industria lapis philosophorum!^ dachte er, mit einem
verlorenen Lächeln auf seine Niederschrift gebeugt, -- freilich, jetzt
wandelte er Blei in Gold! Therese, -- das Kind, -- sie wollten leben und
sollten es gut und sorglos. Therese brauchte nicht zu wissen, wie sehr
ihn die Ansprüche des täglichen Verbrauches auf einmal überstürzten.
Therese sollte leben wie die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter
dem Himmel! Eine Hütte, ein Gärtchen mit Bohnen, Erbsen, Kohl und
Spinat, eine Rosenlaube und Astern, ein Stückchen Feld, eine Ziege im
Stall, grobe Schuhe und ein kamelottenes Kittelchen, -- freilich, so
schwärmte sie, dachte er gerührt, nicht besser wollte sie es haben,
arbeiten wollte sie Tag und Nacht für ihn und das Kind! Wer aber kannte
das Idyll von der Hütte und dem Stückchen Land und der Ziege im Stall
besser als er? Oh nein, er war nicht Reinhold Forster, der sein Weib
arbeiten ließ wie eine Magd, oh nein, Wilna sollte kein zweites
Nassenhuben sein! Und dann, -- er lächelte ein wenig, -- »eine Hütte«,
sprach sie, und: »Georgie, der Michal frisiert wie ein Stallknecht, ich
kann seine Hände nicht an mir ertragen, und die Marischa ist so
schrecklich katholisch und schmutzig, -- ob wir uns nicht doch den
Mühlhausen aus Cassel verschreiben?« Und: »Georgie, ich wollte es nur
gesagt haben, es steht eine Chaise zum Verkauf beim Starosten Rubinski,
-- sie, die Rubinska, ließ es mir sagen, -- nun, ich will dir nicht
zureden, aber die große Kutsche hängt so schlecht in den Federn, das
Röschen weint bei den Stößen, wenn wir spazieren fahren ...« Und:
»Georgie, der Schwarz fährt zur Messe nach Leipzig, ich gebe ihm Auftrag
für ein Stück Bielefelder Leinen, du brauchst Nachtcamisöle, Georgie.
Und, -- nun ja, meinst du nicht auch, man könnte eine neue
Kaninchenkatze für mich brauchen?«

Die Kaninchenkatze war Theresens Muff, sie hatte sich im vorigen Winter
immer die räudige Katze schelten lassen müssen, weil sie irgendwo einen
kleinen abgeschabten Fleck hatte. Die Langmayer besaß einen Zobelmuff.

»Man könnte mit der räudigen Katze einen herrlichen Fußsack füttern,«
sagte Therese nachdenklich, »man kann nicht genug Fußsäcke haben!« Und
plötzlich umschlang sie ihn von rückwärts, legte ihre Wange an seine,
lachte ein wenig und: »Georgie,« flüsterte sie, »darf die neue
Kaninchenkatze aus Zobel sein?« --

George ließ die Feder rascheln, rascheln, rascheln. George lächelte über
seiner Arbeit, hustete, hielt inne, hob den Kopf und lauschte auf die
Geräusche im Hause. Röschen weinte, aber nur einen Augenblick. Dann ging
die Wiege, dann lachte Therese, dann jauchzte das Kind. George lächelte
wieder, er lächelte bewußt und ächzte gleich darauf ein wenig, ohne es
zu wissen, während er fortfuhr, zu schreiben. Der Affenbrotbaum, oh, ein
ergiebiges Thema! War es nicht verdienstlich, die deutsche Leserwelt
über den Affenbrotbaum und seine Eigentümlichkeiten zu unterrichten, und
trug dann für ihn dieser Wunderbaum nicht seltsame Früchte,
Nachtcamisöle und eine Kaninchenkatze aus Zobel?

>Ich werde Spener um einen Vorschuß bitten müssen, wohl oder übel,<
dachte George, während er aus der ihm mühelos gehorchenden Anschauung
heraus die Sätze halb mechanisch entstehen ließ; >er bot es mir ja
selber an.<

Spener war der Buchhändler in Berlin, in dessen Hand die Fäden von
Georges wissenschaftlichen Arbeiten zusammenliefen; ein Mann, der wohl
wußte, was er an seinem Forster hatte.

>Oh, mein Teurer,< dachte George weiter, >aber glauben Sie nicht, daß
ich mich als Ihr Sklave in den Bergwerken der Wissenschaft zugrunde
arbeiten werde!<

Seitlich blickend hing er eine Minute der Erinnerung seiner Einfahrten
in die Harzer Bergwerke mit Trebra nach, damals auf der wunderschönen
Reise nach Wien -- seltsames Labyrinth im Bauch der Erde, oh, aber
still, -- so still! Erzadern blinkten, irgendwo tropfte Schlaf ...

Therese wußte nicht, was Arbeit war, Therese hatte hundert
Handfertigkeiten, die sie übte wie Wandeln und Atemholen, Therese
pflegte ihr Kind unter Tanz und Gelächter, Therese hatte geistreiche
Einfälle und ließ sie spielen wie Schmetterlinge, Therese schwärmte und
weinte süße Tränen und schrieb Briefe, -- Briefe -- Briefe ...

Nein, Speners Sklave war er nicht --, Speners Sklave nicht.

Aber was wurde eigentlich aus ihm, fragte er sich manchmal dumpf
staunend, aus ihm, der aus dem Reich der großen Geister, das Deutschland
bedeutete, verschwunden war in die polnische Nacht, unter ein Volk von
weniger als neuseeländischer Kultur, dessen geistige Gestirne bisher
Pfaffen, französische Vagabunden und italienische Taugenichtse gewesen
waren? Dessen Adel die unbedenklichste Roheit mit französischer
Superfeinheit verbrämt zur Lebensart erhoben hatte, in seinen
prunkstarrenden Assembleen das Pharao als einzige Motion der Köpfe
betrieb, von Konversation nichts ahnte, Kunst und Wissenschaft
verachtete, -- was wurde aus ihm in dieser Atmosphäre, ohne geistig
ebenbürtige Freunde, ohne Austausch, -- was konnte aus ihm werden als
der Sklave einer Arbeit, die, er wußte es wohl, nur zweiten Ranges war?

                   *       *       *       *       *

Ein Abendessen im kleinen Kreise guter Freunde, ein Zusammensein in
Heiterkeit und Herzlichkeit bei vorzüglichem Essen und gutem Gespräch,
-- bis Mitternacht bei dampfendem Punsch um den summenden Samowar
gesessen, gelacht, gesungen, ein Spielchen getan, -- dies, sinnierte
George, als er an einem Januarabend Anfang 1787 bei Kerzenlicht noch
einmal an seinem Pult stand und Ordnung unter den Papieren machte, wozu
er vorhin in der Eile nicht mehr gekommen war --, dies ist's, was nach
einem angestrengten Tage wahrhaft Erholung und Harmonie des Gemütes
verschafft! Er pfiff mit vergnügtem Gesicht ein wenig vor sich hin, er
hatte den Spleen gehabt und seine Satire gegen Polen spielen lassen,
trotz der Gegenwart von Régnier und Strzecky, Langmayer hatte ihn grob
und ehrlich unterstützt und wahrhaftig, Régnier hatte den früheren
Kammerdiener nicht verleugnet und war geschmeidig auf den Ton des
Gastgebers eingegangen, bis ihn ein Wort von Langmayer auf die Nase
traf, wie die Eichel den Bauern, der unter der Eiche schlief: Oh ja,
Land, miserabeles, wo es genügt, hohe Herren gut rasiert zu haben, um
Professor der Chirurgie zu werden! Régnier, der ehemalige ^valet de
chambre^ des Fürstbischofs und nun sein, eines Forster, Kollege an der
^Alma mater^, haha, er hatte zum ersten Mal seiner gascognischen
Schlagfertigkeit entraten und es hatte der ganzen Gewandtheit Theresens,
der ganzen erschrockenen Milde des Präsidenten bedurft, um die
Konversation wieder in harmlose Bahnen zu leiten, etwa, -- Himmel, wie
weit holte der gute alte Mann aus! -- zu den Sternen der südlichen
Hemisphäre und der ^Aurea australis^. Da war George nun freilich ins
Schwärmen geraten und dann hatte er wieder einmal des eigenen Wesens
Schatz verspürt, aus dem heraus er unerschöpflich geben konnte, hatte
wieder die Augen des ganzen Kreises gläubig und hingerissen auf sich
gerichtet gesehen, besonders die der Langmayer und der Régnier, die,
aufgeplustert nebeneinander auf dem grünen Kanapee sitzend, bisher
unermüdlich miteinander geklatscht und gekakelt hatten und den
Zwischenfall überhaupt nicht bemerkt ... Lieber Gott, das waren doch
gute Kinder, die Langmayer in ihrer allerliebsten Rundlichkeit, die
immer so viel Heimweh nach Kipfeln und Backhähndeln hatte und ihn mit
ihrer Mundart und Molligkeit immer an die kleine Mimi Born denken ließ
--, die Langmayer eben, mit der alle Unterhaltungen unfehlbar auf den
einen elegischen Schluß hinausliefen: »Es gibt halt nur ein Wien, --
geltens, Herr Professor?« Und die Régnier, deren erstes Kind so alt war
wie das Röschen, schien schon wieder in der Erwartung, das rührte ihn
heute so. Régnier war ^au fond^ doch ein braver Kerl, wenn schon mehr
ein Feldscher als ein Mann der Wissenschaft, und er gönnte ihm sein
häusliches Glück. Häusliches Glück überhaupt, das war's, was einzig die
Erde zur Heimat machen konnte, möge diese Zufluchtsstätte liegen, wo
immer sie wolle, meinetwegen auf Feuerland --, oh, nein, unterbrach er
sich selbst erschrocken, aber jedenfalls, auch in Polen ließ es sich
leben und sterben, wenn einer in des andern Liebe den Schlüssel zum
Paradiese besaß. Seit Therese das Kind hatte, seit sie in der
körperlichen Prüfung des Wochenbettes durchaus nicht gestorben, sondern
mit verdreifachten Lebenskräften daraus hervorgegangen war, war sie da
nicht durchströmt von Zufriedenheit, schien sie nicht völlig aufzugehen
in dieser Verzückung für das kleine Wesen, schwiegen nicht seit langer
Zeit alle Wünsche nach Deutschland zwischen ihnen? Das Kind, dachte er,
in Zärtlichkeit verloren, o ja, das Röschen! Freilich, es sollte nach
Deutschland, wohin es gehörte, sobald seine Seele erwacht war, sollte
nicht hier verkümmern zwischen Sarmaten und Römlingen! Einstweilen war
ihm wohl, wo nur die Sonne schien, und -- auch in Polen schien die Sonne
und der Garten der Kindheit blieb hold und heimatlich im Schoße der
Erinnerung. War nicht ihm selbst sein dürftiges Nassenhuben eine Insel
des Friedens und der Reinheit, trotz allem?

Der späten Stunde vergessend, begann er, mit den Händen auf dem Rücken
auf und nieder zu schreiten. Wärme überkam ihn, Gefühl des Besitzes, der
Wurzelhaftigkeit. Er musterte die Bücherreihen, streichelte die Geräte,
die Möbel, die so schweigsam und bescheiden ihm dienten, mit den Augen.
Er liebte sie, er pflegte sie durch Ordnung, auch das kleinste Ding
hatte seinen festen Platz. Er hatte es erreicht, daß sein Tag sich mit
federndem Rhythmus abspielte. Weit hinter ihm lag das Nebelmeer der
Schwärmerei mit seinen Untiefen, er war ein Mann geworden, er stand
fest, er breitete sich aus. In dieser sonderbaren Stunde fühlte er sich
jeder Arbeitslast gewachsen. Er wollte nun Ernst machen mit der Ausübung
der medizinischen Praxis, womit er in innerer Unsicherheit immer noch
gezaudert hatte, obgleich er sich schon vor zwei Jahren auf der
Hochzeitsreise in Halle den dazu nötigen Doktortitel geholt hatte.
Langmayer hatte ihm heute wieder zugeredet, es zu tun, vielleicht nur,
um Régnier zu sekkieren, der der Vorstellung eines neuen Konkurrenten
mit säuerlichem Schweigen begegnet war. Nun, ich werde ja nicht
begehren, zu operieren, mein Herr Professor und Bartscher, dachte George
vergnügt, wohl wissend, welche Art der Praxis ihm in der Gesellschaft
von Stadt und Umgegend blühen würde, -- Damenpraxis, leichte, aber
einträgliche Fälle! Zweihundert bis dreihundert Dukaten für eine
glückliche Kur waren durchaus nichts Ungewöhnliches, er wußte es von
Langmayer; zwanzig bis fünfzig Dukaten waren gemeine Einnahmen. Oh, Gott
möge ihm verzeihen, wenn er's nicht rein aus Liebe tat, -- aber Polen
einst schuldenfrei verlassen zu können, war das nicht auch ein
gottgefälliges Ziel?

Ich muß es Therese erzählen, daß ich mich entschlossen habe, vielleicht,
daß es sie freut, dachte er, die Kerzen löschend und in der Dunkelheit
den vertrauten Weg ins Schlafzimmer suchend. Ob sie noch wachte? Wie
charmant sie heute Abend wieder die Wirtin gemacht hatte, war nicht
Strzecky, dieser alte Abbé, völlig verliebt in sie gewesen und hatten
nicht die Régnier und die Langmayer neben ihr gesessen wie schwerfällige
Lummen neben einem blitzenden wippenden Strandläufer? Am Ende hatte sie
am Klavizymbel gesessen und übermütig trommelnd ihn und die ganze
Gesellschaft zu unauslöschlichem Gelächter hingerissen, während die
Régnier den Präsidenten in seinem langen Priesterrock nach dem Marsch
aus den Deux Avares durch's Zimmer führte, verschämt-feurig mit den
großen Kirschenaugen rollend, während der Alte so zierlich trat wie eine
Dohle im Schnee und zu seiner eigenen Entschuldigung etwas vom Wandel
der Sphären dozierte und den König David namhaft machte. »Habens eine
Ahnung von ein Jesuitel!« hatte die Langmayer atemlos gekreischt, -- ja,
Therese, sie war ein Genie der Geselligkeit, es machte ihr Plaisir, die
Leute durcheinander zu bringen, und daß sie glücklich war, lag auf der
Hand. >Ich bin's, der sie glücklich macht,< dachte er noch gerade voll
Zufriedenheit, die Klinke schon niederdrückend, nachdem ein feiner
goldener Streifen am oberen Türrand ihn belehrt hatte, daß drinnen noch
Licht brannte. Und, so dachte es in irgendeiner Unterströmung seines
Wünschens, -- die Régnier ist schon wieder in anderen Umständen ...

»Therese!« rief er halblaut und erschrocken aus und war mit zwei
Schritten neben ihr, »was ist dir, Kind?«

Sie saß auf dem Bettrand, die Ellenbogen auf den Knien, das Gesicht in
die Hände vergraben. Jetzt, da er, ratlos, den Arm zart um ihre zuckende
Schulter legte, wandte sie sich hastig ab, warf sich in die Kissen und
schluchzte weiter, schluchzte wie von Eruptionen einer körperlichen
Verzweiflung geschüttelt, schluchzte wie ein Mensch, der sich nun einmal
auf Gnade und Ungnade einer dunkelen Gewalt überlassen hat, die er sonst
zu bändigen pflegt, ja, hingegeben schluchzte Therese, hingegeben an
diesen Ausbruch einer wilden Traurigkeit, darin rasend, taumelnd,
schreiend in einer Art bacchantischer Gelöstheit, mit den Händen
schlagend, den Kopf drehend und zurückwerfend, Laute ausstoßend, hohl,
drohend, anklagend, als stände sie nackt vor Gott und wiese ihm
ungeheures Elend, -- so schluchzte Therese, -- Therese, die ein Kind
war, lachend sonst, schwärmend, spielend, Therese, die glücklich war,
die er glücklich machte, Therese ...

George, in namenlosem Entsetzen, zurückgebogen nach dem Fußende des
Bettes, die Arme steif von sich gereckt, die Hände ineinander gerungen,
erstarrt in der eisigen Strömung dieser fürchterlichen Offenbarung,
George stammelte hilflos, mit kleiner Stimme, jammernd: »Therese! Aber
Therese ...«

»Oh!« rief Therese. »Oh! Oh!«

Irrsal. Verlassenheit. Beschwörung. --

Und dann weinte sie stiller.

George gewann Zeit, sich zu sammeln, aber er ließ seine Augen wandern
und fühlte, daß er nicht wußte, was er hiervon halten sollte, daß er
müde war, ja, und daß ihn fror. Da stand sein Bett, schneeweiß,
einladend aufgedeckt, -- wie, wenn er sich geschwind auszöge und die
Erklärung von Theresens Kummer unter der Federdecke liegend empfinge?
Unsicher indes, wie Therese dies aufnehmen würde, drängte er solchen
Wunsch zurück und begann ganz leise den Rücken der Halbliegenden zu
streicheln, indem er in die Kerzenflamme starrte und mit dem Gähnen
kämpfte. Und fast erschrak er, als das Weinen plötzlich aussetzte und
Therese sich so schnell aufrichtete, daß seine Hand von ihr abglitt, wie
abgeschüttelt.

»George!« sagte Therese und ihre kleinen festen Fäuste mißhandelten
leidenschaftlich ein feuchtes winziges Taschentuch. »George!«
wiederholte sie tief atemholend und noch einmal aufschluchzend, er
suchte mit einem scheuen Blick ihr gerötetes entstelltes Gesicht und sah
schnell wieder weg. »George!« rief sie zum dritten Mal und der Batist
zerriß: »Ich -- halte dies -- nicht mehr aus!«

»Aber was denn, Therese, -- komm doch nur!« bat er verzweifelt und
suchte sie an sich zu ziehen. Aber sie stand auf, machte sich an der
Wiege des Kindes zu schaffen, stand dann am Nachtschränkchen, putzte mit
bebenden Fingern das Licht und wiederholte: »Ich halte es nicht mehr
aus! Und was doch nur? Was doch nur? Dieses Land, -- diese Stadt, --
diese Menschen! Und dies, daß du dich hier behagst! Du! George Forster!«

»Ich?« fragte George und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, --
»Ich -- oh -- ich ...«

»Oh, Georgie!« rief Therese leidenschaftlich und auf einmal war sie zu
seinen Füßen und umschlang seine Knie. »Es geht nicht länger! Oh
Georgie! Laß uns ...«

Das Röschen rührte sich in seiner Wiege und stieß einen kleinen Laut
aus. »Still! das Kind!« machte George.

»Das Kind!« sagte Therese böse, stand mit einer sonderbar verächtlichen
Bewegung auf und trug geschäftsmäßig das Licht in eine andere Ecke des
Zimmers. Dann trat sie an das Fußende des Bettes, auf dem er saß, sodaß
er sich zu ihr umwenden mußte, und die Arme aufstützend und ihn fest und
beobachtend anblickend sagte sie nun in leichtem und nüchternem Ton: »Es
geht nicht länger, George. Wir müssen von hier fort. Du bist es dir
selber schuldig.«

»Therese,« sagte George müde, »du vergißt, daß ich für sieben Jahre
verpflichtet bin. Therese, und -- wir sind doch jetzt ganz froh.«

»Froh!« stieß sie hervor, »froh! Wenn ich mein besseres Selbst vergesse,
bin ich froh.« Und da er schwieg und mit einer haltlosen Geste die Hände
öffnete und schloß, den Blick von ihr abgewandt, fuhr sie fort: »Wenn
ich vergesse, daß ich einmal in einem Zirkel von Menschen gelebt habe,
in dem das Gespräch nicht einzig auf Dienstboten und Essen roulierte. In
dem die großen Geister unserer und anderer Nationen wie Hermen in einem
Tempel standen und täglich frisch bekränzt wurden. Wo Seele die Seele
erkannte und verstand im Augenblick des Sichfindens ...«

»Jawohl, -- Assad!« flüsterte ein böser Geist George ins Ohr. Und als
ahnte sie seine Gedanken, schloß Therese ein wenig allzu emphatisch:
»Karoline! Philippine! Fiekchen! Schlözer und seine herrliche Tochter!
Wen soll ich noch nennen? Oh, George, du hast mit uns in Göttingen
gelebt, du kennst die Wonnen eines Umgangs mit Lichtenberg, mit -- mit
Assad ...«

»Und,« fuhr sie nach einer kleinen atemlosen Pause hastig fort, als
wollte sie ihn hindern, zu antworten, »du behagst dich hier mit einem
Langmayer, einem Régnier beim L'hombre und bist es zufrieden, diese
polnischen Gänse in der Botanik zu unterrichten.«

Dies letzte bezog sich auf einen Zyklus populär-wissenschaftlicher
Vorträge, den George in diesem Winter vor einem Kreise von Damen aus der
Gesellschaft hielt. Er errötete und sagte unwillig: »Du vergißt, daß es
nicht mein eigener Wunsch war. Und ich habe Gründe, derartiges nicht von
der Hand zu weisen.« Er stockte. Therese, ging es ihm durch den Sinn,
sollte leben wie die Blumen auf dem Felde ... Er hob den Kopf und sah
sie mit einem bittenden Lächeln an.

»Therese,« sagte er, »hab' ein wenig Geduld! Die Jahre gehen schnell
herum, glaube mir!«

»Und deine Freunde vergessen dich!« rief sie heftig. »Die Welt stand dir
offen, vor zwei Jahren noch! Wer schreibt heute noch an dich?
Sömmerring, -- Sömmerring, -- wer sonst? Spener höchstens und die
Herausgeber der Journale, für die du Fronarbeit tust ...«

»Sömmerring freilich ist eine treue Seele«, murmelte George bitter. Oh,
hatte Therese nicht recht?

»Georgie, Georgie,« flüsterte Therese und war wieder zu seinen Füßen,
die Arme auf seinen Knien, das Gesicht zu ihm erhoben, »laß uns
fortgehen von Wilna, Georgie!«

»Deine Locken ...« er spielte mit ihrem Haar, er lächelte, süß gelöst
von ihrer warmen Nähe. »Oh, Therese! Weine nie wieder so!«

»Laß uns fortgehen von Wilna!« wiederholte sie eindringlich, die Augen
mit tödlich-ernstem Flehen in seine vertiefend, die ihnen auswichen.
»Ich komme um in Wilna. Ich -- komme um in mir selbst.«

»Oh, Therese, -- und du warst doch immer so fröhlich, seit das Röschen
...«

Therese sah ihn eine Weile an, prüfend, stumm. Dann sagte sie:
»Fröhlich, Georgie? Du sagst es, kein Zweifel, daß du es auch glaubst.«

Und gesenkten Hauptes, nach kurzem Schweigen, leise: »Die Mutter sagte
manchmal zu mir:

   >Wenn dein Herz von Wunden blutet,
   Lügt oft deine Stirne Ruh' --<«

»Therese!« rief George kummervoll.

»Georgie?« Sie hob den Kopf. Ihre Augen blickten bewegungslos, klar,
rätselhaft, Spiegel tiefer Brunnen. Ein nie bemerkter Zug von Qual
spannte die Brauen.

»Therese,« dachte George erschüttert, »war doch gestern noch ein Kind.
Bin ich denn blind gewesen?«

Er zog sie empor, nahm sie in die Arme, bettete ihr Haupt an seine
Schulter. »Geliebte,« flüsterte er angstvoll, »Einzige, sage doch, --
ist es dies allein, was dich unglücklich macht, -- dies allein?«

Therese hielt die Augen geschlossen.

»Ja, Georgie. Dies -- allein ...«

»Wir wollen fort von Wilna, Therese,« redete er leidenschaftlich, und
sein Atem bewegte ihr Haar, »du hast recht, ich verkomme hier, du hast
recht, es ist ein übles Zeichen, wenn man anfängt, sich hier zu
goutieren. Du hast recht, du hast hundertmal recht, -- und ich dachte
nur, -- ich kalkulierte, -- aber gleichviel ...«

Er starrte über sie hinweg, seine Augen brannten, sein Herz hämmerte.
Ein Frösteln schüttelte seinen Körper.

»Du bist müde, Guter,« murmelte Therese auf einmal schläfrig und
lächelte. Er küßte zerstreut die kleinen Finger, die ihm das Jabot
lösten. Er war nachdenklich, entledigte sich der Kleider ohne es zu
wissen.

»Therese,« begann er wieder, als er neben ihr lag, und im Dunkeln zog er
sie an sich, -- »es ist gut, daß dies kam, oh, du hast mich geweckt. Es
war etwas eingeschlafen in mir, Therese, hörst du, und vielleicht war es
das, -- das, was mich deiner Liebe erst würdig machte, -- machen konnte,
Geliebte, -- dies, daß ich wagen und opfern konnte für dich. Ist es so,
-- Therese ...« bettelte er in der Dunkelheit und fühlte es wieder, dies
müde, beschwichtigende Streicheln kleiner Hände, das alles andre tat,
als ihn beruhigen. Er stemmte sich auf den Ellenbogen und neigte sein
Gesicht auf ihres.

»Vor zwei Jahren, kleines Mädchen,« prahlte er mit leisem Lachen und
spielte zärtlich mit ihrem Stirnhaar, »als ich so verzweifelt war, weil
ich nicht wußte, woher das Geld nehmen, um dich aus Göttingen zu holen,
nicht wußte, ob mir die Erziehungskommission den Vorschuß bewilligen
würde, -- da war ich noch ein Kerl, da hatt' ich noch Projekte! Ja, was
meinst du, wenn der Forster nicht gekommen wäre, dich zu holen, wenn er
verschwunden wäre wie die Maus im Heuhaufen ...«

»Ich wollte alles verkaufen,« fuhr er träumerisch fort und warf sich
zurück, »Bücher, Mineralien, Herbarien, und dann, unter dem Vorwand,
nach Deutschland zu gehen, wäre ich geradenwegs nach Konstantinopel
gefahren und hätte dort mein Glück versucht, als ein Kerl, der meist
alle europäischen Sprachen spricht und just nicht auf den Kopf gefallen
ist.«

Er verstummte einen Augenblick und -- »ein Leuchtöl, destilliert aus
Hammelfett« ging es ihm unerklärlicherweise durch den Sinn, und »man muß
es dem Großtürken anbieten ...« jawohl, dies war der Studiosus Bezzel in
Petersburg gewesen!

»Von Konstantinopel aus,« sprach er langsamer, gleichsam behutsam, um
nicht auf Erinnerungen zu treten, »wär' ich weitergegangen, nach
Persien, -- nach Indien, -- wär' unter einem warmen Himmel wieder
aufgetaut, lebendiger, geistiger, -- jünger geworden, und wäre, entweder
ein Wiedergeborener mit frischem Ruhm bekränzt oder gar nicht
zurückgekehrt -- zu dir ...«

»Georgie!« -- Therese hatte sich nun ihrerseits halb aufgerichtet und
tastete nach seinem Gesicht. »Georgie!« sagte sie schmeichelnd, »ach,
kenn ich dich wieder, mein Georgie?« Und, ihre Arme um seinen Hals
werfend, leidenschaftlich: »Du solltest nicht immer -- nur übersetzen,
Freund!«

»Nicht immer -- nur übersetzen, Therese?« fragte George sanft, »oh --
kleine Therese!«

»Nicht tagelöhnern -- schaffen solltest du, George, die Welt erobern,
große Projekte ausführen ...«

»Große Projekte, Therese?« Er hielt sie gegen seine Brust gepreßt, er
fühlte ihr schnelles hüpfendes Herz wie einen gefangenen Vogel gegen
seines stoßen. Er lächelte schmerzlich, sie sah es ja nicht.

»Ich werde,« sagte er hastig atmend, »mich bemühen, gib acht, -- ich --
habe Pläne, habe Aussichten. Du sollst sehen, man hat den Forster nicht
so schnell vergessen, als du denkst. Therese, -- bist du mir auch gut?«

Sie hatte sich zurückgleiten lassen, ach, und wieder waren da ihre
sanften kleinen Hände.

»Ja doch, Georgie, ja!« sagte sie, als tröste sie ein Kind, »ja, ach
Georgie, -- und so müde ...«

Sie gähnte leise. Sie zog die Decke bis ans Kinn hinauf. »Gute Nacht!«
murmelte sie, oh, es war gar kein Zweifel, daß sie halb schon schlief.

                   *       *       *       *       *

Der harte Kern hatte endlich keimen, Wurzel schlagen wollen, -- er war
aus dem Erdreich gerissen, betastet und wie spielend fortgeworfen
worden. Kristalle wollten zusammenschießen in dampfender Mutterlauge;
eine achtlose Hand hatte die Lösung gerüttelt und aufgerührt. Und so
würde es immer gehen, dachte George, und dachte es ohne Bitterkeit. Denn
war dies nicht eigentlich erst Leben, dies, daß man nicht ausharrte in
einem dunklen Gang des Labyrinthes, sondern vorwärts stürmte, einem halb
nur geahnten Lichtschein zu, der, -- Gott mochte es wissen, -- den
Ausweg in die Freiheit verhieß? Nun, welchen Schwung verlieh nicht der
Entschluß, Wilna zu verlassen! Welche Pedanterie war es gewesen, sich an
einen Vertrag halten zu wollen, der ihn in seinen besten Jahren an eine
Galeere schmiedete! Therese war eine gute Tänzerin, sie wirbelte ihn
hinweg über alle Bedenken, und oh, welche Stunden von Moquerie und
Ausgelassenheit hatten sie nun zusammen, wie verschworen und eines
Sinnes waren sie jetzt inmitten des ^vulgi stulti^, der sie fressend und
saufend in träger Geselligkeit umgab, wie eine Herde Kühe, die
wiederkäuend mit runden Augen auf das Schauspiel zweier von Geist und
Jugend beflügelter Menschen glotzte? Hatte er in dem letzten Jahr viel
gearbeitet, so arbeitete er jetzt mehr als je, aber es ging ihm von der
Hand als stünde er an einer gut geölten Maschine, und der Cook rückte
täglich einen Bogen vor. Dies war nun noch einmal eine Übersetzung,
dachte er, wenn er nachts mit fiebernder Stirn und kalten Händen am Pult
stand, -- aber auch die letzte. Oh, Therese sollte sehen, wie es war,
wenn er die Schatzkammern seines eigenen Geistes erst einmal auftat, --
erntete in den Gärten, die nun endlich reife Früchte bieten mußten.
Nicht zum Dozenten, zum freien Schriftsteller fühlte er sich berufen.
»Scheermesser sind nicht gemacht, um damit Klötze zu schnitzen,« schrieb
er an Sömmerring, frohen Selbstgefühls voll.

Nein, er wollte nicht mehr Kraft und Zeit vergeuden. Aber freilich war
es gut, immer in Amt und Brot zu sein, gut, einem freigebigen Herrn zu
dienen ... Es galt, einen Gönner zu finden, dem es lohnend schien, ihn
hier loszukaufen, oder dessen Macht ausreichte, mit seinem Wunsch nach
Forsters Diensten allein diese verfluchte Last von nahezu 6000 Gulden
Vorschuß zu löschen, die er der Erziehungskommission nun einmal
schuldete. Therese hatte Recht: hier mußte er als Mann von Welt
politisch und mit kühler Überlegung seine Möglichkeiten und Vorteile
abschätzen und gegeneinander ausspielen. Therese setzte abends »das
Schachbrett« auf, wie sie diese Beschäftigung übermütig nannte, hohe und
höchste Gönner aufmarschieren zu lassen und zu prüfen. Da war, wenn man
die große Zahl der ihm gnädig gesinnten Fürsten wegließ, die hier nicht
in Betracht kamen, da sie höchstens Louisdors und Schnupftabaksdosen,
aber keine gut dotierten Ämter zu vergeben hatten, zunächst einmal der
Landgraf von Hessen, von Cassel her in unliebsamen Angedenken, -- indes
die Verleihung einer Professur der Naturwissenschaften an der
Universität Marburg lag in seinen Händen. Die tätige Liebe des wackeren
Sömmerring war am Werk, hier sowohl als bei seinem eigenen Herrn, dem
Mainzer Kurfürsten, für George zu arbeiten, und, -- so sagte Therese, --
beide Plätze hatten ihre Meriten, Mainz freilich ungleich größere, da es
sich unter dem Krummstab des Barons Erthal zu einem kleinen Musenhof,
vergleichbar dem von Weimar, entwickeln zu wollen schien und -- »mein
Georgie!« -- es lag linksrheinisch, es war fast schon Paris! In Berlin
war der vortreffliche Gleditsch verblichen, Friede seiner Asche! Gewiß
war es opportun, dem Minister von Herzberg die ^Opera botanica^ zu
schicken und diesem Beschützer von Kunst und Wissenschaft zu seiner
Erhebung in den Grafenstand zu gratulieren, -- oh, kein Wort von dem
erledigten Lehrstuhl, man rief sich in Erinnerung, weiter nichts. Die
größten Figuren aber, mit denen Therese agierte, saßen im Norden und im
Süden auf den Thronen des deutschen Reiches und Rußlands. Und es war
zweifellos, daß es auf St. Petersburg ankam und auf St. Petersburg
allein! Denn, so meditierte diese erstaunliche kleine Person ihm
gegenüber am Tisch ernsthaft, -- wo Frauen regieren, hat ein Mann von
Verdienst alle Chancen, und darum, von der großen Katharina ganz
abgesehen, -- kam es darauf an, die Aufmerksamkeit der Fürstin Daschkow,
des weiblichen Direktors der Akademie der Wissenschaften, auf sich zu
lenken! In Therese, dachte George voll abgründigen Staunens, als er sich
an einem dunklen Wintermorgen im Reisewagen auf der Fahrt nach Grodno
sah, wo es Gelegenheit gab, sich dem Ambassadeur der Kaiserin, Herrn von
Stakelberg, vorstellen zu lassen, -- in Therese steckt etwas von einer
Katharina, einer Daschkow und mehr von einem Diplomaten als in mir,
Sömmerring, nun, und sagen wir einmal: dem Vater zusammengenommen! Und
dann dachte er daran, wie der Vater im mausgrauen Rock nach Danzig
gefahren war, mit der Absicht, den Vorgänger des Herrn von Stakelberg,
den weiland Herrn von Rehbinder, in die Tasche zu stecken, und wie er
heimgekommen war in der Überzeugung, daß ihm dies gelungen wäre. Oh,
die, alten Zeiten und der Vater! Und jetzt kollidierte man mit ihm auf
Schritt und Tritt, denn nicht nur um Marburg bewarb sich der Alte
ebenfalls, auch in Berlin, wo, wie George jetzt durch Spener gehört
hatte, er, der Sohn, auf die Liste der für Gleditschens Stelle
Vorgeschlagenen gesetzt war, war Forster senior auf dem Plan erschienen
und hatte bei seiner Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Akademie die
Erfahrung machen müssen, daß George diese Ehre gleichzeitig widerfuhr! O
nein, ich triumphiere nicht, dachte George, sich erschrocken von seinen
Gedanken abwendend, und fühlte doch, daß eine kalte Befriedigung sein
Herz vorübergehend hart und glänzend gemacht hatte. --

Es gibt Dinge, die einem niemals allein und losgelöst, sondern immer nur
in der Verbindung mit anderen Gegenständen einfallen, so konnte sich
George nicht an den Londoner Nebel erinnern, ohne an ein gewisses
kleines Federmesser zu denken, das ihm in jenen bösen Jahren vor der
Südseereise ein zärtlich geliebter Besitz und ein Trost gewesen und
später verlorengegangen war, -- er konnte auch den Namen Surinam nicht
hören, ohne die Erscheinung des Hofrats Kotelnikow vor sich zu sehen.
Ebenso gab es Menschen, die ihm nur paarweise oder gar in Gruppen ins
Gedächtnis traten, Larry und Porea etwa, Sömmerring mit dem Hintergrund
des ganzen Casseler Kreises, der ihm einigermaßen widerwärtige Nikolai
in Berlin mit seinem Gegenspiel, dem herzlich verachteten Schrepfer in
Leipzig, die Musiker Neumann und Naumann in Dresden und -- nun, Gott
möge ihn davor bewahren, dachte George, daß er jetzt seine ganze
wimmelnd bevölkerte Erinnerung wachrief, um sich die ihn ein wenig
quälende Tatsache zu erklären, daß er nicht an den Vater denken konnte,
ohne daß Therese dies stattliche Gestirn umkreiste, -- nicht sich in das
Wesen seines Weibes versenken, ohne daß die gleiche Konstellation sich
ungerufen einstellte. An diesem Junimorgen, da er wie gewöhnlich mit
Sonnenaufgang erwacht war und nun auf der Seite ruhend, die Hand unter
die Wange geschoben, im gedämpften Licht die neben ihm Schlummernde
betrachtete, stieg irgendeine nächtige Woge in ihm und wahrnehmend, wie
ihre Brust sich hob und senkte und die Kante ihres Hemdes am Halse von
den zuckenden Schlägen des Pulses bewegt ward, dachte er sonderbar
erregt: wie wehrlos sie ist! Und sich selbst vortäuschend, dieser
Gedanke stiege aus der Lust, sie an sich zu reißen, fühlte er gleich
darauf erschrocken, daß etwas wie gehässige Neugier in ihm sprach und
ihm zeigte, daß Therese häßlich sei, doppelt häßlich jetzt in diesem
Augenblick des Schlafes mit dem haltlosen Unterkiefer und dem Ausdruck
unbedingter trotziger Hingabe an die Dumpfheit der Betäubung. Sieh
keinen Toten und keinen Schlafenden an, sie können sich nicht
verstellen! dachte George, sich unruhig herumwälzend und die Hände
hinter dem Haupte verschränkend. Und da war's wieder. Erinnerung
arbeitete in ihm, deren er sich nicht bewußt zu werden wünschte,
unwillig gab er ihr endlich Raum und erkannte, -- jawohl, so hatte er
oft, unzählige Morgen der Vergangenheit gelegen und den schlafenden
Vater angesehen, hatte gedacht, -- oh, lächerliche Gedanken eines
Knaben! -- aber etwa so: Wenn ich nun aufstünde, leise, heimlich, -- das
kleine Federmesser vom Tisch holte, das kleine, blanke, liebe, und mit
seiner Spitze einen sauberen behutsamen Schnitt durch jenen tanzenden
Adamsapfel dort zöge ... Aber dies möchte Wahnsinn heißen, wenn es nicht
so lächerlich wäre, sagte er sich, indem er sich nun plötzlich eilig
erhob, das Gesicht zu einer unbewußten Grimasse verzerrt, -- George
Forster mit der Erinnerung an Mordgedanken, -- George Forster mit der
Lust, -- und in einem letzten Nachgeben an jene dunkle Versuchung und
mit einem scheuen Blick auf die Schlafende gab er es sich verzweifelnd
zu, -- ja, George Forster mit der Lust, sein Weib, seine Therese zu
quälen. Ach, nicht zu töten! Aber einmal mit seinen Zärtlichkeiten den
Blick ergebenen Duldens, den Blick unbeteiligter, stiller, ja vielleicht
manchmal freundlicher Verwunderung wandeln zu können in einen
gebrochenen, schwimmenden, -- die in allen Lagen beherrschte Rede dieses
Mundes auflösen in ein hilfloses Stammeln, -- einmal Therese _fühlen_ zu
machen! Er dachte: _einmal_, das ist dann, als ob eine Tür endlich
aufspringt! Einmal, -- das heißt dann, für immer im Paradiese sein! Er
zog sich hastig, geräuschlos und unglücklich an. Er verließ die Kammer
und durchschritt mit gesenktem Kopf den Vorraum. Mein Gott, er war ein
Narr, ein Undankbarer, sagte er sich, als er nun in seinem Kabinett
hastig den Teller auslöffelte, den ihm Marischa gebracht hatte. Diese
morgendlichen Verstimmungen waren ebenso eine Folge skorbutischer
Schärfe in seinem Geblüt, als die fortwährenden Anfälle ziehender
Schmerzen, als diese kleinen lästigen Ausschläge, die entzündeten Augen,
die peinigenden Koliken. Die Säfte reinigen! Das war der Schlüssel auch
zur Harmonie der Seele. Hastig schluckte er seine Erdbeeren in Milch, --
Obst auf nüchternen Magen, wie es ihm Sömmerring verordnet hatte, und
das Therese nie versäumte, ihm hinstellen zu lassen, in der Form, wie
die Jahreszeit es bot. Oh, sorgte sie nicht rührend für ihn? Ja, er
_war_ ein Narr! Wenn jetzt der Druck der Enttäuschung auf ihr lastete,
daß bisher alle Pläne, von Wilna fortzukommen, gescheitert waren, --
wenn dieser Druck sie matt und teilnahmslos machte, -- war das nicht nur
natürlich? Was verlangte er denn von ihr? Er schob den Teller zurück.
Obst am frühen Morgen, mir zuwider wie nur je, dachte er angeekelt. Ach,
mein Gott, es verlangte ihn ja nur nach ein wenig Zärtlichkeit und
Wärme, schrie es verzweifelt in ihm auf. Trugen sie denn die
Enttäuschung nicht gemeinsam? Litt er nicht wie sie unter dieser
Umgebung ohne Geist und Feuer, mußte sie nicht endlich überzeugt sein,
daß er Ruhe und Gesundheit dransetzte, um aus diesem stagnierenden
Froschteich herauszukommen, daß die satte Zufriedenheit der Kollegen,
die kleinlichen Eifersüchteleien und Kabalen ihn bis zur Verzweiflung
peinigten? Litt er denn immer noch nicht sichtbar genug, um der
Gemeinschaft _ihres_ Leidens endlich teilhaftig zu werden? Denn, --
nicht wahr, -- dies war's: er _wollte_ leiden, um ihrer würdig zu sein,
um bei ihr zu sein, wohin ihr Herz sie immer trug, -- nur _bei_ ihr und
_mit_ ihr, -- und um den Dämon Lügen zu strafen, der ihm so den Spiegel
vorhielt und hämisch raunte: brächtest du selbst denn die Größe auf,
Freund, um so zu leiden wie sie, unmittelbar aus Gottes bitterer Hand?
-- sprang er verzweifelnd auf und rannte hinaus, fort von den schon
ausgebreiteten Büchern und Papieren, der still lockenden und drohenden
Welt der Arbeit, in der Vergessen und Zufriedenheit war.

Ein botanisches Gärtchen von Qualität! ging es ihm durch den Kopf, als
er in dem Schattenwinkel hinter dem Hause war, wo er die für die
Demonstrationen in den Kollegien notwendigen selteneren Pflanzen ziehen
sollte und wo er nun zwischen den Rabatten auf und nieder ging, dumpf
eingedenk, daß die unzähligen Fenster des weitläufigen Gebäudes auf ihn
niederblickten und daß hinter einem möglicherweise die Langmayer stand
und in der lieben Wiener Mundart sagte: »Maria und Josef, -- der _arme_
Mann!« Hätte er nur gewußt, warum sie ihn immer bedauerte, ihn, der vor
der Welt so glücklich war! Dies aber, was ihn jetzt quälte und ruhelos
machte, da er nun einmal wieder den Vater und Therese in seinen Gedanken
vermengt hatte, war eine Erinnerung von der Hochzeitsreise her, die über
Halle hierher gegangen war. Selbst in dem Bewußtsein, wieder in den
Bannkreis des Vaters zu treten, hatte er dieses Mal ohne inneres
Widerstreben, ja, mit einem gewissen Frohlocken die Schwelle des
Elternhauses überschritten, er kam ja nicht allein, wer konnte ihm jetzt
noch etwas anhaben? Die Erlebnisse der ersten Tage des Zusammenlebens
waren noch unentwirrt um ihn und Therese, sie bedeuteten einstweilen
noch die holde Unordnung zerrissener Kränze, die noch nicht verwelkt
waren, es war im gesicherten Besitz noch das atemlose Zittern
ungestillter Sehnsucht in ihm und sie war von jener bräutlichen
Schmiegsamkeit gewesen, mit jenem weinenden Lächeln der Hingebung, der
Bereitschaft, das ihn rührte und toll machte zugleich. Sie waren im
Gasthof abgestiegen, Therese machte sich schön, sie hatte das Kleid aus
jenem weißen Aotobast hervorgeholt, den George ihr einst geschenkt,
hatte es angezogen, um, wie sie mit Munterkeit sagte, den alten Eroberer
von Tahiti zu ehren. George hatte ihr geholfen, hatte Hefteln und Bänder
geschlossen, die Handspiegel gehalten, damit Madame sich von allen
Seiten betrachten konnte, hatte zwischendurch vor ihr gekniet und diese
lieben, wunderlich kleinen Füße gestreichelt, -- mußten sie nicht müde
sein von der Reise? Aber ja, sie mußten doch, wenn man auch beständig
gefahren war! Wie war es denn möglich, daß ein Mensch sein Leben lang
auskam mit Füßchen, nicht größer als eine gewöhnliche Männerhand? --
kurzum, er hatte sich verliebt und ungeschickt betragen, bis Therese:
»Aber, -- mein Freund!« gesagt hatte, ja, das hatte sie schon damals
zuweilen getan. Am Ende hatte er mit ihr am Arm den Gasthof verlassen
und hatte sie ganz übermütig vor Stolz und Wichtigkeit durch die Straßen
geführt, selbst elegant genug, wie er sich dünkte, im neuen blauen
Tuchrock nach englischem Schnitt, Hut unterm Arm und Hand am Degenknauf.
Blickten die Mutter und Fieken nicht schon am Fenster nach ihnen aus? Er
gab Theresen noch einige Verhaltungsmaßregeln; sie sollte sich nur nicht
fürchten, sagte er tröstend, der alte Herr, nun ja, er habe seine
Wunderlichkeiten, aber er sei kein Menschenfresser, -- sei kein
Menschenfresser, wiederholte er sich selbst innerlich staunend, wer
hatte ihn denn je dafür gehalten, für einen Menschenfresser? -- und man
brauche ja nicht mit ihm zu leben. In wenigen Tagen würden sie wieder
allein miteinander sein, sagte er, nur, nicht wahr, ein paar Stunden
täglich während dieser kurzen Zeit müßten der Pietät zum Opfer gebracht
werden und die Mutter, ach, die Mutter würde sich so freuen! Er redete
so viele Worte der Beruhigung und der Vorbereitung, daß Therese endlich
ganz verwundert zu ihm aufsah und sagte: »Aber, George, ich fürchte mich
doch gar nicht!« und er sich besann, freilich, er hatte nicht bedacht,
daß Therese Heyne gewohnt war, mit den sonderbarsten alten Knaben zu
plaudern, daß sie, -- und war das nicht einer der Züge, die er so
leidenschaftlich an ihr bewunderte? -- eine kleine Dame von Welt war,
gewohnt, sich in alle Situationen zu schicken. Kindlich genug
betrachtete er ihre Eigenschaften als eine Verstärkung, eine Erweiterung
der eigenen Person, -- nun, der Vater würde sehen, der Vater würde
staunen, was da endgültig aus ihm, George, geworden war, er würde es
nicht mehr wagen ...

Was würde er nicht mehr wagen? George wußte es bald selbst nicht mehr,
was eigentlich er sich von diesem Besuch für eine Wirkung versprochen
hatte, -- etwa die einer Parade vor dem Feind, einer friedlichen Parade
in voller Rüstung mit Fahnen, Standarten und blitzend neuen Waffen: Hier
das Haus Forster junior auf immerdar? Da stand ein Riesenstrauß bunter
Astern mitten auf dem runden Tisch und dahinter, rötlich wie der
herbstliche Mond, leuchtete Reinhold Forsters massiges Gesicht unter dem
schimmernden Toupet und selbstverständlich! er hatte auch einen blauen
englischen Frack an und wie füllte er ihn aus mit Brust und Schultern!
Da saß er, ließ seine großen Augen rollen, blies die Backen auf wie nur
je und spielte den ^galant-homme^, sich herabneigend zu der kleinen
zierlichen Schwiegertochter und seine gewaltige Hand auf ihre schmale
legend, -- und das schon in der ersten halben Stunde der Bekanntschaft!
George, an der anderen Seite des Tisches zwischen Mutter und Riekchen
sitzend, sich der Verpflichtung innerlichst bewußt, sein neues Glück in
die erloschenen Augen der Mutter strahlen zu müssen, die an ihm hingen,
fühlte eine nie geahnte Erregung des Herzens. Plaudernd und lachend, als
hätte er Wein getrunken, rief er Therese an, sie möge seine Erzählung
von der Hochzeit ergänzen, was für eine Robe hatte ihre Mama getragen,
wie waren die allerliebsten Carmina gegangen, die ihre kleinen
Stiefgeschwister rezitiert? Dies alles interessiere brennend die Damen.
Zugleich wühlte er hastig, fieberhaft nach einer Frage, die er dem Vater
wie eine Schlinge umwerfen könne, -- ja, -- wie war das mit seiner
Promotion, was für Visiten waren zu machen, welcher Anzug war
angebracht? Sonderbar bemüht, der Mittelpunkt des Kreises zu werden,
kein Sondergespräch aufkommen zu lassen, redete er nach rechts und
links, was ihm gerade in den Sinn kam, die Augen immer wieder
beschwörend auf Therese gerichtet: einen Blick, ein kleines
Freimaurerzeichen des Verständnisses, der Zusammengehörigkeit wollte er
haben, -- oh, aber nicht dies gleichmütige, abgleitende Lächeln!
Verzweifelt machte er Anspielungen auf kleine gemeinsame Erlebnisse der
letzten Tage: »Weißt du noch, in Weimar ...?« sagte er, und »Therese,
wie war die Aussicht aus unserem Fenster in Eisleben, du erinnerst dich,
haha!« erreichte aber nichts, als daß sie ihn erstaunt fragend und
nachdenklich anblickte und daß Riekchen eifrig fragte: »Wie war das
denn, erzähle doch!« Allmählich verstummte er, zerbröckelte seinen
Kuchen mit den Fingern und starrte vor sich hin aufs Tischtuch. »Mein
Georgie,« hörte er die Mutter neben sich und fühlte ihre leise Hand auf
dem Ärmelaufschlag, »bist du nun froh?«

Er wandte ihr die Augen zu.

Der Vater neckte Therese. Der Vater nannte sie: »Frauenzimmerchen,
charmantes, durchtriebenes!« Der Vater reichte ihr mit Grandezza den
Arm, um sie in den Garten zu führen. Die andern folgten. »Zwischen
diesen ehrwürdigen Zeugen des Geistes,« sagte Reinhold Forster im
Kabinett verweilend mit einer weiten Handbewegung auf die Bücherborde
deutend, »hat Ihr George seine ersten schüchternen Schritte auf dem
Pfade der Wissenschaft getan!« Alle waren stehengeblieben. Dort standen
der Vater und Therese. Hier stand George, den Kopf ein wenig gesenkt,
den Mund mit einem schmerzlichen Versuch zu lächeln halb geöffnet, die
Augen schweifend; Mutter und Schwester hinter ihm in der demütigen
Haltung liebender Einfalt. Der Vater aber legte den Arm plötzlich mit
einer großen Gebärde um Therese, die mit einem gurrenden Lachen zu ihm
aufsah, und mit der Linken erst auf sich selbst, dann auf den Sohn
deutend, rief er mit dem alten wohlbekannten Dröhnen des Brustkastens:
»Gegängelt, gegängelt, gegängelt ist er gegangen! Frauchen, Frauchen,
nun kriegt Sie die Zügel in die Hand! -- hat Sie auch die Forsche dazu?«

Versunken niederstarrend auf ein Beet mit Heilkräutern, sah er die
beiden wieder stehen, mit den Köpfen nickend. Hatte nicht auch Riekchen,
hatte nicht selbst die Mutter lachen müssen? Ein Scherz, mein Gott, ein
Scherz im Familienkreise!

Er ging ins Haus zurück, von neuem betäubt durch diese Erinnerung, von
der fürchterlichen Bedeutsamkeit, die sie in seinen Augen gewann, je
öfter er sie hin- und herwandte: hier hatte er gestanden, allein, und
dort -- dort war Therese gewesen, -- Therese neben dem Vater. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Ein paar Stunden später am Fenster stehend, unfähig zu arbeiten unter
dem fürchterlichen Druck des seelischen Schweigens, das zwischen ihm und
Therese sich ausbreitete, einem ratlosen Zustand körperlicher Angst
hingegeben und mit einem Gefühl von Abneigung und Ekel das Treiben der
Gänse um den Tümpel auf dem weiten grasbewachsenen Platz zwischen seinem
Wohnhause, dem Universitätsgebäude und der blendenden Fassade der Kirche
gegenüber beobachtend, -- in diesem Augenblick sah er durch die weiße
Verödung der Mittagsstunde aus der Richtung der Posthalterei her einen
Mann stracks auf sein Haus zukommen, trat einen Schritt zurück, griff
sich an die Stirn, lachte glücklich auf und stammelte: »Nun, endlich!«
obgleich er sich sofort dessen ganz bewußt war, daß nicht der geringste
Anlaß vorlag, in diesem Manne den Schicksalsboten zu sehen. Als er eine
Stunde später das Wohnzimmer betrat und sich Therese gegenüber am
gedeckten Tische niederließ, war eine Frische und Straffheit in seinen
Bewegungen und lag, während sie die Suppe löffelten, ein nicht zu
bändigendes Lächeln auf seinem Antlitz, daß Therese schließlich nicht
umhin konnte, die Lider zu heben. »Was gibt's, Forster?« fragte sie ein
wenig gereizt, -- freilich, buchte er heimlich, was hatte er auch
fröhlich zu sein, wenn es ihr zu schmollen beliebte? -- und »Was ist's
mit dem russischen Kapitän? Wieder einen Gast auf den Abend? Du weißt,
ich habe nichts im Hause.«

Spielerisch, als sei er gänzlich unberührt von ihrem larmoyanten Ton,
gab George lächelnd zur Antwort: »Oh, wie du willst, meine kleine
Therese! Es ist ein Kapitän Mulowsky aus Cherson von der Marine der
Kaiserin, und gewiß ein etwas verwöhnter Herr. Ich -- werde mit der
Langmayer sprechen, meinst du nicht? und zum Soupieren mit ihm
hinübergehen. Sie wird sich's zur Ehre anrechnen, denk ich.«

Therese, die an ihm vorbeigesehen hatte, wie ein trotziges Kind, blickte
ihn plötzlich voll und mißtrauisch an: »Zur Langmayer? Aber geh du nur,
-- und verdirb dir wieder den Magen an ihrem fetten Zeug! Es ist eine
Sache des Geschmacks, ob man sich dabei behagt oder nicht.« Und da das
milde Strahlen gar nicht aus Georges Augen weichen wollte, blickte sie
ihn noch einmal prüfend und nicht begreifend an und sagte dann langsam,
mit einem Unterton ungläubiger, zögernder Ahnung: »Georgie, -- was --
wollte dieser Kapitän?«

»Oh -- nichts ...«

George zerschnitt vergnügt das Fleisch auf seinem Teller, -- »gar nichts
weiter Besonderes. Er -- hat mir im Namen der Kaiserin -- nun etwa
dreitausend Rubel Gehalt versprochen und Deckung aller meiner hiesigen
Schulden ...«

»O George -- Georgie!«

»... wenn ich mich bereit erkläre, eine Entdeckungsexpedition nach der
Südsee mitzumachen. Er brachte einen schmelzenden Empfehlungsbrief vom
Ambassadeur mit. So ist es! Ja, Therese!«

Glückselig lachend breitete er beide Arme aus. »So ist es!« rief er noch
einmal, »so ist es! Oh, Therese, -- das Leben ist mir neu geschenkt!«
Und im selben Atemzug neben ihr kniend, sie umschlingend: »Oh, vergib!
Aber verstehe, verstehe! Dies, -- dies ist noch einmal eine Tür ins
Freie. Und ich komme wieder, ich komme wieder, Kleine, Geliebte, -- und
du wirst mich lieben und wir werden selig sein!«

Therese, seltsam über diese gestammelten Worte hinweglauschend, ihm
zugewandt, die Hand auf seiner Schulter, sagte langsam: »Georgie, dies
ist mir wie ein Traum.« Und nach einem Stocken, während er lächelnd zu
ihr aufsah: »Wie sagtest du? Dreitausend Rubel Gehalt? Wie -- ist das zu
verstehn, mein Georgie?«

»Oh,« sagte er ein wenig erstaunt, »es war eine meiner Bedingungen, es
war ... Nun, ich werde jährlich zweitausend Rubel unterwegs ausgezahlt
bekommen, -- Liebe, -- es ist eine Abwesenheit von drei bis vier Jahren
vorgesehen ...« er legte mit zarter, ängstlicher Gebärde den Arm um sie.

»Zweitausend,« wiederholte sie ein wenig ungeduldig, »nun, und -- und
...?«

»Tausend,« sagte George irgendwie verwundert, »wirst du jährlich bei
einem noch näher zu bestimmenden deutschen Bankier für deinen und
unseres Kindes Unterhalt erheben. Du wirst in Deutschland leben,
selbstverständlich!«

»Ach!« Therese beugte sich vor, um ihn zu streicheln, -- oder war's, um
ein sonderbares Lächeln zu verbergen, das haltlos um ihren Mund
flackerte? »Wie gut von dir! Georgie, -- aber wirst du denn auch eine
Pension haben, wenn du zurückgekommen bist?«

»Ich werde mir die Hälfte meines Gehaltes auf Lebenszeit ausbedingen,«
erwiderte er, bemüht, ihren wandernden Blick zu fassen, »und« -- setzte
er langsam hinzu -- »komme ich nicht wieder, Therese, so sollst du diese
Pension bis an dein Lebensende haben. So werde ich mich bemühen, es
durchzusetzen.«

»Oh, Georgie, Georgie! Wer spricht davon?« rief sie nun und preßte
seinen Kopf an ihre Brust mit einem Aufschluchzen, wie ihn dünkte. »Oh,
wie kannst du an so etwas denken? Es ist nur -- der Vater, -- er ist
immer so penibel in derlei Fragen. Du weißt ja, damals, als du um mich
angehalten hattest, eh du nach Wilna gingest, er wollte nicht, daß wir
uns noch einmal sähen. Erinnerst du dich?«

»Ich erinnere mich«, sagte George, plötzlich von Bitterkeit übermocht.

»Es war,« flüsterte Therese, »daß er meinte, du würdest mich nicht
erhalten können. Er dachte, du würdest es bald selber einsehen, und dann
würde es gut sein, daß wir uns nicht wiedergesehen hätten, weißt du.
Ach, er sprach so viel von Versorgung und Pension, da ist das so in
meinen törichten Kopf gekommen. Wie, Georgie, -- du weißt doch, daß
deine Therese keine Rechnerin ist?«

Spielend, zärtlich, flocht sie ihre Finger in seine. »Drei bis vier
Jahre? Ach, George! Aber es gilt deinen Ruhm und die Wissenschaft! Du
sollst sehen, wir werden tapfere Frauen sein, das Röschen und ich!«

George hatte sich erhoben. Er sah auf sie nieder mit seinem unsichern
Blick gütevollen Staunens, er wandte sich ab, er schritt im Zimmer auf
und nieder.

»Tapfer? Tapfer?« dachte er ratlos, -- »sie -- freut sich ja! Sie freut
sich -- daß ich gehe ...«

Sie freute sich nicht, daß er ging, befahl George nach einer
Viertelstunde der Verzweiflung in seinem Kabinett seinem Herzen zu
glauben, nachdem er sich an der alten Vorspiegelung gestärkt hatte:
Therese ist ein Kind! Therese war ein Kind, und das Neue dieser
Aussichten, die unfaßbare Veränderung des Daseins, die bevorstand,
hatten sie verwirrt. Wie hatte er sich so täuschen können? »Der Mut
meiner unvergleichlichen Therese unterstützt mich in allem,« schrieb er
gleich darauf am Schluß eines in fliegender Eile an seinen
Schwiegervater hingeworfenen Briefes mit den Neuigkeiten dieses Tages
und fügte ein Erkleckliches an Beruhigungssätzen über die Sicherung von
Gegenwart und Zukunft hinzu. Oh, wie sehr recht hatte ein Vater, sich um
das Glück seiner Tochter zu sorgen! Mein Röschen! dachte er in Bewegung.
Nur ein Vater konnte ein Vaterherz verstehen! Indes, nun die Rührungen
beiseite geschoben, es galt, sogleich an Sömmerring zu schreiben, den er
dem Kapitän als begleitenden Arzt vorgeschlagen hatte, galt, Jubel
auszuströmen in die Brust des Getreuen, der wie kein anderer begreifen
würde, was dies hieß, was dies zu bedeuten hatte, als wissenschaftlicher
Leiter mit unbeschränkten Vollmachten einer Expedition vorzustehen, die
mit fünf Schiffen ausgerüstet als eine Kriegsflotte der Aufklärung gegen
die Rätsel des Erdballs ziehen würde. Rausch und Taumel überkamen ihn
bei der Versenkung in die Macht, die da auf einmal in seine Hände gelegt
war. Einen Astronomen, Unterärzte, Zeichner, Jäger, Ausstopfer,
Gärtnerburschen, ja vielleicht auch Bergleute galt es anzuwerben, -- ha,
jetzt sollte manch einer es erleben, daß er gut daran getan, dem Forster
Dienste zu erweisen, daß der Forster sich zu erinnern verstand! Er
beschloß und notierte es sich, daß er eine gehörige Summe fordern
wollte, um seinen Mitarbeiterstab durch Verleihung kleiner Geschenke und
Pensionen geschmeidig zu erhalten. Schlug er etwa den guten alten Wales
in London -- er würde doch noch leben? -- als Astronomen, -- den jungen,
ihm so treu ergebenen Dr. Mayr in Prag als Botaniker vor? Und welche
Aussicht, dem Bruder Karl eine Stelle als ^surgeon's mate^ zu
verschaffen, konnte er als Sömmerrings Gehilfe nicht Unschätzbares
profitieren!? Der Vater, dachte George, schier atemlos von dem Wirbel
seiner Gedanken, der Vater wird's nicht zugeben! Und wie ein
Wolkenschatten zog die finstere Gestalt des eifersüchtigen König Minos
über die Gefilde seines Glückes. Gleich darauf riß er Schiebladen auf
und begann, planlos Papiere herauszunehmen, durchzusehen, zu vernichten.
Aber dies hat Zeit! dachte er plötzlich beschämt und tat alles wieder an
seinen Ort. Besser war's, eine Liste der zur Fahrt nötigen Bücher und
Instrumente aufzustellen, oder mit allem Fleiß seine der russischen
Regierung vorzulegenden Bedingungen noch einmal durchzuarbeiten, oder
ein Verzeichnis der Gegenstände zu machen, die vor der Abreise hier zu
verkaufen waren, -- denn natürlich dachte er nicht daran, unnötigen
Ballast in die befreite Zukunft hineinzuschleppen, und was war nicht
alles Ballast in diesem Augenblick, -- die Hälfte seiner Bücher und
Sammlungen gewiß, und der größte Teil des Ameublements! Das alles würde
in den nächsten Monaten für gutes Geld loszuschlagen sein, unter der
Hand und ganz ohne Aufsehen, denn er mußte seine Vorbereitungen heimlich
betreiben, bis die russische Regierung mit der Erziehungskommission
abgerechnet und ihn losgekauft hatte, -- Himmel, Therese würde doch
nicht etwa schon mit der Langmayer geschwatzt haben! Er rannte hinüber,
auch in dem unbewußten Verlangen nach Röschens kleinem Apfelgesicht, --
wenn ich wiederkomme, dachte er mit jähem Erschrecken, ist mein Röschen
fast sechs Jahre alt! Nein, Therese hatte mit keiner Seele geschwatzt,
sie saß im Gärtchen, das Kind an der Brust, den Blick ganz still auf ein
Beet voll blühenden Lavendels gerichtet. »Ich _will_ doch nicht an den
Vater denken und an seine ridikülen Passionen!« dachte George, den es
von jeher ein wenig verstimmt hatte, daß Therese die Vorliebe für dieses
Kraut mit dem Alten teilte und daß denn dieser Duft der Duft aller guten
und bösen Tage zu sein schien.

Therese hob den Blick zu ihm und da sah er, daß ihre Augen voll Tränen
standen: »Wir kommen nach Deutschland, wir kommen heim!« flüsterte sie
gebrochen, und da war es auch um seine Fassung geschehen. Er kniete
neben ihr, er küßte ihre Hände, das Röschen jauchzte und griff in seine
Haare, sie lachten und weinten miteinander. »Alles wird gut, alles wird
wieder gut!« zog es befreiend durch sein Herz. Unendliches wollte
besprochen sein, im Umsehen war der Abend da, und mit ihm noch einmal
der Kapitän, zunächst zugeknöpft wie ein Engländer. Aber der Tee schmolz
sein russisches Herz, er begann zu fabulieren; Katharina war seine
Himmelskönigin und er wollte ihr den Erdkreis erobern. Er sei ein
natürlicher Sohn des Fürsten Czernitscheff, des Vizepräsidenten des
Admiralitätskollegiums, -- oh, der Herr Geheime Rat sollte nur fordern,
fordern, fordern, es würde alles unterschrieben werden. Drei Küsse
besiegelten den Bund, als die zukünftigen Weggesellen sich trennten.
»Dieser Mann«, sprach George noch vor dem Einschlafen in die Dunkelheit
hinein, von seinem aufgewühlten Herzen getrieben, »wird mir Freund und
Bruder werden. Ihn und unseren Sömmerring an meiner Seite wissend kannst
du getrost mich ziehen lassen, Therese. Therese, -- aber schläfst du
denn schon?«

                   *       *       *       *       *

Nun, da er dem Abgott seiner Jugend geopfert hatte, in dem Augenblick,
da die Übersetzung der Cookschen Reisebeschreibung als ein stattliches
Konvolut bereit lag, an Spener abgesandt zu werden einschließlich seines
Aufsatzes über jenen Tapferen, der mehr war als eine bloße Würdigung,
der eine Huldigung war und ein Dank des armen kleinen George aus den
fernen Tagen, -- einschließlich auch der allergnädigst akzeptierten
Widmung an des Kaisers Majestät zu Wien, die Therese durchgesetzt hatte,
-- ja, als ob mit diesem Zeitpunkt das Schicksal freie Hand bekommen
hätte, so hatte es ihn ergriffen und dorthin gestellt, wo sein Held
gestanden hatte, mitten in ein Leben der Tatbereitschaft und des
Wirkens. Er hatte so lange im Schweigen Gottes gelebt, daß er mit
ungläubigem Staunen wahrnahm, wie alles sich so glatt abwickelte, wie
die Kommission ihn, obschon mit unendlichen Ausdrücken des Bedauerns,
der Höflichkeit und Versicherungen seiner Unersetzlichkeit losließ und
das russische Geld einsteckte; daß er es kaum fassen konnte, als er die
Kisten mit seinem persönlichen Eigentum, -- -- oh, welche
Wäscheausstattung hatte Therese in den wenigen Wochen zustande gebracht!
-- nach Kopenhagen abfertigte, wo sie Mulowsky, mit seiner Flottille von
Petersburg kommend, gleich an Bord nehmen sollte; daß ihm die Gedanken
stockten bei der Vorstellung, daß, wenn er Therese nach Göttingen
gebracht hatte, wo sie bei den Eltern bleiben sollte, er dann im Oktober
zusammen mit Sömmerring nach London gehen und dort die letzten,
wichtigsten Vorbereitungen treffen würde. Er, nun so großer Dinge
gewürdigt, ward in diesen Wochen von einem blinden Triumphgefühl
getragen, als habe er dies alles hart erkämpft und nicht nur --
herangeduldet. Er vergaß alle seine körperlichen Leiden oder sie gingen
unter in dem Aufstrom von Kraft, der durch seine Adern brauste. Er sang
und pfiff bei der Arbeit, -- ach, ^The Rakes of Mallow^ und Larry droben
im Takelwerk! -- seine Phantasie spielte, er spürte bis ins Mark den
stählenden Atem der Wogen, roch Salzwind und Teer und Kaffeesäcke und
fremde Hölzer, Gewürze und Tiere, sah vor Augen die wilden, schönen
Menschen der Inseln, spürte ihre erregende Ausdünstung, dachte an die
Starostin, an die Tatarin, lief zu Therese, um sie an sich zu pressen
und ihr etwas ganz und gar Überflüssiges von dem häßlichen Kreischen der
Papageien in den Urwäldern Surinams zu erzählen, von Schlingpflanzen,
Affennestern, Giftschlangen und Vöglein Kolibris, die aus Becherblüten
Honig tranken, sagte träumerisch und unverständlich: »Also so, -- so war
es dem Vater zumut, damals, als ich nichts begriff ...« und ward nur in
den Nächten manchmal von Zaghaftigkeit überfallen, in den Nächten, wenn
bei der süßen, leisen Musik der Atemzüge von Weib und Kind ihn die
Vorstellung überkam, daß die großen Winde draußen über den Meeren
tanzten und kein Erbarmen hatten und nicht wußten, daß einer
zurückkommen mußte zu Therese und zu dem kleinen, kleinen Kinde.

Dann wieder überkam ihn das Glück ausschließlich in Gestalt der
Vorstellung, daß diese Hölle von Wilna nun zu seinen Füßen lag, --
»denn,« sagte er in Langmayers runde Augen hinein, »es _war_ eine Hölle
für mich, Freund, und alle meine Anpassung an meine unwürdigen
Verhältnisse nur eine Form der Verzweiflung.«

Langmayer, demütig zustimmend, wagte zu bemerken, daß jede Hölle ihm
durch seine Miezi zum Paradiese werde, ein Argument, das George
überhörte. Daß er nahe daran gewesen war, hier auch sein Paradies zu
finden, wennschon nur in seiner Phantasie, nun, wen ging das etwas an?
Er, der zurückgefunden hatte auf den harten männlichen Weg der Dalrymple
und Cook, er hatte sein Paradies im Reich der Ideen und nicht zwischen
Tisch und Bett. Er opferte sein Behagen der Wissenschaft, -- wußte Herr
Langmayer, was es damit auf sich hatte? Zugleich empfand er es Tag und
Nacht mit einem Taumel des Entzückens, daß Therese einen neuen Menschen
in ihm entdeckt zu haben schien, daß sie seine rastlose, beschwingte
Tätigkeit mit einer heimlichen Bewunderung begleitete, die sich in
kleinen Zärtlichkeiten Luft machte. Daß sie seine Pläne ausbauen half
und sich nach seinem Sinne einrichtete, -- so verzichtete sie ohne
weiteres auf ihren Wunsch, die Jahre der Trennung in Gotha bei den
Freunden Reichardt zuzubringen, da es ihm lieber war, sie in Göttingen
zu wissen, -- und er ging unter in der seligen Täuschung einer endlich
erreichten, vollkommenen Vereinigung. Die Abschiedsvisiten lagen hinter
ihnen, auch die letzte, feierlichste beim Fürsten Primas im Lustschloß
Werki, eine Stunde vor Wilna, -- sie verbrachten die letzte Nacht in den
Gastbetten der guten Langmayers, sie konnten nicht einschlafen und
zählten sich die Wonnen des Wiedersehens, die auf dem Wege bis nach
Göttingen lagen, auf. Und hingerissen und verführt von der schelmischen
Anmut, die die unbändige Freude ihr gab, in der hellen nordischen
Sommernacht auf sie niederblickend, die in seinem Arm lag, sagte George
in irgendeiner unbedachten Eingebung, so wie man ein Spielzeug vor einem
Kinde tanzen läßt: »Nun, und Assad, -- Assad! Therese?« und erschrak
gleich darauf vor dem Ernst, der auf ihre Züge fiel wie Reif.

»Assad?« fragte sie langsam, »nun, -- liebst denn du ihn nicht, George?«

»Assad ist mein Freund und Bruder, Kind!« sagte George und küßte ihre
Schulter, »ich weiß es ja, wem du gehörst ...«

»Ich weiß es ja,« wiederholte er tröstend und fragte sich zugleich, wen
eigentlich er trösten müsse? -- »wir beide lieben Assad, ja, wir beide!«

                   *       *       *       *       *

»Schwerlich, schwerlich!« sagte George, denn ihm dünkte, dies müsse eine
passende Antwort sein, auf das, was Lichtenberg soeben zu ihm gesagt
hatte, etwas, das zweifellos den Inhalt gehabt hatte, daß die Familie
Forster keinen Zeitpunkt hätte finden können, geeigneter zu
einer festlichen Heimkehr nach Göttingen, als diese Tage des
Universitätsjubiläums im September 1787 und des Taumels sämtlicher
Fakultäten. Denn dies war's doch, womit alle Menschen bisher ihre
Gespräche mit ihm eingeleitet hatten, und was sollte Lichtenberg denn
anders gesagt haben zu ihm, der hier an der Wand des Saales lehnte und
allem Anschein nach entzückt in das Getriebe des Tanzes sah?
Möglicherweise aber hatte Lichtenberg auch gefragt, warum er, George,
nicht teilnähme am Tanz, und mit erhobener Stimme, um sich durch das
Gefiedel der Musikanten hindurch verständlich zu machen, setzte er
hinzu, während ein Lächeln an seinem Gesicht zerrte und er mit der Hand
zur Schläfe fuhr, hinter der dieser boshafte Schmerz wieder einmal
wütete: »Ich bin durch meinen Aufenthalt unter den Wilden denn doch um
die Erwerbung einiger Vorzüge gekommen, Verehrtester, in deren Besitz
der deutsche Europäer sich glücklich fühlt. So bin ich niemals
konfirmiert worden und verstehe mich nicht auf die Kunst des Tanzens.«

»Ich stellte mir soeben vor,« fuhr er einigermaßen geschwätzig fort und
ließ seine brennenden Augen unruhig durch die Reihen der Tanzenden
schweifen, »was für einen Effekt wohl der neuseeländische Hundetanz
machen möchte, ausgeführt von den Greisen der vier Fakultäten, haha!« Er
nahm Lichtenberg am Arm und zog ihn mit sich fort. »Vergebung, Freund,
ich habe heute abend ein wenig den ^spleen^ und meine Imagination ist
schon wieder so ganz in der Südsee. Ich denke daran, daß ich bald die
halbe Wölbung des Erdballs zwischen mein Weib und mich gelegt haben
werde, und bedaure es ein wenig, nicht mit ihr tanzen zu können. Nehmen
wir zusammen ein Glas Wein!«

»Nehmen wir ein Glas Wein! Nehmen wir es auf Georgia Augusta und auf
Ihren neuesten Ehrendoktor! Den Sie sich wahrlich verdient haben,
Freund, -- oh, nicht allein durch das Faszikel dieser süperben Präparate
magellanischer Pflanzen, um das Sie Ihre Sammlungen beraubt und die
unseren bereichert haben! -- auch nicht allein durch Ihren Vortrag, der
freilich ^magnifique^ wirkte nach dem langweiligen Blumenbach! Immerhin
danke ich den Göttern, daß wir den offiziellen Teil hinter uns haben!«
--

»Ich fragte Sie, lieber Freund, soeben nach dem jungen Eluyar, mit dem
Sie, wie Therese mir erzählte, in Dresden zusammengetroffen sind, und
Sie haben mir darauf >schwerlich, schwerlich< geantwortet«, hub
Lichtenberg schmunzelnd von neuem an, als sie in einer Ecke des
Nebenraumes saßen. »Sie haben mir sodann ausführlich Ihr Bedauern
darüber geäußert, nicht tanzen zu können, und ich erwidere Ihnen
nunmehr, sachlicher als Sie, daß ich dies Bedauern nicht teilen kann,
und es nur mit Beifall begrüße, Sie gleich andern vernünftigen Männern
ihre Lust beim Weine anstatt bei jenem würdelosen Gehüpfe suchen zu
sehen. Der Tanz steht unter den Belustigungen den triebhaften
Liebesspielen der Tiere am nächsten. Ihre Wilden bringen das zweifellos
noch unbefangener zum Ausdruck als wir.«

»Sie wackeln mit dem Steiß und gehaben sich auch sonst sehr deutlich,«
sagte George und spähte düster nach der offenen Tür, an der die Paare
bunt vorüberwirbelten, »aber unser Tanz ist im geheimen tausendmal
schamloser, glauben Sie mir!«

»Und wie war's mit dem jungen Eluyar?« Lichtenberg blickte an ihm
vorüber.

»Der junge Eluyar ist ein edler Mensch und mein Freund! Oh, Sie erinnern
mich an göttliche Stunden«, George wandte sich dem andern nun voll zu.
»Er war bei unserer Rückkehr aus dem Exil der erste Gruß eines geistigen
Europa an mein verschmachtetes Herz! Gebildet im schönsten Sinne, feurig
und dennoch gelassen. Ich hatte nicht erwartet, bei einem Spaniolen
diese Gründlichkeit der Kenntnisse anzutreffen, diese Beschlagenheit auf
allen Gebieten. Er war zudem in einer ähnlichen Lebenslage, wie ich --
es kürzlich war,« sagte George nun zögernder und starrte wieder nach der
Tür, »soeben verheiratet und in den ersten Erfahrungen der Seligkeit mit
einer geliebten Frau. Wir tauschten unsere Herzen aus ...«

»Ihre Fähigkeit zum Enthusiasmus hat in Polen nicht gelitten.«

»Oh, er ist dort geschont worden und hatte keine Gelegenheit, sich
abzunutzen, dieser Enthusiasmus. Freund, wie glauben Sie, daß mir zumute
ist, wieder redliche Seelen um mich zu wissen und nicht mehr Jesuiten?«

»Ich würde an Ihrer Stelle mich dieser Gewißheit nicht allzu
optimistisch überlassen,« Lichtenberg kniff, seinen Wein kostend,
vergnügt die Augen halb zu, »der Jesuitismus ist trotz Herrn Nicolai
und der streitbaren Kurländerin weniger eine ausrottbare
Ordensangelegenheit, als eine allgemeine Eigenschaft der menschlichen
Natur. Der Jesuitismus ist«, sagte dieser Filou und bewegte schalkhaft
den Zeigefinger, »sonderlich ein Grundbestandteil der weiblichen Natur
und ein verheirateter Mann ist dem nun einmal ausgeliefert. Der Weise
rechnet damit.«

»O, ich verkaufe meinen Glauben an das Herz nicht um Ihre
Menschenkenntnis!« rief George voll Bitterkeit und fuhr im selben
Augenblick leicht zusammen. Wie von einer Woge der Musik hereingespült
war aus dem Saal ein Paar in dies Kabinett geeilt und beim Anblick der
beiden einsamen Zecher in plötzlichem Zaudern stehengeblieben, als hätte
es den Ort verlassen geglaubt.

»Oh, Therese!« sagte George sonderbar langsam und erhob sich
schwerfällig, »du suchtest mich? Mein lieber Meyer, -- nehmt doch Platz.
Ihr -- seid erhitzt, -- Ihr wünscht etwas zu trinken?«

Und stehend neben seinem Stuhl verharrend, blickte er in unschlüssiger
Hilflosigkeit auf Therese nieder, die da schon gegenüber von Lichtenberg
saß, mit unruhigen Händen ihre Frisur ordnete und den leichten
silbergestickten Schal um die zarten Schultern zog.

»Wir stören das erste Sichwiederfinden zweier schöner Geister, ich
wette!« rief sie aus und ließ ihre Augen zwischen Lichtenberg und George
wandern.

»Warum stehst du so gebrochen da, mein Freund?« Und bemüht, dieses
sonderbare Gespräch stummer Blicke zwischen George und Wilhelm Meyer zu
beenden, Meyern, der ebenfalls noch stand und sehr aufrecht mit einem
rätselhaften Erzengellächeln seiner blauen Augen auf den in sich
gebückten George sah, drängte sie: »So setzt euch doch! Wie ist dein
Kopfweh, George? Ach, Assad, wenn du das Fenster schließen wolltest,
dieser kühle Luftzug tut unserm Freunde unmöglich gut! Oh, unser
deutscher Walzer, George, -- was sind alle Mazurken dagegen! Du erlaubst
doch, Lieber?«

Sie führte sein Glas an die Lippen, sie lächelte ihn an, ihre Hand
suchte seine. Eine Woge von Entzücken sprengte den Reifen, der um seine
Brust gelegen hatte; er lachte, er stürzte den Rest des Weines hinunter
und setzte das Glas mit solchem Schwung und Nachdruck nieder, daß es
zersprang. Er saß neben ihr, er hielt ihre Hand fest, er redete, eifrig,
demütig: »Ich bin glücklich, dich hier zu wissen, Assad. Wenn der Ozean
um mich brandet, wird der Gedanke mich stärken: Therese ruht im sicheren
Hafen, treue Freunde schützen mein Weib und mein Kind.«

»Komm doch häufig zu uns, Teurer,« sagte er in das seltsam ratlose
Schweigen der anderen hinein, »sieh, wie wir leben, nimm dir ein
Beispiel an unserm Glück! Ich werde dir dankbar sein, wenn du
Therese auf ihren Spaziergängen begleitest, ich bin von meinen
Reisevorbereitungen übermäßig in Anspruch genommen, -- lies ihr vor, ich
werde dabei sein, wenn ich kann. Höre, Assad, -- aber du willst gehen,
-- warum geht er denn, Therese?«

Mit einer kurzen Entschuldigung war Meyer aufgesprungen und
hinausgeeilt, in dem Augenblick, als die Musik aufhörte und die Menge
der Tanzenden plaudernd und lachend hereinströmte. »Er scheint da doch
irgendwo interessiert zu sein,« sagte George, ihm nachblickend, »was
meinst du, Therese, ist es eine von den Gatterers oder am Ende gar die
gelehrte Dorothea?« Aber da nun der alte Heyne, am Arm die Professorin
Wrisbach, an den Tisch trat, den Schwiegersohn auf die Schulter schlug
mit dem Aufruf: »Hier verbirgt sich das Turteltaubenpaar, ei, ei, da
kann man freilich lange suchen!« und: »So lob' ich mir's, Töchterchen,
hast dem ^petit maître^ den Laufpaß gegeben und deinen Forster gesucht!«
so ward Therese der Antwort völlig überhoben.

                   *       *       *       *       *

Er wollte nicht zu Professor Büttner gehen, wie er daheim zu Therese
gesagt hatte, er fühlte sich heute weder den Anforderungen einer
gelehrten Konversation, noch der Hundeatmosphäre im Studio des Alten
gewachsen. Er ging auch nicht zu Heyne. Ihm war nicht nach
tabaksqualmumwölkten philologischen Erörterungen zumute und er hatte
keine Lust, sich von jedem Besucher, -- und immer waren dort Besucher!
-- auf die Schulter klopfen und beglückwünschen zu lassen, zu seiner
Heimkehr aus Sarmatien, zu seinen Aussichten, zu -- seinem Weibe. Warum
überhaupt, meditierte er irgendwie erregt und weit ausschreitend, warum
fühlte sich jetzt jedermann nicht nur gedrungen, sondern auch
berechtigt, ihn auf die Schulter zu klopfen, sei's im Ton der Rede oder
mit der Gebärde? War er etwa jünger geworden, hatte er eingebüßt an
Verdienst, an Haltung, an Würde? Warum hatte Karoline Michaelis, die nun
des wackeren Böhmer Gattin und aus ihrem Klausthal am Harz nur
vorübergehend nach Göttingen gekommen war, ihn gestern beim Wiedersehen
im Hause Gatterer so besorgt betrachtet, so aufmunternd zu ihm
gesprochen, als sei er mütterlicher Betreuung bedürftig? Und: »Guter
Forster!« hieß es allenthalben, »der gute Forster« an allen Ecken und
Enden, und: »Forster, mein Guter!« rief ihn Therese über den Tisch
hinüber an, oh, hatte er sich denn je im Leben dieser Bezeichnung
weniger wert gefühlt, als gerade eben? »Karoline freilich«, schaltete er
mit einem Aufatmen in seine Gedanken ein, »wird wohl jeden streicheln
und betreuen wollen, dem sie ein wenig gut ist, -- und ich glaube, sie
war mir ein wenig gut, einst, ehe ich ...«

Seine Gedanken wurden zu Vorstellungen. Er sah einen Frühlingsgarten,
sah Therese, sah Karoline vor sich stehen. Zog er Vergleiche?
Lächerlich! Sie war die Doktorin Böhmer, er war Theresens Gatte. -- »Was
bin ich noch?« dachte er angestrengt, während seine Füße im Herbstlaub
rauschten und sein Blick unruhig den Himmel suchte zwischen den
entblätterten Wipfeln der Kastanien, und wußte im Hintergrunde seines
Bewußtseins ganz wohl, welche Antwort er von seinen Gedanken erwartete,
welches Spiegelbild er zu sehen wünschte. »Den jungen Forster« etwa, wie
einst, als diese Formel eine Vorstellung von Tapferkeit, Geist und Gunst
der Götter ausdrückte, »den Pionier der Kultur«, gewiß! und den
»Bannerträger der Aufklärung in die Nacht der Barbarei«. Indessen kam
nur eine Antwort mit der Aufdringlichkeit eines repetierenden Uhrwerkes
und seine eigene Einsicht ließ nicht ab, ihm zu versichern, er sei
Theresens Gatte und Herrn Meyers Freund und Bruder.

»Zu viel der Ehren«, höhnte er sich selber und riß den Mantel am Halse
auf, denn er fühlte seine Stirne feucht werden in der dampfenden Schwüle
des warmen Oktobernachmittages. Er nahm den Hut vom Kopf und gesenkten
Hauptes schritt er weiter. Es war die quälende Spannung, in der ihn die
Erwartung einer Nachricht aus St. Petersburg hielt, einer Nachricht über
die endlich erfolgte Ausreise des Kapitäns Mulowsky, die zugleich das
Signal für seine und Sömmerrings Abreise nach London sein sollte, --
diese quälende Spannung war es, an der sich seine Gedanken stauten. Nun
war Therese mit dem Kinde untergebracht in der hübschen kleinen Wohnung
bei Pastor Wagemann am Wall, seine Angelegenheiten waren geordnet, seine
Koffer standen gepackt, er konnte jeden Tag aufbrechen. Aber anstatt der
ersehnten Post kam böse Zeitung über böse Zeitung, die Welt summte von
Kriegsgerüchten, England hatte den Krieg an Frankreich deklariert und
hier, in dem sturmgeschützten Göttingen, saß er nun, bebend vor
Ungeduld, und fühlte ohnmächtig die Verwicklungen europäischer
Interessen, die alle Fürstenpläne wissenschaftlicher Art im Keime
erdrosseln mußten. Wie, wenn Frankreich Anschluß an Rußland suchte, --
wenn Katharina diesen Augenblick zur Überrumpelung der Pforte geeignet
finden sollte? Nein, er selbst war wohl nicht mehr als ein gelegentlich
nicht ohne Glück radotierender Kannegießer, aber hatte nicht ein Mann
von politischem Weltblick wie Schlözer gestern bedenklich geäußert, es
sei augenblicklich die unglaublichste Konjunktur ^in politicis^, die je
gewesen, Frankreich sei ganz von beiden Kaiserhöfen gewonnen, England
aber habe vernehmlich ausgerufen, es würde nie zugeben, daß die Türken
aus Europa vertrieben würden? Was würde dies alles ihn kümmern, wenn er
nicht gewußt hätte, daß Katharina in Pallas mehr die Kriegsgöttin als
die Beschirmerin der Wissenschaft ehrte, daß -- nun kurz und übel, --
sie einen wissenschaftlichen Plan mit Achselzucken aufgeben würde, wenn
die Mittel dafür einem militärischen zugute kommen konnten! Hier saß er
also, mußte sich einen guten Forster heißen lassen und hätte am liebsten
jedem den Rücken gekehrt, der ihn fragte: »Nun und wann brechen Sie auf,
wann reisen Sie, mein Bester?« Der Betrachtungen anstellte über sein,
des guten Forster, und über Theresens Los ... Da hatte er nun um die
Vermittlung Zimmermanns in Hannover nachgesucht, des Leibmedikus und
ständigen Korrespondenten Katharinas, aber dieser Don Pomposo, wie ihn
Lichtenberg nannte, regte sich nicht und rührte keine Feder. Ob er
einmal nach Hannover fuhr? Wenn ihn doch niemand mehr fragen wollte, --
wenn doch diese aufgeregten Briefe von Sömmerring ausbleiben möchten!
Eine Arbeit, jawohl, das wäre Rettung! Kollegien belegen, Anatomie und
Chemie treiben, jeder Minute abgewinnen, was sie nur bieten konnte! Doch
hier lief er auf den Wällen von Göttingen spazieren, hier lief er, weil
er es zu Hause nicht aushielt, weil da etwas Unsichtbares in der Luft
lag, eine beständige Frage, eine Enttäuschung, ein Warten, -- das
Warten, daß er doch gehen möge, wenn nicht in die Südsee, so doch
wenigstens auf die Wälle! War es nicht so? Oh, Therese sprach es nicht
aus, sie sprach es natürlich nicht aus, im Gegenteil ... Aber war die
einsame Wandrerin, die ihm dort entgegenkam, nicht die Doktorin Böhmer?
Und während er vor der im raschen Gange Stockenden stehenblieb und sich
verneigte, nicht wissend, daß die bitteren Gedanken der letzten halben
Stunde sein Gesicht noch verzogen, erinnerte er sich, gestern empfunden
zu haben, Karoline habe die sanften warmen Hände einer Schwester oder
einer Mutter, erinnerte sich eines irrenden Wunsches, diese Hände auf
seiner Stirn zu fühlen. Karoline lächelte an ihm vorbei: »So einsam,
Freund, -- und ohne ein Ziel? Oh, ich sah Sie von weitem kommen und Sie
gingen nicht wie einer, der ein Ziel, kaum wie einer, der einen
Ausgangspunkt hat.«

»Ich verstehe nicht ganz ...«

»Oh, grübeln Sie nicht, es ist Spielerei mit Worten. Sehen Sie, ich habe
einen Ausgangspunkt und ich habe ein Ziel, und mein Weg beschreibt den
Kreis der Schlange, die sich in den Schwanz beißt: ich komme aus
Klausthal und ich gehe wieder nach Klausthal. Sie aber, -- Sie kommen
aus der weiten Welt und gehen wieder -- hinaus ...«

»Habe ich nicht auch mein Klausthal?« fragte er, sonderbare Unruhe im
Herzen. Er hatte gewendet und schritt an ihrer Seite, langsamer nun, den
Weg zurück, den er gekommen war. Sie ließ den Blick seitwärts gleiten.

»Oh, nennen wir es Klausthal, gut! Klausthal,« sagte sie mit
unerklärlichem Lächeln, »Klausthal ist ein Ort von großen Meriten, denn
er betrachtet mich als sein Zentrum, sein schlagendes Herz. Klausthal,
verstehen Sie, -- mein Klausthal, -- kann nicht leben ohne mich, und das
ist's, was mich an -- Klausthal fesselt. Etwas, wie die
Verantwortlichkeit eines Fürsten für ein ihm ergebenes Land. Nein,
lieber Freund, -- ich glaube, -- ein Klausthal haben Sie nicht.«

George hörte und dachte: »Sanfte Stimme« und »Oh, wie die gelben Blätter
auf dem schwarzen Wasser schwimmen!« Aber er antwortete nichts.

»Der Ort, der Ihnen Klausthal sein könnte oder den Sie dafür halten ...
Verzeihen Sie mir, ich liebe es, ein wenig zu phantasieren und bin kein
gelehrtes Frauenzimmer wie Dortchen Schlözer«, unterbrach sie sich
heiter und sah mit lachenden Augen auf in seine kummervoll forschenden.
»Nun, ich habe etwas von den Ideen des Herrn Kant über die Entstehung
des Kosmos gehört und es hat mich amüsiert. Also Ihr Klausthal ist kein
Granitfelsenort wie meins, sondern ein feuriger Stern, feurig und
flüssig, noch nicht recht bewohnbar, ist's nicht so? Ein Ort voller
Eruptionen und Lavaströmen, -- für einen Naturforscher recht
interessant.«

»Oh, Karoline, dies war malitiös!«

»Lieber, Verehrter! Ich bin erschrocken. Es war nicht böse gemeint.
Forster! Eines Tages taucht ein Eiland aus den dampfenden Wassern, --
sanfte Matten ...«

»Pisangwälder, ich weiß ...«

»Apfelbäume, Blumen, heimische Wälder, oh, nichts Exotisches, Freund!«
plauderte sie eifrig, als erzählte sie einem Kinde von Weihnachten.

»Ein Haus?« fragte er bittend.

»Ein Haus zwischen Hecken, es gehört dem Forster allein!« tröstete sie
strahlend.

»Ein Klausthal!« murmelte er.

»Klausthal!« bestätigte sie zögernd und ihre Augen gingen blicklos in
die Ferne. Und plötzlich fragte er wie erwachend:

»Karoline, -- sind Sie glücklich in -- Klausthal?«

»Wie anders?« sagte sie ruhig und unter der Tür ihres elterlichen Hauses
reichte sie ihm lächelnd die Hand, »Forster, gibt es nicht für uns eine
Verpflichtung zum Glück?« -- -- --

Wohl, sie hatte ihm noch Abschiedsworte gesagt und dies, daß sie
einander wiedersehen würden, in Jahren, alte und weise Leute geworden,
wie es sich von selbst verstand. Was ihn aber bewegte, ihm, -- oh,
endlich, endlich einmal wieder! -- den federnden Schwung der Gedanken
gab, es war dies Wort von der Verpflichtung zum Glück. Er, ein Mensch
ohne die Fähigkeit, eine Melodie annähernd richtig wiederzugeben,
verdankte dennoch der Musik gelegentlich ähnliche Wirkungen, wie sie ihm
jetzt durch dieses Wort geschehen waren: nach der Versenkung, ja nach
dem schwelgenden Untertauchen in die Wehmut der Erinnerung an erlittene
Unbill, das Aufströmen schmerzlichen Trostes, des Lebenwollens,
_trotzalledem_. Oh, und welche Aufforderung zur ritterlichen Askese,
welch herausfordernder Widerspruch zwischen Zustand und Gebärde lag in
diesem Ausdruck, den die Freundin ihm spielend hingerollt hatte, wie
einen Ball! Nun, -- und sie selbst? Wie kam sie, die ewig Heitere, zu
solchen Erkenntnissen? Aber danach fragte er jetzt nicht viel in seinem
soldatischen Rausch der Leidens- und Sterbensbereitschaft unter blanker
Montur und bei erklingendem Marsch. Ach, George, der kleine Knabe von
dazumal, der das Spiel nie gekannt hatte und einen so sonderbaren
Aufwand mit den Werkzeugen seiner Fronarbeit am Schreibtisch trieb, aus
dem verzweifelten Hunger seiner Phantasie nach buntem Symbol heraus, --
George, der Mann, er brauchte das tönende Wort. George stürmte vorwärts
durch die engen dämmrigen Gassen, in denen Kinder lärmten und Frauen
schwatzend vor den Haustüren standen, George fühlte dies, daß das
Bewußtsein des eigenen Wertes allein zum Glück, zur Verachtung der
äußeren Umstände, zur Haltung verpflichte, und in diesem Gefühl schon
meinte er zu besitzen, was er wünschte.

Warum aber erlahmte sein Schritt, je näher er seiner Wohnung kam, warum
stieg er die Treppe so zögernd, warum verharrte er auf dem letzten
Absatz, den goldlackierten Knauf des Geländers mit der Hand umklammernd,
und sagte sich: »das Röschen freut sich, wenn ich komme, -- das Röschen
wird sich freuen ...« --

                   *       *       *       *       *

Sollte sie bis zu seiner Abreise warten, um sich in der Göttinger
Gesellschaft einzuleben? Nun, war es nicht etwa freundlicher, er
begleitete sie in die Häuser der Freunde und pflanzte sich Keime der
Erinnerung an den verschiedenen Teetischen, damit sie erblühen und
duften konnten, wenn er erst fort war? Sollten die Fakultäten und ihre
Damen annehmen, er sei ein Tyrann und verlangte, sie sollte in der
Heimat freiwillig das geistige Hungerleben von Wilna fortsetzen? Gewiß,
das war seine Absicht doch nicht! Liebte er seine Therese? Hier wurde:
Georgie! geflüstert mit einem gewissen Lächeln, das lockte und verhieß,
und das ihn wehrlos machte, er wußte es wohl. Er glaubte diesem Lächeln.
Er hatte Grund, ihm zu glauben, -- aber warum war er denn nicht selig
unter diesem lauen Sturmwind des Gefühls, der so jäh und stoßweise aus
Therese aufgebrochen war und sein Blut fächelte? War es der nahende
Abschied, der ihr Herz endlich in Wallungen brachte? Oh, aber dieser
Abschied zog sich hin, kein Mensch konnte auch jetzt, zu Ende November,
sagen, ob bis Weihnachten, bis zum Frühling oder bis übers Jahr.
Katharina hatte den Türken den Krieg erklärt, dies war im Grunde so gut,
wie die Gewißheit, daß dem wackern Mulowsky samt seinen fünf Schiffen
eine andere Verwendung blühen würde, als jene Entdeckungsfahrt. Indessen
blieben bestimmende Nachrichten aus St. Petersburg immer noch aus, und
obwohl George in seiner verzweifelten Ungeduld bereits begonnen hatte,
mit dem jungen Eluyar Verhandlungen über ein neues Projekt anzuknüpfen
und sein Geist genußreich mit der Ausarbeitung der Forderungen
beschäftigt war, die er im Falle des Gelingens der spanischen Regierung
zu unterbreiten gedachte, so hing sein Herz doch immer noch mit
schmerzlicher Hoffnung an dem Auftrag der Kaiserin, dessen Erfüllung ihm
seines Rufes würdiger schien, als die Annahme einer höheren
Beamtenstelle unter spanischem Regiment. Denn darum handelte es sich. Er
sollte mit Weib und Kind als sachverständiger Erforscher der
Bodenschätze nach den Philippinen gehen. Da er aber nun zu wissen
glaubte, was er wert war und welcher Summen eine Regierung fähig war,
die ihren Kopf auf einen bestimmten Mann gesetzt hatte, -- oh, ihn
konnte niemand mehr übervorteilen! -- so forderte er so raffiniert und
phantastisch, daß der junge Eluyar erschrocken zurückwich und dieser
schöne Plan sich sogleich als totgeboren erwies. Abschied und Trennung
also lagen im Nebel vor ihm, in ungewisser Entfernung, ja,
möglicherweise barg dieser Nebel nichts, als ein Zusammenleben unter
veränderten Umständen. Warum aber dann dieser Aufwand des Gefühls bei
Therese? dachte George, ungläubig und mißtrauisch, reizbar geworden in
der kaum noch erträglichen Erwartung einer Entscheidung. Warum dieser
Singsang vom Morgen bis zum Abend wie in der ersten Wilnaer Zeit, diese
heitere Geschäftigkeit um ihn her, da er nicht mehr gewöhnt war, daß
nach seinen besonderen Wünschen gefragt wurde, -- warum dieser
angelegentliche Drang, sich mit ihm in Gesellschaft zu zeigen und,
womöglich an seiner Seite sitzend, seine Hand festhaltend -- mit --
Meyer zu konversieren, der sich zu ihnen gesellte, ruhig, wie durch ein
Naturgesetz bestimmt? Er fühlte das wohlbekannte erregte Beben dieser
manchmal so hilflosen kleinen Hand, fühlte, wie die Pulse in ihr zuckten
und tanzten, blickte ratlos auf, sah Meyers undurchdringliche Augen auf
sich gerichtet, -- auf sich und nicht etwa auf Therese, -- und senkte
den Kopf in ratloser Bestürzung, in quälender Beschämung für sie, die da
zwischen ihnen plauderte und lachte und nun nach Meyers herabhängender
Linken griff als würde ihre Hand magnetisch hingerissen. »Die Kette ist
gebildet«, dachte George dumpf. Spürte sie denn nichts von den Strömen,
die nun durch ihre Hände aufstiegen, hielt ihr Herz es aus, daß in ihm
Haß gegen Haß zuckte? -- Oh, aber da war kein Haß, wußte George, wieder
zu Meyer aufblickend und erkennend: da war Mitleid, und ein sehr kühles
Mitleid, und nur in ihm selber war dieses böse drohende Gefühl, das ihn
jetzt hastig aufstehen ließ und Therese veranlassen, ihm zu folgen.

So war es an dem Abend bei Professor Michaelis gewesen, in dem Hause,
das ihm lieb war durch irgendeine unbewußte Erinnerung an die ferne
Karoline. »Du bist böse, Georgie?« hatte Therese in der Dunkelheit des
Heimwegs zaghaft gefragt, -- woher kam ihr dies auf einmal, diese
Zaghaftigkeit, ihr, die nie gezögert hatte ihn zu verletzen, weil eben
sie es bisher noch nie für möglich gehalten hatte, daß ein Wort von ihr
ihn verletzen _könnte_, so sicher war sie immer ihres guten Willens
gewesen? »Therese,« sagte George gequält, »es ist dies, daß du dich
auffallend viel mit Meyer abgibst. Kennst du denn nicht die Göttinger
Klatschmäuler? Es ist nicht meinetwegen, bei Gott, -- ich weiß ja, ich
bin ja sicher ...« log er und dachte dabei: »Therese ist ein Kind,
Therese wußte nicht, aber jetzt ahnt sie, wie es um sie steht, und wenn
sie völlig zu sich kommt, was soll dann aus uns werden?«

Und wie um es zu verhindern, daß sie sich rechtfertigte, in tödlicher
Angst vor Auseinandersetzungen, sagte er heftig:

»Ich bin um deinen Ruf besorgt, meine Teure, du verspielst mit ihm auch
den meinen. Und es ist meine Pflicht, dich zu warnen.«

Die Stimme aus dem Dunkel neben ihm kam warm und süß, -- so wie
Theresens Gesicht und ihr Körper in diesen letzten Monaten erblüht waren
wie Rosenduft im Juni, warm und süß: »Du selbst hast ihm und mir das Du
vorgeschlagen und den geschwisterlichen Kuß erlaubt, Georgie, damals, an
unserem Hochzeitsabend, erinnere dich. Und, oh, Georgie, -- er ist mir
wie ein Bruder und nennt mich seine Schwester, -- und du ludest ihn ein,
zu kommen, so oft er wollte, zum Essen täglich, und mir vorzulesen. Wo
ist denn da das Böse, Georgie, -- wo?«

Er schwieg, denn er erstickte den Schrei, der in ihm aufstieg. Therese,
wußte er zerbrochen, hat noch nie geliebt bis jetzt. Und Therese ist
dennoch mein Weib geworden, -- und ich liebe sie. -- --

                   *       *       *       *       *

Mulowsky schrieb so voll höflichen Bedauerns, Biedermann, der er war,
und beteuerte am Schluß seines Briefes den Gewinn, den er trotz des
Fehlschlagens dieser schönen Pläne durch die Bekanntschaft mit dem
Begleiter und Freunde Cooks gehabt habe. George würde einen ähnlichen
Brief in gefaßtem Tone zurückschreiben, er entwarf ihn in Gedanken, als
er in der Dunkelheit des Dezemberabends den Weg nach Hause suchte, von
Heyne kommend, dem er das endgültige Scheitern seiner großen Aussichten
nun doch hatte mitteilen müssen, ehe dieser böse Tag ganz zu Ende ging.
Er entwarf den Brief, fieberhaft bemüht, seinen Geist zu beschäftigen
und nicht in der fürchterlichen Leere der Zukunft zerflattern zu lassen
und einer Versuchung zur Empörung zu erliegen, auf die, er wußte es
wohl, er kein Recht hatte, denn: wem wollte er denn diese Vorwürfe
machen, die aus ihm quollen wie schwarze Galle, wem die wahnsinnige
Verzweiflung seines Herzens vor die Füße werfen, daß dies nun wieder
nichts sei, daß man ihn wieder genarrt habe, -- der Kaiserin Katharina
etwa? Er war doch kein Kind, das den Stuhl schlug, an dem es sich
gestoßen hatte, -- aber, oh, mein Gott, wer, wer hatte denn Schuld, daß
er immer und immer auf Sandbänke fuhr, wenn er die Segel spannte? Denn
dies war nicht mehr begreiflich ohne Schuld, dies war Verhängnis,
Strafe, Gericht! Gott versagte sich ihm, Gott schwieg und setzte allen
seinen Hoffnungen, -- unschuldigen Hoffnungen gewiß, aus dem Willen zur
Arbeit, zum Wirken, zur großen Tat geboren, -- ein stummes hartes Nein
entgegen, wie eine Mauer, an der er hin und her irrte, schreiend ein Tor
in die Gnade begehrend. Ich habe, dachte er mit bitterer
Unbarmherzigkeit gegen sich selbst, die Stimme überschrien, als sie
leise zu mir zu sprechen begann, damals in Wilna, als ich in demütiger
Handlangerarbeit anfing, mich glücklich zu fühlen. Denn dies ist's, was
er mir zugewiesen hat, Knechtschaft, und nicht Freiheit, leiden und
nicht herrschen. Und wer mich anders sieht, der ist mein Feind! rief er
halblaut, die geballte Faust gegen die Stirne pressend. Es gab keinen
Menschen, der ihn so geliebt hatte, wie er wirklich war, -- außer
vielleicht der Mutter. Ach, die Mutter! Er ging nun ganz langsam, ganz
gelöst, hingegeben an die Erinnerung der einzigen, still atmenden Liebe,
die um ihn gewesen war, wie Frühlingssonne um den Baum. »Du wolltest
nichts von mir,« murmelte er, »_du wolltest nichts, als geben dürfen_
...« Und wäre dies nicht Glück? fragte er plötzlich, das Antlitz
lauschend erhebend, als habe er von irgendwoher Anruf und Botschaft
empfangen, -- wäre -- dies -- vielleicht -- _das_ Glück? -- --

Ob er das Röschen nicht mit hinauf nehmen wollte, hörte er die Stimme
der Pastorin Wagemann in die sonderbare Stille seines Herzens hinein
fragen, kam zu sich und erkannte, daß er schon im Treppenflur des Hauses
stand, auf dem Absatz vor der geöffneten Türe der Wagemannschen Küche,
aus der heraus es festlich und schmalzkuchenhaft duftete. Die ganze
Familie, um den riesigen Backsteinherd versammelt, schien sich dem
Opferdienst der Zubereitung eines Silvestergebäcks zu weihen, selbst der
Pastor stand da in Schlafrock und Pantoffeln und auf jedem Arm ein Kind,
von denen eins das Röschen war und schlief, den kleinen Kopf vertrauend
auf die Schulter des freundlichen Würdenträgers gelegt. Oh, die
Demoiselle Tochter sei von der Liese heruntergebracht worden, die noch
einen Gang machen zu müssen vorgegeben hatte, und die Frau Geheimrätin
habe ja Besuch, kam die Erklärung der Pastorin, in der George irgend
etwas störte. Er machte sich klar, daß es dies unnötig eingeschobene
»ja« sei, -- die Frau Geheimrätin habe ja Besuch ... Aber was lag denn
nur in diesem unschuldigen Wörtchen, fragte er sich in der Erschöpfung
seines Gehirns vergeblich, indem er, Dankesworte murmelnd, dem Pastor
das Röschen abnahm und sich auf einem hölzernen Stuhl niederließ. »Oh,
hier ist es warm,« sagte er und blickte um sich, »und so wie zuhause,
wissen Sie, als ich ein Knabe war.«

»Ich denke an Nassenhuben, wo mein Vater Pfarrer war«, erklärte er,
bemüht, unausgesprochene Fragen zu beantworten, -- wenn man ihn doch nur
ein wenig verweilen lassen wollte, ein wenig Zeit gewinnen! Jener Besuch
dort oben mußte doch gewiß jetzt gehen und dann brauchte man ihm nicht
zu begegnen! -- »Dort war die Küche auch so groß und niedrig und um den
Rauchfang herum hingen die kupfernen Pfannen. Auch so ein Dreifuß stand
manchmal über den Kohlen und der Schmalztiegel drauf«, sagte er zu dem
ältesten Knaben, der an ihn herangetreten war und ihm ernsthaft zuhörte.
»Nun, du bist schon groß und verständig, du mußt dem Herrn Papa wohl
schon gehörig assistieren? Exzerptieren, katalogisieren, Manuskriptlein
kopieren, -- haha, jaja, ich kenne es, mein Sohn, wir kennen es!«

Seine Hand, die er hob, um den blonden Kopf zu streicheln, griff ins
Leere. Der Knabe war einen Schritt zurückgewichen.

»Ich spiele lieber,« erklärte er, mit großen Augen auf den Fremden
blickend. »Der Vater hat mir einen hölzernen Degen gemacht und lehrt
mich exerzieren.«

»Der Vater gedenkt selbsten gern der entschwundenen Kindheit,« redete
der Prediger verlegen und rieb die Hände ineinander, »wer ein Paradies
besessen hat, wünscht es seinen Kindern auch zu schaffen, wie der Herr
Geheimerat es unschwer verstehen werden.«

»Freilich, -- freilich wohl,« murmelte George und sah in Röschens
schlummerndes Gesicht.

»Der Herr Geheimerat sollte in dein Kabinett eintreten, Friedrich, du
solltest mit ihm hineingehen. Er sitzt hier so hart und die Kohlen
rauchen und die Lampe riecht so schlecht. Und ich und mein Schmalztopf,
-- lieber Himmel, der Herr Geheimerat ist bessere Gesellschaft gewöhnt.
Es könnte eins von den Kindern hinaufgehen, es melden, wegen dem Röschen
und daß es ins Bett muß. Die Frau Geheimerätin hat ja Besuch ...«

»Ich muß hinauf!« George erhob sich hastig. Was hatte er hier unter
Fremden Zuflucht gesucht? Und warum Zuflucht? Und warum ging er jetzt
die Treppe so zaudernd, und doch so leise, als beschleiche er ein Wild?
Und warum wankten seine Knie? Hatte Therese ihn nicht geküßt, als er
ging? Und was -- was hatte sie doch gesagt:

»Du bleibst zum Abendbrot bei den Eltern, George?«

Therese -- erwartete ihn noch nicht zurück. --

                   *       *       *       *       *

Meyer hatte, den Pelz überwerfend, den Hut in der Hand das Zimmer
verlassen, in steif aufgerichteter Haltung, mit seinem starren Blick auf
ihn zutretend und sich sonderbar tief vor ihm verneigend, der
regungslos, das schlafende Kind in den Armen, unter der Tür stehen
geblieben war.

Therese, in dem erbarmungslosen Lichtkreis der beiden Armleuchter auf
dem Kanapee sitzend, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und duckte
sich zusammen, als könnte sie so den Zustand ihrer aufgelösten Frisur,
den ganzen Zustand dieser selbstvergessenen Stunde verbergen.

Er war mit dem Röschen ins Nebenzimmer gegangen und hatte es auf sein
Bettchen gelegt, in seinem wahnsinnig triumphierenden Schmerzgefühl, daß
er recht gehabt, ja, daß er dies erwartet und gewußt habe, doch noch
eine peinigende Beschämung für sie empfindend und den Wunsch, ihr Zeit
zu lassen. Er hatte gemeint, entsetzlich ruhig zu sein. Er war zu ihr
zurückgekehrt, die nun mit angstvollen Augen zu ihm aufblickte, hatte
gesagt: »Es ist nun genug. Ihr könnt euch haben. Ich fahre morgen mit
dem Postwagen nach Berlin. Du wirst dann von mir hören.«

»Oh, Georgie, -- oh! Ich weiß nicht, was du willst! Verzeih mir doch!«

»Du hast die Ehe gebrochen vom ersten Tage an!«

»Ich weiß nicht, was du willst!«

»Ich, -- o mein Gott! Ich war ein Narr, ein blinder Narr, weil ich
vertraute.«

»Es ist Freundschaft allein!« --

Er war um den Tisch herumgekommen, hatte sein Gesicht dem ihren genähert
und, ein Lächeln zeigend, das er noch fühlte wie ein tierisches
Entblößen der Zähne, hatte er in ihre entsetzten Augen hineingefragt:

»Und -- war's also auch -- Freundschaft allein, daß du mir das Röschen
geboren hast?«

»George!« hatte sie aufgeschrien, »jetzt vergißt du dich!«

»Wer hat sich wohl vergessen, -- wer? Und geh du nur zu deinem Vater und
klage mich an! Ich werde ihm schreiben!« --

                   *       *       *       *       *

Ich werde ihm schreiben, dachte er, während er Stunden um Stunden in der
Ecke des Postwagens hockte, die Füße auf dem treuen Mantelsack, in
Decken und Pelze gehüllt, ein einsamer unseliger Reisender durch den
ringsum starrenden Winter. Ich werde ihm aufzählen, was ich erduldet
habe, dachte er, heimgesucht und übermocht von all den Stunden
furchtbarer Ahnungen und Einsichten aus den letzten zwei Jahren, deren
Leiden er schweigend in sich abgetan und die er so gern verleugnet
hätte. Ach, immer noch. Denn da war diese irrsinnige Sehnsucht, jetzt,
gerade jetzt, Therese in seinen Armen zu halten und im Gefühl ihrer Nähe
zu erblinden im Überschwang der Zärtlichkeit, da war eine Bereitschaft,
zu verzeihen und zu vergessen, ja, die Schuld auf sich zu nehmen, gegen
die sein wunder Stolz vergeblich stritt, -- wenn nur ihre kleinen Hände
sich um seinen Nacken klammern wollten, und er sie hilflos werden wußte
vor ihm. Da war die weinende Erkenntnis, vorwärts zu müssen, immer noch,
die Gänge wurden enger und gewundener, ihre Wände dünner und die Stimme
des Minotauros wirbelte schwirrend und dröhnend, betäubend und
unwiderstehlich, griff sausend nach seinem Herzen, lockte, sog,
ungeheure Leere war in seinem Gehirn. »Ich bin ein nackter Mensch, -- o
nur ein nackter Mensch,« dachte er, dachte es ohne Grauen, voll der
Wollust des Versinkens. »Und Ariadne?« lächelte er stier, -- »sie kam,
aber ihre Hand glitt aus meiner. Ich finde hinein, -- sie findet hinaus,
-- sie findet hinaus ...«

Die Räder der Diligence nahmen das Lied auf.

                   *       *       *       *       *

Zwei Monate später fand er sich auf derselben Wegstrecke, Göttingen
wieder zugewandt. Gewaltsam hatte er seine Gedanken in diesen letzten
Stunden vor der Ankunft mit den Ergebnissen des Berliner Aufenthaltes
beschäftigt, hatte Unterhaltungen von Wert und Inhalt, wie sie sein
Gedächtnis aufbewahrt hatte, memoriert und Betrachtungen daran geknüpft,
hatte sich mit Biester und Nikolai in dem Handel gegen Starcke einig
gewußt und in der Erinnerung an seine Besprechungen mit Spener alle
guten Kräfte in sich lebendig werden gefühlt. Fuhr er nicht selbst nach
den Philippinen, o, so würde er sich ungleich müheloser in diese Breiten
versetzen, indem er für Spener die Geschichte vom Schiffbruch einiger
Engländer auf den Pelews-Inseln, erzählt von Mr. Keates, ins Deutsche
übertrug. Aber nicht etwa, daß er ausschließlich zu übersetzen gedachte!
Da waren botanische Kuriosa, die auf seine Feder warteten, um liebevoll
und sauber beschrieben zu werden; da war, in undeutlichen Umrissen zwar
noch, aber doch schon monumental am Horizont sich aufbauend, das Werk
über die Geographie der Südsee, über alles Denkwürdige, was zwischen
China und Peru zu finden war, das er der Welt schuldete. Dies alles
hatte er vor und noch viel mehr. Ein freier Mann nunmehr, da die
Kaiserin in großmütiger Weise trotz ihres Verzichtes auf seine Dienste
ihn aus seinen polnischen Verpflichtungen gelöst und ihn für seine
Wartezeit entschädigt hatte, -- eine Anstellung in St. Petersburg, die
ihm angeboten worden war, hatte er abgelehnt --, ein Mann, dem keine
Kette mehr am Fuß klirrte, hatte er seine Zukunft in der Hand und nie
wieder würde er sich an die Galeere schmieden lassen. Die Stelle des
Universitätsbibliothekars in Mainz war durch Müllers Aufstieg in das
Ministerium des Kurfürsten soeben frei geworden, Sömmerring hatte ihn
sogleich davon benachrichtigt, Müller begünstigte ihn. Er gedachte sich
zu bewerben, gedachte im nächsten Monat nach Mainz zu reisen, um sich
dem Kurfürsten vorzustellen, gedachte ...

Ich will es ihr leicht machen, durchbrachen seine Gefühle hier endlich
die mühsam aufgeworfenen Dämme der nüchternen Überlegung, will sie in
meine Arme nehmen, will zu ihr sagen: Es ist alles gut, mein Liebling,
weine nicht, nichts soll uns wieder trennen.

Allein im Wagen, wie er auch diesmal wieder war, drückte er den Kopf in
die Fensterecke und überließ sich seinen Gefühlen.

Dies also war das Ergebnis eines mit tödlich bittrem Pathos geführten
Briefwechsels zwischen ihm und dem Schwiegervater und schließlich auch
zwischen ihm und Therese. Nicht nur, daß er zurückkehrte zur Versöhnung
bereit, bereit, selbst Meyern zu vergeben, wenn dieser nur zunächst
seinen Weg nicht kreuzen wollte, -- hier saß er wiederum wie auf der
Hinreise, gebrochen, nach Versöhnung seufzend, lechzend nach der Wonne,
vergeben zu dürfen. Hier saß er, tränenüberströmt, sein Herz taute wie
draußen die Erde, hier saß er, dem Augenblick entgegenbebend, da er sie
wieder sehen, hören und fühlen würde ...

In den Göttinger Gärten blühten die Veilchen. Er ahnte es, er atmete den
Duft, er ging an der Mauer entlang, über die das Gartenhäuschen sein
spitzes, mit dem Pinienapfel gekröntes Dach hob, ging und dachte,
dachte: Ach, noch ein paar Schritte ...

Sie sollten sich im Hause der Eltern wiedersehen. Nun kam die
Gartenpforte, der Pfad zwischen den Buchseinfassungen der Beete, die
Glasveranda, -- ach, der Klingelzug ...

»Meine geliebten Kinder!« sagte der alte Heyne und erhob segnende Hände,
»meine geliebten Kinder!« O, würde er denn nicht hinausgehen? Er ging
hinaus, im langen grünen Hausrock, ein wenig schwankend vor innerer
Bewegung, und nun, -- wo war Therese? Er hatte sie wohl beim Eintritt
gesehen, ihre schlanke kleine Silhouette mit dem ein wenig zu großen
Kopf gegen das helle Fenster gelehnt, jetzt erst kam sie auf ihn zu, und
er erkannte, sie trug das Kleid aus tabakfarbenem Kaschmir, mit den
weißen Säumchen, das er nicht sehr liebte, eine gestickte Schürze und
ein Falbelhäubchen auf den ^à la hérisson^ frisierten Haaren.

Dies alles nahm er seltsam deutlich wahr und bemerkte selbst, daß die
Ärmel dieses, -- von ihm also nicht sehr geliebten, -- Kleides nach der
neusten Mode enger gemacht und verlängert worden waren, sah, daß ihre
Gesichtsfarbe auffallend frisch, ihre Lippen sehr glänzend rot waren,
daß da, indem sie mit einem unbegreiflichen schwebenden Tänzeln auf ihn
zukam, ein Zug von süßlichem Leiden, von irgend einem unaufrichtigen
Märtyrertum in ihrem Gesicht war, so stark, daß der Blick ihrer Augen
ein wenig verschoß, wie das dem Blick ihres Vaters angeboren war, -- sah
dies alles mit einem Zurückbeben des Herzens, ahnte über sich schwebend
den kommenden Schlag, machte eine Bewegung, ihrer Umarmung auszuweichen,
ihr zuvorzukommen, erkannte, es sei zu spät, ergab sich und empfing die
Worte: »Ich habe dir verziehen, George!« schweigend, auf ihre Hände
gebeugt, einer Versuchung, auf seine Knie zu fallen, mühsam
widerstehend. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Er hatte sich, so meinte er, bei der Einrichtung dieser seiner beiden
Arbeitsräume in der neuen Wohnung zu _Mainz_ -- einem weitläufigen Hause
in der Klarengasse, nahe der Großen Bleiche und dem provisorischen
Bibliotheksgebäude, der alten Bursche, -- recht eigentlich von dem
Grundsatz bestimmen lassen, daß der äußere Mensch ein Symbolum, ein
Ausdruck und ein Abbild des inneren sein sollte oder doch wenigstens von
dem Idealzustand dieses Unsichtbaren. Kleidete er sich in diesem Sinne
mit peinlicher Gewissenhaftigkeit tadellos bis ins kleinste und
unterschied zwischen Haus- und Arbeitsrock, zwischen Besuchs- und
Straßenanzug, als sei er durch irgendwelche ihm allein bekannte
Dienstordnung an ein strenges Reglement in diesen Dingen gebunden, so
wollte er auch hier unter den zur Arbeit nötigen Gegenständen die
Ausstrahlungen eines Geistes wirksam sehen, der so klar und exakt tätig
war wie ein segensreiches Gestirn. Er lächelte. Er ging mit gleitenden
Schritten zwischen den beiden Stuben hin und her und sah sich
um. Die tahitianischen Rindenmatten an den Wänden in allen
Abstufungen von Weißgelb bis zu Braunschwarz mit ihrer seltsam
geometrisch-phantastischen Ornamentik taten ihm wohl. Die Kästen mit den
Mineralien, den Konchylien, den Insekten standen rechtwinklig
aufeinander getürmt mit Inhaltsvermerken versehen da. Übersichtlich
geordnet lagen in ihren neuen Gestellen, die der Meister Hefele so
überaus sauber angefertigt hatte, die Mappen mit den Herbarien, den
Kartenwerken. Und während George vor seinem besten Schatz, dem großen
Kartenwerk von Dalrymple, ein wenig verweilte, erkannte er plötzlich und
wandte sich wiederum lächelnd aus der Tiefe des Raumes den Fenstern zu:
O, nun wußte er, warum hier alles stand, wie es stand, warum dort der
lange Tisch vor die drei Fenster gerückt diese Einteilung trug, die
eines Schreibplatzes in der Mitte, eines Ortes für die Zeichengeräte,
für Winkel und Zirkel, für Stifte und Farbnäpfchen zur Rechten, für das
Mikroskop zur Linken ... O, er wußte ganz gut, wen er selbst sich hier
vorspielte, er lächelte darüber, er, der einzige Mitwisser dieses nicht
ungeschickten Darstellers der Rolle eines großen Menschen und
ausgezeichneten Gelehrten ...

Gleich darauf wandte er sich ärgerlich von seinen eigenen Gedanken ab
und ging zu dem hölzernen Barometer an der Wand, befragte die
Quecksilbersäule durch Beklopfen und stellte an ihrem ruckweisen Sinken
eine Übereinstimmung mit der Bedeutung der ziehenden Schmerzen in seinem
Fuß fest.

Es wurde Herbst. Es wurde Herbst und noch war es nicht erprobt, wie
seine Gesundheit dem Klima des Rheinlandes standhalten würde. Das
Geräusch der Haustür, die Schritte eines Ankömmlings auf den
Steinfliesen des Flurs, enthoben ihn diesen sorgenvollen Betrachtungen
seines müden Kopfes. Auf einmal stand er nebenan am Pult, über einen
angefangenen Brief an Jakobi gebeugt. Müller, falls denn er es sein
sollte, der ihn aufsuchte, nun endlich aufsuchte, durfte ihn nicht müßig
antreffen. Indes, auch als Eindruck für den jungen Huber, den die Magd
nun zu seiner leisen Enttäuschung anmeldete, war es günstiger, als
werktätiger Forster hier zu stehen, denn als träumender.

»Ich bin enchantiert, mein lieber Freund,« sagte George, dem Gast
entgegengehend und die tintennasse Feder von der Rechten in die Linke
wechseln lassend, um Hände schütteln zu können, »Sie stören mich ganz
und gar nicht, -- Sie erlauben nur, daß ich eine Schlußzeile ...«

»Diese Bücher werden noch anders geordnet,« redete er, eilig schreibend,
Sand streuend, salzend, siegelnd, »ich habe bestimmte Prinzipien der
Anordnung, die ich nun auch amtlich wirksam zur Geltung bringen kann.«

Er trat neben den Besucher, zog ein Buch aus der Reihe und reichte es
ihm. Der junge Huber, schlank, von wenig guter Haltung, schwarz
gekleidet wie ein Abbé, blätterte die Titelseite auf und richtete dann
sein blasses Gesicht mit dem Ausdruck liebenswürdiger Ratlosigkeit auf
Forster.

»Übrigens sind mir einstweilen die Hände völlig gebunden,« fuhr dieser
fort. »So lange die Entscheidung über ein neues Bibliotheksgebäude
höchsten Ortes nicht getroffen ist, lohnt es sich nicht, anzufangen.
Mein Gott, es verkommt alles in Staub, es ist nichts zu übersehen, es
existiert kein Katalog. Müller muß sich wahrhaftig kaum ... Aber lassen
wir das. Er hatte Besseres zu tun. In der Tat, wer hätte das nicht? Was
ich Ihnen da in die Hand gab, mein Teurer,« sagte er und nahm Huber das
Buch nachsichtig wieder ab, »ist eine interessante Reisebeschreibung des
Engländers George Keate, die ich zu übersetzen gedenke. Ich weiß, ich
weiß, Ihre Neigungen gehören der schönen Literatur und mehr den
Franzosen als den Briten.«

»Soll, sprach er, soll mein Albion vergehen ...« murmelte Huber und
strich sich mit der Hand verlegen über die Stirne.

»Sie meinen? Oh, Sie zitieren einmal wieder und vermutlich Ihren Abgott,
diesen Herrn Schiller, von dem ich noch so wenig weiß. Nun, dem werden
Sie abhelfen. Aber, was ich sagen wollte, -- die schöne Literatur samt
einer Tasse Tee finden wir drüben bei meiner Frau. Und außerdem
vermutlich Demoiselle Dieze und den jungen Herrn von Humboldt aus
Berlin, hier durchreisend nach Paris.«

»Ich bin so dankbar,« sagte Huber mit seiner bedeckten Stimme, »so
namenlos dankbar für dies Geschenk der Götter, das Ihr Wohlwollen mir
bedeutet! Mainz war öde für mich, ich fand keinen Anschluß, weder bei
Hofe noch in den gelehrten Kreisen. Ich bin ein Schwärmer ...« Er
lächelte inbrünstig vor sich hin und hob dann die schweren Lider zu
einem schnellen scheuen Blick in Forsters Gesicht. »Gewürdigt des
Umgangs mit einem Körner, einem Schiller, kann ich den seichten
Frivolitäten eines Heinse keinen Geschmack abgewinnen.«

»Und doch liebte ihn Fritz Jakobi!«

»Es wäre unbegreiflich, fänden sich nicht im »Woldemar« Fingerzeige für
gewisse Stationen des Geistes, die Jakobi durchlaufen hat. Er war nicht
immer, der er ist.«

»Nicht immer der tiefgrabende philosophische Kopf, als den ich ihn jetzt
kenne, -- oh, da haben Sie recht. Aber wollen wir nicht hinübergehen?«

»Ach, ein Gespräch zu zweien ist so unendlich viel fruchtbarer!«

»Sie sind wirklich ein Schwärmer! Und garnicht neugierig auf die Dame
des Hauses?«

»Ich werde mich glücklich preisen!« sagte Huber und legte die Rechte
aufs Herz, indem er seine große Gestalt sonderbar in den Schultern
fallen ließ und Forster folgte, wie ein Verurteilter.

                   *       *       *       *       *

Nachdem der neue Gast der Hausfrau und der Demoiselle Dieze vorgestellt
worden war, verneigten sich der Legationssekretär der sächsischen
Botschaft, Herr Huber, und der Doktor beider Rechte und der
Kameralwissenschaften, Herr von Humboldt aus Berlin, auf das artigste
vor einander und gerieten alsbald in ein höfliches Gespräch über den
Wert des Reisens, sonderlich einer Reise nach Frankreich, dem Fiekchen
Dieze mit schief geneigtem Kopf und leicht geöffnetem Munde andächtig
lauschte, während Therese sich an dem sausenden Samowar zu schaffen
machte, um frischen Tee zu bereiten, und George unruhig im Zimmer auf
und nieder wandelte. Da lehnten die Bildnisse der Großeltern Theresens
und sein eigenes, von Tischbein gemaltes, immer noch in einer Ecke an
der Wand. Die Gardinen waren glücklich aufgesteckt, Hammer, Nägel und
Schnüre jedoch lagen noch auf Stühlen und am Fußboden herum. Die
Bücherkiste mit der schönen Literatur stand noch unausgepackt am
Fenster, aber es war darin gekramt worden und die letzten Göttinger
Almanache waren aufgeschlagen auf dem Tisch zwischen den Tassen. Das war
nun einmal Therese, -- er dachte es ergeben und wußte es nicht, daß
seine Blicke zwischen ihr und den jungen Männern, denen sie jetzt mit
ihren hastigen Bewegungen den Tee reichte, hin- und hergingen. Das war
nun einmal Therese und so würde es auch noch morgen, auch noch in acht
Tagen hier aussehen. Denn, nicht wahr, Umzug war Umzug und gab ein Recht
auf Unordnung. Allerdings würden wie von Anfang an in allen Ecken Gläser
und Vasen mit buntem Laub, Herbstastern und Veilchen stehen, »^The
Resolution^«, aufgeklappt und mit beschriebenen Bogen bedeckt, würde von
Tätigkeit und Mitteilungsbedürfnis zeugen, wie die umhergestreuten
Bücher und Journale von Lesehunger, die angefangene Näharbeit dort von
häuslichem Fleiß. Und ganz allmählich und schonend würde die
Umzugsunordnung eben von der gewohnten, alltäglichen überwuchert und
abgelöst werden, in der Therese sich nun einmal ^à son aise^ fühlte, --
nun, er hatte ja seine eigenen Räume. Der junge Humboldt sah übrigens
vorzüglich aus, auffallend viel besser als Huber, auf dessen weichem
Enthusiastengesicht irgend ein Zug von Unfertigkeit oder Kindlichkeit
lag. Dennoch, er fühlte sich zu Huber hingezogen, mehr als zu dem breit
und fest gebauten Jüngling mit dem unerschütterlichen Blick der blauen
Augen und diesem starken runden Kinn. O, er hatte dieser Art von
Physiognomien mißtrauen gelernt, Erinnerung dunstete durch seine
Gedanken wie Krankheit. Er rückte seinen Stuhl nahe an Hubers heran und
legte ihm die Hand auf den Arm. »Ein wahrer ^petit maître^, ein ganzer
Mann von Welt, dieser Herr aus Preußen, nicht wahr?« flüsterte er ihm
kopfnickend, mit leicht verzerrtem Munde zu und besann sich sogleich
unter dem gutwilligen, aber leicht befremdeten Lächeln, dem er
begegnete. Wohin geriet er immer? Er war wahrhaftig krank in seiner
Seele, und nicht mehr imstande, einen Menschen rein zu genießen. Therese
unterhielt sich, Therese unterhielt sich gut, und sollte er nicht froh
sein, sie nach Monaten wieder einmal unbefangen lachen zu hören? Was saß
er denn hier und grübelte darüber nach, daß ihr Lachen nicht mehr so war
wie früher, -- daß da ein neuer Klang, ein pathetischer Ton in ihre Art
zu sprechen gekommen war?

»Finden Sie Theresen verändert?« fragte er Fiekchen halblaut. Hatte sie,
die als Kind, ehe ihr Vater nach Mainz berufen worden war, Theresens
Gespielin, die später als junges Mädchen häufig mit ihr zusammen gewesen
war, dies auch bemerkt, dies, daß da eben nicht Therese saß, nicht
Therese, die heitere, junge, lachende, glückliche, sondern ihr Haupt,
ihr Haar, ihr Antlitz, ihr Körper, ihre Kleider, hinter denen ein
fremder Wille, eine fremde Stimme, ein fremdes Gelächter gespenstisch
agierten? Oh mein Gott, was sollte denn dieser betrübte, ratlos
zustimmende Blick des guten Sophiechens, dies: »Ich kann mir nicht
helfen, -- ja, -- ich finde es auch!« Und George sagte laut, irgendeinem
Schicksal, wie ihn dünkte, frech unter die Augen lachend: »Schöner
geworden, nicht wahr, -- schöner geworden, Mamsell Fiekchen!? Ja, ja,
die Ehe tut Wunder! Die Ehe tut Wunder, guter Freund, und Sie sollten
sich auch bald entschließen zu heiraten,« wandte er sich an Huber, »ich
höre, daß Sie mit der Demoiselle Stock verlobt sind. Ich lernte sie in
Dresden kennen, -- welch ein Mädchen, welche Qualitäten an Kopf und
Herz! Sie sind sehr zu beglückwünschen, wissen Sie das auch?«

Huber, dunkel errötet, ließ einen hilflosen Blick zu Fiekchen und dann
zu Therese gleiten. Diese, obschon in einem Wortgefecht mit Humboldt,
schien gehört zu haben, um was es sich handelte, und rief mit einem
sonderbar verächtlichen Ausdruck über den Tisch hinüber: »Du mußt einen
artigen Sklaven nicht an seine Ketten gemahnen, George!«

»Oh, oh,« stammelte Huber, verzückt lächelnd, »es ist nicht das, nicht
das!«

»Rosenketten also?«

»Ja ja! >Da band ich sie, da band sie mich mit Rosenketten< ...«

»Daß der Alte je so amoureuse war!«

»Klopstock, -- Klopstock, nicht wahr?« Fiekchen sah mit großen Augen
zwingend in Hubers hinein, dieser aber, seine Augen mit einer Art
stiller Standhaftigkeit auf Therese richtend, sagte langsam, von einem
Lächeln durchleuchtet:

   »Weisheit mit dem Sonnenblick,
   Große Göttin, tritt zurück,
   Weiche vor der Liebe!
   Nie Erobrern, Fürsten nie,
   Beugtest du ein Sklavenknie,
   Beug es jetzt der Liebe!«

»Ach, das ist Ihr Schiller!«

Therese griff ungeduldig nach einem der Almanache auf dem Tisch und
blätterte darin. »Ich kann den Enthusiasmus für ihn nicht teilen ...«

»Und doch ist er dem Geheimnis der Glückseligkeit so nahe,« sagte George
vor sich hin. »Er läßt seine Liebe aufgehen in dem großen Brand seines
Herzens für die Menschheit. Er vermag es.«

»Mein Freund?«

»Oh -- du meintest?«

»Ich meinte, ob du zu Ende wärest mit dieser Meditation und ob ich um
Gehör für meinen wackren Bürger bitten darf?«

Sie las. Sie las die Elegie. »Als Molly ihn verlassen hatte«, erntete
ergriffenes Schweigen, einen lyrischen Seufzer Hubers, fühlte sich
offensichtlich gelöst, blätterte, begehrte ein Licht, las weiter. George
sah auf sie hin, fühlte seine Brust unter ihrer Stimme erzittern wie den
Resonanzboden einer Geige, die Schärfe in ihm zerging, er atmete leicht
und glücklich, er staunte, daß sie schön wirkte, einzig durch den jetzt
seelisch entzündeten Glanz ihrer Augen. Er sah es wohl, daß sie sich
wieder und allen seinen Bitten entgegen geschminkt hatte, daß ihr Anzug,
dies grüne, weißgestreifte Hauskleid, im Widerspruch zu jenem Aufwand
der Eitelkeit stand, -- er war nicht blind dafür. Dennoch, -- hier war
Therese, -- und hatte sie sich verändert, jetzt zeigte sie es nur im
Ausdruck einer Tiefe der Empfindung, deren sie erst fähig hatte werden
müssen. Und George in einem törichten Frohlocken dachte in diesen
Minuten nichts, als: Sie ist mein, ich modelte ihr Herz, -- und die
Blicke der beiden jungen Männer, die, betroffen oder hingerissen,
verrieten, daß nicht nur er allein dem rätselhaften Zauber dieser nicht
schönen Frau erlag, gaben ihm ein Triumphgefühl des Besitzes. Einer
jener verhängnisvollen Täuschungen nachgebend, die ihn in diesem
Abschnitt des Lebens zuweilen überstürzten wie Lichtströme das Land an
einem wolkentreibenden Apriltag, meinte er sich eins mit ihr zu fühlen,
eins in einer reinen geistigen Luftschicht, in die sie durch den Dunst
niederer Ebenen hindurch gemeinsam sich empor gekämpft hätten. Hier, nun
wohl, standen sie Hand in Hand auf der Schwelle eines neuen Lebens;
dieser Abend, der erste in Mainz, der ihnen Gäste zugeführt hatte, war
von der Musik unsichtbarer Genien umspielt, Musen und Grazien hatten ihr
Haus in ihre Hut genommen. In den Stand der Gebenden, Austeilenden,
Überströmenden eintreten dürfen, ja, er war gewürdigt worden, es war nun
an der Zeit! Mochten Menschen wie Müller hochmütig oder abgewendet
fernbleiben! Hatte er auf ihren Umgang gehofft, er war der Enttäuschung
wohl gewachsen. Wenn nur jene kamen, die noch nicht des eignen Geistes
satt waren, wenn sie nur kamen, bereit, ihm seine Fülle abzunehmen, er
wollte sie wohl nähren und Theresens anmutiger und schöner Geist sollte
sie laben, wie der Flor eines Gartens. Huber sollte den Freund an ihm
finden, den er suchte, gerührt blickte er auf ihn, der dort mit einem
gläubigen Ausdruck knabenhafter Begeisterung an der Vorlesenden hing.
Ihm war, als sähe er sich selbst, zehn Jahre zurück, und fast wollte es
ihn mit wehmütigem Neid überkommen: hatte denn je über ihm so das
Göttergeschenk der Freundschaft eines Älteren, Gereiften geschwebt,
hatte er sich nicht von je einsam seinen Weg suchen müssen, führerlos
und Gott allein verantwortlich? --

Da Therese nun zu lesen aufhörte, stand er auf und eilte in sein Zimmer,
von dem Bedürfnis überkommen, auch etwas zu geben, und sich erinnernd,
daß Humboldt ihn nach seinen eigenen Arbeiten gefragt hatte. Er hatte
vorher in dem botanischen Kollegium geblättert, das er den Wilnaer Damen
gelesen hatte. Es waren doch recht artige Perioden darin, besonders in
den Vorlesungen, die von der Generationstheorie handelten, er traktierte
das Ding so aus dem Handgelenk, leicht, fast amüsant, ohne doch im
geringsten aufzuhören, der Forster zu sein. Er kehrte zurück, das
Manuskript in der Hand, fand das Röschen, das inzwischen hereingebracht
worden war, auf Humboldts Knien sitzend und diesen bemüht, den
ernsthaften kleinen Mund des Kindes zum Aussprechen seines Namens zu
bewegen: »Wilhelm!« sagte er ihm lächelnd vor, »Wilhelm!«

»Wilhelm ...« wiederholte Therese sich vorneigend, und, im Schatten der
Zimmertiefe verweilend, erkannte George im Innersten betroffen den
spähenden ruhelosen Blick ihrer Augen, den bebenden Ton ihrer Stimme,
und wußte plötzlich, was da vorhin ihrem Lesen Klang und Zauber gegeben
hatte, es war ihr verborgenes Herz gewesen, das unablässig jenen Namen
anrief, unablässig, -- ihn, den er selbst so gewaltsam hinter sich in
die Vergessenheit getreten hatte. -- --

Er hatte nicht mehr vorgelesen. Er ging in seinem Zimmer auf und nieder,
im Schein der Kerzenflamme glitt sein Schatten an der Wand entlang, der
Schatten eines alten Mannes, von dem sein Auge müde abschweifte. Sein
Kopf schmerzte, seine Glieder waren schwer. Die anderen waren noch
hinaus in die klare Herbstnacht gegangen, um die Sterne sich im Rhein
spiegeln zu sehen. Er scheute die feuchte Luft, er war zurückgeblieben,
er ging hier zwischen seinen Büchern auf und ab in der Gesellschaft
eines müden, gebückten Schattens. »O, -- du hast wieder Schmerzen,
lieber Freund?« hatte Therese gleichmütig gesagt. Ja, -- glaubte sie ihm
nicht einmal die Schmerzen mehr?

                   *       *       *       *       *

»Ich habe vielleicht allzuoft in meinem Leben unter derartiger
Gesellschaft sein dürfen, um dies als ein besonderes Glück zu schätzen,«
erwiderte George lächelnd auf die Frage Theresens, wie er es denn
ertragen könne, hier oben auf der Galerie unter den Geduldeten zu
sitzen. Er hatte den Arm auf die Brüstung gestützt und blickte von der
Seite in ihr Gesicht, das angeregt und unzufrieden zugleich auf die
glänzende Versammlung unten im Akademiesaal des Schlosses hinabspähte.
Das Scherzo einer Haydnschen Symphonie hub soeben mit den rasch sich
folgenden Einsätzen der Streichinstrumente und Flöten an, als begänne
ein lustiger Wettlauf leichter Kinderfüße über eine Frühlingswiese.
Therese hielt eine Antwort auf der Zunge zurück, seufzte ungeduldig auf
und schloß die Augen, gelangweilt oder genießend. George, musikmüde, wie
stets gegen Ende eines Konzerts, sah zu Sömmerring und Wedekind hinüber,
die an ihrer anderen Seite saßen, beobachtete ein wenig die amtlich
gesammelten Mienen, mit denen die beiden Mediziner den Genuß dieser
kurfürstlichen Samstagsveranstaltung entgegennahmen, ließ seine Augen
über die andächtigen oder zerstreuten Mienen der hier oben sitzenden
bürgerlichen Gesellschaft schweifen, nickte dem kleinen eleganten
Professor Dorsch zu, der auf seinem Stuhl wippend mit seiner Dose
spielte, tauschte mit Fiekchen Dieze einen Blick lächelnden
Einverständnisses über die neben ihr sänftlich eingeschlummerte Frau
Mama, geriet selbst ein wenig ins Gähnen und starrte zum Plafond des
Saales empor, der, von den olympischen Ausgeburten Januarius Zickschen
Geistes bedeckt, ihn einlud zum Verweilen zwischen Wolkenhügeln und den
rosigen Nacktheiten unbefangener Göttinnen. Er fühlte sich irgendwie
bedrängt von dem atmenden Schweigen dieser orphisch gebannten
Menschheit, als sei er der einzige Wache unter lauter Bezauberten.
Dennoch wußte er, da saßen sie nun und enthielten sich der Worte, der
Bewegungen, schillerten in den Farben ihrer Kleider, ihrer Edelsteine,
im Glanz ihrer leuchtenden Haut, wie Frau von Coudenhoven dort unten an
der Seite des Kurfürsten und der Kreis ihrer Damen, -- hatten scheinbar
sich selbst und die Welt vergessen und verhielten sich in dem
strahlenden Licht der Kronleuchter reglos, als sei die Mainzer
Hofgesellschaft nichts als ein pflanzenhaftes Produkt der Natur von
pfauenhafter Buntheit, -- zuckten aber mit unzähligen Herzen, dachten
mit unzähligen Häuptern, konnten den Augenblick der Entzauberung nicht
erwarten, da das Orchester verstummen würde, brüteten über den Sätzen,
mit denen sie sich selbst wieder vernehmen lassen und hören würden: ganz
gut, Herr Haydn, ganz gut, aber Sie hatten allzulange das Wort!

Sieh, der Kurfürst beugte sich bereits zu seiner Freundin hinüber und
flüsterte ihr etwas zu. Die Symphonie, ohne Pause in das Rondo
hineinstürzend, verwirbelte in Kreiseltänzen wie ein lerchenhaft
enteilender Himmelsbote, von dem in Raserei verfallenden Kapellmeister
gejagt. Überall bewegten sich die Köpfe, die Schultern, kam Leben in
starre Gesichter, wurde Beifall bereit gestellt. Der Coadjutor Dalberg
tauschte Kennerblicke mit Heinse, und Müller, der bis jetzt in sich
versunken, den ^chapeau bas^ unter dem Arm, an einem Fensterpfeiler
gelehnt hatte, hob plötzlich den Kopf und sah ohne umherzusuchen zu
George auf, der ihm mit einem grüßenden Lächeln begegnete. Nun, -- dies
war wieder etwas, wie die ab und zu gewechselten französischen Billets
sachlichen Inhaltes, etwa über ein Buch aus der Bibliothek, die manchmal
so überraschend emphatisch schlossen, »^tout à vous, de coeur et
d'âme^,« oder geheimnisvoll verhalten mit dem lateinischen »^Tuus^«,
»^Totus tuus!^«, das wie eine Schwurformel der Verbundenheit klang.
George, noch immer an der einsamen Gestalt dort unten hangend, die sich
längst von ihm abgewandt hatte, gab sich mit einem unbewußten Seufzer
nach. Er verstand diesen Mann so wenig wie nur je. Er sah ihn ab und zu
im Fluge bei Frau von Coudenhoven, wenn er ins Schloß kam, um dem jungen
Coudenhoven das wöchentliche Privatissimum zu lesen. Hier fand er Müller
zuweilen, plaudernd und anscheinend ganz ^à son aise^ in dieser
Atmosphäre höfischer Geselligkeit, in der George nur beklommen atmete.
Im übrigen lebte er einsiedlerhaft, amtlichen Geschäften und
wissenschaftlichen Arbeiten hingegeben, ließ jeden Besucher abweisen und
-- nun ja, er lächelte George zu und schrieb ihm Billets, aber er entzog
sich seinem Umgang und schien es nicht wissen zu wollen, daß ungehobene
Schätze in dem Gebirge lagen, das zwischen ihnen beiden sich türmte. --

»Wir werden«, flüsterte George Therese zu, »mit Huber nach Hause gehen
müssen, er machte mir vorher ein Zeichen, er sieht auch jetzt hinauf.
Aber du sahest wohl schon?« Und mit uneingestandenem Befremden bemerkte
er ein Lächeln in ihrem Gesicht, das dem Legationssekretär galt, der, im
schwarzen Hofkleid, die Hand am Degen, hinaufgrüßte.

Therese wandte sich an Wedekind. »Wo ist Ihre Schwester, Hofrat?« fragte
sie Sömmerring ungeduldig, wenn schon mit lächelndem Kopfnicken den
Umhang abnehmend, den dieser mit umständlicher Höflichkeit bemüht war,
ihr um die Schultern zu legen. »Wo ist Meta? Ich wünschte sie mir für
den Heimweg, -- oh, wer kann immer unter Männern atmen?«

Sie lachte kurz auf, George, Sömmerring und Wedekind nacheinander mit
den Blicken streifend und nun Huber entgegensehend, der heraufgekommen
war und sich der abflutenden Menge entgegendrängend den Weg zu ihnen
suchte. In der Umrahmung des russischen Baschliks wirkte ihr Gesicht
zart, in den Augen lag noch das innerliche Lodern, das Musik hier stets
entfachte. Wedekind sagte in langsamem Hannoveranisch: »Meta fühlt sich
nicht disponiert unter Menschen zu gehen. Sie hatte Briefe, die sie
aufgeregt haben, sie bekam Kongestionen. Ihre Affäre zieht sich hin.«

»Herr Forkel ist ein Oger«, sagte Therese leichthin, »welcher redlich
Denkende besteht auf einem Besitz, der nur noch auf dem Papier Existenz
hat? Oh, ist er denn ein Sklavenhalter? Was meinen Sie, Huber?«

»Daß unsere Freundin frivoler redet als sie denkt.«

»Ah, ^mon Dieu, -- comme il est cérémonieux!^«

»Ich werde Meta heute abend noch zur Ader lassen«, sagte Wedekind steif,
indem sie die Treppe hinunterschritten, »es wird ihr den Kopf klären.
Forkel ist in seinem Recht.«

»Ich bin nicht dafür, den Weibern so viel Blut zu entziehen«, gab
Sömmerring den Auftakt zu einem medizinischen Gespräch, das auf der
Straße fortgesetzt wurde. Forster schritt stumm nebenher, von
unerklärlicher Traurigkeit befallen. Er dachte: »mitunter steigen Worte
aus Abgründen auf und verraten alle Schrecken der verborgenen Tiefe.
Sage auch ich zuweilen solche Worte?« Er wünschte, stehen zu bleiben und
sich Therese und Huber zuzugesellen, die hinter den drei Herren gingen,
aber er tat es nicht. Er schritt gesenkten Hauptes, kraftlos. Sömmerring
war bei seinem Lieblingsthema, der Schädlichkeit der Schnürbrüste für
den weiblichen Körper, angelangt. Huber dahinten sagte soeben in seiner
zögernden Sprechweise zu Therese:

»Jeder Mann, er sei denn von Natur ein Mönch, wird der geliebten Frau
eher einen Fehler des Herzens oder ein Versagen des Kopfes nachsehen,
als einen körperlichen Defekt, der sich dem Bewußtsein zu jeder Minute
aufdrängt.«

»Und wer ist jetzt eben frivol zu nennen?« hörte George zu seiner
Befriedigung Therese fragen. In der Tat, durfte der Verlobte eines
köstlichen Mädchens, wie es die ein wenig bucklige Dora Stock war, so
sprechen?

»Ich bin nicht frivol. Ich bin ein Unglücklicher.«

»Und warum erzählen Sie mir das? Oh, ich verstehe. Ich scheine Ihnen
stark genug, um andere zu tragen. Aber ich warne Sie, mein Freund. Ich
bin weder stark noch mitleidig. Vielleicht, daß ich es einmal war. Oh,
-- vielleicht ...«

»Warum sich immer eines kalten Herzens rühmen?«

»Werden einer Frau die Fehler des Herzens nicht leichter verziehen?«
George blieb jäh stehen.

»Du solltest in der kalten Nachtluft nicht sprechen, meine Liebe«, sagte
er und zog ihren Arm durch den seinen, »der Hornung ist ein tückischer
Monat für eine zarte Brust.«

Er redete hastig, sich selber unbewußt. »Huber, Sie kommen mit uns. Sie
teilen unsern Abendtisch. Ich weiß, Sie haben einen neuen Akt in der
Tasche, Sie brennen darauf, ihn uns mitzuteilen, wie wir es kaum
erwarten können, ihn zu hören. Ist's nicht so, Therese? Ich habe einen
herrlichen Brief von Jakobi, ich muß ihn Ihnen mitteilen, er rouliert
ganz auf den Begriffen des Wahren, Guten und Schönen ...«

                   *       *       *       *       *

Denn dieser Huber war ein Mensch, dem man es nachsehen mußte, daß er den
Inhalt seines Busens zu Tage brachte, wie das Meer Muscheln, Schätze und
Leichen an den Strand schwemmt, sei dieser Strand nun inselhaft lieblich
umgrünt wie das Herz einer Frau oder eingedämmt und stark wie die Brust
des männlichen Freundes. Therese, meinte George zu fühlen, war ganz mit
ihm einig, daß diesem Menschen geholfen werden müsse, der seine Fülle so
schlecht bändigen konnte und der weder in seiner Lebensführung noch in
seinen poetischen Versuchen irgendwelche Form besaß. Freilich, Therese
machte absonderliche Erziehungsversuche an ihm, suchte durch Herbe und
Spott zu wirken, wie ihn dünkte, belohnte zuweilen mit Lächeln und der
Süße eines Augenaufschlages, wie er beobachtet zu haben meinte, aber
hatte doch, dessen war er sich gewiß, nicht den richtigen Weg
eingeschlagen, Wirkungen zu erreichen. Güte, Vertrauen und Hingabe waren
es, die hier zu gewinnen hatten. Leise, unmerklich, mit dem magischen
Flötenspiel eines freundlichen Hirten, war dieser Verirrte
herauszulocken aus der Wildnis. Begann er nicht schon, den Geschmack an
der wüsten Gesellschaft zu verlieren, an die er verfallen gewesen war,
vermied er nicht neuerdings sein Wirtshausleben mit Schauspielern und
Dichterlingen und saß Abend für Abend an Theresens Teetisch, ein
schweigsamer Gast, solange anderer Besuch anwesend war, beredt, sobald
man, selbdritt, das Gespräch auf ihn, auf sein Leben, seine Pläne, seine
Arbeiten kommen ließ? Oh, ihn nicht verspotten, nicht an ihm zerren, ihn
nicht mit ihrem raschen Witz vergrämen sollte Therese, dachte George
brüderlich. Dieser da kam, um Wärme, und Rat, um Halt zu finden, und so
kam er zu ihm, zu George, so war er, endlich, endlich, die in
unsäglicher Einsamkeit wortlos vom Schicksal erflehte Seele, die seiner
bedurfte, seiner ganz und gar. Er gab es sich selbst nicht zu, daß die
eigentliche Befriedigung darin lag, vor Therese entfalten zu können,
wessen er fähig war, wenn denn ein Mensch kam, der seiner bedurfte. Gab
es sich nicht zu, daß er diese Rolle des Hilfreichen, Geduldigen,
Unermüdlichen so eifrig spielte, damit sie erkennen sollte, er war nicht
der, als den sie ihn mehr und mehr zu sehen beliebte, der unablässig
Fordernde, der, dessen Liebe nichts wußte, als daß der andere ihm
gehörte und ihm zu dienen hatte. Ahnte sie es, daß sein Bemühen um
Fremde ein Werben um sie selber war, -- ahnte sie es und ließ ihren
Spott deswegen spielen, wo es sich um Huber, ihre Gleichgültigkeit, wo
es sich um andere Hilfebedürftige handelte, denen er Beschäftigung
vermittelte, denen seine Person, sein sanfter, tätiger Geist mählich zur
wohltätigen Lebenssonne wurde, um die zu kreisen neugewonnene Ordnung
bedeutete? Verneinte sie diese Menschen, die ihn nicht anders wollten,
wie er war, die ihn gut hießen, weil _sie_ ihn anders wünschte und weil
sie im geheimen jede seiner Äußerungen und Taten entwertet sah in dem
Lichte des Verdachtes, daß alles geschah, nicht nur, um vor ihr zu
bestehen, nein, um auch als der Bessere, der Größere, der von ihr
Geopferte zu erscheinen? Hatte sie es erkannt, daß in diesem
Zusammenhalten aller Tugenden, in der unablässigen Ausübung von Treue,
Redlichkeit und Menschenliebe der letzte verzweifelte Widerstand seiner
Seele sich kundgab, gegen sie, von der er sich doch abhängig wußte wie
vom täglichen Brot, in der sonderbaren, scheuen und wählerischen Not
seiner Sinne vor ihr so bedürftig, wie der Verschmachtende in der Wüste
vor der einzigen Oase? Wußte sie es, wie verzweifelt er sich an die
Bestätigung seiner selbst klammerte, die ihm von anderen ward, weil er
sonst begonnen hätte, sich mit ihren, mit Theresens Augen zu sehen, als
einen Würdelosen, der bettelte oder sein Recht erzwang, wo es ihm nicht
frei und liebend gewährt wurde? Und wie übte er ihn aus, diesen Zwang,
fragte er sich mit einiger Bitterkeit und starrte böse grübelnd zu ihr
hinüber, die dort in der Schattenecke des Zimmers saß und mit diesen nie
ruhenden kleinen Händen an ihrer langen Halskette zerrte und spielte,
während Huber die großtönende Phraseologie seines Dramas mit gaumiger
Stimme vorüberwälzte. Hieß das Zwang ausüben, zärtlichen Wünschen nicht
Halt zu gebieten, wenn sie nicht auf Willkommen, nur auf -- Duldung
stießen?

Oh, über die beständigen Monologe, in denen er sich rechtfertigte, die
stummen Auseinandersetzungen, die kein Echo hatten, -- oh, über die
nicht endende Apologie, dem Forum des eigenen Gewissens
gegenübergestellt, das ihn anklagte, weil er Glück nur nahm und immer
nur nahm! Und warum, warum blickte Huber, nun, da er geendet hatte und
nach der Anstrengung des Lesens im Stuhl zusammensank, mit einem
ängstlich heischenden Blick zu Therese hinüber, deren Antlitz, jetzt
vorgebeugt ins Kerzenlicht, still war, als lauschte sie den letzten
Versen nach? George erhob sich, mit einem überstürzten: »Vortrefflich,
lieber, teurer Freund, -- indessen ...« die Aufmerksamkeit an sich
reißend, und, im Zimmer auf und nieder gehend, begann er eine Kritik des
Gehörten zu entwickeln. Diese Auftritte, meinte er, seien vorzüglich
aufgebaut, jedoch so sehr vom Gefühl überwuchert, daß der Gang der
Handlung unter Blumen, -- oh, und er möge nur verzeihen! -- auch unter
Unkraut, blühendem Unkraut verschwände, -- daß -- »ist's nicht so,
Therese? Nicht wahr, da sehen Sie, sie gibt mir recht!« -- nun, daß den
Hörenden eine leise Ermüdung überkäme, daß seine Gedanken abschweiften,
daß -- redete er, verzweifelt wahrnehmend, wie Huber Therese unablässig
anblickte, und wie sie ihre Augen in seinen spielen ließ -- daß er,
wenigstens _er_, nicht hätte folgen können.

»Doch ist's nicht schön,« sagte Therese, in diesem Augenblick ihn
ansehend mit einem Ausdruck bittender Demut, der ihn rätselhaft
erschütterte, -- »ist's denn nicht schön, mein Freund, des Herzens
Überfluß zu sehen?« Und, sich mit den Schultern windend, als spüre sie
Schmerz oder Druck, eine Bewegung, die ihr in den letzten Monaten zur
Gewohnheit geworden war, fuhr sie fort, abgerissen, verlegen sprechend:
»Das Herz, -- ach, nur das Herz einmal reden zu hören, George, -- ein
Herz zu sehen, golden, feurig -- ist das nicht besser, als Kunst?«

»Aber ich rede wie ein Kind,« sagte sie, plötzlich sehr gefaßt, stand
auf und füllte die Tassen neu, -- »hören Sie nicht auf mich, Huber,
hören Sie auf George, -- er -- weiß viel besser, was not tut.«

Sie stand neben ihm, die Hand auf seiner Schulter, er fühlte ihre Finger
heiß und bebend an seinem Halse hingleiten. Den Arm um sie gelegt, von
irgendeinem Triumphgefühl durchschüttert, das unvergleichlich viel
stärker war als die Einsicht, es handele sich hier um die wirksame
Darstellung eines lebenden Bildes oder die Vorführung einer Parabel,
lächelte George in die mit dem Ausdruck seelischer Mühsal auf ihn
gerichteten Augen Hubers hinein und dozierte weiter. --

»Du solltest,« hörte er Therese nach einer halben Stunde leise und
leidenschaftlich sagen, als er das Wohnzimmer noch einmal betrat,
nachdem er den Gast hinausgeleitet und die Haustür hinter ihm
abgeschlossen hatte, -- »du solltest diesen jungen Menschen nicht so oft
kommen lassen, mein Freund! Wenn nicht um deinetwillen, so seinetwegen.«

Sie stand in der Fensterecke, als sei sie dorthin geflüchtet, den Arm
auf »^The Resolution^« gestützt und sah ihm blaß und feindlich entgegen.
Er erkannte nur, daß ein aufgeregtes Herz ihre Augen seltsam dunkel
leuchten ließ, daß sie noch in diesem weichen Kleid aus maisgelbem
Seidenmusseline war, das sie zum Konzert getragen hatte. Er tat ein paar
Schritte auf sie zu, blieb stehen, lächelte und sagte: »Ich verstehe
dich nicht.«

»Du wirst nie zu sehen lernen!« rief sie und schlug die Hände vors
Gesicht. Dann, mit jenem unerklärlich schnellen Übergang aus der
Erregung in die Ruhe, in den sie ihm gegenüber jetzt so oft verfiel,
sagte sie wieder ganz leise und sehr gehalten: »Du solltest ihn nicht so
oft ins Haus bringen. Siehst du denn nicht den Zustand seines Herzens?
Ich habe eine unselige Anziehung, ich ...«

Sie stockte, blickte George, der sich ein wenig näherte und immer noch
lächelte, unsicher an und vollendete hastig: »Ich habe nichts dazu
getan, George, bei Gott. Aber schaffe ihn fort, -- ja? Oh,« schloß sie
ein wenig pathetisch und drängte die Hände gegen seine Schultern, denn
nun war er bei ihr, »George, George, liegt denn ein Fluch auf meinem
Leben?«

»Du siehst Gespenster, Therese. Er ist jung, seine Schwärmerei kennt
keine Grenzen. Wie dein Herz klopft!«

Und überwältigt wie von einer endlichen Erfüllung, blind, trunken, nicht
fähig, diesen Blick voll Schicksalsangst, der seinem auswich, zu deuten,
murmelte er, sie an sich ziehend: »Was willst du doch? Er ist gebunden
und du -- du bist doch mein.«

Therese, abgewendeten Antlitzes in seinen Armen hängend, die Brauen
verzerrt, flüsterte: »Ja. Ich bin dein. Und ich müßte wohl noch Kinder
haben ...«

In dem Schweigen, das folgte, war nichts, als das unstete Flackern der
beiden niedergebrannten Kerzen, das den Raum mit dem Tanz schwankender
Schatten füllte.

                   *       *       *       *       *

»Sey doch jeder vergnügt, wenn er sein kleines Plätzchen gefunden hat,
aus dem er in die Welt hinausgucken und über sie lachen kann«, so las
George in der zierlich behäbigen Handschrift des alten Heyne, las diesen
Satz zum zweitenmal, nachdem er den kurzen Brief des Schwiegervaters,
datiert von einem Frühlingstag des Jahres 1789, beendigt hatte, las in
der Einsamkeit seines Kabinetts, versuchte zu lächeln und fühlte sich
zugleich dermaßen geschüttelt von Abwehr, Überdruß und Herzeleid, daß er
das unschuldige Papier krampfhaft mit der Hand zerknitterte, es hinwarf,
das Gesicht in den Händen begrub, -- und dann aufsprang, um, die Hände
auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab zu laufen. Oh, gewiß,
-- oh, aber ohne jeden Zweifel: er hatte sein kleines Plätzchen
gefunden! Er besaß ein Weib, ein gehorsames Weib, -- in zärtlichem
Gehorsam ihm ergeben, war's nicht so? -- das nun, da die Stürme erster
Jugend besänftigt waren, sich anschickte, in allen Stücken dem Ideal
Salomonis ähnlich zu werden und das ein zweites Pfand seiner Liebe unter
dem Herzen trug. Er besaß das Röschen, das ihm an den Rockschößen hing,
wenn er sich nur zeigte, und das soeben -- horch! -- sein Stimmchen
draußen mit dem Gurren der Tauben auf dem Dachfirst mischte, draußen, wo
im Vorgärtchen Narzissen und Tazetten unter der Maiensonne blühten, --
er besaß ein Haus und nicht nur Narzissen, Tazetten, Goldlack und
dergleichen törichte Schönheit, sondern auch einen Garten vor dem Tor,
wohl fünfzig Schritt im Quadrat, wo er Salat zog und Erdbeeren, von Kohl
und Wurzeln ganz zu schweigen. Er besaß Malchus, den Knecht, und
Mareiken, die Magd, mochten sie gleich andere Namen tragen, -- besaß
Tauben, auch Hühner, der Ankauf einer Ziege war geplant, -- ei, hatte er
nicht wahrhaftig sein kleines Plätzchen, und was hinderte ihn denn, nun,
in die Welt hinauszugucken und über sie zu lachen? Klausthal, dachte er,
von irgendeiner Erinnerung gestreift, -- das hieße wohl, mein Klausthal
gefunden haben, -- indessen ...

Er blieb am Fenster stehen und starrte schwermütig hinaus auf den
überschwenglich blühenden Kastanienbaum und den festlich schönen Bau des
Bassenheimer Hofes gegenüber. Der Geist, der solche Formen schaffen
konnte, der die Quadern dem Gesetz der Schwere selig entfremdete und es
ihnen verlieh, daß sie Rhythmik, heitere Ordnung, schwingende
Gelassenheit ausströmten, dieser Geist, -- oh, dieser Geist! Er dachte
nicht ganz zu Ende. Er dachte nur mit einem verzweifelten Aufwand von
Pathos: Verflucht das kleine Plätzchen und die Zumutung über eine Welt
zu lachen, die ich aus den Fugen reißen möchte, um sie neu aufzubauen,
reinlicher, gerechter, weiser und -- beseelt von dem Glauben an mich, an
meines Herzens Kraft und Würdigkeit! --

Nun, da der Andrang des Blutes zum Kopfe nachließ, sammelte er sich,
wandte sich ins Zimmer zurück und versuchte, sich selbst die Gründe der
Erregung klar zu machen, die ihn dermaßen überwältigt hatte. Heyne war
ein alter Mann, sagte er sich begütigend, der sein Leben lang in den
geschützten Niederungen der Philologie gehaust und keine anderen Stürme
kennen gelernt hatte, als leidige Universitätsintrigen und
kleinstädtische Familienkabalen. Er war, nun auf der Höhe seiner sechzig
Jahre, geläutert genug, sich über diese Anfechtungen erhaben zu fühlen,
erfreute sich seines abgeklärten Zustandes, für den er Gleichnisse fand,
angemessen dem Verhältnis des Gegensatzes, den er für ihn bedeutete, --
ein kleines Plätzchen also, aus dem man herausguckte und lachte, -- und
wünschte, denen, die er liebte, die Annehmlichkeiten einer solchen
Gemütsverfassung nahe zu bringen. Aller Welt gut werden, schrieb er auch
wohl einmal, das sei die Basis des inneren Friedens, und dann tat er mit
ein paar lächelnden Greisenworten »die Chimäre« ab, es müßte jeder ins
Große wirken. Oh, vor ein paar Jahren noch, in Wilna, da wäre sein Wort
Musik für mich gewesen, dachte George, damals, als wenigstens ein
Mensch, als Therese noch, das Große von mir erwartete und mich ermüdete
mit ihrer Ungeduld und ihrem ungestümen Fordern. Damals, als er,
sonderbar übersättigt von frühem Ruhm, bereit war auf Lorbeeren
auszuruhen, die nicht erstritten, sondern, wie es ihn jetzt dünkte,
tändelnd am Wege gepflückt waren. Heute aber, -- man hat sich mit mir
abgefunden, das ist entsetzlich! Das ist entsetzlich! hallte es in ihm
wider, während er von dem selbsttätig in ihm arbeitenden
Pflichtbewußtsein getrieben die zur Übersetzungsarbeit nötigen Bücher
und Bogen auf dem Tisch anordnete und auf den letzten Satz im Manuskript
starrte. War es ihm nicht immer als das einzig mögliche Ziel erschienen,
ins Große zu wirken, -- so oder so? Er hatte nie darüber nachgedacht,
freilich; sein eigener Wille, so glaubte er zu erkennen, war immer
abgelöst worden, in der Jugend durch den leidenschaftlichen
Tätigkeitstrieb des Vaters, in dem sein eigener aufging, wie die Kohle
in der Flamme, und dann durch dies zweischneidige Geschenk der Götter,
durch den Ruhm in frühen Mannesjahren. Es war süß, unter den
freundlichen Augen der Menschen zu leben, süß nach so bitteren Jahren,
-- diese wehmütige Bestätigung der Erinnerung flüsterte er sich zu,
dieser Satz hob und senkte seine Flügel über der Arbeit der nächsten
halben Stunde, in der er geschäftsmäßig englischen Text in deutsche
Sätze umbaute, bis er die Feder hinwarf und, verzweifelt den Kopf
hebend, der Frage ins Auge blickte, deren Gegenwart er in den letzten
Wochen unablässig gefühlt hatte, wie die einer unsichtbaren
erbarmungslosen Gottheit. Nicht länger ließ sie sich in Nebel bannen.
»Was tat ich?« schrie er auf, -- vernahm die eigene Stimme unselig
fremd, sah um sich und flüsterte erschrocken, -- »ja, was tat ich denn,
diesen Ruhm zu rechtfertigen, -- ja, was baute ich denn auf diesem
kolossalischen Fundament des Glücks? Mein Gott, mein Gott, -- ich
_sollte_ doch ins Große wirken, -- war das denn nicht dein Ruf?«

Oh, alter Mann auf deinem Bänkchen in der Gartenlaube! -- bist du je so
gerufen worden? War dir die Kindheit der Vorhof der Zucht und der
Entsagung, so daß du, ein Knabe noch, geschulten Geistes und männlicher
Arbeit gewöhnt dort schon standest, wo für andere die Jugend gipfelt?
Wurden dir da die Tore der Welt auseinandergerissen und taumeltest du
hinein in die Fülle der Erde, in das Sprachengewirr der Völker,
umwirbelt vom Schall ihrer tausendfältigen Musikinstrumente, vom Staub
ihrer Herden, -- von ihren Gerüchen umdampft, ihrer Buntheit geblendet,
von ihren Weibern verlockt, von ihren Göttern bedroht? Rollten Steppe
und Strom sich auf als Teppich deiner Füße, waren die großen Städte
deine Herbergen, beugte das Meer gebändigt seinen Nacken, dich
sanftmütig zu tragen und dir seine Inseln zu schenken? Gingen dir Helden
voran und zur Seite, dir zu zeigen, wie sie gemeistert wird, die
erschreckliche, wonnevolle, bestürzende Fülle, -- und mehr noch: ward es
dir gegeben, _die Helden zu erkennen und zu wissen, daß ihnen gefolgt
werden muß_? -- Oh, alter Mann, -- dein Ziel war stets der nächste
Meilenstein! Wie solltest du die wahnsinnige Raserei der Reue kennen und
verstehen, die in der Brust eines Mannes tobt, wenn er sich an den
Grenzmarken der Jugend sieht und endlich wahrnimmt, daß er aus allem
Reichtum, der ihm zu Füßen lag, nichts errafft hat, als die Phantome der
Erinnerung? -- Dies war der Zustand des Herzens, in dem George Forster
sich seit einigen Monaten befand. Wie bin ich hierhergekommen, fragte er
sich verzweifelt, wenn er sich Tag für Tag vor dem Chaos der Bibliothek
sah, das er ordnen sollte, für dessen Unterbringung er Räume,
Repositorien, ja, womöglich ein ganzes Gebäude schaffen sollte, für das
er rennen und laufen, mit den Universitätsprofessoren konferieren,
Sitzungen anberaumen, beim Kurfürsten antichambrieren mußte. In seiner
Vorstellung war ein Berg, der aus Büchern bestand und unaufhörlich von
innen heraus bücherquellend wuchs. Die Bücher rollten, rutschten,
wollten ihn erdrücken, er mußte sich mit beiden Armen gegen sie stemmen,
sie polterten um ihn herum nieder, wölkten den Staub von Jahrhunderten,
drohten ihn mit ihrer Ausdünstung zu ersticken. Er griff hinein,
blätterte Titelseiten auf, schaffte irgendwo einen kleinen freien Raum,
stapelte die hier, jene dort auf, kam auf den Gedanken, daß es sich
lohnen würde, doppelte Exemplare auszuscheiden, um die Menge zu
verringern, suchte diese Absicht durchzuführen und geriet in einen
peinlichen, nagenden Kampf mit seinen Hilfskräften, mit diesem Heer der
Unverantwortlichen, der tückischen, trägen Zwerge, die ihn zwingen
wollten, nichts anderes in ihnen zu sehen, als die Teile einer Maschine,
die, hämisch, wie es seiner trostlosen Überreizung dünkte, die Hände
ruhen ließen, wenn sein Antrieb einmal aussetzte, die schlampig
arbeiteten, wieder zerstörten, wo er meinte, Grund gelegt zu haben,
Verzeichnisse anfertigten, die nichts taugten, nach Hause gingen, wenn
die Glocke schlug, und sich nicht weiter kümmerten ...

Während er bis in seine Träume hinein Bücher schmeckte, sah und fühlte,
Handschriften und Erstdrucke und Widmungsstücke an tote Kurfürsten und
Folianten und Elzevirs, -- und da wälzte sich ein neuer Haufe heran,
lebendig kriechend wie ein Heerwurm, die Bücher aus der Karthause, die
der Kurfürst angekauft hatte, und die nun auch noch untergebracht werden
mußten. Und niemand war bereit, ihm Platz einzuräumen, das Kuratorium
der Professoren schien sich gegen ihn verschworen zu haben, -- gegen den
Ausländer und Protestanten, natürlich! Sein Vorschlag, die ehemalige
Jesuitenkirche für diesen Zweck auszubauen, ward verworfen wie ein
Angriff auf das Heiligtum, der Kurfürst bekannte seine Ohnmacht, Müller,
wenn er sich denn einmal sprechen ließ, zuckte die Achseln, sagte: »Ja,
mein teurer, lieber Freund ...« und redete vom Stein des Sisyphus. Und
dieser Stein, er sank zurück auf seine Brust und war der Alp seiner
Nächte. Ich kenne ihn aber, dachte er ächzend, ich kenne ihn doch seit
ich lebe, diesen Alp der Bücher, oh, ich kenne ihn, seit ich so klein
war und plötzlich lesen konnte und das Spielen aufhörte! Dennoch, -- war
es denn möglich, daß dies das Ziel und Ende gewesen war, sollte er sich
darein ergeben, von diesem Gebirge täglich eine Handvoll abzutragen,
sollte er zufrieden sein mit der satten Selbsttröstung, sein Bestes
getan zu haben? Wer hatte denn sein Bestes getan, der nicht die Pfänder
einlöste, die in der Jugend von Gott empfangen waren! Diese Pfänder, die
er besaß in den unmittelbaren Erlebnissen der bunten glühenden Welt und
des frühen Ruhms, sie quälten ihn auf einmal, wie Verpflichtungen, für
die noch aufzukommen war. Ein berühmter Jüngling, und nur ein berühmter
_Jüngling_, das ist wie eine schöne Tänzerin, dachte er angeekelt. Aber
das leere Altern des Jünglings ist unverzeihlicher. Taube Blüten,
Erlebnisse, die nicht Frucht und Leistung gezeugt hatten, -- mit
fünfunddreißig Jahren von den Zinsen einstmals mühelos oder zufällig
erworbener Güter leben und sich nur noch mit kleinen Handfertigkeiten
beschäftigen, mit Übersetzungen -- (-- o Therese! O jene Nacht in Wilna
und das Wort, damals belächelt: »Nicht immer nur übersetzen, George
...!«) -- und mit dem Registrieren von Büchern, -- diese Erkenntnisse,
plötzlich hereingebrochen, vielleicht, weil die Öde seines Herzens nun
dunkel genug war, nachdem die Hoffnung auf jenes unerhörte Einssein mit
Therese, die fast zehn Jahre alles andere überschienen hatte,
niedergebrannt und, wie er meinte, der dämmerhaften Dauerglut der
Gemeinsamkeit gewichen war, -- vielleicht auch nur, weil ihre Zeit
gekommen war, weil eben entblätterte Bäume das Licht durchlassen, --
diese Erkenntnisse schufen ihm eine Qual der Unrast, die ihn auf sich
selbst zurückwarf, nun, nachdem er Jahre und Jahre die Magnetnadel
seines Herzens hatte abweichen und auf andere Menschen weisen sehen, so
daß er den Kurs auf das Zentrum der eigenen Bestimmung hatte verlieren
müssen, -- wenn er ihn denn je schon besessen hatte. Was Wunder denn
aber, was Wunder! Oh, fürchterlichster Gang des Labyrinths, nun
durchwandert, der nach zehn Jahren offenbarte, daß er nicht vorwärts,
nicht etwa ins Freie, nein, daß er den unseligen Wanderer nur im Bogen
zurückgeführt hatte, an jenen Ort zurück, wo die Wege der hundert
Möglichkeiten abzweigten und wo der Nebel der Unschlüssigkeit hing! --

                   *       *       *       *       *

Der Kreis der Freunde an Theresens Teetisch fand den Hausherrn am Abend
dieses Tages ungewöhnlich gesprächig. Huber, der den dritten Akt seines
»Heimlichen Gerichts« vorgelesen hatte und nun, geduckt dasitzend, in
seiner Tasse rührte, bekam alles andere zu hören, als die Kritik, die er
erwartete. »Gott ist ein schlechter Schauspieldirektor!« rief George
aus, sah Fiekchen Dieze erschrocken zusammenzucken, lächelte ihr
begütigend zu, fügte ein: »Symbolisch gemeint! liebe Freundin«, und fuhr
fort: »Wann gibt er denn je eine Rolle dem Richtigen? Mir zum Exempel
gab er das Kostüm und die Rolle des Pioniers der Aufklärung und ich
fühle nun einmal den Auftrag, sie unter allen Umständen zu Ende zu
spielen. Ich spiele augenblicklich miserabel, ich weiß es, ich fühle
mich der Aufgabe keineswegs gewachsen, -- indessen ich habe nun einmal
vor den Augen der Welt die Gestalt des Mannes zu agieren, in der die
Südsee für Deutschland ein Stück Wirklichkeit geworden ist.«

»Sollten Sie da nicht ein wenig die Importance jener antipodischen
Hemisphäre für Deutschland überschätzen?« murmelte der Professor Dorsch,
der im übrigen völlig durch die Betrachtung seines allerdings sehr
kleinen und sehr eleganten Schnallenschuhs in Anspruch genommen zu sein
schien.

»Lieber Freund, agieren Sie doch getrost den guten Forster und weiter
nichts!« warf die kleine Forkel ein und suchte vergebens einen Blick
spitzbübischen Einverständnisses mit Therese auszutauschen.

»Es handelt sich hier um den Ausdruck des geistigen Wertes der
Weltbefahrenheit!« Dorsch wurde zornig angesehen und die Forkelin bekam
einen mitleidigen Blick. »Ich habe also unbegrenzte Horizonte,
Weltweite, Gelassenheit und was weiß ich zu verkörpern. Ich soll aus
diesem Seeleninhalt heraus entsprechend handeln, wirken, schreiben.
Nicht wahr?« fragte er fast flehentlich und sah Therese langsam und
nachdenklich nicken. Hastig trank er ein paar Schlucke aus seinem
Teeglas, in das er nach polnischer Art einen Löffel Eingemachtes anstatt
des Zuckers getan hatte. Dann fuhr er nachdenklich fort: »So hat der
Meister es sich gedacht. Aber nicht nur, daß er den guten Forster, wie
eine Stimme aus dem Publikum soeben richtig anmerkte, auf den heroischen
Kothurn gestellt hat, anstatt ihn etwa für das sentimentalische Fach
auszustatten, -- Gott ist auch ein schlechter Theaterdichter!

Aber bitte, meine Teure, so zucken Sie doch nicht immerfort! Dies sind
doch nicht Blasphemien, sondern die Resultate einer Auseinandersetzung
mit dem Schicksal!«

»Und was ist Schicksal?« sagte Huber leise und eindringlich, »wieviel
Quellen springen auf, um im Sande zu versickern! Dürfen wir überall
Anläufe zu einem Ziel, Absichten einer höheren Macht vermuten? Hieße das
nicht Anmaßung? Ach, und wenn wir einmal meinen, einer eigenen großen
und furchtbaren Bestimmung gewürdigt zu sein, wie bald müssen wir
erkennen, daß wir -- nur in die Räder eines fremden Schicksals geraten
sind!« Er blickte düster vor sich nieder.

»Wir monologisieren da recht artig nebeneinander her«, bemerkte George
trocken und fuhr fort:

»Dieser schlechte Dichter also, -- ich meine den oben erwähnten Meister,
-- erwartet immer, daß wir selbst die Rolle zu Ende führen. Er schreibt
den ersten Akt, vielleicht auch noch den zweiten, ganz selten führt er
uns auf die Höhe des dritten, wie es doch unserm Freund hier mit seinen
Geschöpfen nunmehr gelungen ist. Uns überlassen auf alle Fälle bleibt
der Komödie Schluß, und wird das Stück dann ausgepfiffen, so macht er
die Akteurs verantwortlich ...«

»Warum sagst du Komödie?« fragte Therese mit unbehaglichem Zögern.

»Du meinst, daß aus diesen Anfängen sich nur Tragödie entwickeln kann?«
fragte er auflachend zurück.

»Ich meine,« sagte sie mit einer aufreizenden, unpersönlichen und
undurchdringlichen Gelassenheit, die er nicht zu deuten wußte, »daß die
tragische Muse höhere und würdigere Anforderungen stellt. Soll ich
wählen zwischen Minna und Emilia, so will ich lieber mit Emilia in der
Blüte meiner Jahre den Tod willkommen heißen als gleich Minna mich mit
einem mittleren Glück begnügen.«

»Du vergißt, warum Emilia so sterben darf. Du mißverstehst dich selbst
-- und die dir zugeteilte Rolle!«

George, gleich nach diesen Worten fühlend, daß er sich von der
Bitterkeit der Erinnerung hatte hinreißen lassen, wandte tödlich
betroffen von der Kälte, mit der sie ihn anblickte, die Augen ab und
ließ sie zur Seite gleiten mit dem Ausdruck eines, der den Boden unter
sich wanken fühlt. Da war Sömmerrings breite Hand, beruhigend warm wie
nur je, die ihn auf die Schulter klopfte, und des Freundes Stimme, die
die Gesellschaft aufforderte, zuzugeben, daß die Forkelin wahrhaftig
Recht habe und daß der Forster nichts zu tun brauche, als sein Herz zu
leben, um des allgemeinsten, des innigsten Beifalls gewiß zu sein, --
nun, er lächelte auch, er blickte unbefangen im Kreise herum, sah
Therese ebenso unbefangen den Pflichten der Wirtin genügen, zog Huber in
ein Gespräch über den Fortschritt des Dramas und die Aussichten einer
Aufführung unter Iffland in Mannheim, gab Theatererinnerungen aus
Berlin, Paris und Wien zum Besten, und spürte dabei unaufhörlich wie
eine von neuem blutende verjährte Narbe dies entsetzte Erstaunen, weil
da ein Schleier gelüftet worden war, ein Gorgonenhaupt ihn angestarrt,
ein Dolch ihn bedroht hatte. -- --

                   *       *       *       *       *

Da einmal erkannt worden war, worauf es ankam, war Aufschub nicht mehr
Zeitverlust. Denn, nicht wahr, -- das ganze Leben bis jetzt war
Vorbereitung gewesen. Da George Forster denn fünfunddreißig Jahre
gebraucht hatte, um einzusehen, daß er letzten Endes von niemand auf der
Welt etwas zu erwarten habe, als von sich selber, daß kein Vater, kein
Freund, keine Geliebte Dank wußten für Demut, Treue, rückhaltlose
Hingabe, da er jetzt nach fünfunddreißig Jahren die Kraft in sich fühlte
oder den Gleichmut, auf jene Bestätigung des eigenen Gemütes verzichten
zu können, wie er sie bisher unablässig bebenden Herzens von der
unbegrenzten Zuneigung des menschlichen Wesens gefordert hatte, das ihm
jeweilig das nächste gewesen war, -- da konnte er in diesem Zustand der
Erkenntnis wohl ein wenig verweilen und sich sammeln, indem er sich
vorsagte, das furchtbar glühende Gestirn, dessen Strahlen die Wüste erst
zur Wüste machten, habe den Zenith nun überschritten und würde, mählich
abwärts sinkend, bald sich mildern.

Warum also nicht auf vierzehn Tage zu Jakobi nach Düsseldorf fahren und
des Freundes wie des rheinischen Frühlings genießen? Warum nicht gegen
Ende Juni für zwei Monate seinen Wohnsitz ins Rheingau verlegen, nach
dem heitern Eltville, wo der von Bücherdünsten, Stubenluft und
Krummsitzen erschöpfte Körper sich in gelinder durchsonnter Luft und bei
regelmäßigen Bädern erholte, wirksam unterstützt durch Morikis
privilegierte Blutreinigungspillen, auf deren Verabreichung Therese
leidenschaftlich bestand? Warum nicht Zeit verschwenden an lange
philosophische Briefe, an Gespräche, warum nicht die glücklichen Stunden
wahrnehmen, die sich aus dem Aufenthalt durchreisender Freunde ergaben?
Ja, wahrlich, nicht umsonst lag Mainz an der Straße nach Paris, nicht
umsonst als Station der ^great tour^ an dem Wasserwege von England und
den Niederlanden nach Süden, -- und der Besuch von Männern wie Baggesen
und dem Grafen Moltke, von Wilhelm Humboldt und Campe, von Jäger aus
Mitau, konnte der nicht dafür entschädigen, daß Hof und Adel von Mainz
immer noch keine Anstalten machten, in ihm den zu ehren, der er für die
gebildete Welt doch war? Warum nicht genießen, -- warum nicht lächeln?
Mochte der Kurfürst ihm gegenüber denn immer den gnädigen Herrn
herauskehren oder gelegentlich den Herrn ^de mauvaise grace^, wie
neulich, als er ihn von Düsseldorf zurückbefahl wegen einer Sitzung über
die leidige Bibliotheksunterbringung, die dann gar nicht stattfand. Er
fühlte sich imstande, mit den Achseln zu zucken, -- was unterschied denn
die Großen der Erde in seinen Augen noch von andern Lebensfaktoren? Es
galt sie zu behandeln wie blinde Naturmächte, sie zu nutzen, sie
einzudämmen, wenn es nottat. Oh, Frankreich hatte das als Volk jetzt
eingesehen, was ihm als einzelnem auch viel zu spät ein ganzes Leben
voll Enttäuschungen klargemacht hatte! »Freund, sie sind verändert, --
mir ist, -- vergeben Sie! -- als seien Sie gealtert!« hatte Müller bei
einem zufälligen Zusammentreffen neulich gesagt, den förmlichen Ton
seiner Rede jäh unterbrechend und ihn einen Augenblick mit dem
schwermütigen Lächeln von einst prüfend betrachtend. Auch hier gab er
nur stummes Achselzucken zur Antwort. Müller, bei dessen gefährlicher
Erkrankung im Frühjahr er noch einmal die volle Macht der alten
Zuneigung in der ratlosen Erschütterung der Angst um sein Leben gefühlt
hatte, auch Müller war dorthin entrückt, wo sie alle nun für ihn
standen, jene Gleichgültigen, von deren Affektion er seine Ruhe, sein
Glück, seinen Frieden abhängig gemacht hatte. Nun, er guckte zwar
nirgendwo heraus auf die Welt und lachte über sie. Aber, er rechnete mit
ihr, so wie sie war. Und indem er sich stillschweigend schonungslos mit
den Menschen auseinandersetzte, reinliche Scheidungen vornahm, die
Nützlichkeit jeder einzelnen Beziehung abwog und das, was dann an reiner
Freundschaft und geistigem Gewinn dazukam, hinnahm wie ein unerwartetes
Geschenk, das keine Dauer versprach, umging er in seinem Innern doch die
eine Frage, als sei sie nicht vorhanden, ja, er hütete sich so sehr den
Bestand seines häuslichen Glückes anzuzweifeln, daß er sich über Tisch
lieber die eingelaufenen Journale und Gazetten reichen ließ und während
des Essens las, wenn er nur von ferne annehmen konnte, es lagerte irgend
ein Schatten auf Theresens Stimmung. Den Zustand der Gewohnheit
gegenseitiger Freundlichkeit, der Selbstverständlichkeit ihrer Fürsorge
und dessen, was sie sich an Hingabe abgewinnen konnte, -- oh, diesen
Zustand nur um jeden Preis erhalten!

_Damit_ er denn die Ruhe behielt, so zu arbeiten, wie es fürs erste noch
nötig war, -- ehe der Augenblick erschien, geeignet, um endlich mit
diesem neuen gehärteten Herzen hervorzutreten und den großen Wurf zu
tun. _Damit_ er denn in täglichen kleinen Erregungen nicht die Kraft
einbüßte, so gebeugten Rückens dazusitzen, wie es einstweilen sein
mußte, und die Feder rascheln zu lassen, rascheln, rascheln, rascheln,
auf daß nicht der spärliche Zufluß der kleinen Einnahmen versiegte, mit
denen der unzureichende Strom des Gehalts ständig gespeist werden mußte,
um nicht vor Quartalsschluß kläglich erschöpft zu sein! Auch war der
alte Satz noch in Kraft, obschon seine Begründung geändert war, --
Therese, hieß er, Therese sollte leben wie die Blumen auf dem Felde ...
Weil sie jung, süß und heiter war, hatte George früher inbrünstig
hinzugedacht, -- weil es unbequem ist, ihr über die Anwendung jedes
einzelnen Guldens Rechenschaft abzulegen, dachte er jetzt im geheimen
und vor sich selbst kaum eingestanden. Therese bestellte das Hauswesen
mit nahezu derselben Heiterkeit wie einst in Wilna, bestellte es mit
Hilfe dreier Dienstboten und war ununterbrochen in Tätigkeit, kein
Zweifel. Therese bat um Geld und eilte mit Luise auf den Fruchtmarkt,
ein bauchiger Marktkorb begleitete sie und ward heimgebracht beladen wie
ein Kauffahrteischiff von fernen Küsten. Therese, noch in Umhang und
Hut, ein wenig ermattet aussehend durch die neue Schwangerschaft, kam zu
ihm herein, seufzte: »O diese Hitze, mein Freund!« bat dann aber
inständig um noch ein wenig Geld, denn da waren Rosen auf dem Markt
gewesen, frühe Rosen, sie hatte nicht widerstehen können, und nun hätten
sie kein Brot mehr mitbringen können und die Milch sei noch zu bezahlen
und -- so ein paar kleine Schulden beim Kaufmann Winterstein in der
Welschnonnengasse. »Ich brauche ja die fünf Gulden natürlich nicht dafür
ausschließlich, Georgie,« sagte Therese, und ließ sich am Fenster
nieder, »aber es kommen doch immer wieder Kleinigkeiten ...«

»Spezereiwaren,« ging es George durch den Sinn, nach dem Text der
Anzeigen in der Privilegierten Mainzer Zeitung, »Puder, gedörrte
Schinken, echtes Mannheimer Wasser in Krügen, veritable englische
Schuhwichse in Schopfenbouteillen, vielleicht auch Genueser Sardellen
oder Feigen, Krachmandeln und Traubenrosinen, alles zu haben beim
Handelsmann Schreck oder bei Sebastian Martin in seinem Gewölbe am Dom
...« Oh, eine Stadt wie Mainz bot Gelegenheit Geld auszugeben!
Jedenfalls sagte er höflich etwas, wie »Selbstverständlich, meine
Teure«, gab das Gewünschte mit der Gebärde, als griffe er in Fortunats
Säckel und schrieb sich selbst stillschweigend auch ein paar Gulden
zugute für irgendein Buch, ja, in letzter Zeit häufig auch für dies oder
jenes hübsche Möbel oder einen Gegenstand des Zimmerschmucks. Er hatte
sich eine Liebhaberei für englisches Mahagoni und Höchster Porzellan
anerzogen und gab sich selbst kaum zu, daß seine Aufmerksamkeit auf die
Kunstwerke Meister Melchiors erst durch ein Gespräch mit Müller geweckt
worden war, eins jener flüchtigen Gespräche anläßlich eines
Zusammentreffens bei dem jungen Coudenhoven, die ihre Stoffe in Hast aus
der Anschauung der nächsten Umgebung nahmen. Immerhin gab er für Bücher
und Karten aus eigenen Mitteln weniger aus als je, da sein Amt ihm
Gelegenheit gab, Werke von Wert und Neuerscheinungen aller Art aus dem
dafür bestimmten Fonds für die Bibliothek anzuschaffen, -- und war es
nicht verzeihlich, daß er von dieser Freiheit ausgiebigen Gebrauch
machte, mit dem Verdienst, alte Bestände aufzuforsten, zuweilen die
heimliche Befriedigung langgehegter Wünsche verbindend? »Im übrigen,
lieber Freund,« hatte Therese neulich über den Teetisch hinübergesagt,
-- sie hatten nun endgültig diese sonderbare ^façon de parler^
angenommen, sich lieber Freund und teure Freundin zu nennen, -- also:
»lieber Freund, der Kurfürst von Mainz hat die Laune, sich einen
Bibliothekar von mehr als europäischer Berühmtheit zu halten. Stattet er
ihn nicht genügend aus, so wird er voraussetzen, daß der Bibliothekar
nicht ausschließlich in seinen Geschäften aufgeht, sondern Zeit auf den
eigenen Acker verwendet.« Dies als Antwort auf laut geäußerte
Selbstvorwürfe seinerseits, daß er, anstatt seinen letzten
Schweißtropfen für die Bücherei zu vergießen, halbe Tage lang eigenen
Arbeiten nachhing. Und sie hatte Recht, wie meist. Nur daß sie nie mehr
ein Wort fand, ihn wirklich zu _eigenen_ Arbeiten zu ermuntern, daß sie
es unbewegt mit ansah, wie er übersetzte, und nur übersetzte, -- oder
vielleicht bisweilen ein Artikelchen schrieb, Aufsätzchen für Kalender,
für Almanache, verruchtes kleines Zeug, zu dem er das Saatgut
ungeschriebener großer Werke vermahlte.

Jedoch konnte er sich mit Genugtuung sagen, daß er nunmehr endlich die
einzig richtige Methode gefunden habe, die Aufgaben zu meistern, die ihm
von Herausgebern und Verlegern unerschöpflich gestellt wurden. Er hatte
sich einen ganzen Stab von Hilfsarbeitern gebildet, er leitete die
Ausführung großer Übersetzungen wie der Meister in der Werkstatt, Huber,
als sein erster Adjutant, hatte einen Teil der Briefe Dupatys über
Italien unter der Feder, die kleine Forkel saß mit glühendem Eifer über
den Abenteuern des Mr. Keates auf den Pelews-Inseln, drei oder vier
emsige Burschen, Studenten der Universität, machten Auszüge für ihn,
trugen ihm Material zu.

»Da du das Honorar mit ihnen teilen mußt, eine etwas sonderbare
Ökonomie«, bemerkte Therese, als das neue System ihr durch das
beständige Kommen und Gehen dieser Gehilfen klar geworden war.

»Es wird sich rentieren, meine Teure«, antwortete er kurz. Es war an
einem Sonntagabend, und der seltene Fall lag vor, daß keine Gäste
anwesend waren. George, der das Röschen auf den Knien hatte und dem
Kinde mit kleinen Muscheln Kreise und Figuren auf dem Tisch legte,
fühlte in erschrockener Ratlosigkeit eine Unlust, sich auszusprechen,
gleichsam das Versagen der Ausdrucksfähigkeit im Zwiegespräch. Er raffte
sich auf. Dies sei eine Sache, die Zukunft habe, sagte er. In kurzer
Zeit, -- nun, möge es auch noch ein, zwei Jahre dauern! würde er alle
jene fremdsprachigen Bücher, die er als ein redlich besorgter
Volkserzieher in den Händen der Deutschen wünschen müßte, nicht mehr
selbst übersetzen, sondern diese Arbeiten denen anweisen, die er der
Beschädigung und der Unterstützung für würdig befunden hätte, -- würde
als Mittelpunkt in diesem Netz der Tätigen sitzen, alle Fäden in der
Hand behalten und leiten und nicht nur des Dankes dieser wenigen,
sondern vor allem der ewigen Dankbarkeit der Nationen gewiß sein,
zwischen denen er Schranken einreißen, Grenzen auflösen würde. »Was ich
auf diesem Wege,« fügte er mit einem kurzen Auflachen hinzu und fuhr
sich mit der Hand über die brennenden Augen, »nun ja, etwa seit
fünfundzwanzig Jahren tue, seit meinem elften Lebensjahr. Indessen
fehlte mir lange der Blick auf den großen Sinn der Sache, jawohl, ich
ermangelte des Ausblicks.«

Er schwieg still. Nicht, als ob er eine Antwort erwartet hätte. Er war
nur müde. Das Röschen schob die Muscheln hin und her, patschte darauf
und warf sie zu Boden. Er hob sie geduldig auf. »Tu das nicht, Röschen,
die sind von Larry«, sagte er und summte ein paar Takte vor sich hin.
»Larry, Larry«, plauderte das Kind und wirtschaftete mit den runden
Händchen weiter. Dann sagte es: »Der Onkel Ferdi kommt heut nicht, der
Onkel Ferdi kommt heut nicht ...«

»Nein, -- er ist in der Favorite«, sagte Therese.

Draußen regnete es. Es war so dämmerig, daß sie kaum ihre Gesichter
unterscheiden konnten. Theresens Gestalt, schon ein wenig unförmig, in
dem weißen weiten Sommerkleid leuchtete regungslos in dem tiefen Stuhl
am Fenster. »Und was wirst du dann tun, -- wenn du nicht mehr
übersetzest?« fragte sie plötzlich leise. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Er hatte sich wohl gesagt, daß ein wenig frische Luft nach Abschluß
dieses heißen Arbeitstages ihm noch gut tun würde, und darum ging er
hier im Staube, den die Equipagen und Chaisen der spazierenfahrenden
großen Welt auf der Rheinallee aufwirbelten, ging dem fröhlichen
Gedränge heimkehrender Bürger mit ihren Weibern und Kindern entgegen und
sah mit trocknen entzündeten Augen auf das Bootgewimmel des abendlich
belebten Stromes, in dem die Auen schwammen wie selig umbuschte Eilande,
voll Gesang und Tanz. Wohl, hier ging der Hofrat Forster eiligen
Schrittes durch das lustige Getümmel eines rheinischen Sommerabends,
ließ seinen Schatten in den letzten schrägen Strahlen der Augustsonne
seitlich zu seiner Rechten unmäßig lang hinter sich drein schleifen und
zuweilen an den dicken Stämmen der alten Linden sich aufrichten, tupfte
nach je ein paar Schritten seine Stirn ab, wiederholte es sich: »Ich
mache mir Bewegung, dies ist gut!« und dachte uneingestandenermaßen
fortwährend Dinge wie: »Jener Mann dort vorn, -- ach nein, Huber ist
größer ...« oder: »Dieses Paar dort, endlich, -- wieder nichts, -- wo
bleiben sie nur?« so daß er bei seinem unablässigen Spähen in die von
goldenem Staub erfüllte Ferne der Allee fast an Therese und Huber
vorbeigelaufen wäre, die, auf dem schmalen Pfad jenseits der Baumreihe
schreitend, nun stehenblieben, -- das heißt, Therese blieb stehen und
rief ihn an, während Huber, verstört um sich blickend, den Eindruck
eines jählings erwachten Schlafwandlers machte. Therese, den langen
Kaschmirschal, der sie umhüllte, ein wenig raffend, griff nach seinem
Arm, sie schien keine Erklärung für sein unerwartetes Erscheinen zu
wünschen, und, indem sie gemeinsam die ersten Schritte nach der Stadt
zurück taten und er mit Beunruhigung das leise Beben ihres Armes empfand
und Erregung aus ihrem Körper zu sich herübergeleitet fühlte, sagte sie
mit einem leeren kleinen Gelächter und einem Seitenblick unter dem weit
vorspringenden Rand ihres italienischen Strohhutes hervor zu Huber hin:
»Da kommt mein Forster gerade zur rechten Zeit, um teilzuhaben an Ihren
überraschenden Neuigkeiten, lieber Freund! Denn dies wurde doch nur
zufällig mir allein anvertraut? Höre doch, Georgie ...«

George, an ihr vorüberblickend, sah Huber mit einer unerklärlich
verzweifelten Gebärde die Hand erheben, wollte Schweigen gebieten,
unterließ es aber in dem eigenen Erschrecken über Theresens veränderte
Stimme, über die ganze befremdende Art, mit der sie weniger sprach, als
plapperte: »Er will sein Verlöbnis mit Dora lösen. Das arme Mädchen, wie
soll sie es ertragen? Deformierte sind so empfindlich. Sie kann daran
sterben. Ich denke mir, wenn so ein Brief ankommt, so ein grausamer
Brief ...«

»Aber ich verstehe nicht ...«

»Oh mein Freund! Du verstehst es nicht? Dieser junge Mann meint, von
einer Leidenschaft zu einer anderen Frau ergriffen zu sein. Er spricht
sich nicht deutlich aus. Vielleicht hat er mehr Vertrauen zu dir ...«

Therese, wieder von diesem nervösen Gelächter befallen, das einem
Schluchzen glich, drängte George zu einer Bank, die am Wege stand. Sie
ließ sich nieder, preßte die Hand auf ihre Brust und blickte, die Augen
voll Tränen, zur Stadt hinüber. George, in ratloser Verlegenheit, wandte
sich an den düster dastehenden Huber und sagte sanft: »Wenn es Sie denn
entlasten sollte, sich auszusprechen, Freund, so vertrauen Sie sich uns
an. Sie haben an diesem Ort, ja vielleicht auf der ganzen Welt nicht
Herzen, die es aufrichtiger mit Ihnen meinen, als das meine und das
meines guten Weibes.«

»Sie sehen sie übermäßig exaltiert. Ihr Zustand erfordert Schonung.« Er
ließ sich neben Therese nieder, nahm ihre Hand, die ihm willenlos
überlassen wurde, und blickte vorwurfsvoll zu Huber auf, -- ein lebendes
Bild, o gewiß, hier war zu sehen ein einiges Ehepaar, -- indessen, --
wovor zitterte sein Herz? Und Huber, dessen Züge zum erstenmal nicht
beherrscht waren von dem Ausdruck des Heiteren, Höflichen oder auch des
Harmlos-Treuherzigen, oder des Liebenswürdig-Schwärmenden, des
Selig-Traurigen, -- Huber, die Nasenflügel gebläht, die Lippen und das
Kinn vorgeschoben, unkenntlich, er, der Sanfte, in dieser Maske des
Zürnenden, dem eine unverzeihliche Schmähung das Recht auf Zorn gab, er
stieß hervor: »Lasse man mich doch wenigstens mein Herz allein aus dem
Staube aufheben, in den es getreten wurde! -- Freundschaft, -- o
vorzüglich! Aber auf dem schmalen Grat, über den mein Leben jetzt führt,
kann ich keine anderen Begleiter mitnehmen, als jene, die in der Luft
ihren Pfad suchen, also etwa die Geister der Entschlossenheit und der
Entsagung zur Rechten und zur Linken!« Mit einer brüsken Bewegung sich
abwendend, tat er ein paar Schritte, kam zurück, beugte sich zu George
nieder, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, und flüsterte
rauh: »Bruder! Die Frau, um derentwillen ich mein gutes Mädchen aufgeben
wollte, ist nicht nur eines anderen Weib, sondern auch eine infame
Kokette!« Er stürzte davon.

Therese weinte jetzt recht herzlich. George, von den neugierigen
Gesichtern der Vorübergehenden gepeinigt, murmelte: »Laß uns gehen!«

Sie nahm das Tuch vom Gesicht, ließ mit überströmenden Augen einen Blick
unnahbarer Würde über die Gaffer gleiten, erhob sich, raffte ihren Schal
und griff nach seinem Arm.

»Du hast es gesehen,« sagte sie, von Schluchzen unterbrochen, »du hast
den Zustand seines Herzens gesehen. Weißt du nun, warum ich dich bat,
ihn zu entfernen? Aber du wolltest ja nicht ...«

»Ich wollte nicht? Um Gottes willen, soll ich die Schuld haben an diesem
^désastre^? Und warum weinst du dermaßen, wenn ich fragen darf?«

»George! Ich kann nicht so schnell gehen!«

Er mäßigte seinen Schritt, senkte den Kopf und fühlte eine tödliche
Ermattung. Nach einer Weile sagte er:

»Wir werden diesen Menschen nicht aufgeben. Kommt er wieder zu uns, --
und ich denke, er wird wiederkommen, -- so steht unser Haus ihm offen.«

Therese war stehengeblieben, sie sah mit halbgeöffnetem Munde zu ihm
auf, sie drückte die gerungenen Hände gegen ihr Herz:

»Aber begreifst du denn nicht? Aber bist du denn blind?«

George sah zu den Türmen des Domes hin, die im letzten Licht brannten
und funkelten. Eine starre Falte stand zwischen seinen Brauen:

»Ich werde nie aufhören, dir zu vertrauen, Therese.«

                   *       *       *       *       *

Müller, an den George im Laufe des Sommers einige ausführliche
Schilderungen seiner Lage und seiner Geldschwierigkeiten gerichtet
hatte, hatte zwar weder eine Gehaltserhöhung noch eine Zubilligung
freien Holzes beim Kurfürsten durchzusetzen vermocht, jedoch war es ohne
Zweifel sein Werk, daß der Geheime Hofrat Forster eine neue, geräumigere
und schönere Dienstwohnung in den sogenannten Universitätshäusern an der
Tiermarktstraße angewiesen bekam. Im Herbst also gab es die erbauliche
Arbeit des Räumens und Wiedereinrichtens wie im vergangenen Jahr,
erbaulich, weil sie einen Bruch mit überlebten Zuständen vortäuschte und
den Beginn eines neuen Lebens. An dem bösesten Tage des Umsturzes, als
kein Stuhl mehr zu finden war, um einen Augenblick auszuruhen, und die
Blusenmänner geliebte Besitztümer ohne Unterschied mit Eimern und Besen
zusammen verfrachteten und davonführten, -- in diesem Zeitraum der
wankenden Bodenständigkeit erschien plötzlich Huber wie ein lautloser
Geist und fragte demütig an, ob er denn nicht den Tag über mit Röschen
spazieren gehen dürfe. Empfangen von einem Hausherrn, der im Begriff
stand, hinter einem Handwagen dreinzulaufen, der seine kostbarsten
Sammelkästen entführte, -- die Konchylien, man denke, eine Anhäufung
unwägbarer Werte, die in Deutschland vermutlich kein zweites Mal zu
finden war, es sei denn bei dem _anderen_ Bereiser des australischen
Meeres, Forster senior in Halle, -- begrüßt von einer Hausfrau, deren
Unbefangenheit unterstützt ward durch die Aufgabe, mit Hilfe der
Demoiselle Dieze die jungen Hühner einzufangen und in einem Korb
unterzubringen, gelang es ihm ganz ohne Widerstände, das Ziel seines
Begehrens zu erreichen und mit einem verschämt strahlenden Röschen an
der Hand das Chaos zu verlassen, wobei sein Gesichtsausdruck dem seiner
Begleiterin nicht unähnlich war. Am Abend wurde ein guter Onkel Ferdi
von der kleinen Hand nicht losgelassen, ehe er sich mit am Tisch in der
neuen Küche niederließ und an dem Reisbrei teilnahm, der Herrschaft und
Gesinde um einen riesigen Topf vereinigte. Therese war von einer nicht
ganz natürlichen Munterkeit: »^À la guerre^, meine Freunde, ^tout comme
à la guerre!^« rief sie und bedrohte jeden mit dem Schöpflöffel, der
nach ihrer Meinung sich zierte, genug zu essen. Forster, das Röschen auf
den Knien, plauderte vergnügt von der Weitläufigkeit der Wohnung, von
anderen Tapeten, neuen Möbelstücken, die nötig waren, -- »Freilich, --
er hat es ja übrig!« warf Therese ein und nickte Huber hastig zu, -- und
er verstummte erst, als der wiedergewonnene Freund zum erstenmal sein
befangen-glückliches Schweigen brach und erklärte, auch er würde wohl
bald umziehen müssen, aus diesen und jenen Gründen. George wurde
nachdenklich. Nach Tisch nahm er den andern mit hinauf, ihm im letzten
Tagesschein die Räume zu zeigen. Er mußte sich seiner freudigen
Gespanntheit entladen, gesprächig, als hätte er Wein getrunken,
entrollte er den Stoff, der sich seit dem letzten Zusammensein im Sommer
angesammelt hatte. Da waren die Besuche von Humboldt und Campe, -- und
der letztere bot Anlaß zu einem Exkurs über die derzeitigen
Erziehungskünstler Deutschlands, die allesamt übel wegkamen, mochten sie
nun Campe, Salzmann oder Willaumez heißen, -- da waren die jüngsten
Schikanen des katholischen Universitätskuratoriums gegen den
protestantischen Herrn Bibliothekar, der doch weiß Gott an Toleranz
nichts zu wünschen übrig ließ, wie es sein Aufsatz in der Berliner
Monatsschrift bewies, der die Proselytenmacherei entschuldigte, wenn
nicht gar in Schutz nahm. Hatte Huber ihn gelesen? Und gehörte er etwa
zu den Leuten, die den Standpunkt des Verfassers nicht billigten? O, das
gab eine endlose Diskussion! Die Kerze war niedergebrannt und die
Mitternacht sang vom Dom, von St. Peter und allen ihren Schwestertürmen,
als Huber sich den Weg zwischen dem aufgestapelten Hausrat hindurch zur
Straße suchte.

»Er ging wieder wie ein Schlafwandler,« dachte George, »und ich redete
wie ein Traumschwätzer, und hier wird Therese liegen, die Augen groß
offen, und wacher sein als wir alle ...«

Er öffnete leise die Tür der Schlafkammer und wie er gedacht, fiel der
Schein seines Lichtes auf Theresens Gesicht, das ihm aus den Kissen mit
reglosem Lächeln entgegenblickte.

»Er blieb ja so lange,« sagte sie ohne sich zu rühren, als George neben
ihr lag.

»Wir hatten höchst angenehme Konversation, -- er ist ganz der alte, du
kannst versichert sein. Iffland führt nun sein Stück auf, ich fahre mit
ihm nach Mannheim.« Da keine Antwort kam: »Du hast recht, -- ich wollte
in diesem Jahr nicht mehr reisen. Jedoch dieser Katzensprung, -- und es
ist Freundespflicht ...«

Er drückte das Licht mit den Fingern aus, wühlte sich wohlig in die
Kissen und stöhnte behaglich. Sei es Reise, sei's Umzug, -- Veränderung
verjüngte sein Herz. Er hustete ein wenig.

»Ich habe ihm, -- ich habe Huber die beiden Mansardenzimmer oben
angeboten, von denen wir nicht wußten, wie sie verwenden ...«

Dies tat ich, fühlte er unter dem rasenden Klopfen seines Herzens voll
Verzweiflung, weil mir nichts anderes übrig bleibt. Weil es besser ist,
sich mit der Brust in ein Schicksal zu stürzen, als das Zustoßen des
zaudernden Schwertes abzuwarten. Dies tat ich vielleicht, um die Götter
durch Demut zu versöhnen ...

»Er will es noch überlegen,« fuhr er fort, die Hände auf die Brust
gepreßt, als neben ihm kein Laut Antwort gab. »Ich denke aber, er könnte
es gar nicht besser treffen. Er zahlt für Kost und Logis, er rechnet
ganz zur Familie, es wird seinen Gewohnheiten gut tun und unsern
Mittagstisch beleben ... Nun, ich würde mich freuen.«

»Du hast ihm die beiden Mansardenzimmer angeboten! Mein Gott, -- George!
-- mein Gott ...«

»Was denn, -- Therese?«

Lachte sie in der Dunkelheit?

»Laß nur gut sein, George, laß gut sein.«

Sie schwiegen. Sie rührten sich nicht mehr. Die Zeit verging. Nach einer
bangen Stunde flüsterte er: »Therese!« und noch einmal: »Therese!« --
Müde kam ein »Ja, George -- was ist?«

»Ach, -- wenn ich noch ein wenig Baldrian hätte ...«

Sie machte Licht. Sie reichte ihm die Tropfen. Er sah ängstlich in ihr
Gesicht und fand es müde, still und kühl. --

                   *       *       *       *       *

Der Professor Wedekind, sein Glas in der Rechten, die blauen Augen in
dem angenehm geröteten viereckigen Gesicht schiefgeneigten Hauptes und
schwimmenden Blickes empor zu dem neuen Kronleuchter erhoben, schloß
seine Tischrede: »... und da denn wir Hannoveraner und anderen
Ausländer, Protestanten und anderen Ketzer, Kosmopoliten und Freigeister
hier unter uns sind -- ich bitte denjenigen um Verzeihung, der sich
nicht zu uns zählt ...« Die alte Frau Wedekind, Madame Mère genannt,
wiegte mit vorgeschobenen Lippen den hochtoupierten Kopf, machte tadelnd
kleine Schnalztöne und rollte die Augen nach seitwärts zu ihrem
Nachbarn, dem Professor Dorsch hin, -- allein Monsieur l'Abbé schien
durchaus nicht anders als angenehm berührt, saß zierlich aufgestützt da,
meckerte ein wenig und spielte mit Brotkügelchen, -- »da wir denn heut
zum erstenmal allhier versammelt sind, wo unser großer Freund und
Welteneroberer nun hoffentlich die bleibende Statt gefunden, so bitte
ich die geneigte Tafelrunde einzustimmen in meinen Ruf: diese Herberge
der Musen, dieser Hort der Aufklärung, -- das Haus Forster vivat hoch!«

Die Gläser klangen aneinander. Wedekind, der seiner Nachbarin Therese am
oberen Ende der kleinen ovalen Tafel die Hand geküßt hatte, kam nun auf
halbem Wege George entgegen und ward in heller Rührung umarmt.

»Freunde, ihr wißt, daß ich mit einer schweren Zunge geschlagen bin,«
redete George, über seinen Teller gebeugt und den Fuß seines Glases
drehend, als die Bewegung begeisterter Zustimmung sich gelegt hatte,
»ihr seht es mir deswegen auch nach, wenn ich nicht in geziemender
Ansprache danke. Aber sagen muß ich es, daß ich, -- ich und mein liebes
Weib, -- daß wir nun nach dem ersten Jahr in Mainz das Gefühl einer
Heimat in uns keimen fühlen, und mich dünkt, das liegt weniger an der
Gunst des Ortes als an den freundlichen Herzen, die wir uns hier
bereitet fanden. Ein stilles Glas der Freundschaft!«

Er suchte Hubers Augen, während er trank, allein Huber, in ein
kicherndes Geschwätz der Forkelin verflochten, blickte nicht herüber und
George fand sich alsbald ein wenig beschämt von Sömmerrings treuem
Hundeblick, in dem ein stiller Vorwurf zu stehen schien. »^For ever!^«
rief er halblaut über den Tisch, lächelte und nickte.

»Man sollte dem Herrn Geheimenrat eine schwere Zunge gar nicht glauben!«
lispelte die kleine Madame Dieze an seiner Linken und sah demütig zu ihm
auf.

George, ihr zugewandt und versichernd, freilich sei es an dem und auf
dem Katheder versagten ihm gar die Worte den Gehorsam, indessen, wenn er
das eine oder andere Gläschen Liebfrauenmilch getrunken habe, wie soeben
...

»Ei, so würd' ich mir an des Herrn Geheimenrats Stelle des öfteren ein
Gläschen Liebfrauenmilch verschreiben! Der selige Dieze nannte das
medizinieren ...«

George unter solchem Geplänkel der alten Dame dachte, daß die geblümte
Tapete, daß die neuen punktierten Mullgardinen samt den zwei schmalen
façettierten Pfeilerspiegeln und dem kleinen Kristallkronleuchter diesem
Zimmer wahrlich einen Anstrich festlicher Vornehmheit verliehen, --
dachte: »Therese sieht heut abend so bleich ...« dachte, die englische
Mahagonistanduhr will immer noch nicht wieder schlagen, sie muß auf der
Reise gelitten haben, sie muß einen andern Platz bekommen, -- dachte in
irgendeinem Zusammenhang: »Unsinn, Spener wird den Vorschuß schon
abgesandt haben ...« und wieder: »Therese sieht heut abend so bleich
...«

»Kann ich dir etwas besorgen, meine Liebe?« rief er, sich halb erhebend,
denn er bemerkte plötzlich, daß sie suchend umhersah. Aber da stand
schon Huber neben ihr, empfing lächelnd einen geflüsterten Wunsch, glitt
hinaus, kehrte wieder, verbeugte sich von seinem Platz aus ein wenig,
bekam ein dankbares Lächeln, -- die Marie erschien, brachte der Frau
Rätin das Schnupftuch, das hastig benützt wurde, -- oh, darum handelte
es sich! -- Huber bekam einen zweiten lächelnden Blick und er, George,
nun auch ein Nicken, das Tüchlein verschwand im Brustausschnitt ...
George nahm ein paar Schlucke, dachte erschöpft: »Sömmerring trinkt zu
viel, er ist schon ganz traurig geworden,« und fühlte seinen Geist
plötzlich belebt wie von einem Sporenstich durch einen Satz über Paris,
den Dorsch da unten sprach. Paris, -- o, freilich wohl, Paris!

»Geht es Ihnen auch so, Freund, daß Sie meinen, leichter atmen zu
können, seit die Spannung dort oben sich entladen hat?«

Dorsch spähte mit seinem kleinen nackten Gesicht um den mächtigen Vorbau
von Madame Mère herum.

»Ei, Verehrtester, tragen Sie ein so feines Instrument für den Luftdruck
der Zeit in der Brust? Es ließ sich dies alles voraussehen, ja, mit der
Uhr in der Hand vorausbestimmen. ^Mon dieu^, nein, ich kann nicht
behaupten, daß ich vorher litt und nun leichter atme.«

»Oh, Sie meinen, ich affektiere den Geisterseher und Mesmeristen, aber
bei Gott, dies nicht! Ich war nie ein Politikus, mein Allerbester, ein
jeder, der mich kennt, wird es Ihnen bezeugen ...« und George warf einen
lächelnden Blick hinüber zu Sömmerring, der die Augen zur Decke hob und
die Hand abwehrend bewegte, -- »ich war also auch nie ein bewußter
Beobachter der Machtströmungen und fürstlichen Machenschaften.« --

»Aber was gibt es denn Interessanteres als mitzudichten an dem ^theatrum
mundi^?«

»Ah bah, mich langweilt das, so lange ich denken kann. Kein braverer
Untertan als ich, so lange die Sache meines Fürsten die Sache der
Menschheit und der Menschlichkeit ist! Hört sie auf das zu sein ...«

»Dann nimmt unser Forster den Stab in die Hand und sagt: ^ubi bene^, da
Vaterland, ho ho!« rief Wedekind kräftig, und von seinem Gelächter
klirrten die Gläser auf dem Tisch. Therese bot erschrocken die Schale
mit Obst noch einmal an und sagte in unterdrücktem Tone zu Sömmerring:
»Wie kommen wir nur auf diese leidigen Themata? Der eine gerät ins
Schwärmen, der andere verfällt auf Grobheiten.«

»Daß sie jetzt auch immer auf den Fürsten herumhacken müssen!« schmollte
die Demoiselle Dieze und gebrauchte den Fächer.

»Ich pflege mich nie politisch zu enragieren, sondern immer nur
menschlich,« fuhr George mit einem kalten Blick in die Richtung des
selbstzufrieden schmunzelnden Wedekind fort, »habe da freilich mehr als
mancher andere Anlaß gehabt, Despotismus und Ungerechtigkeit am eigenen
Leibe zu erfahren.«

»Mein Gott, Sömmerring, so bringen Sie ihn doch auf etwas anderes!
Gleich wird er bei England angelangt sein!« murmelte Therese, und ihre
Augen wanderten gleichzeitig hilfesuchend zu Huber hinüber.

»O, ein Europa ohne Fürsten, -- welch eine Szene ohne Saft und Kraft,
ohne Farbe und Musik!« rief dieser bereitwillig.

»Nein doch, Huber! Sie sollen doch lieber von Stalaktiten oder Meteoren
reden als von Fürsten!« lachte Therese vorgebeugt halblaut, während
George, die Stimme erhebend, ohne irgend welchen Einwurf zu beachten,
fortdozierte:

»Der Einzelne, meine Freunde, der hervorragende Einzelne, der sich
seiner symbolischen und stellvertretenden Bedeutung für die Menschheit
bewußt ist und an vorgeschobenem Posten heftiger unter dem Druck der
Knechtschaft leidet, als das arme dumpfe Volk, -- nun dieser Einzelne,
als der ich mich fühle, wie jeder unter uns im Namen der Menschheit sich
fühlen sollte, -- hat der nicht ein Recht, aufzuatmen, wenn irgendwo der
Wille zur Freiheit seine Ketten sprengt und hervorbricht, um sich
auszubreiten wie ein fressendes Feuer?«

»Aber was ist Freiheit?«

»Lieber Huber, Sie sind der Mann der skeptischen Seufzer! Was ist
Schicksal? fragten Sie neulich ...«

»Wir sollten,« ließ sich Dorsch, nunmehr ganz verborgen hinter dem
Bollwerk von Madame Mère, mit krähender Kathederstimme vernehmen, »wir
sollten doch weniger über den Willen zur Freiheit als über die Freiheit
des Willens disputieren!«

»Wenn Sie nur Ihren Kant anbringen können! Hier handelt es sich nicht um
die Grundelemente der Vernunft ...«

»Dann freilich ...«

»Sondern um die Bedingungen, unter denen unsere Vernunft sich ihrer
göttlichen Natur erst bewußt werden kann.«

»Ist sie göttlich, so ist sie unbedingt.«

»Mein Gott, Sie wollen mich nicht verstehen. Nehmen Sie einen Menschen
von guten Anlagen, man hat ihn von Jugend aus unterdrückt, seine Kraft
ausgenutzt, sein Blut gesogen, -- was sag ich? -- hat ihn mit Füßen
getreten, ihm alle Bildungsmöglichkeiten unterbunden, ihn nur zu
Fertigkeiten abgerichtet, die sich lohnten, um von der Hand in den Mund
zu leben, hat Belohnungen unterschlagen, die ihm zukamen, -- -- o, meine
Freunde, dies ist ein Gleichnis und ich spreche von dem französischen
Volke, das gewiß nun bald dazu kommen wird, über die Freiheit des
Willens nachzudenken, nachdem sein Wille zu dieser Freiheit sich einmal
manifestiert hat.«

In das betretene Schweigen hinein, das auf diesen Ausbruch folgte, sagte
Madame Mère angstvoll:

»Der Herr Geheimerat glaubt aber doch nicht, daß wir in unserm
Deutschland ähnliche ^horreurs^ erleben könnten wie in Paris?«

»Ach, ^chère maman^, dazu sind wir Deutschen doch viel zu geduldig und
langweilig!«

»Silence, Dorothée!«

Frau Forkel ließ eine unehrerbietige Zunge sehen, kicherte und knackte
weiter Nüsse auf, mit denen sie ihre Nachbaren Huber und Dorsch
versorgte.

Therese, mit einem starren Gesichtsausdruck auf diese vergnügte Gruppe
am Tischende ihr gegenüber blickend, sagte langsam, als machte das
Sprechen ihr Mühe:

»Und wir Deutschen lassen Worte das Handeln ersetzen und die Schwärmerei
ins Große löst den Willen zur Tat ab ...« Sie hob die Tafel auf. Im
Nebenzimmer, dem Zimmer des grünen Kanapees und des Mahagonibureaus,
stand die neue gläserne Servante, deren Inhalt bewundert werden mußte.
George schloß auf und holte mit zärtlichen Händen die Figur der Chinesin
aus der Berliner Porzellanmanufaktur heraus.

»Lassen Sie sehen, Freund!« Dorsch, mit der Stielbrille vor den Augen,
tänzelte angeregt näher. -- »Ah, diese satten Farben, dieser sanfte
Schmelz! Vortrefflich, exzellent! Eine kostspielige Liebhaberei! Aber
sehr schön! Sehr artig! -- >Sie haben Sauereien geschrieben, Heinse, --
aber sehr schön, sehr artig!< hat unsere Eminenz neulich zu dem
Verfasser des >Ardinghello< gesagt, -- ha ha!« Er blickte
beifallsfreudig in die Runde. Huber machte ein hochmütiges Gesicht. Eine
dünne kleine Stimme wurde plötzlich hörbar und übertönte klagend die
Unterhaltung, die Professorin Dieze erhob lauschend den Zeigefinger und
Madame Mère, neben ihr auf dem grünen Kanapee, nickte gerührt:

»O, -- die jüngste Demoiselle!«

»Ich sehe, was es gibt!«

Huber hatte mit einem beruhigenden Lächeln über die Schulter zurück das
Zimmer verlassen, noch ehe Therese sich hatte erheben können.

»Ein brauchbarer Page,« bemerkte Frau Forkel irgendwo in die Luft
hinein.

»Sie haben wohl einen recht angenehmen Hausgenossen an ihm?«

Madame Mère hatte Blick und Haltung eines Großinquisitors.

»Er liebt die Kinder so, -- o, ich danke Ihnen, mein Lieber, -- Lise ist
in der Kammer, sagen Sie? Ja, ich danke Ihnen -- und -- wollten Sie
nicht mit Fiekchen noch ein wenig musizieren?« --

George, mit Wedekind, Sömmerring und Dorsch am Spieltisch sitzend, hob
den Kopf, als Huber begann, auf dem Spinett zu präludieren. Fiekchen
hielt den kleinen Göttinger Almanach in der Hand, das herausgetrennte
Notenblatt stand vor Huber. Und Fiekchen sang:

   »O Jüngling, warum liebst du mich?
   Wie gern, wie willig liebt' ich dich, --
   Doch, ach, du kennst mein Los!
   Ich fühl', obschon du mir's verhehlst,
   Nur allzu oft, wie du dich quälst,
   Und wein' in meinen Schoß.

   Ach, ziehe nicht vor meinem Blick
   Den deinen so betrübt zurück
   Und schone meiner Ruh'!
   Oh, wäre dieses Herz noch mein,
   Es sollte dein auf ewig sein
   Und meine Hand dazu.«[1]

[Fußnote 1: »Das Mitleiden« von W. G. Becker, Göttinger Musenalmanach
1788.]

»Hm, -- auch ein Seufzer nach Freiheit!« meinte Wedekind und spielte
aus.

»Zu dem die Demoiselle meines Wissens keinen Anlaß hat, -- ^au
contraire^, sie scheint mir eher der Freiheit müde zu sein,« bemerkte
Dorsch mit einem pfiffigen Blick auf den mürrisch-teilnahmslosen
Sömmerring.

George dachte zum drittenmal an diesem Abend: »Therese sieht so bleich«,
und dachte: »das Wochenbett hat sie allzusehr angegriffen ...« Er
brachte Verwirrung in das Spiel und verlor, weil er die Augen und seine
Gedanken immer wieder zu der kleinen Gestalt hinüberwandern ließ, die da
so hilflos in dem großen Lehnstuhl kauerte. -- --

                   *       *       *       *       *

»Wann habe ich sie denn je genug geliebt?« dachte George und ging leise
durchs Haus, als läge irgendwo ein Schlafender, der nicht geweckt werden
durfte. Seit dem Herbst, -- ja, seit die kleine Claire auf der Welt war,
versicherte er sich, -- war Therese verändert, war in ihrem Wesen etwas
Neues, das ihn ratlos machte und erschütterte, eine Geduld war da, eine
Sanftmut, eine Bereitschaft für ihn, auf die zu hoffen er längst
aufgegeben hatte, -- oh, und er begriff nicht ganz, aber er war namenlos
gerührt, die Tränen kamen ihm zuweilen, wenn er ihr stilles Wirken
vernahm und die kleinen Lieder hörte, die sie vor sich hinsummte. Andere
singen aus Fröhlichkeit, wußte er, Therese singt wohl aus einer
unendlichen Wehmut des Herzens, und weil sie nicht weinen will, -- aber
er dachte nicht weiter, höchstens kam ihm die Erinnerung an die endlosen
Lieder der Wolgaschiffer. Er war sehr krank in diesem Winter, das alte
skorbutische Übel war wieder da und durchwühlte seinen Körper,
ausbrechend in strömenden Katarrhen, schmerzhaften Anschwellungen aller
Gelenke und Migränen, die ihn nahezu erblinden ließen in rasender Pein.
Aber war es nicht gut, sich pflegen zu lassen? Anerkennung zu ernten
dafür, daß man trotz aller Bresthaftigkeit am Schreibtisch saß, dafür,
daß man der Geplagte, der Unermüdliche, der Tapfere war? Sie waren wohl
alle drei ein wenig krank, auch Huber, der so lautlos kam und ging und
so blaß war und still wie der Mond, gar nicht mehr genialisch
hereinstürmte und trüb und wild in den Ecken lehnte wie einst. Es war
fast unmöglich zu denken, daß er einmal bei den Mahlzeiten nicht
dabeigewesen war, fand George, denn es gab nun doch eine Art des
Ideenaustausches, der mit einer Frau nicht zu unterhalten war, so
anmutig und unentbehrlich Theresens Einfälle auch waren. Es gab einen
aufmerksamen Hörer am Tisch, einen, dessen stumme, unbedingte
Bewunderung einstmaliger und gegenwärtiger Leistungen zu einem
Bestandteil der häuslichen Atmosphäre wurde, ohne die nicht mehr recht
zu leben war. Man hatte einen Berichterstatter vom Hof im Hause, der nun
wahrlich das ^theatrum mundi^ aus erster Hand genoß und mit der
Wiedergabe seiner Eindrücke nicht sparsam war; man konnte also den
großen Herren ein wenig in die Karten sehen, und das war außerordentlich
lehrreich. Im übrigen tauschte man seine schöngeistigen Korrespondenzen
aus, und die Briefe Jakobis und Lichtenbergs, Körners und Schillers
boten Anlaß zu den erbaulichsten Gesprächen. Der Ablauf des Tages war
unerschöpflich an Dingen, der Erörterung wert; es war nicht nötig, von
sich selbst zu sprechen. Bisweilen geschah es wohl, daß Huber schon am
Teetisch anwesend war, wenn George, vor Müdigkeit taumelnd, aus seinem
Kabinett herüberkam. Doch da waren die Herren Thümmel und Hermes,
sonderlich aber der Herr Lafontaine mit seinen allerliebsten Erzählungen
von der »Gewalt der Liebe«, oder die unschätzbare Madame Naubert mit
ihren lehrreichen und poesievollen Romanen, zum Exempel dem »Alf von
Dulman«. Dies waren die Herrschaften, die George immer antraf, wenn er
das Zimmer des grünen Kanapees betrat und Huber dort schon am Teetisch
bei Therese fand, und hörte er nicht schon vom Saal her, -- das Zimmer
des immer noch neuen und heimlich sehr geliebten Kronleuchters führte
den Namen eines Saals, -- die monotone Stimme des Vorlesers, so vernahm
er die Töne des Spinetts, an dem Huber saß und leise spielte. Ja, dieses
war gewiß: man hatte sich untereinander wohl vieles zu erzählen, man
hatte sich aber wenig zu sagen. Ein langes Schweigen löste sich zuweilen
in ein Lächeln auf, es lächelte Therese, die vielleicht lange ins Licht
gesehen hatte, und beugte sich wieder über ihre Arbeit, es lächelte
Huber und sah aus wie ein ertappter Knabe, es lächelte dann auch George
vor sich hin. Dies alles war sehr gut, fand er. Denn was konnten
Menschen einander Besseres erweisen, als sich so zu schonen, wie sie es
gegenseitig taten, miteinander den Weg zu gehen, den weiten, weiten Weg,
und über die Beschwerden des Tages hinweg nach dem verborgenen Ziel zu
spähen? --

So war der April gekommen, und sichtbar über den Horizont stieg die
Verwirklichung eines Projektes, das seit Monaten in Briefen und
Unterhaltungen hin und her gewendet, nach allen Seiten erwogen und
vorbereitet worden war, des Planes einer Reise in die Niederlande, nach
England und nach Frankreich, auf der George als Mentor den jüngeren
Bruder Wilhelm von Humboldts, Alexander, begleiten sollte. Es war
unmöglich, die Vorzüge einer solchen Reisemöglichkeit für ihn zu
übersehen, indessen ward George nicht müde, sie immer von neuem
aufzuzählen, als müßte er sich verteidigen, daß er an solche
Unternehmungen dachte, allein und ohne die Absicht, Therese mitzunehmen.
Jedoch, die Kinder, -- nicht wahr? Und die in diesen Zeiten nicht wieder
einzubringenden Kosten, die den Luxus einer bloßen Vergnügungsreise
verboten. Er hingegen, er flog eben aus, wie die Biene, die Honig sucht,
Beobachtungen, die Stoffe zu ganzen Büchern enthielten, würde er
einsammeln, an Ort und Stelle Eindrücke der großen französischen
Umwälzung einheimsen, in den Londoner naturhistorischen Kabinetten die
notwendigsten Studien zu dem großen Werk über Pithekologie machen, das
er mit Sömmerring dann alsbald in Angriff nehmen würde, einem
epochemachenden Werk über die Verwandtschaft des Menschen mit der
Tierwelt ...

»Und das ^Descriptio Plantarum^? Und die Geschichte der Südseeinseln?«
hatte Therese bei der Erwähnung dieses Reisezweckes einmal ganz
beiläufig gefragt.

Dafür würde er Verleger und Unterstützung in London eher finden als in
Deutschland, und nur der Aussicht auf eine erfolgreiche Drucklegung
bedürfe es noch, um dieses Buch zur Kristallisierung zu bringen, da denn
sein Material längst fertig daläge! Ob sie etwa geglaubt hätte, er ließe
dies Lieblingskind seines Geistes einfach fallen? O, sie hatte gar
nichts geglaubt, -- sie hatte nur so gefragt. »Und warum dieser
Seufzer?« Aber sie hätte wirklich nicht geseufzt, ihres Wissens nicht,
-- sie hätte nur an den alten Herrn, an seinen Vater denken müssen. Und
George, weit entfernt davon, den Gedankengängen nachzuspüren, die von
seinen Projekten zu dem König Minos geführt hatten, sagte eifrig: »Du
hast recht, -- auch um seinetwillen ist es von Wichtigkeit, daß der Name
Forster in London wieder genannt wird und an die Gewissen schlägt!«

»Ja, hoffst du denn immer noch?«

»Mein Kind, der, der sich seines Rechtes bewußt ist, hofft nicht, er
weiß!« -- -- --

                   *       *       *       *       *

Am Nachmittag des ersten Mai kam der kurfürstliche Leibarzt Geheimer Rat
Hofmann dem in Begleitung des Legationssekretärs Huber gemächlich die
Tiermarktstraße in der Richtung der Großen Bleiche hinaufschlendernden
Hofrat Forster entgegen, grüßte und sagte mit dem Pathos des ironischen
Plebejers: »Ich bin gewürdigt worden des Anblicks von _Ihrer_ Eminenz,
der Baronin von Coudenhoven. Sie saßen mit Erlaucht der Gräfin Ingelheim
in einem karmoisinroten Staatswagen, wurden von vier fetten
Apfelschimmeln gezogen und geruhten nicht, den Staub zu ihren Füßen zu
bemerken, welch selbiger doch eine gewisse Vertrautheit mit jedem
Hühnerauge dieser Füße nicht verleugnen kann. Ich bin gewürdigt worden
des Anblicks so vieler Schönborns, Bassenheims, Eltzens, Greiffenklaus,
Wolffs, Dünewalds, daß meine geblendeten Augen schmerzen und ich nun
wahrlich überzeugt bin: der Frühling ist da -- denn ein hoher Adel fährt
wieder spazieren!«

»Die erste Piroutchade!« rief Huber mit hochgezogenen Augenbrauen
vergnügt und spähte nach der Großen Bleiche hin, wo an der Mündung der
Tiermarktstraße vorüber ein ungemein buntes Gedränge von Menschen und
Wagen sich schob. Pünktlich mit dem ersten Mai nahm die Hofgesellschaft
den angenehmen Zeitvertreib der Korsofahrten wieder auf, und eine
schillernde Schlange von Karossen, Piroutchen und englischen Kutschen
wand sich die schönste und breiteste Straße der Stadt hinauf und
hinunter, während die promenierende Bürgerlichkeit den Vorteil dieser
großen Modeschau und der Musik der beiden Kapellen genoß, von denen die
eine im Schloßgarten, die andere auf dem Münsterplatz unverdrossen blies
und fiedelte. »Die erste Piroutchade!« sagte Forster mürrisch, »also ist
die Große Bleiche nicht passierbar!« Er machte auf dem Absatz kehrt.

»Ich meine doch, wir sollten versuchen, hindurchzukommen!« Huber blickte
zögernd zurück. »Wir vermeiden den Umweg und -- es ist ein so heiteres
Bild ...«

»Ersparen Sie es mir! Nehmen Sie an, das Gedränge sei meinem
schmerzenden Kopf zu viel.«

»Nehmen Sie an,« fuhr er fort, nachdem er den Stock heftig aufsetzend
ein paar Schritte getan hatte, »ich ertrüge diesen Anblick des
Müßiggangs im großen jetzt nicht. ^Vulgus stultum^ freilich betrachtet
so ein Schauspiel als sein gutes Recht, -- er ernährt den Adel und will
das prächtige Tier, das er sich hält, nun auch einmal in Freiheit
dressiert vorgeführt haben.«

»Ihre Hypochondrie, Verehrter, läßt Sie die Sache sehr schwarz sehen
oder schwerer nehmen, als sie es verdient. Reisen Sie! und reisen Sie
bald! Das ist mein Rezept für Ihre Grillen.«

Hofmann, den Bambus zwischen den auf dem Rücken gefalteten Händen,
schritt breit, aufrecht und schmunzelnd neben dem Gebückten. Sie
überquerten den Tiermarkt und schlugen die Richtung zum Dom ein. »Ich
kann gleich ein paar notwendige Kommissionen machen,« sagte George
tonlos zu Huber, und wischte sich die Stirn ab, »wenn man doch einmal
unterwegs ist ...«

»Unsere braven Kurmainzer zumal,« dröhnte Hofmann weiter, »fassen die
Sache nicht anders als im wackeren Untertanenverstand auf und finden es
natürlich, daß der Fürst wie ein Fürst lebt und der Bürger als Bürger.«

»Sie haben da eine recht moderierte Anschauung. Sollten Sie bei Ihrer
exponierten Stellung noch nie unter dem Undank der Großen gelitten
haben? Was sagten Sie soeben von -- Ihrer Eminenz, wie Sie so witzig
bemerkten? Und Seine Eminenz -- ^il a le besoin d'être ingrat^, hörte
ich raunen. Denken Sie an Müller ...«

Müller war nach einigen Auftritten mit dem Kurfürsten, die der
Öffentlichkeit nicht entgangen waren, drauf und dran gewesen, aus dem
Kabinett auszutreten und nur mit Mühe bewogen worden, zu bleiben, -- wie
es verlautete, durch den Einfluß seiner schönen Gönnerin von
Coudenhoven.

Hofmann, stirnrunzelnd, erwiderte nachlässig die Grüße einer
Studentengruppe, um gleich darauf den Hut sehr tief und devot vor einem
Offizier in goldüberladener Uniform zu ziehen, der mit einer kurzen
Gebärde abwinkte.

»Der Baron Erthal hat, seit er den Kurhut errungen, der Welt nicht nur
zwei Gesichter gezeigt, wie der hochselige Janus, sondern mindestens
deren sechs. Als er antrat, nannte das Volk ihn nicht unbegründet >das
fromme Herrchen<, sobald er aber fest im Sattel saß, fing er an, die
Masken nach Bedarf zu wechseln, und heut ist er imstande, Ihnen etwas
daherzufreigeistern, daß einem Maul und Nase offenstehen bleiben. Der
alte Emmerenz Joseph, das war ein anderer Kerl ...«

Der Geheime Rat Hofmann tat bei diesen Worten einen unerwarteten Schritt
zur Seite und war auf einmal nicht mehr vorhanden. Forster, verwirrt um
sich blickend, gewahrte einen knienden Mann, einen gebeugten breiten
Rücken, darauf der schwarz umwickelte Zopf lag, ein unbedecktes Haupt:
hinter vorangetragenem Kruzifix, von weihrauchfaßschwenkenden Chorknaben
umgeben, war ein Priester mit dem Allerheiligsten aus einer Seitengasse
gebogen. Die Fußgänger wichen zur Seite, Damen, Bauern neben ihren
Gemüsekarren, Kinder, Soldaten, Bürgersfrauen sanken am Straßenrand hin
wie niedergemäht.

»Schabbesdeckel runner! Verfluchter Jud!« rief ein Schusterjunge hinter
Huber und Forster drein.

»Ich muß zum Buchbinder Chulmann, auch zum Sattler Hebensperger,« sagte
George leise und nervös, »was meinen Sie, Therese wird ungeduldig werden
im Gärtchen? Wollen Sie vorangehen? Ach nein, verlassen Sie mich nicht,
allein bin ich den leibärztlichen Opinions nicht gewachsen.«

Er nahm Hubers Arm, fast als wollte er sich stützen.

»Und da kommt sein Namensvetter ...«

Sie tauschten eine zeremonielle Begrüßung mit dem Professor der
Geschichte Hofmann, der, im langen blauen Schoßrock und hohen
Schaftstiefeln, kurz, breit und stämmig, von einigen Schülern umgeben,
aus der Richtung der Universität her ihnen entgegenkam.

»Erthal, wollte ich nur sagen, ist von einem Kaliber mit dem starken
Mann von Lüttich, für den unsere braven Burschen sich nun bald die Köpfe
blutig schlagen lassen dürfen,« sagte der Leibarzt ein wenig schnaufend,
sie wieder einholend und auf einen Trupp Soldaten in feldmarschmäßiger
blauer Montur deutend, die, von einer Übung auf den Schanzen kommend,
die Beine ungeheuer mutig gen Himmel warfen.

»Haben Sie einmal preußisches Militär gesehen, -- Infanterie des alten
Fritz? Ich kenne nun doch die Soldateska aus mancher Herren Länder, aber
das Bild, wenn die Wache unter den Linden in Berlin aufzieht, wird
nirgends annähernd erreicht. Fleischgewordene Kantsche Philosophie ...«

»Und doch schickt Preußen die Pfaffensoldaten gegen Lüttich vor!«

»Hach, mein Lieber, das ist Politik! Zudem -- es ist nicht mehr das alte
Preußen! Denken Sie daran, wie die Liga Wöllner und Bischofswerder den
Berliner Hof unterwühlt und reden Sie nur wieder vom Zauber der Kirche,
der erhalten bleiben müßte, wie neulich!«

»Sie haben mich wieder einmal so gründlich mißverstanden!« Huber geriet
in sanfte Erregung.

»Sie meinen, das wären keine Pfaffen? Oh, mein Freund! Ihnen fehlen da
Einblicke! Das sind die Pfaffen in der Potenz!«

Mitten auf dem Fruchtmarkt blieb Huber stehen und rief mit einer
beschwörenden Bewegung: »Hören Sie mich an! Lassen Sie es mich noch
einmal auseinandersetzen!«

»Die Herren müssen gestatten, daß ich mich verabschiede! Ich habe
Dienst.« Hofmann schwenkte den Hut und steuerte mit großzügiger
Eindeutigkeit auf ein kleines Kaffeehaus im Schatten des Domes zu. Huber
redete leidenschaftlich: »Ich sprach davon, daß wir in Tagen des
gestörten Gleichgewichtes leben, des gestörten Gleichgewichtes zwischen
Macht und Masse. Zwischen diesen beiden Schalen der Wage hat der Geist
den Ausschlag zu geben, und wir, wir freien Männer vom Geist sind es,
die ebensowohl die Rechte des Volkes gegen die Machthabenden, als jene
Macht der Regierenden und der Kirche gegen die unverständigen Anläufe
des Pöbels in Schutz nehmen müßten ...«

»Jawohl, -- und Sie sprachen vom Zauber der Kirche. Fabelei, mein
Lieber!«

»Lassen wir diesen Punkt. Immer, wo Macht und Masse einander glücklich
und gleichmäßig durchdrangen, hat der Geist vermittelt. Es gab solche
Zeiten. Ihr Niederschlag liegt in den Werken der Künste vor uns und
zeugt von dem gesunden Verhältnis der Volksschichten untereinander. Ich
wüßte nicht, wo das besser zu observieren wäre, als in einer Stadt wie
Mainz!«

Er ließ seinen schwärmerischen Blick von dem zierlichen Tempelbau der
Domprobstei zärtlich hinüberschweifen zum Dom, der rötlich angestrahlt
von der sinkenden Sonne war. Sie gingen weiter. Forster, nachdem er für
eine Minute die Universitätsbuchhandlung am Speisemarkt betreten hatte,
fand beim Herauskommen den Freund gleichsam mit neugeschwellter Brust
und bebend wie ein ungeduldiges Roß vor, seufzte ein wenig und ergab
sich in die Rolle des Zuhörers. Vorüber an den Gemüse- und Blumenständen
des Marktes gingen sie durch die Schuster- und Quintinsgasse zum Brand,
unter den grauen und rötlichen Häusern mit den geschweiften Giebeln hin.
Über den geschnitzten, messingbeschlagenen Haustüren flammten
durchbohrte Herzen, glühten in Nischen hinter schmiedeeiserner
Vergitterung rubinrot die Geheimnisse der ewigen Lämpchen. Goldene
Heilige von aufgeregter Inbrunst rangen an den Eckhäusern in der Höhe
des ersten Stockwerks Beterhände unter kleinen Schutzdächern, -- da war
am Brand die Maria, überschattet von der Taube des Heiligen Geistes,
hingebend wie eine Leda, und doch anders, schmerzlicher, -- Gottvater
von oben sah so ruhevoll zu. George dachte fremd: »Dies alles ließe sich
beschreiben etwa wie die Szenerie einer Südseeinsel« und -- »Wie, wenn
ich nun Bilder aus den Niederlanden, aus England und Frankreich so
schriebe, als stellte ich in Europa unerhörte Dinge dar, nie erblickte
Wunder, -- wir haben das Sehen verlernt, das ist wahr!« und hörte
währenddem Huber begeistert reden:

»Auf diesem Boden haben alle Volksschichten die Denkmäler ihres schönen
und gesunden Einvernehmens hinterlassen, -- in Kürze gesagt: hier hat
das Volk als Begriff einer höchsten Einheit sich wundervoll und
allseitig manifestiert. Fürsten und Geistlichkeit, -- oder drücken wir
es so aus: fürstliche Geistlichkeit, es mag seine Vorzüge haben, wenn
diese beiden zusammenfallen, -- Adel und Bürgertum haben in ihren
Palästen und Wohnhäusern, in Kirchen und Zunfthallen, in den schönen
Toren und Brunnen, in der geistvollen Anlage der Festungswerke die auf
lange Zeit hinausredenden Zeugnisse für ein heiteres In- und
Miteinanderwirken niedergelegt. Dies alles ist freilich Vergangenheit
...«

»Sie meinen also ungefähr, es sei ein chemischer Prozeß im Gange, der
die Elemente von Macht, Masse und Geist voneinander schiede und sie
isolierte ...«

»So daß der heutige Zustand das vergebliche Bemühen der drei Faktoren
bezeichnet, sich neu zu durchdringen, -- und die Irrwege des Geistes,
der fortwährend Verbindungen eingeht, die das Gleichgewicht, anstatt es
wieder herzustellen, nur noch mehr stören. So meine ich es!«

»Sehr gut! Sehr gut, in der Tat! Denken wir uns diese Bemühungen des
Geistes in den Anstrengungen des edlen Mirabeau verkörpert, so ist Ihre
Theorie glücklich illustriert. -- Aber hier sind wir bei Hebensperger.
-- Nun, Meister, was ist mit meinem Mantelsack, ich brauche ihn in
wenigen Tagen!«

»Gehorsamer Diener den Herren, ganz gehorsamer Diener!«

Im grünen Schurzfell, umwittert von herbem Ledergeruch und den Gerüchen
nach Lack und Wagenschmiere, kam der Eifrige die Stufen von der Haustür
herunter.

»Da steht man nun und sieht nach dem Himmel und freut sich über das
Wetterle, Gnaden, Herr Hofrat, der Petrus ist halt ein guter Mann und
weiß, daß der neue Staatswagen vom Hebensperger in der Piroutchade
mitfahren tut. Mit Ihro Gnaden der Frau Gräfin von Ingelheim, Herr
Hofrat! Auf englischen Federn, Herr Hofrat! Karmoisinlack und
vergoldetes Gestell, goldfarbener Samt auf den Polstern -- und karmoisin
Blümchen, -- man tut vor lauter Vergnüge lache, wenn man den Wagen sehen
tut! Aber halten zu Gnaden, Herr Hofrat, wenn ich der Herr Hofrat wäre,
mit dem Mantelsack tät ich doch keine Reise mehr tun! Da hätt' ich
Auswahl auf Lager, -- englisches Leder, Herr Hofrat! Wenn der Herr
Hofrat sich einmal hereinbemühen täten ...«

George sagte errötend und schnell: »Gleichviel, wie das Ding aussieht,
Meister! Ich kann nicht ohne es reisen. Flick Er den Schaden aus und
schick Er mir auch den Koffer in zwei Tagen!«

»Wenn der Herr Hofrat befehlen ... Aber da hat der Lehrbub im Futter
etwas gefunden, vielleicht ein Souvenir, -- sieht freilich aus wie eine
geweihte Münze ...« Er lief ins Haus und kam mit einem kleinen
Gegenstand zurück, den er in Georges Hand gleiten ließ, -- ein rundes
Metallplättchen mit verwischtem Gepräge. Huber beugte sich interessiert
darüber.

»St. Patrick, ^ora pro nobis^!« las er, -- »wie kommen Sie zu Irlands
Heiligen? Ein zeitgemäßer Schutzpatron, allerdings, denn: die
Freiheitsliebe der Irländer wird immer lauter, -- wo stand das doch
neulich gleich?«

George, in tiefes Sinnen versunken, reichte Larrys Souvenir an Toghiri
dem Meister zurück: »Lasse Er es wieder einnähen, Meister,« sagte er
langsam, -- »es gehört wohl dazu ...«

Der Wackere blickte ihm kopfschüttelnd nach:

»Irgendwo spinnen tun die Ketzer doch alle ...«

»Aber nun wollen wir eilen!« George straffte seine Gestalt und schlug
eine schnellere Gangart an. Die späte Nachmittagsstunde äußerte ihre
Wirkung in seinem Befinden, ohne daß er sich klar darüber wurde, er
pflegte erst gegen Abend völlig zu erwachen. Vom Rhein her kam ihnen der
Wind angenehm fächelnd entgegen, George konnte es auf einmal nicht
erwarten, Wasser zu sehen. Sie durchschritten das Tor beim eisernen Turm
und George nahm den Hut ab, als grüßte er die stille Majestät des
Stromes, die wimpelfrohe Fahrt der Schaluppen, Lastkähne und
Segelschiffe, die ernste Lieblichkeit der Auen und drüben das
sehnsüchtige Blauen der Taunusberge. An die Brüstung der
Raimondi-Schanze gelehnt sprach er zaudernd, als suche er die Worte in
seinem Gedächtnis zusammen: »So sollte man wohnen, -- so, -- einen Strom
vor den Fenstern, den Tanz der Möwen, das Schwanken der Rahen vor Augen,
-- es wäre ein Surrogat der Meeresferne, der Reise ...«

»Und Träume eine Ablösung des Handelns, würde Therese sagen, -- nicht
ich, mein Teurer!« ergänzte Huber, verlegen lachend.

»Sie ist von ungeheurer Spannkraft, von rätselhafter Energie, Huber,
nicht wahr? Es ist nicht immer leicht, ihr zu genügen, aber geben Sie
acht! Lassen Sie mich nur erst zurück sein!« Er schob den Arm wieder in
den des Freundes, sie gingen dem Gartenfeld zu, wo Therese mit den
Kindern sie in dem kleinen Mietgärtchen erwartete. George pfiff den Ruf
der Schiffer auf dem Strom nach, inbrünstig und falsch. Reiseunruhe
zuckte ihm im ganzen Körper.

Als sie in den Heckenweg einbogen, räusperte Huber sich. »Sie wünschen
also nicht, lieber Forster, daß ich mir für die Monate Ihrer Abwesenheit
ein anderes Logis suche? Oh, mein Gott, Sie sehen mich erstaunt an, --
es könnte doch sein, nicht wahr, es wäre doch möglich, daß Ihre Güte es
nicht selbst fordern wollte, und dennoch, der Wunsch Ihres Herzens wäre
mir Befehl ...«

Er verwirrte sich unter dem stillen Blick des anderen.

»Mein Freund, -- ich verstehe Sie nicht,« sagte Forster langsam.

Das Röschen sprang ihnen jubelnd entgegen, die Magd kniete auf einem
Beet und schnitt Spinat, Therese saß in der frisch umgrünten
Bohnenlaube, die kleine Claire an der Brust, und lächelte ihnen zu. Ach,
dieser Abend lag im wehmütigen Lichte des Abschieds. Dies enge Gärtchen,
sonst von ihm gering geschätzt und vernachlässigt, wie war es traut und
heimatlich, eben weil es eng war! Wie blühten die Apfelbäume und wie
blaute der klare Himmel so rosig-weiß umgittert durch ihr Gezweig! Wie
hatten Kirschen und Stachelbeeren so lobenswert angesetzt, und wie die
Erbsen keimten, wie die Salatstauden standen, -- es war doch ein Staat!
Der Vater würde nun mit dem Schiff wegfahren, das große Wasser entlang,
und in ferne, fremde Länder, erzählte George dem aufhorchenden Kinde,
die warme kleine Hand in seiner und auf den schmalen Pfaden zwischen den
Rabatten spazierend. Bis er wiederkäme, würden die Kirschen rot sein und
vielleicht auch schon aufgegessen. -- »Ich hebe Ihnen welche auf, Papa,
die allergrößten!« beruhigte das Röschen, -- das kleine Clairchen würde
ein viel dickeres Clairchen geworden sein und Röschen würde den Papa am
Ende ganz vergessen haben und nicht wiedererkennen. Das Kind sah
ernsthaft zu ihm auf: »Wird denn so schnell alles anders, Papa?«

»Zuweilen doch, Röschen, zuweilen ...« Er wandte an der Gartenpforte um,
die Gedanken um all die Möglichkeiten plötzlicher Veränderungen
kreisend, die bevorstehen könnten, wenn es ihm denn gelingen sollte,
Gelegenheiten wahrzunehmen. Der Garten war eng, der Garten war traut, --
aber die Welt so weit und das Große noch nicht getan. Und da blickte er
zu Therese hinüber in die Laube und sah sie dort sitzen, das Kind in den
Armen und sah Huber an ihrer Seite und wußte nicht, was er sah und was
ihn so erschreckte. »Sie sehen so -- geborgen aus«, dachte er ratlos und
kam zögernd näher, als Therese rief: »Kommst du denn gar nicht zu uns,
Lieber?« --

                   *       *       *       *       *

Übrigens war es nicht seine Art, einen solchen Augenblick ahnungsvoller
Erkenntnis grübelnd im Gedächtnis zu tragen. Er vergaß ihn in der
nächsten Stunde, und um so schneller und gründlicher, als die
Reisevorbereitungen umfangreich waren und ihn ganz in Anspruch nahmen.
Sein erstes Reiseziel war Aachen, dort bei Jakobi würde er den jungen
Humboldt treffen. Und nun völlig von seiner nächsten Umgebung abgelenkt
im Gedanken an den liebenswürdigen Schüler, der ihn erwartete, schon
empfindend, wie der leere Raum im Wissen und in der Erfahrung des andern
die eigene Fülle, den eigenen Überfluß unwiderstehlich ansog, bereits in
der nächsten bunten wechselnden Zukunft lebend, nahm er es kaum wahr,
daß Therese, stiller noch und sanfter, als sie es in den letzten Monaten
gewesen war, unter dem Abschied unverhältnismäßig litt. Ihr Weinen am
letzten Abend erschütterte ihn. Er saß am Schreibtisch, um noch einige
amtliche Briefe zu erledigen, und fühlte auf einmal, daß sie, die sich
bisher im Hintergrunde des Zimmers mit dem Koffer beschäftigt hatte,
neben ihm kniete. Weiter schreibend tastete er mit der Linken nach ihr,
legte die Hand auf ihren warmen Nacken, spürte das Beben ihres Körpers
und legte erschrocken die Feder hin.

»Was ist dir, Kind?«

Er versuchte ihren Kopf aufzurichten, sie aber preßte die Stirn nur noch
fester gegen ihn, umschlang ihn mit beiden Armen und ließ unter
fortwährendem Weinen minutenlang keine Worte hören, als »Georgie! --
Ach, Georgie! -- Bleibe doch bei mir, Georgie!« so daß er schließlich
ganz ratlos stammelte, es sei doch nun alles vorbereitet und
beschlossen, und er käme doch auch wieder, und sie sei doch hier auch
gar nicht so allein. Ehe er aber dazu kam, die Freunde aufzuzählen, die
ihr in seiner Abwesenheit zur Seite stehen könnten, sagte sie stockend:
»Lieber, lieber Georgie! Laß mich doch nach Gotha fahren mit den
Kindern, zu den guten Reichardts! Ich weiß ja, nach Göttingen ist es zu
weit, und der Vater fand es selber zu teuer, -- aber Gotha, weißt du,
Gotha, das ginge doch und Amalie würde sich so freuen ...«

Da er schwieg, hob sie endlich den Kopf und blickte scheu zu ihm auf. Er
sah gequält vor sich nieder. »Das hätte doch alles langer Hand
vorbereitet werden müssen, Therese. Nun kommst du so in elfter Stunde
... Die weite Reise mit dem kleinen Kind ... Und hier der Haushalt mit
den Dienstboten ... Nein, ich verstehe es nun doch nicht ganz.«

»Nicht, Georgie?«

»Du sollst dich ja auch hier nicht langweilen. Fahr mit Lise und den
Kindern nach Eltville und auf die Auen, so oft ihr wollt, geh einmal in
die Komödie, du vernachlässigst das Theater ja ganz. Lade dir öfters
Leute ein! Ach, und gute teure Freundin, -- ich werde dir ja so viele
Briefe schreiben! Nun?«

Er versuchte, sie lächeln zu machen. Tränen in den Wimpern und auf den
Wangen blickte sie ihn tief, ernst, zweifelnd an. Dann erhob sie sich
seufzend, indem sie sich auf sein Knie stützte, legte den Arm um seinen
Nacken und blieb neben ihm stehen.

»Ich soll also hier bleiben, Georgie, -- du willst es, -- ich soll?«

Er schwieg. Er malte langsam an einer Adresse. Dann sagte er: »Ich weiß
dich hier im besten Schutz der Welt.«

»Etwa in Hubers?« fragte sie schnell.

»In deinem eigenen, Therese, in dem unserer Kinder«, sagte er leise.

Sie sah ihn mit bebenden Lippen an und hob die Hände mit einer hilflosen
beschwörenden Gebärde. Aber sie blieb stumm. --

                   *       *       *       *       *

Er flog also wie beabsichtigt einer Biene gleich durch Brabant und die
Niederlande, das heißt, er war der Reisende mit den offenen Augen, dem
empfänglichen Herzen, das Notizbuch in der Linken, den Stift in der
Rechten. Zuweilen glaubte er wahrzunehmen, daß die Empfänglichkeit des
Herzens vollkommen abgelöst sei durch die Routine des Kopfes, Eindrücke
abzufangen, einzuordnen und zu verarbeiten. Zuweilen glaubte er zu
erkennen, daß nicht eigener, sondern der Enthusiasmus des jungen
Humboldt ihn beflügelte und ihm kurze Stunden des Rausches verschaffte.
Indessen hütete er sich wohl, der Sache auf den Grund zu gehen. In
London, wo man beinahe fünf Wochen verweilte, fühlte er sich auf Schritt
und Tritt begleitet von dem Schatten des Verfassers eines gewissen
Schriftchens, das den Titel eines ^Tableau d'Angleterre^ trug, in den
letzten Jahren auf dem Kontinent ziemlich viel gelesen worden war und
den Anspruch erhob, ein getreues Portrait der königlichen Insel zu sein.
Es war nicht eben von Zuneigung, nicht einmal von Anerkennung, kaum von
Gerechtigkeitsliebe getragen, das Schriftchen, es war geradeheraus
gesagt, eine hämische Karikatur, und es war durchgesickert, sein
Verfasser sei ein Herr Forster, ein Deutscher mutmaßlich, und
wahrscheinlich einer von den Forsters, die mit auf der »Resolution« in
der Südsee gewesen waren. Es half einem gar nichts, daß man das böse
Schriftchen laut für ein obskures Machwerk, ein elendes Pasquill
erklärte. In diesem Schatten also, den der König Minos von Halle aus zu
werfen verstanden hatte, war die Atmosphäre in London trotz der
Junisonne frostig und kalt. Es war nicht ratsam, bei dieser Witterung
den Samen zärtlich gehegter Hoffnungen und Ansprüche neu auszusäen.
England schien Forster sen. und Forster jun. gegenüber ein besseres
Gewissen zu haben als je, ja, es schien sich ungerechtfertigterweise in
dem Bewußtsein zu wiegen, Nattern an seinem Busen genährt zu haben. So
glaubte George durchzufühlen. Da er aber die ganze Zeit über kläglich an
seinem hinfälligen Körper litt, so ist anzunehmen, daß er
überempfindlich war und auch den Einfluß des großen Sir Joe Banks
überschätzte, von dem er an Therese schrieb, daß er die Südsee gepachtet
habe und keinem Buchhändler erlaube, irgendein Werk über diese Breiten
in Verlag zu nehmen, das nicht seinen Namen auf dem Titelblatt trage.
Jedenfalls bestand der Ertrag des Londoner Aufenthaltes in wenig mehr
als in einer Abmachung mit einem großen Bücherjuden, ihm die neuesten
Erscheinungen auf allen Gebieten des europäischen Buchmarktes monatlich
zuzusenden, ein gewissermaßen negativer Ertrag, der vielleicht in etwas
wett gemacht wurde durch die Gewinnung des jungen Mr. Thomas Brand zum
Schüler und Pensionär. Dieser blonde Jüngling mit der Aussicht auf den
Titel und die Würden eines Lord Dacre würde, solange seine Sehnsucht,
Deutsch zu lernen, anhielt, einen lieblichen Strom blanker Guineen durch
das Haus Forster leiten. Aber George war entsetzlich niedergeschlagen,
als er von Dover abreiste. Er ging auf dem Verdeck des Schiffes auf und
nieder, dankte dem Himmel, daß Humboldt in der Kajüte Korrespondenzen
erledigte und er nicht zu sprechen brauchte, und brütete ohne Aufhören
und ratlos und mit gelähmten Gedanken über dieser unfaßlichen
Versteinerung des Herzens.

»Italien,« dachte er, -- »Griechenland, -- Indien!« Ja, der Süden könnte
ihn vielleicht noch einmal verjüngen. Und da war doch ein kleines Glück,
eine wunderlich schöne Perle, die er mitnahm aus England, das war die
Bekanntschaft mit den ^Asiatic Researches^ des William Jones, in denen
jene seltsamen Spekulationen »^On the Gods of Greece, Italy and India^«
standen, verborgene Pforten entriegelnd in den glatten Mauern, die
seit Jahrtausenden die Völker voneinander schieden. Uralte
Stammbaumgemeinschaft erschloß sich: wer zu den gleichen Göttern fleht,
stammt von den gleichen Vätern her. Und diese Offenbarung Deutschland
mitteilen zu dürfen, war das nicht ein Ergebnis seiner Reise, besser als
Gold, -- war nicht jenes kleine Buch in seinem Mantelsack, die indische
Sacontala in der englischen Übersetzung von Jones, die er ins Deutsche
übertragen wollte, ein Fenster in Weltweiten, daß er berufen war
aufzustoßen und so den Deutschen einen alten Horizont zu sprengen? Ach,
für Minuten von Trübsal befreit, vom Aufflammen niedergesunkener Gluten
befeuert, dachte er doch gleich verächtlich und bitter: was fragt
Deutschland nach mir? Deutschland lagert träge am Rand seiner Meere, es
fährt nur aus, um Schellfisch und Hering zu fangen. Noch nicht zu sich
selbst erwacht, ohne Kern und Kristall, will es auch nicht wachsen, sich
nicht dehnen, die Erde erobern und ihr seinen Geist aufprägen.
Deutschland ist froh, wenn es satt wird und Stoff zu Spekulationen hat.
Ob ich ihm den Stoff bringe oder ein Chinese, das ist gleich, sie nehmen
alles aus Gottes Hand. Ich bin kein Engländer, ich bin kein Franzose.
Nicht Volk noch Vaterland braucht mich als Waffe, als Pfeil, als
Handhabe einer Sehnsucht. Was ich tue, tue ich auf eigene Verantwortung,
ein Einzelner unter Vereinzelten. Die Hand am Hut, den flatternden
Mantel eng um sich zusammenraffend sah er zum Horizont. Gut, -- wer
keinen Dank erhält, ist niemand etwas schuldig. Schiffsboden ist mein
Vaterland -- und ^the Rakes of Mallow for ever^! Ein Wandermönch der
Wissenschaft, ein Zigeuner der Forschung ... Er ging mit breit
gestellten Beinen umher und pfiff, das Herz voll Wehmut und Trotz. Auf
einmal sah er, daß Humboldt vorn am Bug stand, die Arme vor der Brust
gekreuzt, den Kopf zurückgeworfen, das unbedeckte Haar dem Winde
preisgegeben. Der und sein Preußen, fühlte er vergrämt. Oh, war das
Neid? Und plötzlich war er ganz erweicht, er wandte sich ab, Entsagung
gab ein Lächeln. Jüngling, flüsterte er vor sich hin, -- oh, Jüngling,
Bruder, Freund -- und Erbe! --

Er nahm aus Paris den Abglanz mit, den das große Feuer der begeisterten
Vorbereitungen zum Föderationsfest in sein Herz geworfen hatte, er sah
von den Höhen von Chaillot aus auf dem Marsfeld ein Volk vom König herab
bis zum Bettler dieses Fest singend zurüsten, auf daß es _schön_
gefeiert werden könne, und so nahm er die Überzeugung mit, daß dies Volk
würdig sei, die Sache der Menschheit zu vertreten. Er sah es nicht, oder
er wollte es nicht sehen, daß dies nicht mehr war, als eine Verkleidung
des alten monarchischen Schäferspiels zu demokratischer
Flötenbegleitung. Er labte sich schwärmerisch an dieser ungeheuren
Idylle, er überhörte den schneidenden Rhythmus des »^Ça ira^« und
schüttelte den Kopf über den schweren Ernst, den er auf den Zügen des
vergötterten Mirabeau lagern sah. Im übrigen hatte er seine Geschäfte,
Besuche und Studienvorsätze mühselig genug unter namenlosem Widerwillen
abgewickelt, gehemmt von Anfällen fürchterlicher Zahnschmerzen und einer
Schwermut, die er ratlos halb mit der Sehnsucht nach dem Meer, von dem
er sich diesmal mit unerklärlichem Leid losgerissen hatte, teils mit dem
Heimweh erklärte, mit dem unstillbaren Bedürfnis nach Therese und den
Kindern, -- mit zwei einander widersprechenden Gefühlen also, durch die
ein Dämon seinen Busen zu spalten versuchte. Er hatte unter diesen
grauen Schieferdächern gelitten wie ein lebendig Begrabener und segnete
jeden Abend, der sich zwischen ihn und jene Stadt legte. In sechs Tagen
gelangte man nach Straßburg. Von Speyer an waren sie nur noch zu Vieren
in der Postkutsche, Humboldt, er, ein Jude, der in Geschäften reiste,
und ein Unbekannter im grauen Habit, der zumeist schlief und sein
Reiseziel nicht verriet.

»Er gleicht dem Herrn Selten aus >Sophiens Reise<,« sagte Humboldt
halblaut zu George, »er sieht ebenso edel und geheimnisvoll aus. Den
Juden hätten wir auch, fehlen nur noch ein paar artige Frauenzimmer, um
die Gesellschaft komplett zu machen.«

Die Juliglut wogte glastend über dem Land, die reifen Kornfelder
rauschten golden und schwer, die Obstbäume, überladen mit Frucht, ließen
die Äste bis zur Erde hängen. Der Jude, mit unermüdlichen Mausaugen
alles abschätzend, was irgend Handelswert haben konnte, und
zwischendurch seine Reisegefährten beobachtend, begann alsbald, den
Kurfürsten von Mainz über die Hutschnur zu loben, ihn einen weisen
Herrn, einen gerechten Herrn, einen Herrn, der nicht verachtete die
Handlung und das Geschäft, zu nennen und dabei George so listig
anzublinzeln, daß dieser keinen Zweifel hatte, einen Mainzer Stadtjuden
vor sich zu haben. »Gott Israels! Wie blüht sein Land! Wie mehren sich
seine Güter!« Da er nun von den Reichtümern des Domkapitels überging zum
Glanz des kurfürstlichen Hofes, sich erstaunlich vertraut mit allerhand
innerpolitischen Mainzer Vorgängen zeigte, zum Exempel mit der
Entlassung des Geheimen Hofrats Müller, zu der es ja nicht gekommen sei,
-- »Gott sei's getrommelt und gepfiffen! Taugt er sich mehr, der Herr
von Müller, als alle Dalberg, Albini und Sickingen zusammen!« -- da er
sodann anfing, die Universität zu loben, »die grausam grauße
Gelehrtenschul« und wieder sagte, der kurfürstliche Herr sei so
tolerant, beschützte die Ketzer und Juden, so war George darauf gefaßt,
sich in jedem Augenblick bei Namen genannt zu hören und im Hinblick auf
den Reisenden in der Ecke, der soeben einmal erwacht war und ärgerlich
den pulverigen Staub von seinem Rock abklopfte, erwartete er die Lüftung
seines Inkognitos mit einer gewissen lustvollen Spannung. Denn Journale,
ja Journale las die ganze deutsche Welt, -- und wer war da noch nicht
auf den Namen George Forsters gestoßen, -- wenn er ihn denn sonst nicht
kannte? Indes verließ der Jude sie plötzlich in einem größeren Dorf, wo
sie kurze Rast machten, nicht ohne beim Abschied auf seinen Packen zu
klopfen und George zuzuraunen: »Wenn die Frau Gemahlin einmal hat Bedarf
in feine und andre Tücher, einfärbig und meliert, in der Wolle gefärbt,
-- frage der Herr Hofrat nur nach dem Isaak Bär aus Weisenau, -- kennt
ihn jedes Mainzer Kind und weiß, der Bär kauft ein mit Profit und
verkauft zum eigenen Schaden.«

Der Fremde aber erwies sich bald als ein Armeelieferant aus Wien, ein
Pole, der in österreichischen Diensten reiste, unzufrieden mit den
Zeitläuften war und Krakau für den besten Ort der Welt erklärte. Und
warum er nicht am besten Ort der Welt geblieben sei?

»Was will man machen, ^messieurs^? Wir Polen haben kein Vaterland mehr
...«

Über Wilna und Wien, -- nein, der Fremde las augenscheinlich keine
Journale und hatte keine Beziehungen zur Gelehrtenwelt! -- kam man im
Bogen zurück auf den Juden, da der junge Humboldt sein liebenswürdiges
Gesicht in schwere Falten legte und ernsthaft erwog, warum diese Nation
gleichzeitig solche Wunderblumen hervorbringe wie den Mendelssohn der
»Morgenstunden« und solche Knorze, wie den ausgestiegenen Reisegenossen.
Der Fremde wiegte den Kopf und meinte, hier liege der gleiche
Unterschied vor, wie zwischen den weisen Chassidim in Galizien und den
schmutzigen polnischen Pracherjuden, begann nun ein wenig von den
Chassidim zu erzählen, und am Ende kam man in eine ganz lebhafte
Diskussion über die Eigenschaften des auserwählten Volkes, die den Weg
angenehm verkürzte.

»Und schließlich, -- was will man ihnen vorwerfen,« sagte Alexander von
Humboldt feurig, »bleiben sie nicht Menschen wie wir auch? Sind sie
nicht die besten Untertanen, wo sie Wurzel schlagen dürfen? Was würde
aus uns, wenn man uns das Vaterland nähme, von Ort zu Ort jagte,
ausnutzte, verfolgte ...?«

Der Pole lachte kurz auf. »Wes Brot ich ess', des Lied ich sing'! Was
will man machen, ^messieurs^? _Jeder Heimatlose wird zum Juden!_«

George Forster starrte in die untergehende Sonne. -- -- --

Die ersten kühlenden Atemstöße des Abendwindes kamen vom Rhein her über
die Felder. Es roch nach reifem Korn, nach Staub, nach Leder und
Pferden. Die Kutsche schwankte, das eintönige Geräusch der knirschenden
Federn, der ächzenden Räder, der trottenden Hufe, war so einschläfernd.
Eine Stunde vor Mainz etwa raffte George sich zusammen, machte es sich
klar, daß er nun nachhause kam und sich zu freuen hatte, -- rätselhafter
Druck auf seinem Herzen, der Freude nicht aufkommen lassen wollte! --
bürstete an sich herum, erfrischte Gesicht und Hände mit ^Eau de
lavande^ und sank schließlich wieder in hoffnungsloser Ermüdung
vornübergebeugt auf seinem Sitz zusammen.

Auf einmal fuhr er auf, starrte auf die Straße, blickte verstört um
sich, sprang auf, lehnte sich aus dem Wagenschlag, die Strecke
zurückblickend, die sie gekommen, setzte sich wieder, fuhr mit der Hand
über das Gesicht und lachte.

»Wie man so lebhaft träumen kann! Schlief ich denn überhaupt?«

»Ich weiß es nicht sicher.« Der junge Humboldt hielt mit Pflaumenessen
inne und betrachtete ihn interessiert. »Träumten Sie denn schön?«

George sagte langsam:

»Es kam uns eine Kutsche entgegen. Therese saß darin -- und die Kinder.
Aber das Clairchen schon groß, wie zweijährig. Und noch eine Frau fuhr
mit, die ich nicht erkannte. Ich dachte, wie schön, da sind sie mir
entgegen gefahren! Aber indem fuhr die Kutsche sehr schnell an uns
vorüber, Therese sah geradeaus und niemand sah mich an ...«

Er schüttelte den Kopf und blickte tief beunruhigt auf Humboldt. Der
murmelte verlegen: »Sonderbar? Nun, es war eben ein Traum und« ... er
lächelte, -- »unsere Sehnsucht beflügelt die Imagination.«

»Es war aber ganz anderes Wetter, es war Herbst, -- oder Winter ...«

Der Postillon blies und durch das neue Tor rasselte der Wagen hinein auf
das Pflaster von Mainz.

                   *       *       *       *       *

Gewiß, er wäre auf keinen Fall diesen ersten Abend allein mit Therese
und den Kindern gewesen, auch wenn die biedere Gestalt Sömmerrings im
braunen Schoßrock und die leichtgeschürzte der Madame Forkel in
überblümtem Mousseline da nicht seine Haustür flankiert hätten, wie die
Penaten der Heiterkeit und des Fleißes. Auf alle Fälle wäre Humboldt
zugegen gewesen, da er nun einmal bei ihnen logierte, -- _einen_ Fremden
hätte es also unvermeidlich am Tisch gegeben, trotz des Fernbleibens des
guten Huber, der aus Delikatesse an der ^Table d'hôte^ im Hôtel National
speiste, um das Wiedersehen nicht zu stören. Immerhin hätte sich der
guterzogene Reisegenosse vielleicht früh zurückgezogen, und wenn dann
eben Sömmerring und die Forkel nicht dagewesen wären ...

Aber warum verdarb er sich die erste Stunde der Heimkehr mit solchen
Reflexionen! Hatte Therese diese Gäste zu seiner Begrüßung eingeladen,
so war es geschehen aus demselben Grunde, aus dem sie die Türen mit
Buchs bekränzt und den Abendtisch im Saal mit Rosen geschmückt hatte,
aus dem sie im weißen Kleide mit Blumen in den Haaren ihm
entgegengekommen war, aufgeregt fröhlich und das winzige Clairchen ihm
hinhaltend wie ein Weihegeschenk. Therese freute sich, daß er wiederkam,
Therese lachte, Therese tanzte, Therese feierte ein Fest, -- konnte ein
Fest von Therese ohne Gäste sein? Er ging durch die Räume, das
glückliche Röschen an der Hand, das im gelben rotpunktierten Kleidchen
manierlich einherschritt wie eine junge Dame und zuweilen behutsam zu
ihm auflächelte, -- ja, er lächelte auch, aber warum fühlte er sein
Lächeln schmerzlich wie eine Grimasse? Es gab da kleine Veränderungen in
den Zimmern, die er mit dem Spürsinn seines überreizten Gehirns auf den
ersten Blick wahrnahm, wie die neue Anordnung von Bücherreihen in der
Wohnstube und dies, daß sein Portrait, das von Tischbein gemalte, einen
anderen Platz bekommen hatte und im Saal hing, nicht mehr dem grünen
Kanapee gegenüber. Ja, das mochte ganz gut sein, war es ihm nicht selbst
oft ridikül gewesen, daß er da von der Wand herab sich selber zugesehen
hatte, wenn er hier mit Therese gesessen hatte, abends, auf dem grünen
Kanapee? Freilich, die letzten Monate, da hätte Therese das Bild wohl
hängen lassen können, sich zur Gesellschaft, die Monate, die sie hier
allein gesessen hatte ... Er ging umher, ruhelos, trotz der
Reisemüdigkeit. Waren es diese kleinen Veränderungen, die die Wohnung so
fremd erscheinen ließen? War er zu lange weg gewesen? Ach, die große
englische Uhr im Saal war stehen geblieben, er öffnete die gläserne Tür
und während er aufziehend die schweren Messinggewichte im Gehäuse
emporleierte, fiel sein Blick auf die kleine Scheibe im Zifferblatt,
die, von Mond und Sternen umgeben, das Datum anzeigte. Sie stand auf dem
6. Mai, dem Tag nach seiner Abreise. Machte es ihn denn so mutlos, daß
die Uhr hier geschwiegen hatte, die ganze lange Zeit über, daß er weg
gewesen war?

Lustig, lustig, Therese feierte ein Fest! Hatte er unterwegs etwa
gedacht, er wollte sich früh niederlegen, den schmerzenden Kopf auf
kühle Kissen betten und dann sollte Therese in der dämmerigen
Sommernacht an seinem Bett sitzen und er wollte ihr erzählen und fühlen,
daß er wieder daheim war? Nun, das ging jetzt freilich nicht. Er mußte
hier in guter Haltung den liebenswürdigen Hausherrn spielen, der Forkel
ein wenig die Cour machen und Sömmerring in die ärztlichen Forscheraugen
blicken, ihm Bericht erstatten von den Kollegen in Harlem, in Oxford. Er
hielt nicht still Theresens Hand. Jedoch es hielt Therese seine Hand,
das war ja wahr. In den Essenspausen und als abgespeist war, suchte ihre
fiebrige kleine Rechte seine Linke, die schlaff und müde auf dem
Tischtuch lag, und während Therese über den Tisch hinüber lachende Rede
und Gegenrede mit Humboldt tauschte und mitten darin die Funken ihrer
Heiterkeit in seine Unterhaltung mit Sömmerring sprühen ließ und der
Forkel eine Rose an den Kopf warf und der aufwartenden Marianne zurief:
»Hurtig, Mädchen, der Herr ist wieder da!« -- ja, während der ganzen
Zeit fühlte er sich geliebkost, hastig gestreichelt, hörte sich zum
Essen, zum Trinken ermuntert.

»Bin ich denn auch ein Gast hier?« dachte er in schrecklicher
Benommenheit, -- »was ist dies nur? Was blickt mich Sömmerring so an?«

Er trank hastig hintereinander ein paar Gläser Wein. O ja, nun war er
zuhause! Er legte den Arm um Therese, fühlte das Beben ihrer Schultern
und alle Müdigkeit war dahin. Eine reißende Beredsamkeit entfesseln, die
Holländer loben, die Engländer schmähen, die Franzosen in alle Himmel
erheben, -- Ditters Gassenhauer zitieren und von der göttlichen Miß
Siddons schwärmen, -- aufspringen, die kleine Spieluhr aus Paris mit dem
eingelegten Rosenkränzchen auf dem polierten Deckel herbeiholen, die dem
Röschen mitgebracht worden war, sie aufziehen und das kleine Menuett von
Rameau tränenden Auges mitsummen, -- dann von den indischen Shawls der
englischen Damen fabulieren und Therese anblinzeln, auch von einem
weißen Kreppflor zum Kleide Andeutungen machen und von einem Teppich,
der unter ^The Resolution^ liegen sollte und kleinen Füßen im Winter zur
Erwärmung dienen, -- kurzum, gesprächig sein, munter, munter, und
Humboldt zum Trinken nötigen! Sömmerring, der vertrug das ja nicht, --
aber stand da nicht Huber unter der Türe? »Endlich, endlich, teurer
Freund und Bruder!« Redete ihm Huber zu, doch Platz zu behalten, führte
er ihn zu seinem Stuhl zurück, weil er ein wenig taumelte? Saß dieser
Huber in seinen prall anliegenden Escarpins und im bordeauxroten Frack
nun lächelnd an seiner Rechten und legte die Hand auf seine Schulter,
wie Therese es im gleichen Augenblick an seiner Linken tat, und sagte
sie da nicht mit überschlagender Stimme: »Huber, Huber, wie ist Ihnen?
Da haben wir ihn wieder!« Warum starrte die Forkel so töricht in ihren
Schoß, warum saß Sömmerring so düster da und Humboldt so ratlos? Er,
George, würde jetzt einen Scherz machen, man gebe acht. Er hob den
Zeigefinger: »Huber, Huber, Sie trugen sich doch sonst so dunkel, ei,
ei, sind Sie wie ein Vogelmännchen in der Brunstzeit am schönsten
befiedert?«

Es lacht ja niemand sehr, dachte er, mit schweren Augen in die Runde
spähend, und gleichzeitig: warum übrigens eigentlich Brunstzeit? »Und
singen Sie dann auch?« fügte er zögernd hinzu. Er erwartete durchaus
keine Antwort, gab den Kreiselbewegungen seines Gehirns nach und versank
in ein leeres Vorsichhinbrüten. Endlich wieder zu sich kommend erblickte
er Humboldt mit Sömmerring in angelegentlicher Unterhaltung, sah die
Forkel schläfrig und vereinsamt und hörte über sich weggehen ruhiges
Gespräch zwischen Therese und Huber. »Wenn die Ehemänner des
Mittelalters auf Reisen gingen, legten sie ihren Frauen einen
Keuschheitsgürtel an, zu dem sie allein den Schlüssel besaßen ...« Oh,
mein Gott, hatte er das eben laut ausgesprochen? Nein doch, nein doch,
auf welche Gedanken kam er! Er hatte es nicht gesagt, nein doch, sie
redeten ja alle ruhig fort, er saß da wie im Theater und hörte zu. Aber,
-- nochmals! -- mein Gott, mein Gott! Ich bin doch selber auf der Bühne,
und was ist denn hier nun _meine_ Rolle?

                   *       *       *       *       *

Es war eine Pantomime von fürchterlicher Lautlosigkeit. Dergleichen
erleben wir in Träumen. Vorgänge alltäglichster Art spielen sich um uns
her ab, es lachen Menschen, es trauern Menschen, es tanzen Menschen, sie
winken sich zu, sie gehen Hand in Hand und trennen sich wieder, --
vielleicht pflücken Kinder Blumen und gehen im Ringelreihen, vielleicht
steht irgendwo in einer rätselhaft engen Straße ein Haus in Flammen und
aus den Fenstern beugen sich in Todesangst Gestalten, die wir lieben,
und wir stehen gelähmt in der Ferne, -- holde und doch schreckliche
Masken, die wir nicht deuten können, wandeln an uns vorüber. Es hat
alles eine Beziehung auf uns, eine geheime wahnwitzige Bedeutsamkeit,
auch die geringste Gebärde, das Fallen einer Apfelblüte vom Baum und das
Zerbrechen eines Spielzeugs. Wir stehen und fühlen den Wirbel, der
unsere Ebene mit allem, was unser, ach, _unser_, von _unsern_ Augen,
_unserem_ Schicksalskreis allein bedingter Horizont umschließt,
ergriffen hat, einen Wirbel, so rasend, daß wir ihn empfinden wie
Stillstand, und nur durch den Luftdruck, der uns dem Atem benimmt,
wissen, es geht abwärts, es -- geht unter. Wir stehen und warten auf das
Zeichen, warten auf den Fall der Apfelblüte oder ein ruchloses Lächeln
oder das Nicken eines gigantischen Hauptes, -- auf das Zeichen, das wir
erkennen, auf das hin wir hineinschreiten werden in die stumme
schreckliche Handlung, um unsere Sendung zu erfüllen. --

Durch die innersten Windungen des Labyrinthes führt uns der tödliche
Wirbel der Sinnlosigkeit. --

Riesenhaft und drohend in Unberechenbarkeit wankten die Lenker des
europäischen Geschicks um den äußeren Umkreis der Szene. Mirabeau
versank und mit ihm fiel Bourbon, an ihrer Stelle stieg apokalyptische
Ungestalt, die Souveränität des Volkes. Preußen und Österreich ballten
ihre Macht zusammen. In der Affaire von Lüttich gab es ein
Miniaturvorspiel, eine Ouvertüre, in der alles enthalten war, was die
Zukunft bringen sollte. Die Atmosphäre war mit ungeheurer Spannung
geladen, Funken zuckten hinüber und herüber, irrten ab, erschlugen in
Schweden den König, ließen hier und dort winzige Aufstände aufprasseln
und im grünen gespenstischen Schein des Wetterleuchtens uralte Zustände
fremd und verwest daliegen, wie Tote, die man vergaß zu begraben. Die
Flüchtlinge von Westen mehrten sich und fanden im Kurfürsten von Mainz
einen ^cher père et protecteur^, der seine Sonne aufgehen ließ über
Condé, Artois und allem, was zu ihnen schwur, und der es völlig
überhörte, daß es auch die Bezeichnungen eines ^Abbé de Mayence^ und
eines ^Gentilhomme parvenu^ für ihn gab. Studenten und Zünfte prügelten
sich und altgediente Professoren bekamen blutige Kopfe, die
Pfaffensoldaten, die auf das Volk von Lüttich hatten schießen müssen,
kamen heim und nahmen ihren alten Dienst wieder auf, bei den
Prozessionen und Hoffesten Spalier zu stehen. Die Lesegesellschaft,
zusammengesetzt aus Beamten und Gelehrten, Schullehrern und Kaufleuten,
nährte sich nicht mehr allein vom ^Belles-lettres^-Fach und den
Naturwissenschaften, sondern von Pariser Flugschriften, und im
Universitäts-Kaffeehaus in der Quintinsgasse hob der Kellner Vespery,
der sich selbst gern als einen Polyhistor und Tausendsasa bezeichnete,
den ^Moniteur^ neuesten Datums für seine Günstlinge auf.

Sonst aber, -- noch kein Anlaß, sein Leben zu ändern! --

Es gab für George eine neue, vorteilhafte und vielversprechende
Verbindung mit der Vossischen Buchhandlung in Berlin. Es gab neben der
Ausarbeitung seiner jüngsten Reiseerinnerungen, die dem Publikum
allmählich in drei Bändchen unter dem Titel »Ansichten vom Niederrhein«
dargeboten werden sollten, endlose Rezensionen, endlose
Übersetzungen, endlose, endlose Lohn- und Frohnschreibereien. Es gab
literarisch-politische Erregungen, etwa über Hohlköpfe und
Perückenstöcke, die die Revolution angriffen, wie Herr Girtanner in
Göttingen oder über einen englischen ^fat^, der sein Licht gegen ihre
Schattenseiten leuchten ließ und gegen sie andeklamierte, wie Burke in
London, es gab zuweilen einmal Grund, sich selbst als den Mäßigen,
Klugen, Gerechten zu empfinden, wenn ein Mann wie Schlosser -- oder ein
anderer, -- die Franzosen verdammte, -- gab Gelegenheit, sich als den
Sparsamen, Haushälterischen, Zurückhaltenden zu loben, wenn man
wahrnahm, wie ein Liebling des Publikums, der so vergötterte Goethe in
Weimar, ein Ding auf den Markt zu bringen wagte, wie den »Groß-Kophta«,
ein fades Machwerk ohne einen einzigen Gedanken darin! Nun wenigstens
war George Forster so ausgelaugt noch nicht, wenn schon noch kein
Liebling der Lesewelt. Dies würde bald kommen. Möchten nur die Herren,
die für ihre Mädchen, Läufer, Lakaien und Musikanten oder Poeten (siehe
den Herzog von Sachsen-Weimar!) täglich Hunderte ausgaben, möchten sie
doch nur erst endlich einsehen, daß sie mehr Ruhm davon hätten, wenn sie
einen Gelehrten, dessen Werk ihren Namen durch die Jahrhunderte tragen
würde, dermaßen unterstützten, daß er vom Joch der Tagesschriftstellerei
befreit schreiben könnte, zum ersten: das ^Descriptio plantarum^ der
Südsee, und zum zweiten: die Geschichte der Südseeinseln. Weiteres würde
sich einstellen. Auf der Suche nach solcher Fürstengunst schrieb man
dann an Müller, an Dohm, an Voß, unter ausführlicher Darlegung aller
Schwierigkeiten, mit denen man zu kämpfen hatte, erntete verlegene
Gegenbriefe, Ratschläge und verhüllte Ablehnungen und hatte Anlaß, sich
gegenüber einer ausgearteten Hierarchie und Aristokratie als Glied einer
edleren und besseren Mittelklasse zu fühlen, -- keinen Anlaß, sein Leben
zu ändern.

Wollte der alte Heyne wieder erziehen? Stellte er warnende Beispiele von
verschwenderischen Herren aus Göttinger Universitätskreisen auf, mit
denen es dann schief gegangen war? Von lauter Herren mit Vorliebe für
englische Façons und englisches Mahagoni!? Rang er von ferne die Hände
über Georges politische Ansichten, die doch weiß Gott, sich milde genug
äußerten, und warnte er, warnte er?! Sprach er von »dem Zentrum des
Studierstübchens, von dem aus er ohne zu staunen durch ein klein Fenster
oder einen Ritz das Narrenspiel der Welt mit ansähe«? Oh, wußte denn
dieser alte Mann, was seine Frau Tochter bei ihrem Lilienleben auf dem
Felde verbrauchte und wer im Hause es eigentlich war, der den Ofen des
politischen Enragements nicht ausgehen ließ? Ei, da hatte er Anlaß, vom
Geist hannöverischer Teegesellschaften zu reden und von dem Geist
Englisch-Hannovers im allgemeinen, -- von wo aus sich unschwer der
Übergang bot, auf den Geist Alt-Englands überhaupt zu kommen und auf
alte Geschichten, -- Anlaß somit, sich gründlich auszusprechen, keinen
Anlaß indessen, sein Leben zu ändern.

Gäste kamen und gingen durchs Haus, durchreisende und die alten in Mainz
ansässigen Freunde. Zu dem Kreise um den abendlichen Teetisch gesellte
sich zuweilen August Lux, ein junger Rousseau-Schwärmer, der draußen in
Kostheim sein kleines Landgut bestellte, ein Kind nach dem andern zeugte
und es in seliger Freiheit mit seinen Kälbern und Ferkeln aufwachsen
ließ, -- zuweilen der Ingenieur Eikmeyer, der Ausbauer der
Festungswerke, -- es gab unendliches spekulatives Raisonnement, wozu die
Nachrichten und Gerüchte des Tages mehr Stoff als genügend boten.

Und da war seit dem Frühjahr 1792 Karoline Böhmer, die verwitwete
Karoline, die mit ihrer kleinen Tochter einen Zufluchtsort gesucht hatte
und von Therese mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit nach Mainz
eingeladen worden war. Oh, Therese hatte ein so starkes
Menschenbedürfnis und besaß in Mainz noch immer keine Freundin, denn
Frau Forkel kam nicht in Betracht. Was war also Wunderbares an dem
Wunsch, Karoline in der Nähe zu haben, Karoline, die nun täglich ins
Haus kam und mit der milden Heiterkeit ihres Geistes an allem teilnahm,
was die Freunde betraf?

Jedoch es kam auf alles dieses garnicht an. Auf dem Hintergrund der Tage
voll Arbeit, Krankheit, Mühsal, voller verschlungener Jahreszeiten mit
Blumensprießen, Ernte und Blätterfall, auf dem Hintergrund, in den die
Gestalten der Freunde hineingewebt waren wie wandelnde Gobelinfiguren
und auf den das europäische Geschehen Widerschein und Schatten warf, auf
diesem Hintergrund spielte sich das Folgende ab. --

Es waren zwei zeitlich fast durch ein Jahr voneinander getrennte
häusliche Ereignisse, aber für George schmolzen sie seltsam in eins
zusammen und er vermochte sie später in der Erinnerung nicht voneinander
zu trennen. Sie begannen damit, daß seine Arbeitsruhe gestört war durch
eine Beobachtung, die er sich zunächst nicht eingestehen, die er nicht
wahr haben wollte und vor der er sich in die Bibliothek zurückzog, um
sich dort wochenlang zu vergraben. Immerhin nutzte es nichts, dann bei
den Mahlzeiten und abends bis zum Einschlafen den Gesprächigen zu
spielen, ja den reißend Geschwätzigen, der sich Mitteilungen des anderen
in den kurzen Stunden des Beisammenseins weislich vom Leibe zu halten
wußte, nutzte nichts, wenn man sich leidender gab, als man wirklich war,
und in Haltung und Gebärde die verzweifelte Bitte ausdrückte, einen mit
folgenschweren Mitteilungen zu verschonen. Dies alles ließ sich
höchstens sechs bis acht Wochen durchführen und dann, -- dann kam eben
doch der Abend, an dem es Hohn gewesen wäre, sich dem Augenschein länger
zu verschließen, an dem er übrigens plötzlich von Gewissensangst,
Pflichten versäumt zu haben, tief beunruhigt fragen mußte: »Ist es an
dem, Therese, -- ist es denn wirklich an dem?«

Das Besondere war, daß Therese, die ihn in der Erwartung des Röschens
und der kleinen Claire immer von ihren Hoffnungen unterrichtet hatte,
fast noch ehe sie sich bestimmter Anzeichen erfreuen konnte, ihn bei
diesen beiden Kindern ganz seinen eigenen Ahnungen und Wahrnehmungen
überließ, daß sie die körperliche Anfälligkeit der ersten Monate in
keiner Weise zur Schau trug und ihr Möglichstes tat, durch eine passende
Kleidung den wachsenden Umfang ihres Leibes zu verbergen, so daß er von
beiden Kindern erst erfuhr, als die Mutter ihr Leben schon fühlte und
auch dann erst auf jene Frage hin, die er nicht mehr unterdrücken zu
können glaubte. Dies, so stellte er über seine Arbeit gebückt aber
stundenlang ohne fortzuarbeiten grübelnd fest, dies war Rücksichtnahme
von Therese, ohne Zweifel. Er bewegte den Kopf leise hin und her und
stöhnte, begegnete seitlich blickend, als wollte er vor irgend etwas
ausweichen oder suchte etwas, seinem in der zurückgeschlagenen Scheibe
des offnen Fensters gespiegelten Bilde und starrte erschrocken hin. War
er denn das, der den Kopf so zwischen die Schultern zog, der so scharfe
Falten von der Nase zum Munde hatte, zu diesem in Qual verzerrten und
lautlos geöffneten Munde? Hatte er diese Augen mit der zerknitterten
Stirn, den gewulsteten Brauen darüber, diese Augen voll Abwehr, Argwohn
und Angst? Oh, abgewandt von diesem trüben Spiegelbild richtete er sich
hastig auf, ordnete seine Züge durch ein Lächeln von innen heraus, wie
er meinte, und sagte sich von neuem: Rücksicht war es und Rücksicht
allein, der Wunsch, ihm Zukunftssorgen so lange wie möglich zu ersparen,
Liebe also, für die er zu danken hatte, auf Knien zu danken! Rücksicht
jedoch, hatte er seit seiner Heimkehr aus England gelernt, konnte
fürchterlich, konnte erstickend, konnte zum Fluch werden. Er begriff es
nicht, warum jetzt fortwährend Rücksichten auf ihn genommen wurden, auf
seine Appetite, seine Launen, seine Zeiteinteilung, seine Wünsche über
Kindererziehung, auf sein Befinden, seinen Geschmack in allen und jeden
Dingen, -- daß er fortwährend gefragt wurde, ob er zufrieden sei, ob
er's auch anders haben wollte? Daß das Röschen angehalten wurde, auf den
Fußspitzen zu gehen und nicht zu plaudern, wenn er Kopfschmerzen hatte,
daß das kleine törichte Clairchen dann wenn es schrie in das entlegenste
Zimmer verbannt wurde; daß niemand mehr hinging und auf seinem
Schreibtisch Ordnung machte, was er sich früher zu hundert Malen umsonst
verbeten hatte; daß bei Tisch Gespräche fallen gelassen wurden, wenn er
merken ließ, daß sie ihn verstimmten; daß er so viel angelächelt wurde;
daß die Umschläge, Einreibungen und Medikamente für ihn immer vorhanden
waren. Alles, alles dieses, das er früher entbehrt hatte, bis er die
Entbehrung gewöhnt gewesen war, er besaß es jetzt im Überfluß, er ging
wie auf Watte, seine Wände waren gepolstert, Therese pflegte ihn und
Huber schonte ihn und beide waren so einig darin, daß er geliebt werden
müsse. Sie blickten sich an, und dann kam ein Vorschlag, der ihm Freude
machen sollte, etwa, ob er nicht einmal wieder auf den Abend die Kupfer
zur Südseereise ausbreiten und ihnen erklären wolle, oder die
australischen Muscheln zeigen oder aus den »Ansichten« vorlesen, -- sie
blickten sich an und dann zog sich Huber zurück, und er blieb mit
Therese allein, -- sie blickten sich an, und dann überredeten sie ihn
gemeinsam zu dem oder jenem, wozu er vorher keine Lust gehabt hatte. Und
mit der Zeit blickten sie sich auch garnicht mehr erst an, sondern was
der eine meinte, das sprach der andere aus, sie waren aufeinander
eingespielt, waren in einem Einverständnis der Liebe zu ihm, wußten ihn
zu nehmen, -- oh, und er, anstatt dankbar zu sein, anstatt auf den Knien
zu lobpreisen für das Himmelsgeschenk, das ihm da wurde, er knirschte,
er ballte heimlich die Fäuste, er hätte gerne um sich geschlagen und
Luft gemacht -- und wußte doch, das wäre wie ein Schlag ins Wasser
gewesen oder ein Versinken in Federkissen! Denn sie waren so
unangreifbar freundlich, die beiden, ihre Gelassenheit so unzerstörbar,
so ruhig der Glanz der Heiterkeit auf ihren Stirnen. Und da hatten sie
es nun für gut befunden, ihm vorzuenthalten, daß er wieder Vater werden
sollte, -- oder nein doch, Therese hatte es für gut befunden, es ihm und
aller Welt und somit auch Huber so lange zu verbergen, als es immer nur
anging. Er erklärte es sich ja, er verstand, -- es waren diese beiden
jungen Männer am Tisch, Huber und Mr. Brand mit seiner englischen
Prüderie, da durfte selbst er es nicht wissen, ehe es nicht mehr zu
umgehen war, nur damit er durch Fürsorge und Aufmerksamkeiten die Blicke
nicht auf sie zöge. So war es, redete er sich ein, natürlich, so war es!
Was sollte es auch sonst ...

Oh, Huber war der beste, treueste Freund, er nahm wie ein Bruder an
allem teil, was seine Forsters anging! Er war es, der in den Nächten,
wenn die Entbindungen herannahten, kaum schlief, sich höchstens
angekleidet niederlegte oder stundenlang auf- und niederging, -- man
konnte seine leisen ruhelosen Schritte in der ehelichen Schlafkammer
vernehmen. Er war es, der dann zur Hebamme lief, den weiten Weg durch
die ganze Stadt zum Cöstrich, den des Nachts keine Magd allein machen
wollte, während George am Bette der Leidenden saß, bereit, die erste
Hilfe zu leisten, halber Mediziner, der er einmal war.

Dann waren diese Stunden des Wartens, erfüllt vom herben Duft des
schnell entfachten Holzfeuers im Ofen, das sausend brannte, vom Geruch
nach Fenchel und Baldrian, und unruhig gemacht von der aufgeregten
Geschäftigkeit der Mägde. Da war das Stimmchen eines der Kinder, das, im
Schlaf gestört, klagend weinte und mählich wieder verstummte. Da war
Theresens Flüstern: »daß nur Brand nicht geweckt wird, -- sie sollten
doch leiser gehen ...« und wenn er dann auf den Fußspitzen auf den Flur
gegangen und zur Vorsicht gemahnt hatte, ihr dankbarer Blick und dann
wieder ihre Augen geradeaus gerichtet ohne Ziel oder mit einem Ziel im
Unsichtbaren, bis von neuem die ratlose Angst hindurchflackerte, um
gleich einem Ausbruch unbedingter Entschlossenheit zu weichen, bei dem
die kleinen Hände sich ballten, der Kopf zurückgeworfen ward, der ganze
Körper sich straffte und so dem Krampf der Wehe begegnete. Sie griff
nicht nach seinen Händen, o nein, -- aber warum wagte er es denn auch
nicht, die ihren zu fassen, warum redete er ihr nicht zu, sich
festzuhalten, warum stützte er sie nicht, wie er doch so gern getan
hätte, -- warum saß er hier und starrte aus einer entsetzlichen Ferne
des Herzens hinüber in ihren Kampf? Warum konnte er nicht zu ihr, warum
lag diese undurchdringliche Einsamkeit des Stolzes und der Tapferkeit um
sie her?

»Therese ...« murmelte er erschüttert, wenn es vorbei war, ja, und sie
lächelte ihn an mit einem vergehenden Lächeln von Güte, als sei er es,
der gelitten habe. Er legte die Hand über die Augen.

»Wie lange ist er schon fort?« flüsterte sie.

George sah auf seine Uhr: »Eine Viertelstunde, -- noch ein wenig Geduld
...«

Draußen schleuderte der Wind Regenschauer gegen die Fensterscheiben, --
immer waren dies Frühlingsnächte. Immer murmelte Therese dann etwas wie:
»Daß er nun so hinausgelaufen ist mitten in der Nacht« und »Ist er nicht
gut?« Immer meinte George darauf antworten zu müssen wie auf einen
unausgesprochenen Vorwurf, daß er ja doch auch gegangen sein würde, aber
wer wäre dann bei ihr gewesen? Immer war dann dies unbegreifliche
Lächeln der Güte wieder, die Hand, die seine streichelte und schnell
wieder fortging. Dann hastige kleine Worte über häusliche
Angelegenheiten, -- daß man nicht vergessen möge, den Dachdecker kommen
zu lassen, es regnete oben an einer Stelle ins Haus, die Lise würde
schon wissen. Daß sein, Georges, englischer Castorhut zum Kürschner
müsse, er möge daran denken und keine Visiten mehr damit machen. Daß in
der Bodenkammer im Bettkasten obenauf baumwollenes Zeug zu warmen
Unterröckchen für die Kinder liege und auch Strickgarn für neue
Winterstrümpfchen, -- ach, die Lise wisse ja Bescheid, an die Lise könne
er sich in allen Fällen halten. Während sie von einer neuen Wehe gepackt
verstummte, dachte er, er wisse wohl sehr gut, was sie damit meinte mit
diesem »in allen Fällen«, befand es aber für gut, sich nichts merken zu
lassen. Sie, erschöpft vom Schmerz, flüsterte noch: »Huber bat mich
gestern abend noch, an seinem roten Frack einen Knopf anzunähen,
erinnere doch Lise ...« drehte den Kopf auf die Seite und gab sich
aufatmend einem leichten Schlummer hin, während er nun, die Wange in die
Hand gelegt, reglos in die flackernde Kerze sah. Die sonderbare
Abgelöstheit dieser Stunde aus dem Alltag gab ihm eine Art von
Trunkenheit, ein Gefühl, überwach zu sein, gab ihm die Täuschung, vor
Entscheidungen gestellt zu sein, oh, endlich nackt vor Gott zu stehen,
vor Gott allein. In solchen Stunden schien das ganze Leben
gerechtfertigt und leicht und süß, von heller weiser Lieblichkeit, wie
die Quälereien einer grausamen Geliebten in der Stunde, da sie sich
ergibt. In solchen Stunden war die Erinnerung an den König Minos
zärtlich und ganz ohne Bitterkeit, obgleich dieser König Minos eben in
diesen Jahren wieder begonnen hatte, sich alter Gewohnheiten zu
entsinnen und dem Sohn in jedem Briefe seine Einnahmen nachrechnete, um
sie mit den eigenen zu vergleichen. In solchen Stunden schaukelte George
auf dem Gartenpförtchen zu Nassenhuben und spürte den alten Abendwind
der Kindheit vor der dunklen Nacht und alles, was an dem Wege von jenem
Garten bis zu dieser dunklen Frühlingsnacht gewesen war, lag in dem
verzaubernden Schein der Ahnung mehr noch als im verklärenden der
Erinnerung. Er träumte sich da einen fabelhaften Strom, Schiffe, von
heldenhaften Männern geführt, Meerwunder, unerhörte Vögel, Pisanghaine,
Türme, Paläste, Tore, Säulen, Dome, Minaretts aus edelsteinblauem, von
Feuer durchglühtem Eis. Er war ein sonderbarer kleiner Knabe unter
anderen sonderbaren kleinen Knaben in Deutschland, sie würden alle ihren
Weg machen und im Zauberwald des Lebens große Taten tun und ihre kleinen
knospenhaften Namen würden blühen. Sein Name unter den großen des
Zeitalters, -- er lächelte. Über das in seinen Krämpfen schwer atmende
Weib hinüber dachte er an den Mann, der sich jetzt aus ihrer
Erdverbundenheit zum Lichte rang, -- dachte an einen Sohn aus seinem
Blut und Geist. -- Er schrak auf. Therese, längst erwacht, mit bangen
wandernden Augen und in Bedrängung ächzend, hatte geflüstert: »Da kommt
er, Gottlob!« Hatte er die Haustür überhören können? Schritte kamen die
Treppe hinauf, da waren Stimmen ... »Ja, sie ist es!« sagte er erlöst
und indem er der Wittib Schippel seinen Platz am Bett einräumte, gab er
sich selbst in Hubers Freundeshände. Und Huber war der beste sorgende
Freund, er ließ Kaffee bereiten, er machte für den Todmüden ein Lager
auf dem grünen Kanapee zurecht. George, nun wirklich in Halbschlaf
versinkend, erblickte in den Pausen seiner Betäubung immer wieder den
langen gebeugten Schatten des andern, der lautlos durch das Zimmer
wanderte, stehen blieb, wenn das Jammern der Leidenden anschwellend
herüberklang, -- diesen Schatten im Zwielicht der abgeblendeten Kerze,
der Seufzer ausstieß, die Hand über die Augen legte, stöhnte. »Mein
Huber hat ein weiches Herz«, dachte George, flüsterte es sich innerlich
eifrig und schnell zu, und beobachtete den andern durch halbgeschlossene
Lider unablässig, die Knöchel der ganz verkrampften Hand gegen die Zähne
gepreßt. »Mein Huber hat ein weiches Herz, das fremde Leiden rührt ihn
allzusehr, -- mein Huber hat ein gar zu weiches Herz ...«

»Huber! Es ist eine Tochter!« sprach er, gegen Morgen aus der
Wochenstube tretend, -- aber süßer klang es ihm selbst im April 1792,
als er mit den Worten, -- nun, Worten, die er im Überschwang des
Augenblicks nicht abgewogen hatte! -- an die Brust des Freundes sank:

»Mein Huber! Wir haben einen Sohn!«

Und Huber, -- oh ja, er hatte wohl ein weiches Herz, er hatte
mitgelitten, aber nun schluchzte er vor Freude und dann lachte er wie
geschüttelt, die Arme um Georges Schultern gelegt, den Kopf abgewandt,
-- lachte und wurde mit einem Schlage wieder tiefernst. Er folgte George
an Theresens Bett, sie hatte den Wunsch ausgesprochen, ihm zu danken,
der so treu mitgewacht hatte, er stand von ferne, mit hängenden Armen
und gesenktem Kopf auf sie hinblickend, die, den Neugeborenen im Arm, zu
ihm auflächelte. Und da war kein Wort im Zimmer, aber etwas wie Frage
und Antwort, ausgedrückt in einer unhörbaren süßen Musik, die auch
George mit einem verborgenen Organ der Seele vernehmen, die er aber
nicht deuten konnte, an der er herumrätselte, -- und da war es auch
schon vorbei, und Huber schlich auf den Zehenspitzen hinaus und er
folgte ihm, und da war ein neuer grauer Tag und da lag wartend die
Arbeit von gestern, -- nein, diese Nacht hatte nicht vermocht, das Leben
zu erneuern. -- --

                   *       *       *       *       *

An Christian Friedrich Voß, den Verleger, der zum Freunde geworden war,
schrieb George, -- und er tat dies, als die kleine Tochter Louise schon
seit sechs Monaten den guten Platz am Herzen liebender Eltern und
Geschwister wieder verlassen und ihn mit einem Bettchen unter dem Rasen
des St. Christoph-Friedhofes vertauscht hatte, -- George also schrieb am
Morgen des 24. April 1792 an den guten Voß in Berlin:

»Ich bin am Sonnabend von meiner Frau mit einem jungen Sohn beschenkt
worden. Sie, mein gütiger Freund, werden Anteil an unseren Empfindungen
bei dieser Gelegenheit nehmen. Sie sind Empfindungen von gemischter Art;
Freude, daß der kritische Zeitpunkt glücklich überstanden ist, daß alles
gut geht, Mutter und Kind gesund sind; Freude, daß der Mann, der einmal
den häuslichen Kreis einem glänzenden Glück vorgezogen hat, nun auch die
Bestimmung näher vor sich sieht, gewisse Ideen- und Gedankenreihen, die
in einen weiblichen Kopf nie recht passen, dennoch einem seiner Kinder
übertragen zu können und zu sollen; aber dies gemischt mit den
Besorgnissen aller Schwierigkeiten, welche sich zwischen jenen Zeitpunkt
der vollendetsten Erziehung und diese Aussicht aus der Ferne noch häufen
und sie vereiteln können, mit dem Gefühl vervielfältigter Pflichten und
vermehrter Beschwerde auf dem Pfad des Lebens, -- vor allem mit dem
Gedanken, daß das künftige Glück und die Zufriedenheit noch eines
Menschen nun wieder von unserm Handeln abhängen muß. -- Ich wollte
wirklich so ernsthaft nicht werden, lieber Freund, allein was sich jetzt
in Kopf und Herzen regt, drängt sich auch wider Willen hervor. Sie
halten mir diese Mitteilung meiner selbst zu gute. -- Und nun zu unseren
Geschäften ...«

                   *       *       *       *       *

Der Mann, der »einmal den häuslichen Kreis einem glänzenden Glück
vorgezogen hatte« -- gleichviel, ob man jenes glänzende Glück zu keiner
Zeit seines Lebens enger hätte umschreiben können, denn mit dem Begriff
einer Fata Morgana, dieser Mann fragte sich in den folgenden Monaten
zuweilen, ob es denn nun eingetreten sei, daß Sorge und Mühsal ihn vor
der Zeit hätten altern lassen, so daß er Jugend und Frohsinn nicht mehr
verstünde. Denn er saß in seinem häuslichen Kreis wie ein Fremder, wie
ein tagfremder Uhu, den Singvögel umlärmten, in diesem häuslichen
Kreise, den ein unbegreiflicher Taumel beherrschte. Ein Glas Wein nach
Tagesschluß, gewiß, er verschmähte es nicht, es erwärmte sein langsames
Blut, es belebte für eine Stunde seinen ermüdeten Geist, -- mußte jedoch
Abend für Abend Wein getrunken werden? Kam er nicht aus seinem eigenen
Keller, so hatten Huber oder Brand ein paar Bouteillen mitgebracht. Die
Fenster standen alle weit geöffnet, milde, duftschwere Mailuft wogte
herein, blühende Obstbaumzweige oder Fliedersträuße schmückten das
Zimmer und auf dem grünen Kanapee thronten Therese und Karoline und
hielten Hof. Wie einst fühlte er jene unerklärliche Wärme von Karoline
auf sich ausstrahlen, sah sie heiter, gelassen und anmutig, wo Therese
sprunghaft, ungeduldig und von einer sonderbaren Bitterkeit des
Ausdrucks war, versuchte zu vergleichen, -- und wußte, daß er Theresen
angehörte, Theresen allein und für immer, mochte sie sanft und süß sein,
wie sie es in jenem ersten Winter in dieser Wohnung gewesen, oder von
der geistig aufgeregten Heftigkeit, die sie jetzt ununterbrochen
schöngeistern und politisieren ließ und in Betrachtung der neusten
Ereignisse in Paris leidenschaftlich Partei ergreifen, -- für Frankreich
natürlich, für Frankreich und die Freiheit und gegen alle Despoten
Europas, den unglücklichen Ludwig eingeschlossen. Karoline ließ dann
nicht von ihrem spielenden Lächeln, das jeden streifte und es nicht zu
begreifen schien, wieso man sich dermaßen echauffieren könne, da denn
doch alles aufs Menschlichste zu erklären sei, -- Karoline sprach dann
zuweilen ein Wort, das erstaunlich klug und einfach den Gegenstand des
Gespräches auf einmal abtat, -- Karoline wandte sich manchmal ganz ihm
zu, wenn er still und müde dasaß, sie lockte ihn aus sich heraus, sie
war geduldig lauschend, war freundlich, -- dennoch, in ihrer Gegenwart
spürte er stärker als seit Jahren, daß er Theresens bedurfte und
Theresens allein. Es war nicht recht von Therese, daß sie die
Eifersüchtige spielte, freilich, nur _spielte_, nur mit kleinen
Neckereien, mit verstelltem Schmollen, mit Redewendungen, wie: nun, sie
wolle das ^tête à tête^ nicht stören, wenn er einmal in ein Gespräch mit
der Freundin versenkt war. Es war nicht recht von ihr und entzückte ihn
doch und er mußte dann nachher zu ihr kommen und sich mit vielen Worten
rechtfertigen, ungeschickten kleinen Worten, die sie ungern anhörte:
»Aber ich bitte dich, lieber Freund, -- es war doch nur Scherz!« und
»ich gönne es dir doch wahrhaftig ...« Oh, was mißverstand sie nur? oder
wollte sie mißverstehen? Sie ließ ihn mit Karoline allein, tauschte
Blicke mit Huber, wenn er im allgemeinen Gespräch sich einmal ereiferte
und dann ohne es zu wollen, in diese aufmerksamsten und stillsten Augen
am Tisch hineinsprach, deren Ausdruck ganz allmählich in Lächeln
überging. Er sprach von der »Sakontala«, er träumte redend den Traum von
Indien, feurig phantasierend, unerachtet Mr. Brands skeptischen Lächelns
über den Rand des Glases hinüber, -- ein Deutscher konnte den
Wundersamen freilich besser zum Keimen bringen als ein verknöcherter
Engländer mit den Voraussetzungen des Warren-Hastings-Prozesses und den
gewinnsüchtigen Spekulationen der jungen ^East Indian Company^, die sich
gierig wie ein Geier auf jene unerhörte Beute gestürzt hatte.
_Deutschland_ war bestimmt, das tausendjährige Herz des erstgeborenen
Bruders wieder zu erlösen! Über seinem Schwärmen wußte er doch immer
jede Bewegung Theresens und daß sie sich vom Tisch erhoben hatte und mit
ihren Schritten Huber nach sich ans Spinett zog, -- wußte, daß Huber
sich jetzt dort vor den Tasten niederließ und zu ihr aufblickte, die
über den Deckel gelehnt, das Kinn in die Hand gestützt, auf ihn
einsprach, und versuchte verzweifelt den Gegenstand jenes halb flüsternd
geführten Gespräches zu erraten. Sprachen sie denn wieder von dem
kleinen Jungen, von seinem kleinen Jungen, mit dem so viel vor sich
ging, das er nicht erfuhr, oder nur, wenn man sich allein, ohne ihn aus
der Bibliothek, aus seinem Kabinett herbeizurufen, über einen neuen
Krampfanfall gesorgt, mit Wedekind, dem Arzt, und mit Huber zur Seite,
-- aber ohne ihn, den Vater? Der Vater bedurfte der Schonung, der
Rücksicht, der Arbeitsruhe. Es gab Stunden, die kämpfte ein wackeres
Weib allein mit ihrem Gott durch. Nun ja, -- möchte sie doch nur allein
mit ihrem Gott und allenfalls mit Wedekind gewesen sein! Wenn der kleine
Junge so elend war und wachsbleich, -- warum mußte dann abends hier Wein
getrunken, gesungen und getanzt werden? Übrigens fühlte er sich gar
nicht imstande, seinem dunkeln Widerstreben Ausdruck zu leihen. Wenn
sich die Unterhaltung um ihn her in Histörchen und Anekdoten auflöste,
wenn Huber anfing, sich zu seinen Arien auf der Laute zu akkompagnieren,
wenn die Forkel sich erbitten ließ, den einzigen Tanz zu spielen, den
sie beherrschte, dieses ewige Menuett von Gossec, zu dem Karoline dann
mit einem unsichtbaren Partner ihre Pas und Komplimente machte, -- was
hatte er also zu schaffen mit dieser tanzenden lächelnden Dame? --
fragte er sich, -- wenn dann um Mitternacht Wedekind auftrat, um den
Lustbarkeiten ein Ende zu machen, die Forkelin nachhause zu bringen und
den einmal angebrochenen Bouteillen auf den Grund zu sehen, wie er
sagte, -- oh, so saß George in einer Ecke des Kanapees bei der Kerze,
scheinbar ins ^Journal des Débats^ oder den ^Moniteur^ vertieft, im
Herzen bitter entrüstet und ratlos, weil sie alle spielen durften und
mochten und immer nur spielen, -- nur er nicht. Merkte es wohl ein
Mensch, nahm etwa Therese es wahr, wenn er aufstand, den einen Leuchter
ergriff und in die Kammer ging? Dort stand er an der Wiege, das Licht
mit der Hand schützend, und starrte auf das winzige Gesicht, dessen
bläuliche Lider sich beim Schlafen nie ganz schlossen, so daß die Iris
reglos und erschreckend durch den Spalt schimmerte. Ein Zucken lief
mitunter über die blassen Bäckchen hin und durch diese mageren Händchen,
die da auf dem Deckbett lagen, ausgestreckt und ergeben, wie die Hände
eines leidenden Erwachsenen. Was suchte er denn in den alten faltigen
Zügen des Würmchens, warum ging er nicht wieder, da er doch sah, hier
war alles in Ordnung? Der kleine George, dachte er langsam mit Erwägung
jedes einzelnen Wortes, sieht unter seinen Geschwistern nur der kleinen
Louise ähnlich, der kleinen Louise, wie sie dalag und tot war. Warum
wurde drüben gesungen, getrunken, gelacht, wenn der kleine George dalag
und aussah wie tot? Er tastete sich trotz seines Leuchters durch den
Saal zurück, als ginge er durch Dunkel. Plötzlich blieb er stehen,
reckte den Arm mit dem Licht hoch und starrte böse und grübelnd hinauf
zu seinem eigenen Bilde, zu diesem arglos liebenswürdigen Antlitz da
oben, das über ihn wegsah, als hätte es nie etwas mit ihm gemein gehabt.
--

Woher dies Feuer der Beredsamkeit? dachte jetzt George zuweilen am
Familientisch, -- nun, saß Therese neuerdings auf kassandrischem
Dreifuß? Sie hatte einen Menschen mit der ^cocarde tricolore^ durch die
Gassen gehen sehen, hatte armes Volk untereinander auf die Reichen und
die Pfaffen schimpfen hören, hatte sich auf dem Markt über die steigende
Teuerung aufgeregt und sich die Schandtaten irgendwelcher Emigranten
erzählen lassen, die sich doch wahrhaftig immer mehr gebärdeten, wie die
Herren im Lande. Therese also, durch eine Belanglosigkeit angeregt,
Therese dozierte etwa so: Der Krieg, der sich da vorbereitete, der schon
im Gange war, er war eine interne Angelegenheit der Franzosen, -- kein
Zweifel bestand für den Einsichtigen! Bruder gegen Bruder kämpfte
Frankreich verzweifelt um sein zerrissenes, blutendes, um sein heiliges
Herz.

Dies sei sehr richtig bemerkt, mochte Huber hier einfügen. Preußen und
Österreich schmeichelten sich zwar in dem Wahn für die Ruhe Europas und
somit für das eigene Interesse zu rüsten, indessen ...

Indessen, dies lag auf der Hand, -- Therese reckte lebhaft ihre kleine
feste Hand mit gespreizten Fingern aus und zog sie hastig wieder zurück,
als hätte sie ein Geheimnis enthüllt, -- auf der Hand lag es, daß
^l'ancien régime^, daß _Frankreich_ in Gestalt seines vertriebenen Adels
ein deutsches Heer aufgeboten hatte, um _Frankreich_, um jenes rabiate
Paris zu bewältigen! ^L'ancien régime^, verachtens- und
verabscheuenswürdig, -- oh, was hatte Huber dagegen einzuwenden? Die
kleine Faust fiel leicht und kräftig auf die Tischplatte nieder, denn
Huber hatte die breiten schön umrissenen Lippen ein wenig verzogen und
bewegte schmerzlich den Kopf, wie von einem krassen Forte peinlich
berührt. Hatte der sächsische ^chargé d'affaires^ noch so viel
aristokratische Sympathien, daß er kein wahres Wort hören konnte? Huber
hob nur abwehrend die Rechte: »Ah, ^l'ancien régime^! Es war nicht ohne
^charme^!« Therese, sein verzücktes Gesicht aufmerksam, fast neugierig
betrachtend, streckte ihm plötzlich die Hand hin, zärtlich ausrufend:
»Huber! Ich verstehe auch diesen ^point de vue^! Im Grunde aber sind Sie
_unserer_ Meinung!« und fuhr dann fort, im Tone der Seherin
darzustellen, wie ^l'ancien régime^ nun in der Pose unwiderstehlicher
Bravour dastehe, bereit, mit Strömen fremden Blutes jene ridikulen
Menschenrechte hinwegzuschwemmen, -- während das andere Frankreich in
Gestalt eines Heeres schlecht ausgerüsteter und mangelhaft bekleideter
Soldaten, deren zuverlässigste Waffe ihr Herz war ...

Eines Heeres begeisterter Kreuzfahrer, wie Huber nun von dem _anderen_
^point de vue^ aus schwärmend einschob, die die heiligen Grabstätten
einer großen Vergangenheit zu neuem Leben befreien wollten ...

Während dies _andere_ Frankreich im roten Westen unbeirrt seine Kolonnen
formierte. Fühlte denn nur sie allein den Boden schon zittern unter dem
Marschrhythmus der von Osten und Westen einander entgegenziehenden
Armeen, war nur sie allein so prickelnd erregt von der Spannung dieser
von Erwartung des Kommenden geladenen Luft, die jetzt über dem Rheinland
lag? --

O nein, auch George fühlte diese Spannung. Er fühlte sie, als mündeten
alle Strahlen des drohenden Sommerhimmels in der Kuppel seines unseligen
Schädels, und hineingerissen in das unwiderstehliche Vibrieren des
Lebens, das von Paris ausging, -- mochte der Geist dort auch schon den
Mord heilig gesprochen haben, -- in dieser Stimmung schrieb George an
den Schwiegervater, gelassen, als sei er an der Urheberschaft dieser
Entwicklungen beteiligt: »^Jacta est alea!^ Wir wollen nun aufhören, von
Prinzipien zu sprechen. Die Appellation an das Recht des Stärkeren ist
geschehen. Wir wollen sehen, wer der seyn wird.« --

Der Würfel war gefallen!

Dies war der Grund jener Erregung, die einstweilen zwecklos verlodern
mußte. Der Würfel war gefallen, -- deshalb, -- nun erkannte er es! --
galt es, die Nächte aufzusitzen, zu trinken, zu lachen, zynisch und
bizarr zu reden. Wenn die Staaten ins Wanken gerieten, so war nichts zu
tun, als die Hände sinken zu lassen. Die Sache der Zukunft war es, der
man angehörte, einer noch völlig verschleierten, dunklen, ungewissen
Sache. Wieder einmal, wenn man sich prüfte, sah man sich selber als den
nackten Menschen, dem Schicksal ausgeliefert, und es würde sich darum
handeln, der Bestie gegenüber das Ideal zu verteidigen. Indessen lag die
Bestie noch untätig da, den Kopf auf den Pranken, tückisch blinzelnd. In
einer solchen entsetzlichen Spannung hatte der kleine George vor dreißig
Jahren keinen anderen Ausweg gefunden, als den, seine Natur zu
vergewaltigen, mit dem Janusch umherzuwildern, Äpfel zu stehlen,
Heuschober anzustecken, Hunde und Katzen zu quälen. Oh, er erinnerte
sich seltsam deutlich!

Gäste also ins Haus! und ein Oxhoft Nierensteiner im Pfandhaus
ersteigert! --

Viele kleine Kinder litten doch an Krämpfen und überstanden es. --

Es lohnte sich nicht, in diesen Wochen viel zu arbeiten, da doch
fortwährend Besuch kam und außerdem mehrere Eisen im Feuer lagen,
Projekte, die sich auf die Unterstützung des Pflanzenwerkes durch den
Wiener Hof, auf eine Anstellung in Preußen, auf eine Reise mit Brand
nach dem Süden bezogen. Und es kamen wirklich unaufhörlich Menschen ins
Haus, Offiziere, Ärzte, Feldprediger der durchziehenden Truppenteile,
die an der Grenze Aufstellung nehmen sollten, -- alte Bekannte aus den
Casseler Jahren, mit denen man einst den ^lapis philosophorum^ gesucht
hatte und die Sömmerring ungern wiedersah, -- Reisefreunde aus Berlin,
aus Dresden, aus Wien, aus Warschau, alles Leute von Welt und von
geschmeidiger politischer Einstellungsfähigkeit, keine bramarbasierenden
Preußen, Eisenfresser und Despotenbüttel. Es gab ein ungeheuer lustiges
Politisieren um den Teetisch herum.

Hatte nun nicht die große Katharina mit ihren Deklamationen gegen Paris
Preußen und Österreich endlich auf die Beine gebracht und so weit fort
auf die Hasenjagd geschickt, daß sie selbst jetzt in Polen ungestörtes
Spiel hatte? Und was sickerte alles von Preußens und Österreichs
Absichten über die Teilung der Beute durch, noch ehe der Braten erlegt
war? -- Es war besser, nicht zu dem kleinen Jungen hineinzugehen, wenn
er einmal eingeschlafen war, hatte Therese gesagt. Es störte den kleinen
Jungen, -- ja, Therese hatte natürlich Recht! --

Ein Glas Wein auf den Abend war gut; zwei Gläser machten sogar heiter.
Hörte man auf, die Gläser zu zählen, so stellte sich ein Zustand von
Zufriedenheit ein, der auf der Fähigkeit leicht, elegant und interessant
zu demonstrieren basierte, einer ungewohnten Fähigkeit, die glücklich
machte. Er tat es den anderen gleich, war feurig in der Verteidigung der
Neufranken wie Therese, begründete sein Urteil mühelos mit Belegen aus
der Historie, wie Huber, fand kleine Scherzworte, nicht wahr, war ein
wenig schalkhaft wie Karoline, -- spielte mit, kurzum, spielte mit und
stand nicht daneben.

Der kleine Junge begann ja auch zu gedeihen. Er hatte ihn heute heimlich
aus der Wiege genommen und ihn herumgetragen, als er schrie. Er war in
seinem Arm still geworden, er war so warm und süß. Hatte er einmal etwas
besessen, was ähnlich gewesen war, ähnlich hilflos, zart, ganz auf ihn
angewiesen? Einen kleinen Vogel vielleicht? Sein kleiner Junge war sein
Freund, er hatte ihn angelächelt mit diesem bebenden zahnlosen kleinen
Munde. Wem glich sein kleiner Sohn doch, wenn er lächelte, -- wem glich
er doch? --

Archenholz kam auf der Durchreise und brachte mit seinen Berichten aus
Paris Hoffnungen auf einen gemäßigten und glücklichen Verlauf der
inneren Entwirrung, die jedoch bald von den Berichten neuer Greuel
vereitelt wurden. Die Teuerung in dem von Emigranten und Truppen
übervölkerten Rheingau wuchs von Tag zu Tag und mit ihr allgemeine rat-
und ziellose Erbitterung. Nebenher wurden die Zurüstungen zu dem großen
^concert des puissances^, das nach der Krönung des neuen Kaisers zu
Frankfurt in Mainz stattfinden sollte, heiter und großartig betrieben,
als gälte es schon ein Siegesfest. George fuhr in den Krönungstagen mit
Huber und Brand nach Frankfurt hinüber, sah den jungen Franz, wie er so
gutartig und unschuldig aussehend, die Hauskrone auf dem Haupt zu Pferde
in die Kirche zog, und ließ sich von diesem Anblick bis zu Tränen
rühren, was er seinem Herzen unbeschadet seiner despotenfeindlichen
Grundsätze gönnen zu dürfen glaubte. Dem Schauspiel der fürstentrunkenen
Mainzer, der Ehrenpforten, Illuminationen, Feuerwerke, der
spalierbildenden Rotröcke, -- dem Lärm der Janitscharenmusiken und
feierlichen Hochämter indessen ging er aus dem Wege, indem er die guten
Freunde Reichardts aus Gotha nach ihrem Reiseziel Koblenz
weiterbegleitete, nachdem sie einige Tage unter seinem Dach geweilt
hatten. --

Er machte es sich klar, daß er von einer fürchterlichen Müdigkeit
befallen war, als er bei der Heimkehr vom Anlegeplatz des Schiffes vor
dem Raimonditor durch die Stadt nachhause ging, -- daß die Julihitze ihn
krank gemacht habe, daß diese entsetzliche Schwermut folglich nicht böse
Ahnung, sondern körperlich und im übrigen gegenstandslos sei. Die
Straßen waren wie ausgestorben. In Eltville fand ein Volksfest statt,
bekränzte Schaluppen mit türkischer Musik waren ihm den Rhein hinunter
entgegengekommen. Die große Welt mochte in den Gärten der Favorite
feiern. Die fremden Truppen lagerten im Glacis. Wie er so schlaffen
Schrittes dahinschritt, den Hut in der Hand, den Kopf gesenkt und nichts
empfindend, als eine peinliche Unlust, nachhause zu kommen, eine Unlust,
die ihn trotz aller Ermüdung nicht den nächsten Weg suchen ließ, sondern
ihn immer wieder durch fremde Straßen und Gäßchen trieb, stieß er am
Karmeliterplatz fast mit einem Leichenzug zusammen, der zum St.
Christophs-Friedhof wollte, -- mit ein paar preußischen Grenadieren, die
einen kleinen weißen Kindersarg trugen, der mit Rosenketten bekränzt,
das traurig-prunkvolle Gefolge eines Priesters mit seinen Knaben und
einiger preußischer Offiziere in großer Uniform hatte. George erkannte
einen jungen Hauptmann von Eltz, einen geborenen Mainzer in preußischen
Diensten, der, wie er wußte, auf dem Weg ins Feld seine Frau und deren
Schwester, Töchter eines Generals von Tracht, mit seinem kleinen Sohn
für die Dauer der Campagne zu seiner hier lebenden Mutter gebracht
hatte. Betroffen verweilend und alles an sich vorüberlassend, stand er
noch immer von der Ahnung eines Schicksals durchschauert da, als der Zug
und die kleine Schar von Frauen und Kindern, die ihm nachlief, längst
verschwunden war, -- raffte sich dann plötzlich zusammen, blickte
verstört um sich und preßte die Hand auf die Brust. Dies, sagte er sich,
nun hastig in der Richtung auf die Große Bleiche hinstrebend und diese
Straße hinauf und nachhause zu schreitend, dies war Wirklichkeit, kein
Spuk und keine Vision. Es hatte keine Ähnlichkeit mit irgend etwas schon
Erlebtem, denn, -- so tröstete er sich sinnlos: als wir das Louischen
begruben, war es an einem nebeligen Novembermorgen und Huber und ich
außerdem nicht in preußischer Uniform. Dies also war nicht die
Spiegelung eines mir bevorstehenden Ereignisses. Hier gurren Tauben auf
dem Dach, diese Kinder spielen so vergnügt, die Frau dort hängt so
friedlich Wäsche auf. Die Leute könnten doch nicht alle so ruhig sein,
wenn ... Ich bin außer aller Contenance, fühlte er, und wischte sich den
Schweiß von der Stirne. Einem Leichenzug zu begegnen, bedeutet außerdem
doch immer Glück. Nun bog er in die Tiermarktstraße ein, rannte fast die
letzten Schritte bis zu den Universitätshäusern, ging dann wieder
langsamer, drückte zögernd, zögernd die Haustür auf. Wie kühl war doch
die Luft im Flur! Ach, natürlich, -- welche Einbildungen! Er atmete
erleichtert auf, wovor hatte er sich eigentlich gefürchtet. Er erinnerte
sich, daß Therese und die Kinder nun in der Nachmittagshitze ruhten, daß
die Mägde in der Küche beschäftigt waren, daß es deshalb so still, so
seltsam still im Hause sei. Auch schrie kein kleines Stimmchen, wie er
doch, -- er war sich dessen sicher, -- erwartet hatte. Um so besser,
dachte er. Wir werden einen belebten Abendzirkel haben, machte er sich
klar, indem er die Treppe hinaufstieg, und besann sich, daß auch der
Besuch Herrn von Goethes aus Weimar, der seinen Herzog ins Feld
begleitete, in Aussicht stand. Das Gespräch darf nicht auf den
»Groß-Kophta« kommen, entschied er und drückte nun mit einem Gefühl der
Kälte in Wangen und Lippen, mit einem Krampf in der Brust die Klinke der
Wohnstubentür hinunter.

Er sah: da stand der offene kleine Sarg. Da lag sein kleiner Junge tot.
Und da saß Therese vorgebeugt, den Ellbogen auf den Knien, den Kopf auf
die Hand gestützt mit einem auf ihrem Antlitz erstarrten Ausdruck irrer
Fassungslosigkeit über diesen Sarg ins Leere starrend, und da saß Huber
neben ihr, den Arm schlaff um sie gelegt, zusammengesunken, zerschlagen,
furchtsam vor sich niederblickend, Tränenspuren auf den Wangen, -- da
saßen zwei Zusammengefesselte, zwei Miteinanderverurteilte ...

Therese hatte sich erhoben. Huber stand auf. Sie schienen beide noch
nicht ganz erfaßt zu haben, daß er da war, obgleich sie ihn anblickten.
Plötzlich unter diesen Augen, die zwischen ihm und Therese hin- und
herglitten in stummer entsetzlicher Frage, legte Huber die Hand über
sein Gesicht, machte eine taumelnde Bewegung auf George zu und ging
wankenden Schrittes zur Tür.

                   *       *       *       *       *

O nein, o nein, den Abgrund nicht! Den Abgrund zwischen ihnen beiden
nicht! War er noch zu füllen mit dem Schutt des Alltags? Reichten die
Brücken der großen Ereignisse noch von einem Rand zum anderen?

Wohnten sie denn nicht beieinander, hatten die Mahlzeiten, die Zimmer,
die Kinder, die Freunde gemeinsam, gemeinsam die lauten festlichen
Abende und die Nächte, Bett an Bett mit dem stundenlangen Belauschen des
anderen im Finstern? Oder lauschte Therese nicht so auf ihn, wie er auf
ihre Atemzüge, die ihm verrieten, daß auch sie nicht schlief, daß sie
... Oh, wartete sie etwa darauf, daß er -- nun endlich einschliefe? Aber
ihre Hand war sanft gegen ihn gewesen, er hatte alle Pflege gehabt,
deren sein kranker Leib bedurfte, er hatte das Lächeln ihrer Augen über
sich gesehen und nichts war ihm verwehrt worden. Nicht wahr, jene
Stunde, jene furchtbare, am Sarg des kleinen Jungen, sie hatte im
höllischen falschen Lichte seiner Ermüdung und Überreizung gestanden,
und sie war doch vorübergegangen, wesenlos geworden wie das furchtbare
Wort, das er gesprochen hatte, -- oder hatte er es nicht gesprochen? Das
er hinter Huber drein gesprochen zu haben meinte, der die Türe so
entsetzlich sanft geschlossen hatte: »Ihr werdet wohl nicht ruhen, bis
auch ich ...« Oh, nein, nicht in seinem Herzen wohnten Worte mit solchen
Widerhaken! Sein Herz war sanft, geduldig, wollte tragen. Es tat sich
auf, sobald die Sonne wieder schien, und da war die geliebte Frau und da
war der Freund und sie beide so voll Milde und Kraft, bereit, ihn, den
Schwachen, zu stützen, ihm alles zu verzeihen ...

Er war gefaßt. Er arbeitete wieder. Und was arbeitete er? Er faßte die
Erinnerungen des glorreichen Jahres 1790 in Kalenderform zusammen,
machte aus jenen unvergeßlichen ^évènements^ und den Silhouetten der
großen Männer ein allerliebstes Büchlein im Publikumsgeschmack, das mit
vorzüglichen Kupfern geziert zur Michaelismesse bei Voß herauskommen
sollte. Im übrigen fügte er Bild an Bild zum dritten Bändchen der
»Ansichten«, ließ sich von Karolines klugem Zureden bewegen, etwas
gefälliger und weniger pathetisch zu schreiben, saß mit dieser guten
Freundin und Zuhörerin über neuen Übersetzungsplänen und nahm sich
täglich in den Morgenstunden sein Röschen mit ihrem Augustchen zusammen
vor, um diesem kleinen Gesindel ein paar Anfangsgründe der
Wissenschaften beizubringen. Sie waren keine Knaben, -- allerdings ...

Es war ihm, als müßte er ganz leise und behutsam weitergehen. Als könnte
ein hastiger Schritt, eine heischende Gebärde, -- als könnte schon ein
ungeduldiger Gedanke die Schneeflocke lösen und mit ihr die Lawine, die
alles begraben würde.

Lächeln also. Waren Therese und Huber nicht Kinder, liebenswürdige
Kinder? War es nicht gut, mit ihnen zu leben, zu fühlen, daß sie ihn
trugen und dennoch seiner nicht entraten konnten, seiner Arbeit
bedurften, seiner Erfahrung, seines Rates? Lächeln, oh, und nicht
mißtrauen, wenn sie auf den Spaziergängen zurückblieben, wenn sie dann
Hand in Hand wie die Träumenden herankamen, -- wenn sie in der
Abendstunde still zusammen am Fenster saßen. War es nicht Unschuld, wenn
sich ihre Hände nicht lösten? Wenn Huber den Blick nicht von Theresens
über die Arbeit gesenkten Scheitel ließ, auch jetzt nicht, da George
hinzugetreten war? -- Lächeln also! Lächeln auch über den Klatsch, den
der um des Freundes Ehre so redlich besorgte Sömmerring nicht unterließ,
ihm zu hinterbringen.

»Ach, guter Sömmerring, -- wir wollen lieber anderer Dinge gedenken! Die
Moral des Mainzer Professorenklüngels in Ehren. Aber ich denke, für uns
ist anderes maßgeblich ...«

Lächeln also! Lächeln auch über jenes Gedicht im letzten Göttinger
Almanach, der ihm im Oktober in der Universitätsbuchhandlung in die Hand
kam, in dem er blätterte, verwundert, ihn nicht wie jedes Jahr gleich
bei seinem Erscheinen von Dietrich zugesandt bekommen zu haben. Er
stutzte beim Titel eines der Beiträge, der »^Huberulus Murzuphlos^ oder
der poetische Kuß« überschrieben war, las weiter, las ein kleines,
infames Machwerk voller Anzüglichkeiten, las den Verfassernamen Bajazzo
Romano, meinte sich zu erinnern, daß Meyer gelegentlich unter diesem
Pseudonym veröffentlichte, legte das Bändchen beiseite -- und lächelte.
Hatte man ihm zu Hause das Buch unterschlagen, um ihn zu schonen? Er
sprach mit Karoline darüber, die er gleich darauf in ihrer Wohnung in
der Welschen Nonnengasse aufsuchte, um ihr einige Journale zu bringen.
Die gute Freundin errötete heftig, -- o ja, sie sei mit Therese
übereingekommen, den Almanach vor ihm nicht zu erwähnen, da er diesmal
durch und durch faul und wurmstichig sei, von pöbelhaften, kleinen
Gemeinheiten wimmele, zu denen auch Bürgers Epigramme zählten. Der
»^Huberulus Murzuphlos^« übrigens, sprach sie nach einer Pause mit
verzweifelter Tapferkeit weiter, so wie man eine Wunde berührt, um sie
zu heilen, dieser elende Angriff auf den guten Huber sei nun Gott sei
Dank durchaus nicht von Meyer, wie sie zuerst mit Entrüstung hätte
annehmen müssen, -- oh, dazu sei Meyer nicht fähig, sagte George sehr
ruhig und -- lächelte; er selbst wäre nie auf diese Annahme verfallen,
sprach er, bückte sich und rückte an der Schnalle seines Schuhs, --
sondern von Bouterweck, der sich für Hubers herbe Kritik seines
»Donamar« in der Jenaischen Literaturzeitung in dieser feinen Weise
rächte. Indem sie ihn ängstlich anblickte und -- er fühlte es, -- gern
nach seiner Hand gegriffen und sie gestreichelt hätte, sagte sie ganz
zaghaft und leise: »Lieber Forster, nicht wahr, es ist nun alles gut?«
Und als er ihr darauf mit einem kraftlosen Heben und Senken der leeren
Hände sein Antlitz zuwandte, bemerkte er Tränen in ihren Augen,
murmelte: »Liebe Karoline ...«, und wußte es nicht, daß es seine Gebärde
war und dieses arme Lächeln seines müden, gealterten Gesichtes, die jene
Tränen stürzen ließen. --

Was bedeuteten übrigens auch solche, im Bereich der ^Belles lettres^
hin- und hersausenden Giftpfeile in diesen Tagen, da Mainz mehr denn je
einem aufgestörten Ameisenhaufen glich, nachdem jener General Custine,
der, in Landau stehend, seine Soldaten aus purer Langeweile einmal ein
wenig ins Rheingau spazierengeführt und so spazierengehenderweise Worms
und Speyer eingesteckt hatte, sich mit dem berühmten Appetit, der im
Essen wächst, Mainz zu nähern begann und gewillt schien, des heiligen
römischen Reiches Schlüssel seiner siegreichen Republik zu Füßen zu
legen? Es mochte seinen besonderen Reiz haben, die Zurückwerfung der
deutschen Armeen, die seit dem für die Koalitionstruppen so unseligen
Tage von Valmy eine vollkommene war, mit der Eroberung der Stadt zu
krönen, von der das renommistische Manifest des Braunschweigers
ausgegangen war. Wer sich für den Geist jenes Manifestes irgendwie auch
nur im entferntesten mitverantwortlich fühlte, dem schien das
Heranziehen des Bürgergenerals jedenfalls außerordentlich peinlich zu
sein und während wenige Meilen nördlich das Zurückwandern der
geschlagenen deutschen Truppen über den Rhein begann, setzte über die
Schiffsbrücke von Mainz eine sonderbare Piroutchade sich in Bewegung und
auf einer unabsehbaren Kette von Wagen aller Art schaffte ein hoher Adel
sich selbst und sein bewegliches Eigentum so eilfertig aus der Stadt,
daß schon vor dem 10. Oktober die Mainzer Bürgerschaft ganz unter sich
war. Denn auch die obere Geistlichkeit und die Emigranten waren nicht
zurückgeblieben, beileibe, diese am allerwenigsten. Seine Eminenz hatte
die Stadt nächtlicherweise und durchaus unauffällig verlassen, wie es
hieß in einem Wagen, an dessen Schlägen die Wappenschilder in aller Eile
abgekratzt worden waren, und hatte sich nach dem Eichsfeld begeben,
baldigst gefolgt von Ihrer Eminenz, die indessen das Tageslicht nicht
gescheut hatte und am frühen Morgen mit allem Pomp und großem Gepäck,
gezogen von den vier Apfelschimmeln abgereist war. --

George stand am Morgen des nächsten Tages an der Brücke und sah dem
Schauspiel der abrollenden Berlinen und Kaleschen zu, unter denen
endlich das Kabriolett kam, in dem Huber mit dem Archiv seiner
Gesandtschaft nach Frankfurt fuhr, -- nicht aus Furcht, wie er zu
versichern kaum nötig gehabt hätte, aber wegen dieser überflüssigen
Königlich Sächsischen Staatspapiere, für die er nun einmal
verantwortlich war. Da war er hingefahren, in unbegreiflicher Erregung
bleicher aussehend, als sich mit dem Anlaß dieses Abschieds vertrug, und
hatte fremd und ernst zu George hinübergegrüßt, als er ihn am
Brückenkopf stehen sah. George war dann zurückgegangen, als sei der
Zweck seines Ausgangs erfüllt: er hatte Huber abfahren sehen.
Unerklärliche Befriedigung füllte schwankend sein Herz bis zum Rand.
Gewiß, und er gab es sich zu: leichter war es zu lächeln, zu lächeln
auch in der Vorstellung, daß nun die deutsche literarische Welt aus
jenen Bajazzo-Versen hämisch die Runen seines Schicksals zu deuten
suchen würde, -- leichter war es zu lächeln, wenn Huber einmal für Tage,
für Wochen nicht mit am Tisch saß. Es war möglich, mit der Vorstellung
zu spielen, daß die Flut politischen Geschehens ihn auf
Nimmerwiedersehen entführen könnte, -- kamen doch schon wenige Tage nach
seiner Abreise kummervolle Briefe von ihm, des Inhaltes, daß er Befehle
aus Dresden habe, den gefährdeten Boden von Mainz nicht eher wieder zu
betreten, bis die alte Ordnung dort hergestellt, der Kurfürst
zurückgekehrt sei.

Therese nahm das so gelassen hin, sie äußerte keine Vermutungen, keine
Hoffnungen für die Zukunft, -- Therese war blaß, aber heiter, von einer
Fassung, der er demütig begegnete. Sie folgte der Entwicklung seiner
Pläne mit Aufmerksamkeit und nur mit geringen Einwänden, -- gewiß, es
war kein übles Projekt, baldmöglichst nach Paris überzusiedeln und dort
zunächst als freier ^homme de lettres^, später im Dienst der
freiheitlichen Regierung zu leben. Sie hatte alle Auffassung dafür, daß
es nun an der Zeit sei, mit einer langsam gereiften freiheitlichen
Anschauung Ernst zu machen, daß es unmöglich sein würde, der alten
Mainzer Regierung, die sich so verächtlich gemacht hatte, weiter zu
dienen, -- falls sie denn wieder ans Ruder kommen sollte. Aber der
Hausstand hatte sich so vergrößert in den letzten Jahren, -- wie dachte
er es sich denn mit dieser Menge beweglichen Eigentums? Die Möbel
sollten wieder verkauft werden? Nun ja, -- _ihr_ Herz hing nicht an
Gegenständen. Immerhin möge er bedenken, daß in irregulären Zeiten die
Konjunktur für derartige Verkäufe keine günstige sei. Es war Abend und
sie saßen zusammen auf dem grünen Kanapee, Therese untätig in einer
Sofaecke lehnend und ihr Armband am linken Handgelenk unablässig hin-
und herschiebend. Ihr Blick, nur zuweilen mit scheinbarer Sammlung in
seinen Augen ruhend, durchforschte unruhig die Dämmerung der
unbeleuchteten Zimmertiefe und hing dann wieder wie plötzlich gebannt in
nächster Nähe, an einer Fehlstelle in der Politur des Tisches, die sie
spielend berührte, -- an einem kleinen braunen Fleck ihres Unterarms.

»George, --« fragte sie plötzlich, als er schon seit einer Weile von
einer Bibliotheksangelegenheit sprach, -- »könntest du denn daran
denken, zu den Franzosen überzugehen?«

Sie sah ihn von der Seite an, -- fast lauernd. Er nahm den Anlaß wahr
und holte sehr weit aus. Er sei in Polnisch-Preußen geboren, habe diesen
Boden verlassen, noch ehe er wieder in preußische Hände
übergegangen sei, und hätte alsdann von seinem elften Jahre an
nacheinander, -- er zählte es an den Fingern her, -- der russischen,
englischen, hessen-casselschen, polnischen und nun endlich der
kurfürstlich-mainzischen Regierung gedient. Hätte als Gelehrter das
ungeheure russische Reich, fast alle Länder Europas und die halbe Erde
bereist ... Hier flocht Therese ein: »Zwischen deinem elften und
zwanzigsten Jahr, -- ach, Georgie, du Gelehrter!« lachte ein kleines,
gurrendes Lachen und streichelte spielend seine Rechte. Jawohl, fuhr er
mit ernsthaftem Eifer fort, er habe eben auf diese Weise, wenn nicht die
ganze Erde, so doch Europa als sein Vaterland betrachten gelernt und die
Menschheit als sein Volk, sei zudem nie einer Kirche hörig gewesen,
sondern von frühester Jugend an durchdrungen und geleitet von der
königlichen Kunst, mit dem Maßstab der Wahrheit, mit dem Winkelmaß des
Rechtes und mit dem Zirkel der Pflicht in der erdumfassenden Vereinigung
aller Guten zum Guten zu wirken, deren Ziele nie andere gewesen wären,
als die, die nun auf den Fahnen der glücklichen Neufranken stünden ...

»Mit dem Maßstab der Wahrheit, mit dem Winkelmaß des Rechtes, mit dem
Zirkel der Pflicht ...« wiederholte er sich lächelnd die alten
wohlgefälligen Symbole. Therese, die übrigens keineswegs zugehört hatte,
obgleich sie mit dem Ausdruck des Lauschens dagesessen hatte, aber dem
eines angestrengten Lauschens über seine Ausführungen hinweg, zuckte
plötzlich auf, sagte: »Horch!« und »Also doch!« sank aber gleich wieder
in Gleichgültigkeit zurück, denn das war Sömmerrings Stimme, die jetzt
nach dem Geräusch der sich schließenden Haustüre unten im Flur hörbar
ward, und Sömmerrings schwerer Schritt, der da die Treppe hinauf kam.

»Sömmerring«, murmelte George, nach der Tür blickend, von einer
unerklärlichen Unruhe überschauert, und dachte dabei, diese Tage seien
geeignet, einen zum Geisterseher zu machen, immer dächte man, es stünde
ein Schicksalsbote draußen oder auch -- Huber.

»Da wären wir!« sagte Sömmerring ein wenig schnaufend, wie er nun im
Türrahmen stand, schwarz sich abhebend gegen das Licht des Lämpchens
draußen auf dem Flur, »und da bringe ich die wandelnde Hieroglyphe.«
Vollends eintretend ließ er einen hohen, schmalen Schatten hinter sich
ins Zimmer gleiten und, -- »ja, ich wußte es!« dachte George, -- dies
war Huber! Huber, der zögernd in den Lichtkreis des Armleuchters trat,
mit hängenden Schultern, den dunklen Blick aus fast weißem Antlitz auf
Therese geheftet, die ihn ansah, ja, die ihn ansah und lächelte, George
wußte es, -- Huber, der nun murmelte: »Ja, -- hier bin ich wieder. Ich
dachte, ihr könntet meiner bedürfen. Es braucht ja keiner zu wissen. Wem
sollte es auffallen? Ich will ein paar Tage verweilen, die Ereignisse
abwarten ...«

War es möglich, alle diese Dinge zu sagen, als seien sie Zärtlichkeiten?
Sömmerring, in seinen gewohnten Armstuhl niedergelassen, sagte mürrisch,
indem er seine großen Hände ineinanderrieb: »Was ist da viel abzuwarten?
Morgen oder übermorgen sind sie da.«

Huber war in das Dämmer zurückgewichen und lehnte irgendwo an der Wand.
Er lachte nervös.

»Fama geht in vieler Gestalt um. Gestern ein Weisenauer Marktweib, heute
ein betrunkener Weilheimer Husar. Und der Stephanstürmer stößt ins Horn,
die Alarmschüsse knallen, Kriegsrat wird abgehalten und wer ein
schlechtes Gewissen gegen die unterdrückte Majestät des Volkes hat,
läuft, was er laufen kann. Und Custine ist längst wieder in Landau.«

»Die Stadt ist entvölkert,« sagte Sömmerring düster, »da!« Er hob den
Finger. Unaufhörliches Wagenrollen kam fernher durch die Nacht.

»Ah bah, -- der Adel geht auf Reisen und die Emigranten suchen andere
Weideplätze.« George erhob sich und begann ungeduldig auf und ab zu
gehen. »Custine ist nicht wieder in Landau! Warum sollte er auch?«

»Hoffst du, daß er nicht wieder in Landau ist?« Therese saß, das Kinn in
die Hand gestützt, und zog die Augenbrauen hoch.

»Ich hoffe gar nichts. Ich vertraue der Stoßkraft dieser Idee ...«

»Welcher Idee?«

»Wie kann man fragen? Der Idee der Freiheit!«

»Esterhazys Armee soll in der Bergstraße stehen,« sagte Huber sanft,
»dies dürfte die Stoßkraft dämpfen.«

»So? Und wenn die Sansculotten morgen vor unsern Toren stehn? Was nützen
uns da die Esterhazys in der Bergstraße? Sollen uns unsere dreihundert
Mainzer und Weilburger Kerls verteidigen? O Gott, o Gott! O Gott, o
Gott! Eine Festung wie Mainz und bei solchen Zeitläuften von Truppen
evacuiert! Ist es zu glauben?« Sömmerring rang buchstäblich die Hände.

»Frankfurt schickt Sukkurs.«

»Wie unterrichtet Sie sind! Dann lassen Sie sich nur sagen und erzählen
Sie es den Frankfurtern, daß man hier nicht an Verteidigung denkt, gar
nicht daran denkt! Eikmeyer ist imstande und geht Custine mit den
Schlüsseln der Festung nach Weisenau entgegen und die Intelligenz der
Stadt schreit: ^Vive la nation!^«

»Nun, nun, mein Alter! Und du schreist nicht mit?«

»Oh, hier ist nichts zu scherzen! Ich wünsche meinen Hausstand nicht
während eines Erdbebens zu begründen. Und du bist von Demagogen verführt
und hast das Gefühl für Maß und Bürgerwürde eingebüßt, -- laß dir es
sagen, Freund!«

Sömmerring stand im Begriffe, sich zu verheiraten. George nickte ihm mit
schwermütiger Freundlichkeit zu. Seine Hand spielte mit dem kleinen
^globus terrae^ aus Kristall, den er wie auch Sömmerring an der Uhrkette
trugen, einem rosenkreuzerischen Abzeichen aus der Casseler Zeit. Er
zitierte träumerisch die alte Formel: »>Wenn die Hauptzahl erfüllt sein
wird, so wird der Größte der Kleinste und der Herr der Diener seines
Dieners und der Knecht seines Knechtes sein ... Die Sünden der Profanen
werden vor den Augen des Jehova die Wagschale überwerfen und ihr Maß
wird voll sein ... Ein Hirt und ein Schafstall, ein Herr und ein Knecht
-- und die Weisen werden gehen auf Rosen aus Eden,< -- oh, Bruder, war
das nicht auf _diese_ Zeit gesagt?«

»Willst du nicht auch wieder anfangen, Tote zu beschwören und den
Sternen zu gebieten, ihren Ort zu wechseln? Still, ich will nicht
erinnert werden. Der Teufel versucht dich, laß dich warnen und weck den
Schwärmer Amadeus nicht auf!«

Forster lächelte wehmütig.

»Fürchte nichts!« sagte er. »Amadeus ist tot.«

»Hätte ich wieder einen Sohn,« sagte Therese leise, »er sollte Amadeus
heißen, -- oder ^Aimé^, -- Geliebter!«

Das Wort zog bunte Kreise durch den Raum. Die drei Männer lächelten.
Therese blickte unbefangen auf, fand Hubers Augen mit einem
leidenschaftlichen Triumphieren auf sich ruhn, lächelte verwirrt und sah
auf ihre Hände. -- -- --

Den Prophezeiungen eines veritablen ^chargé d'affaires^ zum Trotz hatte
die Idee der Freiheit in der Gestalt des Bürgergenerals Adam Philippe de
Custine ihre Macht bewiesen und war am 21. Oktober ganz ohne besonderer
Stoßkraft zu bedürfen, in einem Tressenrock aus Scharlachtuch, einen
gewaltigen Federhut auf dem ^à la chien^ frisierten Haupte mit großem
Gefolge in Mainz eingezogen. »So sieht er aus, der Wüterich, -- ^mon
dieu^!« sagte die kleine Forkel ganz enttäuscht, neben Therese und
Karoline in einem Fenster der Bibliothek an der Großen Bleiche lehnend,
-- »ein Mann mit Haar am Mund, -- ^fi donc^ und Philipopel!« Ein
stumpfnasiger, ein undämonischer Mann, fand Therese, der wie im Traum
zum Ruf eines Attila gekommen sein müsse; er gliche einem gutmütigen
Schlächterhund, der allzu reichlich von fettem Abfall lebte.

»Meine Lieben,« sagte Karoline erheitert, »ich staune über eure
^espérancen^! Seid ihr vielleicht auch enttäuscht über das ausgefallene
Bombardement? Lise soll ja gesagt haben: beigewohnt haben möchte ich dem
doch einmal, -- und so mag wohl auch der neugierige Goethe gedacht
haben, als er bei Valmy in den Kugelregen ritt!«

»Ich habe gar nichts erwartet«, sagte Therese hochmütig und zog sich vom
Fenster zurück. »Ein Edelmann, der sich dieser Zeit fügt, taugt nichts,
-- da waren die Emigranten mir lieber!«

»Potztausend!« Dora Forkel war pikiert. »Und Sie weinten doch vor
Entzücken beim Anblick der ersten ^cocardes tricolores^ in der
Schustergasse, -- wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, meine
Teure.«

»Und ich werde immer weinen, wo ich sie erblicke als Abzeichen einer
großen Gesinnung, einer freiheitsgläubigen Seele ... Wir wollen gehen,
George, -- wir wollen ins Lager gehen und die echten Söhne Frankreichs
und der Freiheit begrüßen. Dies ist kein führender, -- dies ist ein
_geschobener_ Mann!«

Sie lachte schrill. George bot ihr stumm den Arm.

                   *       *       *       *       *

Das Herz voll aufjubelnder Erinnerung an das Volk, das er vor zwei
Jahren auf den ^Champs d'Elysée^ sein großes Bruderfest hatte zurüsten
sehen, ja, möglicherweise in dem Gefühl, hier handele es sich um eine
Fortsetzung jenes Festes, in das nun auch er und was um ihn war,
einbegriffen sei, -- sie waren in größerer Gesellschaft dem Zuge der
vors Tor hinausströmenden Bürger gefolgt, -- in dieser nicht
gewöhnlichen Stimmung also, einem Rausch der Menschenliebe, des
Freiheitsfrühlings, -- konnte sich George nicht enthalten, einem der
ersten Söhne der Freiheit, die ihm in den Weg kamen, unter Schwenkung
des Hutes ein aufrichtiges: »^Vive la république!^« zuzurufen. Der
Soldat, ein langer brauner Kerl, auf seine Flinte gelehnt und die
Vorübertreibenden nicht eben freundlich musternd, spuckte aus, strich
sich den Schnauzbart und rief herzlich: »^Sacré! Elle vivra bien sans
vous!^« worauf er sich abwandte. In der sonderbaren, ahnungsvollen
Bewegtheit seines Gemütes ging das Wort George tagelang nach. ^Elle
vivra bien sans vous!^ Oh, dies war eine Warnung des Schicksals! Nein,
er würde nicht dem Klub, der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und
Gleichheit beitreten, die sich schon am ersten Tage nach dem Einzug der
Franzosen um einige allgemein bekannte Revolutionsschwärmer zu
kristallisieren begann, um den Dr. Metternich etwa und den Professor
Blau, einen der lebenslustigen Priester, denen das Beispiel des Kollegen
Dorsch in die Augen stach, der vor einem Jahr in das freiheitliche
Straßburg übergesiedelt war und dort die ihm nachfolgende Demoiselle
Strohmeier, zu der er allgemein bekannte, anstößige Beziehungen
unterhalten hatte, nunmehr ehelichte. Der Kollege Dorsch übrigens kam,
noch ehe der Oktober um war, wieder in Mainz an und brachte die
geehelichte Strohmeiern mit, desgleichen kam der Professor Böhmer
angereist, ebenfalls aus Straßburg und nicht eben zum Entzücken seiner
Schwägerin Karoline. Niemand wußte recht, hatte Custine diese Herren
wirklich herbeigerufen, wie sie in Umlauf zu setzen nicht unterließen,
oder waren sie seinen Spuren gefolgt, kleine Schakale der Fährte des
Löwen? Nun, jedenfalls, sie wußten ihr ^air^ zu behaupten, waren nicht
mehr Dilettanten der Sache der Freiheit gegenüber, sondern verstanden es
von Grund aus, eine larmoyante und träge deutsche Bürgerschaft, die am
Ende gar noch mit ihrem Despoten zufrieden gewesen war, zu
elektrisieren. Dergleichen Leute also, wie jener Metternich, wie der
dicke Blau mit Dorsch und Böhmer, zu denen sich etwa noch der Historiker
Hofmann und Wedekind gesellten, bildeten den Kern der Mainzer
Jakobinergesellschaft, -- und, wie gesagt, -- George verzichtete. Nicht
allein, weil Marianne in Gestalt jenes Getreuen ihm einen Korb gegeben
habe, sagte er lachend zu Therese und Karoline. Sei nicht der erste Korb
einer Spröden immer mit den Blumen der Hoffnung gefüllt? Nein, -- er
verzog das Gesicht und schob die Schultern hin und her, -- diese
Gesellschaft war nicht sein Geschmack. Sie gebärdete sich allzu sehr wie
eine Schulklasse, die der Lehrer verlassen hat. Sie war nicht durchpulst
von dem ursprünglichen heißen Quell der Empörung. Sie gefiel sich in
einer äffischen Nachahmung von Paris, war tollgewordnes Spießbürgertum.
Huber, der ihn aufmerksam ansah, meinte zögernd, als taste er im Dunkeln
nach der Klinke einer verschlossenen Tür, ob es denn nicht vielleicht
gerade aus diesen Gründen die Pflicht eines Mannes von wahrem
Weltbürgersinn sei, die große Sache auf deutschem Boden würdig zu
vertreten? Dies sagte Huber, indem er nun nicht mehr George, sondern
Therese ansah und Therese, den Blick unsicher und fragend erwidernd,
nickte plötzlich mit Heftigkeit Beifall: »Freilich, George, -- hier
kommt es auf den Standpunkt an.«

»Ich bin kein führender Mann«, sagte George gedankenverloren, Tags zuvor
gehörte Worte wiederholend, ohne es zu wissen, und nicht wahrnehmend,
daß die Blicke Hubers und Theresens sich hastig kreuzten, um einander
wieder zu fliehen, während Karoline ihn voll Schwermut ansah.

                   *       *       *       *       *

Es war ein Herbst, so herbstlich wie noch nie. Der Nebel kam durch die
Haustüren hinein und wallte still über die Treppen; er quoll in die
Fenster, wie der Odem einer ungeheuren kranken Brust. Es roch nicht nach
Nebel allein, es war nicht nur jener fast süße feuchte Geruch nach
frischen modrigen Blättern und überblühten Veilchen, den man an
Novemberabenden zwischen den Heckenwegen spürt, -- dieser Herbst war
Krankheit. Es lag Fäulnis und Verwesung in der Luft, die Ausdünstungen
des Heeres, seiner Menschen und Tiere, -- es lag Lähmung, verzweifelte
Unentschlossenheit über dem öffentlichen Leben, die den Bürger
hinderten, die Stadt für den neuen Herrn im alten Stand der gepflegten
Sauberkeit zu halten. Es war zu dem allen der sonderbar aufregende Duft
nach Leder, nach Pferden, nach Schnaps, nach holländischem Tabak, nach
parfümiertem Puder, waren die Dünste ungewöhnlicher Mahlzeiten, von
denen die Atmosphäre durchwittert war. Es war das ständige Signalblasen
der Hörner, das durch den Nebel drang, der Marschtritt auf den Gassen,
die neuen Lieder und Tänze, die abends aus den Häusern schollen, der
Wohlklang und Rhythmus der fremden aber geliebten Sprache an allen Ecken
und Enden. Es war der Zustand des Krieges, den George als quälend
herbstlich empfand, als spukhaft, als eine unerträgliche, laue, schlaffe
Entspannung der Nerven, diesen Zustand, in dem die Aufhebung allen
Rechtes zur Sünde herauszufordern scheint, denn jede Handlung, die der
Mensch unternehmen könnte, um den fürchterlichen Stillstand des Lebens
zu unterbrechen, hieß noch eben Sünde. Es war das lautlose Abbröckeln
der Welt von gestern mit ihren Gesetzen, es war dies furchtbare stille
Scheinen der gelben, tropfenden Lindenbäume draußen vor den Fenstern,
das George fast rasend machte. --

Wünschte der General seine Dienste oder lag ihm nichts daran? Er hatte
sich überreden lassen als Wortführer einer Deputation von Professoren
dem Gewaltigen seine Aufwartung zu machen und hatte die Interessen der
Universität erfolgreich vertreten. Custine jedenfalls erließ dem
Institut alle Zwangsabgaben und ließ sich durch Böhmer, der sich mit
einem Individuum Namens Daniel Stumme in die Sekretärsdienste im
Schlosse teilte, die Rede des ^pp.^ Forster in der Niederschrift
ausbitten. »Hier hätten Sie hinterhaken müssen, mein Teurer, hehe! Sie
hatten den Fuß im Bügel und sind nicht aufgesessen. Der General hatte
ein flüchtiges Interesse für Sie gefaßt, es hätte leicht ein ^faible^
werden können, -- aber Sie nahmen den Augenblick ja nicht wahr. Ich
fürchte, der General ist verstimmt.« Böhmer, der George als Abschluß
eines kurzem Pflichtbesuches diese Mitteilung machte, sah ihn mit
widerlich offenstehendem Munde, hochgezogener Stirne und aufgerissenen
Augen an, indem er wichtig mit dem Finger drohte. Da er einem Schweigen
begegnete, sammelte er sein Gesicht, sagte: »Es ist noch nichts
verloren, da ich Ihr aufrichtiger Freund bin«, und verabschiedete sich.
Sein Besuch war einer unter den hunderten in diesen Tagen, die alle mehr
oder weniger deutlich Georges Eintritt in den Klub forderten. Dies war
geeignet, ihn nachdenklich und schwankend zu stimmen. Böhmer war ein
Hanswurst, ganz ohne alle Frage, aber dem General beliebte es nun
einmal, ihn zu seinem Sprachrohr zu machen, der General stellte die
republikanische Regierung dar, und war er, George, einmal auf die Gunst
dieser Regierung, deren Grundsätze er als seine eigensten, innersten
fühlte, angewiesen, ging sein Herz in _einem_ Takt mit dem großen
heiligen Herzen der Republik und dachte er nicht daran, dem im Eichsfeld
händeringenden Kurfürsten eine sentimentale Treue zu halten, -- nun
wohl, -- was hinderte ihn eigentlich, ausgesprochenen und
unausgesprochenen Wünschen Rechnung zu tragen? Übrigens war es von
eigentümlichem Reiz zu fühlen, daß erschrockene Bürgeraugen auf einen
sahen, als auf den Mann von Weltblick und Contenance; daß kleine
Anregungen, die man unter der Hand gab, wohltätige Folgen zeitigten, so
wie etwa auf seine ursprüngliche Veranlassung hin das Theater wieder zu
spielen anfing, damit die französischen Offiziere sich amüsieren und das
Publikum sich wieder humanisieren möge. Es war von eigentümlichem Reiz
zu wissen, daß Menschen auf einem ungewissen Wege nicht weiter gehen
wollten, ohne ihn, -- denn drinnen heulte der Minotauros. Es war fast
unwiderstehlich, zu denken, daß eine Aufgabe wartete, die seines Kopfes
erst in zweiter Linie, vor allem aber seines Herzens, seiner
Menschlichkeit bedurfte. »Es ist nicht der Ruhm, den ich suche, sondern
die Liebe meiner Brüder«, redete er inbrünstig in Brands große blaue
Kinderaugen hinein, die gläubig auf ihn gerichtet, in diesen Tagen
fortwährend politische Unterweisung von ihm forderten und mit Monologen
privater Natur abgespeist wurden. »Zudem scheint Preußen endgültig auf
mich zu verzichten ...«

Oh, Preußen taumelte mit sehenden Augen in sein Verderben. Der König
ließ den Herrn von Bischoffswerder unentwegt weiter Geister zitieren,
denen alle staatsmännischen Künste des Grafen Herzberg nicht gewachsen
waren. Dem König fehlte, kurz und gut, ein Mann in seiner Umgebung,
dessen Grundsätze, Charakter und Wandel bis ^dato^ für die
Rechtschaffenheit seiner Absichten zeugten, dessen Laufbahn Gelegenheit
zur Entwicklung eines großen Überblicks, einer gesunden Einschätzung der
Zeichen der Zeit geboten hätte. Einen deutschen Fürsten von weitem
Machtbereich jetzt leiten, einen wesentlichen Teil des deutschen Volkes
jetzt durch vernünftige Reformationen ohne blutige Revolution zu einer
gesunden Staatsverfassung führen zu dürfen ...

»Freilich,« unterbrach Therese sein Schwärmen und bat durch einen Blick
um Brands Teller, den sie mit Suppe füllte, »da indessen weder dein
Freund Voß noch der Minister einen Weg zu finden scheinen, den König auf
sein Glück aufmerksam zu machen, so hielte ich es für ratsam, sich an
das Gegebene zu halten. Huber meinte noch mit dem Fuß auf dem Wagentritt
du -- möchtest dir doch hier durch dein Zaudern keine Chancen entgehen
lassen.«

Eine Estafette seiner Regierung mit einem kräftigen Verweis hatte den
^chargé d'affaires^ vor einigen Tagen wieder nach Frankfurt zu seinen
Staatspapieren zurückbeordert.

»Meinte er das?« George nickte grüblerisch. »Ich gebe so viel auf sein
Urteil in diesen Dingen. Er hat einen eminenten Scharfblick, trotz
seiner Jugend. Er fehlt mir doch unendlich. Was meinst du, Therese, --
fehlt er uns nicht?« Er aß hastig und in sich gekehrt. Brand starrte vor
sich hin. Er hatte verzweifelt viel Takt, obgleich er hier nur halb
begriff. ^Why^, -- hatte Mrs. Forster Kummer? Wozu jetzt diese Tränen?
Therese hatte ihr Gesicht einen Augenblick auf Clairchens Kopf gesenkt,
die sie auf dem Schoß hielt und fütterte. Jetzt sagte sie mit etwas
rauher Stimme: »Deine eigentlichen Gaben liegen auf dem Gebiet des
Menschlichen, Lieber, im Umgang und in der Behandlung der verschiedenen
Individuen.« Sie stockte und blickte vor sich hin, als dächte sie selbst
erstaunt über ihre Worte nach. Dann fuhr sie tastend, aber mit
wachsender Sicherheit fort und unterbrach sich kaum mit einem genickten
Gruß, als Karoline während ihres Redens leise eintrat.

»Du hättest dies am Anfang deiner Laufbahn in Deutschland ins Auge
fassen sollen, George,« sagte sie, das Kinn in die Hand gestützt und die
Augen empor gerichtet, als läse sie eine nachträgliche Weissagung von
der geblümten Tapete ab, -- »du hättest das diplomatische Fach ergreifen
sollen und dein Glück wäre heute gemacht. Du hättest überall Freunde und
Gönner, du hättest Konnexionen an allen Höfen Europas, -- du hast so
charmante Umgangsformen, mein George!«

Sie sah ihn mit spielender Zärtlichkeit an, vermochte es, daß sein
blasses Gesicht kindhaft strahlte, überließ ihm ihre Hand und
phantasierte weiter:

»Du hättest die Naturwissenschaften immer als Liebhaberei nebenher
betreiben können, -- so wie der Goethe es auch tut, -- nicht wahr? Der
Landgraf in Cassel hatte eine Vorliebe für dich, -- ich weiß es. Konnte
er dich nicht in seinem Kabinett anstellen, ebensogut wie an dem
törichten Carolinum? Du hättest dich für die armen hessischen
Landeskinder verwenden können, die er nach Amerika verkaufte, -- sieh,
das wäre gleich ein verdienstlicher Anfang gewesen! Hernach wäre die
Sache schon weiter gegangen und wer weiß, welchen Verlauf die
europäische Politik genommen hätte, wenn ...«

»Nun? Wenn was, meine geliebte Sibylle?«

»Ja, -- wenn George Forster in Wien oder Paris am Steuer gesessen hätte.
Nicht wahr? Nun -- und für Paris -- ist es ja noch nicht zu spät.«

»Ah bah, mein liebes Kind. Worauf willst du eigentlich hinaus? Was meint
sie wohl, Karoline?«

»Daß -- du deine Chancen nicht wieder versäumen sollst, -- George.« --

Die Suppe war abgetragen worden, die Kinder hatten Gute Nacht gesagt.
George ging unruhig auf und nieder, die Hand gegen die schmerzende Stirn
gepreßt. Er murmelte: »Ich dachte dieser Krise als Privatmann
beizuwohnen.« Therese, ohne vom ^Moniteur^ aufzublicken, in dem sie las,
antwortete:

»Du mußt es selbst wissen, was du deinem Namen schuldig bist.«

»Mr. Forster wird mit mir fahren nach Italien als mein Mentor, wir
werden studieren der Urpflanz und führen Mr. Goethe ^ad absurdum, -- is
it not, Mr. Forster^?« erinnerte Brand, in eine Sofaecke gerekelt. »^He
is not made for politics, Madam, not at all. Not hard enough, you
know!^«

»So, -- und Huber, -- dieser sensible Mensch mit dem Herzen einer
Mimose? Oh, wir gehen alle an unsern wahren Bestimmungen vorüber! Und
_das_ ist die Erbsünde!«

»Was wäre denn Hubers Bestimmung gewesen? Oh, ich frage nur beiläufig
...« Karoline war damit beschäftigt, kleine Puppen aus Stoffresten in
den französischen Farben zu machen.

Therese sah in ihren ^Moniteur^. »Huber ist ein Dichter«, sagte sie
leise. --

»Ich habe gehört, daß Dora Stock schwer kränkeln soll«, erzählte
Karoline nach einer Weile unbefangen und hielt ein Püppchen gegen das
Licht. »Schiller und Körner sind sehr schlecht auf Huber zu sprechen.«

»Daß Dora schwer kränkeln soll, -- was heißt das?« wiederholte George.

»Er hat ihr einen Scheidebrief geschrieben, -- Huber.«

»Huber -- hat Dora einen Scheidebrief geschrieben? Therese?«

»Oh -- was sagst du das so fassungslos? Ja. Hat er es nicht erzählt?
Dora würde auch nie einen Menschen an sich binden, der in Bezug auf sie
^désinteressé^ ist.«

»Was meint Scheidebrief?« fragte Brand lernbegierig. »^Does it mean
separation?^«

»Freilich, Vortrefflicher,« lobte Karoline und fügte hinzu: »Es ist ein
Ausdruck aus der deutschen Bibel.«

»^Indeed!^«

Er hatte Karoline durch die dampfende Nacht nach Hause begleitet und kam
hustend in das Schlafzimmer. Er zog sich hastig und leise aus. Therese
lag mit großen, wachen Augen, ohne sich zu rühren. Im Nachtanzug endlich
kniete er an ihrem Bette nieder, ergriff ihre Hand und küßte sie
inbrünstig. Er flüsterte: »Ach Gott, du bist so traurig, mein
Herzenskind, -- ach, kannst du es mir nicht sagen?«

Sie flüsterte: »Du weißt es ja, George.«

Ihre Tränen stiegen, fielen, tropften lautlos über ihre Schläfen. Sie
rührte sich nicht.

Der Schritt der Ronde klang auf der Straße. Der Ruf erscholl:

»^Qui vive?^«

Der Herbstregen klöpfelte rasend ans Fenster.

George weinte heftig, lautlos und gebrochen mit Therese. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Der Geheime Staatsrat von Müller war während aller dieser Vorgänge
abwesend von Mainz und auf einer Reise nach Wien gewesen. Anfang
November kam er zurück, aber obgleich Custine sich angelegentlichst um
ihn bemühte, gelang es ihm nicht, diesen wertvollen Mann seinerseits vom
Wert der neuen Ära zu überzeugen, und nachdem Müller einige harmlose
eigene Geschäfte in aller Öffentlichkeit und einige im Sinne der
Franzosen vielleicht weniger harmlose in aller Stille erledigt hatte,
reiste er wieder ab, nicht ohne dem Mainzer Publikum Mäßigung und eine
kluge Fügung in die Absichten der Eroberer nahegelegt zu haben. Es war
George nicht gelungen, ihn zu sprechen. Allein die Meinung Müllers, daß
die Mainzer gut täten, nicht wider diesen Stachel zu löcken, und seine
behutsamen Ratschläge an einige einflußreiche Bürger, dem Klub
beizutreten, sich in die provisorische Administration wählen zu lassen,
um dort den Leuten zu steuern, die beabsichtigten, im Trüben zu fischen
und für den Schutz des privaten und öffentlichen Eigentums zu sorgen, --
diese diplomatischen Äußerungen zur Sachlage kamen George zu Ohren und
erschienen ihm bald wie eine Rechtfertigung seiner langsam gereiften
Absichten. Dennoch erschien es ihm nicht anders wie eine Überrumpelung
seines Geschmacks und seiner Willensfreiheit, als Blau ihm am Abend des
10. November nach einer Klubsitzung im Akademiesaal des Schlosses, der
er beigewohnt hatte, das in Blech gestanzte Abzeichen der »Freunde der
Freiheit und Gleichheit« auf die Brust heftete, wozu der behäbige Riese
einigermaßen schmunzelte.

»Als wir den Freiheitsbaum setzten,« erzählte er und hielt George am
Rockaufschlag fest, »hab ich gehört, wie zwei Juden sich unterhielten.
>Gott der Gerechte!< sagte der eine, -- es war der Bär Ingelheim aus der
Judengasse, der andere war der Isaak Bär aus Weisenau, -- >Was heißt F.
G.?<«

Blau stieß vergnügt mit dem Zeigefinger auf diese geschmackvolle
Blechmarke mit den Initialen von Freiheit und Gleichheit. George,
betroffen von der plötzlichen Erkenntnis, daß dies schicksalsvolle
Abzeichen eine Umstellung seiner eigenen Anfangsbuchstaben enthielt,
wandte sich unlustig zum Gehen, aber der andere nahm seinen Arm und kam
mit.

»Sagt der Isaak Bär, dieser Patriot, hoho! Gott der Gerechte, du fragst?
Heißt sich Frau Grausin ...«

»Maria und Josef! Und Sie verstehen den Witz am Ende gar nicht, Herr
Hofrat!« fuhr er fort, nachdem er sich von einem ausgiebigen
Heiterkeitsausbruch erholt hatte, -- »haben nie für ein Hundel eine
Marke bei der Grausin, der Wasenmeisterin, um zehn Kreuzer geholt?«

»Und auch sonst nie Beziehungen zu ihr unterhalten?« sagte Dorsch an
Georges anderer Seite und hüstelte.

Blau amüsierte sich unverhältnismäßig. »Der Jude ist eine witzige
Kreatur!« Die Geschichte ging noch viel weiter. Am Schluß hatte Isaak
Bär sich den Freiheitsbaum, der an Stelle des uralten Mainzer
Wahrzeichens, des eisernen Steins, auf dem Markt gesetzt worden war,
schief angesehen und seinen Eindruck von diesem mit der roten
Jakobinermütze gekrönten, bekränzten und bewimpelten Mastbaum dahin
zusammengefaßt, daß er sich hinter dem Ohr kratzte und sagte: »Ei weih!
Ain Baum ohne Worzel, -- eine Kappe ohne Kopp!«

»Volksstimme!« sagte Dorsch jetzt scharf. »Ich bin auch überzeugt, meine
Herren, daß die Sache hier keinen Boden fassen wird. Böhmer zieht uns
den Abschaum der Stadt auf den Hals und macht uns mit seinen Listen und
Deklamationen vor ganz Deutschland lächerlich.«

Böhmer begann den Schreckensmann ^en miniature^ zu spielen. Er hatte
neuerdings im Klub das »rote Buch der Freiheit« und »das schwarze Buch
der Sklaverei« ausgelegt und forderte die Bürgerschaft täglich unter
geheimnisvollen Androhungen oder ekstatischen Hinweisen auf »unsern
Heiland, den Bürger Custine« auf, ihren Standpunkt durch Eintragung in
eins der Bücher darzutun. Er sprach die Absicht aus, »die
Despotenknechte wie Staub vor sich herzujagen« und alsdann die Bürger
mit Gewalt zur Annahme der fränkischen Wohltaten zu zwingen. George, von
Widerwillen geschüttelt, sagte zu Dorsch: »Freund, -- jede große Sache
hat ihre Affen und Narren. Sie lebt aber durch ihre Priester. Es steht
jedem frei, seinen Standpunkt zu wählen.«

Er grüßte hochmütig und bog in die Tiermarktstraße ein. Seine Finger
nestelten an dem gelben Medaillon und lösten es ab. Er gehörte nun zu
ihnen, jawohl. Aber sie sollten ihn nicht hinunterziehen! Er, dem die
Freiheit ins Herz geboren war, bedurfte keinerlei Ausweise für seine
Gesinnung, weder der Kokarde noch dieser verfluchten Hundemarke. Er
betrat sein Haus leise, er suchte sein Kabinett auf, er mußte allein
sein, sich sammeln, seinen Weg in die Zukunft zu erkennen suchen. Und in
der reinen Atmosphäre seiner Arbeitswelt, hier unter seinen Büchern, vor
seinen Manuskripten, unter all den Zeugen seines dem Geist geweihten
mühevollen und gebeugten Lebens, überkam ihn das Bedürfnis, sich vor
einem Gleichgestellten, einem Weggenossen zum ewigen Ziel, zu
rechtfertigen, sich zu reinigen in der Berührung mit einer brüderlichen
Seele, so heftig, daß er den Armleuchter zum Stehpult trug und mit
fliegender Feder an Müller zu schreiben begann:

»Da die Umstände mich nötigen, an der provisorischen Organisation des
Mainzischen Landes, soweit es gegenwärtig in den Händen der
französischen Republik ist, tätigen Anteil zu nehmen, so halte ich es
für unumgänglich nötig, Ihnen, mein vortrefflicher Freund, die Gründe,
die mich bewogen haben, und die Grundsätze, nach denen ich mein
Verhalten einzurichten willens bin, vorzulegen.

Sie wissen, daß in meinen Augen die Freiheit immer das größte,
schätzbarste von allen Gütern gewesen ist und es immer sein wird. Ohne
sie gibt es nach meiner Meinung kein wahres Glück, kein öffentliches
Wohl.

Aber der Philosoph kennt eine moralische und innere Freiheit, die von
der politischen äußeren sehr verschieden ist, die Freiheit, welche
Epiktet auch noch in Fesseln hatte, die Freiheit, welche man selbst
unter der Regierung von Tyrannen behält, wenn man nur Kraft hat, es zu
wollen. Nun, _diese_ Freiheit muß der wahre Gegenstand unserer Verehrung
sein! Denn sie bleibt uns übrig, wenn Klugheit uns zeigt, wie ohnmächtig
die in unserer Gewalt stehenden Mittel sind, um uns den Besitz der
politischen und bürgerlichen Freiheit zu verschaffen.

Wer aber kann den Zeitpunkt bestimmen, wo es dem gerechten und denkenden
Mann zur Pflicht wird, die Erwerbung dieser politischen und
bürgerlichen Freiheit zu versuchen, ohne welche der große Haufe des
Menschengeschlechtes nie zur Vollkommenheit des intellektuellen und
moralischen Wesens, zu der _inneren Freiheit_, dem wahren Endzweck
seines Daseins, gelangen kann? Mich dünkt, man muß die Augenblicke
erwarten, wo der allgemeine Wille sich erklärt, erwarten und sogar
ergreifen, um hervorzubrechen und zu dem großen Werke des öffentlichen
Wohles mit beizutragen ...«

Dieser Zeitpunkt war nunmehr eingetreten, kein Zweifel. George hob den
Blick und sann, fühlte sich feurig durchströmt von Kräften, die einem
neuen großen Gefühl der Verantwortung entsprangen, -- einem eben so
edlen als von ihm mißverstandenen Verantwortungsgefühl, lächelte,
bestürzt vor Glück, setzte die Feder wieder an, zauderte einen
Augenblick und schrieb dann unaufhaltsam fort. Sein Gesicht brannte, als
er fertig war, wunderliche, nie gekannte Schwingen hielten ihn schwebend
über dem Alltag. Er überlas das Geschriebene.

Der Weg, den er sich vorgezeichnet hatte, lag zum erstenmal in voller
Klarheit vor ihm, die Absichten und Ziele, deren er sich während des
Schreibens erst ganz bewußt geworden zu sein glaubte, schienen ihm groß
und schön und aller Opfer wert. Er setzte seinen Namen unter den Brief
und verharrte in Versenkung, das Haupt geneigt. Diese Worte, an Müller
gerichtet, waren mehr als eine Auseinandersetzung seiner Ansichten, als
eine Rechtfertigung seines Eintrittes in den Klub. Sie entschieden über
das Leben, das ihm noch blieb. Sie trennten ihn auf ewig von Deutschland
und der Vergangenheit. Er dachte es nicht aus, was alles sich ihm in
Müller verkörperte, den scheue leidenschaftliche Freundschaft trotz
allen heimlichen Werbens nie ganz zu gewinnen vermocht hatte. Er hatte
einen Scheidebrief geschrieben, er wußte es, -- und wußte es doch nicht.
-- -- --

                   *       *       *       *       *

Frauen brauchten immer längere Zeit, um sich mit dem Neuen abzufinden,
er meinte sich dieser zögernden Haltung einer fertigen Entscheidung
gegenüber von seiten Theresens als etwas ganz Gewohntem zu erinnern,
selbst wenn sie vorher zu dieser Entscheidung gedrängt hatte. War es
nicht immer so gewesen, daß sie ein gedehntes »Ach!« sagte und dann
lange Zeit gar nichts und dann Einwände hören ließ und Zweifel
vorbrachte. Oh, er suchte ängstlich in seinem Gedächtnis nach ähnlichen
Fällen und versicherte sich dann, ja, es sei immer so gewesen! Jedoch es
war diesmal nicht recht von ihr, seine Verantwortung mit ihrem halb
erschrockenen, halb nachdenklichen Hinnehmen seiner Entschlüsse dermaßen
zu belasten, und die betretene Stimmung, die auch Karoline und der gute
Brand, der ja nun freilich ganz und gar nicht maßgeblich war, an diesem
Abend zur Schau trugen, veranlaßten ihn zu einer zornigen
Gesprächigkeit. Was der Vater in Göttingen sagen würde? Wie, war dies
auf einmal ihre erste Sorge? Nun, der gute Alte habe ihm neulich, wie
sie sich wohl erinnern werde, geschrieben, daß man diesseits und
jenseits der Leine in Frieden lebte, äße, tränke und schliefe, -- daran
würde auch der Übertritt seines Schwiegersohnes auf ein ihm fremdes
Gebiet nichts ändern, obschon es gewiß einige Lamentationen kosten
würde. Sie möge nur entschuldigen, sie kenne seine Verehrung, seine
Liebe für den alten Herrn, -- seit wann aber fordere sie, daß er ihm
zuliebe seine Lebenswege in der hannöverschen Tiefebene halte? Viel
peinlicher sei es ihm zumute in Erwartung eines Ausbruchs des
väterlichen Vulkans in Halle, und -- nun ja, er sei eben nicht in der
Lage, das Praktische ganz über dem Ideal hintenan zu setzen, da er sie
und die Kinder nicht hungern lassen dürfe: würde der wackere Voß in
Berlin sich jetzt noch zur Gewährleistung jenes Darlehns der 1500
Dukaten, deren er zur Deckung von allerlei Schulden -- »du entsinnst
dich wohl, meine Teure!« -- so dringend bedurfte, verstehen können? --
Karoline wagte es, mit sanfter Stimme einzuflechten, daß es derlei
Bedenken ja auch sein möchten, die den Hofrat Heyne möglicherweise zu
Lamentationen veranlassen würden und mit einigem Recht. Sie wurde jedoch
gar nicht beachtet, denn mit einer Bewegung, als striche sie etwas
Unsichtbares von der blanken Tischplatte hob Therese kummervolle Augen
zu George empor und sagte mit schwerer Betonung: »Und dies hast du nicht
bedacht, mein Freund, daß du nicht nur die Ehre deines Weibes, sondern
auch ihr und deiner Kinder Leben durch deinen Schritt gefährdest? Oh,
wir werden alle vogelfrei sein, eines Tages ...« Sie nickte
aufschluchzend vor sich hin. George blickte starr auf sie nieder.

»Willst du mir nicht bitte sagen, woher dir dieser Pessimismus kommt?
Vor drei Tagen redetest du anders.«

»Oh, warum gehst du nicht mit Brand nach Italien?«

»Willst du mir bitte nicht erklären ...«

George hielt inne. Er blickte zu Karoline hinüber, die seinen Augen
auswich und sagte, von einer Erkenntnis überkommen, fast ohne es zu
wissen:

»Huber ist hier gewesen!«

Nach einer Weile, als niemand widersprach, wiederholte er diese
Mitteilung, die ihm seine eigene Stimme da eben gemacht hatte, und
setzte hinzu:

»Und -- ich sollte es nicht wissen.«

»Ich weiß nicht, warum ich es dir nicht erzählt habe.« Therese sprach
abgebrochen, in hastigen, kleinen Sätzen. »Er war vorgestern ein paar
Stunden hier. Du hattest die Sitzung wegen der kurfürstlichen
Privatbibliothek ...«

»Was du drei Tage wenigstens vorher gewußt hast ...«

»Bitte, -- mein Freund?«

»Oh, -- nichts!« --

»Er sprach so überzeugt davon, daß die Preußen Mainz wieder nehmen
würden. Er ist doch immer aus erster Hand instruiert. Er hat mich ganz
kleinmütig gemacht. Er meinte, du dürftest dich nicht kompromittieren.«

»Ich sollte meine Überzeugung opfern?!«

»Lache nicht so schrecklich! Er sagte, du könntest auch in Deutschland
als Republikaner leben, in Altona oder Hamburg zum Exempel ...«

Sie sah ihm scheu nach, der nun nach alter Gewohnheit im Zimmer auf und
abzugehen begann. Sie verfolgte sein mühseliges Wandern mit den Blicken
einer befremdlichen, fast haßvollen Gespanntheit. Karoline beugte den
Kopf über ihre Stickerei. Der harmlose Brand gähnte über dem
»Bürgerfreund«, der neuen Zeitung des revolutionären Mainz. Therese
wartete. Aber George sagte nur:

»Ich habe noch Schreibarbeit. Ich bitte mich zu entschuldigen. Willst du
dafür sorgen, daß ich warme Mehlsäckchen zum Umschlag vorfinde, -- mein
Knie ist wieder sehr schlecht.«

Er nickte Gute Nacht und ging hinaus. -- -- --

Der rasende Ablauf der Tage vor einem großen Aufbruch ist bekannt. Es
sind Geschäfte zu erledigen, unabsehbare Geschäfte, deren Wichtigkeit
uns fast erdrückt und von denen wir nie zugeben würden, wir wüßten, daß
wir sie überschätzten. Sich mit ihnen abzugeben, scheint Aufschub zu
bedeuten, nicht wahr? Einer, der bisher gelebt hat wie der Mönch in
seiner Zelle, auf seine Pergamente gebückt, die Füße dem Löwen des
Geschicks fest auf den Nacken gestellt und nicht duldend, daß er sich
erhebe, -- er rast auf einmal, da die Uhr ihm zu Häupten zum Schlage
schon ausholt, hinaus vor die Welt, reißt sich das Gewand vor der Brust
auseinander und schreit: Hier bin ich, nehmt mich hin! während das
befreite Ungeheuer hinter ihm sich erhebt und ihm die Pranken auf die
Schultern legt. --

Beiseite also mit dem stillen Handwerkszeug der Wissenschaft! Und Waffen
zur Hand, bisher noch nicht geübt, deren Schärfe unerprobt, deren
Tragkraft unberechnet war. Erfahrungen, die bis dahin ungenutzt geruht,
hervorgeholt und formuliert, bis sie zum Wurfgeschoß brauchbar schienen;
eine Zeitung gegründet, Artikel ohne Zahl geschrieben, Reden
ausgearbeitet und frei vom Blatt vorgetragen! Der Freiheit, der
Gleichheit, der Brüderlichkeit, der Menschlichkeit Hymnen gesungen, der
Tyrannei das Urteil gesprochen, alle noch in der Nacht der Despotie
schmachtenden Völker weidlich bedauert und einmal offen deklariert, daß
der Rheinstrom die gegebene Grenze zwischen Frankreich und Deutschland
sei! Sich dem erhabenen Beruf des Menschenlehrers inbrünstig hingegeben
und die unglücklichen verblendeten Bürger und Bauern nach Kräften über
ihren Zustand der Ausgesogenheit und Zertretenheit aufgeklärt, da sie
denn dermaßen durch jahrhundertelangen Mißbrauch abgestumpft waren, daß
sie nur blöde in die Sonne der Freiheit starrten und gar die alte Nacht
zurückverlangten. Die Emissarien des Kurfürsten schlichen im Dunkeln
umher und köderten das törichte Volk mit unverantwortlichen
Versprechungen, da war kein Zweifel. Aber die Wahrheit war auf dem
Marsche und man sollte nur erst die Wahlen kommen, sollte den freien
Mann sich frei zu seiner Gesinnung bekennen sehen!

George, in den Wirbel einer fremden Tätigkeit hineingerissen, vor die
Aufgabe gestellt, sich in Gebiete einzuleben, die er bisher kaum vom
Hörensagen kannte, in Fragen der städtischen und ländlichen Verwaltung,
von früh bis spät von Klubgenossen, Offizieren, Bürgern und
Landbewohnern überlaufen, durch seine Anstellung in der am 19. November
errichteten Administration zum Leitstern für alle verzagten Seelen
seines Kreises geworden, -- George verlor völlig die Besinnung auf sein
eigenes Leben und wußte es nicht mehr, daß er hier auf der Bühne des
Weltgeschehens agierte, die Faust zum Himmel schüttelte, Arme
ausbreitete und zum Besten des Mainzer Volkes weinte, lachte und
deklamierte, daß er dies alles tat, um sich des Menschen nicht bewußt zu
werden, jenes Menschen, der mit seinem Schicksal bekleidet wie mit
seiner Haut jetzt schreiend und keuchend durch die innersten kreiselnden
Gänge des Labyrinthes jagte ...

Von Huber kamen aufgeregte Briefe. Nun, Huber durfte nicht nach Mainz
kommen und nächstens würde er nach Dresden zurückmüssen. Warum sollte
Huber nicht ein letztes Wiedersehen gewährt bekommen, warum ihm den
Wunsch nach einer Zusammenkunft in Höchst abschlagen, nach der er, --
und auch Therese, und auch Brand, und schließlich auch er selbst, ja,
auch George! -- verlangten?

Es war gar nicht nötig, daß Brand ihm dermaßen zuredete und seine
Berline zum Zweck dieser kleinen Reise zur Verfügung stellte. Er würde
gewiß selbst auf den Gedanken dieses Ausfluges gekommen sein, hätte er
nur mehr Zeit gehabt. Als Vizepräsident der Administration hatte er
selbstverständlich einen ^Passepartout^ durch alle Vorposten hindurch
und nun war es nach all den Tagen der Unrast und der ununterbrochenen
Arbeit fast eine Erholung, auf der kriegerisch belebten Landstraße
mainaufwärts zu rollen, die stille Heiterkeit einer milden Sonne nach
dem frostigen Nebel der Frühe zu spüren, nicht reden, nicht denken zu
müssen. Da war Therese an seiner Seite und Brands festes rosiges
Knabengesicht ihm gegenüber, das mit einem seltsamen Gemisch von
Verachtung und Neugier auf die marschierenden Nationalgarden sah, die
die Straße immer wieder sperrten, Lieder sangen und ihre gutlaunigen
Scherzworte zu den Reisenden hinüberriefen. »Sie halten uns für Mainzer,
die >kränkelnder Umstände halber< für eine Weile verreisen«, wiederholte
Therese erheitert die Wendung aus der Privilegierten Zeitung, mit der
jetzt dort täglich Personen ihrer bevorstehenden Abreise den Anschein
einer Flucht zu nehmen suchten. Dies waren, setzte sie ihre
Betrachtungen fort, zumeist Frauen mit ihren Kindern, die von ihren
Ehemännern aus der gefährdeten Stadt geschickt wurden. Billigte übrigens
George ein solches Vorgehen von Ehemännern? Ein nervöses kleines
Gelächter folgte dieser Frage. Da George schwieg oder über dem Geräusch
der Räder gar nicht verstanden hatte, fühlte sich der höfliche Brand
bewogen, zu bemerken, es sei die Pflicht jedes Gentlemans, seiner Lady
den Anblick der Szenen des Krieges zu ersparen, geschweige denn, sie vor
Schlimmerem zu beschützen! George, wie aus einem Schlaf erwachend,
fragte: »Ja, befürchten Sie denn noch Kriegsszenen in unserm guten
Mainz?« Und als der Engländer stumm mit den Augen auf einen Trupp
Soldaten wies, der in dem Dorf, das soeben passiert wurde, am Brunnen
mit einer alten Bäuerin um ein paar Gänse handelte, und zwar in einer
Weise, die auch dem flüchtigen Beobachter keinen Zweifel über Form und
Ausgang dieses Handels ließ, zuckte er die Achseln und rief: »Das Volk
hat es selbst in der Hand, ob diese Soldaten mit der Pike oder mit dem
Palmenzweige in den Händen zu ihm kommen. Es gibt eben Religionen, die
müssen mit Feuer und Schwert gesät werden!« Indem rasselte der Wagen
schon durch die Gassen von Höchst und unter der Tür des >Roten Ochsen<
auf dem Marktplatz stand Huber und trat nun, einen Ausdruck leidender
Spannung auf dem blassen Gesicht, heran, um die Freunde zu begrüßen. Das
gemeinsame Mahl verlief ziemlich schweigsam. Therese erzählte von
Haushalt und Kindern; hatte Huber noch die neuen roten Winterkleidchen
an den Mädchen gesehen? Sie sahen so allerliebst darin aus, besonders
das Clairchen. Und Röschen sei in die Mansardenstube gegangen, habe sich
dort auf einen Schemel gesetzt und gesagt: »Ich will an den Onkel Ferdi
denken.« Im Wagen übrigens sei ein Paket mit Hemden und Strümpfen von
ihm, die noch aus der Wäsche gekommen seien, sie seien auch schon
geflickt, -- »ja, lieber Brand, das müssen Sie nun schon in Kauf nehmen,
daß eine deutsche Hausfrau selbst bei Tisch von Hemden und Strümpfen
spricht!« -- und da sei außerdem ein Pack aus Jena mit Druckschriften,
zum Rezensieren wahrscheinlich. Die Einquartierung im Hause würde immer
lästiger. Sie hätten nun bald eine halbe Kompagnie Soldaten in den
Räumen im Erdgeschoß, die allerlei Unfug trieben und neulich versucht
hätten, ihre Suppe auf dem Kaminfeuer zu kochen, ein Balken hinter dem
Kamin sei in Brand geraten, man hätte Maurer ins Haus holen und mit Müh
und Not löschen müssen. Die Offiziere seien chevalereske Leute, aber
recht anspruchsvoll, -- ja, die wohnten nun in der Mansardenstube ...
Ihr Geplauder versiegte allmählich unter dem drückenden Schweigen der
Männer. Das Essen war abgetragen. In dem engen, schlecht gereinigten
Zimmer, das der Wirt ihnen auf ihren Wunsch, allein sein zu können,
eingeräumt hatte, dunstete das Kohlenbecken, ohne Wärme zu verbreiten;
von dem hochaufgetürmten Bett und den bekritzelten Wänden ging die
Vorstellung schlafloser Nächte aus, der unbehaglichen Nächte
Durchreisender und Heimatloser. Auf einmal preßte Huber die Stirn in
beide Hände, stöhnte unwillig, sah dann auf und sagte entschlossen: »Ich
war in so entsetzlicher Sorge um Euch, mein bester Freund, und dies
ist's, warum ich Euch hergerufen habe ...«

George machte »Ach!« und: »Hätten Sie sich doch in Ihren Briefen
deutlicher ausgesprochen! Ich wäre geflogen, Sie aus Ihrer Unruhe zu
reißen!«

Indessen wußte er wohl, Worte bedeuteten jetzt keinen Aufschub mehr. Da
Huber verstummte und grübelnd vor sich hinstarrte, nahm er den
unsichtbaren Ball auf und warf ihn zurück: »Ihre Sorge um uns kann kaum
größer gewesen sein, als die unsere um Sie. Oder sprechen wir von Mann
zu Mann und aufrichtig: es schmerzt mich, daß Sie nicht imstande sind,
mit den politischen Überzeugungen Ihres Kopfes und Herzens Ernst zu
machen. Wenn wir unsern Freund in einer unklaren Stellung sehen, wenn
er, -- vergeben Sie mir das Wort, -- Ideale äußeren Verhältnissen
opfert, so weinen wir mit seinem Genius um ihn.« Er stemmte die Knöchel
der rechten Hand auf den Tisch und blickte Huber sanft strafend an. Der
wandte sich gequält ab. Therese, die ihren Hut gar nicht abgebunden
hatte, zog nun auch den weiten Mantel wieder fröstelnd um ihre Schultern
zusammen und sah tief erblaßt von einem zum anderen.

»Es handelt sich hier augenblicklich nicht um Politik«, sagte Huber
endlich leise und nach Worten suchend. »Ich bin als Jüngling in eine
politische Laufbahn eingetreten, ohne zu wissen, was ich tat. Dieser
äußere Beruf wird in kurzer Zeit von mir abfallen wie die Hülle, wenn
die reifende Frucht sie sprengt. Da ich kein ^enragé^ bin ...«

»Welcher Vernünftige wäre es?«

»Da ich kein ^enragé^ bin, so mache ich aus der Tatsache meiner inneren
Entwicklung nicht den Auftakt zu einer Tragödie ...«

»Wer -- tut -- denn das?«

Huber starrte düster vor sich hin. Dann raffte er sich auf:

»Als ich Ihnen neulich zuredete, sich frei zu Ihrer Überzeugung zu
bekennen ...«

»Oh, es bedurfte keines Zuredens! Wahrlich!«

»Um so besser! Oder um so schlimmer! Kurzum: nie war es meine Meinung,
Sie sollten sich in eine Rolle begeben, wie Ihre heutige in Mainz es
ist, sich dermaßen bloßstellen, sich vor ganz Deutschland
kompromittieren. Wozu denn diese Reden auch noch drucken lassen? Wozu
denn nach Frankfurt hinüberdrohen? Wissen Sie, wie man in Frankfurt über
Sie spricht? Und daß wir die Preußen vor unsern Toren haben?«

»Welche Sprache! Aber ich halte es Ihrer Erregung zugute!«

»Oh, ich bin außer mir! Ich sehe mein Teuerstes in Gefahr ...« Er besann
sich, atmete tief und verbesserte:

»Meine teuersten Freunde am Rande eines Abgrundes. Oh Gott, mein Freund!
Noch können Sie zurück!«

Er streckte beschwörend beide Hände aus und blickte George flehend an.
George sagte mit einem Gefühl, als rauchte der Eishauch seines jählings
erstarrten Herzens aus seinem Munde: »Wohin bin ich geraten? Dies ist
eine Verschwörung! _Was wollt ihr denn von mir?_«

Er hatte sich erhoben und einen Schritt vom Tisch zurückweichend starrte
er mit erbitterter Befremdung in diese drei ihm zugewandten Gesichter.

»George!« bat Therese schmerzlich, »du darfst ihn nicht so
mißverstehen!«

»Ihr seid alle drei im Bunde gegen mich!«

»^Nonsense, Sir! It's your own best we intend!^« murmelte Brand
unbehaglich vor sich hin. Er drehte sich samt seinem Stuhl zum Fenster
um. Der frühe Abend begann den Westen trübe blutig zu färben. Dämmerung
schlich in die Kammer.

»Wir wollten Sie, teuerster und edelster Mann, nicht bestürmen, von
Ihrer Überzeugung zu lassen«, sprach Huber nun sanft und nahezu demütig,
indem er auf George zutrat und ihn umfaßte. »Wie dürften wir das
unternehmen, die von Ihnen geleitet, den Weg dieser Überzeugung selbst
betreten haben und gewillt sind, ihn niemals wieder zu verlassen!«

»Aber Georgie! Als ob wir nicht alle eines Sinnes wären!«

»Was ich Sie nur bitten möchte, -- wozu mich mein Gewissen drängt ...
Oh, Forster, war es denn nötig, gleich diesen vorgeschobenen Posten zu
wählen ...«

»Nicht ich wählte. Die Wahl fiel auf mich.«

»Gleichviel. Oder ihn anzunehmen? Sehen Sie, auch ich, -- auch ich ...
Ich werde mein Amt niederlegen, sobald gewisse einmal angefangene
Geschäfte abgewickelt sind, sobald der schickliche Augenblick sich
findet. Ich werde dann als Privatmann leben, mich als freier ^homme de
lettres^ durchschlagen.«

»Sie haben nicht für eine Familie zu sorgen, -- in der Tat!«

»Oh, Forster! Als ob mein Wohl und Wehe noch jemals von eurem zu trennen
wäre! Wenn wir uns einen Platz in der Welt gesucht hätten, wo wir
zusammen hätten weiter leben können wie in Mainz ...«

George war ans Fenster getreten. Er stützte den Kopf in die Hand und
blickte in den traurigen Abendhimmel, als sei er allein.

»Zusammen weiter leben wie in Mainz ...« wiederholte er langsam und
nickte vor sich hin. Dann wandte er sich ins Zimmer zurück. »Und warum
sollte das jetzt unmöglich sein?«

»Weil, -- ums Himmels willen, Freund, sind Sie denn mit Blindheit
geschlagen? -- weil Frankfurt morgen oder übermorgen oder meinetwegen in
drei Tagen in preußischen Händen sein wird und dann ist Mainz doch auch
in wenigen Tagen wieder frei!«

»Frei! Hahaha! Lieber Huber, Sie haben das Wesen der Freiheit begriffen!
Sie haben es begriffen!«

»Daß Sie doch bei der Sache bleiben wollten! Man wird Ihnen mit hundert
andern den Prozeß machen, Sie einkerkern, füsilieren, was weiß ich. Sie
meinen, Sie werden dann mit der französischen Armee ins Innere von
Frankreich fliehen, -- gut ...«

»Sie gehen ja von ganz falschen Voraussetzungen aus. Welche Meinung
haben Sie denn von Custine und diesen herrlichen Truppen! Frankfurt wird
nicht preußisch werden und Mainz erst recht nicht. Wir haben Kastel
befestigt. Wir halten eine zweijährige Belagerung aus.«

Huber ging auf ihn zu, als wollte er ihn bei der Gurgel packen. Nahe vor
ihm blieb er mit geballten Fäusten stehn, blickte von unten heraus böse
in sein Gesicht, was er zuwege brachte, obgleich er größer war als
George, und schrie:

»Und dem allen wollen Sie Ihre Frau aussetzen?«

Gleich darauf faßte er sich, kehrte sich ab und fügte mit schwacher
Stimme hinzu: »Und Ihre Kinder ...«

George sagte dumpf und blickte niemand an:

»Therese kann ja fliehen.«

»Oh, was beschließt ihr über mich!«

George murmelte: »Wer hat denn schon beschlossen?«

Aber nun erhob sich Brand. Seine große, etwas ungeschlachte Gestalt
verdunkelte das eine Fenster völlig, niemand konnte mehr die Gesichter
der andern erkennen. Brand redete mit vielen Handbewegungen, redete in
seinem ungeschickten Deutsch voll gutmütiger Heftigkeit. Er wollte Mr.
Forster in seine Berline packen und nach Italien entführen, kurz und
gut. Er habe es auch satt, in Mainz der ^gentilhomme anglois^ zu sein,
der Spionage verdächtig und unter steter geheimer Überwachung. Er würde
aber nicht nach Göttingen gehen wie sein Oheim es wünschte, sondern auf
eigene Faust nach Italien, über Mailand und Florenz nach Rom, wenn nur
Mr. Forster Vernunft annehmen und mit ihm gehen und die Franzosen ^to
their own damned affairs^ überlassen wollte! Ehe noch George ein Wort
sagen konnte, rief Huber emphatisch: »Dies ist ein Wink der Götter!«

»Und Therese -- und meine Kinder?« murmelte George, die Hand an der
Stirn.

»Oh, lassen Sie Ihre Freunde sorgen! Vertrauen Sie ihnen doch! Bis Sie
ungefährdet zurückkehren können, tragen andre Ihre Pflichten!«

»Nur die Pflichten?« sagte George tonlos und niemand vernahm ihn.

»Und außerdem ist dir der Vorschuß von Voß doch sicher«, hörte er
Therese seltsam gelassen sagen. »Als Brands Bedienter kämest du ohne
Gefahr aus Mainz heraus bis Basel.«

»Als Brands Bedienter, sagst du.«

Es war dunkel geworden. Huber ging an die Tür und rief nach Licht.
Niemand sprach ein Wort. Als der Aufwärter mit der dürftig scheinenden
Unschlittkerze eintrat, hob George ihm das Gesicht entgegen, ein
graubleiches verfallenes Gesicht, und befahl, er möge anspannen lassen.
Dann, sich Haltung gebend, in gefaßtem Plauderton, mit einem Lächeln zu
Therese hinüber und dann, als er Theresens Augen ratlos ins Leere
gerichtet fand, Huber fest und freundlich ansehend, sagte er:
»Vielleicht werden die nächsten Tage unsere Entschlüsse reifen. Glauben
Sie nicht, lieber Freund, daß ich von irgend jemand auf der Welt das
Opfer fordern werde, mit mir zu leben -- und zu sterben.«

Therese schluchzte auf.

»Oh, George! Welche großen Worte wieder!«

»Mein gutes Kind! Ich glaube, -- jetzt hab ich ein Recht auf sie.« -- --
--

                   *       *       *       *       *

Der Pfeil war auf die Sehne gelegt. Der Schütze in den Sternen zielte.

Der Adventsreiter von Frankfurt war unterwegs. Sein grüner Dolman fegte
hinter ihm drein, unter den Hufen seines Rappen stob der neue Schnee.
Kam er durch die Dörfer, so ritt er langsamer und stieß in die Trompete:
»^Trahisson! Massacre! Vengeance!^ Die Preußen haben Frankfurt genommen!
Ver--rat!«

In den sonnigen Nachmittagsstunden des 2. Dezember, eines Montags, stand
George mit Therese und Brand auf den Schanzen von Kastel. Diese kleine
Promenade hatte ihm gut tun, hatte die entsetzliche Unrast in ihm ein
wenig dämpfen sollen. Der bei ihnen einquartierte Artillerieoffizier an
seiner Seite machte aufs artigste den Führer durch die Verschanzungen
und erklärte die Arbeiten, mit denen Bauern aus der Umgegend und
Soldaten Schulter an Schulter beschäftigt waren. Hier herrschte
brüderliche Tätigkeit, ach, es war ein Bild, dessen sich das bebende
Herz getrösten konnte. George hörte Therese plaudern, hörte sie
ernsthafte kleine Fragen tun; er fühlte ihre Hand seinen Arm umspannen,
wie sie es zu tun pflegte, wenn sie in Eifer geriet, -- da lächelte er
und drückte diese kleine Hand an seine Brust. Brand kletterte mit
Röschen auf den überfrorenen Lehmhaufen herum, das Kind jauchzte und
rief den grabenden Soldaten sein winziges: »^Bon jour, citoyen!^« immer
wieder zu, vergnügt über die Heiterkeit, die ihm antwortete.
Schneegewölk quoll rings um den Horizont auf und erstickte die ohnehin
schon tief stehende Sonne. Ihre letzten Strahlen lagen mit seltsam
aufregendem Licht auf den hohen Türmen der Stadt dort drüben, während
hier der kalte graue Schatten schon stand und der Strom matt und bleiern
durch wallenden Nebel glänzte.

In schwermütigem Gedankenspiel sagte sich George, daß sein Haus jenseits
des Stromes im Land der untergehenden Sonne läge, und daß er nicht über
die Brücke zurück, sondern ostwärts gehen sollte, dem Lichte entgegen.
Er sagte sich dies, und in einem mechanischen Zwang die Allegorie weiter
führend, redete er sich ein, daß der sinkenden Sonne folgen auch heißen
könne, _wieder_ mit ihr aufzugehen, -- als er mit einem Male durch das
grelle Schmettern einer Trompete und eine durch die Kolonnen der
Arbeitenden zur Straße hinwogende Bewegung zum jähen Aufblicken
vermocht, den grünen Reiter, den Adventsreiter von Frankfurt erblickte,
wie er soeben nach kurzem Anhalten inmitten einer Gruppe von Offizieren
und Mannschaften weiterjagte, der Rheinbrücke zu, deren Bohlen alsbald
unter den Hufen dröhnten, während die Worte: »^Francfort! Trahisson! Les
Prussiens! Massacre!^« durch die Reihen liefen wie fressendes Feuer,
Flüche laut wurden, Fäuste sich ballten und Bruchstücke einer blutigen
Geschichte, Raben eines fürchterlichen Gerüchtes durch die Luft
flatterten, schreiend und Rache heischend. Und plötzlich fand sich
George allein unter den fremden, wild redenden und gestikulierenden
Soldaten, sah Therese hinüberlaufen zu Brand, der ihr entgegeneilte, sah
sie die Hände auf seinen Arm legen und hörte sie rufen: »Oh, Brand, da
sehen Sie, -- da sehen Sie! Er hatte recht! Er hatte wirklich recht!« --
-- --

                   *       *       *       *       *

In der folgenden Nacht, -- einer furchtbaren, endlosen Nacht, -- machte
George es sich klar, daß es nun nur noch ein Vorwärts für ihn gäbe, und
daß er, traumwandelnd wie er zu seinem öffentlichen Bekenntnis zur Sache
der Freiheit gekommen war, nunmehr erwacht für sie einstehen müsse. Und
da die Freiheit keines Volkes Sache zu sein schien, als die Sache
Frankreichs, so mußte er eben für Frankreich eintreten, war sein Blut
und seinen Geist keiner irdischen Macht mehr schuldig, außer der
Souveränität des freien Frankenvolkes und seinen Mitbürgern, insoweit
sie Frankreichs Sache zu der ihren gemacht hatten. Den letzten Funken
und den letzten Tropfen für Mainz, wenn es feurig und heldenhaft für die
Menschenrechte zu streiten und zu sterben begehrte! Den Staub dieser
Stadt von seinen Schuhen, wenn sie, gleichen Geistes wie Frankfurt, in
dem friedlichen Eroberer nichts sehen wollte als den alten Erbfeind im
Schafskleid, und die erste Gelegenheit wahrnahm, um die arglosen
Freiheitssöhne zu überrumpeln, dem deutschen Heer die Tore zu öffnen und
sich mit Freudengewinsel unter den Fuß der heimkehrenden Despotie zu
ducken! Und darum wohl von vornherein: den Staub von seinen Füßen! Denn
daß dieser Geist in Mainz umging, wer wollte daran zweifeln? Darüber
würde auch der tobende Klub nicht hinwegtäuschen, der in seiner
Zusammensetzung immer mehr an ein Narrenhaus erinnerte und eine
Zufluchtsstätte für alle geworden war, die bis dahin im Leben zu kurz
gekommen waren und ihre unausgelebten Begierden nun zum Himmel schrien,
von wenigen Ausnahmen abgesehen. Nein, nein, der deutsche Bürger war
nicht reif für die Freiheit der Selbstbestimmung! Fünfzig, ja hundert
Jahre der Entwicklung fehlten ihm noch! Welche Gnadenfrist für
Deutschlands Fürsten, dachte George von längst begrabenen Wünschen noch
einmal spukhaft berührt. Einem jener Fürsten, denen Ludwigs Schicksal
jetzt wie der böse Traum einer bangen Nacht scheinen mochte, der Joseph
sein dürfen, der diesen Traum ausdeutete, der seine Warnungen in klaren
Lettern an die Wand schrieb ... Da denn sein Leben doch unaufhaltsam der
öffentlichen, der politischen Rolle zugetrieben war, dem heißen Drang
nach weiter Wirksamkeit folgend, diesem uneingestandenen Drang nach
sichtbarer, nach hörbarer, nach _ruhmvoller_ Wirkung, -- oh, warum dann
nicht jenen Weg, der doch vielleicht auch offen gestanden hätte, den Weg
der aufgehenden Sonne entgegen? Indessen, sagte er sich in seinen heißen
Kissen verzweifelnd und immer wieder auf das Marschieren draußen
lauschend, denn die von Frankfurt zurückgenommenen Truppen durchzogen
nächtlich die Stadt, alle diese Betrachtungen waren Versuchungen des
Dämons der Wankelmütigkeit und es galt nichts mehr als das »^Allons,
enfants de la patrie^« und den Rhythmus des ^Ça ira^ in seiner
wahnsinnigen Unbekümmertheit. In einer bangen Rührung hatte er längst
wahrgenommen, daß auch Therese nicht schlief. Ihr Herz hält sie wach,
dachte er, nun ganz an sich selber hingegeben und fühlend, daß all das
unermüdliche Raisonnement seines Verstandes nichts war, als eine Übung,
um dieser innersten schrecklichsten Sorge zu entgehen. Ihr Herz hält sie
wach, sagte er sich, ihr verzagtes Herz, das Herz eines Weibes und das
einer Mutter! Schreckensvoll abgewandt von der fratzenhaften Einbildung,
die ihm anderes einflüstern wollte, die da wußte, Therese will gehen und
-- Therese hat nun einen Anlaß gefunden, -- die Hand über die Augen
legend, als könnte er sich so dem Aufflammen entsetzlicher Einsicht
verschließen, sprach er sich die Grundsätze vor, denen jetzt zu folgen
war, nämlich, daß er handeln müsse als sei er der einzige unbedingt
verläßliche Mensch auf der Welt, der Opfernde, der für sich kein Opfer
forderte. Und da kam der Schlummer über ihn, der Schlummer mit der
kühlen Schale des Vergessens.

                   *       *       *       *       *

Er hatte sie gefragt, -- und er hatte ein Lächeln dabei gehabt und eine
Liebkosung, --: »Wie ist es denn nun, liebes Kind, wärest du bereit,
abzureisen, wenn nun die Preußen ...« Er vollendete den Satz nicht, er
lächelte wieder. Nach den neuesten Berichten schien es so
ausgeschlossen, daß die Preußen kämen. Custine hatte Frankfurt aus den
Händen gelassen, das war Strategie. Er hatte die Truppen auf Mainz
zurückgezogen, Kastel war befestigt, die Stadt nach Eikmeyers Ansicht
auf eine zweijährige Belagerung vorbereitet. Jedoch, so hatte wiederum
Eikmeyer, das militärische Orakel des Klubs, geäußert, woher wollte der
General Kalkreuth jetzt die Armee aufbringen, die Festung
einzuschließen? Es lag mithin kein Grund vor, Mainz als gefährdeten
Boden zu verlassen, und wenn der Vizepräsident der Administration seine
Familie wegschickte, gab er damit nicht zu, daß er, ein Vertreter der
Stadtverteidigung, anderer Ansicht war? Würde das nicht heißen, die
Bürgerschaft beunruhigen, den Vorsätzen also, mit denen er sein neues
Amt übernommen, untreu werden?

»Nun, -- _diese_ Bürgerschaft ...« Therese wand ihre Schultern.

»Sie ist keine Opfer wert in ihrer Lauigkeit, -- freilich, da hast du
recht. Aber vielleicht verlangt meine Ehre es doch, daß ich öffentlich
erkläre, daß ich ...«

»Daß du was erklärst, Georgie?«

»Nun, daß ich mich von ihnen lossage, _weil_ sie nicht _für_ die
Freiheit sind und also wider sie, daß ich mich nur noch als fränkischer
Beamter fühle und mithin handele, wie es mich gut dünkt, -- und nicht,
wie die Rücksicht auf ein verstocktes Publikum es erfordert.«

Therese blickte nachdenklich von ihm zu Karoline.

»Und wenn dies, -- wenn diese Lossagung gerade den Erfolg hat, daß die
Bürgerschaft sich besinnt, -- um dich nicht zu verlieren? Nun, -- nimm
an, -- es wäre alles möglich« ...

George zögerte. Dann lächelte er und sagte auch seinerseits dem Anschein
nach zu Karoline:

»Dann freilich wärest du wohl meiner Ehre das Opfer schuldig, noch ein
wenig zu verweilen. Vielleicht würdest du dann auch erleben, daß die
Preußen gar nicht ...«

Therese sagte hastig: »Sie kommen. Wir gehen greuelvollen Szenen
entgegen. Was willst du? Brand ist bereit, mich nach Straßburg zu
bringen. Er hat die Unbeirrtheit des Unbeteiligten, er sieht klarer als
wir alle. Er dringt auf die Abreise!«

»Brand ist ein Knabe und glaubt alles, was Huber ihm vorspricht.«
Karoline, die Schweigsame, war auf einmal so heftig. »Mainz jetzt zu
verlassen, -- oh, meine Liebe, es fehlt mir an Ausdrücken ... Ich habe
auch ein Kind ...«

Therese sah sie blaß und hochmütig an: »Und spielst ^va banque^ mit
seinem Leben!«

Die beiden Frauen blickten sich in die Augen:

»Und du, -- womit spielst du, Therese?« -- --

                   *       *       *       *       *

Am Montag hatte er die Rede im Klub halten wollen, in der er dem
Publikum seinen Standpunkt deklarierte. Es war am Samstag abend, daß
Therese, als die Kinder schliefen, zu ihm kam und bebend sagte: »Laß
mich doch morgen mit den Kindern fahren, George. Weil doch auch Brand
nicht länger warten kann ...«

Allerdings hatte Brand fast täglich Mahnungen von dem aufgeregten Lord
Dacre, die unterminierte Stadt schleunigst zu verlassen. George
argwöhnte nicht ohne Grund, daß es nicht nur das vulkanische Mainz,
sondern ebenso das verfehmte Haus des Jakobiners Forster war, das Sr.
Lordschaft nicht mehr als Aufenthalt für den Neffen behagte. Er sagte
langsam: »Weil Brand nicht länger warten kann, gewiß.«

»George, -- ach, warum lächelst du jetzt nur?«

»Weil ich dich so gut verstehe, Therese. Nun, -- sieh mich nicht so an,
mein Liebling. Ist es nicht seltsam, Kind, daß unsere eigensten
Verhältnisse so mit den großen Angelegenheiten der Zeit und der
Menschheit zusammenfallen?«

»George, -- ich verstehe dich nicht. Du schickst uns mit Brand nach
Straßburg ...«

George blickte still in sein Licht.

»Ich schicke euch nach Straßburg, -- nun gut, Therese, -- und ...«

»Oh, George, warum sprichst du jetzt so?«

Sie ging weinend hinaus. --

                   *       *       *       *       *

Der Tag war frostig, nebelgrau und feucht. George hatte das Klärchen auf
dem Arm und das Röschen an der Hand. Sie standen auf den Stufen des
Hauses und sahen zu, wie der große, eilig vollgepackte Koffer hinten auf
die Berline aufgeschnallt wurde.

Brand hatte sich schon verabschiedet und war gegangen. Er fuhr mit der
Postchaise nach Straßburg, es vertrug sich nicht mit seinen
Anstandsbegriffen, im gleichen Wagen mit der Frau seines deutschen
Freundes abzureisen. Oh, Mr. Forster hatte keinen Grund, ihm zu danken.
Er erfüllte nur seine Pflicht als ^gentleman^. Da denn Mr. Forster seine
Frau nicht selbst zu begleiten wünschte ...

Dies war Old England, das ihn da mit den Augen einer kühlen
Selbstgerechtigkeit noch einmal musterte, wußte George. Er wußte es mit
Gelassenheit, wenn er es überhaupt empfand. Er fühlte die warmen kleinen
Hände seiner Kinder und sonst nichts. Im Hintergrunde hörte er Theresens
Stimme, die der Magd Marianne Anweisungen gab, -- Lise fuhr mit nach
Straßburg. Oh, beschwörende Anweisungen ohne Zahl. Und daß Marianne am
Abend nur nie die warmen Umschläge für den Herrn vergessen möge, die
warmen Mehlsäckchen für sein Knie! Die warmen Mehlsäckchen, -- jawohl,
dachte George. Er hörte ihre Schritte hinter sich. Er ging die Stufen
hinunter und gab das Klärchen der Magd zu halten.

»Warum weint Sie denn, Lise, warum denn?« murmelte er und beugte sich zu
Röschen hinunter.

»Warum kommen Sie denn nicht mit, guter Papa?« Das Kind umklammerte
seine Hand. In das ängstliche kleine Gesicht hinein sagte George
lächelnd, daß er noch ein wenig hier bleiben wolle, bei den guten
Soldaten, und daß er sich dann auch in eine Kutsche setzen und dem
Röschen nachfahren würde, zum Christfest, freilich doch, zum Christfest
schon! Einen Augenblick versucht, selbst zu glauben, was seine
überredende Stimme da sagte, so jammerte doch gleichzeitig sein Herz zu
Gott, daß er ihm doch auch einen Trost geben möge, ein Versprechen, --
ach, und wenn schon ein unmögliches Versprechen! Aber da stand Therese
nun am Wagenschlag, in dem braunen Reisemantel mit den großen
perlmutternen Knöpfen, -- dies war der Mantel der Abreise am
Hochzeitsabend in Göttingen gewesen! Torheit der Erinnerung! -- den
blauen Schleier fest um den hohen englischen Hut, um das weiße Gesicht
geschlungen. Wie in einer wunderlichen Abwesenheit des Geistes tasteten
ihre Hände am Gepäck, befahl ihre Stimme Lise, mit den Kindern
einzusteigen, fragte nun tonlos: »George, -- du fährst doch noch mit uns
bis zum Tor?« Und da er zauderte: »Nein, nein, -- du darfst auch nicht
den Anschein erwecken, -- ich weiß!« Der Kutscher möge langsam durch die
Stadt fahren und am neuen Tor auf sie warten, rief sie, »Dein Hut!« rief
sie, »dein Stock!« eilte die Stufen hinauf, der verstörten Marianne
beides abzunehmen, kehrte noch einmal um, lief ins Haus und kam mit dem
wollenen Halstuch zurück. Er hörte indessen den Wagen anrücken, sah die
kleinen Gesichter der Kinder, ratlos, wie ihn dünkte, auf sich, auf das
Haus ihrer Heimat gerichtet, bis sie entschwanden, fühlte Theresens
Hände, die ihm den Schal umknüpften, bebende, kleine Hände, gewiß, er
kannte dies Beben, jawohl, und nun ging er, ging mit Therese am Arm die
Tiermarktstraße hinauf. Der Hofrat Forster, der Vizepräsident der
Administration, hier ging er durch Mainz, seine Gattin am Arm. Kein
Grund sich aufzuregen für das Publikum, nicht wahr?

»Du hast so eisige Hände, Georgie, -- ich vergaß deine Handschuhe, --
ach verzeih!«

»Aber ich bitte dich, Liebe, -- das schadet doch nichts. Hast du auch
deinen Muff im Wagen, -- die Kaninchenkatze, Therese?«

»Oh, Georgie, -- oh! Ich habe alles, auch Fußsäcke und den großen Pelz
für die Kinder.«

»Das Klärchen hat den Schnupfen ...«

»Du hast so schrecklich gehustet vergangene Nacht, Georgie. Vergiß nie
den Eibischtee abends. Marianne stellt ihn dir hin, aber du mußt ihn
auch trinken. Heiß, Georgie, -- ganz heiß!«

»Liebe, du mußt dich nun gar nicht mehr sorgen um mich. Du wirst genug
mit euch selbst ... Wirst du mit dem Gelde auch reichen?«

»Ach, George!«

»Warum weinst du denn, Liebling? Sei mein tapferes Herz. Alles wird gut.
Wenn du dich je in bedrängter Lage siehst, wende dich an Schweighäuser,
nicht an Zaukell. Zaukell ist ein guter Geschäftsmann, aber ein zu guter
Geschäftsmann.«

»Ach George, -- warum an Fremde? Du bist so nah. Denk doch, zwei
Tagreisen ...«

»Freilich doch, Therese. Ich bin ganz nah.«

»Und du schreibst mir täglich?«

»Ich schreibe dir täglich.«

Sie bogen in die stille Weißliliengasse ein und gingen unter der
Zitadelle hin. Sie gingen ganz langsam. Die Domglocken läuteten und den
Nebel schwellend zu ungeheurer Klage fielen allmählich alle Kirchen ein.
Trommeln rasselten aus den Schanzen.

Sie blieben stehen.

»Oh, Georgie, -- du lächelst?«

»Warum soll ich -- nicht lächeln, Therese?«

»Oh, George, -- du hast das heiligste Herz auf der Welt.«

Er drückte sie still an die Brust. Nach einer Weile zog er sein Tuch und
trocknete ihr sanft das Gesicht. »Komm nun, Therese. Die Pferde ...«

Sie schritten weiter. Therese sagte stockend:

»George, ach, sei nicht so allein, jetzt, bis du nachkommst.«

»Ach, Therese, -- bei so viel Geschäften -- und so viel guten Bekannten
...«

»Ich denke nur, -- Sömmerring ist fort ...«

»Ja, Sömmerring ist fort.«

»Und Müller ...«

»Ach, -- Müller -- Aber freilich, ihn hier zu wissen, wäre ganz gut.«

»Aber der gute Lux, George. Wedekind kann dir nichts sein, aber Lux ist
so lauter gesinnt. Und George, Karoline, -- du sollst Karoline oft
sehen.«

»Soll ich das, kleine Therese?«

»Ach, George, -- ist sie dir denn gar nichts?«

Er blickte in ihr Gesicht, in dem eine fordernde Frage stand. Brauchte
sie auch diesen Trost? Er sagte mitleidig: »Karoline ist mir wohl sehr
viel, du Kind.«

Da stand der Wagen unförmig im Nebel. George sagte:

»Therese ...«

»George?«

»Ich -- möchte dich noch einmal küssen, -- hier -- allein ...«

Ihr weißes kühles Gesicht. Ihre geschlossenen Augen. Ihr süßer, süßer,
duldender Mund.

»Hab ich dich oft -- ach oft -- gequält, mein Herz?«

»Oh, George ...«

Der Kutscher über seinen sieben Kragen fluchte schon. Der englische
Bereiter sprang vom Bock und riß den Schlag auf. Im Wagen war ein warmes
zwitscherndes Nest voller Kissen, Decken und Pelze, die Kinder
schmausten mitgenommenen Kuchen, die biedere Lise strickte. Da stieg
Therese nun hinein. George wagte es nicht mehr, nach den Kindern zu
greifen. Er stand. Er lächelte.

Therese drängte den Schlag, der zufallen wollte, noch einmal zurück,
Therese sprang heraus, sie warf sich an Georges Brust.

»Vergib mir, -- o vergib!«

Die Peitsche knallte, die Pferde zogen an. Mr. Brands Berline setzte
sich schwankend in Bewegung und schaukelte zum Neuen Tor hinaus, auf der
Straße nach Speyer, die George vor zwei Jahren heimkehrend von Paris
gekommen war. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Wirbelnd hatte die Spindel getanzt; rasend rollte der Schicksalsfaden
ab.

Der Deputierte des Mainzer Konvents im Nationalkonvent zu Paris, George
Forster, wohnhaft in der ^Rue des Moulins, Maison des Patriots
hollandais^, war ein Freund der einsamen Spaziergänge. Dieser gewesene
Deputierte eines gewesenen Konvents, nach Paris gesandt vom Vertrauen
seiner Mitbürger, die ihren aufgezwungenen Freiheitstaumel seit dem Juli
in den Trümmern ihrer von den Preußen zusammengeschossenen Stadt büßten,
George Forster, durchwanderte unablässig die Straßen von Paris und
machte es mit sich aus, was es heißen wolle, ein Sansculotte des Herzens
zu sein.

Der Sansculotte des Herzens fragt nicht nach Haus und Herd. Er hat sein
Zelt, sein Arbeitsgerät, seine Waffe. Sein Lager und seine Feuerstelle
sind da, wo der Abend den Wandernden findet. Er ist nicht Patriot,
sondern Kosmopolit; er ist Weltbürger. Weiter:

Der Sansculotte des Herzens fragt nicht nach Freund und Gevatter, er
vergißt, daß er Eltern und Geschwister besaß. Darum gleichviel, wer
hinter ihm drein flucht, gleichviel, ob es Lippen sind, die seinen Namen
einst in der Ergriffenheit von Zärtlichkeit und Zuneigung nannten! Er
gehört zum heimlichen Orden der Brüder vom reinen Willen. Letztlich:

Der Sansculotte des Herzens fragt nicht nach Weib und Kind. Er fragt nur
nach der Idee und dankt dem göttlichen Wesen, wenn es von irdischen
Banden ihn löste. --

Er hatte sich mit zwei Gefährten, Lux und Patocki, Ende März nach Paris
schicken lassen, um in Mainz nicht am Ekel vor dieser Pseudorevolution
zu ersticken, sich nicht den Tod zu holen bei dieser Orgie
geilgewordener Spießbürgertriebe. Er hatte sein entseeltes Haus
verlassen, den Schauplatz der fürchterlichen Monate des Einsamseins, und
Aug in Auge mit einer Wirklichkeit, der nun nicht mehr auszuweichen
gewesen war, die nun endlich genommen werden wollte als das, was sie
war.

Ach, es war durchaus keine Überraschung für ihn gewesen, dies, daß
Therese, kaum eine Woche in Straßburg, in ihren Briefen von Feuillants
und Rolandisten zu schwärmen begann, charmanten Leuten, deren
Überzeugungen ihr wohl taten und ihrem weiblichen Herzen entsprachen;
keine Überraschung, daß sie nach weiteren vier Wochen den Ratschlägen
dieser neuen einsichtigen Freunde nachgebend, wie sie versicherte, --
den brieflichen Lamentationen des alten Heyne, den Beschwörungen des
Freundes in Dresden folgend, wie George ohne alles Fragen wußte, -- mit
den Kindern Straßburg verlassen und sich nach Neufchâtel, in die
neutrale Schweiz begeben hatte, in ihrer weiblichen Verwirrung scheinbar
ganz außer acht lassend, daß sie nun unerreichbar für einen
französischen Staatsbeamten und Bürger geworden, dem das Überschreiten
republikanischer Grenzen bei Todesstrafe verboten war! Es war keine
Überraschung endlich, auch dies nicht, daß sie, -- nicht unerreichbar
für einen deutschen Untertan und sächsischen ^chargé d'affaires^ außer
Diensten, -- seit dem Mai unter Hubers Schutz in Neufchâtel lebte, --
oh, in allen Ehren und nicht unter einem Dach, aber immerhin, Huber war
bei Therese in Neufchâtel, Huber sah sie täglich, Huber unterrichtete
das Röschen, Huber sorgte für Theresens Unterhalt, denn wie hätte George
bei seinen achtzehn Livres Diäten, die er einstweilen noch bezog, das
jetzt vermocht?

Endlich, noch nicht genug, -- und seltsam, wie gewappnet sein Herz diese
letzten Schläge erwartet hatte, -- keine Überraschung war es, daß sie
ihn baten, nur noch Theresens Freund zu sein, -- und Hubers Bruder, ja,
freilich! -- auch vor der Welt. Keine Überraschung die grausamen
Enthüllungen über die letzten Jahre, die man nun aus der Ferne ihm zu
machen den Mut endlich fand! Diese Kinder -- oh, sie waren ja tot! Auch
der kleine Junge -- war tot. Konnten Tote denn zweimal sterben?

Keine Überraschung, nicht wahr, im letzten Grunde keine Überraschung,
kein Schreck, keine Erschütterung! Er hatte dies alles gewußt. Er hatte
wissend daran vorübergelebt, wehrlos, in inbrünstiger Hoffnung
vertrauend, denn er war nicht geboren als ein Sansculotte des Herzens.
Indessen, er hatte gelernt. Und was sich da jetzt noch an Widerstand in
ihm regte, was sich das lange Jahr über, -- denn wieder war es Dezember,
-- an unüberwindlicher Sehnsucht, an unerfüllbarer Hoffnung aufgebäumt
und sich Luft gemacht hatte in endlosen Briefen voller Fürsorge und
Zärtlichkeit, voller Projekte und Vorschläge für ein gemeinsames Leben,
ein Leben zu dreien, -- schließlich voller Demut, voller Werbung, die an
Bettelei grenzte, -- dies alles, er täuschte sich nicht, sein eigener
Zuschauer, der er geworden war, dies alles waren die Todeszuckungen
einer sehr teuren Gewohnheit. Er wußte: dies alles würde noch eine
kleine Weile so fortgehen. Es würde noch eine kleine Weile dauern und
dann würde das Unverletzliche in ihm triumphieren. Und dann würde nichts
sein als der reine Kristall, der voll entfaltete Lotos: die Seele nicht
des kämpfenden, aber des im Martyrium lächelnden Helden --

Die Todeszuckungen jedoch einer geliebten Selbsttäuschung sind
gefährlich für den Organismus, in dem sie wüten. Sie hatten einen
Sanften und Liebenswürdigen zeitweilig reizbar, ausfallend und bösartig
gemacht. Sie hatten für Monate vielleicht einen politischen ^enragé^
gezeitigt, wo ein Friedensapostel gewesen war. George vermied es, sich
seiner politischen Tätigkeit bei den Wahlen in Mainz zu erinnern, die in
den Januar und Februar gefallen war. Dies war vorüber. Seine Züge waren
nicht mehr verzerrt. Dieses letzte halbe Jahr über starrend in das
enthüllte Antlitz des unbedingt Bösen, schwer atmend im Blutdunst der
Guillotine, mühte sich George verzweifelt um sein Menschheitsideal, um
die hundertmal verstoßene und hundertmal weinend wieder aufgesuchte
Göttin.

Er war fortwährend krank gewesen; niemand pflegte ihn, und er schonte
sich nicht. Im Zustande einer sonderbaren Gleichgültigkeit gegen seinen
leidenden Körper, seine verschleimten, pfeifenden Lungen, sein
versagendes Herz, seine geschwollenen, schmerzenden Glieder, seinen
gebeugten Rücken, als gegen ein Kleidungsstück, das man bald abzulegen
gedenkt, und so lohnt es sich nicht mehr, daran herumzuflicken, -- in
dieser Gleichgültigkeit ging er auch heute am Abend vor Weihnachten
durch die Stadt, nach einem Besuch bei dem Buchhändler Onfroi den
Heimweg durch die nebeligen Straßen suchend, ohne Überrock und in jener
leisen süßen Trunkenheit des Fiebers, die ihn nun seit einigen Wochen
Abend für Abend befiel. Übrigens war ihm dabei durchaus nicht heiter
zumute. Wenn er in diesen Stunden in seinem einsamen Zimmer war, pflegte
er, von Hemmungen befreit, zu weinen. Wenn er in einer unerklärlichen
Angst vor solchen Ausbrüchen einer sonst gebändigten Traurigkeit entfloh
und durch die Gassen streifte, standen zuweilen Gestalten an seinem Wege
und schlossen sich ihm an, die er kaum zu betrachten wagte, aus Furcht,
sie möchten allzu schnell wieder in Nebel zerrinnen.

Es war zwischen vier und fünf Uhr nachmittags. Als George den Pont Neuf
überschritt, stutzte er einen Augenblick, sah zur Seite, nickte vor sich
hin, murmelte ein Wort und ging weiter. Der Fremdling aber, den er dort
am Brückengeländer hatte lehnen sehen, ging mit und blieb ihm zur Seite.

Er trug weite pludrige Hosen aus englisch Leder, die unter den Knien
zusammengebunden waren, seine bloßen Füße steckten in derben
Schnallenschuhen. Der Wind griff ihm in den Nacken, blähte den weiten,
rotgestreiften Kittel und machte, daß der Mann beständig nach seiner
Mütze griff, einer runden, abgeschabten Pelzmütze, die er tief in die
Stirn drückte. Übrigens war an diesem Abend kein Wind, der Nebel stand
unbewegt. George aber war nicht imstande, sich darüber zu wundern, daß
er seinen Begleiter ständig wie vom Wind getrieben sah. Dies war Larry.
Kein Zweifel! Oh, er war es! Ein rosiges, gebräuntes Knabengesicht,
wassergraue Augen, die seltsam blicklos schienen, als sei alles
durchsichtig und dahinter unabsehbare Ferne, die kurze Tonpfeife im Mund
und die Hände in den Hosentaschen, -- es war Larry, wie er gewesen war,
ehe George ihn zum letztenmal sah, in der Hängematte liegend, gelb und
ausgemergelt, zahnlos, mit verschwollenem Munde und mit vorquellenden,
angstvollen Augen.

Larry, der den Tod im Skorbut gefunden hatte, Larry nun hier an seiner
Seite im Nebel von Paris, getrieben oder getragen von seinem eigenen
sanften Segelwind, Larry begleitet von dem alten kecken Rhythmus:

   »^Beaning, belling, dancing, drinking,^
   ^Creaking windows, damning, sinking,^
   ^Ever raking, never thinking ...^«

Ein Lächeln trat auf Georges Lippen und er versuchte zu pfeifen, --

   »^Live the rakes of Mallow!^«

Larry an seiner Seite tat ihm gut. Er würde ihn nicht anrufen, oh nein.
Hinter seiner Stirn war das süße Gesumm vollständiger Gedankenauflösung,
aber dies wußte er, daß es umsonst war, mit Boten von Larrys Art
anzubinden. Er wußte wohl, daß Larry als ein Bote kam. Es war gut, ihn
gesehen zu haben, -- aber er vergaß ihn auch wieder und vermißte ihn
nicht, als er wieder verschwand. Er hatte Larry in den letzten Monaten
manchmal gesehen, -- oder war es nur, daß er seiner gedacht hatte?
George blickte über die gelbe Flut der Seine hinüber zur Notre Dame, die
dort drüben in einer Gloriole trüben Abendgoldes, entheiligt, finster
und trauervoll ragte, und ging weiter, den Stock hart auf das Pflaster
setzend und in der dumpfen Erinnerung, daß er jetzt wohl etwas essen
müsse, denn Therese hatte ja geschrieben, er solle sich gut pflegen, --
er ging, vor sich hinsehend mit dem Blick jenes Kummers, der von sich
selbst nichts mehr weiß, von Menschen gestoßen, ohne daß er es bemerkte,
-- ein Herr im tabakfarbenen Rock, der die linke Hand gegen die Brust
preßte und dem der Hut sehr traurig über den Augen saß. Die Laternen
wurden herabgelassen, angezündet und schaukelten nun droben im Nebel,
trübe herabglühend, wie blutige Augen eines Himmels, der keine Sterne
mehr hat. Willenlos emporblickend sah George jetzt einen Reigen um die
schwankenden Feuertulpen, lautlos geschwenkt, wie einen Tanz
riesenhafter Motten um das Licht: Leiber, so lang gerenkt, Wangen,
bläulich gedunsen, Augen, vortretend, furchtbar, ins Nichts gerichtet.
Dem einen quoll die Zunge dick aus dem Munde, dem andern klaffte die
Stirn, -- alle aber waren hinschwindend, aus Dunst geboren, schattenhaft
und von dem armen Licht vollgeflossen, durchsichtige Gebilde, die in der
Finsternis zergehen würden. Georges Nacken sank mit einem Ruck vornüber,
wie unter einer plötzlich aufgelegten Last, und doch wußte er: das da
hatte über ihm gehangen Abend für Abend, wenn er hier gegangen war,
dieser stumme, zuckende Tanz der Toten an den Laternen, -- er hatte ihn
geahnt, gefühlt, und daß er ihn bis heute noch nicht mit Augen gesehen
hatte, was machte das für einen Unterschied? Vielleicht sollte er sie
heute alle sehen in dieser ersten Nacht der heiligen Zwölf, sie, von
denen er wußte, daß sie in diesen Straßen umgingen, die Füße rot vom
eigenen Blut, mit der gräßlichen Wunde im Nacken? Er hob den Kopf nicht
wieder und dennoch, er _sah_ sie, schleppenden Schrittes,
aneinandergelehnt oder einsam, Männer und Frauen, wie er ihren Gang zum
Schaffot mitangesehen hatte, getrieben von einer unentrinnbaren
peinlichen Begierde zu erleben, wie denn das sei, wenn Menschen von
Menschenhand stürben ... Er hatte an Agamemnon denken müssen, wie er im
Blute sich badete, -- sein Weib übrigens war es, das ihn verriet, mit
ihrem Liebhaber, das Weib! -- an Polyphem, dem der glühende Pfahl im
Auge zischte, an die Schlachtung der Freier, -- Antinous, dem der Pfeil
in die gespannte Gurgel fuhr und der den trompetenden Todesschrei einer
Schlachtgans hören ließ, -- er erinnerte sich, er erinnerte sich, er
kannte sie, diese wahnsinnige, prickelnde, kitzelnde, jagende Angst, in
die zu versinken uneingestandene Wollust war. Er kannte sie aus den
Phantasien seiner frühesten Kindertage und war jetzt leibhaftig von ihr
gepackt worden beim Anblick der Königin im zerfetzten weißen Mantel,
angesichts des Leichenzugs von Marat, dessen bläulich fahle Brust mit
der schwarzroten Wunde entblößt war, beim Vorüberfahren der Charlotte
Corday und der unzähligen andern, die in seinem Gedächtnis namenlos
geworden waren und nichts als Masken des Todes. Er sah sie alle, ob er
aufblickte oder nicht, und erst als er nun schwindelnd nach der Mauer
eines Hauses tastete und mit verödetem Blick in die Wirklichkeit
zurückfindend, auf die vorüberdrängende Menge starrte, kam er wieder zu
sich; mein Gott, waren sie das, die er als eine geifernde, heulende
Meute gesehen hatte, diese hier, lachend, singend, schwatzend und
pfeifend, -- gezähmt, gutartig, satt vom Blute für heute und begierig
nach den unschuldigen Freuden des Daseins? Und gehörte er selbst zu
ihnen, konnte auch er morden und weiterleben im Dampf des Blutes wie im
Atem junger Frühlingswiesen?

Wieder völlig bei sich, hatte er also Larry gänzlich vergessen und Larry
war denn auch verschwunden. George stieg die Stufen des Speisehauses
hinauf, wo er zu essen pflegte, ging zwischen den unsauber gedeckten
runden Tischen hindurch bis in die hinterste Ecke des schlecht
beleuchteten Raumes, legte Hut und Stock ab, betastete mit unruhigen
Fingern sein zerknittertes Jabot und ließ einen gehetzten Blick über die
anwesenden Gäste gleiten, ein oder zweimal mit einem mühsamen Lächeln
den Kopf zum Gruß senkend. Obenhin wurde ihm gedankt, nur ein hageres
Männchen, ein verwilderter kleiner Abbé von lumpiger Eleganz mit einer
Frisur ^à la^ Titus, die ihm den Stempel eines welken Knaben gab, hob
sein Glas und trank George mit übertriebener Höflichkeit zu: »Ah, ^M. le
député de Mayence^!« Sein Gefährte, ein dicker kurzhalsiger Mann in
Carmagnole und gestreiften Pantalons, ließ nur einen verächtlichen Blick
hinüberwandern, ohne seine gedämpfte Rede zu unterbrechen. »^Monsieur le
Député de Mayence^«, das war keine Empfehlung für den Herrn im
tabakfarbenen Rock, welcher Rock, wie sein Besitzer es wohl wußte, nicht
eben neu aussah, fadenscheinig und blank gescheuert, und der unter der
Achsel eine Wunde hatte, eine geplatzte Naht, die nicht mehr zu heilen
war, denn der Stoff war mürbe und faserte aus. »^Monsieur le Député de
Mayence^« war in der ersten Auflage bereits zur Guillotine
emporgeklettert, und hatte seine unzeitgemäße Begeisterung für Charlotte
Corday mit dem Tode gebüßt; wer aber im Volk war sich wohl klar darüber
geworden, für welches Vergehen jener arme Lux seinen runden Schädel
hatte lassen müssen, für was er so »mit Freuden« starb? Er war ein
»^Député de Mayence^« gewesen, einer Stadt, die Frankreich wieder
entrissen worden war, und wer konnte es wissen, vielleicht durch Verrat,
wie Francfort. Mancher Pariser Mutter Sohn lag auf den Wällen von Mainz
verscharrt, -- ^eh bien^, war das nicht Grund genug, einen »^Député de
Mayence^« feindlich zu mustern? George argwöhnte diese Feindseligkeit
auf Schritt und Tritt, indessen focht sie ihn kaum noch an, er war
ihrer, -- oder seiner Einbildung davon, -- so müde wie aller andern
Umstände des äußern Lebens. Er bestellte ein wenig zu essen, er
bestellte heißes Wasser und Rum und während Bürger Max, der Aufwärter,
ein fetter Gascogner, die Speisen majestätisch vor ihn hinstellte,
starrte er sonderbar betroffen auf eine Gruppe neuer Gäste, die mit
einigem Nachdruck eingetreten war, die beflissen gegrüßt, der neugierig
und flüsternd nachgeschaut wurde. Nun, daß der Bürger Robespierre hier
zuweilen soupierte, war auch George nichts Neues mehr, er sah auch nicht
auf den langen Mann, dessen kleines Haupt auf der hohen Halsbinde ruhte,
wie der Kopf eines Reptils, sah nicht auf seine Umgebung von bekannten
Journalisten und Montagnards, -- er sah auf die Dame im trikoloren
Taftkleid, die an seinem Arm ging, sah in dies Gesicht mit dem krankhaft
roten Mund, mit den Augen, deren Farbe wie ausgelaugt schien, -- und
wußte. Es bedurfte nicht der getuschelten Erklärung des Bürgers Max,
der, mit hochgezogenen Brauen den namenlos betroffenen Blicken des
Gastes folgend, ihm zuflüsterte, dies sei die Prophetin, Madame Théos,
die geistige Mutter des großen Robespierre. Eine Ahnung hatte ihm gleich
gesagt, dies könne niemand anders sein, als die Seherin, von der es
hieß, daß ihre Inspirationen es seien, die über Tod oder Leben
entschieden, -- ein müßiges Gerücht übrigens, dem Glauben schenken
mochte, wer da Lust hatte! Jedoch George hatte diese trikolore Kassandra
schon einmal gesehen und während er nun aufstand, um sich mit
sonderbarer Feierlichkeit sehr tief zu verneigen, ging es ihm durch den
Sinn, was jener mohnrote Mund damals in Cassel zu ihm gesagt hatte:

   »^Ah, mon pauvre ami,^
   ^Au revoir à Paris ...^«

Er erinnerte sich, damals gelacht zu haben, und er lächelte jetzt. Das
Schicksal war eigentümlich scherzhaft, wenn es einmal eine Erfüllung für
ihn hatte. Das Schicksal war scherzhaft, darum mußte man heiter sein,
besonders da der große Robespierre so süßlich verwundert auf ihn
herabsah, Madame Théos völlig an ihm vorüberblickte und nur ein
krummbeiniges Individuum aus dem Gefolge, das sich einer roten Mütze und
einer schwarzsamtnen Carmagnole rühmen konnte, vor ihm stehen blieb und
seine Courteoisie erwiderte, einmal, zweimal, dreimal, die Hand auf dem
Herzen, als sei es verantwortlich für die Unhöflichkeit der Dame, die am
Arme ihres Begleiters bereits in einem der Nebenräume verschwunden war.
»Damals«, dachte George sich einigermaßen erschöpft niederlassend,
»spekulierte dieser auf die Gunst deutscher Fürsten und trug Tressenrock
und Staatsperrücke. Wir sind mit der Zeit mitgegangen, Confrater!« Er
blickte dem Geschöpf nach und fuhr sich hohnvoll über sein geschorenes
Haar, befühlte den bereits recht stattlichen ^moustache^. Von den
Leuten, die mit der Gesellschaft Robespierres hereingekommen waren,
blieben nun zwei an seinem Tische stehen, Kerner, der Berichterstatter
einer Hamburger Zeitung, und Couvé, der Redakteur des ^Moniteur^. Der
junge Kerner, von diesen beiden George am nächsten verbunden durch die
Reinheit seiner Gesinnung, und seinem Beruf nach eigentlich Arzt,
blickte George prüfend an und erklärte dann, an seinem Tisch essen zu
wollen, falls er nichts einzuwenden habe, welchem Vorhaben
Monsieur Couvé nach einem gelangweilten Blick über die andern
Anschlußmöglichkeiten des Lokals auch seinerseits zustimmte.

»Unser Freund«, erklärte Kerner liebenswürdig, als sie saßen, »scheint
mir heute Abend ein wenig der ärztlichen Gesellschaft bedürftig! Mein
guter Forschter,« fuhr er fort, aus dem Französischen in sein
heimatliches Schwäbisch verfallend und mit den Fingern nach Georges Puls
tastend, -- »Sie habe hohes Fieber und gehöre heim ins Bett, samt Ihre
garschtige Huste!«

George sah ihn freundlich an, aber wie aus einer fernen Fremdnis.
»Heim,« sagte er, -- »ich gehöre also heim? Jawohl. Ich will es Ihnen
erklären ...«

Er wandte sich auf seinem Stuhl und saß nun halb dem Raume zugekehrt,
die linke Hand auf dem Tisch ruhend, die Rechte schwer und umständlich
bewegend, während er weiter sprach. Um ihn her wurde es plötzlich still;
er achtete nicht darauf. Er schien keinen der Menschen zu sehen, die
sich mit lachenden, höhnischen und verächtlichen Gesichtern ihm
zuneigten, verstummten, andern Schweigen zuwinkten, aus entfernten Ecken
vorsichtig näher schlichen in der Erwartung eines ausgesucht komischen
Theaters. Dieser Deutsche da, -- oder war es ein verfluchter Engländer,
verstehen konnte man dies barbarische Idiom ja nicht! -- er hatte sich
übernommen und klagte nun Gott und die Welt an, wie es die Art dieser
traurigen Teufel war, die Öl anstatt Blut in den Adern hatten, das sich
nicht mit dem Wein zu einem neuen beseligenden Element vermischen
mochte! Denn daß er klagte, -- nun das war klar, man brauchte nur dem
Tonfall seiner Worte zu lauschen, die in sich zusammengesunkene Gestalt
zu sehen, eines alten Mannes ausgehöhlte Gestalt, auf deren hagerem Hals
der Kopf mit den blatternarbigen Zügen vornüber hing wie eine unzeitig
verwelkte Frucht. Ja, er klagte, -- klagte, weil er betrunken war, das
war der Grund, nicht wahr, und darum konnte man darüber lachen, sich
anstoßen und diese Szene eines Lustspiels genießen wie etwa eine aus dem
göttlichen »Eingebildeten Kranken!« Jedoch war es denn wirklich amüsant?
Die Heiterkeit erstarrte, das Lachen erschrak vor sich selbst, das
Lächeln gefror auf unbehaglichen Mienen. Denn irgend etwas, -- irgend
ein tödlicher Hauch ging von der Stimme dieses Mannes aus, die eintönig
auf- und abschwoll wie Herbstwind. Ja, er klagte, -- und er klagte
nicht, weil er betrunken war, alle fühlten es. Versuchten sie noch,
Blicke auszutauschen und sich im Spott zu bestärken? Sie versuchten es,
aber da war eine Fremdheit zwischen ihnen ausgebrochen, als sei jeder
überronnen von durchsichtigem Eis, sie konnten nicht mehr zueinander,
verlegen und ratlos wichen ihre Augen sich aus und sahen wieder auf den
redenden Mann. Was erzählte er nur, was meinten diese schweren,
unverständlichen Worte, an niemand gerichtet, als vielleicht an den
gerechten Gott allein, diesen Betrüger, mit dem sie abzurechnen
schienen, -- leidenschaftslos, nur klagend, klagend!? Er hat Hunger
gelitten, wußte auf einmal der Gast, der ihm zunächst in der Ecke saß
und sich mit schweigsamer Gier seinen Bohnen gewidmet hatte, bis Georges
Stimme ihn aufstörte und er erst ingrimmig wie ein beim Fraß geneckter
Hund, allmählich dann dumpf betroffen hinüberstarrte. Seine Kinder haben
ihn mit Füßen getreten, -- oh, er weiß, wie es ist, -- fühlte ein alter
Mann. Man hat ihn auf die Straße gesetzt, weil er kein Geld für die
Miete hatte. Er ist todkrank und sein Weib hat ihn verlassen. Er hatte
Haus und Hof, und man hat ihn ausgesogen, Beere für Beere, nun ist
nichts von ihm übrig als der kahle Stengel, von der Rebe losgerissen ...
Und wieder: Er hat Hunger gelitten! Er schläft des Nachts nicht, -- es
hat ihn einmal ein Mädchen schlecht behandelt, -- oder sein Bruder hat
ihn betrogen, -- oder sein Freund hat ihn ins Gesicht geschlagen. Er
hätte einmal König werden können, aber er war zu feige dazu oder zu
schwach. Seine Eltern haben ihn betteln geschickt, als er klein war. Er
ist einer von denen aus der Bastille, -- das ist er, -- sie haben ihn
dort begraben, als er jung war, er hat es verlernt zu leben. Und wieder:
Er hat Hunger gelitten! -- Und abermals: Hunger gelitten! Der Fremde
wußte jedermanns Leid und sagte es mit seiner eintönigen Stimme und
jedermann hörte sich selbst reden in der Sprache seines verborgenen
Herzens, die auch nie ein anderer verstanden hatte. Entsetzliche
Einsamkeit drang aus jeder Brust wie ein Schwert aus der Scheide und
bedrohte den Nächsten: Hebe dich weg, das ist _mein_ Schmerz! --

Und George redete. Er hatte Kerner vergessen, er wußte nichts von seiner
Umgebung. Ach, er redete! Alles, alles löste sich auf einmal, was hart
wie Ureis in seiner Seele vergletschert gelegen hatte. Er redete noch,
als Kerner ihn unter den Arm gefaßt, ihm den Hut auf den Kopf gesetzt,
den eigenen Überrock um die Schultern gelegt hatte und ihn nun
hinausführte, durch neugierige und mitleidige Blicke und Flüsterworte
hindurch, hinaus auf die Straße. Er verstummte unter einem schrecklichen
Hustenanfall, als die naßkalte Luft ihm in die Kehle drang, und als das
überstanden war, lehnte er sich auf den brüderlichen Freund und äußerte
nun weiter nichts mehr als »^Well, -- there he is again!^« Dies konnte
nun der Mann aus Schwaben freilich nicht verstehen. Es sollte aber
heißen, daß Larry wieder da sei, Larry, der doch den Tod im Skorbut
gefunden hatte. Da ging er vor ihnen her, ohne sich umzusehen, die Hände
in den Taschen der pludrigen Hosen, vom eigenen sanften Segelwind
getrieben, schwebend und lautlos, wie ein Schiff über Wasser gleitet. Er
glitt durch die Haustür der ^Maison des Patriots hollandais^, noch ehe
sie aufgeschlossen war, und im Schein des dürftigen Öllämpchens konnte
George ihn voran die Treppe hinauf eilen sehen, als klömme er im
Takelwerk empor. Er stand auch wartend am Bett, solange Kerner sich um
George bemühte und ihm beim Auskleiden half, er verschwand erst, als
George sich niedergelegt hatte. Kerner schien ihn gar nicht zu bemerken,
-- nun, und George war ja auch so tödlich müde, er hörte es kaum noch,
daß der Freund versprach, für Krankenwärter zu sorgen. --

Von dem äußeren Verlauf der nächsten Tage wußte er später nichts. Als er
am Abend des 27. Dezembers ohne Fieber war und man ihm auf sein Bitten
dazu verhalf, ein wenig aufrecht im Lehnstuhl zu sitzen, da er meinte
durch diese Veränderung etwas Erleichterung seiner in allen Gliedern
wühlenden Schmerzen zu gewinnen, erzählte man dem gebückt Dasitzenden,
der mit den schrecklich zitternden Händen die Knäufe der Armlehnen
umklammerte, wer alles an seinem Lager gestanden habe, -- Onfroi und der
gute schottische Freund Christie, Mr. Wollstonecraft, der auf dem Stuhl
neben dem Bett sitzend augenscheinlich gebetet habe, der große Merlin de
Thionville, dieser mürrisch und unzufrieden, daß jemand, mit dem er
hatte disputieren wollen, unzurechnungsfähig vor ihm lag und ganz
sinnlos flüsterte, -- Monsieur le Professeur Dorsch endlich, der
freilich die Kammer schnell wieder verlassen habe, -- und dann, das
Vorzimmer füllend, die Vielen, die immer kamen, die nichts brachten,
nicht nach ihm fragen wollten, sondern seinen Rat, seine Hilfe suchten,
armes Volk von Literaten, emigrierte Mainzer, die ihn für ihr Schicksal
zur Rechenschaft zogen, und dergleichen Leute.

George lächelte. Nein, er hatte von diesen allen nichts bemerkt. Er
hatte andere Besucher gehabt, er meinte, in den letzten Tagen an die
tausend Gesichter gesehen zu haben, sie hatten ihn angelächelt und
angefratzt, sie waren aus Nassenhuben in Polnisch-Preußen, aus
Petersburg, von der Wolga, aus England, aus Afrika und aus der Südsee,
schließlich aus allen Städten eines geistigen Europa gekommen, ein
summender Schwarm. Er hatte sie verzweifelt gebeten, nacheinander zu
kommen, sich in Gruppen zu teilen nach Jahren und Arten, -- umsonst, --
was je auf den Spiegel des Gedächtnisses gefallen war, jedes Bild quoll
hemmungslos hervor und der Wahnsinnsreigen der Erinnerung hatte um sein
armes Haupt getobt. Nach zwei Gestalten hatte er zuweilen mit den Händen
geschlagen, er wußte es; es waren Therese und der Vater gewesen. Sie
sollten sich trennen, nicht fortwährend miteinander flüstern, auf ihn
deuten, über ihn lachen ...

Es war also viel Besuch dagewesen, oh, ja! Er blickte auf kleine
Geschenke, die Kerner ihm zeigte, Wein und Pastetchen, ein allerliebster
runder Schinken und eine gestickte Weste, die Christie als ein Geschenk
seiner Schwester auf das Tischchen am Bett gelegt hatte. Er sagte
unbeteiligt: »Womit habe ich alles das verdient?« Und dann fragte er
nach Briefen. Es waren aber keine gekommen. --

In den nächsten Tagen besserten sich die unerträglichen Schmerzen der
Gelenke und des Rückens ein wenig, dafür aber stellte sich die
peinlichste Form seines Leidens in Gestalt des skorbutischen
Speichelflusses mit seinen widerlichen Begleiterscheinungen ein, wie er
sie aus früheren Jahren kannte, und er war betrübt. Er sagte zu Herrn
Haupt, einem geflohenen Mainzer, dem er aus Mitleid mit seinem Alter und
seiner Ratlosigkeit den Schrecken von Paris gegenüber, durch Übertragung
von Schreibarbeiten über schlimme Monate hinweggeholfen hatte und der
sich nun mit Kerner und einem jungen Polen in den Krankendienst bei ihm
teilte, -- zu Haupt also sagte er: »Mußte auch dies noch kommen? Oh, --
es ist nicht meinetwegen ... Ich wollte ja gern ... Oder jedenfalls: ich
kenne Schlimmeres. Aber es ist wegen meiner Umgebung. Meine arme Frau
litt hierunter mehr als ich selbst.« Er hielt das Tuch vor den Mund und
stützte seinen wankenden Kopf. Haupt erwiderte aufmunternd, er möge die
Sache doch nicht schwer nehmen, man sei ja hier unter Männern und die
Frau Hofrätin nicht anwesend. George starrte trübe nach der Tür und
murmelte geistesabwesend: »Nun immerhin, -- es könnte doch sein ...«

Er ließ sich Papier und Tinte geben und mit Mirabeau's »^Correspondance
secrète^« als Unterlage auf den Knien schrieb er in häufigen Absätzen
einen mühsamen Brief. Sie mußte doch wissen, wie es ihm ging, dachte er,
und fügte der enthaltsamen Schilderung seiner Leiden ängstlich die Worte
hinzu, daß dies alles auf Tatsachen und nicht auf Einbildung beruhe.
Denn er wußte wohl, -- sie nannten ihn einen Hypochonder.

Übrigens kamen schon am nächsten Tag mehrere Briefe von Therese auf
einmal, sie hatten sich durch irgend eine Poststörung verzögert und
enthielten, wie immer, heitere und gefaßte Berichte über ihr Leben und
das Treiben der Kinder. Therese hatte begonnen, einen Roman zu schreiben
und Huber, der herzlich grüßen ließ, versprach sich allerlei Erfolg von
dieser neuen Beschäftigung. Nach dem Lesen dieser Briefe legte George
eine gewisse törichte Hoffnung beiseite, -- dorthin, wo schon viel
anderes Unbrauchbares lag, -- und erkannte auch sie als einen der
letzten Krämpfe jener teuren Gewohnheit des Herzens, von der er doch
eigentlich schon losgekommen war. Er hatte nämlich, da die Briefe
ausgeblieben waren, im stillen angenommen, Therese sei mit den Kindern
unterwegs nach Paris.

Der alte Haupt erklärte ihm, diese Krankheit beruhe hauptsächlich auf
^Arthritis vaga^, der fliegenden Gicht, und predigte mit Behagen über
die viererlei Mittel, die dagegen anzuwenden seien, nämlich Kampfer,
Salmiak, Opium und Balsam von Mekka. Der alte Haupt war ein
unerträglicher Firlefanz. War er einmal ausgegangen, so war es
wundervoll still in der Kammer. George lag auf dem Rücken, gerade
ausgestreckt, die Hände auf dem Deckbett, gleichmütig hingegeben an die
Schmerzen, dankbar empfindend, daß sein Kopf wenigstens frei war.
Indessen dachte er nicht viel. Er baute nicht mehr Projekte aus. Es war
ihm gleichgültig, ob er in Zukunft weiter in Paris leben würde, oder in
England oder in Zürich oder am Ende doch in Altona, -- ob der Plan, nach
Indien zu gehen, zur Ausführung gelangen würde. Er grämte sich nicht
mehr um seine Bücher und Sammlungen in Mainz, von denen ihm bisher kein
Mensch hatte sagen können, was nach der Beschießung aus ihnen geworden
sei. Er dachte sonderbarerweise manchmal an das kleine Mahagonibureau,
das Therese »The Resolution« getauft hatte, weil es mit in der Südsee
gewesen war. Ja, »The Resolution« hätte hier in der Kammer bei ihm
stehen sollen! »The Resolution« wäre wohl voll Trost gewesen. Er
versuchte auch zuweilen an seine Arbeiten zu denken, -- nicht an
zukünftige, nur an vergangene. Aber dann wollte ihm immer nichts
einfallen, als dies, daß er die »Sakuntala« übersetzt und den Deutschen
den Weg nach Indien gezeigt habe. Und wenn er so dachte, dann lächelte
er.

Er dachte an die Mutter, die nun alt war. Er dachte an seine Kinder. Er
wußte, daß er nicht an Therese und an den Vater zu denken brauchte, weil
Larry das nicht duldete. Larry war stets im Zimmer. Manchmal in der
Dämmerung ließ er sich sehen, er arbeitete in unsichtbarem Takelwerk und
Wind war in seinen Haaren:

   ^Living short but merry lives;^
   ^Going, where the wind them drives;^
   ^Having sweethearts but no wives;^
      ^Live the rakes of Mallow ...^

Das Leben ebbte Tag für Tag mehr von ihm zurück. Es kam nichts mehr
darauf an, was Paris da draußen tat, ob die Gegenrevolution Fortschritte
machte, was mit den Rebellen in der Vendée geschah und ob Camille
Desmoulins oder sonst jemand neue Journale gründete. Es kam nichts
darauf an, daß die Besucher ausblieben, je länger sein Krankenlager
dauerte, daß er in den ersten zehn Tagen des Jahres 1794 niemand mehr um
sich sah, als Kerner, Haupt und den braven kleinen Nagorsky. Alles war
von ihm abgefallen, alles war sehr vereinfacht. Er war beim Minotauros
in der Kammer; er war nackt und ganz allein.

George Forster lächelte. Er wußte nun:

Durch die äußeren Gänge des Labyrinthes begleiten uns Jugend und
Hoffnung. Wir füllen unser Herz mit Welt und wenn wir leiden müssen,
geschieht es ungläubig, als hielten wir es für einen Irrtum der
Vorsehung.

Vor den inneren Windungen des Labyrinthes erwartet uns der Schmerz. Er
nimmt uns in Empfang und bleibt bei uns, er heilt uns von der
Anschauung, daß er ein Irrtum der Vorsehung sei und wir etwa gar nicht
gemeint. Er entkleidet uns aller unsrer Hoffnungen und jagt uns nackt
durch die entsetzlichen Irrgänge dem furchtbaren Rätsel zu, das da im
Herzen der Finsternis die großen Baalsgesänge heult und dem er uns
vorwerfen wird, -- wenn wir es nicht vorziehen, selbst bis in die letzte
Kammer zu gehen, freiwillig, und ohne nach des Opfers Zweck zu fragen.

_Wenn wir Geopferten werden zu Opfernden, so haben wir heimgefunden ins
Herz der Dinge und Gottes._

Das Labyrinth versinkt und wir sind frei. --

                   *       *       *       *       *

Am 12. Januar gegen vier Uhr nachmittags verließ Haupt den schlummernden
Kranken, um einigen eigenen Geschäften nachzugehen. George erwachte eine
halbe Stunde später unter einem furchtbaren Brustkrampf, dem er sich
ächzend ergab. Mit dem Abklingen des Schmerzes kam eine wunderbare
Erleichterung und ein Frieden über ihn und plötzlich sah er Larry am
Fußende des Bettes stehen, von geheimnisvollem Licht umflossen und die
Hand winkend erhoben. Und Larry sagte:

»Georgie, -- komm nun mit!«

George hob den Kopf, -- vielleicht glaubte er auch nur, es zu tun, -- er
streckte die Hand aus und flüsterte: »Ich komme, Larry, -- aber wohin?«

Und Larry, der Leichtmatrose von The Resolution, wies nach Osten und
sang:

»Nach Indien, George, -- nach Indien ...«

                   *       *       *       *       *

Als Haupt nachhause kam, war des Kranken Schlummer ein anderer. Er hatte
die Hand über die Augen gelegt und atmete leise aus.

                            [Illustration]




                                Inhalt


            König Minos Seite 3 / Zwischenspiel Seite 143
                          Ariadne Seite 205

   Buchausstattung von Alphons Wölfle / Gedruckt in der Spamerschen
                       Buchdruckerei in Leipzig

                            [Illustration]




Anmerkungen zur Transkription


Forsters Vorname wird in diesem Buch durchgängig George geschrieben.
Einige wenige, offensichtlich unbeabsichtigte Abweichungen als Georg
wurden zu George vereinheitlicht.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind,
wurden ^so^ markiert.

Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.

Offensichtliche Druckfehler wurden wie hier aufgeführt korrigiert
(vorher/nachher):

   [S. 5]:
   ... einladende Geberde, eins war wie eine brennende Kerze und
       zwei ...
   ... einladende Gebärde, eins war wie eine brennende Kerze und
       zwei ...

   [S. 17]:
   ... starken Findern merkwürdig zart verpflanzte und umsetzte, er
       erbaute ...
   ... starken Fingern merkwürdig zart verpflanzte und umsetzte, er
       erbaute ...

   [S. 27]:
   ... Rebinder, dem Geschäftsträger Ihrer Kaiserlichen Majestät,
       die Korrespondenz ...
   ... Rehbinder, dem Geschäftsträger Ihrer Kaiserlichen Majestät,
       die Korrespondenz ...

   [S. 29]:
   ... schöne« waren das da oben auch nicht, sondern Wasservögel,
       Möven, ...
   ... schöne« waren das da oben auch nicht, sondern Wasservögel,
       Möwen, ...

   [S. 33]:
   ... den Segenswünschen des Iswotschick, -- ja, er würde warten,
       bei ...
   ... den Segenswünschen des Iswotschik, -- ja, er würde warten,
       bei ...

   [S. 43]:
   ... persönlichen Dreck, der sich jahrelag hielt und wärmte. Da
       roch es ...
   ... persönlichen Dreck, der sich jahrelang hielt und wärmte. Da
       roch es ...

   [S. 47]:
   ... sind Ritter des Wlodomirordens. A propos, hören Sie ein
       Epigramm ...
   ... sind Ritter des Wlodomirordens. À propos, hören Sie ein
       Epigramm ...

   [S. 53]:
   ... Pflichtgefühl, -- ein lästige, -- ein höchst lästige
       Krankheitserscheinung, ...
   ... Pflichtgefühl, -- eine lästige, -- eine höchst lästige
       Krankheitserscheinung, ...

   [S. 54]:
   ... der Vater manchmal Krähen geschossen und dieselben schmeckten
       gegebraten ...
   ... der Vater manchmal Krähen geschossen und dieselben schmeckten
       gebraten ...

   [S. 58]:
   ... zur Mutter zu kommen! Seine kleine Hände wurden heute kaum
       mit ...
   ... zur Mutter zu kommen! Seine kleinen Hände wurden heute kaum
       mit ...

   [S. 59]:
   ... stand er vergnügten Herzens an der Reling neben Wanja, dem
       Koch, ...
   ... stand er vergnügten Herzens an der Reeling neben Wanja, dem
       Koch, ...

   [S. 68]:
   ... und er wande sich dem Knaben mit einem geistreichen Lächeln
       und ...
   ... und er wandte sich dem Knaben mit einem geistreichen Lächeln
       und ...

   [S. 78]:
   ... funny! Don't call me Miss! J am Evelyn!« und nun ward das
       sich ...
   ... funny! Don't call me Miss! I am Evelyn!« und nun ward das
       sich ...

   [S. 97]:
   ... ob das Schiff durch die Finsternis sauste wie in einen
       gahnenden ...
   ... ob das Schiff durch die Finsternis sauste wie in einen
       gähnenden ...

   [S. 104]:
   ... Frische der ersten Reisemonate war erstaunlich schnell
       aufgebracht ...
   ... Frische der ersten Reisemonate war erstaunlich schnell
       aufgebraucht ...

   [S. 120]:
   ... gegenüber, er schob seine Offiziere und Patton, den
       Wunderarzt, ...
   ... gegenüber, er schob seine Offiziere und Patton, den Wundarzt, ...

   [S. 122]:
   ... Antlitz und dann geraudeaus auf die rastlos wandernde,
       schäumende ...
   ... Antlitz und dann geradeaus auf die rastlos wandernde,
       schäumende ...

   [S. 123]:
   ... in der Südsee ihr Land der höheren Kultur lag, wie ihre arme
       Schilf- ...
   ... in der Südsee ihr Land der höheren Kultur lag, wie ihre armen
       Schilf- ...

   [S. 125]:
   ... your tongne!« sagte er und versorgte sich ausgiebig mit
       verdorbenem ...
   ... your tongue!« sagte er und versorgte sich ausgiebig mit
       verdorbenem ...

   [S. 136]:
   ... Münze mit der Mutter Gottes auf der einen und St. Patrik auf
       der ...
   ... Münze mit der Mutter Gottes auf der einen und St. Patrick auf
       der ...

   [S. 151]:
   ... doch eine beänstigend saugende Kraft ausging. George dehnte
       den ...
   ... doch eine beängstigend saugende Kraft ausging. George dehnte
       den ...

   [S. 151]:
   ... Ist es Madame mère? Nein. Aber der alte Mann ... Ich ...
   ... Ist es Madame Mère? Nein. Aber der alte Mann ... Ich ...

   [S. 156]:
   ... »Was sagst du, George?« murmelte Sömmering. »Ich komme ...
   ... »Was sagst du, George?« murmelte Sömmerring. »Ich komme ...

   [S. 161]:
   ... Maconnerie und ...« er ließ einen geschwinden Blick zu seinem
       Gouverneur ...
   ... Maçonnerie und ...« er ließ einen geschwinden Blick zu seinem
       Gouverneur ...

   [S. 163]:
   ... Lächeln Bescheid tat, einem Lächeln, daß er nun mit der
       breiten weißen ...
   ... Lächeln Bescheid tat, einem Lächeln, das er nun mit der
       breiten weißen ...

   [S. 168]:
   ... einem kahlem Raum. Von Hippel blieb seinem Grafen zur Seite,
       zog ...
   ... einem kahlen Raum. Von Hippel blieb seinem Grafen zur Seite,
       zog ...

   [S. 173]:
   ... Er lächelte böse und sah sich in den Spiegel. ...
   ... Er lächelte böse und sah sich in dem Spiegel. ...

   [S. 180]:
   ... Ahnung des Aufschwungs Leibes und der Seele gespürt habe,
       dessen ...
   ... Ahnung des Aufschwungs des Leibes und der Seele gespürt habe,
       dessen ...

   [S. 180]:
   ... doch mit der Bekrönung des spitzen Pinienapfels über die
       Mauer des ...
   ... Dach mit der Bekrönung des spitzen Pinienapfels über die
       Mauer des ...

   [S. 182]:
   ... sei? -- denn Meyer hatte ihm Grüße an das Haus Heyne
       aufgegetragen, ...
   ... sei? -- denn Meyer hatte ihm Grüße an das Haus Heyne
       aufgetragen, ...

   [S. 190]:
   ... blukte ein Feuer auf. Sömmerring hatte einen schwarzen Kittel
       über ...
   ... blakte ein Feuer auf. Sömmerring hatte einen schwarzen Kittel
       über ...

   [S. 191]:
   ... von Cook rechteckig aufgestelltem und blinkendem Gerät. Nun,
       -- ...
   ... von Cooks rechteckig aufgestelltem und blinkendem Gerät. Nun,
       -- ...

   [S. 193]:
   ... der gemeinen Erdkröte. Darf ich mich für heute empfehen? Du
       kommst ...
   ... der gemeinen Erdkröte. Darf ich mich für heute empfehlen? Du
       kommst ...

   [S. 195]:
   ... Schauer Leibes und der Seele, auf den er gewartet hatte, der
       doch ...
   ... Schauer des Leibes und der Seele, auf den er gewartet hatte,
       der doch ...

   [S. 202]:
   ... er sich, wie er in Clausthal mit dem Berghauptmann von ...
   ... er sich, wie er in Klausthal mit dem Berghauptmann von ...

   [S. 223]:
   ... er wußte es von Langmayer; zwanzig bis fünzig Dukaten ...
   ... er wußte es von Langmayer; zwanzig bis fünfzig Dukaten ...

   [S. 225]:
   ... »Caroline! Philippine! Fiekchen! Schlözer und seine herrliche ...
   ... »Karoline! Philippine! Fiekchen! Schlözer und seine herrliche ...

   [S. 236]:
   ... Kabinett verweilend mit einer weiten Handbewegung auf die
       Bücherborte ...
   ... Kabinett verweilend mit einer weiten Handbewegung auf die
       Bücherborde ...

   [S. 252]:
   ... dem letzen Absatz, den goldlackierten Knauf des Geländers mit
       der ...
   ... dem letzten Absatz, den goldlackierten Knauf des Geländers
       mit der ...

   [S. 258]:
   ... in der Ecke des Postwagens hockte, die Füßen auf dem treuen
       Mantelsack, ...
   ... in der Ecke des Postwagens hockte, die Füße auf dem treuen
       Mantelsack, ...

   [S. 265]:
   ... und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ein wahrer petit maîre,
       ein ...
   ... und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ein wahrer petit maître,
       ein ...

   [S. 265]:
   ... er nicht froh sei, sie nach Monaten wieder einmal unbefangen
       lachen ...
   ... er nicht froh sein, sie nach Monaten wieder einmal unbefangen
       lachen ...

   [S. 274]:
   ... vieler stärker war als die Einsicht, es handele sich hier um ...
   ... viel stärker war als die Einsicht, es handele sich hier um ...

   [S. 292]:
   ... Campe, Salzmann oder Villaumez heißen, -- da waren die
       jüngsten ...
   ... Campe, Salzmann oder Willaumez heißen, -- da waren die
       jüngsten ...

   [S. 297]:
   ... nickte grührt: ...
   ... nickte gerührt: ...

   [S. 308]:
   ... »Zuweilen doch, Röschen, zuweilen ...« er wandte an der
       Gartenpforte ...
   ... »Zuweilen doch, Röschen, zuweilen ...« Er wandte an der
       Gartenpforte ...

   [S. 313]:
   ... legte. In sechs Tagen gelangte man nach Straßburg. Von Speier ...
   ... legte. In sechs Tagen gelangte man nach Straßburg. Von Speyer ...

   [S. 318]:
   ... einem Teppich, der unter the Resolution liegen sollte und
       kleinen ...
   ... einem Teppich, der unter The Resolution liegen sollte und
       kleinen ...

   [S. 318]:
   ... Er, George, würde jetzt eine Scherz machen, man gebe acht. Er ...
   ... Er, George, würde jetzt einen Scherz machen, man gebe acht.
       Er ...

   [S. 330]:
   ... die über den Deckel gelehnt, daß Kinn in die Hand gestützt,
       auf ihn ...
   ... die über den Deckel gelehnt, das Kinn in die Hand gestützt,
       auf ihn ...

   [S. 336]:
   ... Tiermarkstraße ein, rannte fast die letzten Schritte bis zu
       den Universitätshäusern, ...
   ... Tiermarktstraße ein, rannte fast die letzten Schritte bis zu
       den Universitätshäusern, ...

   [S. 351]:
   ... »Was meint Scheidebrief?« fragte Brand lernbegierig. »Does is ...
   ... »Was meint Scheidebrief?« fragte Brand lernbegierig. »Does it ...

   [S. 360]:
   ... die wohnten nun in der Mansardenstube ... Ihr Geplauder
       verversiegte ...
   ... die wohnten nun in der Mansardenstube ... Ihr Geplauder
       versiegte ...

   [S. 380]:
   ... Ihnen erkären ...« ...
   ... Ihnen erklären ...« ...






End of the Project Gutenberg EBook of Das Labyrinth, by Ina Seidel

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LABYRINTH ***

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