Project Gutenberg's Die Frau von dreißig Jahren, by Honoré de Balzac This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die Frau von dreißig Jahren Author: Honoré de Balzac Translator: Walter Heichen Release Date: August 11, 2008 [EBook #26261] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FRAU VON DREIßIG JAHREN *** Produced by Norbert H. Langkau, Evelyn Kawrykow and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net Die Frau von dreißig Jahren Roman von Honoré de Balzac Vollständige Übertragung von Walter Heichen A. Weichert Verlag Berlin Sämtliche Rechte vorbehalten Printed in Germany -- Druck von A. Weichert Berlin Einleitung. Wenn man die bedeutendsten Erzählungskünstler der verschiedenen Literaturen aufzählt, wird der Name Balzac mitgenannt werden. Seinen ganz besondern und festen Platz in der Weltliteratur hat er jedoch als Begründer und erster Meister des realistischen Romans und damit als Schöpfer einer ganz neuen Kunstform, die später Zola ausbaute und zum künstlerischen System erhob. »Balzacs Realismus war jedoch weit davon entfernt, ein so brutaler zu sein, wie derselbe später geworden ist. Denn mit scharfsichtiger Beobachtung der Wirklichkeit und ihrer Bedürfnisse und Forderungen, mit der unerbittlichen Anatomie des Menschenherzens, insbesondere des weiblichen, verband Balzac eine äußerst reiche, regsame Phantasie, welche ihn davor bewahrte, bloße Photographien in Worten zu liefern, wie mehr als einer seiner Nachahmer später getan hat. Die besseren seiner psychologischen Dramen -- als solche können seine Romane bezeichnet werden -- müssen zu den eigenartigsten Hervorbringungen der europäischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gezählt werden.« -- -- »Wenn man die trocknen, widerlichen Register liest, welche die Geschichte genannt werden, so bemerkt man, daß die Schriftsteller aller Länder und Zeiten vergessen haben, uns die Geschichte der Sitten zu liefern. Diese Lücke will ich, soweit es in meinen Kräften steht, ausfüllen. Ich will das Inventar der Leidenschaften, Tugenden und Laster der Gesellschaft aufstellen, durch das Zusammendrängen der gleichartigen Charaktere Typen geben und mit Mühe und eiserner Ausdauer über das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts das Buch schreiben, das uns Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien und Indien leider nicht hinterlassen haben.« Mit diesen Worten leitet er den großen Romanzyklus ein, dem er den Gesamttitel »Menschliche Komödie« gab. Als Sittenschilderer und Kulturhistoriker der genannten Zeitepoche mußte er natürlich zu einem pessimistischen und ausgeprägt materialistischen Ergebnis kommen. Wir sehen daher in seinen Werken fast durchweg den Hunger nach Reichtum als die treibende Kraft wirken. Die Losung der modernen Welt ist nicht die Liebe, sondern das Gold. Der Glaube an den Mammon, die Zuversicht auf die Macht der Millionen sind der einzige Idealismus der Balzacschen Helden, und ohne Zweifel hat der Dichter selbst diesem Glaubensbekenntnis gehuldigt, so furchtbar und unerbittlich auch dieser Durst nach Gold sich uns in seinen Werken darstellt. Seinen Ausgang nahm Balzac jedoch von der Romantik, und selbst das vorliegende Werk, das neben die modernsten Seelenschilderungen gestellt werden kann, steht mit einem Fuß auf dem Boden der Romantik. Die phantastische Liebe des Engländers zu der Heldin hat allen Duft des »blauen Blümleins« an sich, so realistisch nachher auch das Ende ist. Das mysteriöse Erscheinen des politischen Mörders und Seeräubers im vorletzten Teil ist Romantik reinsten Wassers, und das Kapitel auf dem Korsarenschiff selbst erinnert sogar an Eugen Sue oder an Dumas. Dennoch kann man gerade dem fast übersinnlichen Lord Grenville, der jahrelang einer idealen Liebe treu bleibt, die Lebenswahrheit nicht absprechen. Dieser sonderbare Schwärmer ist mit bewundernswerter Konsequenz gezeichnet, und trotz allen romantischen Anhauchs eine überaus interessante Gestalt. Der Gegenstand seiner Liebe, die Heldin des Romans, ist eine köstliche Probe für Balzacs Seelenmalerei und vor allem für Balzacs Art, Frauen zu schildern. Er unterscheidet sich in dieser Art, zarte, reine Frauen zu zeichnen, höchst vorteilhaft von einer großen Zahl französischer Schriftsteller, die das Weib als Ausbund von Sinnlichkeit, Leichtsinn und Unbeständigkeit darzustellen pflegen. Mit dieser >Frau von dreißig Jahren< entdeckte er gewissermaßen den Frauentypus für alle seine Romane und eroberte sich damit gleichzeitig die dauernde Gunst der weiblichen Lesewelt; auch dem deutschen Leser wird er durch seine Auffassung der weiblichen Seele zum sympathischsten der französischen Sittenschilderer der neueren Literatur. Honoré de Balzac wurde am 20. Mai 1799 in Tours geboren, erhielt seine Erziehung auf dem Gymnasium zu Vendôme und in Paris, wurde dann Schreiber bei einem Notar und versuchte schon ziemlich früh, sich ganz auf eigene Füße zu stellen. Von Geburt zum Adel gehörend, fehlten ihm doch die Mittel dieser Gesellschaftsklasse, und er sah sich zu harter Arbeit gezwungen. Zuerst machte er sich allerlei kaufmännische Unternehmungen, buchhändlerische Pläne, Spekulationen in Bergwerken und Bodenkultur, viele große Ideen, auf die er stolz war und die sich doch nicht durchführen ließen -- das war das Programm der ersten Zeit, das mit einem großen Fiasko endigte und ihn zu einem ständigen Klienten des Gerichtsvollziehers machte. Dann legte er sich auf die Schriftstellerei, doch zuerst auch ohne Erfolg. Mit dem Erscheinen des »Chouan« im Jahre 1829 wurde er ein berühmter Mann, und von nun an schrieb er mit großem Fleiß und wachsendem Glück (einmal dreißig Bände in drei Jahren). Während seines arbeitsreichen Lebens verfaßte er neunzig Romane und Novellen, die zusammen 120 Bände bilden. Aber zu Reichtum brachte er es dennoch wohl nicht; denn obwohl er viel Geld durch seine Werke verdiente, gab er auch mit ebensolcher Leichtigkeit Riesensummen aus, der Luxus war ihm zum Leben unentbehrlich. Seltsamerweise hatte er dabei die Angewohnheit, sich während der Arbeit in ein härenes Gewand zu kleiden, das durch einen Strick um den Leib zusammengehalten wurde. Im Leben war er Freund des Aufwandes und der Genüsse, in der Arbeit tat er den Mantel der Aszese an. Das war bei ihm nicht so ganz äußerlich, wie es auf den ersten Blick erscheint; denn in seinen Werken ist er über allen Tand der Welt erhaben und kritisiert scharf und vernichtend alle Leerheit des Lebens, alle Albernheiten des Menschengeschlechts, alle Nichtigkeit der Gesellschaft. Die größte Zeit seines Lebens brachte er in Paris zu -- seine Gattin, eine Frau von Hanska und geborene Gräfin Eveline Rzewuska holte er sich aus Rußland -- doch schon im Jahre seiner Verheiratung (1850) starb er. Als seine Hauptwerke gelten: »Physiologie der Ehe«, »Der Chouan«, »Der Chagrin«, »Die Frau von dreißig Jahren«, »Die Lilie im Tal«, »Die Erforschung des Absoluten«, »Cäsar Birotteau«, »Eugenie Grandet«, »Vater Goriot«, »Ein Junggesellenheim« und sein letzter Roman »Die armen Verwandten«. Sein Theaterstück »Mercadet« erscheint noch heute hin und wieder auf der Bühne. +W. H.+ 1. Kapitel. Erste Fehler. Es war in den ersten Tagen des Monats April 1813, da verhieß der Morgen eines Sonntags einen jener schönen Tage, an denen der Pariser zum erstenmal im Jahre keinen Schmutz auf dem Pflaster und keine Wolken am Himmel sieht. Kurz vor der Mittagsstunde lenkte eine stattliche, mit zwei flinken Pferden bespannte Kalesche aus der Rue Castiglione in die Rue de Rivoli ein und reihte sich dann, Halt machend, an mehrere Equipagen an, die sich an dem vor kurzem erst geöffneten Gitter mitten auf der Terrasse des Feuillants aufgestellt hatten. Dieses vornehme Gefährt wurde von einem anscheinend sorgenvollen, ja kränklichen Herrn gelenkt. Sein gelblicher Schädel wies nur noch wenig schon ergrautes Haar auf, was ihn vor der Zeit alt erscheinen ließ. Dem Reitknecht, der hinter dem Wagen hergeritten war, warf er die Zügel zu, dann stieg er ab, um einem jungen Mädchen, dessen Anmut und Schönheit sogleich den auf der Terrasse umherschlendernden Müßiggängern auffiel, beim Aussteigen zu helfen. Die kleine Person ließ sich gern um die Taille fassen, als sie auf den Rand des Wagens getreten war, und schlang die Arme um den Hals ihres Führers, der sie auf die Treppe niedersetzte und dabei nicht einmal den Besatz ihres grünen Ripskleides zerdrückte. Ein Liebhaber hätte sich nicht so sehr in acht genommen. Der Unbekannte mußte der Vater dieses Kindes sein, das, ohne sich bei ihm zu bedanken, seinen Arm nahm und ihn stürmisch in den Garten hineinzog. Der alte Vater bemerkte die bewundernden Blicke einiger jungen Leute, und der Ausdruck von Trauer, der auf seinem Gesicht lag, verschwand auf einen Augenblick. Er hat schon lange das Alter erreicht, an dem die Männer auf die trügerischen Genüsse verzichten müssen, die die Eitelkeit gewährt, aber er lächelte noch. »Die Leute halten dich für meine Frau,« flüsterte er der jungen Person ins Ohr, richtete sich stolz auf und schritt mit einer Langsamkeit einher, die sie zur Verzweiflung brachte. Er schien sich viel auf seine Tochter einzubilden, und er freute sich wahrscheinlich weit mehr als sie an den Seitenblicken, die die Neugierigen auf die kleinen Füße in Schuhen von flohbraunem Prünell, auf die in dem ausgeschnittenen Kleide vorteilhaft hervortretende, köstliche Taille und auf den frischen, von einer gestickten Krause nicht ganz bedeckten Nacken warfen. Beim Gehen flog auf einen Augenblick das Kleid des jungen Mädchens ein wenig auf und ließ über den Stiefelchen ein von durchbrochenem Seidenstrumpf fein umschlossenes Bein sehen. Mancher Spaziergänger überholte daher auch das Paar, um das jugendliche Gesicht zu bewundern und noch einmal anzuschauen. Lange Locken braunen Haars umgaben es. Die Hautfarbe mit ihrem Weiß und Rosa erglühte nicht nur unter dem Abglanz rosafarbnen Satins, mit dem ein eleganter Hut abgefüttert war, sondern auch von dem ungeduldigen Verlangen, das in allen Zügen dieser niedlichen Person zitterte. Süßer Mutwille belebte die schönen, schwarzen Augen, die mandelförmig geschnitten, von schön gebogenen Brauen überwölbt, von langen Wimpern besetzt waren und sanft, feucht und rein in die Welt schauten. Leben und Jugend schütteten ihre Schätze auf diesem mutwilligen Gesicht aus und auf einer Büste, die anmutig blieb, obwohl man damals den Gürtel unmittelbar unter dem Busen trug. Ohne auf die Huldigungen zu achten, betrachtete das junge Mädchen in banger Erwartung das Schloß der Tuilerien, das ohne Zweifel das Ziel war, auf das sie so ungestüm zuschritt. Es war dreiviertel zwölf. So morgendlich die Stunde auch war, so kamen doch mehrere Frauen, die sich alle in Toilette hatten zeigen wollen, vom Schlosse zurück, nicht ohne sich verdrießlich umzusehen, als bedauerten sie es, zu spät gekommen zu sein und dadurch ein erwünschtes Schauspiel versäumt zu haben. In ihrer Mißlaune ließen diese enttäuschten Schönen sich wohl auch einige Worte entschlüpfen, die die hübsche Unbekannte flüchtig erhaschte, was ihre Unruhe seltsam steigerte. Der Greis achtete mehr mit neugierigem, als spöttischem Blick auf die Zeichen der Ungeduld und Furcht, die sich auf dem reizenden Gesicht seiner Gefährtin abspielten -- er tat dies mit so großer Besorgtheit, daß man wohl annehmen durfte, er hätte noch einen gewissen väterlichen Hintergedanken dabei. Dieser Sonntag war der 13. April des Jahres 1813. Am übernächsten Tage brach Napoleon zu dem unglücklichen Feldzug auf, währenddessen er nacheinander Bessières und Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten bei Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern, ja von Bernadotte verraten sehen und in der furchtbaren Schlacht bei Leipzig um die Entscheidung kämpfen sollte. Die großartige, vom Kaiser befehligte Parade sollte das letzte der militärischen Schaustücke sein, die so lange Zeit die Bewunderung der Pariser und Ausländer erregt hatten. Die alte Garde sollte ein letztes Mal die geschickten Manöver vorführen, deren Pomp und Schneidigkeit bisweilen selbst diesen Riesen in Erstaunen setzten, der sich nun zu seinem Zweikampf mit Europa rüstete. Ein gewisses Gefühl der Trauer führte eine glänzende, neugierige Menschenmenge zu den Tuilerien hinaus. Jeder schien in die Zukunft zu schauen und hatte vielleicht das Vorgefühl, daß man auf die Phantasie angewiesen sein würde, wenn man dieses Bild in seiner Pracht noch einmal vor Augen haben wollte -- daß bald die Zeiten kommen würden, wo -- wie es heute schon der Fall ist -- diese Heldentage Frankreichs fast der Fabel anzugehören scheinen. »Laß uns doch schneller gehen, Vater,« sagte das junge Mädchen mit schalkhafter Miene und zog den Greis mit sich fort. »Ich höre schon den Tambour.« »Das sind die Truppen -- sie ziehen in die Tuilerien ein,« antwortete er. »Oder sie sind schon beim Vorbeimarsch -- alle Leute kommen schon zurück,« versetzte sie mit kindischem Schmerz, der dem Greis ein Lächeln entlockte. »Die Parade fängt erst um halb ein Uhr an,« entgegnete der Vater und hielt nur zur Not Schritt mit seiner vorwärts hastenden Tochter. Den rechten Arm bewegte sie so heftig, daß man hätte meinen mögen, sie gebrauche ihn beim Laufen. Ihre kleine, in hübschem Handschuh steckende Hand zerknüllte ungeduldig ein Taschentuch und glich dem Ruder einer Gondel, das die Wellen teilt. Der alte Mann lächelte bisweilen; aber manchmal verdüsterte auch ein Ausdruck der Besorgnis sein vertrocknetes Gesicht. In seiner Liebe zu diesem reizenden Geschöpf erfreute er sich ebenso sehr an der Gegenwart, wie er sich um die Zukunft härmte. Er schien bei sich zu denken: »Heute ist sie noch glücklich, wird sie es immer sein?« Denn alte Leute sind stets geneigt, in die Zukunft junger Leute ihren Kummer hineinzutragen. Als Vater und Tochter unter dem Säulengange des Pavillons ankamen, auf dem die Trikolore wehte, und durch den man hindurch muß, wenn man von dem Garten der Tuilerien nach dem Karussell will, riefen ihnen die Posten gebieterisch zu: »Hier geht's nicht weiter!« Die Kleine reckte sich auf den Zehen in die Höhe und konnte eine Menge von geputzten Frauen sehen, die sich zu beiden Seiten der Marmorarkade drängten, aus der der Kaiser kommen mußte. »Da siehst du, Vater, wir sind zu spät gegangen.« Sie schmollte ärgerlich -- ein Zeichen, wie viel ihr daran gelegen war, diese Parade mitanzusehen. »Nun, Julie, so gehen wir wieder. Du hast es nicht gern, in solchem Gedränge zu sein.« »Wir wollen noch bleiben, lieber Vater. Von hier aus kann ich wenigstens den Kaiser sehen. Wenn er nun in dem Feldzug den Tod fände, so habe ich ihn wenigstens einmal gesehen.« Der Vater zitterte ein wenig, als er diese egoistischen Worte hörte; seine Tochter sprach in weinerlichem Tone. Er sah sie an und glaubte unter den gesenkten Lidern ein paar Tränen zu bemerken, die wohl weniger aus Enttäuschung als aus einem jener ersten Schmerzen entsprangen, deren Geheimnis ein alter Vater so leicht erraten kann. Plötzlich errötete Julie und stieß einen Ruf aus, dessen Bedeutung weder die Posten noch der alte Mann verstanden. Bei diesem Schrei drehte sich ein Offizier, der von dem Hof nach der Treppe eilte, lebhaft um, schritt bis an die Arkade des Gartens, erkannte die junge Person, die im Augenblick hinter den hohen Pelzmützen der Grenadiere verschwand, und hob für sie und ihren Vater sogleich den Befehl auf, den er selbst erteilt hatte. Ohne sich um das Getümmel der eleganten Menge zu kümmern, die die Arkade belagerte, zog er das junge Mädchen, das vor Freude außer sich war, zu sich hin. »Nun wundere ich mich nicht mehr, daß sie es so eilig hatte und so böse auf mich war. Sie hat gewußt, daß du hier Dienst hast,« sagte der alte Herr in ebenso ernsthaftem, wie spöttischem Tone zu dem Offizier. »Herr Herzog,« antwortete der junge Mann, »wenn Sie einen guten Platz haben wollen, so dürfen wir uns nicht mit Schwatzen aufhalten. Der Kaiser liebt es nicht zu warten, und der Großmarschall hat mich eben abgesandt, ihm Meldung zu machen.« Während er so sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit Juliens Arm genommen und zog sie rasch nach der Reitbahn hin mit sich fort. Julie sah mit Erstaunen eine ungeheure Menschenmenge, dichtgedrängt in dem kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des Palastes und den mit Ketten verbundenen Prellsteinen stehen, die die große Sandfläche in der Mitte des Tuilerienhofs abgrenzten. Die Reihe von Posten, die für den Kaiser und seinen Generalstab einen Durchgang freihalten mußte, hatte einen schweren Stand gegen den Druck dieser hin und her wogenden, wie ein Bienenschwarm summenden Menschenmasse, die sie zur Seite zu drängen drohte. »Es wird also sehr schön werden?« fragte Julie lächelnd. »So geben Sie doch acht!« rief der Offizier und faßte Julie um den Leib, um sie mit ebenso viel Kraft wie Schnelligkeit emporzuheben und an einer Säule vorbeizutragen. Hätte er seine neugierige Verwandte nicht so rasch hinweggezogen, so hätte sie leicht mit dem Hinterteil eines weißen Pferdes mit grünsamtenem, reich mit Gold gesticktem Sattel, das der Mameluck Napoleons unmittelbar vor der Arkade am Zügel hielt, in unsanfte Berührung kommen können. Zehn Schritt weiter vorn stampften all die Pferde, die der hohen Offiziere, der Begleiter des Kaisers, harrten. Der junge Mann stellte Vater und Tochter an den ersten Prellstein rechter Hand. Sie standen hier vor der Menge, und durch ein Kopfnicken empfahl er sie der Obhut der beiden Grenadiere, zwischen denen sie standen. Als der Offizier zum Palast zurückkehrte, hatte auf seinem Antlitz der jähe Schreck, den ihm der unvermutete Seitensprung des Pferdes um Juliens willen bereitet hatte, einem Ausdruck des Glücks und der Freude Platz gemacht; Julie hatte ihm geheimnisvoll die Hand gedrückt, sei es, um ihm zu danken, sei es, um zu sagen: »Endlich sehe ich Sie wieder!« Sie neigte sogar sanft den Kopf zur Antwort auf den Gruß, mit dem der Offizier von ihr und auch von ihrem Vater Abschied nahm. Der alte Herr, der mit Absicht die beiden jungen Leute allein gelassen zu haben schien, kam ein Stückchen hinterdrein und blieb ernst und still; aber er beobachtete sie scharf und bemühte sich, sie in den trügerischen Glauben zu wiegen, als habe er nur Augen für das prachtvolle Schauspiel, das sich auf der Reitbahn abspielte. Als Julie den Vater mit dem Blick eines Schülers ansah, der seinem Lehrer nicht recht traut, antwortete der Alte sogar mit einem Lächeln wohlwollender Heiterkeit; aber sein durchdringendes Auge war dem jungen Offizier bis unter die Arkade gefolgt, und nicht die kleinste Einzelheit dieser raschen Szene war ihm entgangen. »Welch schöner Anblick!« rief Julie mit leiser Stimme und drückte die Hand ihres Vaters. Das malerische, großartige Bild, das in diesem Augenblick die Reitbahn darbot, entlockte den gleichen Ausruf Tausenden von Zuschauern, deren Gesichter alle vor Bewunderung strahlten. Eine andere Reihe von Leuten, ebenso dichtgedrängt wie die, vor der der alte Herr und seine Tochter sich befanden, stand in einer mit dem Schlosse parallel verlaufenden Linie auf dem engen, gepflasterten Raum, der sich längs dem Gitter der Reitbahn hinzieht. Diese Menge gab durch die große Buntheit der Frauenkleider dem riesigen Rechteck, das die Gebäude der Tuilerien und dieses damals erst seit kurzem bestehende Gitter bildeten, vollends erst einen scharfen Umriß. Die Regimenter der Alten Garde, die nur im Vorbeireiten gemustert werden sollten, nahmen diesen mächtigen Platz ein und standen dem Palast gegenüber in imposanten, zehn Glieder tiefen Fronten. Jenseits der Einfriedigung, doch innerhalb der Reitbahn, standen, ebenfalls in parallelen Fronten, mehrere Regimenter Infanterie und Kavallerie. Diese sollten unter dem Triumphbogen hindurch, der die Mitte des Gitters schmückte, und auf dessen First zu jener Zeit die prachtvollen Rosse Venedigs standen, in Parade vorbeimarschieren. Die Musik der Regimenter, die vor den Galerien des Louvre aufgestellt war, konnte man nicht sehen, weil die polnischen Ulanen davor standen. Ein großer Teil der Sandfläche war leer geblieben, wie eine Arena, die für die Bewegungen der in tiefem Schweigen dastehenden Korps hergerichtet war. Von diesen mit der Symmetrie militärischer Kunst aufgestellten Massen blitzten die Sonnenstrahlen im dreieckigen Feuer von zehntausend Bajonetten zurück. Die Luft bewegte die Federbüsche der Soldaten und ließ sie wallen wie die Bäume eines Waldes, die ein Sturmwind beugt. Bei der Verschiedenheit der Uniformen, der Aufschläge, der Waffen und Achselschnüre boten diese alten, stummen und eindrucksvollen Scharen dem Auge tausend Farbengegensätze. Dieses gewaltige Gemälde -- das Miniaturbild eines Schlachtfeldes vor Beginn des Kampfes -- ein Gemälde von großer Buntheit und seltsam wechselnden Gruppen, erhielt in den hohen, majestätischen Gebäuden, an deren Regungslosigkeit die Führer und Soldaten sich ein Beispiel zu nehmen schienen, einen poetischen Rahmen. Der Zuschauer verglich unwillkürlich diese Mauern von Menschen mit jenen Mauern von Stein. Die Frühlingssonne, die ihr Licht verschwenderisch auf die weißen, vor alter Zeit gebauten Wände und die Jahrhunderte alten Mauern warf, beleuchtete voll die zahllosen, schwarzbraunen Gesichter, die alle von bestandenen Gefahren erzählten und ernst den kommenden Gefahren entgegensahen. Nur die Obersten eines jeden Regiments schritten vor den Fronten, die diese heldenhaften Männer bildeten, auf und ab. Hinter den von Silber, Azur, Purpur und Gold funkelnden Truppenmassen konnten die Neugierigen die mit dreifarbigen Fähnchen geschmückten Lanzen von sechs unermüdlichen polnischen Ulanen sehen, die, gleich den Hunden, die eine Herde über das Feld treiben, unaufhörlich zwischen den Truppen und den Neugierigen hin und her galoppierten, um zu verhindern, daß die Leute den kleinen Zwischenraum überschritten, den man ihnen neben dem kaiserlichen Gitter eingeräumt hatte. Wenn dieses Hin und Her nicht gewesen wäre, hätte man glauben können, man befände sich im Palast der schönen Fee, im verzauberten Walde. Das Frühlingslüftchen, das über die Mützen der Grenadiere hinwehte und die hohen Federbüsche bewegte, brachte allein ein wenig Leben in die Regungslosigkeit der Soldaten -- und das dumpfe Murmeln der Menge allein unterbrach die Stille. Nur hin und wieder klang der Ton eines Halbmondes, oder aus Versehen geschah ein leichter Schlag gegen die Kesselpauke, um im Echo vom kaiserlichen Palast zurückzuhallen -- das waren die einzigen Laute, die an jenes ferne Donnern erinnerten, das einem Gewitter vorausgeht. Eine unbeschreibliche Begeisterung tat sich in dem Harren der Menge kund. Am Vorabend eines Feldzugs, dessen Gefahren der geringste Bürger erkannte, wollte Frankreich Napoleon Lebewohl sagen. Diesmal handelte es sich für das französische Kaisertum um Sein oder Nichtsein. Dieser Gedanke schien in gleichem Maße die städtische Bevölkerung und die soldatische Bevölkerung zu erfüllen, und sie drängten sich in einmütigem Schweigen in der Einfriedigung, über der Napoleons Adler und Genius schwebten. Die Soldaten, Frankreichs Hoffnung -- die Soldaten, sein letzter Blutstropfen, waren für die Mehrzahl der Zuschauer ebenfalls ein Gegenstand heftiger Besorgnis. Zwischen einem großen Teile der Herumstehenden und des Militärs war dies vielleicht ein Abschied auf ewig; aber alle Herzen, selbst die, die dem Kaiser durchaus feindlich gesinnt waren, sandten heiße Gebete zum Himmel um den Ruhm des Vaterlandes. Diejenigen, die des zwischen Europa und Frankreich entbrannten Kampfes überdrüssig waren, hatten alle beim Durchgang unter dem Triumphbogen ihres Hasses vergessen und begriffen wieder, daß am Tage der Gefahr Napoleon ganz Frankreich verkörperte. Die Schloßuhr schlug halb eins. In diesem Augenblick verstummte das Summen der Menge, und das Schweigen wurde so tief, daß man ein Kind hätte sprechen hören können. Der alte Herr und seine Tochter, die beide ganz Auge zu sein schienen, vernahmen jetzt ein Geräusch von klirrenden Sporen und rasselnden Degen, das unter dem hallenden Bogengange des Schlosses hervorklang. Ein kleiner, ziemlich korpulenter Mann, gekleidet in grüne Uniform, weiße Hose und Reitstiefel, erschien plötzlich. Den Dreimaster, der ebenso absonderlich aussah, wie der ganze Mann, behielt er auf dem Kopfe; das breite, rote Band der Ehrenlegion floß über seine Brust, an der Seite trug er einen kleinen Degen. Aller Augen, von allen Punkten des Platzes aus, waren zu gleicher Zeit auf diesen einen Mann gerichtet. Sogleich schlugen die Tamboure den Wirbel, die beiden Musikkapellen setzten zu einem Stück ein, dessen kriegerischer Ausdruck sich in allen Instrumenten von der großen Pauke bis zur sanftesten Flöte wiederholte. Bei diesem Ruf zum Streit zitterten die Seelen, die Fahnen salutierten, die Soldaten präsentierten mit einmütigem, regelrechtem Griff, der die Gewehre von der ersten Reihe bis zu der letzten auf der ganzen Reitbahn mit einem Schlag in Bewegung setzte. Kommandoworte pflanzten sich wie ein Echo von Glied zu Glied fort. Der Schrei: »Es lebe der Kaiser!« erscholl aus der begeisterten Menge. Kurz, alles wogte, zitterte, vibrierte. Napoleon war zu Pferde gestiegen. Das erst hatte Leben in diese schweigenden Massen gebracht, den Instrumenten Stimme verliehen, den Adlern und Fahnen Schwung gegeben, alle Gesichter in Bewegung gesetzt. Selbst die Mauern des alten Palastes schienen zu rufen: »Es lebe der Kaiser!« Es war nichts Menschliches mehr, es war ein Zauber, ein Abglanz der göttlichen Gewalt oder besser noch ein flüchtiges Ebenbild dieser so flüchtigen Herrschaft. Der von so viel Liebe, Begeisterung, Aufopferung und Gebet umringte Mensch, für den die Sonne die Wolken des Himmels verscheucht hatte, hielt drei Schritt vor der kleinen prunkvollen Schwadron seines Gefolges -- der Großmarschall war zu seiner Linken, der Marschall vom Dienst zu seiner Rechten. Inmitten all dieser stürmischen Erregung, die er allein hervorrief, schien sich nicht eine Muskel seines Gesichts zu bewegen. »O, mein Gott, ja. Bei Wagram, mitten im Feuer, an der Moskwa, zwischen den Toten -- immer ist er ruhig wie der Täufer. Ja, er!« Diese Antwort wurde auf zahlreiches Fragen von dem Grenadier erteilt, der in der Nähe des jungen Mädchens stand. Julie hatte sich auf einen Augenblick ganz in die Betrachtung des Gesichts versenkt, deren Ruhe ein so sicheres Machtbewußtsein ausdrückte. Der Kaiser bemerkte Fräulein von Chantillonest und neigte sich zu Duroc hin, um ein paar kurze Worte zu ihm zu sprechen, über die der Großmarschall lächelte. Die Parade begann. Wenn die junge Person bis dahin bald das starre Gesicht Napoleons, bald die blauen, roten und grünen Truppenreihen betrachtet hatte, so galt ihre Aufmerksamkeit bei all den Bewegungen, die die alten Soldaten rasch und regelmäßig ausführten, fast ausschließlich einem jungen Offizier, der unter den paradierenden Massen hin und her sprengte und in unermüdlicher Tätigkeit immer wieder zu der Gruppe zurückritt, an deren Spitze die schlichte Gestalt Napoleons leuchtete. Dieser Offizier ritt einen wunderschönen Rappen und fiel unter der buntfarbigen Menge durch die himmelblaue Uniform der kaiserlichen Ordonnanzoffiziere ganz besonders auf. Seine Stickereien funkelten so hell in der Sonne, und der Federbusch seines schmalen, langen Tschakos schimmerte so prächtig, daß die Zuschauer ihn mit einem Irrlicht, einer zur Erscheinung gewordenen Seele, vergleichen mußten, die aus dem Kaiser selbst herausgefahren zu sein schien, und durch die er diese Bataillone, deren Waffen wie ein Flammenmeer wogten, belebte und lenkte. Auf einen Wink seiner Augen teilten sie sich, flossen wieder zusammen, wirbelten durcheinander wie die Wellen eines Strudels oder zogen an ihm vorbei wie die langen, hochgerichteten Kämme, die der vom Sturm erregte Ozean gegen seine Gestade wälzt. Als die Manöver vorüber waren, ritt der Ordonnanzoffizier mit verhängtem Zügel heran und zügelte sein Pferd kurz vor dem Kaiser, um seines Befehles zu harren. In diesem Augenblick war er zwanzig Schritt von Julie entfernt und hielt gerade vor der kaiserlichen Gruppe, ganz in jener Stellung, die Gérard auf dem Gemälde von der Schlacht bei Austerlitz dem General Rapp gegeben hat. Jetzt durfte das junge Mädchen seinen Geliebten in all seinem militärischen Glanze bewundern. Oberst Victor d'Aiglemont, kaum dreißig Jahre alt, war groß, wohlgebaut und schlank. Sein glückliches Ebenmaß kam nie besser zur Geltung, als wenn er seine Kraft anwandte, ein Pferd zu regieren, dessen eleganter, glatter Rücken sich unter ihm zu beugen schien. Sein männliches, braunes Gesicht besaß jenen unerklärlichen Reiz, den eine vollkommene Regelmäßigkeit der Züge jungen Gesichtern verleiht. Seine Stirn war groß und hoch. Seine feurigen Augen, von dichten Brauen beschattet und mit langen Wimpern besetzt, zeichneten sich wie zwei weiße Ovale zwischen schwarzen Umrissen ab. Seine Nase hatte die graziöse Biegung des Adlerschnabels. Den Purpur der Lippen hob der feine Schwung des unvermeidlichen schwarzen Schnurrbarts noch mehr hervor. Seine vollen Wangen zeigten die braune, gelbe Färbung, die auf außerordentliche Körperkraft deutet. Sein Gesicht -- eines von denen, die den Stempel der Tapferkeit tragen -- hatte jenen Typus, den noch heute der Künstler sucht, wenn er einen der Helden aus der französischen Kaiserzeit darstellen will. Das Pferd war in Schweiß gebadet, und sein Kopf zitterte in heftiger Ungeduld. Die breit aufgestellten Vorderfüße standen in einer Linie, ohne daß einer über den andern hinausragte. Das lange Haar seines dichten Schweifs wogte hin und her. Die Ergebenheit dieses Tiers gegen seinen Herrn bot ein körperliches Abbild der Ergebenheit seines Herrn gegen seinen Kaiser. Als Julie ihren Geliebten so ganz an den Augen Napoleons hängen sah, erfüllte sie der Gedanke, daß er sie noch gar nicht angesehen hätte, mit Eifersucht. Plötzlich spricht der Herrscher ein Wort, Victor gibt seinem Pferd die Sporen und sprengt im Galopp davon. Aber der Schatten eines Prellsteins auf dem Sande macht das Pferd scheu -- es stutzt, weicht zurück und bäumt sich so heftig, daß der Reiter in Gefahr scheint. Julie wird blaß und stößt einen Schrei aus. Alles wirft ihr neugierige Blicke zu, sie aber sieht niemand. Ihre Augen sind nur auf dieses so wilde Pferd gerichtet, das der Offizier zum Gehorsam zwingt, um im Galopp Napoleons Befehle weiterzutragen. Diese betäubenden Bilder nahmen Juliens Sinne so völlig gefangen, daß sie, ohne es zu wissen, sich fest an den Arm des Vaters klammerte und diesem unwillkürlich durch den stärkeren oder schwächeren Druck ihrer Finger verriet, was in ihr vorging. Als Victor beinah von seinem Pferde abgeworfen wurde, faßte sie noch fester zu und drohte zu fallen. Der alte Herr betrachtete mit düsterer, schmerzlicher Unruhe das Antlitz seines Kindes, und Gefühle wie Mitleid, Eifersucht, ja Kummer zeigten sich in seinem runzligen Gesicht. Aber als das ungewohnte Aufblitzen ihrer Augen, der Schrei, den sie ausstieß, und die krampfhafte Umspannung ihrer Finger ihm den letzten Rest einer geheimen Liebe offenbart hatten, da mußte er wohl mit Trauer der Zukunft gedenken, denn sein Gesicht nahm jetzt einen finstern Ausdruck an. In diesem Augenblick schien Juliens Seele in die des Offiziers übergegangen zu sein. Ein noch grausamerer Gedanke, als alle, die den alten Herrn bisher erschreckt hatten, grub sich in die Falten seines leidenden Gesichts ein, als er d'Aiglemont im Vorbeireiten einen Blick des Einverständnisses mit Julie wechseln sah, deren Augen feucht waren, deren Antlitz sich auffallend gerötet hatte. Fast grob führte er seine Tochter plötzlich nach dem Garten der Tuilerien. »Aber, Papa,« sagte sie, »es stehen doch noch Regimenter auf der Reitbahn, die sollen auch noch manövrieren.« »Nein, mein Kind, alle Truppen rücken ab.« »Ich glaube, Sie irren sich, mein Vater. Herr d'Aiglemont hat ihnen den Befehl gebracht, anzutreten.« »Aber, mein Kind, ich habe Schmerzen und will nicht bleiben.« Julie mußte ihrem Vater wohl oder übel glauben, als sie die Augen auf dieses Gesicht warf, dem väterliche Sorgen eine Miene des Kummers gaben. »Haben Sie große Schmerzen?« fragte sie, aber in ihrer Zerstreutheit klang diese Frage recht gleichgültig. »Wird mir nicht jeder neue Tag nur noch aus Gnade zuteil?« antwortete der Greis. »Sie wollen also wieder von Ihrem Tode sprechen, damit ich recht traurig sein soll? Und ich war so froh! Wollen Sie wohl Ihre garstigen, schwarzen Gedanken verscheuchen?« »Ach,« rief der Vater seufzend, »du verhätscheltes Ding! Die besten Herzen sind manchmal recht grausam. Euch unser ganzes Leben opfern, immer nur an euch denken, für euer Wohlsein sorgen, unsere Liebhabereien euern Launen unterordnen, euch anbeten, euch sogar unser Blut geben -- ist denn das noch nichts? Um uns nur immer euer Lächeln und eure geringschätzige Liebe zu erhalten, müßten wir die Allmacht eines Gottes haben. Schließlich kommt ein anderer. Ein Verehrer, ein Gatte raubt uns euer Herz.« Julie sah ihren Vater erstaunt an, der langsam neben ihr herging und erloschene Blicke auf sie warf. »Ihr spielt Versteck mit uns, vielleicht auch sogar mit euch selbst,« fuhr er fort. »Was sagen Sie da, mein Vater?« »Ich denke, Julie, du hast Geheimnisse vor mir. Du liebst,« sagte der Greis eindringlich, als er seine Tochter erröten sah. »Ach, ich hatte gehofft, du würdest deinem alten Vater bis zum Tode treu bleiben, ich hoffte, dich bei mir zu behalten, mich an deinem Glück und Glanze erfreuen zu können, dich zu bewundern, schön, wie du eben noch warst! Solange ich nicht wußte, welches Geschick dir bevorstände, hätte ich noch glauben können, daß dir eine ruhige Zukunft beschieden sein werde; aber jetzt kann ich unmöglich die Hoffnung auf ein glückliches Leben meiner Tochter mit ins Grab nehmen; denn du liebst noch mehr den Oberst als den Vetter. Ich kann nicht mehr daran zweifeln.« »Warum sollte ich ihn nicht lieben dürfen?« rief sie mit lebhafter Neugierde. »Ach, meine Julie, du kannst mich ja doch nicht verstehen,« versetzte der Vater seufzend. »Sprechen Sie immerhin,« erwiderte sie mit einer Gebärde des Eigenwillens. »Gut, mein Kind, so höre mich an. Die jungen Mädchen erschaffen sich oft edle, entzückende Bilder, ganz ideale Gestalten und formen sich allerlei Hirngespinste über Menschen, Gefühle und Welt. Dann verleihen sie in ihrer Unschuld einem Charakter all die geträumte Vollkommenheit und schwören nun darauf. Sie lieben in dem Manne ihrer Wahl dieses Phantasiegeschöpf; aber später, wenn keine Zeit mehr da ist, sich von dem Unglück zu befreien, verwandelt sich das Trugbild, das sie so verschönt haben, ihr erstes Götzenbild, schließlich in ein häßliches Skelett. Julie, mir wäre es lieber, du liebtest einen Greis, statt diesen Offizier. Ach, wenn du dich um zehn Jahre weiter ins Leben versetzen könntest, würdest du meiner Erfahrung recht geben. Ich kenne Victor. Seine Heiterkeit ist eine Heiterkeit ohne Geist -- eine Kasernenheiterkeit; er ist ohne Talent und verschwenderisch. Er ist einer von jenen Männern, die der Himmel dazu geschaffen hat, an einem Tage vier Mahlzeiten zu genießen und zu verdauen, zu schlafen, die erste beste zu lieben und sich zu schlagen. Er versteht nicht, was Leben heißt. Sein gutes Herz -- denn ein gutes Herz hat er -- wird ihn vielleicht dazu verleiten, seine Börse einem Unglücklichen, einem Kameraden zu geben; aber er ist gleichgültig, er besitzt nicht die Zartheit des Herzens, die uns keine andere Sorge hegen läßt, als eine Frau glücklich zu machen. Er ist unwissend und egoistisch -- kurz, es gibt da sehr viele Aber.« »Er muß doch wohl Geist haben, mein Vater, und was können, sonst wäre er doch nicht Oberst geworden.« »Meine Liebe, Oberst wird Victor auch sein Leben lang bleiben. Ich habe noch niemand gesehen, der mir deiner würdig erschienen wäre,« versetzte der alte Vater mit einer gewissen Begeisterung. Er blieb einen Augenblick stehen, betrachtete seine Tochter und fügte hinzu: »Aber, meine arme Julie, du bist noch zu jung, zu schwach, zu zart, um die Kümmernisse und die Mühseligkeiten der Ehe zu ertragen. D'Aiglemont ist ein Muttersöhnchen und von seinen Eltern ebenso verhätschelt worden, wie du von deiner Mutter und mir. Wie wäre es überhaupt möglich, daß ihr zwei unversöhnlichen Trotzköpfe, wenn ihr mal verschiedener Meinung seid, euch verständigen könntet? Du wirst da entweder Amboß oder Hammer, entweder Opfer oder Tyrann. Und ob nun das eine oder das andere, in jedem Falle ist dann die Summe der Leiden im Leben einer Frau gleich groß. Da du aber sanft und bescheiden bist, so wirst du wohl zuerst nachgeben. Schließlich bist du eben,« sagte er mit veränderter Stimme, »von einer Zartheit des Empfindens, die mißverstanden werden wird, und dann ...« Er sprach nicht weiter -- Tränen hinderten ihn daran. »Victor,« fuhr er nach einer Pause fort, »wird die naive Reinheit deiner Seele verletzen. Ich kenne das Militär, meine Julie. Ich habe auch unter Soldaten gelebt. Es kommt selten vor, daß bei diesen Leuten über die Gewohnheiten, die sie inmitten all des Unglücks, das sie umgibt, oder infolge ihres an Zufällen reichen Abenteurerlebens annehmen, zuletzt noch einmal das Herz den Sieg davonträgt.« »Sie wollen also, mein Vater,« versetzte Julie in einem Tone, der zwischen Ernst und Scherz die Mitte hielt, »Einspruch gegen meine Liebe erheben? Ich soll nicht heiraten, wie ich will, sondern wie Sie es bestimmen?« »Heiraten, wie ich es bestimme?« rief der Vater mit einer Bewegung des Erstaunens. »Ach, mein Kind, ich und bestimmen! Bald wirst du ja doch meine Stimme, die, wenn sie auch schilt, doch in aller Liebe schilt, nicht mehr hören. Und das ist ja immer so, die Opfer, die die Eltern ihnen darbringen, schreiben die Kinder persönlichen Gefühlen zu. Heirate Victor, meine Julie! Eines Tages wirst du es bitter beklagen, eine Null zum Manne zu haben, und sein Mangel an Ordnungssinn, sein Egoismus, seine Gefühlsgrobheit, sein liebeleeres Gemüt und tausend andere Dinge werden dich an ihm schmerzen. Dann denke daran, daß unter diesen Bäumen die prophetische Stimme deines alten Vaters dir vergebens zu Ohren gedrungen ist!« Der Greis schwieg -- er hatte seine Tochter darüber ertappt, daß sie eigensinnig den Kopf zurückwarf. Alle beide taten ein paar Schritte nach dem Gitter, wo ihr Wagen Halt gemacht hatte. Auf diesem schweigsamen Gange betrachtete das junge Mädchen verstohlen das Gesicht ihres Vaters, und ihre trotzige Miene verschwand allmählich. Der tiefe Schmerz, der auf dieser zu Boden gesenkten Stirn ausgeprägt war, ging ihr sehr nahe. »Ich verspreche Ihnen, mein Vater,« sagte sie mit sanfter Rührung, »Victor nicht eher vor Ihnen zu nennen, als bis Sie sich von Ihren Vorurteilen gegen ihn bekehrt haben.« Der alte Herr sah seine Tochter erstaunt an. Ein paar Tränen traten aus seinen Augen und rollten die gefurchten Wangen hinab. Er konnte Julie nicht mitten unter diesen Menschen küssen, aber er drückte ihr liebevoll die Hand. Als er in den Wagen stieg, waren alle schmerzlichen Gedanken, die seine Stirn verfinstert hatten, entschwunden. Seine Tochter traurig zu sehen, beunruhigte ihn nun weit mehr, als die unschuldige Freude, deren Geheimnis Julie während der Parade unwissentlich verraten hatte. * * * * * In den ersten Märztagen des Jahres 1814 -- seit jener Parade vor dem Kaiser war noch nicht ganz ein Jahr verflossen, da rollte eine Kalesche auf der Chaussee, die von Amboise nach Tours führt. Als sie unter dem grünen Dach von Nußbäumen hervorfuhr, das sich um die Post von Frillière wölbt, zogen die Pferde mit solcher Schnelligkeit, daß der Wagen im nächsten Augenblick schon die über die Cise gebaute Brücke, wo dieser Fluß in die Loire mündet, erreichte und hier Halt machte. Infolge der wilden Jagd, zu der ein junger Postillon auf Befehl seines Herrn vier der kräftigsten Postpferde angetrieben hatte, war ein Strang gerissen. So fügte es die Laune des Zufalls, daß die beiden Insassen der Kalesche, aus dem Schlummer erwachend, Muße hatten, eine der schönsten Landschaften zu betrachten, die man an den an Schönheiten reichen Ufern der Loire finden kann. Zur Rechten übersieht man auf einen Blick alle Krümmungen der Cise, die sich wie eine silberne Schlange durch das Gras der Wiesen hinzieht, die die ersten Triebe des Frühlings um diese Zeit smaragden färbten. Zur Linken erscheint die Loire in all ihrer Herrlichkeit. Zahllose kleine Stellen, wo ein etwas frischer Morgenwind Wirbel auftrieb, spiegelten auf der weiten Wasserfläche, die dieser majestätische Strom entfaltet, den Schimmer der Sonne wieder. Hier und dort reihen auf der ausgedehnten Flut Inseln wie die einzelnen Teile eines Halsbandes sich aneinander. Am Ufer breiten die schönsten Gefilde der Touraine, soweit das Auge reicht, ihre Schätze aus. In der Ferne wird der Blick erst durch die Hügel von Cher begrenzt, die in diesem Augenblick leuchtende Linien auf dem durchsichtigen Azur des Himmels zogen. Durch das zarte Laub der Inseln hindurch sieht man im Hintergrunde des Gemäldes Tours, das, wie Venedig, mitten aus der Flut aufzusteigen scheint. Die Türme der alten Kathedrale ragen in die Luft, wo sie sich an diesem Morgen in den phantastischen Gebilden einiger weißen Wolken verloren. Jenseits der Brücke, an der der Wagen angehalten hatte, sieht der Reisende vor sich eine Kette von Felsen, die sich an der Loire entlang bis nach Tours hinzieht. Eine Laune der Natur scheint sie dorthin gestellt zu haben, um den Strom einzudämmen, dessen Wellen unaufhörlich das Gestein aushöhlen -- ein Schauspiel, das stets das Staunen des Reisenden erweckt. Der Flecken Vouvray liegt gleichsam eingezwängt in die Schluchten und Gründe dieser Felsen, die vor der Cisebrücke ein Knie bilden. Die gewaltigen Krümmungen dieser zerrissenen Hügelkette sind von Vouvray bis Tours von einer weinbauenden Bevölkerung bewohnt. An mehr als einer Stelle sind die Häuser in drei Staffeln mitten zwischen die Felsen eingebaut und durch gefahrvolle Stiegen, die in den Stein geschlagen sind, miteinander verbunden. Über der Spitze eines Daches sieht man ein Mädchen in rotem Rock in einen Garten laufen. Zwischen den Ranken und Reben von Weinstöcken steigt der Rauch eines Schornsteins auf. Dörfler arbeiten auf senkrechten Feldern. Auf einem abgerutschten Felsblock sitzt eine alte Frau und spinnt in aller Ruhe unter den Blüten eines Mandelbaums. Sie sieht auf die Reisenden zu ihren Füßen hinab und lächelt über deren Angst. Die Risse im Boden machen ihr ebensowenig Sorge wie die überhängenden Trümmer einer alten Mauer, die nur noch durch die gewundenen Wurzeln eines Efeumantels vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt ist. Die Hammerschläge von Küfern hallen in den Gewölben luftiger Keller. Kurz, hier, wo die Natur dem Menschenfleiß Fuß zu fassen wehrt, ist die Erde überall bebaut und fruchtbar. So läßt sich auch auf dem ganzen Lauf der Loire nichts mit dem reichen Panorama vergleichen, das die Touraine vor den Augen des Reisenden ausbreitet. Das dreifache Gemälde dieser Szene, dessen Fülle hier kaum angedeutet worden ist, bietet der Seele eines jener Bilder, die sie sich auf ewig ins Gedächtnis schreibt; und wenn ein Poet sich daran erfreut hat, so träumt er oft davon, und im Traume baut sich dann das Bild mit romantischen Effekten märchenhaft auf. In dem Augenblick, wo der Wagen an die Cisebrücke gelangte, tauchten mehrere weiße Segel zwischen den Loireinseln auf und brachten noch mehr Harmonie in diese harmonische Gegend. Die Weiden am Rande des Flusses mischten ihren durchdringenden Duft in die würzige feuchte Brise. Die Vögel zwitscherten ihre Liebeslieder; der eintönige Gesang eines Ziegenhirten fügte eine Art Melancholie hinzu, und das Rufen von Schiffern deutete auf reges Treiben in der Ferne. Leichter Dunst hing launisch um die in der weiten Landschaft verstreuten Bäume und trug zuletzt auch zu dem anmutigen Gesamtbild bei. Es war die Touraine in all ihrer Herrlichkeit, der Lenz in all seiner Pracht. Dieser Teil Frankreichs, der einzige, den die fremden Heere nicht behelligen sollten, war um diese Zeit auch der einzige, der ruhig war. Man hätte glauben können, die Invasion wagte sich nicht an ihn heran. Ein Kopf mit einer Soldatenmütze sah zur Kalesche heraus, als sie die Fahrt einstellte. Gleich darauf öffnete ein ungeduldiger Soldat selbst die Tür und sprang auf die Straße, wie um den Postillon auszuzanken. Aber als der Oberst Graf d'Aiglemont sah, mit welcher Geschicklichkeit der Tourainer den zerrissenen Strang ausbesserte, beruhigte er sich. Er kehrte zum Wagenschlag zurück und reckte die Arme, als seien sie ihm eingeschlafen. Er gähnte, blickte über die Landschaft hin und legte die Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgsam in einen Pelz eingewickelt war. »Wach auf, Julie,« sagte er in heiserem Tone. »Sieh dir die Gegend an -- es ist herrlich hier.« Julie reckte den Kopf zum Wagen heraus. Sie trug auf dem Kopfe eine Kapuze von Marderfell, und der faltenreiche Pelz verhüllte ihre ganze Gestalt so völlig, daß man nichts als ihr Gesicht sehen konnte. Julie d'Aiglemont sah jetzt schon anders aus, als das junge Mädchen, das einst, strahlend vor Glück und Freude, zu der Parade in den Tuilerien geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte nicht mehr die rosige Färbung, die ihm früher einen so herrlichen Glanz verliehen hatte. Ein paar schwarze Locken, die sich durch die Feuchtigkeit der Nacht aus ihrem Haar gelöst hatten, hoben das fahle Weiß ihres Gesichts, dessen Lebhaftigkeit stumpf geworden zu sein schien, nur noch deutlicher hervor. In ihren Augen brannte indessen ein unnatürliches Feuer; und unter den Lidern zeigten sich auf den müden Wangen einige bläuliche Töne. Mit gleichgültigem Blick sah sie über die Gefilde von Cher, über die Loire und ihre Inseln, über Tours und die weitgestreckten Felsen von Vouvray hin. Ohne sich das entzückende Tal der Cise anzuschauen, lehnte sie sich ins Innere des Wagens zurück und sagte mit einer Stimme, die in dieser frischen Natur schwach und leblos klang: »Ja, großartig.« Sie hatte, wie man sieht, zu ihrem Unglück ihren Willen gegen den Vater durchgesetzt. »Julie, möchtest du nicht gern hier leben?« »O, hier oder anderswo,« antwortete sie gleichgültig. »Ist dir nicht wohl?« fragte der Oberst d'Aiglemont. »Nicht doch,« entgegnete die junge Frau mit augenblicklicher Lebhaftigkeit. Sie sah ihren Mann lächelnd an und setzte hinzu: »Schlafen möchte ich.« Plötzlich hörte man den Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ die Hand seiner Frau los und sah nach der Biegung hin, die die Straße an dieser Stelle machte. Als Julie den Blick des Obersten nicht mehr auf sich ruhen fühlte, verschwand der Ausdruck der Heiterkeit, den sie ihrem blassen Gesicht gegeben hatte, wie wenn ein Licht aufgehört hätte, es zu beleuchten. Sie hatte weder Lust, die Landschaft noch einmal zu betrachten, noch verlangte sie danach, zu erfahren, wer der so ungestüm einhergaloppierende Reiter wäre, sondern lehnte sich in die Ecke des Wagens zurück, und ihr Blick blieb, ohne eine Spur von Gefühl zu verraten, auf die Kruppen der Gäule geheftet. Sie sah ebenso stumpfsinnig drein, wie etwa ein bretonischer Bauer, wenn er die Litanei seines Pfarrers anhört. Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde sprengte plötzlich aus einem Wäldchen von Pappeln und blühendem Weißdorn hervor. »Es ist ein Engländer,« sagte der Oberst. »O, mein Gott ja, Herr General,« antwortete der Postillon. »Er gehört zu der Rasse von Kerlen, die wie man sagt, Frankreich auffressen wollen.« Der Unbekannte war einer von den Reisenden, die sich gerade auf dem Festlande befanden, als Napoleon zur Strafe für die Verletzung des Völkerrechts, die das Kabinett von Saint-James durch den Bruch des Vertrags von Amiens begangen hatte, alle Engländer im Lande festhielt. Der Willkür der kaiserlichen Macht ausgesetzt, blieben diese Gefangenen nicht alle an den Orten, wo sie in Haft genommen wurden, noch in denen, die sie sich im Anfang als Aufenthalt hatten wählen dürfen. Die Mehrzahl derer, die in diesem Augenblick in der Touraine weilten, waren aus verschiedenen Orten des Kaiserreichs, wo ihre Anwesenheit dem Interesse der Kontinentalpolitik zu schaden schien, hierher versetzt worden. Der junge Gefangene, der in diesem Augenblick in einem Ritt seine morgendliche Langeweile spazieren führte, war ein solches Opfer bürokratischer Macht. Vor zwei Jahren hatte ein Befehl vom Ministerium des Äußern ihn aus dem Klima von Montpelliers hinwegführt, wo er von einem Brustleiden Genesung suchte. Diese Kur wurde nun durch den Bruch des Friedens unliebsam beendet. In dem Augenblick, wo der junge Mann einen Militär in d'Aiglemont erkannte, beeilte er sich, dessen Blicke zu vermeiden und wandte ziemlich brüsk den Kopf nach den Wiesen der Cise hin. »Alle Engländer sind unverschämt, als wenn ihnen der Erdball gehörte,« murmelte der Oberst. »Glücklicherweise wird Soult sie in die Kandare nehmen.« Als der Gefangene an dem Wagen vorüberritt, warf er einen Blick hinein. So flüchtig dieser Blick war, konnte er doch den melancholischen Ausdruck bewundern, der dem Antlitz der Gräfin einen unbeschreiblichen Reiz verlieh. Es gibt viele Männer, deren Herz schon durch den bloßen Anblick einer leidenden Frau mächtig ergriffen wird. Für sie scheint der Schmerz ein Beweis für Treue und Liebe zu sein. Julie sah starr auf ein Kissen des Wagens und bemerkte weder das Pferd noch den Reiter. Inzwischen war der Strang rasch, aber auch fest ausgebessert worden. Der Graf nahm wieder Platz im Wagen. Der Postillon gab sich Mühe, die versäumte Zeit einzuholen, und kutschierte in schneller Fahrt auf der von überhängenden Felsen eingefaßten Chaussee hin. Dies war derjenige Teil der Straße, wo die Weine Vouvrays reifen und wo in der Ferne die berühmten Ruinen von Marmontier, dem Zufluchtsort des heiligen Martin, auftauchen. »Was will denn dieser spindeldürre Mylord von uns?« rief der Oberst, der sich umsah und in dem Reiter, der von der Brücke aus dem Wagen gefolgt war, den jungen Engländer erkannte. Da jedoch der Unbekannte keinen Verstoß gegen Anstand und Höflichkeit beging, wenn er auf der Chaussee spazieren ritt, so lehnte der Oberst sich in die Wagenecke zurück und begnügte sich damit, dem Engländer einen drohenden Blick zugeworfen zu haben. Allein trotz seiner Voreingenommenheit entging es ihm nicht, daß das Pferd überaus schön war und der Reiter sich sehr gut hielt. Der junge Mann hatte eins jener ausgesprochen britischen Gesichter, deren Teint so zart, deren Haut so sammetweich und weiß ist, daß man manchmal glauben möchte, sie gehörten einem jungen Mädchen an. Seine Kleidung war von der Zierlichkeit und Sauberkeit, die den Modestutzern des fashionablen England eigentümlich ist. Man hätte meinen mögen, er errötete beim Anblick der Gräfin mehr aus Verschämtheit als aus Vergnügen. Ein einziges Mal erhob Julie die Augen zu dem Fremden, und auch dazu hatte sie gewissermaßen erst von ihrem Manne aufgefordert werden müssen. Er sagte, sie solle sich doch mal die Beine eines echten Rassepferdes ansehen. Da begegneten die Augen Juliens denen des schüchternen Engländers. Von diesem Moment an ließ der Edelmann sein Pferd nicht mehr im Schritt neben der Kalesche hergehen, sondern folgte in einiger Entfernung. Die Komtesse beachtete den Unbekannten kaum. Sie hatte keinen Blick für die Vollkommenheiten weder der Menschen- noch der Pferderasse, die ihn und sein Tier auszeichnen mochten, und sank in die Tiefe des Wagens zurück, nachdem sie nur flüchtig die Brauen emporgezogen hatte, wie um dem Lobe ihres Mannes beizustimmen. Der Oberst schlummerte wieder, und die beiden Gatten langten in Tours an, ohne weiter ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Den entzückenden Landschaften und wechselnden Bildern, durch die die Fahrt ging, widmete Julie keine Aufmerksamkeit. Mehrmals betrachtete Frau d'Aiglemont ihren schlafenden Gatten. Beim letzten Blicke, den sie auf ihn richtete, fiel infolge eines heftigen Rucks, den der Wagen machte, ein Medaillon, das sie an einem Trauerbändchen um den Hals trug, in ihren Schoß, und so sah sie plötzlich das Bild ihres Vaters vor sich. Bei diesem Anblick stürzten die bisher zurückgehaltenen Tränen aus ihren Augen. Vielleicht bemerkte der Brite die nasse, schimmernde Spur, die diese Zähren auf einen Augenblick an den bleichen Wangen der Komtesse hinterließen, doch an der Luft trocknete diese Spur schnell. Graf d'Aiglemont reiste im Auftrage des Kaisers und hatte dem Marschall Soult, der Frankreich gegen einen Einfall der Engländer in das Königreich Navarra verteidigen sollte, wichtige Befehle zu überbringen. Er benutzte seine Mission, um seine Frau der Gefahr zu entziehen, in der damals Paris schwebte, und wollte sie nun zu einer alten Verwandten nach Tours bringen. Binnen kurzem rollte die Kalesche über die Brücke hinweg, hatte das Straßenpflaster von Tours unter sich und bog in die Grande Rue ein, wo sie vor dem altertümlichen Hause der ehemaligen Marquise de Listomere-Landon hielt. Die Marquise de Listomere-Landon war eine jener alten, blassen, weißhaarigen Frauen, die ein feines Lächeln haben, einen Reifrock tragen und sich mit einer Haube von unbekannter Mode putzen. Die Porträts von siebzigjährigen Damen aus dem Zeitalter Ludwigs XV. haben immer etwas Wohltuendes an sich; es ist, als ob diese Frauen noch immer liebten. Sie sind weniger fromm als gottergeben, und auch das nicht ganz so, wie es den Anschein hat. Sie duften immer nach Puder +à la maréchale+, erzählen hübsch, plaudern noch angenehmer und lachen über Anekdoten aus den alten Zeiten weit herzlicher als über einen Witz. An der Gegenwart haben sie kein Gefallen. Als eine alte Kammerfrau der Gräfin (denn sie durfte ihren Titel bald wieder führen) den Besuch eines Neffen meldete, den sie seit dem Anfang des spanischen Feldzugs nicht mehr gesehen hatte, nahm sie die Brille ab und klappte die »Galerie des alten Hofs« -- ihr Lieblingsbuch -- zu. Dann setzte sie ihre alten Beine noch einmal in fast jugendliche Bewegung und betrat gerade in dem Augenblick die Treppe, als die Ehegatten die Stufen hinaufzusteigen begannen. Tante und Nichte warfen sich einen raschen Blick zu. »Guten Tag, liebe Tante,« rief der Oberst, umarmte die alte Dame und küßte sie mit Hast. »Ich führe Ihnen da eine junge Dame zu, die Sie in Ihre Obhut nehmen sollen. Ich vertraue Ihnen damit mein Kleinod an. Meine Julie ist weder kokett noch eifersüchtig, sie ist ein Engel an Sanftmut. -- Aber sie wird hier hoffentlich zum Schoßkindchen,« setzte er hinzu, sich unterbrechend. »Bösewicht!« antwortete die Marquise, ihm einen spöttischen Blick zuwerfend. Sie bot als erste mit einer gewissen liebenswürdigen Anmut Julien den Mund zum Kusse. Die junge Frau stand nachdenklich da und schien mehr neugierig als verlegen. »Wir werden einander also näher kennen lernen, mein liebes Herz?« sagte die Marquise. »Haben Sie nicht zuviel Angst vor mir. Im Umgang mit jungen Leuten gebe ich mir alle Mühe, nicht alt zu sein.« Ehe sie in den Salon traten, hatte schon die Marquise nach der in der Provinz üblichen Sitte ein Frühstück für ihre Gäste bestellt; aber der Graf gebot der Redseligkeit seiner Tante Einhalt, indem er ihr in ernstem Tone mitteilte, er könne ihr nur so viel Zeit widmen, wie zum Wechseln der Pferde nötig wäre. Die drei Verwandten traten rasch in den Salon, und der Graf mußte sich beeilen, um seine Tante von den politischen und militärischen Ereignissen zu unterrichten, die ihn nötigten, für seine Frau bei ihr Schutz zu suchen. Währenddessen blickte die Tante zwischen ihrem fortwährend erzählenden Neffen und ihrer Nichte hin und her. Aus der unerwünschten Trennung erklärte sie es sich, daß die letztere so blaß und traurig aussähe. Sie machte dabei ein Gesicht, als wenn sie sagen wollte: »Sieh, sieh! die jungen Leute scheinen sich sehr lieb zu haben.« In diesem Augenblick vernahm man auf dem alten, schweigsamen Hofe, zwischen dessen Pflaster schon Gras wucherte, das Knallen von Peitschen. Viktor küßte noch einmal die Marquise und eilte hinaus. »Leb wohl, meine Liebe,« sagte er zu seiner Frau, die ihm zum Wagen gefolgt war, und gab ihr einen Kuß. »Ach, Victor, laß mich noch weiter mitfahren,« antwortete sie in zärtlichem Tone. »Ich möchte dich nicht verlassen.« »Was denkst du denn?« »Nun, wenn du es so haben willst, so leb' wohl,« versetzte Julie. Der Wagen verschwand. »Sie haben meinen armen Victor also sehr lieb?« fragte die Marquise ihre Nichte und sah sie mit einem jener forschenden Blicke an, wie sie alte Frauen gern auf junge richten. »Ach, Madame,« antwortete Julie, »man muß wohl einen Mann lieben, wenn man ihn heiratet.« Diese Phrase wurde in einem Ton von Naivität ausgesprochen, der zu gleicher Zeit ein ganz keusches Herz voll tiefer Geheimnisse verraten konnte. Eine Frau, die die Freundin eines Duclos und eines Marschalls Richelieu gewesen war, mußte sich bewogen fühlen, in das Geheimnis dieser jungen Ehe einzudringen. Tante und Nichte standen in diesem Augenblick auf der Torschwelle und sahen der davonfahrenden Kutsche nach. Die Augen der Gräfin drückten nicht das aus, was die Marquise unter Liebe verstand. Die gute Dame war eine Provençalin und in ihren Gefühlen etwas überschwenglich gewesen. »Sie haben sich also von meinem Taugenichts von Neffen ins Garn ziehen lassen?« fragte sie ihre Nichte. Die Gräfin zitterte unwillkürlich, denn in Blick und Ton der alten Kokette schien sich eine tiefere Charakterkenntnis Victors zu verraten, als sie vielleicht selbst besaß. In ihrer Unruhe nahm daher Frau d'Aiglemont Zuflucht zu jener Art von Verstellung, die, so ungeschickt sie ist, doch der einzige Ausweg naiver Herzen ist, wenn sie leiden. Frau de Listomere gab sich mit Juliens Antworten zufrieden; aber sie dachte mit Freude daran, daß ihre Einsamkeit von einem Liebesgeheimnis erheitert werden könnte; denn sie war der Meinung, ihre Nichte habe irgendeine amüsante Intrige angezettelt. Als Frau d'Aiglemont sich in einem prächtigen Salon befand, dessen Tapeten mit Goldleisten eingefaßt waren, und an einem großen Feuer saß, gegen die durch die Fenster hereinziehende Kälte durch einen chinesischen Windschirm geschützt, wollte die Traurigkeit nicht mehr von ihr weichen. Unter so altem Getäfel, zwischen diesen Möbeln vom vorigen Jahrhundert konnte auch schwerlich Heiterkeit aufkommen. Dennoch machte es der jungen Pariserin Spaß, in diese tiefe Einsamkeit, in die Stille der Provinz versetzt zu sein. Als sie ein paar Worte mit ihrer Tante gewechselt, an die sie nur einmal als Jungvermählte einen Brief geschrieben hatte, versank sie wieder in Schweigen, und man hätte meinen mögen, sie lausche einer Opernmusik. Erst nachdem sie zwei Stunden lang in einer der Trappisten würdigen Stille dagesessen hatte, wurde sie sich bewußt, daß das eine große Unhöflichkeit gegen ihre Tante sei. Sie erinnerte sich, daß sie ihr nur sehr einsilbige Antworten gegeben hatte. Die alte Dame hatte die Stimmung ihrer Nichte berücksichtigt, in jenem feinen Taktgefühl, das die Leute der alten Zeit kennzeichnet. In diesem Augenblick strickte die Greisin. Sie war allerdings auch ein paarmal hinausgegangen, um in einem gewissen grünen Zimmer nachzuschauen, wo die Komtesse schlafen sollte und wo die Dienstmädchen das Gepäck unterbrachten. Dann nahm sie wieder Platz in einem großen Lehnstuhl und musterte insgeheim die junge Frau. Julie schämte sich nun, daß sie sich ihren unwiderstehlichen Grübeleien so ganz überlassen hatte, und versuchte ein wenig darüber zu spötteln, um desto eher Verzeihung dafür zu erlangen. »Meine liebe Kleine, wir kennen den Schmerz von Witwen,« antwortete die Tante. Julie hätte vierzig Jahre alt sein müssen, um die Ironie zu verstehen, die um die Lippen der alten Dame spielte. Am andern Tage war die Komtesse besser gestimmt und plauderte viel. Frau de Listomere verzweifelte nicht mehr daran, mit dieser jungen Gattin, die sie erst für ein unzugängliches, blödes Wesen gehalten hatte, auf vertrauten Fuß zu gelangen. Sie schwatzte mit ihr von den Freuden des Landes, von Bällen und den Häusern, wo sie Besuche machen könnten. Zuerst wies Julie alle Aufforderungen, außerhalb des Hauses Zerstreuung zu suchen, zurück. Trotzdem die alte Dame sehnsüchtig danach verlangte, sich mit ihrer schönen Nichte zu zeigen, gab sie es denn endlich auf, sie der Gesellschaft der Stadt vorzustellen. In dem Kummer über den Tod des Vaters, um den sie noch trauerte -- sie trug sogar noch Trauerkleider -- hatte sie einen Vorwand gefunden für ihre Liebe zur Einsamkeit und ihre stete Betrübnis. Nach Verlauf von acht Tagen bewunderte die alte Dame Juliens engelhafte Sanftmut, Bescheidenheit, Anmut und duldsamen Geist und interessierte sich außerdem über die Maßen für die geheimnisvolle Melancholie, die dieses junge Herz zu verzehren schien. Die Komtesse gehörte zu jenen Frauen, die dazu geboren sind, liebenswürdig zu sein, und, wohin sie auch gehen, Glück mit sich zu bringen scheinen. Ihre Gesellschaft wurde der Marquise de Listomere so lieb und kostbar, daß sie schließlich in ihre Nichte ganz vernarrt war und sich gar nicht mehr von ihr trennen wollte. Ein Monat genügte, so hatte sich zwischen ihnen eine ewige Freundschaft gebildet. Nicht ohne Verwunderung bemerkte die alte Dame, daß sich in den Gesichtszügen der Frau d'Aiglemont eine große Veränderung zu zeigen begann. Die lebhafte Färbung, die an dem Antlitz aufgefallen war, verlor sich allmählich, und es überzog sich mit einer matten Blässe. Während Julie ihre jugendliche Blüte verlor, ließ zugleich auch ihre traurige Stimmung nach. Mitunter erweckte die Greisin bei ihrer jungen Verwandten Ausbrüche der Heiterkeit oder ausgelassenes Lachen, das aber bald wieder von einem unzeitgemäßen Gedanken zurückgedrängt wurde. Sie erriet, daß weder die Erinnerung an den Vater noch die Abwesenheit Victors der Grund zu der tiefen Schwermut war, die einen Schleier über das Leben ihrer Nichte warf. Und dann vermutete sie dahinter allerlei Arges, und es wurde ihr schwer, auf die wahre Ursache des Übels zu kommen; denn die Wahrheit finden wir vielleicht stets nur durch Zufall. Endlich offenbarte Julie eines Tages den Augen der erstaunten Tante ein neues Wesen: sie vergaß völlig die verheiratete Frau, zeigte alle Naivität eines unbesonnenen Mädchens, einen Freimut, eine Kindlichkeit, die eines Backfisches würdig waren, und all den zarten, manchmal so tiefen Geist, der die junge Welt in Frankreich auszeichnet. Nun nahm Frau de Listomere sich fest vor, die Geheimnisse dieser Seele zu ergründen, deren Absonderlichkeit ebenso undurchdringlich schien wie das Gemüt einer Meisterin der Verstellungskunst. Es begann zu dunkeln, und die beiden Damen saßen vor einem Fenster, das auf die Straße hinausging. Julie schaute wieder nachdenklich vor sich hin, da ritt ein Herr vorüber. »Auch einer von denen, die Sie auf dem Gewissen haben,« sagte die alte Dame. Frau d'Aiglemont sah ihre Tante halb verwundert, halb beunruhigt an. »Es ist ein junger Engländer von Adel, Seine Ehren Arthur Ormond, der älteste Sohn des Lord Grenville. Von ihm ist Interessantes zu berichten. Im Jahre 1802 kam er nach Montpellier. Die Ärzte hatten ihn dorthin geschickt, und er hoffte, in der Luft dieser Gegend Heilung eines Brustleidens zu finden, dem er zu erliegen fürchtete. Wie alle seine Landsleute, wurde er nun von Napoleon bei Ausbruch des Krieges hier zurückgehalten. Dieses Ungeheuer muß ja fortwährend Krieg führen, das geht nicht anders. Zu seiner Zerstreuung hat nun der junge Brite angefangen, seine Krankheit, die man für tödlich hielt, zu studieren. So hat er allmählich Gefallen an Anatomie und Arzneikunde gefunden. Er ist nun ganz vernarrt in diese Künste, was bei einem Manne von Stand etwas Außergewöhnliches ist. Freilich, der Regent hat sich ja auch mit Chemie befaßt. Kurz, Arthur hat erstaunliche Fortschritte gemacht -- selbst die Professoren von Montpellier haben sich darüber gewundert. Das Studium hat ihn über sein unfreiwilliges Exil hinweggetröstet, und gleichzeitig hat er sich gründlich ausgeheilt. Man sagt, er habe zwei Jahre lang fast gar nicht gesprochen, sehr behutsam geatmet und in einem Stalle geschlafen. Getrunken hat er nur die Milch einer Kuh, die er sich aus der Schweiz hat kommen lassen, und gegessen hat er fast nichts als Kresse. Seit er in Tours weilt, hat er mit niemand verkehrt; er ist stolz wie ein Pfau -- aber Sie haben es ihm wahrscheinlich angetan, denn meinetwegen reitet er gewiß nicht zweimal täglich unter unsern Fenstern vorüber. Das macht er erst, seit Sie hier sind. Sicherlich ist er verliebt in Sie.« Diese Worte erweckten die Komtesse wie aus einem verzauberten Schlummer. Ein Lächeln, eine Handbewegung entschlüpften ihr, über die die Marquise erstaunt war. Anstatt jene unbewußte Befriedigung zu verraten, die selbst die strengste Frau empfindet, wenn sie erfährt, sie mache einen Mann unglücklich, blieb Juliens Blick matt und kalt. Ihr Gesicht drückte einen an Abscheu grenzenden Widerwillen aus. Es lag darin aber nicht die Geringschätzung, mit der eine liebende Frau sich über die ganze Welt hinwegsetzt, zugunsten eines einzigen Wesens; nein, Julie glich in diesem Augenblick einer Person, in der die allzu frische Erinnerung an eine Gefahr noch nicht ganz verheilt ist. Die Tante war schon fest überzeugt gewesen, daß Julie ihren Neffen nicht liebe -- doch nun entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, daß sie überhaupt niemand liebte. Mit Zittern wurde sie sich klar darüber, daß sie in Julie ein aus allen Himmeln herabgestürztes Wesen erkennen müsse, die an einem Tage, vielleicht in einer Nacht, vollauf erkannt habe, was für eine Null sie zum Manne hatte. »Sie kennt ihn -- es ist nicht anders,« dachte sie, »und nun wird mein Neffe bald auch die Schattenseiten der Ehe kennen lernen.« Sie nahm sich nun vor, Julie für die monarchischen Lehren zu gewinnen, die im Jahrhundert Ludwigs XV. gegolten hatten. Aber ein paar Stunden später erkannte oder vielmehr erriet sie die in der Welt ziemlich häufige Stimmung, aus der Juliens Melancholie entsprang. Plötzlich nachdenklich geworden, zog Julie sich früher, als sie es sonst pflegte, zurück. Als die Kammerfrau ihr beim Entkleiden behilflich gewesen war und sie dann allein gelassen hatte, blieb Julie, statt zu Bett zu gehen, vorm Kamin sitzen, auf einem Ruhebett von gelbem Sammet, einem altertümlichen Möbel, das betrübten wie glücklichen Menschen eine gleich behagliche Stätte bot. Sie weinte, seufzte, sann nach; dann rückte sie einen kleinen Tisch heran, suchte Papier und begann zu schreiben. Die Stunden vergingen rasch; Julie schüttete in diesem Briefe ihr Herz ans, doch schien ihr das nicht leicht zu fallen; jeder Satz führte endlose Träumereien herbei, und plötzlich brach sie in Tränen aus und hielt inne. In diesem Augenblick schlug die Uhr zwei. Der Kopf war ihr schwer, wie der einer Sterbenden, und das Kinn sank auf die Brust. Als Julie aufsah, erblickte sie ihre Tante, die so plötzlich aufgetaucht war, als sei sie aus den über die Wände gespannten Tapeten herausgetreten. »Was haben Sie denn, meine Kleine?« fragte die Tante. »Warum so lange wach bleiben, und vor allem warum einsame Tränen vergießen? In Ihrem Alter?« Sie setzte sich ohne Umstände neben ihre Nichte und verschlang mit den Blicken den angefangenen Brief. »Haben Sie an Ihren Mann geschrieben?« »Weiß ich denn, wo er steckt?« antwortete die Komtesse. Die Tante nahm das Blatt und las es. Sie hatte mit Vorbedacht die Brille mitgebracht. Das unschuldige Geschöpf überließ ihr den Brief, ohne den geringsten Einspruch zu erheben. Wenn sie so alle Willenskraft vergaß, so war das weder ein Mangel an Frauenwürde, noch ein Gefühl geheimer Schuld; nein, ihre Tante hatte sie hier in einem jener kritischen Momente überrascht, wo das Gemüt sich keinen Rat weiß, wo alles einerlei ist, das Gute und das Böse, die Verschwiegenheit und die Offenbarung. Gleich einem jungen tugendsamen Mädchen, das einen Liebhaber mit Verachtung überhäuft, am Abend aber sich ein Herz wünscht, dem es seinen Kummer anvertrauen kann, ließ Julie es ohne ein Wort der Gegenrede zu, daß das Siegel verletzt wurde, mit dem für jeden taktvollen Menschen ein offener Brief versehen ist, und sah nachdenklich zu, wie die Marquise las: »Meine liebe Luise! Warum mahnst Du mich so oft um Erfüllung des unklügsten Versprechens, das zwei unwissende junge Mädchen sich geben konnten? Du fragst Dich oft, schreibst Du, warum ich seit sechs Monaten auf Deine Fragen nicht geantwortet hätte? Wenn Du mein Schweigen nicht verstanden hast, so wirst Du die Ursache wohl heute erraten, wenn Du die Geheimnisse vernimmst, die ich Dir offenbaren werde. Ich hätte sie auf ewig in der Tiefe meines Herzens begraben, wenn Du mich nicht von Deiner bevorstehenden Verheiratung benachrichtigt hättest. Du willst also heiraten, Luise. Bei diesem Gedanken zittere ich. Arme Kleine, heirate. Nach wenigen Monaten wirst Du nur noch mit bitterstem Schmerz Dich dessen erinnern, was wir einstmals gewesen sind, als wir eines Abends in Ecouen alle beide unter die größten Eichen des Berges gegangen waren und das schöne Tal zu unseren Füßen betrachteten, die Strahlen der untergehenden Sonne bewunderten, deren Glanz uns umgab. Wir setzten uns auf einen Steinblock und verfielen in eine Verzückung, auf die die sanfteste Melancholie folgte. Du als erste fandest, diese ferne Sonne spräche uns von der Zukunft. Wir waren gar neugierig und närrisch damals. Erinnerst Du Dich all unserer Überschwenglichkeiten? Wir küßten uns -- wie zwei, die sich lieben. Wir gelobten uns, daß, wer sich zuerst verheiraten würde, der anderen getreu die Geheimnisse der Ehe, die Freuden, die unsere kindliche Seele sich so köstlich ausmalte, berichten solle. Mit dem Hochzeitsabend wird Deine Verzweiflung beginnen, Luise. Zu jener Zeit warst Du jung, schön, sorglos, wohl auch glücklich. Man wird Dich in wenigen Tagen zu dem machen, was ich jetzt bin: häßlich, leidend und alt. Wenn ich Dir sagte, wie stolz, wie eitel, wie froh ich war, den Oberst Victor d'Aiglemont zu heiraten, so würde das Torheit sein. Und doch, wie soll ich es Dir schildern? Ich erinnere mich meiner selbst nicht mehr. In wenigen Augenblicken war meine Kindheit für mich zum fernen Traum geworden. Mein Benehmen am Hochzeitstage, mit dem eine Verbindung geweiht wurde, deren Tragweite mir nicht bewußt war, hat Anstoß erregt. Mein Vater hat mehrmals versucht, meine Heiterkeit einzuschränken, denn ich bekundete eine Freude, die man unpassend fand, und in dem, was ich alles zusammenschwatzte, fand man Durchtriebenheit, und zwar gerade deshalb, weil ich mir gar nichts Arges dabei dachte. Mit dem Brautschleier, mit dem Kleide und mit den Blumen trieb ich tausend Kindereien. Als ich am Abend in dem Zimmer allein war, wohin man mich mit Pomp geleitet hatte, sann ich nach, mit welchem Schelmenstreich ich wohl Victor necken könnte. Und während ich seiner harrte, schlug mein Herz so heftig, wie ehemals an den Silvesterabenden, wenn ich insgeheim in den Salon schlüpfte, wo die Geschenke ausgelegt waren. Als mein Mann hereinkam und mich suchte, da war das erstickte Lachen, das ich aus meinem Versteck unter einem Berg von Musselin hören ließ, ach, der letzte Ausbruch der holden Fröhlichkeit, die die Tage unserer Kindheit vergoldete ...« Als die Matrone den Brief gelesen hatte, der nach einem solchen Anfang wohl noch traurigere Bemerkungen aufnehmen sollte, legte sie langsam die Brille auf den Tisch, legte auch den Brief wieder hin und heftete auf ihre Nichte zwei grüne Augen, deren klares Feuer durch das Alter noch nicht geschwächt worden war. »Meine Kleine,« sagte sie, »eine verheiratete Frau kann, ohne den Anstand zu verletzen, nicht gut so etwas an ein junges Mädchen schreiben ...« »Das dachte ich auch schon,« antwortete Julie, ihre Tante unterbrechend, »und ich schämte mich vor mir selbst, als Sie es lasen ...« »Wenn uns bei Tische eine Speise nicht zusagt, so brauchen wir sie doch niemand anderm zu verekeln, mein Kind,« fuhr die Alte gutgelaunt fort, »und das Heiraten ist doch von Eva an bis zu uns herab immer für was ganz Herrliches gehalten worden ... Haben Sie keine Mutter mehr?« fragte die alte Frau. Die Komtesse zitterte, dann hob sie sanft den Kopf und sagte: »Seit einem Jahr habe ich mehr als einmal bedauert, daß meine Mutter nicht mehr am Leben ist; aber es war unrecht von mir, daß ich auf die Warnungen meines Vaters nicht gehört habe. Er wollte Victor nicht zum Schwiegersohne.« Sie sah ihre Tante an, und ein Schauer der Freude trocknete ihre Tränen, als sie den Ausdruck von Güte bemerkte, der dieses alte Gesicht belebte. Sie streckte ihre junge Hand der Marquise hin, die sich ihrer so liebreich anzunehmen schien, und als ihre Finger sich drückten, da war das Einverständnis zwischen diesen beiden Frauen vollständig. »Arme Waise!« setzte die Tante hinzu. Dieses Wort berührte Julie, als wenn ein letzter Lichtstrahl auf sie fiele. Sie glaubte noch einmal die prophetische Stimme ihres Vaters zu vernehmen. »Ihre Hände sind fieberheiß! Ist das immer der Fall?« fragte die Alte. »Seit sechs oder acht Tagen hat das Fieber mich nicht mehr verlassen,« antwortete sie. »Und Sie haben mir das verheimlicht?« »Ich hab's ja schon ein Jahr lang,« sagte Julie mit einer Art schamhafter Angst. »Also, mein kleiner, guter Engel,« fuhr die Tante fort, »ist die Ehe für Sie bisher nur ein fortgesetzter Schmerz gewesen?« Die junge Frau wagte nicht zu antworten, aber sie machte eine bejahende Gebärde, die all ihr Leid verriet. »Sie sind also unglücklich?« »O, nein, meine Tante. Victor liebt mich bis zur Vergötterung, und auch ich bete ihn an, er ist so gut.« »Ja, lieb haben Sie ihn, aber Sie fliehen ihn dennoch, nicht wahr?« »Ja -- bisweilen -- er sucht mich zu oft --« »Wenn Sie allein sind, beunruhigt Sie dann nicht oft die Furcht, er könne kommen und Sie überraschen?« »Ach, gewiß, meine Tante. Aber ich habe ihn sehr lieb, das versichere ich Ihnen.« »Klagen Sie sich nicht insgeheim an, Sie verständen nicht, an dem, was ihn erfreut, Freude zu finden, oder Sie seien dessen nicht fähig? Denken Sie manchmal nicht, die legitime Liebe sei härter zu ertragen, als vielleicht eine strafbare Leidenschaft?« »O, das ist's,« sagte sie weinend. »Sie erraten alles -- wo doch für mich alles ein Rätsel ist. Meine Sinne sind betäubt, ich kann nicht denken, ja ich lebe kaum noch. Meine Seele ist von einer unbestimmten Furcht bedrückt, die meine Gefühle zu Eis wandelt und mich in beständige Lethargie versenkt. Ich bin ohne Stimme, mich zu beklagen, und ohne Worte, meinen Schmerz auszudrücken. Ich leide, und schäme mich doch zu leiden, wenn ich Victor so glücklich sehe in dem, was mich tötet.« »Kindereien, Albernheiten all das!« rief die Tante, deren vertrocknetes Gesicht sich plötzlich unter einem fröhlichen Lächeln belebte -- einem Abglanz ihrer Jugendzeit. »Und auch Sie -- Sie lachen!« sagte die junge Frau in Verzweiflung. »Ich bin ebenso gewesen,« antwortete die Marquise schlagfertig. »Sind Sie nicht jetzt, wo Victor Sie allein gelassen hat, wieder junges Mädchen und ruhig geworden? Ein junges Mädchen, das keine Liebesfreude mehr hat, aber auch kein Liebesleid?« Julie machte große, fast stumpfsinnige Augen. »Nun ja doch, mein Engel, Sie beten Victor an, nicht wahr? Aber Sie möchten weit lieber seine Schwester als seine Frau sein, und das Eheleben ist eben gar nicht Ihr Fall?« »Nun denn -- ja, Tante. Aber warum lächeln Sie dazu?« »O, Sie haben recht, mein armes Kind. All das ist nicht zum Spaßen. Ihre Zukunft würde Ihnen mehr als ein Unglück bescheren, wenn nicht ich Sie unter meine Obhut nähme, und wenn meine langjährige Erfahrung mich nicht die ganz unschuldige Ursache Ihres Kummers hätte erraten lassen. Mein Neffe hat sein Glück nicht verdient, der Tropf! Unter der Regierung unseres vielgeliebten fünfzehnten Ludwig würde eine junge Frau in Ihrer Lage den Gatten bald bestraft haben, wenn er sich wie ein ungeschlachter Landsknecht benommen hätte! Der Egoist! Die Soldaten dieses kaiserlichen Tyrannen sind durch die Bank unwissende Bösewichter! Sie halten Brutalität für Galanterie; sie kennen die Frauen nicht mehr und verstehen nicht zu lieben. Sie glauben, die Aussicht, doch bald in den Tod zu gehen, entbände sie von Rücksicht und Aufmerksamkeiten gegen uns. Früher wußte man ebenso gut zu lieben wie zu sterben -- beides zu gleicher Zeit. Meine Nichte, ich werde Ihnen den Mann erziehen. Ich werde dem traurigen, doch ganz natürlichen Mißstand ein Ende machen. Wenn das so weiterginge, würden Sie einander schließlich hassen und die Scheidung herbeiwünschen, sofern Sie nicht daran sterben, ehe es zu diesem verzweifelten Ende kommt.« Julie hörte ihrer Tante mit Erstaunen, ja wie betäubt, zu, verwundert, Worte zu vernehmen, deren Richtigkeit von ihr mehr geahnt als eingesehen wurde, und ganz entsetzt, aus dem Munde einer vielerfahrenen Verwandten, nur in milderer Gestalt, den gleichen Einwand wiederzuhören, den ihr Vater gegen Victor erhoben hatte. Sie hatte vielleicht eine lebhafte Ahnung dessen, was ihr bevorstände, und empfand ohne Zweifel schon die Last des Unglücks, das sie bedrücken sollte, denn sie vergoß Tränen und warf sich in die Arme der alten Dame mit den Worten: »Seien Sie mir Mutter!« Die Tante weinte nicht; denn die Revolution hat den Frauen aus dem alten Königreich das Weinen abgewöhnt. Erst die verliebte Lebensweise und dann die Schreckensherrschaft haben sie mit den schmerzlichsten Umstürzen vertraut gemacht, so daß sie nun in den Gefahren des Lebens eine kalte Würde und eine aufrichtige Zuneigung, doch ohne jede Überschwenglichkeit, bewahren. Auf diese Weise vergessen sie darüber nie die Etikette und eine Vornehmheit des Benehmens, die die neuen Sitten sehr zu Unrecht verpönt haben. Die Matrone nahm die junge Frau in die Arme und küßte sie auf die Stirn, mit einer Zärtlichkeit und Anmut, die bei diesen Frauen oft mehr Manier und Gewohnheit als Sache des Herzens ist. Sie tröstete ihre Nichte mit süßen Worten, versprach ihr eine glückliche Zukunft, half ihr beim Schlafengehen und schläferte sie mit liebevollen Vesprechungen ein, ganz als wenn Julie ihre Tochter gewesen wäre -- eine geliebte Tochter, deren Hoffnungen und Kümmernisse sie zu ihren eigenen machte; sie sah sich noch einmal jung in ihrer Nichte, fand sich in ihr noch einmal als unerfahrenes, hübsches Mädchen. Glücklich, eine Freundin gefunden zu haben, eine Mutter, der sie hinfort alles sagen könnte, schlief die Komtesse ein. Als sich am folgenden Morgen Tante und Nichte mit der tiefen Herzlichkeit und in dem Einverständnis küßten, die einen Fortschritt im gegenseitigen Fühlen, eine noch vollständigere Verkettung zweier Seelen beweisen -- vernahmen sie den Schritt eines Pferdes, wandten gleichzeitig den Kopf und erblickten den jungen Engländer, der langsam, wie seine Gewohnheit war, vorbeiritt. Er schien in gewissem Sinne das Leben, das die beiden einsamen Frauen führten, studiert zu haben und unterließ nie, sich einzufinden, wenn sie beim Frühstück oder beim Mittagessen saßen. Sein Pferd ging von selbst im langsamen Schritt -- er brauchte ihm keinen Wink zu geben; und in der Zeit, die es brauchte, an dem Raum zwischen den beiden Fenstern des Eßzimmers vorbeizukommen, warf Arthur einen melancholischen Blick hinein, meistens ohne von der Komtesse irgendwie beachtet zu werden. Die Marquise hatte sich die philisterhafte Neugierde angewöhnt, die sich an die kleinsten Dinge heftet, um dem Leben in der Provinz Abwechslung zu verleihen, und von der sich selbst überlegene Geister nur schwer freihalten. Sie fand großen Spaß an der schüchternen, ernsthaften, und so stillschweigend offenbarten Liebe des Engländers. Diese Blicke im Vorüberreiten gehörten nun schon zur Tagesordnung, und jedesmal begrüßte sie Arthurs Vorbeikunft mit einem neuen Scherz. Als sich die beiden Frauen an diesem Morgen zu Tische setzten, erblickten sie den Insulaner zu gleicher Zeit. Diesmal begegneten sich Juliens und Arthurs Augen so voll und unverhohlen, daß die junge Frau errötete. Sogleich gab der Engländer seinem Pferde die Sporen und verschwand im Galopp. »Aber, Madame,« sagte Julie zu ihrer Tante, »was ist da zu machen? Wer den Engländer hier immer vorbeireiten sieht, muß ja doch merken, daß ich --« »Jawohl,« antwortete die Tante, sie unterbrechend. »Sollte ich mir das nicht verbitten?« »Das hieße ihn auf den Gedanken bringen, er sei Ihnen gefährlich. Und könnten Sie denn jemand hindern, hin und her zu reiten, wo es ihm gefällt? Wir werden einfach morgen nicht mehr in diesem Zimmer speisen. Wenn uns der junge Kavalier hier nicht mehr sieht, wird er diese Liebe durchs Fenster einstellen. Sehen Sie, mein liebes Kind, so muß sich eine Frau benehmen, die weltgewandt ist.« Aber das Unglück Juliens sollte vervollkommnet werden. Kaum erhoben sich die beiden Frauen vom Tische, so traf plötzlich Victors Kammerdiener ein. Er kam, so schnell sein Pferd hatte laufen können, auf Schleichwegen von Bourges her und überbrachte der Gräfin einen Brief ihres Gatten. Victor hatte den Kaiser verlassen und meldete seiner Frau den Zusammenbruch des Imperiums, die Eroberung von Paris und die Begeisterung, die an allen Punkten Frankreichs für die Bourbonen lebendig wurde. Aber da er nicht wußte, wie er bis nach Tours gelangen sollte, so bat er sie, in aller Eile nach Orleans zu kommen, wo er sich mit Durchgangspässen für sie einzufinden hoffte. Der Kammerdiener, ein alter Soldat, sollte Julie von Tours nach Orleans geleiten. Victor hielt diesen Weg noch für frei. »Gnädige Frau haben keinen Augenblick zu verlieren,« sagte der Kammerdiener, »die Preußen, Österreicher und Engländer wollen in Blois oder in Orleans zueinander stoßen.« In ein paar Stunden war die junge Frau bereit und reiste in einem alten Reisewagen ab, den die Tante ihr borgte. »Warum wollen Sie nicht mit uns nach Paris kommen?« fragte sie, die Marquise umarmend. »Wo nun die Bourbonen wieder auf den Thron kommen, würden Sie dort ...« »Ich würde auch ohne diese unerwartete Rückkehr des Königshauses hingekommen sein, meine arme Kleine, denn Sie bedürfen meines Ratschlags zu notwendig, Sie sowohl, als auch Victor. Ich werde also alle Vorkehrungen treffen, um Sie dort aufzusuchen.« Julie nahm Abschied. Ihre Kammerzofe begleitete sie, und der alte Soldat ritt neben dem Wagen her, über seiner Herrin Sicherheit wachend. Als sie des Nachts auf einer Poststation vor Blois anlangten, sah Julie zum erstenmal zum Schlag heraus. Es beunruhigte sie, daß ein Gefährt hinter dem ihren herkam und es von Amboise her nicht verlassen hatte. Nun wollte sie sehen, wer ihre Reisegefährten seien. Beim Mondlicht erkannte sie Arthur, er stand drei Schritte vor ihr, die Augen auf ihren Wagen geheftet. Ihre Blicke begegneten sich. Die Komtesse warf sich rasch in die Tiefe der Kalesche zurück -- sie zitterte vor Furcht. Wie die Mehrzahl der jungen wirklich unschuldigen und unerfahrenen Frauen, erschien es ihr schon als Fehltritt, unabsichtlich bei einem jungen Manne Liebe erweckt zu haben. Sie empfand ein unwillkürliches Entsetzen, das ihr vielleicht das Bewußtsein ihrer Schwäche gegenüber einer so kühnen Annäherung einflößte. Eine der stärksten Waffen des Mannes ist diese furchtbare Macht, sich der von Natur regen Phantasie einer Frau, die über eine solche Verfolgung erschrickt oder sich beleidigt fühlt, immer wieder aufzudringen. Die Komtesse erinnerte sich des Rates, den die Tante ihr gegeben hatte, und beschloß, während der ganzen Reise in ihrem Reisewagen zu bleiben und nicht ein einziges Mal herauszukommen. Aber auf jeder Station hörte sie den Engländer um die beiden Wagen herumgehen. Und auf dem Wege hallte ihr das unwillkommene Geräusch seines Gespanns unaufhörlich in den Ohren. Die junge Frau dachte, Victor, bei dem sie ja nun bald sein würde, werde schon ein Mittel wissen, sie gegen diese sonderbare Verfolgung zu schützen. »Aber wenn mich dieser junge Mann nun nicht liebt?« Diese Betrachtung war die letzte von allen, die sie anstellte. Als sie nach Orleans kam, wurde ihre Postkutsche von den Preußen angehalten, auf den Hof einer Herberge gebracht und dort von Soldaten bewacht. Widerstand war unmöglich. Die Fremden gaben den drei Reisenden durch gebieterische Gebärden zu verstehen, sie hätten Befehl, niemand aus dem Wagen herauszulassen. Die Komtesse blieb unter Tränen fast zwei Stunden lang die Gefangene dieser Soldaten, die rauchten, lachten und sie manchmal mit frecher Neugierde betrachteten. Aber endlich sah sie sie mit Respekt von dem Wagen wegtreten, und hörte das Trappeln mehrerer Pferde. Bald umringte eine Schar höherer ausländischer Offiziere, an deren Spitze sich ein österreichischer General befand, die Kalesche. »Gnädige Frau,« sagte der General zu ihr, »entschuldigen Sie. Es hat ein Versehen stattgefunden -- Sie können Ihre Reise ohne Furcht fortsetzen, und hier haben Sie einen Paß, der Ihnen weiterhin jede Unannehmlichkeit ersparen wird.« Die Komtesse nahm das Papier zitternd entgegen und stammelte ein paar undeutliche Worte. Sie sah neben dem General, und in der Kleidung eines englischen Offiziers, Arthur stehen, dem sie ohne Zweifel ihre rasche Befreiung verdankte. Zugleich freudig und betrübt, sah der junge Engländer zur Seite und wagte nicht einmal heimlich nach Julie hinzuschauen. -- Dank dem Paß, gelangte Frau d'Aiglemont ohne weiteres verdrießliches Abenteuer nach Paris. Sie traf hier ihren Gatten, der, von seinem Treueid gegen den Kaiser entbunden, beim Grafen d'Artois, dem von seinem Bruder Ludwig XVIII. ernannten Generalleutnant des Königreichs, schmeichelhafteste Aufnahme gefunden hatte. Victor wurde in der königlichen Garde zum Range eines Generals befördert. Inmitten der Festlichkeiten, mit denen man die Rückkehr der Bourbonen feierte, wurde die arme Julie von einem recht großen Unglück betroffen, das nicht ohne Einfluß auf ihr Leben bleiben konnte: sie verlor die Marquise de Listomere-Landon. Die alte Dame starb, als sie den Herzog von Angoulème in Tours wiedersah, vor Freude und an einem ins Herz zurückgetretenen Tropfen Blutes. So war denn die Frau tot, der ihr Alter das Recht gegeben hätte, Victor aufzuklären, die einzige, die durch triftige Ratschläge eine völlige Harmonie zwischen Mann und Frau hätte herstellen können. Sie war tot, und Julie fühlte die ganze Tragweite dieses Verlusts. Nun war sie wieder allein und ohne Vermittlerin zwischen sich und dem Gatten. Aber jung und schüchtern, wie sie war, mußte sie im Anfang lieber dulden als klagen. Eben die Vollkommenheit ihres Charakters ließ es nicht zu, daß sie sich dem entzöge, was sie für ihre Pflicht hielt, oder nach der Ursache ihrer Schmerzen forschte. Denn diesen ein Ende zu machen, wäre eine zu heikle Sache gewesen; Julie hätte gefürchtet, ihre jungfräuliche Scham zu verletzen. Ein Wort über die Schicksale des Herrn d'Aiglemont während der Restauration! Trifft man nicht viele Menschen, deren völlige Nichtigkeit allen Leuten, die sie kennen, ein Geheimnis bleibt? Ein hoher Rang, eine vornehme Geburt, wichtige Ämter, ein gewisser Firnis von Höflichkeit, eine große Zurückhaltung im Benehmen oder das Blendwerk des Vermögens -- das sind für sie sozusagen Schutzwälle, die es der Kritik verwehren, bis in ihr intimes Leben einzudringen. Diese Leute gleichen den Königen, deren wahre Gestalt, Charakter und Sitten niemals genau bekannt sind oder richtig beurteilt werden, weil sie entweder aus zu großer Ferne oder aus zu großer Nähe gesehen werden. Diese Personen, deren Verdienst »gemacht« ist, fragen, statt zu sprechen, besitzen die Kunst, die andern in Szene zu setzen, und vermeiden es so, selbst vor sie treten zu müssen; dann ziehen sie mit glücklichem Geschick jeden am Fädchen seiner Leidenschaften oder Interessen und spielen auf diese Weise mit Menschen, die ihnen in Wahrheit überlegen sind, machen sie zu Marionetten und halten sie für klein, weil es ihnen gelungen ist, sie bis zu sich herabzuziehen. Sie gelangen dann zu dem ganz natürlichen Triumph des beschränkten, aber beharrlichen Kopfes über die Rastlosigkeit bedeutender Köpfe. Um diese leeren Köpfe zu beurteilen und ihren negativen Wert abzuwägen, muß daher der Beobachter einen mehr feinen, als überlegenen Geist besitzen, mehr Geduld als Weite des Blickes, mehr Feingefühl und Takt als Bildung und Größe der Ideen. So viel Geschicklichkeit diese Usurpatoren auch entfalten, ihre schwachen Seiten zu verbergen, so ist es ihnen doch sehr schwer, ihre Frauen, Mütter, Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen; aber diese Personen bewahren fast immer das Geheimnis eines Gegenstandes, der gewissermaßen die gemeinsame Ehre angeht, ja sie helfen ihnen oft noch, die Welt zu täuschen. Wenn dank solcher häuslichen Verschwörung viele Nullen für höhere Menschen gelten, so machen sie die Zahl der höhern Menschen wett, die für Nullen gelten, so daß der Gesellschaftsstaat immer die gleiche Menge scheinbarer Kapazitäten hat. Man denke sich nun, welche Rolle eine Frau von Geist und Gefühl neben einem Manne dieses Schlages spielen muß. Man wird erkennen, daß das ein Leben voll des Schmerzes und der Aufopferung ist, für die gewisse Herzen voll Liebe und Zartgefühl nichts hienieden schadlos halten kann. Wenn eine starke Frau sich in so schrecklicher Lage befindet, so entreißt sie sich ihr durch ein Verbrechen, wie es Katharina II. tat, die trotzdem die »Große« genannt wird. Aber nicht alle Frauen sitzen auf einem Throne, und so verzehren die meisten sich in häuslichem Unglück, das, wenn es auch im Verborgenen bleibt, doch nicht minder schrecklich ist. Diejenigen, die hienieden unmittelbaren Trost für ihre Leiden suchen, tauschen, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, eben doch nur andere Schmerzen dagegen ein, oder wenn sie die Gesetze zugunsten ihres Vergnügens verletzen, so begehen sie Fehltritte. Diese Betrachtungen sind sämtlich auf das geheime Leben Juliens anwendbar. So lange Napoleon auf der Höhe war, war der Graf d'Aiglemont ein Oberst wie viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, der eine gefährliche Sendung ausgezeichnet erfüllen konnte, aber unfähig war, ein Kommando von einiger Wichtigkeit zu übernehmen. Er erregte keinerlei Neid, und galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst schenkte. Er war das, was man beim Militär schlechtweg »eine gute Haut« nennt. Bei der Restauration, die ihm den Titel des Marquis zurückgab, zeigte er sich nicht undankbar; er ging mit den Bourbonen nach Gand. Diese Handlungsweise voll Konsequenz schien das Horoskop Lügen zu strafen, das einstmals sein Schwiegervater gestellt hatte, als er sagte, Victor werde nicht über den Oberst hinauskommen. Bei der zweiten Rückkehr wurde er zum Generalleutnant befördert und wieder zum Marquis erhoben und verfolgte nun das ehrgeizige Ziel, die Pairswürde zu erlangen. Er hielt sich zu den Grundsätzen und der Politik der Konservativen, umhüllte sich mit einer Verstellung, hinter der nichts steckte, wurde ernst, bedächtig, wortkarg und galt für einen tiefen Geist. Er beschränkte sich beständig auf die Formen der Höflichkeit, verschanzte sich hinter feststehenden Formeln, ging bald sparsam, bald verschwenderisch mit den fertigen Phrasen um, die in Paris regelmäßig geprägt wurden, um in kleiner Münze den Dummköpfen die Bedeutung großer Ideen oder Ereignisse zu übermitteln, und so hielt die Gesellschaft ihn für einen Mann von Geschmack und Wissen. Starr auf seine aristokratischen Ansichten versessen, hatte er den Ruf eines schönen Charakters. Wenn er zufällig einmal wieder sorglos und flott wurde, wie er es einst gewesen war, so legten die andern der Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit seiner Worte einen verborgenen diplomatischen Sinn bei. »O, er sagt bloß nicht, was er sagen will,« dachten die sehr ehrbaren Leute. Seine Tugenden kamen ihm ebenso zustatten wie seine Fehler. Seine Tapferkeit brachte ihm einen hohen Ruf als Soldat ein, der auch durch nichts Lügen gestraft wurde, weil er nie selbständig kommandiert hatte. Sein männliches, edles Gesicht ließ große Gedanken vermuten, und seine Physiognomie hatte für niemand, außer seiner Frau, etwas Hohles. Indem Marquis d'Aiglemont alle Welt seine unechten Talente loben hörte, glaubte er schließlich selbst daran, daß er einer der hervorragendsten Männer bei Hofe sei, wo er dank seinem Äußeren zu gefallen wußte und niemand seine verschiedenen Vorzüge bestritt. Trotzdem war Herr d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war; und aus diesem unwillkürlichen Respekt erwuchs eine geheime Macht, zu der die Marquise wider den eigenen Willen gelangte, so sehr sie sich auch sträubte, die Bürde auf sich zu nehmen. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie dessen Handlungen und verwaltete das Vermögen. Dieser fast widernatürliche Einfluß wurde für sie zu einer Art Demütigung und brachte viele Schmerzen mit sich, die sie in ihrem Herzen begrub. Zuerst sagte sie sich in ihrem echt weiblichen Instinkt, es sei weit schöner, einem talentvollen Manne sich unterzuordnen, als einen Tropf zu regieren, und eine junge Frau, die wie ein Mann denken und handeln müsse, sei weder Frau noch Mann, bliebe wohl frei von den Mißständen des Weibes, sage dabei aber doch allen Freuden ihres Geschlechtes ab. Und bei dem allem erreiche sie doch keines der Vorrechte, das unsere Gesetze dem stärkeren Geschlecht einräumen. Hinter ihrem Leben verbarg sich ein recht bitterer Hohn. Mußte sie nicht zu einem hohlen Götzen beten, ihren Protektor protegieren, einen armseligen Menschen, der ihr zum Lohn für beständige Aufopferung die egoistische Liebe der Ehemänner zuwarf, in ihr nichts als das Weib sah. Entweder aus Unwissen oder aus Gleichgültigkeit beging er das tiefe Unrecht, daß er sich weder darum kümmerte, was ihr Freude mache, noch sich darum sorgte, weshalb sie immer so traurig sei und so auffallend abnehme. Wie die meisten Ehemänner, die das Joch eines überlegenen Geistes verspüren, schloß der Marquis, um seine Eigenliebe zu retten, aus Juliens physischer Schwäche auch auf moralische Schwäche, und klagte gern das Geschick an, das ihm ein kränkliches Mädchen zur Frau gegeben hätte. Kurz, er stellte sich als das Opfer hin, während er doch der Henker war. Die Marquise, auf der alles Elend dieses tristen Daseins lastete, mußte ihren blöden Gebieter noch anlächeln, noch mit Blumen ein Trauerhaus ausschmücken und vor einem von geheimem Jammer blassen Gesicht die Maske des Glücks tragen. Diese Verantwortlichkeit für die Ehre des Hauses bei großartiger Selbstverleugnung verlieh der jungen Marquise unmerklich eine frauliche Würde, ein Bewußtsein der Tugend, die ihr zum Schutzwall gegen die Gefahren der Welt dienten. Und wenn wir dieses Herz bis auf den Grund erforschen wollen, so hatte vielleicht das tiefinnere, verborgene Unglück, mit dem ihre erste, ihre naive Jungmädchenliebe endete, ihr Abscheu vor der Leidenschaft eingeflößt; vielleicht begriff sie nie den hinreißenden Trieb, noch die verbotenen, doch berauschenden Freuden, über die gewisse Frauen die Gesetze der Klugheit vergessen, auf denen die Gesellschaft beruht. Sie verzichtete wie auf einen Traum auf die sanften Freuden, auf die zarte Harmonie, die Madame de Listomere-Landon in ihrer langjährigen Erfahrung ihr verheißen hatte; sie wartete mit Ergebung auf das Ende ihrer Schmerzen, indem sie jung zu sterben hoffte. Seit ihrer Rückkehr aus der Touraine war ihre Gesundheit täglich schwächer geworden, und das Leben schien ihr nur noch durch das Leiden zugemessen zu sein -- ein vornehmes Leiden übrigens, eine dem Anschein nach fast wonnevolle Krankheit, die in den Augen oberflächlicher Menschen für die Grille eines Hausdämchens gelten konnte. Die Ärzte hatten die Marquise dazu verurteilt, auf einem Diwan zu liegen, wo sie sich mit Blumen umgab und nun dahinsiechte wie diese. Ihre Schwäche verbot ihr das Gehen und den Aufenthalt in frischer Luft; sie fuhr nur noch im geschlossenen Wagen aus. Beständig umgeben von allen Wundern unsers Luxus und unserer modernen Industrie, glich sie weniger einer Kranken als einer blasierten Königin. Einige Freunde, die ihre Krankheit und Schwäche entzückend fanden und vielleicht auch bestimmt darauf rechneten, daß sie in Zukunft wieder ganz gesund würde, besuchten sie, denn sie waren ja immer sicher, sie zu Hause zu treffen, brachten ihr alle Neuigkeiten und unterrichteten sie über die tausend kleinen Ereignisse, die das Leben in Paris so abwechslungsreich machen. Ihre Melancholie war ernst und tief, aber es war die Melancholie des Überflusses. Die Marquise d'Aiglemont glich einer schönen Blume, deren Wurzel von einem schwarzen Insekt angefressen ist. Sie ging bisweilen in Gesellschaften, nicht aus Geschmack daran, sondern um den Forderungen der Stellung zu genügen, nach der ihr Mann strebte. Ihre Stimme und die Vollendung ihres Gesangs trugen ihr den Beifall ein, der fast immer einer jungen Frau schmeichelt. Aber was nützten ihr Erfolge, die weder mit ihrem Empfinden noch mit ihrem Hoffen etwas zu tun hatten? Ihr Mann machte sich nichts aus Musik. Zuletzt fühlte sie sich stets befangen in den Salons, wo ihre Schönheit ihr Huldigungen einbrachte. Ihre Situation erregte dort eine Art grausamen Mitleids, eine kalte Neugierde. Sie war von einem Fieber befallen, das fast regelmäßig mit dem Tode endet -- ein Leiden, von dem die Frauen untereinander nur flüsternd sprechen, und für die unsere Neologie noch keinen Namen hat finden können. Trotz des Schweigens, in dessen Mitte sich ihr Dasein vollzog, war die Ursache ihres Leidens für niemand ein Geheimnis. Trotz der Ehe, noch immer ein junges Mädchen, erfüllten die geringsten Blicke sie mit Scham. Um nicht erröten zu müssen, erschien sie daher stets fröhlich und lachend; sie erkünstelte eine falsche Freude, erklärte immer, sie befände sich sehr wohl oder kam den Fragen nach ihrer Gesundheit mit schamhaften Lügen zuvor. Inzwischen trug 1817 ein Ereignis viel dazu bei, den beklagenswerten Zustand zu ändern, in dem Julie bisher sich befunden hatte. Sie bekam eine Tochter und wollte selbst stillen. Zwei Jahre lang war bei den lebhaften Zerstreuungen und unruhevollen Freuden, die die Sorgen einer Mutter mit sich bringen, ihr Leben weniger unglücklich. Sie mußte sich nun von ihrem Manne fernhalten. Die Ärzte prophezeiten eine Besserung; aber die Marquise glaubte nicht an diese auf Vermutungen gegründeten Weissagungen. Wie alle Leute, für die das Leben keine Freude mehr hat, erblickte sie vielleicht im Tode eine glückliche Erlösung. Im Anfang des Jahres 1819 war das Leben für sie grausamer als je zuvor. In dem Augenblick, wo sie sich des negativen Glücks erfreute, das sie zu erringen gewußt hatte, sah sie furchtbare Abgründe vor sich: ihr Mann hatte sich allmählich ihrer entwöhnt. Dieses Erkalten einer schon so lauen und ganz egoistischen Liebe konnte mehr Unglück herbeiführen, als sie bei allem feinen Takt und aller Klugheit voraussehen konnte. Obwohl sie sicher war, eine große Herrschaft über Victor zu behalten und seine Achtung für immer zu besitzen, fürchtete sie den Einfluß der Leidenschaften auf einen so unbedeutenden, so lächerlich unüberlegten Mann. Oft überraschten ihre Freunde sie bei lang anhaltendem Grübeln; die weniger Tiefblickenden fragten sie scherzend nach dem Geheimnis ihrer Gedanken, als wenn eine junge Frau an nichts anderes als an Frivolitäten denken könnte, als wenn nicht fast immer ein tiefer Sinn in den Gedanken einer Hausmutter läge. Übrigens führt uns das Unglück, wie das wahre Glück, immer zu Träumereien. Manchmal spielte Julie mit ihrer Helene, betrachtete sie mit finsterm Blick und antwortete plötzlich nicht mehr auf die kindlichen Fragen, die den Müttern so viel Vergnügen machen. Sie sann dann über ihr Schicksal in Gegenwart und Zukunft nach. Ihre Augen wurden naß von Tränen, wenn ein plötzliches Erinnern ihr das Bild jener Parade in den Tuilerien wieder vorzauberte. Die prophetischen Worte ihres Vaters klangen ihr abermals in den Ohren, und ihr Gewissen tadelte sie, deren Weisheit verkannt zu haben. Aus diesem törichten Ungehorsam entsprang all ihr Unglück; und oft wußte sie nicht, welches unter ihren Leiden am schwersten zu ertragen sei. Nicht nur blieben die süßen Schätze ihrer Seele ungehoben, nein, sie konnte selbst in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens zu keinem Einverständnis mit ihrem Gatten gelangen. In dem Augenblick, wo die Fähigkeit zu lieben in ihr erstarkte und sich wärmer regte, erlosch die gesetzliche, die eheliche Liebe unter schweren Leiden physischer und moralischer Art. Sie hegte nur für ihren Mann jenes an Verachtung grenzende Mitleid, das auf die Dauer alle Gefühle vernichtet. Wenn nicht schon ihre Gespräche mit den Freunden, die Beispiele oder gewisse Abenteuer der vornehmen Gesellschaft sie darüber belehrt hätten, daß die Liebe auch großes Glück bescheren könne, so würden ihre Wunden ihr schließlich eine Ahnung von den tiefen, reinen Wonnen eingeflößt haben, die ein Band zwischen brüderlichen Seelen bilden müssen. In dem Bilde, das ihre Erinnerung ihr von der Vergangenheit entwarf, zeichnete sich das lautere Gesicht Arthurs mit jedem Tage reiner und schöner ab; doch betrachtete sie es stets nur flüchtig, denn sie wagte nicht, bei dieser Erinnerung zu verweilen. Die schweigsame, schüchterne Liebe des jungen Engländers war das einzige Ereignis, das seit der Verheiratung eine sanfte Spur in diesem düstern, einsamen Herzen zurückgelassen hatte. Vielleicht richteten sich alle getäuschten Hoffnungen, alle fehlgeschlagenen Wünsche, die allmählich Juliens Geist verdüstert hatten, durch ein natürliches Spiel der Phantasie auf diesen Mann, dessen Manieren, Gefühl und Art anscheinend eine so große Übereinstimmung mit ihrem Wesen aufwiesen. Aber dieser Gedanke hatte immer den Charakter einer Laune, eines Traumes. Nach einem solchen haltlosen Sinnen, das immer in Seufzern seinen Abschluß fand, erwachte Julie noch unglücklicher und empfand nur noch tiefer ihre verborgenen Schmerzen, nachdem sie sie unter den Fittichen eines Glückes eingeschläfert hatte, das die Phantasie ihr vorgegaukelt. Manchmal nahmen ihre Klagen einen törichten, tollkühnen Charakter an; sie verlangte Vergnügungen um jeden Preis. Aber noch öfter verharrte sie in einer unsagbaren stumpfsinnigen Betäubung, hörte zu, ohne zu verstehen, oder spann so unklare, unbestimmte Gedanken, daß sie sie in Worten nicht hätte ausdrücken können. In ihrem intimsten Wollen, in den Gewohnheiten, die sie einstmals als junges Mädchen sich erträumt hatte, so tief verwundet, mußte sie nun ihre Tränen in sich hinein weinen. Wem hätte sie ihr Leid klagen sollen? Von wem konnte sie verstanden werden? Und dann besaß sie ja auch jenes äußerste Zartgefühl des Weibes, jene liebliche Schamhaftigkeit des Gefühls, die darin besteht, keine unnütze Klage laut werden zu lassen, den Vorteil unbenutzt zu lassen, sobald der Sieg den Sieger ebenso erniedrigen müßte wie den Besiegten. Julie suchte Herrn d'Aiglemont ihre Fähigkeit, die ihr eigenen Tugenden zu verleihen und rühmte sich gegen die Welt eines Glückes, das ihr doch nicht beschieden war. All ihr weibliches Feingefühl wurde vollständig umsonst aufgeboten, eine Rücksicht zu nehmen, die ihr Mann ja doch nicht beachtete, indem er sich im Gegenteil dadurch in seinem Egoismus bestärkt fühlte. Bisweilen war sie nahe daran, vor Unglück den Verband zu verlieren; aber zum Glück führte eine echte Frommheit sie immer wieder zu einer äußersten Hoffnung: sie nahm Zuflucht zu dem zukünftigen Leben -- eine bewundernswerte Glaubenskraft ließ sie von neuem ihre schmerzliche Bürde auf sich nehmen. Diese furchtbaren Kämpfe, diese innere Zerrissenheit blieben ohne Ruhm, ihre langen Stunden der Schwermut blieben unbekannt; keine Menschenseele fing ihre matten Blicke, ihre bitteren Tränen auf -- dem Zufall hingegeben, erloschen sie in der Einsamkeit. Die Gefahren der kritischen Lage, zu der die Marquise unmerklich durch die Kraft der Verhältnisse gelangt war, enthüllten sich ihr in vollem Ernst erst an einem Abend im Januar 1820. Wenn zwei Eheleute sich ganz genau kennen und sich seit langem aneinander gewöhnt haben, wenn eine Frau die geringsten Gebärden eines Mannes zu deuten weiß und Gefühle oder Dinge, die er ihr verbirgt, durchschauen kann, dann geht ihr oft nach vorhergehenden Betrachtungen oder Bemerkungen, die zufällig und ursprünglich auch ohne jeden Belang gemacht werden, ganz plötzlich ein Licht auf, und oftmals erwacht eine Frau mit einem Male am Rande oder am Boden eines Abgrunds. So erriet die Marquise, die sich seit zwei Tagen freute, allein zu sein, ganz plötzlich das Geheimnis ihres Alleinseins. Ob aus Untreue oder aus Überdruß, ob aus Edelsinn oder Mitleid mit ihr -- ihr Gatte gehörte ihr nicht mehr. In diesem Augenblick dachte sie nicht mehr an sich, noch an ihre Leiden und Opfer; sie war nur noch Mutter, und ihr Augenmerk galt der Zukunft, dem Glück ihrer Tochter, des einzigen Wesens, von dem ihr noch ein wenig Glückseligkeit kam -- ihrer Helene, des einzigen Guts, das sie noch ans Leben fesselte. Jetzt wollte Julie nicht sterben -- sie wollte ihr Kind vor dem entsetzlichen Joch bewahren, unter dem eine Stiefmutter das Leben dieses teueren Wesens erdrücken konnte. Bei dieser neuen Voraussicht eines finstern Geschicks verfiel sie in eine jener glühenden Grübeleien, die ganze Jahre verzehren. Zwischen ihr und ihrem Gatten mußte hinfort eine ganze Welt von Gedanken liegen, deren Last auf sie allein fallen würde. Bisher war sie gewiß gewesen, von Victor geliebt zu sein, soweit er der Liebe fähig war, und sie hatte sich einem Glücke hingegeben, das sie selbst nicht teilte. Aber jetzt hatte sie nicht mehr die Genugtuung, zu wissen daß ihre Tränen ihren Mann noch immer rühren würden -- jetzt stand sie allein in der Welt, und es blieb ihr keine Wahl als das Unglück. In der Stille und dem Schweigen des Abends erlahmte alle ihre Kraft, aller Mut brach nieder, und in dem Augenblick, wo sie ihren Diwan und ihr fast erloschenes Feuer verließ, um zu ihrer Tochter zu gehen und beim Scheine einer Lampe mit trockenen Augen das Kind anzusehen, kehrte Herr d'Aiglemont in fröhlichster Stimmung heim. Julie bewog ihn, mit ihr zusammen die schlafende Helene zu bewundern, aber er fertigte die Begeisterung seiner Frau mit einer banalen Phrase ab. »In diesem Alter,« sagte er, »sind alle Kinder niedlich.« Nachdem er seiner Tochter einen flüchtigen Kuß auf die Stirn gegeben, ließ er die Vorhänge der Wiege herab, sah Julie an, nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Diwan, wo eben noch so viele unheilvolle Gedanken sie bestürmt hatten. »Sie sind sehr schön heute abend, Madame d'Aiglemont!« rief er mit der unerträglichen Heiterkeit, deren Leere der Marquise so wohlbekannt war. »Wo haben Sie den Abend verbracht?« fragte sie, tiefe Gleichgültigkeit erkünstelnd. »Bei Madame de Sérizy.« Er hatte einen Lichtschirm vom Kamin genommen und betrachtete aufmerksam das Transparent. Die Spur der Tränen, die seine Frau vergossen, hatte er nicht bemerkt. Julie zitterte. Die Sprache reichte nicht hin, den Strom von Gedanken in Worte zu fassen, der aus ihrem Herzen hervorbrechen wollte und den sie dort zurückhalten mußte. »Madame de Sérizy gibt nächsten Montag ein Konzert und kommt um vor Sehnsucht, dich dabei zu haben. Du hast dich seit langem nicht in Gesellschaften sehen lassen, das ist für sie Grund genug, dich dringend einzuladen. Es ist ein ganz nettes Weib -- und hat dich sehr lieb. Tu mir den Gefallen und komm mit. Ich habe so gut wie zugesagt für dich ...« »Ich werde mitkommen,« antwortete Julie. Der Ton der Stimme, die Betonung und der Blick der Marquise hatten etwas so Eindringliches, so Merkwürdiges, daß Victor bei all seiner Oberflächlichkeit seine Frau erstaunt ansah. Das war alles. Julie hatte erraten, Madame de Sérizy sei die Frau, die ihr das Herz ihres Mannes entwendete. Sie versank in eine Träumerei der Verzweiflung und schien angelegentlich das Feuer zu betrachten. Victor drehte den Lichtschirm in den Fingern, mit der gelangweilten Miene eines Mannes, der anderswo glücklich gewesen ist und die Abspannung nach genossener Wonne mit sich bringt. Als er mehrmals gegähnt hatte, nahm er eine Kerze in die eine Hand, mit der andern suchte er nachlässig den Hals seiner Frau und wollte sie umarmen. Aber Julie bückte sich, bot ihm die Stirn und empfing den Abendkuß, diesen mechanischen, liebelosen Kuß -- ein Stück Komödie, das ihr jetzt widerwärtig erschien. Als Victor die Tür geschlossen hatte, sank die Marquise auf einen Sessel; die Beine versagten ihr den Dienst, sie zerfloß in Tränen. Man muß den Jammer eines ähnlichen Auftritts erlitten haben, um allen Schmerz zu begreifen, den diese Szene in sich schloß, um die langen, furchtbaren Katastrophen zu erraten, zu denen sie führen kann. Die simplen, nichtssagenden Worte, das Schweigen zwischen dem Ehepaar, die Gebärden, die Blicke, die Art, wie der Marquis sich vor das Feuer setzte, alles das hatte dazu gedient, diese Stunde zu einer tragischen Lösung des einsamen, schmerzvollen Lebens zu machen, das Julie führte. In ihrem Wahnsinn warf sie sich vor dem Diwan auf die Knie, vergrub das Gesicht, um nichts zu sehen, und betete zum Himmel. Den gewohnten Worten ihrer Andacht verlieh sie einen eigenen Ton, eine neue Bedeutung, die ihrem Gatten das Herz zerrissen hätten, wenn er es hätte hören können. Acht Tage lang sann sie über ihr Schicksal nach, ihrem Unglück preisgegeben. Sie faßte es von allen Seiten ins Auge und suchte nach Mitteln und Wegen, um nicht ihr eigenes Herz belügen zu müssen, die Herrschaft über den Marquis wiederzugewinnen und so lange zu leben, bis das Glück ihrer Tochter gesichert war. Sie beschloß nun, mit ihrer Nebenbuhlerin zu kämpfen, sich wieder in der Gesellschaft zu zeigen, dort zu glänzen und, nur um den Gatten für sich zu gewinnen, ihm eine Liebe vorzuheucheln, die sie doch eben nicht empfinden konnte. Und hatte sie mit ihren Künsten ihn ihrer Macht unterworfen, so wollte sie kokett zu ihm sein, wie es die kapriziösen Mätressen sind, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihre Verehrer auf die Folter zu spannen. Diese häßliche Handlungsweise war das einzige Mittel, das ihr in ihrem Leid noch zur Verfügung stand. So würde sie vielleicht Herrin ihres Kummers werden, nach ihrem Gefallen über ihren Schmerz gebieten können, ihn auf seltenere Anfälle einschränken -- die Unterjochung des Mannes, der Triumph, ihn zum Sklaven eines furchtbaren Despotismus gemacht zu haben, würde ihr dazu verhelfen. Sie machte sich kein Gewissen daraus, ihm ein Leben aufzuzwingen, das ihm manchmal lästig werden müßte. Mit einem Sprunge stürzte sie sich in die kalten Berechnungen der Gleichgültigkeit, um ihre Tochter zu retten, sie ersann sich auf der Stelle alle Hinterlisten, alle Lügen der Geschöpfe, die nicht lieben, das Trugwerk der Koketterie und die grausame Tücke, um deren willen die Männer das Weib so gründlich hassen, bei dem sie dann angeborene Verderbnis vermuten. Unbewußt machten ihre weibliche Eitelkeit, ihr Vorteil und ein geheimer Wunsch nach Rache gemeinsame Sache mit ihrer Mutterliebe, um sie auf eine Bahn zu locken, wo nur neue Schmerzen ihrer harrten. Sie hatte eine zu schöne Seele, einen zu harten Geist, und vor allem zu viel Offenheit, um sich lange eines solchen Betrugs schuldig zu machen. Sie war gewohnt, beim ersten Schritt in das Laster -- denn dies war Laster -- in ihrer Seele zu lesen, und so mußte der Schrei ihres Gewissens die Stimme der Leidenschaft und des Egoismus übertönen. In der Tat, bei einer jungen Frau, deren Herz noch rein ist, und bei der die Liebe jungfräulich geblieben, ist selbst das Gefühl der Mutterschaft der Stimme der Scham unterworfen. Ist nicht die Scham das ganze Weib? Aber Julie wollte noch keine Gefahr, noch keinen Fehler in dem neuen Leben erblicken. Sie ging zu Madame de Sérizy. Ihre Nebenbuhlerin erwartete, eine bleiche, schmachtende Frau zu sehen; die Marquise hatte Rot aufgelegt und zeigte sich in allem Glanze eines Schmuckes, der ihre Schönheit in das vorteilhafteste Licht setzte. Gräfin de Sérizy zählte zu jenen Frauen, die sich in Paris eine gewisse Herrschaft über Mode und Gesellschaft anmaßen. Ihr Urteilsspruch hatte in dem Kreise, wo sie regierte, nach ihrer eigenen Meinung allgemeine Geltung; sie hatte die Kühnheit, Worte zu prägen; sie war unumschränkte Richterin. Literatur, Politik, Männer und Frauen, alles unterlag ihrer Kritik; und das Urteil anderer schien Frau Sérizy nicht zu beachten. Ihr Haus war in allen Punkten ein Muster guten Geschmacks. In diesen von eleganten, schönen Frauen überfüllten Salons triumphierte nun Julie über die Komtesse. Geistreich, lebhaft, mutwillig, hatte sie die hervorragendsten Männer des Abends um sich versammelt. Zum größten Verdruß der Frauen war dabei ihre Toilette ganz untadelhaft, und alle beneideten sie um einen Rockschnitt, um eine Taillenform, deren Wirkung man allgemein dem Genie einer unbekannten Schneiderin zuschrieb, denn die Frauen glauben immer lieber an die Kunst und Wissenschaft einer Schneiderin als an die Anmut und Vollkommenheit derer, die so gebaut sind, daß sie das Werk dieser Schneiderin nun auch gut tragen können. Als Julie sich erhob, um am Piano die Romanze der Desdemona zu singen, liefen die Männer aus allen Salons herbei, um diese berühmte Stimme zu hören, die so lange nicht erklungen, und ein tiefes Schweigen trat ein. Die Marquise fühlte sich heftig beklommen, als sie die Köpfe an den Türen sich drängen und alle Blicke auf sich geheftet sah. Sie suchte mit den Augen ihren Mann, warf ihm einen koketten Blick zu und sah mit Vergnügen, daß er sich in diesem Moment in seiner Eigenliebe sehr geschmeichelt fühlte. Glücklich über diesen Triumph, entzückte sie in dem ersten Teile des »+Al piu salice+« die ganze Versammlung. Noch nie hatte die Malibran oder die Pasta einen Gesang hören lassen von solcher Vollendung des Gefühls und der Betonung. Aber als sie fortfahren wollte, sah sie sich unter den Gruppen um und erblickte Arthur, dessen unverwandter Blick sie nicht verließ. Da zitterte sie heftig, und ihre Stimme schlug um. Madame de Sérizy eilte von ihrem Platz auf die Marquise zu. »Was haben Sie, meine Teure? O, arme Kleine, sie ist leidend! Ich hatte gleich meine Befürchtungen, als sie sich daran wagte -- es mußte ja ihre Kräfte übersteigen.« Die Romanze wurde unterbrochen. Julie hatte in ihrem Verdruß nicht den Mut fortzufahren und ließ das falsche Mitleid ihrer Nebenbuhlerin über sich ergehen. Alle Frauen flüsterten untereinander, und indem sie über diesen Vorfall sprachen, errieten sie den zwischen der Marquise und Frau de Sérizy entbrannten Kampf und verschonten auch die letztere nicht mit ihrer Schmähsucht. Die seltsamen Ahnungen, die so oft Juliens Herz erschüttert hatten, waren mit einem Schlag zur Wahrheit geworden. Wenn sie an Arthur dachte, hatte es ihr gefallen, sich vorzustellen, daß ein Mann von so sanftem Äußern seiner ersten Liebe treu geblieben sein müßte. Manchmal hatte sie sich geschmeichelt, der Gegenstand dieser schönen Leidenschaft zu sein, der reinen und wahren Leidenschaft eines jungen Mannes, dessen ganzes Denken und Dichten seiner Geliebten gehörte, der keine Winkelzüge kennt, der über Dinge errötet, über die sonst nur eine Frau errötet, der wie eine Frau denkt, ihr keine Nebenbuhlerin gibt und sich ihr überläßt, ohne nach Ehrgeiz, Ruhm oder Vermögen zu fragen. Alles dies hatte sie aus Torheit, aus Zeitvertreib von Arthur gedacht. Nun glaubte sie plötzlich ihren Traum verwirklicht zu sehen; sie las auf dem fast weiblichen Gesicht des jungen Arthur die tiefen Gedanken, die sanfte Melancholie, die schmerzliche Ergebung, denen sie preisgegeben war. Sie erkannte sich in ihm wieder. Unglück und Schwermut sind die beredtesten Vermittler der Liebe und bringen zwei leidende Wesen mit unglaublicher Schnelligkeit in Einklang. Der innere Blick und die Art, Dinge oder Ideen in sich aufzunehmen, sind bei ihnen vollständig und zutreffend. Die Heftigkeit der Überraschung, die die Marquise erlitt, enthüllte ihr daher auch alle Gefahren der Zukunft. Sie war glücklich, in ihrem gewohnten leidenden Zustand einen Vorwand für ihre Verwirrung zu finden und ließ sich gern von dem spitzfindigen Mitleid der Frau de Sérizy überschütten. Die Unterbrechung der Romanze war ein Ereignis, über das sich mehrere Personen auf verschiedene Weise unterhielten. Die einen beklagten Juliens Geschick und bedauerten es, daß eine so hervorragende Frau für die Gesellschaft verloren sei; die andern wollten den Grund ihres Leidens und der Einsamkeit, in der sie lebte, genau kennen. »Nun wohl, mein teurer Ronquerolles,« sagte der Marquis zu dem Bruder der Frau de Sérizy, »du beneidest mich um mein Glück beim Anblick der Frau d'Aiglemont, und du machst mir den Vorwurf, ich sei ihr untreu? Ei, du würdest mein Schicksal sehr wenig beneidenswert finden, wenn du wie ich ein oder zwei Jahre lang neben einer hübschen Frau leben müßtest, ohne daß du es wagen dürftest, ihr die Hand zu küssen, aus Furcht, du könntest sie zerbrechen. Gib dich nie mit diesen zarten Kleinodien ab -- sie sind nur gut dazu, unter Glas gestellt zu werden -- sie sind so zerbrechlich und so wertvoll, daß wir uns immer in acht nehmen müssen. Führst du denn dein schönes Pferd oft aus? Man hat mir gesagt, du hast Angst, es könnte von Platzregen oder Schneefall überrascht werden. Nun, das ist dieselbe Geschichte wie bei mir. Es ist wahr, ich kann auf die Tugend meiner Frau einen Eid leisten; aber meine Ehe ist ein Luxusartikel und wenn du glaubst, ich sei verheiratet, so irrst du dich. Daher ist auch meine Untreue in gewissem Maße berechtigt. Ich möchte gerne wissen, wie ihr euch an meiner Stelle verhieltet, ihr Herren Lacher. Viele Männer würden weit weniger Federlesens mit ihrer Frau machen als ich. Ich bin überzeugt,« setzte er mit leiser Stimme hinzu, »Frau d'Aiglemont ahnt nichts; und ich wäre gewiß auch sehr im Unrecht, wenn ich mich beklagen wollte, ich bin sehr glücklich. Nur ist nichts für einen gefühlvollen Mann lästiger, als ein armes Wesen leiden zu sehen, an das man gebunden ist --« »Du bist also sehr gefühlvoll?« antwortete Herr de Ronquerolles. »Na ja, du bist ja auch selten zu Hause.« Dieses freundschaftliche Epigramm erweckte Lachen unter den Zuhörern. Aber Arthur blieb kalt und ruhig -- er war einer von den wenigen Kavalieren, die den Ernst zur Grundlage ihres Charakters machen. Die sonderbaren Worte dieses Ehemannes riefen ohne Zweifel gewisse Hoffnungen in dem jungen Engländer wach. Er trachtete mit Ungeduld nach einem Augenblick, wo er mit Herrn d'Aiglemont allein sein könnte, und die Gelegenheit dazu bot sich bald. »Mein Herr,« sagte er zu ihm, »ich sehe mit unendlichem Schmerz, in welchem Zustand sich die Frau Marquise befindet, und wenn Sie erfahren, daß sie eines elenden Todes sterben muß, wenn nicht eine besondere Kur angewendet wird, so denke ich, Sie werden mit dem Leiden ihrer Frau keinen Scherz treiben. Wenn ich so zu Ihnen spreche, so bin ich dazu in gewissem Sinne berechtigt, denn ich habe die Gewißheit, Frau d'Aiglemont retten und dem Leben und dem Glück zurückgeben zu können. Es ist wenig natürlich, daß ein Mann meines Ranges Arzt sei, allein der Zufall hat es so gefügt, daß ich Medizin studiert habe. Ich leide so sehr an der Langeweile,« fuhr er fort und er heuchelte einen kalten Egoismus, der seinen Zwecken dienen sollte, »und es ist mir daher eine angenehme Zerstreuung, meine Zeit und meine Reisen dem Wohle eines leidenden Wesens zu widmen. Das tu ich lieber, als blödem Zeitvertreib nachzujagen. Krankheiten dieser Art finden selten Heilung, weil sie zuviel Sorgfalt, zuviel Geduld und Muße erfordern; vor allem gehört dazu Geld, man muß reisen können und aufs peinlichste die Vorschriften befolgen, die jeden Tag anders lauten und doch nichts Unangenehmes haben. Wir sind zwei Kavaliere,« fuhr er fort, und gab diesem Worte die Bedeutung des englischen Ausdrucks »Gentlemen«, »und können uns verständigen. Ich erkläre Ihnen, daß Sie jeden Augenblick Richter meines Verhaltens sein sollen, sobald Sie meinen Vorschlag annehmen. Ich werde nichts unternehmen, ohne Sie zu Rate gezogen zu haben. Sie sollen alles überwachen, und ich bürge für den Erfolg, wenn Sie willens sind, sich nach meinen Angaben zu richten, das heißt vor allem,« flüsterte er ihm ins Ohr, »lange Zeit nicht der Gatte der Frau d'Aiglemont zu sein.« »Das steht fest, Mylord,« sagte der Marquis lachend, »nur ein Engländer kann mir einen so bizarren Vorschlag machen. Gestatten Sie mir, ihn weder zurückzuweisen noch anzunehmen. Ich werde es mir überlegen. Vor allem muß er meiner Frau unterbreitet werden.« In diesem Augenblick war Julie wieder am Piano erschienen. Sie sang das Lied der Semiramis: »+Son regina, son guerriera.+« Einmütiger Beifall -- aber gedämpft, wie er eben im Viertel der vornehmen Welt gezollt wird -- bekundete die Begeisterung, die sie entzündet hatte. Als d'Aiglemont seine Frau nach Hause führte, erkannte sie, halb mit Unruhe, halb mit Freude den raschen Erfolg ihrer Versuche. Ihr Gatte, aufgerüttelt durch die Rolle, die sie gespielt hatte, machte ihr ein paar Komplimente, schlug dabei aber den Ton an, den er einer Schauspielerin gegenüber angewendet haben würde. Julie fand es spaßhaft, als tugendhafte, verheiratete Frau so behandelt zu werden; sie wollte mit ihrer Macht nur spielen, und ihre Herzensgüte ließ sie daher in diesem ersten Kampfe noch einmal unterliegen -- allein es war die furchtbarste aller Lehren, die das Schicksal ihr erteilte. Gegen zwei oder drei Uhr morgens saß Julie in düsterer, träumerischer Stimmung, aufrecht im ehelichen Bett; eine Lampe verbreitete ein ungewisses Licht in dem Zimmer, die tiefste Stille herrschte; und seit etwa einer Stunde vergoß die Marquise, der peinigendsten Reue preisgegeben, Tränen, deren Bitterkeit niemand nachfühlen kann als eine Frau vielleicht, die sich in der gleichen Lage befunden hat. Es gehört die Seele Juliens dazu, um wie sie das Entsetzen einer berechneten Liebkosung zu fühlen, um im selben Maße wie sie von einem kalten Kuß verletzt zu sein. Nach einer solchen schmerzlichen Erniedrigung war ihr Herz zu endgültiger Abtrünnigkeit gelangt -- das letzte Fädchen ihrer Ehe war gerissen. Sie verachtete sich selbst, sie verwünschte die Heirat, sie wäre am liebsten tot gewesen, und wenn ihre Tochter nicht geschrien hätte, würde sie sich vielleicht zum Fenster hinaus aufs Straßenpflaster geworfen haben. Herr d'Aiglemont schlief friedlich an ihrer Seite -- die heißen Tränen, die seine Frau auf ihn fallen ließ, weckten ihn nicht auf. Am andern Tage gelang es Julien wieder, sich fröhlich zu stellen. Sie fand die Kraft, glücklich zu erscheinen und, wenn auch nicht ihre Melancholie, so doch einen unüberwindlichen Abscheu zu verbergen. Von diesem Tage an betrachtete sie sich nicht mehr als untadelhafte Frau. Hatte sie sich nicht selbst belogen? War sie von nun an nicht der Heuchelei fähig, und konnte sie nicht später in den ehebrecherischen Handlungen einen erstaunlichen Scharfsinn entfalten? Ihre Ehe war die Ursache dieser Perversität a priori, die vorderhand noch unausgeübt blieb. Indessen hatte sie sich schon die Frage vorgelegt, warum sie sich einem Manne, der sie liebte und den sie liebte, versagen solle, da sie sich doch gegen ihr Herz und gegen die Stimme der Natur einem Ehemanne hingegeben hatte, den sie nicht mehr liebte. Alle Fehltritte und vielleicht auch alle Verbrechen haben zur Grundlage einen schlechten Gedankengang oder ein Übermaß an Egoismus. Wenn die Gesellschaft bestehen soll, so muß jeder einzelne die individuellen Opfer bringen, die die Gesetze erfordern, das heißt, den Trieb seiner Natur dem Gesetz gemäß eindämmen. Wenn man die Vorteile der Gesellschaft mitgenießt, hat man auch die Verpflichtung, die Bedingungen innezuhalten, die die Grundfesten der Gesellschaft bilden. Die Unglücklichen, die kein Brot haben und doch das Eigentum achten müssen, sind nicht minder zu beklagen, als die Frauen, die in ihrem Sehnen und in der Zartheit ihrer Natur verletzt sind. Einige Tage nach dieser Szene, deren Geheimnis in dem ehelichen Bett begraben blieb, stellte d'Aiglemont seiner Frau Lord Grenville vor. Julie empfing Arthur mit kalter Höflichkeit, die ihrer Verstellungskunst Ehre machte. Sie legte ihrem Herzen Schweigen auf, hängte einen Schleier vor ihren Blick, gab ihrer Stimme Festigkeit und vermochte so noch Herrin ihrer Zukunft zu bleiben. Nachdem sie durch diese Mittel, die den Frauen sozusagen angeboren sind, die ganze Tiefe der Liebe erkannt hatte, die sie eingeflößt, lächelte Frau d'Aiglemont zu der Hoffnung auf baldige Genesung, und widersetzte sich nicht mehr dem Willen ihres Mannes, der sie mit Gewalt dazu zu bewegen suchte, sich bei dem jungen Doktor in die Kur zu geben. Dennoch wollte sie sich Lord Grenville nicht eher anvertrauen, als bis sie seine Worte und Manieren genau erforscht hatte und überzeugt sein konnte, daß er den Edelmut besitzen würde, schweigend zu leiden. Sie hatte die absoluteste Macht über ihn und mißbrauchte sie bereits -- doch war sie nicht Weib? -- -- -- -- Montcontour war eine alte Burg und lag auf einem der gelblichen Felsen, an deren Fuß die Loire vorbeifließt -- unweit jener Stelle, wo im Jahre 1814 Julie einmal Halt gemacht hatte. Es ist eins der kleinen Schlösser der Touraine, weiß, zierlich, mit Schnitzwerk an den Türmchen und verschnörkelt wie flandrische Spitzen -- eins der prunkvollen Miniaturschlösser, die sich mit ihren Maulbeeranlagen, ihren Weinbergen, ihren Felsengängen, ihren langen, durchbrochenen Balustraden, ihren Höhlen im Gestein, ihren Mänteln von Efeu und ihren steilen Hängen im Flusse spiegeln. Die Dächer von Montcontour flimmern im Sonnenlicht -- alles glänzt dort. Tausend Anklänge an Spanien erfüllen diese entzückende Behausung mit Poesie; Goldginster und Glockenblumen teilen ihren Wohlgeruch dem Winde mit; die Luft weht liebkosend, die Erde lächelt überall, und überall umhüllt süßer Zauber die Seele, stimmt sie träge, verliebt, weich und wiegt sie in Schlummer. Diese schöne, milde Gegend unterdrückt allen Schmerz und erweckt alle Leidenschaft. Unter diesem reinen Himmel, angesichts dieser schimmernden Gewässer bleibt niemand kalt. Hier erstirbt aller Ehrgeiz, man sinkt einem stillen Glück in den Schoß, wie allabendlich die Sonne in ihrem eigenen Bett von Purpur und Azur versinkt. An einem milden Abend des Monats August im Jahre 1821 schritten zwei Personen auf den steinigen Wegen dahin, die die Felsen durchschneiden, auf denen das Schloß liegt, und stiegen zu den Höhen hinauf, um ohne Zweifel die vielfältigen Aussichtspunkte zu bewundern, die man dort entdeckt. Diese beiden Menschen waren Julie und Lord Grenville; aber Julie schien eine ganz neue Frau zu sein. Die Marquise hatte die frische Farbe der Gesundheit. Ihre von üppiger Kraft belebten Augen schimmerten durch einen feuchten Schleier, ähnlich jenem zarten Naß, das den Augen von Kindern unwiderstehlichen Reiz gibt. Sie lächelte zwanglos, sie war glücklich zu leben und verstand nun, was Leben heißt. An der Art, wie sie ihre kleinen Füße hob, war leicht zu sehen, daß kein Leiden mehr wie ehemals ihre geringsten Bewegungen schwerfällig, ihre Blicke, ihre Worte und ihre Gebärden müde und leblos machte. Unter dem Schirm von weißer Seide, der sie vor den heißen Strahlen der Sonne schützte, glich sie einer Jungverheirateten im Brautschleier, einer Jungfrau, die bereit war, sich dem Zauber der Liebe zu überlassen. Arthur führte sie mit der Sorgfalt eines Liebenden, geleitete sie, wie ein Wärter ein Kind leitet, wies ihr den besten Weg, räumte die Steine vor ihren Tritten fort, zeigte ihr eine Stelle, wo eine Aussicht sich öffnete, oder führte sie vor eine Blume -- immer bewogen von einer unermüdlichen Güte, einer zärtlichen Absicht, einer tiefen Kenntnis alles dessen, was dieser Frau wohltat: Gefühle, die ihm angeboren zu sein schienen, ebenso und noch in höherem Maße vielleicht als die zu seinem Dasein an sich notwendigen Triebe. Die Kranke und ihr Arzt gingen im gleichen Schritt und wunderten sich nicht über ein Ebenmaß des Ganges, das vom ersten Tage an, wo sie nebeneinander hergegangen waren, zu bestehen schien. Sie gehorchten ein und demselben Willen, blieben unter dem Eindruck ein und desselben Gefühls stehen; ihre Blicke, ihre Worte entsprachen wechselseitigen Gedanken. Als sie beide auf der Höhe eines Weinbergs angelangt waren, wollten sie sich auf einen der langen Steinblöcke setzen, die aus den in den Felsen gehauenen Kellern herausgenommen werden; aber Julie betrachtete die Gegend, ehe sie sich setzte. »Die schöne Landschaft!« rief sie. »Hier laßt uns Hütten bauen. Ja, wir wollen ein Zelt aufschlagen und hier leben. Victor,« rief sie, »so kommen Sie doch schnell!« Herr d'Aiglemont antwortete von unten mit einem Jägerruf, doch ohne seine Schritte zu beschleunigen. Er betrachtete nur von Zeit zu Zeit seine Frau, wenn die Windungen des Weges es ihm erlaubten. Julie atmete mit Wonne die Luft ein, hob den Kopf und warf aus Arthur einen der feinen Blicke, in denen eine Frau von Geist all ihr Denken offenbart. »O,« fuhr sie fort, »hier möchte ich immer bleiben! Kann man jemals müde werden, dieses schöne Tal zu bewundern? Kennen Sie den Namen dieses reizenden Flusses, Mylord?« »Es ist die Cise.« »Die Cise,« wiederholte sie. »Und dort unten vor uns -- was ist das?« »Das sind die Weinberge von Cher,« sagte er. »Und rechts? Ach ja, das ist Tours. Aber sehen Sie nur, wie herrlich sich in der Ferne die Türme dieser Kathedrale ausnehmen!« Sie verstummte und ließ auf Arthurs Arm die Hand sinken, die sie nach der Stadt ausgestreckt hatte und beide bewunderten schweigend die Landschaft und die Schönheiten dieser harmonischen Natur. Das Murmeln des Wassers, die Reinheit der Luft und des Himmels -- alles stimmte zu den Gedanken, die in Menge auf ihre liebenden, jungen Herzen eindrangen. »O, mein Gott, wie liebe ich dieses Land!« rief Julie in wachsender, naiver Begeisterung. »Sie haben lange hier gewohnt?« setzte sie nach einer Pause hinzu. Bei diesen Worten erbebte Lord Grenville. »Hier war's,« antwortete er schwermütig und deutete auf ein Wäldchen von Nußbäumen an der Straße, »wo ich, als Gefangener, Sie zum erstenmal sah.« »Ja, aber da war ich schon recht traurig, und diese Gegend erschien mir wild, doch jetzt --« Sie hielt inne -- Lord Grenville wagte nicht, sie anzusehen. »Ihnen,« sagte Julie endlich nach langem Schweigen, »verdanke ich diese Wonne. Lebendig muß man sein, wenn man die Freuden des Lebens empfinden will -- ich aber war bisher für alles tot. Sie haben mir mehr gegeben als bloß die Gesundheit -- Sie haben mich gelehrt, den Wert alles dessen zu erkennen --« Die Frauen haben ein unnachahmbares Talent, ihre Gefühle ohne allzu große Worte auszudrücken; ihre Beredsamkeit liegt vor allem in der Betonung, in der Gebärde, in Haltung und Blick. Lord Grenville verbarg den Kopf in den Händen, denn Tränen rollten ihm aus den Augen. Dieser Dank war der erste, den Julie ihm seit ihrer Abreise von Paris zollte. Während eines vollen Jahres hatte er die Marquise mit der größten Aufopferung gepflegt. Unterstützt von d'Aiglemont, hatte er sie zu den Gewässern von Aix, dann ans Gestade des Meeres, dann nach Rochelle geführt. In jedem Augenblick beobachtete er die Veränderungen, die seine klugen und ganz einfachen Vorschriften an der zerrütteten Natur Juliens hervorriefen, er hatte sie betreut, wie etwa ein leidenschaftlicher Gärtner eine seltene Blume. Die Marquise schien die verständige Pflege Arthurs mit aller Selbstsucht einer Pariserin hinzunehmen, die an Huldigungen gewöhnt ist, oder mit der Gleichgültigkeit einer Kurtisane, die nicht weiß, was die Sachen kosten oder was die Männer wert sind, und sie nach dem Grade des Nutzens einschätzt, den sie davon hat. Der Einfluß der Örtlichkeit auf das Gemüt ist ein Punkt, der der Erwähnung wert ist. Wenn uns am Strande des Wassers unfehlbar die Schwermut befällt, so bewirkt ein anderes Gesetz unserer eindrucksfähigen Natur, daß auf den Bergen unsere Gefühle sich läutern. Die Leidenschaft gewinnt an Tiefe, was sie an Lebhaftigkeit zu verlieren scheint. Der Anblick des weiten Loirebeckens, die Höhe des hübschen Hügels, wo die beiden Liebenden Platz genommen hatten, erweckten vielleicht die liebliche Ruhe, in der sie zuerst das Glück kosteten, hinter anscheinend belanglosen Worten die Größe einer verborgenen Leidenschaft zu erkennen. In dem Augenblick, wo Julie den Satz beendete, der Lord Grenville so tief gerührt hatte, bewegte ein liebkosender Wind die Wipfel der Bäume und breitete die Frische des Wassers in der Luft aus. Einige Wolken bedeckten die Sonne, und weiche Schatten ließen alle Schönheiten dieser herrlichen Natur ungeblendet überschauen. Julie wandte den Kopf ab, um dem jungen Lord ihre eigenen Tränen zu verbergen, denn Arthurs Rührung wirkte sogleich ansteckend auf sie. Aber es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten und zu trocknen. Sie wagte nicht, die Augen zu ihm zu erheben, denn sie fürchtete, er könne dann in diesem Blicke eine zu große Freude lesen. In ihrem weiblichen Instinkt fühlte sie, daß sie in dieser gefährlichen Stunde ihre Liebe auf dem Grunde des Herzens begraben mußte. Allein das Schweigen konnte im gleichen Maße bedrohlich werden. Als sie erkannte, daß Lord Grenville nicht imstande sei, ein Wort zu sprechen, sagte Julie in sanftem Tone: »Sie sind ergriffen von dem, was ich gesagt habe, Mylord. Vielleicht ist diese tiefe Rührung der einzige Weg, auf dem eine holde, gute Seele wie die Ihre zu einem falschen Urteil gelangen kann. Sie werden mich für undankbar gehalten haben, weil Sie mich auf dieser Reise, die zum Glück nun bald zu Ende ist, kalt und zurückhaltend oder spöttisch und gefühllos fanden. Ich würde Ihrer Pflege nicht wert gewesen sein, wenn ich sie nicht zu schätzen gewußt hätte. Mylord, ich habe nichts vergessen. Ach, und ich werde nichts vergessen, weder die Achtsamkeit, mit der Sie über mich gewacht haben, wie eine Mutter ihr Kind bewacht, noch vor allem das edle Zutrauen unserer geschwisterlichen Gespräche, die Zartheit Ihrer Behandlung. Ach, das sind Reize, gegen die wir alle ohne Waffen sind. Mylord, es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu belohnen ...« Bei diesen Worten entfernte sich Julie rasch, und Lord Grenville rührte keinen Finger, sie zurückzuhalten; die Marquise ging zu einem Felsen, der ein kleines Stück abseits lag, und blieb dort unbeweglich stehen. Den beiden Menschen war ihre eigene Erregtheit ein Geheimnis -- ohne Zweifel weinten sie im stillen. Der Gesang der Vögel, so lustig, so voll zarten Ausdrucks angesichts der sinkenden Sonne, mußte die heftige Bewegung noch steigern, die sie gezwungen hatte, auseinander zu eilen. Die Natur selbst nahm es auf sich, einer Liebe Ausdruck zu geben, von der sie nicht zu sprechen wagten. »Nun wohl, Mylord,« fuhr Julie fort und trat in einer Haltung voll Würde wieder vor ihn hin, seine Hand ergreifend, »ich bitte Sie darum, halten Sie das Leben rein und heilig, das Sie mir zurückgegeben haben. Wir werden uns hier trennen. Ich weiß,« setzte sie hinzu, als sie Lord Grenville erblassen sah, »zum Lohne für Ihre Aufopferung fordere ich da von Ihnen ein noch größeres Opfer, als alle die, deren Größe von mir besser anerkannt werden sollte -- aber es muß sein. Sie dürfen nicht in Frankreich bleiben. Aber wenn ich Ihnen das gebiete, heißt das nicht auch schon, Ihnen Rechte gewähren -- und die müssen geheiligt bleiben,« setzte sie hinzu, die Hand des jungen Mannes auf ihr klopfendes Herz legend. »Ja,« sagte Arthur und stand auf. In diesem Augenblick wies er auf d'Aiglemont, der sein Kind im Arm hielt und von der andern Seite auf der Balustrade des Schlosses erschien. Er war durch einen Hohlweg geklettert, um hier seine Helene herabspringen zu lassen. »Julie, ich werde von meiner Liebe kein Wort zu Ihnen sprechen -- unsere Seelen verstehen sich zu gut. So tief, so geheim meine Herzensfreuden auch waren, Sie haben sie geteilt, alle. Ich fühle es, ich weiß es, ich sehe es. Jetzt erhalte ich den köstlichen Beweis für den beständigen Einklang unserer Herzen -- aber ich werde fliehen. Ich habe schon mehrmals mit zuviel Besonnenheit ausgeklügelt, wie man diesen Menschen umbringen könnte, um auf die Dauer der Versuchung zu widerstehen -- deshalb darf ich nicht in Ihrer Nähe bleiben.« »Ich habe denselben Gedanken gehabt,« sagte sie und ließ auf ihrem erregten Gesicht die Spuren einer schmerzlichen Bestürzung erscheinen. Aber es lag so viel Tugend, so viel Sicherheit in sich selbst, so viel von heimlichem Siegen über die Liebe in den Worten und der Gebärde, die Julie entschlüpft waren, daß Lord Grenville von tiefer Bewunderung durchdrungen war. Selbst das Verbrechen hatte in diesem naiven Gewissen keinen Schatten zurückgelassen. Das religiöse Empfinden, das auf dieser schönen Stirn thronte, mußte stets die schlechten Gedanken dieser Art verscheuchen, die unsere unvollkommene Natur wider unsern Willen erzeugt und die uns zu gleicher Zeit die Größe und die Gefahren unsers Schicksals offenbaren. »Ich hätte mich dann Ihrer Verachtung ausgesetzt, und doch würde es meine Rettung gewesen sein,« fuhr sie fort, die Augen niederschlagend. »Ihre Achtung verlieren, hieße das nicht sterben?« Dieses heldenmütige Liebespaar stand einen Augenblick schweigend da, bemüht, den Schmerz zurückzudrängen. Ob gut, ob schlecht, ihre Gedanken waren getreulich die gleichen, und sie verstanden sich in ihrer innerlichen Wonne ebensogut, wie in ihren verborgensten Schmerzen. »Ich darf nicht murren, das Unglück meines Daseins ist mein eigenes Werk,« setzte sie hinzu, die tränenvollen Augen zum Himmel aufschlagend. »Mylord,« rief der General von seinem Platz aus, mit einer Handbewegung, »an dieser Stelle sind wir uns ja zum erstenmal begegnet. Sie erinnern sich vielleicht nicht? Sehen Sie nur -- dort unten -- bei den Pappeln!« Der Engländer antwortete mit einem kurzen Kopfnicken. »Ich sollte jung und unglücklich sterben,« fuhr Julie fort. »Ja, glauben Sie nicht, daß ich am Leben bleibe. Der Kummer wird ebenso tödlich sein, wie die schreckliche Krankheit es hätte werden können, von der Sie mich geheilt haben. Ich halte mich nicht für sündig. Nein, die Gefühle, die ich für Sie gehegt habe, sind unwiderstehlich, ewig -- aber sie regen sich gegen meinen Willen, und ich will tugendhaft bleiben. Ich werde zu gleicher Zeit meinem Gewissen als Gattin, meinen Pflichten als Mutter und der Stimme meines Herzens treu bleiben. Hören Sie mich an,« setzte sie mit veränderter Stimme hinzu, »diesem Manne dort werde ich nie mehr angehören.« Und mit einer Gebärde, die in ihrem Abscheu und ihrer Aufrichtigkeit erschreckend war, wies Julie auf ihren Mann. »Die Gesetze der Welt,« fuhr sie fort, »verlangen von mir, daß ich ihm das Leben glücklich mache -- ich werde dem gehorchen. Ich werde seine Dienerin sein; meine Ergebenheit gegen ihn wird ohne Grenzen sein, aber von heute ab bin ich Witwe. Ich will weder vor mir selbst noch vor der Welt eine Prostituierte sein. Wenn ich Herrn d'Aiglemont nicht mehr gehöre, so auch niemals einem andern. Sie werden von mir nichts weiter besitzen, als was Sie mir entrissen haben. Dies ist das Urteil, das ich über mich selbst ausgesprochen habe,« sagte sie, Arthur mit Stolz anblickend. »Es ist unwiderruflich, Mylord. Erfahren Sie noch, wenn Sie einem verbrecherischen Gedanken nachgäben, so würde die Witwe des Herrn d'Aiglemont in ein Kloster gehen, in Italien oder in Spanien. Das Unglück hat gewollt, wir sollten von unserer Liebe sprechen. Diese Geständnisse waren vielleicht unvermeidlich; aber es soll das letztemal sein, daß unsere Herzen so heftig erschüttert wurden. Morgen werden Sie vorgeben, einen Brief erhalten zu haben, der Sie nach England ruft, und wir werden scheiden, um einander nie wiederzusehen.« Erschöpft von dieser Anstrengung, fühlte Julie, daß ihre Knie brachen -- eine tödliche Kälte ergriff sie. Doch sie hatte den echt weiblichen Einfall, sich rasch hinzusetzen, um nicht in Arthurs Arme zu fallen. »Julie!« rief Lord Grenville. Dieser durchdringende Schrei hallte wider wie ein Donnerschlag. Dieser herzzerreißende Aufschrei drückte alles aus, was der bisher stumme Liebende nicht hatte sagen können. »Nun, was hat sie denn?« fragte der General. Als der Marquis den Schrei hörte, war er schnell herzugeschritten und stand jetzt plötzlich vor dem Liebespaar. »Es wird nichts weiter sein,« sagte Julie mit der bewundernswerten Kaltblütigkeit, die die Frauen dank ihrer natürlichen Schlauheit bei den großen Krisen des Lebens oft an den Tag legen. »Die Kühle unter diesem Nußbaum hat mir fast eine Ohnmacht verursacht, und mein Doktor ist wohl heftig darüber erschrocken. Bin ich für ihn nicht sozusagen ein Kunstwerk, das noch nicht ganz fertig ist? Er hat vielleicht Angst gehabt, es zerstört zu sehen.« Sie nahm keck Lord Grenvilles Arm, lächelte ihrem Manne zu, blickte noch einmal über die Landschaft hin, ehe sie den Gipfel der Felsen verließ und zog ihren Reisegefährten an der Hand mit sich fort. »Dies ist sicherlich die schönste Gegend, die wir gesehen haben,« sagte sie. »Ich werde sie nie vergessen. Sehen Sie nur, Victor, welche Fernen, welche weite Flächen und welche Mannigfaltigkeit! Angesichts dieses Landes begreife ich, was Liebe heißt!« Sie stieß ein fast krampfhaftes Lachen aus, mit dem es ihr gelang, den Gatten zu täuschen, sprang lustig in den Hohlweg und verschwand. »Ah bah, wenn schon!« sagte sie, als sie weit von Herrn d'Aiglemont entfernt war. »Ah bah! Mein Freund, in einem Augenblick werden wir nicht mehr sein können -- werden wir niemals wieder wir selbst sein können -- kurz, werden wir nicht mehr leben können.« »Lassen Sie uns langsam gehn,« antwortete Lord Grenville, »die Wagen sind noch fern. Wir werden zusammen gehen, und wenn es uns erlaubt ist, Worte in unsere Blicke zu legen, so werden unsere Herzen noch einen Augenblick länger leben.« Sie schritten in den letzten Sonnenstrahlen auf dem Damme am Rande des Wassers dahin, fast in völligem Schweigen, undeutliche Worte sprechend, die sanft und leise waren, wie das Murmeln der Loire, und doch die Seele erschütterten. Die Sonne umhüllte sie im Augenblick ihres Niedergangs mit rotem Schein -- dann verschwand sie wie ein melancholisches Abbild ihrer unglücklichen Liebe. Der General war unruhig, als er seinen Wagen nicht an der Stelle fand, wo er Halt gemacht hatte, und lief bald vor dem Liebespaar her, bald folgte er hinterdrein. An der Unterhaltung beteiligte er sich nicht. Das edle, taktvolle Verhalten, das Lord Grenville während der ganzen Reise bewahrte, hatte den Verdacht des Marquis zerstört, und seit einiger Zeit ließ er seiner Frau völlige Freiheit, im Vertrauen auf die punische Treue des Lorddoktors. Arthur und Julie schritten noch immer in der traurigen, schmerzlichen Harmonie ihrer gebrochenen Herzen dahin. Als sie vorhin die Abhänge von Montcontour hinangestiegen waren, hatten alle beide eine unklare Hoffnung, ein unruhiges Glück gefühlt, von dem sie sich nicht Rechenschaft zu geben wagten; aber als sie nun den Damm entlang zu Tal stiegen, hatten sie das gebrechliche Gebäude umgestürzt, das sie in ihrer Phantasie aufgebaut und vor dem sie kaum zu atmen gewagt hatten, wie Kinder, die den Einsturz ihrer Kartenhäuser voraussehen. Sie waren jetzt ohne Hoffnung. Noch an demselben Abend nahm Lord Grenville Abschied. Der letzte Blick, den er auf Julie warf, bewies leider, daß er von dem Augenblick an, wo die Sympathie ihnen die ganze Größe einer so starken Leidenschaft enthüllte, recht gehabt hatte, als er sich selbst nicht mehr traute. Am folgenden Tage saßen Herr und Frau d'Aiglemont ohne ihren Reisegefährten im Wagen und legten rasch denselben Weg zurück, den die Marquise einst im Jahre 1814 schon gefahren war, damals noch unbekannt mit der Verehrung, deren Hartnäckigkeit sie fast verwünscht hatte. Tausend vergebene Eindrücke waren ihr jetzt erinnerlich. Das Herz hat sein Gedächtnis für sich. So unfähig eine Frau auch sein mag, sich der wichtigsten Ereignisse des Lebens zu erinnern, so wird sie doch ihr ganzes Leben lang nicht die Dinge vergessen, die mit ihren Gefühlen zusammenhängen. So entsann sich auch Julie ganz genau selbst völlig belangloser Einzelheiten; sie sah mit Freude die nebensächlichsten Begebenheiten ihrer ersten Reise wieder vor sich, ja sie wußte wieder, was für besondere Gedanken ihr an gewissen Punkten der Reise gekommen waren. Victor war von neuem leidenschaftlich in seine Frau verliebt, seit sie die Frische ihrer Jugend und all ihre Schönheit wiedergefunden hatte. Er schmiegte sich nach Art der Liebenden dicht an sie. Als er versuchte, sie in die Arme zu nehmen, machte sie sich sanft los und fand einen Vorwand, sich dieser unschuldigen Liebkosung zu entziehen. Bald darauf empfand sie Abscheu vor der Berührung Victors, dessen Körperwärme sie empfand und auf sich übergehen fühlte, denn sie saßen eng nebeneinander. Sie wollte sich allein auf den Vordersitz des Wagens setzen, aber ihr Mann war so liebenswürdig, ihr den Fond zu überlassen. Sie dankte ihm für die Aufmerksamkeit mit einem Seufzer, den er falsch auffaßte. Dieser alte Schürzenjäger der Garnison legte die Melancholie seiner Frau zu seinen Gunsten aus, so daß seine Frau sich schließlich gezwungen sah, mit einer Bestimmtheit zu ihm zu reden, die ihm wohl oder übel doch imponierte. »Mein Freund,« sagte sie zu ihm, »Sie hätten mich schon einmal beinahe umgebracht, das wissen Sie. Wenn ich noch ein junges, unerfahrenes Mädchen wäre, dann würde ich das Opfer meines Lebens noch einmal von vorn anfangen. Aber ich bin Mutter, ich habe eine Tochter zu erziehen, und ihr muß ich mich ebenso erhalten wie Ihnen. Fügen wir uns also in ein Unglück, das uns gleichermaßen betrifft. Sie sind dabei noch am wenigsten zu beklagen. Haben Sie nicht Ersatz zu finden gewußt für das, was meine Pflicht, unsere gemeinsame Ehre und vor allem die Natur mir verbieten? Jawohl,« setzte sie hinzu, »Sie haben leichtsinnigerweise in einem Schubkasten drei Briefe der Frau de Sérizy liegen lassen. Mein Schweigen beweist Ihnen, daß ich eine nachsichtige Frau bin, die von Ihnen nicht dasselbe Opfer fordert, zu dem sie durch die Gesetze verurteilt ist; aber ich habe alles reiflich bedacht und bin mir klar darüber geworden, daß unsere Rollen nicht die gleichen sind und das Unglück allein der Frau vorherbestimmt ist. Meine Tugend ruht auf festen, unerschütterlichen Grundsätzen. Ich werde ein untadelhaftes Leben zu führen wissen -- aber lassen Sie mich leben.« Der Marquis war verblüfft über diese Logik, die die Frauen aus dem hellen Buche der Liebe sich anzueignen verstehen, und die gewisse Würde, die ihnen in Krisen dieser Art natürlich ist, zwang ihn ins Joch. Der instinktive Widerwille, den Julie gegen alles bekundete, was ihre Liebe und die Stimme ihres Herzens verletzte, ist eine der schönsten Eigenschaften der Frauen und entspringt vielleicht einer natürlichen Tugend, die weder die Gesetze noch die Zivilisation zum Schweigen bringen. Wer möchte wohl deshalb die Frauen tadeln? Sind sie nicht, wenn sie das zarte Gefühl zum Schweigen bringen, das ihnen verbietet, zwei Männern anzugehören, gewissermaßen wie Prediger, die keinen Glauben haben? Einige strenge Geister werden die Art, wie Julie sich mit ihren Pflichten und mit ihrer Liebe auseinandersetzte, tadeln -- die leidenschaftlichen Seelen werden sie ihr sogar zum Verbrechen anrechnen. Diese allgemeine Mißbilligung klagt entweder das Unglück an, das auf Ungehorsam gegen die Gesetze zu folgen pflegt, oder aber traurige Unvollkommenheiten in den Einrichtungen, auf denen die europäische Gesellschaft beruht. Zwei Jahre verstrichen. Herr und Frau d'Aiglemont führten das Leben der Leute von Welt, jeder ging seines Weges, und in den Salons fremder Leute trafen sie sich öfter als im eigenen Heim. Eine solche vornehme Scheidung ist das Ende sehr vieler Ehen in der großen Gesellschaft. Eines Abends befanden sich die Eheleute seltsamerweise im eigenen Salon beisammen. Frau d'Aiglemont hatte eine ihrer Freundinnen zu Tisch gehabt. Der General, der sonst immer in der Stadt speiste, war zu Hause geblieben. »Sie werden recht glücklich sein, Frau Marquise,« sagte Herr d'Aiglemont und setzte die Tasse, aus der er eben seinen Kaffee getrunken hatte, auf den Tisch. Der Marquis sah mit halb trauriger, halb boshafter Miene Madame de Wimphen an und setzte hinzu: »Ich fahre zu einer langen Jagd -- zusammen mit dem Oberjägermeister. Sie werden mindestens acht Tage lang vollkommen Witwe sein. Das ist ja so Ihr Fall. Denk' ich wenigstens. -- Wilhelm,« sagte er zu dem Diener, der die Tassen wegtrug, »lassen Sie anspannen.« Frau de Wimphen war jene Luise, der Frau d'Aiglemont einst den Rat hatte geben wollen, unverheiratet zu bleiben. Die beiden Frauen warfen sich einen verständnisinnigen Blick zu, der bewies, daß Julie in ihrer Freundin eine Vertraute ihrer Schmerzen, eine kostbare und barmherzige Vertraute gefunden hatte; denn Madame de Wimphen war sehr glücklich verheiratet. Da sie sich in entgegengesetzter Lage befanden, bildete vielleicht das Glück der einen eine Bürgschaft dafür, daß sie sich der andern und ihres Unglücks annehmen werde. In ähnlichen Fällen ist Verschiedenheit des Schicksals fast immer ein mächtiges Freundschaftsband. »Ist denn jetzt Jagdzeit?« fragte Julie, einen gleichgültigen Blick auf ihren Gatten werfend. Es war Ende März. »Madame, der Oberjägermeister jagt, wann er will und wo er will. Wir pirschen in königlichen Forsten auf Wildschweine.« »Sehen Sie sich vor, daß Ihnen nichts passiert.« »Das kann man nie wissen,« antwortete er lächelnd. »Der Wagen des gnädigen Herrn ist bereit,« meldete Wilhelm. Der General erhob sich, küßte Frau de Wimphen die Hand und wandte sich zu Julie. »Madame, wenn ich nun einem Eber zum Opfer falle!« sagte er in bittendem Tone. »Was bedeutet denn das?« fragte Frau de Wimphen. »Nun, kommen Sie,« sagte Frau d'Aiglemont zu Victor. Dann lächelte sie Luise zu, als wollte sie sagen: »Du wirst sehen.« Julie hielt ihrem Manne den Nacken hin, und er trat herzu, sie zu küssen. Da bückte sich aber die Marquise so tief, daß der eheliche Kuß sich in der Rüsche ihres Kragens verlor. »Sie werden es vor Gott bezeugen,« sagte der Marquis, sich an Frau de Wimphen wendend, »ein königlicher Befehl mußte mich erst abrufen, damit ich einmal diese flüchtige Gunst erlange. Und das heißt bei meiner Frau Liebe. So weit hat sie mich gebracht -- ich weiß nicht, durch welche Kunstgriffe ... Viel Vergnügen!« Und er ging hinaus. »Aber dein armer Mann ist wirklich ganz nett,« rief Luise, als die beiden Frauen allein waren. »Er liebt dich.« »O, sprich keine Silbe mehr nach diesem letzten Wort. Der Name, den ich trage, ist mir ein Greuel.« »Aber Victor gehorcht dir doch aufs Wort,« sagte Luise. »Sein Gehorsam,« antwortete Julie, »beruht zum Teil auf der hohen Achtung, die ich ihm eingeflößt habe. Ich bin eine sehr tugendhafte Frau, im Sinne des Gesetzes. Ich mache ihm seine Behausung angenehm, ich drücke, was seine Liebeshändel anbetrifft, ein Auge zu, ich mache keine Schulden auf sein Vermögen, er kann seine Zinsen nach Belieben verprassen; meine Sorge ist nur darauf gerichtet, daß das Kapital unangetastet bleibt. Zu diesen Bedingungen habe ich den Frieden. Mein Leben kann er sich nicht erklären, oder er will sich's nicht erklären. Aber wenn ich in dieser Weise meinen Gatten am Gängelbande habe, so muß ich deswegen doch die Wirkungen seines Charakters fürchten. Ich bin wie ein Bärenführer, der beständig Angst hat, daß eines Tages der Maulkorb reißen könnte. Wenn Victor sich einmal für berechtigt hielte, mich nicht mehr zu achten, so wage ich mir gar nicht auszumalen, was geschehen könnte; denn er ist jähzornig -- voll Eigenliebe -- und vor allem sehr eitel. Sein Geist ist nicht zart und fein genug, um in einer heiklen Angelegenheit sich klug zu verhalten, sobald seine schlimmen Leidenschaften dabei im Spiele sind -- er ist von schwachem Charakter und würde mich vorsätzlich kränken, um morgen vor Gram zu sterben. Ein solches Verhängnis wäre freilich ein Glück -- aber es ist eigentlich leider nicht zu befürchten.« Ein Weilchen schwiegen die beiden Freundinnen -- ihre Gedanken galten den geheimen Ursachen dieser Lage. »Der Gehorsam gegen meine Wünsche ist sogar bis zur Grausamkeit getrieben worden,« fuhr Julie fort, einen verständnisinnigen Blick auf Luise richtend. »Und doch hatte ich _ihm_ nicht verboten, an mich zu schreiben. Ach ja! _Er_ hat mich vergessen, und er hatte recht. Es wäre ein zu großes Unheil gewesen, wenn auch sein Lebensschiff hätte zerschellen müssen. Ist's nicht an dem meinen genug? Glaubst du, meine Liebe, ich lese die englischen Zeitungen, in der einzigen Hoffnung, seinen Namen gedruckt zu finden. Nun, er ist noch nicht im Oberhaus erschienen.« »Also kannst du Englisch?« »Habe ich dir das nicht gesagt? -- ich habe es gelernt.« »Arme Kleine,« rief Luise, Juliens Hand ergreifend. »Aber wie kannst du da noch leben?« »Das ist ein Geheimnis,« antwortete die Marquise und machte unwillkürlich eine Gebärde von fast kindlicher Naivität. »Höre. Ich nehme Opium. Die Geschichte der Herzogin von ... aus London hat mich auf die Idee gebracht. Weißt du, Mathurin hat einen Roman darüber geschrieben. Ich nehme nur ganz schwache Tropfen Laudanum. Es gibt mir Schlaf. Nicht mehr als sieben Stunden bin ich noch wach, und die widme ich nur meiner Tochter.« Luise sah ins Feuer. Sie wagte nicht, ihre Freundin anzusehen, deren ganzes Elend sich jetzt zum erstenmal ihren Blicken enthüllte. »Luise, verrate mich aber nicht,« sagte Julie nach einem Augenblick des Schweigens. Plötzlich brachte ein Diener der Marquise einen Brief. »Ha!« rief sie erbleichend. »Ich frage nicht erst, von wem,« sagte Frau de Wimphen. Die Marquise las und hörte nichts mehr. Ihre Freundin sah die stürmischsten Gefühle, die gefährlichste Aufregung in den Zügen der Frau d'Aiglemont sich abspielen. Julie wurde bald blaß, bald rot und warf schließlich das Papier ins Feuer. »Dieser Brief ist wie ein Flammenherd! Mein Herz! ich ersticke!« Sie erhob sich und schritt auf und ab. Ihre Augen brannten. »So hat er Paris nicht verlassen,« rief sie. Sie stieß die abgerissenen Worte, die Frau de Wimphen nicht zu unterbrechen wagte, in schrecklichen Pausen hervor. Nach jedem Stillstand erklangen die Worte in immer tieferem Ton, und die letzten Sätze hatten etwas Furchtbares. »Er hat mich inzwischen immer wieder gesehen, ohne daß ich es gewußt habe. Jeden Tag hat er einen Blick von mir aufgefangen, und das hat ihn am Leben erhalten. Du weißt nicht, Luise -- er stirbt und bittet darum, mir Lebewohl zu sagen. Er weiß, daß mein Mann heute abend auf mehrere Tage verreist, und er will im Augenblick kommen. O, daran werde ich sterben. Ich bin verloren. Höre, bleibe du bei mir. Vor zwei Frauen wird er es nicht wagen. O, bleib! Ich fürchte mich.« »Aber, mein Mann weiß, daß ich bei dir zu Tisch bin,« antwortete Frau de Wimphen. »Er wird mich holen kommen.« »Gut, ehe du gehst, habe ich ihn weggeschickt. Ich werde uns allen beiden den Tod geben. Ach, er wird glauben, ich liebte ihn nicht mehr. Und dieser Brief! Meine Liebe, er enthielt Sätze, die ich noch in Flammenschrift vor mir sehe!« Ein Wagen rollte vor das Portal. »Ach!« rief die Marquise mit einer gewissen Freude, »er kommt öffentlich und ohne ein Geheimnis daraus zu machen.« »Lord Grenville,« meldete der Diener. Regungslos blieb die Marquise stehen. Als sie aber Arthur sah, der jetzt blaß, mager und abgezehrt war, da war keine Strenge mehr möglich. Obgleich es Lord Grenville tief schmerzte, Julie nicht allein zu finden, erschien er doch ruhig und kalt. Aber für diese beiden in das Geheimnis seiner Liebe eingeweihten Frauen hatte der Klang seiner Stimme, der Ausdruck seiner Blicke etwas von der Macht, die man dem Zitterrochen[1] zuschreibt. [1] Ein Seefisch, der das Vermögen besitzt, elektrische Schläge auszuteilen, teils zu seiner Verteidigung, teils um sich seiner Beute zu bemächtigen. Die Marquise und Frau de Wimphen waren wie betäubt durch die starke Übertragung eines entsetzlichen Schmerzes. Beim Klang der Stimme Lord Grenvilles zitterte Frau d'Aiglemont so heftig, daß sie ihm nicht zu antworten wagte, weil sie ihm damit die Größe der Macht, die er auf sie ausübte, zu enthüllen fürchtete. Lord Grenville seinerseits wagte es nicht, Julie anzusehen, und so mußte Frau de Wimphen fast allein für eine Unterhaltung, die gar kein Interesse hatte, sorgen. Mit einem Blick voll rührender Erkenntlichkeit dankte Julie ihr für die Hilfe, die sie ihr leistete. Auf diese Weise geboten die beiden Liebenden ihren Gefühlen Schweigen und mußten sich in den vorgeschriebenen Grenzen der Pflicht und des gesellschaftlichen Anstandes halten. Bald aber wurde Herr de Wimphen gemeldet. Als sie ihn eintreten sahen, warfen sich die beiden Freundinnen einen Blick zu und begriffen, ohne ein Wort zu sprechen, die neuen Schwierigkeiten der Lage. Es war unmöglich, Herrn de Wimphen das Geheimnis dieses Dramas teilen zu lassen, und Luise hatte keine triftigen Gründe, ihren Mann zu bitten, sie noch länger bei ihrer Freundin bleiben zu lassen. Als Frau de Wimphen ihren Schal umlegte, erhob sich Julie, um ihr dabei behilflich zu sein, und sagte mit leiser Stimme: »Ich werde Mut haben. Wenn er öffentlich zu mir gekommen ist, was habe ich da zu befürchten? Aber wenn du nicht gewesen wärst -- wenn ich ihn allein so verändert gesehen hätte -- ich würde ihm zu Füßen gefallen sein.« »Nun, Arthur, Sie haben mir nicht gehorcht,« sagte Frau d'Aiglemont mit zitternder Stimme und nahm ihren Platz auf einer Causeuse wieder ein. Lord Grenville wagte nicht, sich neben sie zu setzen. »Ich habe mir nicht länger die Wonne versagen können, Ihre Stimme zu hören, bei Ihnen zu sein. Es war ein Wahnsinn, ein Fieber. Ich bin nicht mehr Herr über mich. Ich habe mich über mich selbst konsultiert -- ich bin zu schwach. Ich muß sterben. Aber sterben, ohne Sie gesehen zu haben -- ohne das Rauschen Ihres Kleides gehört zu haben -- ohne Ihre Tränen aufgefangen zu haben -- was wäre das für ein Tod!« Er wollte sich von Julie entfernen -- aber bei einer raschen Bewegung fiel ihm eine Pistole aus der Tasche. Die Marquise sah diese Waffe, und im Augenblick schien ihr alle Besinnung, alle Denkkraft genommen zu sein. Lord Grenville hob die Pistole auf und schien sehr verdrossen über diesen Zufall, der vielleicht als Berechnung eines unglücklichen Liebhabers aufgefaßt werden konnte. »Arthur?« fragte Julie. »Gnädige Frau,« antwortete er, die Augen niederschlagend, »ich kam in Verzweiflung her -- ich wollte --« Er hielt inne. »Sie wollten sich bei mir töten!« rief sie. »Nicht allein,« antwortete er mit sanfter Stimme. »Wie? Vielleicht auch meinen Mann?« »Nein, nein!« rief er mit erstickter Stimme. »Aber beruhigen Sie sich,« setzte er hinzu, »mein unheilvoller Plan ist verraucht. Als ich eintrat, als ich Sie sah, da fühlte ich von neuem den Mut, zu schweigen, allein zu sterben.« Julie erhob sich und warf sich in Arthurs Arme, der trotz des heftigen Schluchzens seiner Geliebten zwei wilde, leidenschaftliche Worte verstehen konnte: »Das Glück kennen lernen und dann sterben,« sagte sie. »Das -- ja!« Die ganze Geschichte Juliens lag in diesem tiefen Aufschrei -- dem Schrei der Natur und der Liebe, der Frauen ohne Religion erliegen. Arthur ergriff sie und trug sie mit der stürmischen Inbrunst, die ein unverhofftes Glück entfacht, zum Diwan. Aber plötzlich riß sich die Marquise aus den Armen des Geliebten, warf ihm den starren Blick einer verzweifelten Frau zu, nahm ihn bei der Hand, ergriff einen Leuchter und zog ihn mit sich in das Schlafzimmer. Leise zog sie von dem Bett, wo Helene schlief, die Vorhänge weg, so daß man ihr Kind sah -- sie hielt eine Hand vor die Kerze, damit nicht das Licht den durchscheinenden, kaum geschlossenen Lidern des kleinen Mädchens wehe täte. Helene lag mit ausgebreiteten Armen da und lächelte im Schlafe. Mit einem Blick zeigte Julie Lord Grenville ihr Kind. Dieser Blick sagte alles. »Einem Manne können wir selbst untreu werden, auch wenn er uns lieb hat. Ein Mann ist ein starkes Geschöpf und findet Trost. Die Gesetze der Welt können wir verachten. Aber ein Kind ohne Mutter --!« Alle diese Gedanken und tausend noch weit zärtlichere lagen in diesem Blick. »Wir können sie mit uns nehmen,« murmelte der Engländer. »Ich werde sie sehr lieb haben.« »Mama!« rief Helene, erwachend. Bei diesem Worte zerfloß Julie in Tränen. Lord Grenville setzte sich, kreuzte die Arme und sah stumm und finster vor sich hin. »Mama!« Dieser frohe, naive Ruf erweckte so viele edeln, unwiderstehlichen Gefühle, daß die Liebe auf einen Augenblick unter der mächtigen Stimme der Mutterschaft erdrückt wurde. Julie war nicht mehr Weib, sie war Mutter. Lord Grenville widerstand nicht mehr -- Juliens Tränen warfen ihn nieder. In diesem Augenblick hörte man, wie eine Tür ungestüm geöffnet wurde, und die Worte: »Frau d'Aiglemont, bist du hier?« widerhallten wie ein Donnerschlag im Herzen des Liebespaares. Der Marquis war zurückgekommen. Ehe Julie die Geistesgegenwart gewinnen konnte, kam der General aus seinem Zimmer und näherte sich dem seiner Frau. Diese beiden Zimmer hingen zusammen. Zum Glück gab Julie Lord Grenville rasch ein Zeichen, und der Engländer sprang in eine Toilette, deren Tür die Marquise geschwind schloß. »Nun, meine Gemahlin,« sagte Viktor, »da bin ich wieder. Die Jagd findet nicht statt. Ich will schlafen gehen.« »Gute Nacht,« sagte sie zu ihm. »Das will ich eben auch tun. Laß mich also allein -- ich bin beim Auskleiden.« »Du bist recht unzart heute abend -- doch ich gehorche Ihnen, Frau Marquise.« Der General kehrte in sein Zimmer zurück. Julie begleitete ihn, um die Verbindungstür zu schließen, und eilte dann, Lord Grenville zu befreien. Sie gewann alle Geistesgegenwart wieder und dachte, der Besuch ihres alten Arztes sei schließlich ganz natürlich. Sie konnte ihn ja im Salon zurückgelassen haben, um erst ihre Tochter zu Bett zu bringen; sie wollte ihm nun sagen, er solle sich geräuschlos dorthin begeben. Aber als sie die Tür des Kabinetts öffnete, schrie sie laut auf. Die Finger Lord Grenvilles waren in die Türspalte geraten und zermalmt worden. »He, was hast du denn?« rief ihr Mann herüber. »Nichts,« antwortete sie, »ich habe mich mit einer Nadel in den Finger gestochen.« Die Verbindungstür öffnete sich plötzlich wieder. Die Marquise glaubte, ihr Mann käme aus Interesse für sie, und verwünschte diese Besorgtheit, an der das Herz ja doch keinen Anteil hatte. Sie hatte kaum Zeit, die Toilette zu schließen, und Lord Grenville hatte seine Hand noch nicht befreien können. Der General kam in der Tat wieder herein; aber die Marquise irrte sich -- eine plötzliche Mißhelligkeit führte ihn her. »Kannst du mir ein seidenes Halstuch leihen? Der dumme Charles hat mir nicht ein einziges Kopftuch hingelegt. Am Anfang unserer Ehe hast du dich um meine Sachen mit so peinlicher Sorge bekümmert, daß es mir sogar zuviel wurde. Ach, der Honigmond hat weder für mich noch für meine Halstücher lange gedauert. Jetzt bin ich ganz und gar auf diese steinalten Kammerdiener angewiesen, die mit mir umgehen, wie sie Lust haben.« »Hier ist ein Halstuch. Sie sind nicht in den Salon gegangen?« »Nein.« »Sie würden dort vielleicht Lord Grenville noch getroffen haben.« »Ist er in Paris?« »Augenscheinlich.« »O, so geh ich hin -- dieser gute Doktor --« »Aber jetzt muß er schon gegangen sein,« rief Julie. Der Marquis stand in diesem Augenblick mitten im Zimmer seiner Frau und wickelte sich das Tuch um den Kopf, wobei er sich wohlgefällig im Spiegel betrachtete. »Ich weiß gar nicht, wo unsere Leute sind,« sagte er. »Ich habe dreimal nach Charles geklingelt -- er ist nicht gekommen. Du bist also auch ohne deine Kammerfrau? Klingle nach ihr -- ich möchte heute nacht noch eine Decke mehr im Bett haben.« »Pauline ist fortgegangen,« antwortete die Marquise trocken. »Um Mitternacht?« sagte der General. »Ich habe ihr erlaubt, in die Oper zu gehen.« »Sonderbar,« versetzte der Mann, indem er sich völlig entkleidete. »Mir war doch so, als hätte ich sie die Treppe hinaufgehen sehen.« »Dann ist sie ohne Zweifel zurückgekehrt,« sagte Julie und tat, als sei sie dieses Gesprächs nun überdrüssig. Um keinen Verdacht bei ihrem Gatten zu erwecken, zog die Marquise dann die Klingel, doch ganz schwach. Die Ereignisse dieser Nacht sind nicht vollauf bekannt geworden; aber alle mußten ebenso einfach, doch auch ebenso entsetzlich gewesen sein -- wie es die gewöhnlichen häuslichen Vorfälle sind, die vorangegangen waren. Am folgenden Tage legte die Marquise d'Aiglemont sich auf mehrere Tage ins Bett. »Was ist denn nur Außergewöhnliches bei dir geschehen, daß alle Welt von deiner Frau spricht?« fragte Herr de Ronquerolles Herrn d'Aiglemont ein paar Tage nach dieser an Katastrophen reichen Nacht. »Glaube mir, bleib Junggeselle,« antwortete d'Aiglemont. »Helenens Bett hat Feuer gefangen; meine Frau ist darüber fast zu Tode erschrocken, daß sie nun wieder auf ein Jahr krank ist, wie der Arzt sagt. Heiratest du eine hübsche Frau, so wird sie häßlich; heiratest du eine Frau in blühender Gesundheit, so wird sie kränklich. Du hältst sie für leidenschaftlich -- sie ist aber kalt. Oder aber sie ist, wenn auch äußerlich kalt, doch so leidenschaftlich, daß sie dich umbringt oder dir Schande macht. Bald wird das sanfteste Geschöpf eine Kratzbürste -- na, und eine Kratzbürste wird nie wieder weich. Bald entfaltet das Kind, das du für schwach und einfältig gehalten hast, dir gegenüber eine eiserne Willenskraft, einen dämonischen Geist. Ich habe die Ehe satt.« »Oder die Frau.« »Schwer zu sagen. Übrigens, kommst du mit in die Kirche zum Heiligen Thomas von Aquino? Ich will mir die Beerdigung Lord Grenvilles ansehen.« »Ein sonderbarer Zeitvertreib. Aber,« fuhr Ronquerolles fort, »weiß man genau, woran er gestorben ist?« »Sein Kammerdiener behauptet, Mylord habe die ganze Nacht über draußen auf einem Fenstersims sitzen müssen, um seine Geliebte nicht um die Ehre zu bringen. Und um diese Zeit ist es verteufelt kalt gewesen!« »Eine solche Aufopferung wäre bei uns andern, bei uns alten Praktikern sehr anerkennenswert -- aber Lord Grenville war so jung, und -- ein Engländer. Diese Engländer müssen immer was Apartes haben.« »Bah!« versetzte d'Aiglemont, »solcher Heroismus hängt ganz von der Frau ab, die ihn uns einflößt, und für meine Frau ist der arme Arthur ganz gewiß nicht gestorben!« 2. Kapitel. Ungekannte Leiden. Zwischen dem Flüßchen Loing und der Seine erstreckt sich eine weite Ebene, begrenzt von dem Walde von Fontainebleau und von den Ortschaften Moret, Nemours und Montereau. Dieses trockene Land weist nur ein paar vereinzelte Hügel auf; hier und dort liegen mitten auf den Feldern kleine Waldvierecke, die dem Wild zur Zuflucht dienen, sonst sieht man überall nur die grauen oder gelblichen Linien ohne Ende, die den Horizonten der Sologne, der Beauce und des Berri eigentümlich sind. In der Mitte dieser Ebene, zwischen Moret und Montereau, sieht der Reisende ein altes Schloß. Saint-Lange heißt es, und seine Lage ist von einer gewissen Großartigkeit, ja Majestät. Hier gibt es herrliche Ulmenalleen, Gräben, lange Umfassungsmauern, große Gärten, weitläufige Herrenhäuser, bei deren Erbauung es dem Anschein nach nur auf den Vorteil der Steuerverwaltung oder der Generalpächter abgesehen war. Wenn der Künstler oder ein Träumer sich zufällig in den tief ausgefahrenen Wegen oder in dem zähen Lehmboden verirrt, der den Zugang zu diesem Lande erschwert, so fragt er sich, durch welchen Zufall dieses poetische Schloß in diese Savanne von Getreide, in diese Wüste von Kreide, Mergel und Sand geraten ist, wo der Frohsinn stirbt, wo unfehlbar Traurigkeit uns befallen muß, wo die Seele unaufhörlich von einer Einsamkeit ohne Stimmen, von einem eintönigen Horizont, von negativen Schönheiten ermüdet wird -- wo alles dem Kummer Vorschub leistet, der keinen Trost mehr wünscht. Eine junge Frau, die in Paris wegen ihrer Schönheit und ihres Geistes gefeiert worden war, deren Vermögen mit ihrer Berühmtheit in Einklang stand, ließ sich zum großen Erstaunen des etwa eine Meile von Saint-Lange gelegenen Dörfchens gegen Ende des Jahres 1820 hier häuslich nieder. Die Pächter und die Bauern hatten seit undenklichen Zeiten niemals mehr eine Herrschaft auf dem Schlosse gesehen. Das Land, obwohl von beträchtlicher Ergiebigkeit, war der Obhut eines Verwalters überlassen und wurde von alten Dienern besorgt. Die Ankunft der Frau Marquise versetzte daher die ganze Gegend in Aufregung. Mehrere Personen hatten sich am Ende des Dorfes im Hofe einer dürftigen Herberge aufgestellt, die am Schnittpunkt der Straßen von Nemours und Moret lag. Hier sahen sie eine Kalesche vorüberkommen, die ziemlich langsam fuhr, denn die Marquise war von Paris her zu Wagen gekommen. Auf dem Vordersitz hielt die Kammerfrau ein kleines Mädchen, das mehr nachdenklich als vergnügt schien. Die Mutter ruhte im Fond des Wagens, wie eine Kranke, die von den Ärzten aufs Land geschickt wird. Das tieftraurige Gesicht dieser jungen, zarten Frau befriedigte die Dorfpolitiker gar nicht; denn sie hatten aus ihrer Ankunft in Saint-Lange die Hoffnung geschöpft, daß es in der Gemeinde nun »ein Leben« werden würde. Gewiß war Leben und Treiben dieser sichtlich von Schmerzen befallenen Frau durchaus zuwider. Der klügste Kopf von Saint-Lange erklärte am Abend in der Schenke, und zwar in der Stube, wo der Stammtisch der Honoratioren sich befand, nach dem Ausdruck von Trauer zu schließen, den das Gesicht der Frau Marquise unverkennbar zur Schau trüge, müsse sie eine ruinierte Frau sein. In Abwesenheit des Herrn Marquis, von dem die Zeitungen berichtet hatten, er müsse den Herzog von Angoulème nach Spanien begleiten, wolle sie nun jedenfalls aus Saint-Lange die erforderlichen Summen herauswirtschaften, um die infolge falscher Börsenspekulationen entstandenen Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Der Marquis sei einer der tollsten Spieler. Vielleicht sollte das Land parzellenweise verkauft werden. Da könnte man dann noch »seinen Schnitt« machen. Jeder sollte nur dran denken, seine Taler zu zählen, sie aus der Schatulle nehmen und alle Mittel zusammenholen, um sein Teilchen einzuheimsen, wenn Saint-Lange losgeschlagen würde. Diese Zukunft erschien so rosig, daß alle Honoratioren vor Neugierde entbrannten, zu erfahren, ob die Sache sich wirklich so verhielte. Sie sannen nun auf Mittel, von den Schloßleuten die Wahrheit zu erforschen; aber von diesen konnte niemand etwas Genaueres über die Katastrophe sagen, die ihre Herrin zu Beginn des Winters auf ihr altes Schloß Saint-Lange führte, wo sie doch andere Ländereien besaß, die wegen ihrer anmutigen Lage und schönen Gärten berühmt waren. Der Herr Bürgermeister kam, um der gnädigen Frau seine Huldigung darzubringen, aber er wurde nicht vorgelassen. Nach dem Bürgermeister versuchte es der Verwalter -- doch mit dem gleichen Mißerfolg. Die Frau Marquise verließ ihr Zimmer nur, um es herrichten zu lassen, und blieb während dieser Zeit in einem kleinen anstoßenden Salon, wo sie speiste, wenn man ihre Art zu essen so nennen konnte; denn sie setzte sich nur an den Tisch, betrachtete die Gerichte mit Widerwillen und nahm genau nur so viel zu sich, wie sie brauchte, um nicht Hungers zu sterben. Dann kehrte sie sogleich zu dem antiken Lehnstuhl zurück, in dem sie vom Morgen an in der Nische des einzigen Fensters saß, das dem Zimmer Licht spendete. Sie sah ihre Tochter nur während der wenigen Augenblicke, die sie sich zu ihrem traurigen Mahle vergönnte, und auch dann schien sie sie nur mit Mühe um sich zu dulden. Mußten es nicht unerhörte Schmerzen sein, die bei einer jungen Frau das mütterliche Fühlen unterdrücken konnten? Von ihren Leuten erhielt niemand Zutritt zu ihr. Ihre Kammerfrau war die einzige Person, von der sie sich gern bedienen ließ. Sie verlangte völlige Ruhe im ganzen Schlosse, selbst ihre Tochter mußte weitab von ihr spielen. Es war ihr so schwer, auch nur das geringste Geräusch zu ertragen, daß jede menschliche Stimme, selbst die ihres Kindes, sie unangenehm berührte. Die Landleute beschäftigten sich erst viel mit den Eigentümlichkeiten der »Gnädigen«, doch als alle möglichen Mutmaßungen erschöpft waren, dachten weder die Dörfchen der Umgebung noch die Bauern mehr an die kranke Frau. Die Marquise, sich selbst überlassen, konnte sich nun ganz ihrer Schweigsamkeit hingeben, inmitten der Stille, die sie um sich her geschaffen hatte. Sie hatte keine Veranlassung, das mit Tapeten überspannte Zimmer zu verlassen, darin ihre Großmutter gestorben war und wohin sie nun gekommen war, um einen sanften Tod zu erleiden, ohne Zeugen, ohne Störungen, ohne falsches Beileid egoistischer Menschen, das in den Städten die Todesqual des Sterbenden verdoppelt. Diese Frau war sechsundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter kostet eine noch von poetischen Illusionen erfüllte Seele gern den Tod, wenn er ihr als Wohltat erscheint. Aber der Tod ist gegen junge Leute kokett. Er kommt heran und geht wieder, zeigt sich und versteckt sich. Seine Langsamkeit nimmt ihm in ihren Augen allen Zauber, und die Ungewißheit, ob sie morgen noch leben werden, treibt sie schließlich wieder in die Welt, wo sie dem Schmerz wieder begegnen werden, der unerbittlicher ist als der Tod und seine Geißel über ihnen schwingt, ohne auf sich warten zu lassen. Die Frau, die sich also vom Leben abschloß, sollte denn auch in ihrer Einsamkeit alle Bitternis dieser vergeblichen Todessehnsucht kennen lernen -- sie sollte in einer moralischen Agonie, der der Tod kein Ende machte, eine furchtbare Lehrzeit des Egoismus durchmachen, die die Blume ihres Herzens ganz entblättern und es für die Gesellschaft tauglich machen sollte. Diese grausame, traurige Lehre ist immer die Frucht unserer ersten Schmerzen. Es war das erste und vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben, daß die Marquise wahrhaft litt. Sollte es nicht in der Tat ein Irrtum sein, zu glauben, die Gefühle entständen immer aufs neue? Sind sie nicht, einmal erschlossen, auf die Dauer im Grunde unseres Herzens vorhanden? Dort schlummern sie ein oder werden wach, wie es die Zufälle des Lebens mit sich bringen; aber sie bleiben, und ihr Vorhandensein gibt notwendigerweise der Seele Form. So kann jedes Gefühl nur _einen_ Haupttag haben -- den mehr oder minder langen Tag seines ersten Sturmes. So kann der Schmerz, das beständigste unserer Gefühle, nur wenn er uns zum erstenmal befällt, heftig sein, und seine andern Angriffe müssen immer schwächer werden, teils deshalb, weil wir uns an sein Wiederkommen gewöhnen, teils infolge eines Naturgesetzes. Die Natur nämlich, um sich lebend zu erhalten, setzt dieser zerstörenden Kraft eine gleich große, sehr zähe Kraft entgegen, die aus den Berechnungen der Ichsucht entspringt. Aber welchem von allen Leiden gebührt nun eigentlich der Name »Schmerz?« Der Verlust der Eltern ist ein Kummer, auf den die Natur die Menschen vorbereitet hat; das physische Weh ist vorübergehend und reicht nicht an die Seele; und wenn es andauert, so hört es auf, ein Weh zu sein, und wird zum Tode. Wenn eine junge Frau ein neugeborenes Kind verliert, so wird die eheliche Liebe ihr bald einen Nachfolger bescheren. Dieser Kummer ist also auch vorübergehend. Gewiß sind diese Leiden und viele ähnliche in gewissem Sinne Schläge, Wunden; aber keines berührt die Lebensfähigkeit in ihrem Kern, und sie müßten in unnatürlicher Raschheit aufeinander folgen, sollten sie das Gefühl ertöten, das uns treibt, dem Glück nachzugehen. Der große, wahre Schmerz ist also ein so mörderisches Leiden, daß es zu gleicher Zeit die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft befällt, keinen Teil des Lebens unversehrt läßt, das Denken auf ewig aus den Fugen bringt, seinen Namenszug unauslöschlich auf die Lippen und die Stirn schreibt, die Quellen der Freude zuschüttet und in die Seele einen grundsätzlichen Ekel einpflanzt, der uns dann alles und jedes auf dieser Welt verleidet. Um unermeßlich zu sein, um in dieser Weise auf Seele und Leib zu lasten, muß dieses Leid uns in einem Augenblick des Lebens ereilen, wo alle Kräfte der Seele und des Leibes noch jung sind, muß er ein Herz in voller Lebenskraft zerschmettern. Dann macht das Leid eine breite Wunde; groß ist der Schmerz, und kein Wesen kann aus dieser Krankheit ohne irgendeine poetische Veränderung hervorgehen. Entweder nimmt es den Weg gen Himmel, oder wenn es hienieden bleibt, so kehrt es in die Welt zurück, um die Welt zu belügen, ihr Komödie vorzuspielen. Es kennt nun die Kulisse, die man betritt, um mit Berechnung zu weinen, zu scherzen. Nach dieser feierlichen Krise gibt es keine Geheimnisse mehr im Gesellschaftsleben, über das man sich von da ab ein unwiderrufliches Urteil gebildet hat. Bei den jungen Frauen im Alter der Marquise wird dieser erste, einschneidendste aller Schmerzen immer durch das gleiche Geschehnis verursacht. Die Frau, und vor allem die junge Frau, die ebenso groß an Seele wie an Schönheit ist, wird jederzeit dort ihr Leben einsetzen, wohin Natur, Gesellschaft oder Neigung sie stellen -- und sie wird ihr Leben ganz einsetzen. Wenn dieses Einsetzen ein Fehlschlag ist, ohne daß sie das Leben dabei verliert, so empfindet sie die grausamsten Schmerzen, weil ja eben die erste Liebe das schönste aller Gefühle ist. Warum hat dieses Unglück noch keinen Maler oder Poeten gefunden? Aber kann es gemalt, kann es besungen werden? Nein, die Natur der Schmerzen, die es erregt, entzieht sich der Analyse und den Farben der Kunst. Und dann sind diese Schmerzen auch noch nie offenbart und mitgeteilt worden. Wenn man ein Weib darin trösten will, muß man sie erraten; denn immer werden sie mit bitterer Wonne gehegt und fromm genährt, und sie bleiben am Grunde der Seele -- wie eine Lawine, die in ein Tal gestürzt ist, alles vor sich her niederwirft, um sich Platz darin zu schaffen. Die Marquise litt jetzt an diesen Schmerzen, die lange Zeit ungekannt bleiben werden, weil alles auf der Welt sie verwünscht, während das Gefühl sie hegt und pflegt und das Gewissen eines echten Weibes sich immer das Recht zuspricht, sie zu hegen. Es verhält sich mit diesen Schmerzen, wie mit unrettbar aus dem Leben ausgestoßenen Kindern, an denen das Herz der Mutter dennoch inniger hängt als an den glücklicher begabten Kindern. Noch nie vielleicht war diese Katastrophe, die uns für alles Leben der Außenwelt ganz unzugänglich macht, so heftig, so vollständig, so grausam vergrößert durch die Verhältnisse, wie im Falle der Marquise. Ein geliebter, junger edelsinniger Mann, dessen Wünsche sie nie befriedigt hatte, um nicht gegen die Gesetze der Welt zu verstoßen, war gestorben, um ihr das zu retten, was die Gesellschaft die »weibliche Ehre« nennt. Wem konnte sie nun gestehen: »Ich leide!« Ihre Tränen hätten ihren Mann beleidigt, die erste Ursache der Katastrophe. Die Gesetze, die Sitten verboten ihr die Klage; eine Freundin hätte sich daran geweidet, ein Mann darauf spekuliert. Nein, die arme Trauernde konnte nur in einer Wüste nach Herzenslust weinen, ihre Leiden aufsaugen oder von ihnen verzehrt werden, selbst sterben oder etwas in sich töten, vielleicht ihr Gewissen. Seit einigen Tagen heftete sie die Augen beständig auf einen flachen Horizont, wo es, wie in ihrem zukünftigen Leben, nichts zu suchen, nichts zu hoffen gab, wo alles auf einen Blick zu übersehen war und wo sie die Abbilder der kalten Verödung erblickte, die ihr unaufhörlich das Herz zerriß. Die nebeligen Vormittage, ein Himmel von matter Helligkeit, dicht über der Erde hinziehende Wolken -- das entsprach den Phasen ihrer seelischen Krankheit. Ihr Herz war nicht gebrochen und auch nicht mehr oder weniger abgestorben; nein, unter der langsamen Einwirkung eines unerträglichen Schmerzes -- unerträglich, weil er zwecklos war -- wurde ihre frische, blühende Natur zu Stein. Sie litt durch sich und für sich. Heißt also leiden nicht schon mit einem Fuß im Egoismus stehen? So zogen denn auch furchtbare Gedanken durch ihr Gewissen und verletzten es. Sie prüfte sich selbst ehrlich und fand eine Doppelnatur in sich. Sie hatte in sich ein Weib, das nicht mehr dulden wollte. Sie versetzte sich zurück in die Freuden ihrer Kindheit, deren Glückseligkeit sie kaum empfunden hatte und deren klare Bilder nun in Menge auftauchten, wie um ihr die Schuld an dem Trugwerk einer in den Augen der Welt anständigen, in Wahrheit entsetzlichen Ehe beizumessen. Daß sie in ihrer Jugend von zarter Schamhaftigkeit gewesen, daß sie sich in der Sinnenlust Zwang auferlegt, daß sie der Welt dennoch Opfer gebracht hatte -- welchen Gewinn hatte sie nun davon gehabt? Obwohl alles in ihr von Liebe sprach und Liebe erwartete, fragte sie sich doch, wozu jetzt die Harmonie ihrer Bewegungen, ihr Lächeln und ihre Anmut noch da seien. Sie fühlte sich nicht mehr gern frisch und üppig, wie man etwa einen zwecklos wiederholten Ton nicht gern hat. Ihre Schönheit selbst war ihr unerträglich, wie ein nutzloser Gegenstand. Sie sah mit Entsetzen voraus, daß sie in Zukunft nicht mehr ein in sich vollendetes Wesen sein könnte. Hatte ihr inneres Ich nicht die Fähigkeit eingebüßt, die Eindrücke mit jener köstlichen Unschuld aufzunehmen, die dem Leben so viel keusche Freude verleiht? In Zukunft mußten die meisten Eindrücke in ihr, kaum aufgenommen, auch schon wieder verwischt sein, und viele von denen, die sie einstmals ergriffen hätten, würden ihr dann gleichgültig werden. Nach der Kindheit des Leibes kommt die Kindheit des Herzens. Ihr Geliebter hatte diese zweite Kindheit mit in sein Grab genommen. An Begierden noch jung, hatte sie doch nicht mehr die völlige Jugend der Seele, die allem im Leben ihren Wert und ihre Würze mitteilt. Mußte sie nicht den Grundsatz, traurig zu sein, und allem zu mißtrauen, im Herzen behalten -- einen Hang, der ihren Regungen den frischen Schwung, den hinreißenden Zauber rauben mußte? Denn nichts konnte ihr mehr das Glück geben, das sie erhofft, das sie sich so schön erträumt hatte. Ihre ersten, echten Tränen löschten das himmlische Feuer aus, das die ersten Regungen des Herzens bestrahlt, und sie mußte immer daran kranken, nicht zu sein, was sie hätte sein können. Aus diesem Glauben muß der bittere Ekel hervorgehen, der dazu führt, daß man sich abwendet, wenn eine neue Freude sich zeigt. Sie beurteilte jetzt das Leben wie ein Greis, der bereit ist, es zu verlassen. Obgleich sie sich jung fühlte, lastete die Masse ihrer freudlosen Tage schwer auf ihrer Seele, drückte sie nieder und machte sie vor der Zeit alt. Mit einem Schrei der Verzweiflung fragte sie die Welt, was sie ihr zum Ersatz für die Liebe gäbe, die ihr das Leben erhalten und die sie verloren hatte. Sie fragte sich, ob in ihrer erloschenen, so keuschen und reinen Liebe der Gedanke nicht noch verbrecherischer gewesen sei, als die Tat es hätte sein können. Es war ihr ein Genuß, sich als schuldig hinzustellen, um der Welt Trotz zu bieten und sich dafür zu trösten, daß die Welt nicht ebenso wie sie jene vollkommene Seelengemeinschaft beweinte, die den Schmerz der Hinterbliebenen lindert, weil sie in ihr der Zuversicht sein kann, das Glück nicht nur ganz genossen, sondern auch voll gespendet zu haben und in sich ein treues Bild des Verblichenen zu bewahren. Sie war unzufrieden wie eine Schauspielerin, die mit ihrer Rolle durchgefallen ist, denn dieser Schmerz griff alle Fibern, Herz und Kopf an. War ihre Natur in ihren intimsten Wünschen verletzt, so war damit ihre Eitelkeit nicht minder verwundet wie die Gutherzigkeit, die allein eine Frau zu einem Opfer bewegen kann. Dadurch, daß sie alle Fragen verwarf, alle Hebel der verschiedenen Stellungen in Bewegung setzte, die uns die verschiedenen Naturen, die soziale, moralische und physische anweisen, erschlaffte sie die seelischen Kräfte so sehr, daß sie sich in den widersprechendsten Betrachtungen verirrte und auf keinen Ausweg mehr kam. Daher öffnete sie manchmal, wenn der Nebel fiel, ihr Fenster und blieb gedankenlos davor stehen. Mechanisch atmete sie den feuchten, erdigen Geruch ein, der in der Luft verbreitet war. Sie stand regungslos da -- wie eine Irrsinnige -- denn die Wirrnis ihres Schmerzes machte sie gegen die Harmonie in der Natur wie für die Wonne des Denkens in gleichem Maße stumpf. Eines Tages, gegen Mittag -- die Sonne hatte gerade heiteres Wetter geschaffen -- trat die Kammerfrau, ohne befohlen zu sein, herein und sagte zu ihr: »Da kommt nun zum vierten Male der Herr Pfarrer und will die Frau Marquise sprechen, und er besteht heute so fest entschlossen darauf, daß wir nicht mehr wissen, was wir ihm antworten sollen.« »Er will ohne Zweifel etwas Geld für die Armen der Gemeinde, nehmen Sie fünfhundert Louis und bringen Sie sie ihm in meinem Namen.« »Gnädige Frau,« sagte die Dienerin, einen Augenblick später zurückkommend, »der Herr Pfarrer will das Geld nicht nehmen und wünscht, Sie zu sprechen.« »So mag er kommen!« antwortete die Marquise, mit einer Gebärde des Unwillens, die dem Priester einen traurigen Empfang verkündete. Sie wollte sich ohne Zweifel durch eine kurze, offene Erklärung gegen seine weiteren Zudringlichkeiten schützen. Die Marquise hatte ihre Mutter in sehr jungen Jahren verloren, und die Lockerung, die während der Revolution die religiösen Bande in Frankreich erfuhren, hatte naturgemäß auch auf ihre Erziehung Einfluß gehabt. Die Frommheit ist eine frauliche Tugend, die Frauen allein aufeinander übertragen, und die Marquise war ein Kind des 18. Jahrhunderts, zu dessen philosophischem Glauben ihr Vater sich bekannt hatte. Sie nahm keine religiösen Übungen vor. Für sie war ein Priester ein öffentlicher Beamter, dessen Nützlichkeit ihr anfechtbar erschien. In ihrer Lage konnte die Stimme der Religion ihre Leiden nur noch verbittern; und dann glaubte sie auch überhaupt nicht an Dorfpfaffen, ebensowenig wie an deren Erleuchtungen; sie beschloß daher, den ihren auf seinen Platz zu verweisen, in aller Ruhe und Freundlichkeit. Nach Art der Reichen, gedachte sie sich seiner durch eine Wohltat zu entledigen. Der Pfarrer kam, und sein Aussehen war nicht geeignet, der Marquise andere Begriffe einzuflößen. Sie sah einen dicken, kleinen Mann mit vorspringendem Bauch, rotem, doch altem und runzligem Gesicht, der zu lächeln versuchte, doch nur schlecht damit zustande kam. Sein kahler, von zahlreichen Querfalten gefurchter Schädel war so weit, daß man einen Viertelkreis davon übersehen konnte, nach vornüber geneigt, was sein Gesicht noch kleiner erscheinen ließ. Den untern Teil des Kopfes überm Nacken rahmten ein paar weiße Haare ein, deren man auch vorn an den Ohren noch einige sah. Nichtsdestoweniger war die Physiognomie dieses Priesters die eines von Natur vergnügten Menschen gewesen. Seine dicken Lippen, seine leicht aufgeworfene Nase, sein in Doppelfalten verschwindendes Kinn bekundeten einen glücklichen Charakter. Die Marquise bemerkte zuerst nur die Hauptzüge, aber bei dem ersten Wort, das der Priester zu ihr sprach, war sie überrascht, eine so sanfte Stimme zu hören; sie sah ihn aufmerksamer an und bemerkte unter seinen grau werdenden Brauen Augen, die geweint hatten. Der Umriß seiner Wange, von der Seite gesehen, verlieh seinem Haupte einen so erhabenen Ausdruck des Schmerzes, daß die Marquise in diesem Pfarrer »einen Menschen« erkannte. »Frau Marquise, die Reichen gehören nur dann zu uns, wenn sie leiden; und die Leiden einer verheirateten, jungen, schönen und reichen Frau, die weder Kinder noch Angehörige verloren hat, lassen sich erraten und werden durch Wunden verursacht, deren Zuckungen nur durch die Religion gelindert werden können. Ihre Seele ist in Gefahr, gnädige Frau. Ich spreche zu Ihnen in diesem Augenblick nicht von dem andern Leben, das unser harrt. Nein, ich bin hier nicht im Beichtstuhl. Aber gehört es nicht auch zu meiner Pflicht, Sie über die Zukunft Ihres gesellschaftlichen Lebens aufzuklären? Sie werden also einem Greise verzeihen, wenn er zudringlich war -- es geschieht nur Ihres Glückes wegen.« »Das Glück, mein Herr, ist für mich nicht mehr da. Ich werde bald zu Ihnen gehören, wie Sie sich ausdrücken, und zwar für immer.« »Nein, gnädige Frau, an dem Schmerz, der Sie bedrückt und sich in Ihren Zügen ausspricht, werden Sie nicht sterben. Wenn Sie daran hätten sterben sollen, so würden Sie nicht in Saint-Lange sein. Wir gehen an den Wirkungen eines gewissen Kummers nie so leicht zugrunde wie an betrogenen Hoffnungen. Ich habe weit unerträglichere, weit schrecklichere Schmerzen kennen gelernt, die doch nicht zum Tode geführt haben.« Die Marquise machte eine Gebärde des Zweifels. »Gnädige Frau, ich kenne einen Mann, dessen Unglück so groß war, daß Ihre Schmerzen Ihnen unbedeutend erscheinen würden, wenn Sie sie mit den seinen verglichen ...« Ob nun die lange Einsamkeit ihr schon lästig wurde, ob sie durch die Aussicht, einem Freundesherzen ihre schmerzlichen Gedanken anvertrauen zu können, angenehm berührt wurde, jedenfalls betrachtete sie den Pfarrer mit einer fragenden Miene, die dieser unmöglich mißdeuten konnte. »Gnädige Frau,« fuhr der Priester fort, »dieser Mann war ein Vater, dem von einst zahlreicher Familie nur drei Kinder geblieben waren. Er hatte nacheinander die Eltern verloren, dann eine Tochter und eine Frau. Er blieb allein, tief in der Provinz, auf einem kleinen Gute, wo er lange Zeit glücklich gewesen war. Seine drei Söhne waren beim Heer, und jeder hatte einen seiner Dienstzeit entsprechenden Rang erlangt. In den hundert Tagen kam der älteste zur Garde und wurde Oberst; der zweite war Bataillonschef bei der Artillerie, und der jüngste hatte den Rang eines Hauptmanns bei den Dragonern. Gnädige Frau, diese drei Jungen liebten ihren Vater ebenso innig, wie sie von ihm geliebt wurden. Wenn Sie die Sorglosigkeit junger Leute kennen, die ihren Liebhabereien leben und niemals Zeit haben, sich den Eltern zu widmen, werden Sie aus einem einzigen Umstand die Innigkeit ersehen, mit der sie an dem armen, einsamen Alten hingen, der nun nur noch für sie und durch sie lebte. Es verging keine Woche, wo er nicht von einem seiner Kinder einen Brief erhalten hätte. Aber er hatte auch nie einen von ihnen vorgezogen, was stets den Respekt der Kinder vermindert, noch war er ungerecht und streng gewesen. Kurz und gut, er fuhr nach Paris, um ihnen vor ihrer Abreise nach Belgien Lebewohl zu sagen. Sie waren nun abgereist, der Vater kehrte heim. Der Krieg begann, er bekam Briefe aus Fleurus, aus Ligny, alles ging gut. Die Schlacht bei Waterloo wurde geschlagen -- Sie kennen das Ergebnis. Ganz Frankreich wurde mit einem Schlage in Trauer versetzt. Alle Familien waren in größter Sorge. Er wartete, gnädige Frau, Sie können sich das denken; er hatte nicht Rast, nicht Ruhe. Er las die Zeitungen und ging alle Tage selbst zur Post. Eines Tages meldete man ihm den Diener seines Sohnes, des Obersten. Er sieht diesen Mann auf dem Pferde seines Herrn sitzen, da brauchte er keine Frage erst zu stellen: der Oberst war tot -- von einer Kanonenkugel mitten durchgerissen. Gegen Abend kommt zu Fuß der Diener des jüngsten an; der jüngste war am Tage nach der Schlacht gestorben. Endlich, gegen Mitternacht, kommt ein Artillerist und meldet ihm den Tod des letzten Kindes, auf dessen Haupt nun in so kurzer Zeit dieser arme Vater sein ganzes Leben gesetzt hatte. Ja, gnädige Frau, sie waren alle gefallen!« Nach einer Pause hatte der Priester seine eigene Rührung überwunden und fügte mit sanfter Stimme die folgenden Worte hinzu: »Und der Vater ist leben geblieben, gnädige Frau. Er hat begriffen, wenn Gott ihn auf Erden ließe, müsse er hier sein Leid auf sich nehmen, und so tut er es denn. Aber er hat sich an die Brust der Religion geworfen. Was kann aus ihm geworden sein?« Die Marquise hob den Blick zu dem Antlitz des Pfarrers, das jetzt einen erhabenen Zug der Trauer und Ergebung zeigte, und erwartete das folgende Wort, das sie weinen machte: »Priester, gnädige Frau; er war ja schon durch die Tränen geweiht, ehe er am Fuße des Altars die Weihe empfing.« Auf einen Augenblick herrschte Schweigen. Die Marquise und der Pfarrer sahen zum Fenster hinaus nach dem nebligen Horizont, als könnten sie dort die Kinder sehen, die nicht mehr waren. »Nicht Priester in einer Stadt, sondern einfacher Dorfpfarrer,« fuhr er fort. »In Saint-Lange,« sagte sie, die Tränen trocknend. »Ja, Gnädige.« Nie hatte sich die Majestät des Schmerzes Julien erhabener gezeigt; und dieses »Ja, Gnädige« grub sich ihr ins tiefste Herz, wie die Last eines endlosen Grams. Diese Stimme, die so sanft ins Ohr klang, erschütterte ihr Innerstes. Ach, es war ja die Stimme des Unglücks, diese volle, ernste Stimme, die einen so durchdringenden Zauber auszuüben schien. »Herr Pfarrer,« sagte fast ehrfurchtsvoll die Marquise, »und wenn ich nicht sterbe, was wird dann aus mir werden?« »Gnädige, haben Sie nicht ein Kind?« »Ja,« sagte sie kalt. Der Pfarrer warf auf die Frau einen Blick, wie etwa ein Arzt auf einen Kranken, der in Gefahr schwebt, und beschloß, alles, was in seinen Kräften stände, zu versuchen, um sie dem Geist des Bösen streitig zu machen, der schon die Hand nach ihr ausstreckte. »Sie sehen, Gnädige, wir müssen mit unsern Schmerzen am Leben bleiben, und die Religion allein bietet uns wahren Trost. Erlauben Sie mir, wiederzukommen -- hören Sie noch öfter die Stimme eines Mannes, der mit allen Schmerzen mitzufühlen weiß, und im Grunde, wie ich doch glaube, nichts allzu Abschreckendes an sich hat.« »Ja, Herr Pfarrer, kommen Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie an mich gedacht haben.« »Gut, Gnädige, auf baldiges Wiedersehen!« Dieser Besuch löste sozusagen die Spannung in der Seele der Marquise, deren Kräfte durch Gram und Einsamkeit schon zu sehr aufgerieben waren. Der Priester ließ in ihrem Herzen einen Balsam und den heilsamen Widerhall seiner frommen Worte zurück. Sie empfand nun jene Beruhigung, die den Gefangenen erquickt, wenn er die Tiefe seiner Einsamkeit und die Schwere seiner Ketten erkannt hat und nun plötzlich durch ein Klopfen an der Mauer erfährt, daß er einen Nachbarn hat, der durch diesen Ton mit ihm in Gedankenaustausch tritt. Sie hatte unverhofft einen Vertrauten gefunden. Aber sie versank bald wieder in ihre finsteren Betrachtungen und sagte sich, wie der Gefangene, ein Leidensgefährte könne weder die Fesseln noch die Schrecken der Zukunft erleichtern. Der Pfarrer hatte sie bei seinem ersten Besuch in ihrem ganz egoistischen Schmerz nicht gleich kopfscheu machen wollen; aber er hoffte, daß es seiner Kunst gelingen werde, in einer zweiten Unterredung sie um einige Schritte weiter der Religion zuzuführen. Am übernächsten Tage kam er denn auch, und der Empfang, den die Marquise ihm bereitete, ließ erkennen, daß sein Besuch erwünscht war. »Nun, Frau Marquise,« sagte der Greis, »haben Sie ein wenig über die Menge menschlicher Leiden nachgedacht? Haben Sie die Augen gen Himmel erhoben? Haben Sie die Unermeßlichkeit von Welten gesehen, die uns in unserm Dünkel so klein macht, unsern eiteln Stolz zerdrückt und unser Weh verringert ...?« »Nein, Herr Pfarrer,« sagte sie, »die gesellschaftlichen Gesetze lasten mir zu schwer auf dem Herzen und zerreißen es mir zu schmerzlich, als daß ich mich zum Himmel aufschwingen könnte. Aber die Gesetze sind vielleicht nicht so grausam, wie die Sitten der Gesellschaft. O, die Gesellschaft!« »Wir müssen sowohl den Gesetzen wie den Sitten gehorchen, Gnädige. Das Gesetz bildet die Losung der Gesellschaft, die Sitten regeln ihre Handlungen.« »Sich der Gesellschaft fügen?« versetzte die Marquise mit einer unwillkürlichen Gebärde des Schmerzes. »Herr Pfarrer, das ist ja eben die Quelle aller unserer Leiden. Gott hat nicht ein einziges Gesetz des Unglücks geschaffen; aber die Menschen taten sich zusammen und haben ihm ins Handwerk gepfuscht. Wir, wir Frauen, erleiden durch die Zivilisation mehr Mißhandlungen, als durch die Natur. Die Natur legt uns physische Schmerzen auf, die ihr Männer uns nicht erleichtert, und die Zivilisation hat Gefühle entwickelt, die ihr fortwährend verletzt. Die Natur läßt die schwachen Wesen eingehen, aber die Zivilisation verurteilt sie zum Leben und überliefert sie andauerndem Unglück. Die Ehe, eine Einrichtung, auf der heute die Gesellschaft beruht, bürdet die Lasten, die sie mit sich bringt, ganz allein uns auf. Für den Mann die Freiheit, für die Frau Pflichten. Wir müssen euch unser ganzes Leben weihen, ihr uns nur vereinzelte Augenblicke. Und dann trifft der Mann nur eine Wahl, wo wir uns blind unterwerfen. O, Herr Pfarrer, Ihnen kann ich alles sagen. Nun denn, die Ehe, wenigstens wie sie sich heute gestaltet hat, scheint mir nur eine gesetzlich erlaubte Prostitution zu sein. Und daraus sind meine Leiden entstanden. Aber ich allein unter den unglücklichen, so schrecklich verkuppelten Geschöpfen, muß schweigen! Ich bin ja allein die Urheberin meines Elends, ich habe meine Ehe gewollt!« Sie hielt inne, vergoß bittere Tränen und schwieg. »In diesen Untiefen des Jammers, in diesem Ozean des Schmerzes,« fuhr sie fort, »habe ich eine Sandbank gefunden, auf die ich den Fuß setzte, wo ich in Ruhe leiden konnte: ein Orkan hat alles hinweggerissen. Nun bin ich allein, ohne Stütze, zu schwach gegen die Stürme.« »Wir sind nie schwach, wenn Gott mit uns ist,« sagte der Priester. »Und wenn Sie übrigens hienieden keine Liebe mehr zu befriedigen haben, haben Sie dann nicht doch noch Pflichten zu erfüllen?« »Immer Pflichten!« rief sie ungeduldig. »Aber wo sind für mich die Gefühle, die uns die Kraft geben, sie zu erfüllen? Herr Pfarrer, nichts aus nichts oder nichts für nichts, das ist eins der gerechtesten Gesetze der moralischen wie der physischen Natur. Sollen etwa diese Bäume grünes Laub treiben ohne den Saft, der die Knospen sprengt? Auch die Seele hat ihren Saft. Bei mir ist der Saft in der Quelle versiegt.« »Ich will Ihnen nicht von den religiösen Gefühlen sprechen, die die Ergebung einflößt,« sagte der Pfarrer, »aber die Mutterschaft, Gnädige, ist denn das nicht --?« »Halten Sie inne, Herr Pfarrer,« sagte die Marquise. »Gegen Sie werde ich aufrichtig sein. Ich kann es hinfort gegen niemand sonst mehr sein, ich bin zur Unwahrheit verurteilt; die Gesellschaft verlangt ein fortwährendes Fratzenschneiden, und unter der Strafe der Schändung gebietet sie uns, ihren Förmlichkeiten zu gehorchen. Es gibt zweierlei Mutterschaft, Herr Pfarrer. Ehemals wußte ich nichts von solchen Unterscheidungen; heute kenne ich sie. Ich bin nur zur Hälfte Mutter -- besser wär's, es gar nicht zu sein! Helene ist nicht von _ihm_! O, erschrecken Sie nicht. Saint-Lange ist ein Abgrund, darin viele falschen Gefühle versunken sind, draus unheilvolles Licht hervorgegangen ist, in den die gebrechlichen Gebäude der widernatürlichen Gesetze hinabgestürzt sind. Ich habe ein Kind, das genügt. Ich bin Mutter, so will es das Gesetz. Aber Sie, Herr Pfarrer, der Sie eine so fein mitfühlende Seele haben, werden vielleicht den Weheschrei einer armen Frau verstehen, die nie ein falsches Gefühl in ihr Herz hat dringen lassen. Gott wird mich richten, aber ich glaube doch nicht gegen seine Gesetze zu verstoßen, wenn ich den Regungen nachgebe, die er mir in die Seele gepflanzt hat, und folgendes habe ich nun darin gefunden: Ist nicht ein Kind, Herr Pfarrer, das Abbild zweier Wesen, die Frucht zweier ganz ineinander verschmolzenen Gefühle? Wenn es nicht mit allen Fibern des Leibes, wie mit aller Liebe des Herzens verwachsen ist, wenn es nicht an kostbare Wonnen, an die Zeiten und Orte, wo diese beiden Wesen glücklich waren, an ihre Sprache voll menschlicher Musik und an ihren süßen Gedankenaustausch erinnert, dann ist ein Kind ein verfehltes Werk. Ja, für sie muß es ein entzückendes Miniaturbild sein, in welchem sie die Poesie ihres geheimen Doppellebens wiederfinden. Es muß für sie eine Quelle furchtbarer Regungen sein, muß zugleich all ihre Vergangenheit und all ihre Zukunft sein. Meine arme, kleine Helene ist das Kind ihres Vaters, das Kind der Pflicht und des Zufalls; sie erweckt in mir nur den Instinkt des Weibes, ich stehe für sie nur auf dem Boden des Gesetzes, das unwiderstehlich antreibt, das Geschöpf zu beschützen, das unser Schoß gebar. Ich bin nicht zu tadeln, im Sinne der Gesellschaft. Habe ich der Tochter nicht mein Leben und mein Glück geopfert? Ihr Schreien erschüttert mich im Innersten; wenn sie ins Wasser fiele, würde ich nachspringen, sie herauszuholen. Aber sie ist nicht in meinem Herzen. Ach, die Liebe hat mir den Traum einer erhabeneren, vollkommeneren Mutterschaft vorgegaukelt; und in einem erloschenen Traume habe ich das Kind liebkost, nach dem mein Herz verlangte und das unerzeugt blieb: die köstliche Blume, die schon in der Seele wächst, ehe sie im Leibe wachsen kann. Ich bin für Helene das, was nach der natürlichen Ordnung eine Mutter für ihren Sprößling sein muß. Wenn sie meiner einmal nicht mehr bedarf, so ist eben, kurz gesagt, die Ursache verschwunden, und damit hören auch die Wirkungen auf. Wenn die Mutter das anbetungswürdige Vorrecht hat, die Mutterschaft auf das ganze Leben ihres Kindes auszudehnen, dann muß wohl diese göttliche Dauer des Gefühls dem Lichtschein einer seelischen Empfängnis zugeschrieben werden. Wenn das Kind nicht zu allererst schon in der Seele der Mutter gebildet wird, dann dauert die Mutterschaft nur eine gewisse Zeit und hört auf, wie es bei den Tieren der Fall ist. Und es ist wahr, ich fühle es: je größer meine arme Kleine wird, um so mehr löst mein Herz sich von ihr los. Die Opfer, die ich ihr gebracht, haben mich ihr schon entfremdet, während bei einem andern Kinde, das fühle ich, mein Herz unerschöpflich sein würde. Für dieses andere würde überhaupt nichts ein Opfer sein -- alles wäre Freude gewesen. Hier, Herr Pfarrer, vermögen in mir die Religion und die Vernunft nichts gegen meine Gefühle auszurichten. Hat sie unrecht, wenn sie sterben will, die Frau, die weder Mutter noch Gattin ist, die zu ihrem Unglück einen Blick in die grenzenlosen Schönheiten der wahren Liebe, in die unermeßlichen Freuden der rechten Mutterschaft getan hat? Was kann aus ihr werden? Ich werde Ihnen sagen, was sie fühlt. Hundertmal am Tage, hundertmal in der Nacht schüttelt ein Schauer mir Hirn, Herz und Leib, wenn eine nur schwach abgewehrte Erinnerung mir die Bilder eines Glückes vorführt, das ich mir größer vorstelle, als es vielleicht sein würde. Diese grausamen Phantasien nehmen meinen Gefühlen alle Wärme, und ich frage mich: >Wie würde mein Leben sein, _wenn_ --?<« Sie verbarg das Gesicht in den Händen und zerfloß in Tränen. »So sieht es im Grunde meines Herzens aus!« fuhr sie fort. »Für ein Kind von ihm hätte ich gern das schrecklichste Unglück auf mich genommen. Der Gott, der im Sterben alle Sünden dieser Erde auf sich nahm, wird mir diesen für mich tödlichen Gedanken verzeihen; aber ich weiß, die Welt ist unversöhnlich: für sie sind meine Gedanken Blasphemien; ich verstoße damit gegen alle ihre Gesetze. Ach! ich möchte dieser Welt den Krieg erklären, um die Gesetze und Sitten umzugestalten, um sie entzweizuschlagen. Was hat sie nicht alles an mir verwundet: all mein Denken, all mein Wesen, all mein Fühlen, all mein Wünschen, all mein Hoffen -- in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit! Für mich ist der Tag voller Finsternis, mein Denken ein Schwert, mein Herz eine Wunde, mein Kind eine Verneinung. Jawohl, wenn Helene spricht, wünsch' ich ihr andere Augen. Sie ist da zum Zeugnis alles dessen, was sie sein müßte und was sie nicht ist! Sie ist mir unerträglich. Ich lächle sie an, ich bemühe mich, sie für die Gefühle zu entschädigen, die ich ihr nicht entgegenbringen kann. Ich leide! O, Herr Pfarrer, ich leide zu sehr, als daß ich leben könnte. Und ich werde für eine tugendhafte Frau gelten! Und ich habe keinen Fehltritt begangen! Und man wird mich ehren! Ich habe die unwillkürliche Liebe bekämpft, der ich nicht Raum geben durfte. Aber wenn ich auch physisch treu geblieben bin -- habe ich auch mein Herz bewahrt? Das,« setzte sie hinzu, die rechte Hand auf den Busen legend, »hat allzeit nur einem Manne gehört! Mein Kind täuscht sich auch darüber nicht. Es gibt auch bei Müttern Blicke, Töne, Gebärden, die die Seele eines Kindes wie mit Füßen treten; und wenn ich meine arme Kleine ansehe, wenn ich mit ihr spreche, wenn ich sie nehme, dann fühlt sie, daß mein Arm ruhig bleibt, daß meine Stimme nicht zittert, daß meine Augen kalt bleiben. Sie wirft mir anklägerische Blicke zu, die ich nicht ertragen kann. Mitunter habe ich Angst, in ihr einen Richter zu finden, der mich ohne Verhör verurteilen wird. Gebe es der Himmel, daß sich nicht eines Tages der Haß zwischen uns stelle! Großer Gott, öffne mir doch lieber das Grab, laß mich in Saint-Lange enden! Ich will in jene Welt eintreten, wo ich meine andere Seele wiederfinden werde, wo ich ganz und gar Mutter sein werde! O, verzeihen Sie mir, Herr Pfarrer, ich bin verrückt. Ich ersticke an diesen Worten -- doch nun habe ich sie gesagt. Ach, Sie weinen auch, Sie werden mich nicht verachten. Helene, meine Tochter, Helene, komm!« rief sie in einer Art von Verzweiflung, als sie ihr Kind hörte, das vom Spaziergang zurückkam. Die Kleine kam lachend und schreiend; sie brachte einen Schmetterling, den sie gefangen hatte; aber als sie ihre Mutter in Tränen sah, verstummte sie, schmiegte sich an sie und ließ sich auf die Stirn küssen. »Sie wird einmal sehr schön werden,« meinte der Priester. »Sie ist ganz ihr Vater,« antwortete die Marquise und küßte ihr Kind mit Ungestüm, wie um eine Schuld abzutragen oder einen Vorwurf, den sie sich selbst machte, zu beschwichtigen. »Dir ist heiß, Mama.« »Geh', laß uns allein, mein Engel,« antwortete die Marquise. Das Kind ging ohne Kummer, ohne einen Blick auf die Mutter; es schien fast froh zu sein, ein so trauriges Gesicht zu fliehen, und begriff schon, daß die Gefühle, die sich darin ausdrückten, ihr abhold waren. Das Lächeln ist das Handgeld, die Sprache, der Ausdruck der Mütterlichkeit. Die Marquise konnte nicht lächeln. Sie errötete, als sie den Priester ansah: sie hatte sich als Mutter zeigen wollen, doch weder sie noch ihr Kind hatten lügen können. Ja, die Küsse einer aufrichtigen Frau haben einen göttlichen Honig, der dieser Liebkosung eine Seele, ein zartes Feuer zu verleihen scheint, das zu Herzen dringt. Die Küsse, denen diese Würze und Weihe fehlt, sind herb und trocken. Der Priester hatte diesen Unterschied empfunden, konnte den Abgrund ermessen, der zwischen der Mütterlichkeit des Fleisches und der Mütterlichkeit des Herzens liegt. Nachdem er daher auf diese Frau einen durchdringenden Blick geworfen hatte, sprach er zu ihr: »Sie haben recht, Gnädige, es wäre für Sie besser, Sie wären tot ...« »Ach, Sie verstehen meine Leiden, ich sehe es,« antwortete sie, »weil Sie als christlicher Priester die unseligen Entschlüsse, die der Jammer mir eingab, erraten und gutheißen. Jawohl, ich habe mir selbst den Tod geben wollen. Aber es hat mir an dem nötigen Mut gefehlt, meinen Plan auszuführen. Mein Körper ist feige gewesen, wenn meine Seele stark war -- und wenn meine Hand nicht zitterte, hat wieder meine Seele geschwankt. Das Geheimnis dieser Kämpfe, dieser wechselnden Stärke und Schwäche ist mir unbekannt. Ich bin ohne Zweifel eben Weib und als solches kläglicherweise ohne Ausdauer im Wollen, stark nur zum Lieben. Ich verachte mich selbst. Am Abend, als meine Leute schliefen, ging ich mutig zu dem kleinen Teich. Am Rande angelangt, entsetzte meine feige Seele sich vor der Vernichtung. Ich bekenne meine Schwächen. Als ich im Bett lag, schämte ich mich vor mir selbst und wurde wieder mutig. In einem dieser Augenblicke habe ich Laudanum genommen -- aber ich hatte nur Schmerzen, gestorben bin ich nicht. Ich hatte geglaubt, den ganzen Inhalt des Fläschchens zu trinken, und habe schon bei der Hälfte aufgehört.« »Sie sind verloren, gnädige Frau,« sagte der Priester ernst und mit tränenvoller Stimme. »Sie werden in die Welt zurückkehren und die Welt betrügen. Sie werden dort das suchen und finden, was Sie als Entschädigung für Ihre Unbilden ansehen. Eines Tages werden Sie dann die Strafe für Ihre Wollust ...« »Ich,« rief sie, »ich sollte hingehen und dem ersten besten Schurken, der die Komödie einer Liebe zu spielen verstände, die letzten kostbaren Reichtümer meines Herzens preisgeben und mein Leben um einen Augenblick zweifelhaften Glücks zugrunde richten? Nein! meine Seele wird sich an einer reinen Flamme verzehren. Herr Pfarrer, die Männer haben alle die Sinne ihres Geschlechts; aber den Mann, der auch Seele hat und so alle Forderungen unserer Natur befriedigt, dessen melodische Harmonie sich nur unter dem Druck wahrer Gefühle verrät, diesen Mann trifft man nicht zweimal im Leben. Meine Zukunft ist furchtbar, ich weiß es: ohne Liebe ist das Weib nichts, ohne Wollust ist die Schönheit nichts; aber würde die Welt nicht mein Glück verdammen, wenn es sich mir noch einmal böte? Ich bin meiner Tochter eine ehrbare Mutter schuldig. Ach, ich bin in einen eisernen Ring gesteckt, von dem ich mich nicht ohne Schimpf freimachen kann. Die Pflichten der Familie ohne Gegenlohn zu erfüllen, wird mir zum Überdruß; ich werde das Leben verwünschen; aber meine Tochter wird wenigstens ein schönes Scheinbild von einer Mutter haben. Zum Ersatz für den Schatz an Liebe, den ich ihr versagt habe, werde ich ihr einen Schatz an Tugend spenden. Um der Freuden willen, die sonst den Müttern das Glück ihrer Kinder bereitet, liegt mir ja auch gar nichts am Leben. Ich glaube nicht an Glück. Was wird Helenens Los sein? Ohne Zweifel das meine. Welche Mittel haben die Mütter, ihren Töchtern die Gewißheit zu geben, daß der Mann, dem sie sie überliefern, ein Ehegatte nach ihrem Herzen sein wird. Ihr verachtet arme Geschöpfe, die sich für ein paar Taler einem Vorübergehenden verkaufen: der Hunger und die Notdurft erteilen diesen Eintagsverbindungen die Absolution. Aber die dauernde Verbindung duldet, ja fordert die Gesellschaft, und doch ist diese Verbindung etwa zwischen einem jungen keuschen Mädchen und einem Manne, den sie kaum drei Monate lang kennt, noch weit entsetzlicher; denn dieses Mädchen ist für sein ganzes Leben verkauft. Es ist wahr, der Preis ist weit höher. Wenn ihr sie wenigstens ehrtet, da ihr ihnen einmal doch keine Entschädigung für ihre Schmerzen zubilligt! aber nein, die Welt verleumdet gerade die tugendhaftesten unter uns. Dies ist unser Schicksal, von seinen zwei Seiten betrachtet: entweder eine öffentliche Prostitution und die Schande -- oder eine heimliche Prostitution und das Unglück. Was gar die armen Mädchen ohne Mitgift anbetrifft -- die werden verrückt und sterben. Mit ihnen hat niemand Mitleid. Die Schönheit, die Tugenden sind keine Werte auf euerm Menschenmarkt, und diesen Tummelplatz des Egoismus nennt man Gesellschaft. So laßt die Töchter doch nicht mehr erben! Dann werdet ihr wenigstens ein Naturgesetz erfüllen, und die Männer werden ihre Gefährtinnen nach der Stimme ihres Herzens wählen und heiraten.« »Gnädige Frau, Ihre Reden beweisen mir, daß Sie weder Familiensinn noch religiösen Sinn haben. Sie werden daher auch nicht zwischen dem gesellschaftlichen Egoismus, der Sie verletzt, und dem Egoismus des Individuums, der Sie mit dem Verlangen nach Genüssen erfüllt, schwanken --« »Familie, Herr Pfarrer! Gibt es denn das? Ich verneine die Familie in einer Gesellschaft, die beim Tode des Vaters und der Mutter die Habe verteilt und jeden seines Weges gehen heißt. Die Familie ist eine zeitliche und zufällige Vereinigung, die der Tod sofort löst. Unsere Gesetze haben die Geschlechter, die Erbschaften, die Fortdauer der Vorbilder und Traditionen zerstört. Ich sehe nichts als Schutt um mich her.« »Meine Gnädige, Sie werden nicht eher zu Gott zurückkehren, als bis seine Hand schwer auf Sie fallen wird, und ich wünsche Ihnen, daß Sie Zeit genug haben mögen, Ihren Frieden mit ihm zu machen. Sie suchen Ihren Trost, indem Sie den Blick zur Erde senken, statt ihn zum Himmel erheben. Der Hang zu trügerischem Philosophieren und das persönliche Interesse haben Ihr Herz überfallen; Sie sind taub gegen die Stimme der Religion, wie es die Kinder dieses Jahrhunderts ohne Glauben eben sind. Die Freuden der Welt erzeugen nichts als Leid. Sie werden mit den Schmerzen nur wechseln -- weiter nichts.« »Ich werde Ihre Prophezeiung Lügen strafen,« sagte sie mit bitterm Lächeln, »ich werde dem treu bleiben, der für mich gestorben ist.« »Der Schmerz,« erwiderte er, »ist nur in den von der Religion bereiteten Seelen lebensfähig.« Sie senkte ehrerbietig die Augen, um die Zweifel nicht sehen zu lassen, die sich in ihrem Blick hätten verraten können. Die Energie der Klagen, die die Marquise angestimmt, hatte ihn tieftraurig gemacht. Da er das menschliche Ich in seinen tausend Gestalten kannte, verzweifelte er daran, auf dieses Herz besänftigend einzuwirken, das das Leid zur Wüste statt zum weichen Boden gemacht hatte und in dem das Samenkorn des himmlischen Sämanns nicht entkeimen konnte, da sein sanftes Wort darin von dem lauten, schrecklichen Geschrei der Ichsucht erstickt wurde. Nichtsdestoweniger entfaltete er die Ausdauer des Apostels und kam mehrmals wieder, immer von der Hoffnung hingeführt, diese so edle, stolze Seele zu Gott zu bekehren; aber an dem Tage, wo er erkannte, daß die Marquise nur deshalb gern mit ihm plauderte, weil es ihr wohltat, von dem verlorenen Geliebten zu sprechen, da gab er es auf. Er wollte sein Amt nicht dadurch herabsetzen, daß er sich zum Gelegenheitsmacher für schlummernde Leidenschaften hergab. Er stellte diese Gespräche ein und bahnte allmählich einen förmlichen Verkehr an, wo dann nur von alltäglichen Dingen gesprochen wurde. Der Frühling kam heran. Die Marquise fand Zerstreuungen in ihrer tiefen Traurigkeit und beschäftigte sich, da sie sonst nichts zu tun hatte, mit ihrem Grund und Boden, wo sie einige Arbeiten anzuordnen beliebte. Im Monat Oktober verließ sie ihr altes Schloß Saint-Lange, wo sie wieder frisch und schön geworden war im Müßiggang eines Schmerzes, der, zuerst heftig, wie ein kraftvoll geworfener Diskus, schließlich in Melancholie erloschen war, wie der Diskus nach allmählich schwächer werdenden Schwingungen zu fliegen aufhört. Die Melancholie besteht aus einer Reihe ähnlicher seelischer Schwingungen, deren erste an die Verzweiflung, deren letzte an das Vergnügen stößt; in der Jugend ist sie die Morgendämmerung -- im Alter das Abendrot. Als ihre Kalesche durch das Dorf fuhr, empfing die Marquise den Gruß des Pfarrers, der aus der Kirche kam und in die Pfarre ging; aber als sie den Gruß erwiderte, schlug sie die Augen nieder und wandte den Kopf zur Seite, um ihn nicht wiederzusehen. Der Priester hatte nur zu sehr recht gehabt gegen diese arme Diana von Ephesus. 3. Kapitel. Mit dreißig Jahren. Ein junger Mann von großen Hoffnungen -- ein Sproß eines jener historischen Geschlechter, deren Namen immer, selbst den Gesetzen zum Trotz, eng mit dem Ruhme Frankreichs verknüpft sein werden, befand sich auf dem Ball bei Madame Firmiani. Diese Dame hatte ihm Empfehlungsbriefe an einige ihrer Freundinnen in Neapel mitgegeben. Herr Karl de Vandenesse -- so hieß der junge Mann -- kam, um sich dafür zu bedanken und Abschied zu nehmen. Nachdem Vandenesse mehrere Missionen mit Talent erfüllt hatte, war er in letzter Zeit einem unserer bevollmächtigten Minister attachiert worden, der auf den Kongreß von Laibach entsendet wurde. Diese Reise wollte er gleich dazu benutzen, Italien kennen zu lernen. Dieses Fest war also gewissermaßen ein Abschied von den Genüssen der Stadt Paris, vor diesem schnellen Leben, diesem Wirbel von Gedanken und Vergnügungen, den man so oft verwünscht und dem sich hinzugeben doch so süß ist. Karl de Vandenesse war seit drei Jahren gewöhnt, die europäischen Hauptstädte zu betreten und zu verlassen, wie die Launen seines diplomatischen Berufs es mit sich brachten. Wenn er nun Paris verlassen mußte, so brauchte ihm das nicht weiter leid zu tun. Die Frauen machten gar keinen Eindruck mehr auf ihn: vielleicht weil er der Meinung war, eine echte Leidenschaft würde im Leben eines Mannes, der im Staatsdienst stand, zu viel Raum einnehmen; vielleicht erschien ihm auch das läppische Treiben einer oberflächlichen Galanterie zu leer für eine starke Seele. Wir erheben ja alle hohe Ansprüche auf Seelenstärke. In Frankreich ist kein Mensch, sei er auch mittelmäßig, damit einverstanden, bloß für geistreich zu gelten. So hatte auch Karl trotz seiner Jugend -- er war kaum dreißig Jahre alt -- schon die philosophische Gewohnheit angenommen, Begriffe, Ergebnisse, Absichten ins Auge zu fassen, wo Männer seines Alters nur Gefühle, Freuden, Hirngespinste sehen. Er drängte die Wärme und Überschwenglichkeit, die jungen Leuten natürlich ist, in die Tiefen seiner von Natur edelmütigen Seele zurück. Er strebte danach, einen kalt berechnenden Menschen aus sich zu machen, die moralischen Reichtümer, die der Zufall ihm in die Hände gegeben hatte, zu Manieren, liebenswürdigen Formen, verführerischen Kunstgriffen umzuwandeln: die echte Methode des Ehrgeizigen. Dieses traurige Spiel wird in der Regel nur zu dem Zwecke unternommen, um das zu erlangen, was wir heutzutage »eine schöne Position« nennen. Er warf einen letzten Blick auf die Säle, wo getanzt wurde. Bevor er den Ball verließ, wollte er ohne Zweifel noch ein Bild davon mit hinwegnehmen, wie ein Zuschauer die Loge in der Oper nicht verläßt, ohne das Schlußbild anzuschauen. Es war ja auch eine leicht verständliche Laune, daß Herr de Vandenesse nun dieses echt französische Treiben, den Prunk und die lachenden Gesichter dieses Pariser Festes betrachtete. Er stellte es im Geist neben die neuen Erscheinungen, die malerischen Szenen, die in Neapel seiner harrten, wo er einige Tage zu verbringen vorhatte, ehe er sich auf seinen Posten begeben wollte. Er schien das wechselvolle und doch so bald ausstudierte Frankreich mit dem Lande zu vergleichen, dessen Sitten und Gebräuche ihm nur aus widersprechenden Urteilen oder aus zum größten Teil schlecht gemachten Büchern bekannt waren. Einige ziemlich poetische, aber heute recht alltäglich gewordene Betrachtungen gingen ihm da durch den Kopf und entsprachen -- vielleicht ohne daß er sich dessen bewußt war -- den geheimen Wünschen seines Herzens. Denn das war im Grunde nicht blasiert, sondern stellte noch immer seine Anforderungen -- es war nicht abgestumpft, sondern eigentlich nur unbetätigt. »Das sind,« sagte er zu sich selbst, »die elegantesten, die reichsten Frauen von Paris, mit den höchsten Titeln. Hier sind die Berühmtheiten des Tages, die Größen vom Parlament, aus der Aristokratie und aus der Literatur. Dort Künstler, hier Staatsmänner. Und doch sehe ich nur kleinliche Intrigen, totgeborene Liebschaften, nichtssagendes Lächeln, grundlosen Dünkel, erloschene Blicke, viel Geist, der aber zwecklos verschwendet wird. Alle diese weißen und rosigen Gesichter suchen weniger die Freude als die Zerstreuung. Keine Regung ist wahr. Wer weiter nichts haben will als hübsch angeordneten Putz, frische Spitzen, hübsche Toiletten, überzarte Weiber, wem das Leben nichts weiter ist als eine Fläche, über die er flüchtig hinstreifen will, für den ist das hier die richtige Welt. Dann muß man sich eben mit diesen inhaltslosen Phrasen, mit diesen entzückenden Fratzen begnügen -- Gefühl im Herzen darf man nicht verlangen. Ich meines Teils hege einen Abscheu vor diesen platten Intrigen, deren Ende immer eine Heirat, eine Unterpräfektur, eine Generalpächterstelle ist, und wenn sich's um Liebe handelt, so sind heimliche Abmachungen das Ende -- so ist jeder Anschein von Leidenschaften verpönt. Unter diesen beredten Gesichtern verrät nicht ein einziges eine Seele, die einen Begriff wie etwa die Reue kennt. Hier verbirgt sich der Kummer oder das Unglück ängstlich unter allerlei Scherzen. Unter diesen Frauen bemerke ich keine, mit der ich gern ringen würde, von der ich mich in einen Abgrund hineinreißen lassen könnte. Wo in Paris ist Energie zu finden? Ein Dolch ist eine Kuriosität, die man an einem vergoldeten Nagel aufhängt, zu der man ein hübsches Futteral machen läßt. Weiber, Gedanken, Gefühle, alles ist sich gleich. Es gibt keine Leidenschaften mehr, weil die Individualitäten verschwunden sind. Rang, Geist und Vermögen sind gleichgemacht worden, und wir haben uns alle in den schwarzen Frack geworfen, um das tote Frankreich zu betrauern. Menschen, die uns gleichen, lieben wir aber nicht. Zwischen zweien, die sich lieben sollen, müssen Verschiedenheiten auszugleichen, Zwischenräume auszufüllen sein. Dieser Reiz der Liebe ist 1789 verschwunden. Unser Überdruß, unsere faden Sitten sind das Ergebnis des politischen Systems. In Italien wenigstens ist das alles anders. Dort sind die Weiber noch bösartige Tiere, gefährliche Sirenen ohne Vernunft, ihre Lüste, ihre Begierden sind ihre einzige Logik. Man muß sich vor ihnen in acht nehmen wie vor Tigern.« Frau Firmiani unterbrach ihn in diesem Selbstgespräch, dessen tausend widerspruchsvolle, unvollendete, verworrene Gedanken sich nicht wiedergeben lassen. Das Gute an einer Träumerei liegt durchaus in ihrer Unklarheit -- ist sie nicht eine Art intellektuellen Nebels? »Ich will,« sagte sie zu ihm und nahm seinen Arm, »Sie einer Frau vorstellen, die nach allem, was sie von Ihnen gehört hat, Sie unbedingt kennen zu lernen wünscht.« Sie führte ihn in einen Salon nebenan, wo sie mit einem Wink, einem Lächeln und einem Blick von echt pariserischer Art auf eine in der Kaminecke sitzende Dame zeigte. »Wer ist das?« fragte Graf de Vandenesse lebhaft. »Eine Frau, von der Sie sich gewiß schon mehrmals unterhalten haben, um sie zu loben oder zu schmähen -- eine Frau, die in Einsamkeit lebt -- ein wahrhaft geheimnisvolles Wesen.« »Wenn Sie jemals in Ihrem Leben barmherzig gewesen sind, so nennen Sie mir den Namen der Dame!« »Marquise d'Aiglemont.« »Ich werde Unterricht bei ihr nehmen. Sie hat es verstanden, aus einem recht mittelmäßigen Gatten einen Pair von Frankreich, aus einer Null von Menschen eine politische Kapazität zu machen. Aber sagen Sie mir, glauben Sie, daß Lord Grenville für sie gestorben sei, wie einige Frauen behauptet haben?« »Vielleicht. Seit diesem Abenteuer, ob es nun falsch oder wahr ist, hat diese arme Frau sich völlig verändert. Sie ist noch nicht wieder in die Welt zurückgekehrt. Eine vierjährige Treue -- das will schon was heißen in Paris. Wenn Sie sie hier sehen ...« Frau Firmiani hielt inne, dann setzte sie mit schlauer Miene hinzu: »Ich vergesse, ich muß schweigen. Plaudern Sie mit ihr.« Karl blieb einen Augenblick regungslos stehen, leicht gegen die Türverkleidung gelehnt. Unverwandt betrachtete er die Frau, die zur Berühmtheit geworden war, ohne daß jemand die Gründe erklären konnte, auf denen ihr Ruf beruhte. Die Welt weist viele solcher seltsamen Anomalien auf. Der Ruhm der Frau d'Aiglemont war sicherlich nicht größer als der gewisser Männer, die immer an einem unbekannten Werke arbeiten: Statistiker, die man für gelehrt hält auf Grund von Berechnungen, die zu veröffentlichen sie sich wohl hüten; Politiker, die von einem Zeitungsartikel leben; Schriftsteller oder Künstler, deren Werk immer in der Mappe bleibt; Gelehrte, die aber nur bei denen dafür gelten, die selbst nichts von Wissenschaft verstehen, wie etwa Sganarelle ein Lateiner ist in den Augen derer, die nicht Lateinisch können; Männer, denen man in einem bestimmten Punkte ein unbestrittenes Talent zuschreibt, sei es in der Verwaltung der Künste, sei es in irgendeiner wichtigen Mission. Das wunderbare Wort: »Er ist eine Spezialität,« ist, wie es scheint, für diese Arten von politischen oder literarischen Strohköpfen erfunden worden. Karl verharrte länger, als er eigentlich wollte, in Betrachtungen, und war mit sich selbst unzufrieden, daß er einer Frau so tiefe Aufmerksamkeit widmete. Aber die Gegenwart dieser Frau widerlegte ja auch alle die Gedanken, die der junge Diplomat vor einem Augenblick noch beim Betrachten der Ballgesellschaft gehegt hatte. Die Marquise, jetzt dreißig Jahre alt, war schön, wenn auch von schwächlichen Formen und übergroßer Zartheit. Ihr größter Reiz lag in einer Physiognomie, deren starre Ruhe eine erstaunliche Tiefe der Seele verriet. Ihr glänzendes Auge, das jedoch von beständigem Sinnen verschleiert zu sein schien, zeugte von einem Leben im Fieber und von der größten Resignation. Ihre fast stets keusch zu Boden gesenkten Lider schlugen sich selten auf. Wenn sie Blicke um sich warf, so gingen die Augen langsam und traurig -- und man hätte sagen können, sie sparten ihr Feuer für Beobachtungen im verborgenen auf. Daher fühlte sich auch jeder Mann höherer Art seltsam zu dieser sanften, schweigsamen Frau hingezogen. Wenn der Geist das Rätsel ihres beständigen Schwankens zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen der Gesellschaft und ihrer Einsamkeit zu erraten suchte, so war die Seele nicht weniger begierig, die Geheimnisse eines gewissermaßen auf seine Leiden stolzen Herzens zu ergründen. Und dann strafte nichts an ihr den Eindruck, den sie zuerst machte, späterhin Lügen. Wie fast alle Frauen, die sehr langes Haar haben, war sie blaß, ja vollkommen weiß. Ihre Haut, die von wunderbarer Zartheit war -- ein selten trügendes Zeichen -- deutete auf echtes Feingefühl. Die Natur will, daß dies sich schon äußerlich kundtue, und zwar fast immer in Zügen von so wunderbarer Vollendung, wie sie die chinesischen Maler ihren phantastischen Figuren verleihen. Ihr Hals war vielleicht ein wenig lang; aber ein Hals von dieser Art ist der anmutigste und gibt den Frauenköpfen eine unbestimmte Ähnlichkeit mit den magnetischen, wellenartigen Bewegungen der Schlangen. Gäbe es nicht ein einziges von den tausend Kennzeichen, durch die sich dem Beobachter die heuchlerischsten Charaktere verraten, so würde es ihm zur Beurteilung einer Frau genügen, die Gebärden ihres Kopfes und die so verschiedenen, so ausdrucksvollen Biegungen des Halses aufmerksam zu verfolgen. Bei Frau d'Aiglemont war die Kleidung im Einklang mit dem Tiefsinn, der ihre Person beherrschte. Ihre breiten Haarflechten bildeten über dem Kopfe eine hohe Krone, an der keinerlei Schmuck angebracht war; denn sie schien für immer allem Putz und Zierat abgesagt zu haben. Auch entdeckte man an ihr niemals die kleinlichen Kunstgriffe der Koketterie, durch die sich so viele Frauen unliebsam bemerkbar machen. Nur ihr Leibchen, so bescheiden es auch war, ließ doch ein wenig die eleganten Formen ihrer Taille erkennen. Und dann war ihr langes Kleid von außergewöhnlich vornehmem Schnitt. Das war sein einziger Luxus. Wenn man in der Anordnung eines Stoffes Ideen suchen darf, so hätte man sagen können, die zahlreichen, schlichten Falten ihrer Robe verliehen ihr ein Gepräge hohen Adels. Nichtsdestoweniger verriet sie vielleicht die untilgbaren Weiberschwächen in der peinlichen Sorgfalt, die sie ihrer Hand und ihrem Fuß widmete; aber wenn sie sie mit gewissem Vergnügen zeigte, so wäre es doch selbst der boshaftesten Nebenbuhlerin schwer gewesen, diese Bewegungen affektiert zu finden; sie schienen eben ganz unwillkürlich und aus kindlichen Gewohnheiten hervorzugehen. Eine graziöse Gleichgültigkeit ließ über diesen Rest von Gefallsucht hinwegsehen. Die Menge von einzelnen Zügen, die Gesamtheit von unbedeutenden Umständen, die eine Frau häßlich oder hübsch, abstoßend oder liebenswürdig machen, können bei Frauen, wie Madame d'Aiglemont, nur flüchtig angedeutet sein; denn bei ihnen ist die Seele das Bindeglied aller Einzelheiten, denen sie eine köstliche Einstimmigkeit aufdrückt. So entsprach denn auch ihre Haltung vollkommen dem Charakter ihres Gesichts und ihrer Kleidung. In einem gewissen Alter verstehen es gewisse auserlesene Frauen, in ihre Haltung eine Sprache zu legen. Ist es das Leid, ist es das Glück, das der Frau von dreißig Jahren, der glücklichen oder der unglücklichen, das Geheimnis dieser beredten Haltung offenbart? Das wird immer ein lebendes Rätsel sein, das jeder nach seinen Wünschen und Hoffnungen oder nach seiner Methode auslegt. Die Art, wie die Marquise beide Ellenbogen auf die Lehnen ihres Sessels stützte und die Fingerspitzen beider Hände aufeinanderstellte, als wolle sie damit spielen, die Biegung ihres Halses, das Gehenlassen ihres müden, doch geschmeidigen Körpers, der wie zerschlagen in dem Fauteuil ruhte, die Lässigkeit ihrer Beine, die Ungezwungenheit ihrer Lage, ihre trägen, schwermütigen Bewegungen -- das alles verriet in ihr eine Frau, die kein Interesse mehr am Leben, die die Freuden der Liebe gar nicht kennen gelernt, sondern nur erträumt hat, und die schwer an der Bürde leidvoller Erinnerungen trägt, eine Frau, die seit langem an der Zukunft oder an sich selbst verzweifelt, eine Frau, die nichts zu tun hat und in der Leere schon das Nichts erblickt. Karl de Vandenesse bewunderte dieses prächtige »Tableau«, doch sah er darin nur eine geschicktere Mache, als gewöhnliche Frauen herausbringen. Er kannte d'Aiglemont. Beim ersten Blick auf seine Frau, die er noch nicht gesehen hatte, durchschaute nun der junge Diplomat Mißverhältnisse, unausweichliche Verschiedenheiten -- um diesen legalen Ausdruck zu gebrauchen -- die zwischen den beiden Personen eine so starke Scheidewand aufzurichten schienen, daß diese Frau unmöglich diesen Mann lieben konnte. Dennoch führte Frau d'Aiglemont ein untadelhaftes Leben, und gerade ihre Tugend verlieh all den Rätseln, die ein Menschenkenner an ihr entdecken mochte, noch einen höheren Wert. Als Vandenesse die erste Regung des Erstaunens überwunden hatte, sann er nach, wie er sich wohl am besten Frau d'Aiglemont nähern könne, und er beschloß, einen ziemlich alltäglichen Kunstgriff der Diplomatie anzuwenden und sie in Verlegenheit zu bringen, um auf diese Weise zu erfahren, wie sie eine Albernheit aufnehmen würde. »Gnädige Frau,« sagte er und setzte sich einfach neben sie, »eine Indiskretion, die ich mit Freuden begrüße, hat mir verraten, daß ich -- ich weiß nicht, auf welche Vorzüge hin -- das Glück genieße, von Ihnen mit Interesse betrachtet zu werden. Ich bin Ihnen um so mehr Dank schuldig, als ich bisher noch nie der Gegenstand einer solchen Gunst gewesen bin. Sie werden daher daran schuld sein, wenn ich mir nun einen neuen Fehler zulege. Ich werde hinfort nicht mehr bescheiden sein.« »Daran werden Sie unrecht tun, mein Herr,« sagte sie lachend. »Die Eitelkeit muß man denen überlassen, die sonst nichts weiter aufzuweisen haben.« Zwischen dem jungen Manne und der Marquise entspann sich ein Gespräch, und sie streiften, wie es Brauch ist, in einem Augenblick eine ganze Menge von Gegenständen: Malerei, Musik, Literatur, Politik, Gesellschaft, Ereignisse und Dinge. Dann kamen sie durch einen unmerklichen Übergang auf das ewige Thema der Plaudereien in Frankreich und in andern Ländern, auf die Liebe, auf die Gefühle und die Frauen. »Wir sind Sklavinnen.« »Sie sind Königinnen.« Die mehr oder minder geistreichen Phrasen Karls und der Marquise lassen sich in diesem einfachen Ausdruck zusammenfassen; denn das ist die Form für alle gegenwärtigen und künftigen Gespräche über diesen Gegenstand. Werden diese beiden Phrasen nicht zu einer bestimmten Stunde nicht immer wieder die schärfere Bedeutung haben: »Lieben Sie mich!« -- »Ich werde Sie lieben!« »Gnädige Frau,« rief Karl de Vandenesse, »Sie sorgen noch dafür, daß ich mit lebhaftem Bedauern Paris verlasse. Ich werde gewiß in Italien nicht wieder so geistreiche Stunden genießen können, wie diese eine jetzt gewesen ist.« »Dafür werden Sie vielleicht dem Glück begegnen, mein Herr, und das ist mehr wert als alle die glänzendsten Gedanken, die an jedem Abend in Paris ausgesprochen werden, mögen sie nun echt oder falsch sein.« Ehe Karl die Marquise verließ, erhielt er von ihr die Erlaubnis, ihr einen Abschiedsbesuch zu machen. Er schätzte sich sehr glücklich, daß er diese Bitte in der Form der Aufrichtigkeit vorgetragen hatte; denn am Abend, als er sich zu Bett legte, und noch am andern Morgen, ja den ganzen Tag über, wurde er den Gedanken an diese Frau nicht mehr los. Bald fragte er sich, warum die Marquise sich für ihn interessiere; was ihre Absichten sein mochten, daß sie ihn wiederzusehen wünschte; und er war unermüdlich, alle möglichen Erklärungen dafür zu suchen. Bald glaubte er auch, die Beweggründe dieser Neugierde zu erkennen; er berauschte sich an Hoffnung oder sah alles wieder sehr kühl an, je nach der Auslegung, mit der er diesen Höflichkeitswunsch erklärte, der in Paris ja so alltäglich ist. Bald war es alles, bald war es nichts. Schließlich wollte er dem Verlangen, das ihn zur Frau d'Aiglemont zog, widerstehen; aber er ging dennoch hin. Es gibt Gedanken, denen wir gehorchen, ohne sie selbst zu kennen: sie sind, uns unbewußt, in uns. Obwohl diese Betrachtung mehr paradox als wahr erscheinen mag, wird doch jeder ehrliche Mensch in seinem Leben tausend Beweise dafür finden. Als Karl sich zur Marquise begab, gehorchte er einem solchen Gedanken des Unbewußtseins, und was unser Geist später daraus macht, ist nichts weiter als die vorherbestimmte, im Keim gelegene Entwicklung. Eine Frau von dreißig Jahren hat unwiderstehliche Reize für einen jungen Mann. Es gibt nichts Natürlicheres, nichts stärker Verschlungenes, nichts besser Vorbereitetes, als die tiefe Liebe zwischen einer Frau wie die Marquise und einem Manne wie Vandenesse -- eine Liebe, für die es in der Welt unendlich viele Beispiele gibt. Ein junges Mädchen hat zu viele Illusionen, ist zu unerfahren, der Geschlechtstrieb ist noch zu sehr mit ihrer Liebe verwoben, als daß ein junger Mann sich geschmeichelt fühlen könnte, von ihr geliebt zu sein; während eine Frau die ganze Tragweite der Opfer kennt, die darzubringen sind. Da, wo die eine sich von der Neugierde, von einer Lockung, die mit Liebe nichts gemein hat, hinreißen läßt, gehorcht die andere einem Gefühl, über das sie sich vollkommen klar ist. Ist eine solche Wahl nicht etwas höchst Schmeichelhaftes? Die erfahrene Frau, die mit einem fast immer mit Leid und Unglück teuer bezahlten Wissen gewappnet ist, scheint mehr zu geben als sich selbst; während das junge unwissende und leichtgläubige Mädchen nichts weiß und daher auch keinen Vergleich anstellen, Wert und Unwert nicht abschätzen kann; es nimmt die Liebe hin und widmet sich erst ihrem Studium. Die eine belehrt uns, gibt uns Ratschläge und hat das Alter, wo man sich gern leiten läßt, wo Gehorchen ein Vergnügen ist; die andere will erst alles lernen und zeigt sich naiv, wo jene zärtlich ist. Diese gewährt dir nur einen einzigen Triumph, jene aber nötigt dich zu beständigem Kampf. Die erstere hat nur Tränen und Freuden; die letztere hat die Wollust und die Reue. Wenn ein junges Mädchen sich zur Mätresse hergeben soll, muß sie schon verdorben sein, und dann verläßt man sie mit Abscheu. Eine Frau dagegen hat tausend Mittel, zugleich ihre Macht und ihre Würde zu bewahren. Die eine unterwirft sich uns zu sehr, und man kann sich ihr in öder Sorglosigkeit hingeben; die andere aber setzt zu viel aufs Spiel und fordert daher tausend Metamorphosen der Liebe. Die eine entehrt nur sich allein, die andere tötet um deinetwillen eine ganze Familie. Das junge Mädchen besitzt nur eine einzige Koketterie und glaubt alles gesagt zu haben, wenn sie ihr Kleid hat fallen lassen; aber die Koketterien einer Frau sind unzählig, und sie verbirgt sich unter tausend Schleiern; schließlich schmeichelt sie allen Eitelkeiten, und die Unerfahrene schmeichelt nur einer. Ferner werden bei einer Frau von dreißig Jahren Unentschlossenheit, Entsetzen, Befürchtungen, Sorgen und Stürme entfesselt, die es in der Liebe eines jungen Mädchens niemals gibt. Wenn eine Frau in diesem Alter steht, verlangt sie von einem jungen Manne, daß er ihr die Achtung wiederherstelle, die sie ihm geopfert hat; sie lebt nur für ihn, beschäftigt sich mit seiner Zukunft, will ihm ein schönes, ein glänzendes Leben bereiten; sie gehorcht, sie bittet und gebietet, läßt sich herab und erhebt sich und weiß bei tausend Gelegenheiten Trost zu schaffen, wo das junge Mädchen nichts kann als seufzen. Schließlich kann außer allen Vorteilen ihrer Stellung die Frau von dreißig Jahren sich auch noch zum jungen Mädchen machen, alle Rollen spielen, schamhaft sein und sogar durch ein Unglück an Schönheit gewinnen. Zwischen beiden besteht der unermeßliche Unterschied, der zwischen dem Vorhergesehenen und dem Unvorhergesehenen besteht, zwischen der Kraft und der Schwäche. Die Frau von dreißig Jahren befriedigt alles, und das junge Mädchen muß -- sonst hört sie zu ihrer Strafe auf, ein junges Mädchen zu sein -- immer unbefriedigt bleiben. Diese Gedanken entwickeln sich im Herzen eines jungen Mannes und bilden in ihm die stärkste Leidenschaft aus; denn sie vereint die durch die Sitten künstlich geschaffenen Gefühle mit den echten Gefühlen der Natur. Der größte und entschiedenste Schritt im Leben der Frauen ist gerade derjenige, den die Frau immer als den unbedeutendsten ansieht. Ist sie verheiratet, so gehört sie nicht mehr sich selbst, sie ist die Königin, aber auch die Sklavin des häuslichen Herdes. Die weibliche Keuschheit ist unvereinbar mit den Pflichten und Freiheiten der Welt. Die Frauen emanzipieren heißt sie verderben. Wenn man einem Fremden das Recht gewährt, in das Allerheilige des Haushalts einzutreten, gibt man sich ihm damit nicht auf Gnade und Ungnade preis? Wenn eine Frau ihn dort einführt, ist dies nicht schon ein Fehltritt oder, genau genommen, der Anfang eines Fehltritts? Man muß wohl diese Theorie in all ihrer Strenge gelten lassen oder die Leidenschaften für straflos erklären. Bis auf den heutigen Tag hat die Gesellschaft in Frankreich einen Mittelweg einzuschlagen verstanden: sie spottet, wenn daraus Unglück entsteht. Wie die Spartaner, die nur die Ungeschicklichkeit bestraften, scheint sie den Diebstahl zuzulassen. Aber vielleicht ist dieses System sehr klug. Die allgemeine Verachtung bildet die schrecklichste aller Züchtigungen, weil sie nämlich die Frau ins Herz trifft. Die Frauen sehen darauf und müssen auch alle darauf halten, geachtet zu sein; mit der Achtung ist ihr Leben dahin. Daher ist Achtung auch das erste, was sie in der Liebe verlangen. Selbst die Verderbteste unter ihnen bedingt sich vor allem Absolution für die Vergangenheit aus, ehe sie ihre Zukunft verkauft, und versucht ihrem Geliebten begreiflich zu machen, daß sie für unwiderstehliche Seligkeiten die Ehren daran setze, die die Welt ihr verweigern wird. Es gibt keine Frau, die nicht, wenn sie zum erstenmal einen jungen Mann bei sich empfängt und mit ihm allein ist, einige solche Betrachtungen anstellte, vor allem, wenn dieser Mann, wie Karl de Vandenesse, hübsch oder geistreich ist. Desgleichen werden die meisten jungen Männer einige geheime Wünsche auf einen der tausend Gedanken gründen, die die ihnen angeborene Liebe zu schönen, geistreichen und unglücklichen Frauen, wie Frau d'Aiglemont war, entschuldbar erscheinen läßt. Als daher Frau Marquise Herrn de Vandenesse melden hörte, war sie bestürzt; und er war fast befangen, trotz des sichern Auftretens, das bei den Diplomaten gewissermaßen mit zum ganzen Menschen gehört. Aber die Marquise nahm bald das leutselige, freundliche Wesen an, hinter dem die Frauen gegen die Auslegung der Eitelkeit Schutz suchen. Dieses Benehmen schließt jeden Hintergedanken aus und läßt sozusagen die Innigkeit zu, indem es sie aber durch die Formen der Höflichkeit auf den richtigen Grad bringt. Die Frauen halten sich dann, solange sie wollen, in dieser zweideutigen Lage, wie auf einem Kreuzweg, der gleichzeitig zur Achtung, zur Gleichgültigkeit, zur Befremdung oder zur Leidenschaft führt. Nur mit dreißig Jahren kann eine Frau die mancherlei Auswege in einer solchen Lage erkennen. Sie weiß da zu lachen, zu scherzen, ja zärtlich zu werden, ohne sich etwas zu vergeben. Sie besitzt dann den nötigen Takt, um bei einem Manne alle Saiten des Gefühls anzuschlagen und die Töne zu prüfen, die sie hervorruft. Ihr Schweigen ist ebenso gefährlich wie ihre Rede. Man kann bei einer Frau in diesem Alter nie erraten, ob sie aufrichtig oder falsch ist, ob sie sich lustig macht oder ob sie es mit ihren Bekenntnissen ehrlich meint. Nachdem sie dir das Recht eingeräumt hat, mit ihr zu kämpfen, macht sie plötzlich durch ein Wort, durch einen Blick, durch eine jener Gebärden, deren Macht sie kennt, dem Kampf ein Ende, läßt dich sitzen und nimmt dein Geheimnis mit sich fort. Sie hat es nun in der Hand, dich mit einem bloßen Scherzwort zu opfern oder sich deiner ganz zu bemächtigen, sich weiter mit dir zu befassen, in gleicher Weise beschützt durch ihre eigene Schwäche und durch deine Kraft. Obwohl die Marquise sich während des ersten Besuches auf diesen neutralen Boden stellte, wußte sie dennoch ihre Frauenwürde in hohem Grade zu bewahren. Ihre geheimen Schmerzen lagerten stets wie eine leichte Wolke, die zum Teil die Sonne verhüllt, auf ihrer erkünstelten Fröhlichkeit. Vandenesse ging, nachdem er in diesem Gespräch ungekannte Genüsse gekostet hatte; aber er blieb überzeugt, die Marquise sei eine von den Frauen, die zu erobern so große Opfer koste, daß man sich nicht unterfangen könne, sie zu lieben. »Es würde,« sagte er im Gehen zu sich selbst, »eine Liebe sein, deren Ende nicht abzusehen ist -- ein Verkehr, der selbst einen ehrgeizigen Diplomaten ermüden muß. Jedoch, wenn ich wollte ...« Dieses fatale »Wenn ich wollte!« ist beständig das Verhängnis der eigensinnigen Menschen. In Frankreich führt die Eigenliebe zur Leidenschaft. Karl kehrte zu Frau d'Aiglemont zurück und glaubte wahrzunehmen, daß sie an seiner Unterhaltung Gefallen fände. Statt sich mit Naivität dem Glück der Liebe zu überlassen, wollte er nun eine doppelte Rolle spielen. Er versuchte verliebt zu erscheinen und dabei kalt den Fortgang dieses Verhältnisses zu studieren, zugleich Liebender und Diplomat zu sein. Allein er war edelsinnig und jung; dieses Studium mußte ihn zu einer grenzenlosen Liebe führen; denn ob sie Verstellung übte oder sich natürlich gab, die Marquise war immer stärker als er. So oft er von Frau d'Aiglemont fortging, beharrte er bei seinem Mißtrauen und unterwarf die Situationen, durch die schrittweise seine Seele hindurch müsse, einer strengen Analyse, die seine eigentlichen Empfindungen tötete. »Heute,« sagte er sich bei dem dritten Besuch, »hat sie mir zu verstehen gegeben, sie sei sehr unglücklich und stände ganz allein da, sie würde sich sehnlichst den Tod wünschen, wenn ihre Tochter nicht wäre. Sie hat sich in eine vollendete Resignation gehüllt. Doch ich bin weder ihr Bruder, noch ihr Beichtvater, warum hat sie mir ihren Kummer anvertraut? Sie liebt mich.« Zwei Tage später, als er wieder ihr Haus verließ, stellte er eine Betrachtung über die modernen Sitten an. »Die Liebe nimmt immer die Färbung des betreffenden Jahrhunderts an. Im Jahre 1822 ist sie daher doktrinär. Statt sie, wie einstmals, an Tatsachen nachzuweisen, bespricht man sie gelehrt, disputiert über sie, macht sie zu einer Dissertation. Die Frauen sind jetzt auf dreierlei Mittel verfallen. Erst stellen sie unsere Liebe in Zweifel und sprechen uns die Fähigkeit ab, ebensosehr zu lieben wie sie. Koketterie! tatsächlich herausgefordert hat die Marquise mich heute abend. Dann stellen sie sich tiefunglücklich, um unsern natürlichen Edelsinn oder unsere Eigenliebe wachzurufen. Schmeichelt es einem Manne nicht, als Tröster in einem großen Unglück aufzutreten? Endlich haben sie noch die Manie der Jungfräulichkeit. Und sie hat wirklich glauben müssen, ich hielte sie für uneingeweiht. Mein guter Glaube in diesem Punkte kann eine ausgezeichnete Spekulation werden.« Aber eines Tages war Karl am Ende mit seinen mißtrauischen Gedanken und fragte sich, ob die Marquise nicht doch aufrichtig sei, ob so viel Leid gespielt sein könne, und warum sie Resignation heucheln solle? Sie lebte in tiefer Einsamkeit und verzehrte sich in schweigendem Kummer, den sie kaum einmal durch den mehr oder minder gepreßten Ton eines Ausrufs verriet. Von diesem Augenblick an hegte Karl ein lebhaftes Interesse für Frau d'Aiglemont. Aber als er zu der gewohnten Zusammenkunft ging, die ihnen beiden nun zur Notwendigkeit geworden war und für die sie infolge eines wechselseitigen Instinkts eine Stunde frei hielten, fand Vandenesse seine Geliebte noch immer mehr gewandt als wahr, und sein letztes Wort war: »Entschieden ist dieses Weib raffiniert.« Er trat ein, fand die Marquise in ihrer Lieblingshaltung -- einer Haltung voll Melancholie; sie schlug die Augen zu ihm auf, ohne sich zu bewegen, und warf ihm einen jener vollen Blicke zu, die einem Lächeln gleichen. Frau d'Aiglemont ließ Vertrauen, ja wahre Freundschaft erkennen -- doch nichts von Liebe. Karl setzte sich und konnte nichts sagen. Er war ergriffen von einer jener Aufregungen, für die es keine Sprache gibt. »Was haben Sie?« fragte sie ihn in zärtlichem Tone. »Nichts ... doch,« sagte er, »ich denke an etwas, womit Sie sich noch gar nicht beschäftigt haben.« »Das wäre?« »Aber der Kongreß ist ja beendet.« »Ah,« antwortete sie, »Sie sollten also zum Kongreß gehen.« Eine direkte Antwort wäre das beredteste, zarteste Geständnis gewesen; doch Karl gab sie nicht. Das Gesicht der Frau d'Aiglemont verriet eine so aufrichtige Freundschaft, daß daran alle Berechnungen der Eitelkeit, alle Hoffnungen der Liebe, aller Argwohn der Diplomatie scheiterten. Sie ahnte nicht oder schien es doch durchaus nicht zu ahnen, daß sie geliebt sei; und als Karl, ganz verwirrt, sich in Schweigen hüllte, mußte er sich gestehen, nichts gesagt und nichts getan zu haben, was sie zu diesem Glauben berechtigt hätte. Herr de Vandenesse fand an diesem ganzen Abend die Marquise nur so, wie sie stets gewesen war, einfach und freundlich, aufrichtig in ihrem Schmerz, glücklich, einen Freund zu haben, stolz, einer Seele zu begegnen, die die ihrige verstände; darüber ging sie nicht hinaus und schien es für unmöglich zu halten, daß eine Frau sich zweimal verlieben könne; aber sie hatte die Liebe kennen gelernt und bewahrte sie noch blutend in der Tiefe ihres Herzens; sie glaubte nicht daran, daß das Glück zweimal einer Frau seinen berauschenden Trank kredenzen könne; denn sie glaubte nicht allein an den Geist, sondern an die Seele; und für sie war die Liebe an sich kein Mittel zur Verführung, gestattete aber die Entfaltung aller edlen Verführungskünste. In diesem Augenblick wurde Karl de Vandenesse wieder junger Mann, der Glanz eines so erhabenen Charakters zwang ihn ins Joch, und er wollte in alle Geheimnisse dieses mehr durch den Zufall als durch einen Fehltritt vernichteten Lebens eingeweiht sein. Frau d'Aiglemont warf ihrem Freunde nur einen Blick zu, als sie ihn um Aufklärung über das Übermaß von Leid bitten hörte, das ihrer Schönheit alle Harmonien der Traurigkeit verleihe; aber dieser tiefe Blick war wie das Siegel zu einem feierlichen Vertrag. »Stellen Sie mir keine ähnlichen Fragen mehr,« sagte sie. »Vier Jahre ist's her, da starb an einem ähnlichen Tage der, der mich liebte, der einzige Mann, für dessen Glück ich alles, ja die Achtung vor mir selbst geopfert hätte -- er starb, um mir die Ehre zu retten. Diese Liebe endete jung, rein und in der Fülle ihrer Illusionen. Ehe ich mich einer Leidenschaft hingab, zu der ein beispielloses Verhängnis mich trieb, ließ ich mich verführen durch das, was so viele junge Mädchen zugrunde richtet, durch einen Mann, der eine Null ist, aber ein liebenswürdiges Auftreten hat. Die Ehe entblätterte meine Hoffnungen eine nach der andern. Heute habe ich das legitime Glück und auch das Glück, das man das strafbare nennt, verloren, und das Glück an sich überhaupt nicht kennen gelernt. Es bleibt nichts mehr für mich übrig. Wenn ich nicht zu sterben verstanden habe, so muß ich zum mindesten meinen Erinnerungen treu bleiben.« Bei diesen Worten weinte sie nicht, sie schlug die Augen nieder und verrenkte kaum merklich die Finger, die sie in ihrer gewohnten Gebärde aufeinandergesetzt hatte. Dies wurde schlicht hingesprochen, aber der Klang ihrer Stimme war der Klang einer Verzweiflung, die ebenso tief war, wie ihre Liebe zu sein schien, und raubte Karl alle Hoffnung. Dieses furchtbare Dasein, in drei Sätzen beschrieben, und durch das Ringen einer Hand erläutert, dieser starke Schmerz in einer schwachen Frau, dieser Abgrund in einem hübschen Kopfe, endlich die Schwermut und die Tränen einer vierjährigen Trauer bezauberten Vandenesse, der schweigend und klein vor dieser großen, edlen Frau stand. Er sah nicht mehr die so erlesenen, vollendeten, materiellen Schönheiten, sondern nur die so überaus feinfühlende Seele. Endlich begegnete er hier dem idealen Wesen, das der phantastische Traum, die gewaltige Sehnsucht aller derer ist, die ihr Leben in eine einzige Leidenschaft setzen, sie mit Inbrunst suchen und oft sterben, ohne alle diese erträumten Schätze genossen zu haben. Gegenüber solcher Sprache und solcher erhabenen Schönheit fand Karl seine Ideen eng und beschränkt. In seinem Unvermögen, seine Worte der Hoheit dieser zugleich so einfachen und so erhabenen Szene anzupassen, antwortete er mit Gemeinplätzen über das Schicksal der Frauen. »Gnädige, man muß seine Schmerzen zu vergessen wissen oder sich ein Grab graben.« Aber vor dem Gefühl steht die trockene Vernunft immer kläglich da, die eine ist natürlich begrenzt, wie alles Positive, und das andere ist unbegrenzt. Die Vernunft walten zu lassen, wo Gefühl hingehört, ist die Eigentümlichkeit der Seelen ohne Schwung. Vandenesse schwieg daher, betrachtete lange Frau d'Aiglemont und ging dann. Eine Beute neuer Ideen, die ihm diese Frau immer größer erscheinen ließen, glich er einem Maler, der etwa die gewöhnlichen Modelle seines Ateliers zum Typus genommen hat und nun plötzlich die Mnemosyne des Museums erblickt, die schönste und am wenigsten geschätzte Statue des Altertums. Karl war aufs tiefste bezaubert. Er liebte Frau d'Aiglemont mit der Ehrlichkeit der Liebe, mit der Inbrunst, die der ersten Leidenschaft eine unsagbare Anmut, eine Lauterkeit verleiht, von der der Mann, wenn er später noch einmal liebt, immer nur Bruchstücke wiederfindet: wonnevolle Leidenschaften, von den Frauen, die sie hervorgerufen haben, fast immer mit Wonne genossen, weil sie in dem schönen Alter von dreißig Jahren, dem Höhepunkt der Poesie des Frauenlebens, den Verlauf solcher Leidenschaften voll überschauen können, und ihr Blick in die Zukunft ebenso sicher ist wie der in die Vergangenheit. Die Frauen kennen dann den ganzen Wert der Liebe und erfreuen sich ihrer in der ständigen Furcht, sie zu verlieren: Ihre Seele hat dann noch all das Jugendschöne, das sie zu verlieren beginnen, und ihre Leidenschaft holt sich immer neue Kraft an der Betrachtung einer Zukunft, vor der ihnen graut. »Ich liebe,« sagte de Vandenesse diesmal, als er die Marquise verließ, »und nun finde ich zu meinem Unglück eine Frau, die an Erinnerungen hängt. Es hält schwer, gegen einen Toten anzukämpfen, der nicht mehr da ist, der keine Dummheiten machen kann, der nie Mißfallen erregt und an dem man nur die guten Eigenschaften sieht. Soll man versuchen, den in der Erinnerung fortlebenden Zauber und die Hoffnungen zu vernichten, die einen verlorenen Geliebten überdauert haben, gerade weil er nur Wünsche erweckt hat? Ebensogut könnte man versuchen, die Vollkommenheit selbst von ihrem Throne zu stoßen. Denn sind nicht die Wünsche allein das Schönste, das Verführerischste an der ganzen Liebe?« Diese traurige Betrachtung entsprang der Mutlosigkeit, der Furcht, keine Erfolge zu haben -- ein Gefühl, mit dem alle wahren Leidenschaften beginnen. Sie war die letzte Berechnung seiner Diplomatie, die hiermit auf diesem Gebiete ihren Geist aufgab. Von nun ab hatte er keine Hintergedanken mehr, er wurde zum Spielball seiner Liebe und verlor sich im Nichts jenes unerklärlichen Glücks, das an einem Wort, einem Schweigen, einer unklaren Hoffnung Genüge findet. Er wollte platonisch lieben, kam alle Tage, mit Frau d'Aiglemont die gleiche Luft zu atmen, nistete sich fast in ihrem Hause ein und begleitete sie überall hin, mit der Tyrannei einer Leidenschaft, die der blindesten Ergebenheit den Egoismus beimischt. Die Liebe hat ihren Instinkt, sie weiß den Weg zum Herzen zu finden, wie das schwächste Insekt auf seine Blume zugeht, mit einem unwiderstehlichen Willen, der vor nichts zurückschreckt. Wenn ein Gefühl wahr ist, so ist daher auch sein Schicksal nicht zweifelhaft. Muß nicht eine Frau in größte Angst versetzt werden, wenn sich der Gedanke bei ihr einstellt, daß ihr Leben davon abhängt, ob ihr Geliebter mehr oder weniger Wahrheit, Kraft und Ausdauer in seiner Liebe beweisen wird? Einer Frau, einer Gattin und Mutter ist es nun unmöglich, sich gegen die Liebe eines jungen Mannes zu schützen; das einzige Mittel, das in ihrer Macht steht, ist, ihn von dem Augenblick an, wo sie dieses Geheimnis des Herzens errät -- und das errät eine Frau immer -- nicht mehr zu empfangen. Allein dieser Entschluß scheint zu entscheidend zu sein, als daß eine Frau ihn noch in einem Alter fassen könnte, wo die Ehe sie bedrückt, langweilt oder gleichgültig macht, wo die eheliche Liebe nur noch lau ist und der Mann ihr am Ende gar schon untreu geworden ist. Sind die Frauen häßlich, so schmeichelt ihnen eine Leidenschaft, die sie auf eine Stufe mit den schönen stellt; sind sie jung und reizend, so muß die Verführung auf sie im selben Grade wirken, wie sie selbst verführerisch sind, nämlich sehr stark; sind sie tugendhaft, so ist das Gefühl ja doch himmlisch, obzwar von dieser Welt, und das läßt sie gerade in der Größe der Opfer, die sie ihrem Geliebten bringen, und in dem Ruhm eines so schweren Kampfes allein schon eine gewisse Absolution erblicken. Alles ist ein Fallstrick. Daher ist auch keine Lehre stark genug, gegen diese starke Verführung etwas zu vermögen. Die Abschließung, die ehemals in Griechenland und im Orient für die Frau Gesetz war und die in England jetzt Mode wird, ist der einzige Schutz für die häßliche Moral; aber unter der Herrschaft dieses Systems gehen alle Annehmlichkeiten der Welt zugrunde. Die Geselligkeit, die Feinheit und Vornehmheit der Sitten sind nicht mehr möglich. Die Nationen werden ihre Wahl zu treffen haben. So fand denn einige Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen mit Vandenesse Frau d'Aiglemont ihr Leben eng mit dem des jungen Mannes verschlungen; sie wunderte sich darüber, ohne sonderlich betroffen zu sein, ja sie fand fast ein gewisses Vergnügen daran, seine Geschmäcker und Gedanken zu teilen. Hatte sie die Denkweise de Vandenesses angenommen, oder hatte Vandenesse sich ihre kleinsten Launen angeeignet? Sie stellte keine Untersuchung an. Schon von dem Strom seiner Leidenschaft mit fortgerissen, sagte sich diese bewundernswerte Frau in der trügerischen Zuversicht der Furcht: »O nein! Ich werde dem die Treue bewahren, der für mich gestorben ist.« Pascal hat gesagt: »An Gott zweifeln, heißt schon an ihn glauben.« Ebenso sträubt sich eine Frau gar nicht -- oder sie ist eben schon verliebt. An dem Tage, wo die Marquise sich eingestand, sie werde geliebt, war es mit ihr auch schon soweit, daß sie zwischen tausend widersprechenden Gefühlen hin und her trieb. Der Aberglaube der Erfahrung redete seine Sprache. Würde sie glücklich sein? Könnte sie das Glück finden außerhalb der Gesetze, die die Gesellschaft, ob zu Recht oder zu Unrecht, als ihre Moral aufgestellt hat? Bisher hatte das Leben nur Bitterkeit über sie ausgeschüttet. Konnte es denn zwischen zwei Wesen, die durch die gesellschaftlichen Anstandsregeln voneinander getrennt waren, innerhalb der Grenzen, in denen ihr Verhältnis bleiben müßte, zu einem Glücke kommen? Doch wiederum, wird das Glück jemals zu teuer bezahlt? Und dann ist das Glück, das so heiß ersehnt wird, das zu suchen so natürlich ist, vielleicht hier endlich einmal gefunden? Ein seltsames Zusammentreffen findet sich immer ein, die Sache der Liebenden zu fördern. Während sie diese geheimen Betrachtungen anstellte, kam Vandenesse. Seine Gegenwart verscheuchte das metaphysische Phantom der Vernünftelei. Solcher Art sind die Wandlungen, die bei einem jungen Manne und einer jungen Frau von dreißig Jahren selbst eine rasche, stürmische Liebe durchmachen muß, aber es kommt immer zu einem Augenblick, wo die Wolken verschwinden, wo die Vernunftgründe zu einem einzigen, letzten Gedanken zusammenschrumpfen, der sich mit einer Begierde vermischt und ihr Nachdruck verleiht. Je länger der Widerstand gewesen ist, um so mächtiger ist dann die Stimme der Liebe. Hier also endet diese Betrachtung oder vielmehr -- wenn es erlaubt ist, der Malkunst einen ihrer pittoresken Ausdrücke zu entlehnen -- diese »am bloßgelegten Muskel« gemachte Studie. (Denn diese Geschichte legt mehr die Gefahren und den Mechanismus der Liebe auseinander, als daß sie sie darstellt.) Aber von diesem Augenblick an verlieh jeder Tag diesem Skelett neue Farben, bekleidete es mit der Anmut der Jugend, gab daran dem Fleisch und den Bewegungen Leben und flößte ihm den Glanz, die Schönheit des Empfindens und die Reize des Lebens ein. Karl fand Frau d'Aiglemont nachdenklich, und fragte sie in bebendem Tone, dem die süße Magie des Herzens besondere Eindringlichkeit verlieh: »Was ist Ihnen denn?« -- Doch sie hütete sich, zu antworten. Diese köstliche Frage verriet eine vollkommene Übereinstimmung der Seelen; und in dem wunderbaren Instinkt des Weibes begriff die Marquise, daß sie in gewissem Sinne ein Entgegenkommen zeigen würde, wenn sie jetzt Klagen anstimmte oder ihrem Unglück Ausdruck verlieh. Und wenn schon jedes dieser Worte eine von allen beiden verstandene Bedeutung hatte, stand sie da nicht schon mit einem Fuß im Abgrund? Sie las mit scharfem, klarem Blick in ihrem Innern und schwieg, Vandenesse folgte ihrem Beispiel und schwieg auch. »Ich bin leidend,« sagte sie endlich, voll Schrecken über die hohe Bedeutung eines Augenblicks, wo die Sprache der Augen vollständig die Rede ersetzte, zu der beide nicht fähig waren. »Gnädige Frau,« antwortete Karl in liebenswürdigem Tone, dem man aber trotzdem seine heftige Erregung anhörte, »Seele und Leib, alles hängt zusammen. Wenn Sie glücklich wären, würden sie jung und frisch sein. Warum weigern Sie sich, von der Liebe alles das zurückzuverlangen, dessen die Liebe Sie beraubt hat? Sie glauben, das Leben sei mit dem Augenblick zu Ende, wo es, für Sie, erst anfängt. Vertrauen Sie sich der Pflege eines Freundes an. Es ist so süß, geliebt zu sein.« »Ich bin schon alt,« sagte sie, »nichts würde mich also entschuldigen, wollte ich aufhören zu leiden, wie bisher. Übrigens, lieben müsse man, sagen Sie? Nun wohl, das darf ich nicht und kann ich auch nicht. Außer Ihnen, dessen Freundschaft ein wenig Freude in mein Dasein bringt, gefällt mir kein Mensch, wäre kein Mensch imstande, meine Erinnerungen auszulöschen. Einen Freund nehme ich an, einen Verehrer würde ich fliehen. Und wäre es auch edel von mir, ein welkes Herz gegen ein junges einzutauschen, Illusionen anzunehmen, die ich nicht mehr teilen kann, ein Glück entstehen zu lassen, an das ich nicht glauben oder um dessen Verlust ich beständig zittern würde? Ich würde auf Ergebenheit vielleicht mit Egoismus antworten, ich würde berechnen, wo der andere fühlt; meine Erinnerungen würden beständig der Lebendigkeit seiner Freude im Wege sein. Nein, sehen Sie, für eine erste Liebe gibt es niemals Ersatz. Und schließlich, welcher Mann würde zu solchem Preise mein Herz haben wollen?« Diese Worte, voll grausamer Koketterie, waren der letzte Versuch der Klugheit. »Wenn er den Mut verliert, gut, dann bleibe ich allein und treu.« Dieser Gedanke regte sich im Herzen der jungen Frau und war für sie dasselbe, was der zu schwache Zweig einer Weide ist, den ein Schwimmer ergreift, ehe er sich vom Strom wegreißen läßt. Als Vandenesse diesen Einspruch hörte, zitterte er unwillkürlich, und dieses Beben wirkte mächtiger auf das Herz der Marquise ein, als seine Aufmerksamkeiten bisher. Was rührt denn die Frauen am meisten? Wenn sie in uns ein ebenso starkes Feingefühl, ebenso erlesene Empfindungen entdecken, als die ihren sind. Die unwillkürliche Bewegung Karls verriet eine wahre Liebe. Die Stärke seiner Liebe erkannte Frau d'Aiglemont an der Stärke seines Schmerzes. Der junge Mann antwortete kalt: »Sie haben vielleicht recht. Neue Liebe, neuer Kummer.« Dann gab er dem Gespräch eine andere Wendung und plauderte von gleichgültigen Dingen. Aber er war sichtlich ergriffen und betrachtete Frau d'Aiglemont mit gespannter Aufmerksamkeit, als wenn er sie zum letzten Male sähe. Endlich verließ er sie, indem er mit Bewegung zu ihr sagte: »Leben Sie wohl, gnädige Frau.« »Auf Wiedersehen,« sagte sie mit jener feinen Koketterie, deren Geheimnis nur Frauen ersten Ranges besitzen. Er antwortete nicht und ging. Als Karl nicht mehr da war, als sein leerer Stuhl für ihn sprach, empfand sie tausendfaches Bedauern und fühlte sich im Unrecht. In dem Augenblick, wo eine Frau unedel gehandelt oder eine edle Seele verletzt zu haben glaubt, macht die Liebe in ihr einen riesigen Fortschritt. Vor bösen Gefühlen in der Liebe braucht man niemals Angst zu haben; sie sind sehr heilsam. Immer nur eine Tugend ist's, was die Frauen zu Fall bringt. »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert,« das ist durchaus nicht bloß ein Paradoxon der Kanzel. Ein paar Tage lang ließ Vandenesse sich nicht sehen. An jedem Abend erwartete die Marquise ihn zu der gewohnten Besuchsstunde mit reuevoller Ungeduld. Schreiben wäre ein Geständnis gewesen; und dann sagte ihr auch ihr Instinkt, er werde wiederkommen. Am sechsten Tage meldete der Kammerdiener ihn an. Niemals zuvor hatte sie diesen Namen mit so großer Freude nennen hören. Sie erschrak über diese Freude. »Sie haben mich recht schwer bestraft,« sagte sie zu ihm. Vandenesse sah sie verblüfft an. »Bestraft?« fragte er. »Und wofür?« Karl verstand die Marquise sehr wohl; aber da sie ahnte, welche Leiden sie ihm verursacht hatte, wollte er sich im selben Augenblick dafür an ihr rächen. »Warum haben Sie mich nicht besucht?« fragte sie lächelnd. »Es ist also niemand bei Ihnen gewesen?« sagte er, um keine unmittelbare Antwort zu geben. »Herr de Ronquerolles und Herr de Marsay, ferner der kleine d'Escrignon sind hier gewesen, die einen gestern, der andere heute mittag, gegen zwei Uhr. Ich glaube, ich habe auch Frau Firmiani und Ihre Schwester gesehen, Madame de Listomere.« Ein neues Leiden! ein Schmerz, der unbegreiflich ist für alle, die nicht mit überwältigendem und wildem Despotismus lieben; denn für solch einen Liebenden führt das geringste zu ungeheuerlicher Eifersucht, zu dem beständigen Wunsche, das geliebte Wesen allen Einflüssen zu entziehen, die nichts mit seiner Liebe zu tun haben. »Was?« dachte Vandenesse bei sich. »Sie hat zufriedene Menschen gesehen und bei sich empfangen, hat mit ihnen gesprochen, während ich einsam und unglücklich war!« Er begrub seinen Schmerz und versenkte seine Liebe im Grunde seines Herzens, wie man einen Sarg ins Meer versenkt. Seine Gedanken waren von der Art, die man nicht ausspricht, sie hatten die rasche Wirkung jener Säuren, die, so schnell sie sich verflüchtigen, doch töten. Inzwischen bewölkte sich seine Stirn, und Frau d'Aiglemont gehorchte dem weiblichen Instinkt, indem sie diese Traurigkeit teilte, ohne daß sie sie verstand. Es war nicht ihre Schuld, wenn sie Leid verursachte, und Vandenesse begriff das. Er sprach von seinem Zustand und seiner Eifersucht, als wenn dies eine der Hypothesen wäre, über die ein Liebespaar immer gerne spricht. Die Marquise verstand alles und wurde jetzt so innig gerührt, daß sie die Tränen nicht zurückhalten konnte. Mit diesem Augenblick traten sie in den Himmel der Liebe ein. Der Himmel und die Hölle sind zwei große Gedichte und bilden die beiden einzigen Punkte, um die sich unser Leben dreht: die Freude oder der Schmerz. Was ist denn der Himmel, und was wird er ewig sein? Ein Abbild der unendlichen Fülle unserer Freuden, die stets nur in ihren Einzelheiten dargestellt werden können, weil das Glück ein einziges Ganzes ist. Und die Hölle? Stellt sie nicht die unendlichen Qualen unserer Schmerzen dar, aus denen wir nur deshalb ein Werk der Poesie machen können, weil sie alle einander unähnlich sind? Eines Abends saßen die beiden Liebenden allein und schweigend nebeneinander. Sie betrachteten eine der schönsten Phasen des Firmaments, einen jener reinen Himmel, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne mit Tinten von Gold und Purpur bekleiden. Um diese Zeit des Tages scheint das langsame Abnehmen des Lichts süße Empfindungen zu erwecken; unsere Leidenschaften regen sich leise, und wir fühlen wonnevoll eine gewisse Aufregung inmitten der Stille. Die Natur zeigt uns das Glück an unbestimmten Bildern. Ist es uns nahe, so scheint sie uns aufzufordern, es zu genießen. Hat es uns geflohen, so versetzt sie uns in die Stimmung, daß wir es betrauern. In diesen bezaubernden Augenblicken, unter dem Baldachin dieses Lichtes, dessen zarte Harmonien zu intimen Reizen zusammenfließen, ist es schwer, den Stimmen des Herzens zu widerstehen, denen dann so viel Zauberkraft innewohnt. Dann läßt der Kummer nach, die Freude berauscht, und der Schmerz wird so schwer, daß man ihn endlich abwerfen möchte. Die Pracht des Abends ist das Zeichen für Liebeserklärungen und fordert dazu heraus. Das Schweigen wird gefährlicher als die Rede, denn es teilt dem Auge die ganze Gewalt des unendlichen Himmels mit, der sich in ihm spiegelt. Wenn man spricht, so besitzt das geringste Wort eine unwiderstehliche Kraft. Ist dann nicht auch Licht in der Stimme, Purpur im Blick? Ist nicht der Himmel gleichsam in uns, oder dünkt es uns nicht, im Himmel zu sein? Vandenesse und Julie -- denn seit einigen Tagen ließ sie sich so vertraulich nennen, während es ihr gefiel, ihn Karl zu nennen -- Vandenesse und Julie sprachen miteinander; aber der primitive Gegenstand ihres Gesprächs war ihnen ganz fern; sie wußten kaum noch, was ihre Worte für Sinn hätten -- dafür lauschte sie mit um so größerer Wonne den geheimen Gedanken, die sich hinter diesen Worten versteckten. Die Hand der Marquise lag in der Vandenesses, und sie überließ sie ihm, ohne zu glauben, daß dies eine Gunstbezeugung wäre. Sie neigten sich vor und sahen auf eine jener majestätischen Landschaften voller Schnee, Gletscher und grauen Schatten, die die Flanken phantastischer Berge färben -- eines jener Gemälde mit schroffen Gegensätzen zwischen den roten und schwarzen Tönen, die den Himmel mit einer unnachahmlichen Poesie von kurzer Dauer schmücken, mit prächtigen Streifen, in denen die Sonne noch einmal auflebt -- ein schönes Leichentuch, in das sie sich sterbend hüllt. In diesem Augenblick streiften Juliens Haare leicht Vandenesses Wange. Sie fühlte diese kaum merkliche Berührung, sie zitterte heftig, und er noch mehr. Denn alle beide waren allmählich zu einem jener unerklärlichen Höhepunkte gelangt, wo, sofern das Herz bereits der Melancholie überliefert oder aber in den Strudel der Liebe geraten ist, die Stille ringsum den Sinnen ein so feines Tastgefühl verleiht, daß der schwächste Anstoß Tränen hervorruft oder die Schwermut entfesselt. Julie drückte fast unwillkürlich die Hand ihres Freundes. Dieser vielsagende Druck flößte dem zaghaften Liebhaber Mut ein. Die Freuden dieses Augenblicks und die Hoffnungen auf die Zukunft, alles floß in eine Regung zusammen -- in die der ersten Liebkosung, des keuschen, bescheidenen Kusses, den Frau d'Aiglemont der Wange rauben ließ. So gering die Gunst war, um so mächtiger, um so gefährlicher wurde sie. Zu ihrem Unglück war dabei kein Schein und keine Falschheit im Spiele. Es war ein Austausch zweier schönen Seelen, die durch das sogenannte Gesetz getrennt waren und durch alles, was die Natur an Verführerischem besitzt, vereint wurden. In diesem Augenblick trat General d'Aiglemont ein. »Wir haben ein anderes Ministerium bekommen,« sagte er. »Ihr Oheim gehört zum neuen Kabinett. Sie haben also gute Aussicht, Gesandter zu werden, Vandenesse.« Karl und Julie sahen sich errötend an. Dieses gegenseitige Schamgefühl war nur ein neues Band. Beide hatten den gleichen Gedanken -- die gleichen Gewissensbisse: ein furchtbares Band zwischen zwei Liebenden, die eines Kusses schuldig sind, ganz ebenso stark wie zwischen zwei Räubern, die gemeinsam einen Menschen umgebracht haben. Doch der Marquis mußte eine Antwort haben. »Ich will nicht mehr aus Paris fort,« sagte Karl de Vandenesse. »Wir wissen, weshalb,« versetzte der General und tat ganz besonders schlau, wie jemand, der ein großes Geheimnis entdeckt. »Sie wollen nicht von Ihrem Onkel lassen -- er soll Sie zum Erben seiner Pairswürde ernennen.« Die Marquise flüchtete in ihr Zimmer und sprach über ihren Gatten das furchtbare Wort: »Er ist doch wirklich zu einfältig!« 4. Kapitel. Der Finger Gottes. Zwischen der Barrière d'Italie und der Barrière de la Santé hat man auf dem innern Boulevard, der zum Botanischen Garten führt, eine Aussicht, die den Künstler und selbst den von Augenweiden aller Art übersättigten Reisenden entzücken muß. Wenn man eine mäßige Anhöhe erreicht hat, von der aus sich der Boulevard im Schatten seiner hohen dichten Bäume wie ein grüner, stiller Waldweg anmutig hinzieht, sieht man zu seinen Füßen ein tiefes, von ländlichen Gebäuden erfülltes, mit lichtem Grün besätes, von den braunen Wässern der Bièvre und der Gobelins durchströmtes Tal. Am gegenüberliegenden Abhange umfassen ein paar tausend Dächer, aneinandergedrängt wie die Köpfe einer Menge, das Elend des Faubourgs Saint-Marceau. Die prächtige Kuppel des Pantheons, der düstere, schwermütige Dom des Val-de-Grâce beherrschen stolz eine ganze amphitheatralisch aufgebaute Stadt, deren Terrassen von den gewundenen Straßen eigenartig umrissen werden. Von dort aus erscheinen die Proportionen der beiden Bauwerke riesenhaft; hoch überragen sie nicht nur die baufälligen Häuser, sondern auch die Wipfel der höchsten Pappeln des Tales. Zur Linken erscheint wie ein schwarzes, hageres Gespenst die Sternwarte, und durch ihre Fenster und Galerien scheint das Licht hindurch, phantastische Bilder hervorrufend. In weiterer Ferne leuchtet der elegante durchbrochene Turm der Invalidenkirche zwischen den bläulichen Baummassen des Luxembourgparks und den grauen Türmen von Saint-Sulpice. Von dort gesehen, vermischen sich die Umrisse dieser Bauwerke mit Laubwerk und mit Schatten und sind den Launen des Himmels unterworfen, der unaufhörlich Farbe, Licht und Aussehen wechselt. Fern von dir türmen sich Gebäude in die Luft; in deiner Nähe schlängeln sich wogende Bäume und ländliche Pfade. Rechts siehst du durch einen breiten Einschnitt in dieser einzigartigen Landschaft die lange, blanke Fläche des Sankt Martinkanals, von roten Steinen eingefaßt, geschmückt mit Lindenbäumen, umrahmt von den im echten romanischen Stil gehaltenen Bauten der zahlreichen Speicher. Dort verlieren sich auch die dunstigen Hügel von Belleville, bestanden von Häusern und Mühlen, mit ihren Geländewellen in den Wolken. Aber zwischen der Reihe von Dächern, die das Tal umrahmen, und dem Horizont, der ebenso undeutlich ist wie eine Erinnerung aus der Kindheit, liegt eine Stadt, die du nicht sehen kannst -- eine ungeheure Stadt, versunken in einen Abgrund zwischen der Höhe, auf der das »Hospital zur Pietät« liegt, und dem Gipfel, der den Ostkirchhof trägt, also gewissermaßen zwischen dem Leiden und dem Tode. Sie läßt ein dumpfes Brausen hören, wie der Ozean, wenn er hinter einem Felsenriff brandet, als wolle sie dir zurufen: »Da bin ich.« Wenn die Sonne ihre Fluten von Licht über das Antlitz von Paris ausgießt, wenn sie die Linien der Stadt rein und flüssig erscheinen läßt, wenn sie ein paar Fensterscheiben in Brand setzt, die Ziegel bestrahlt, die goldenen Kreuze aufflackern läßt, die Mauern weiß färbt und die Atmosphäre zu einem Gazeschleier verwandelt; wenn sie durch phantastische Schatten reiche Kontraste schafft, wenn der Himmel azurblau ist und die Erde braust und dröhnt und die Glocken reden, dann bewunderst du von dort aus eins jener eindrucksvollen Zauberbilder, das die Phantasie niemals vergißt, das du anbetest, das dich berauscht wie ein wundervoller Anblick von Neapel, Stambul oder Florida. Diesem Blicke fehlt nichts zur vollen Harmonie. Hier braust der Lärm der Welt und murmelt der Friede der Einsamkeit -- man hört die Stimmen von Millionen von Menschen und auch die Stimme Gottes. Dort liegt eine Weltstadt unter den friedlichen Zypressen des Père-Lachaise gebettet. An einem Frühlingsmorgen, zur Zeit, als die Sonne alle Schönheiten dieser Landschaft erglänzen ließ, habe ich sie bewundert, gelehnt an eine große Ulme, die ihre gelben Blüten dem Winde gab. Im Anblick dieser reichen, erhabenen Bilder dachte ich mit Bitterkeit an die Geringschätzung, die wir bis in unsere Bücher hinein gegen unser Vaterland von heute bekunden. Ich verwünschte die armen Reichen, die, unseres schönen Frankreichs überdrüssig, für Geld sich das Recht erkaufen, ihr Vaterland zu verachten, im Galopp zu reisen und durch ein Lorgnon die Gegenden Italiens betrachten, das jetzt schon »jeder Schuster« kennt. Ich betrachtete mit Liebe das moderne Paris, ich träumte, als plötzlich das Geräusch eines Kusses meine Einsamkeit störte und die Philosophie zum Teufel jagte. In der Seitenallee, entlang dem steilen Abhang, an dessen Fuß das Wasser hinströmt, gewahrte ich eine Frau, die mir noch ziemlich jung erschien. Sie war einfach und doch höchst elegant gekleidet, und ihr sanftes Gesicht schien vom heiteren Glück der Landschaft widerzustrahlen. Ein schöner junger Mann setzte den hübschesten kleinen Jungen, den man sehen kann, auf die Erde, so daß ich niemals habe erfahren können, ob der Kuß auf der Wange der Mutter oder des Kindes erklungen war. Ein und derselbe zarte, lebhafte Sinn leuchtete in den Augen, den Gebärden, dem Lächeln dieser beiden jungen Leute. Sie reichten sich den Arm in so glücklichem Einvernehmen und näherten sich in einem so wunderbaren Gleichmaß der Bewegung, daß sie, ganz in sich versunken, meine Anwesenheit gar nicht bemerkten. Aber ein zweites, unzufriedenes und schmollendes Kind, das ihnen den Rücken kehrte, warf mir Blicke zu, deren Ausdruck mich seltsam berührte. Es ließ seinen Bruder allein gehen und war bald hinter, bald vor seiner Mutter und dem jungen Manne. Ebenso anmutig, ebenso schön wie das andere, aber von zarten Formen, verhielt es sich stumm und steif und machte fast den Eindruck einer in Schlaf versunkenen Schlange. Es war ein kleines Mädchen. Die Gangart der hübschen Frau und ihres Gefährten hatte etwas seltsam Übereinstimmendes. Es war fast, als wenn zwei Maschinen sich bewegten, so sehr entsprachen einander die Bewegungen der beiden. Aus Zerstreutheit vielleicht legten sie nur die kurze Strecke zwischen der kleinen Brücke und einem an der Biegung des Boulevards haltenden Wagen zurück und begannen diesen Spaziergang immer von neuem, wobei sie stehenblieben, sich ansahen und lachten, wie es die Laune eines bald belebten, bald schmachtenden, bald ernsten, bald närrischen Gesprächs mit sich brachte. Verborgen hinter der großen Ulme, bewunderte ich diese reizende Szene und würde mich sicherlich behutsam entfernt haben, wenn ich nicht auf dem Gesicht des kleinen, träumerischen und schweigsamen Mädchens die Spur eines über sein Alter hinausgehenden Denkens bemerkt hätte. Wenn die Mutter der Kleinen und der junge Mann, in ihre Nähe gekommen, wieder umdrehten, dann senkte sie oft heimlich den Kopf und warf ihnen, wie auch ihrem Bruder, einen verstohlenen und wirklich recht seltsamen Blick zu. Aber nichts könnte die durchdringende Verschlagenheit, die boshafte Naivität, die wilde Aufmerksamkeit wiedergeben, die dieses Kindergesicht mit den leichten Ringen um die Augen plötzlich belebten, sobald die hübsche Frau oder ihr Begleiter die blonden Locken, den frischen Hals des kleinen Jungen streichelten oder seinen weißen Kragen zurechtstrichen, wenn er in kindlichem Eifer neben ihnen herzulaufen versuchte. Es sprach jedenfalls die Leidenschaft eines Erwachsenen aus dem schmalen Gesicht dieses seltsamen Mädchens. Es war leidend oder grüblerisch veranlagt. Und was verkündet bei diesen kaum erblühten Geschöpfen sicherer den nahen Tod? Das im Körper steckende Leiden oder das frühreife Grübeln, das die Seele verzehrt, die noch fast im Keim liegt? Eine Mutter weiß das vielleicht. Ich für meinen Teil kenne nichts Gräßlicheres als greisenhaftes Sinnen auf einer Kinderstirn. Die Gotteslästerung auf den Lippen einer Jungfrau ist noch weniger ungeheuerlich. Die fast stumpfsinnige Haltung dieses schon grüblerischen Kindes, seine spärlichen Bewegungen, alles interessierte mich. Ich beobachtete die Kleine neugierig. Aus einer bei Menschenkindern natürlichen Laune verglich ich sie mit ihrem Bruder und suchte die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zwischen beiden zu erspähen. Die Schwester hatte braunes Haar, schwarze Augen und eine früh entwickelte Kraft -- das alles bildete einen starken Gegensatz zu dem blonden Haar, den meergrünen Augen und der graziösen Schwäche des Knaben. Das ältere Kind mochte etwa sieben oder acht Jahre alt sein, das jüngere kaum vier. Sie waren in der gleichen Weise gekleidet. Als ich sie jedoch aufmerksam betrachtete, bemerkte ich an den weißen Kragen ihrer Hemdchen einen ganz unbedeutenden Unterschied, der mich aber später einen ganzen Roman in der Vergangenheit und ein ganzes Drama in der Zukunft übersehen ließ. Und es war doch nur eine Kleinigkeit. Ein einfacher Saum umgab den Kragen des kleinen braunen Mädchens, während hübsche Stickereien den des Knaben schmückten und ein Herzensgeheimnis verrieten, eine stillschweigende Bevorzugung, die die Kinder aber doch in der Seele ihrer Mutter erkennen, gleich als sei der Geist Gottes in ihnen. Sorglos und lustig, glich der Blonde einem kleinen Mädchen, so zart war seine weiße Haut, so anmutig seine Bewegungen, so süß sein Gesicht; während die ältere trotz ihrer Kraft, trotz der Schönheit ihrer Züge und ihres blendenden Teints einem kleinen kränklichen Jungen glich. Ihre lebhaften Augen hatten nicht jenen feuchten Schleier, der Kinderaugen soviel Reiz verleiht; sie schienen von einem innern Feuer ausgetrocknet zu sein, wie etwa bei Leuten, die in der Atmosphäre eines königlichen Hofes leben müssen. Das Weiße ihrer Augen hatte auch einen gewissen Stich ins Fahle, Gelbliche -- ein Zeichen für einen ungestümen Charakter. Zweimal hatte ihr kleiner Bruder ihr mit einer rührenden Anmut, mit fröhlichem Blick und einer ausdrucksvollen Miene, die unsern Kindermaler Charlet entzückt haben würde, das kleine Jagdhorn hingereicht, auf dem er von Zeit zu Zeit blies. Aber jedesmal hatte das Mädchen auf seine in liebkosendem Tone gestellte Frage: »Willst du's haben, Helene?« nur mit einem barschen Blick geantwortet. Sie trug eine unbekümmerte Miene zur Schau und war dennoch finster, ja schrecklich; denn sie zitterte und wurde rot, wenn ihr Bruder sich ihr näherte. Aber der Kleine schien die düstere Stimmung seiner Schwester nicht zu bemerken, und sein Wesen, halb Sorglosigkeit, halb Interesse, vollendete den Gegensatz zwischen ihm und der Schwester: hier der wahre Charakter der Kindheit, dort die Sorge und das Wissen des Erwachsenen, scharf ausgeprägt auf einem schon verdüsterten Mädchengesicht. »Mama, Helene will nicht spielen,« rief der Kleine und benutzte, um eine Beschwerde vorzubringen, einen Augenblick, wo seine Mutter und der junge Mann schweigend auf der Gobelinsbrücke stehengeblieben waren. »Laß sie, Karl. Du weißt, sie murrt immer.« Diese Worte, die die Mutter leicht hinwarf, während sie sich gleich darauf mit dem jungen Manne wieder umdrehte, entlockten Helene Tränen. Sie verschluckte sie stumm, warf ihrem Bruder einen jener tiefen Blicke zu, die mir unerklärlich schienen, und betrachtete mit einer Miene, die fast einen unheilvollen Scharfsinn verriet, erst den schroffen Abhang, auf dessen Spitze der Kleine stand, dann den Bièvrefluß, die Brücke und mich. Ich fürchtete, von dem glücklichen Paar gesehen zu werden, dessen Unterhaltung ich dann ohne Zweifel gestört haben würde; ich zog mich leise zurück und suchte Zuflucht hinter einer Hollunderhecke, deren Laubwerk mich völlig allen Blicken verbarg. Ich setzte mich ruhig auf den Rand des Abhangs und betrachtete schweigend bald die wechselnden Schönheiten der Gegend, bald das wilde Mädchen, das ich durch die Lücken des Hollunders noch genau sehen konnte, denn ich hatte den Kopf an den Fuß der Hecke gelehnt, wo er sich fast in gleicher Höhe mit dem Boulevard befand. Als Helene mich nicht mehr sah, schien sie unruhig; ihre schwarzen Augen suchten mich in der Ferne der Allee, hinter den Bäumen, kurz, sie sah sich mit unerklärlicher Neugierde nach mir um. Was hatte sie an mir? In diesem Augenblick erschallte in der Stille das naive Lachen Karls wie der Gesang eines Vogels. Der junge Mann, ebenso blond, ließ ihn in seinen Armen tanzen und küßte ihn, wobei er ihn mit einer Fülle von zusammenhanglosen Koseworten überschüttete, wie wir sie eben an Kinder richten, ohne uns an den eigentlichen Sinn der Worte zu kehren. Die Mutter sah lächelnd diesem Spiele zu und sprach von Zeit zu Zeit mit leiser Stimme wohl ein paar von Herzen kommende Worte; denn ihr Gefährte hielt dann ganz glücklich inne und sah sie mit seinen blauen Augen voll Feuer, voll Anbetung an. Ihre Stimmen, wie sie sich so mit der des Kindes vermischten, hatten etwas überaus Zärtliches, Inniges an sich. Sie bildeten alle drei ein entzückendes Bild, und dieses zärtliche Bild verlieh der großartigen Landschaft, in die es hineingestellt war, eine unsagbare Anmut und Weichheit. Eine schöne, weiße, lachende Frau, ein Kind der Liebe, ein in Jugend strahlender Mann, ein reiner Himmel und alle Harmonie der Natur -- das alles schmolz zu einem Einklang zusammen, der der Seele unendlich wohltat. Ich ertappte mich über einem Lächeln, als wenn das Glück mein eigenes gewesen wäre. Der schöne junge Mann hörte es neun schlagen. Nachdem er seine fast ernst und traurig gewordene Gefährtin geküßt hatte, kehrte er zu seinem zweiräderigen Wagen zurück, den ein alter Diener langsam heranführte. Der junge Mann küßte ein letztes Mal noch das Kind, das dazwischen lustig schwatzte. Als der Herr hinwegfuhr und die junge Frau dem rollenden Wagen nachsah, der in der grünen Allee des Boulevards eine Staubwolke hinter sich zurückließ, lief Karl zu seiner Schwester, die an der Brücke stand, und ich hörte ihn mit silberner Stimme zu ihr sagen: »Warum hast du nicht auch meinem guten Freund Adieu gesagt?« Als Helene ihren Bruder an dem Rande des Abhanges sah, warf sie ihm den entsetzlichsten Blick zu, der je die Augen eines Kindes entflammt hat, und gab ihm einen heftigen Stoß. Der Knabe glitt an dem steilen Hang aus und stolperte über Wurzeln, so daß er gegen die scharfen Steine der Mauer fiel. Er zerschlug sich die Stirn an ihnen, und gleich darauf stürzte er blutend in das schlammige Wasser des Flusses, das in tausend braunen Kreisen vor seinem hübschen blonden Kopf zur Seite wich. Ich hörte den schrillen Schrei des armen Kleinen; aber bald war nichts mehr zu hören -- er verschwand im Schlamme mit einem gurgelnden Laut, wie ein Stein, wenn er versinkt. Der Sturz hatte sich mit Blitzesschnelle vollzogen. Ich erhob mich rasch und stieg auf einem Pfade hinab. Helene war außer Fassung und schrie herzzerreißend: »Mama! Mama!« Die Mutter war neben mir. Sie war wie ein Vogel geflogen. Aber weder die Augen der Mutter, noch die meinen konnten die Stelle entdecken, wo das Kind versunken war. Eine große Fläche des schwarzen Wassers war in brodelnde Bewegung geraten. Das Bett der Bièvre hat an dieser Stelle zehn Fuß tiefen Schlamm. Das Kind mußte darin sterben, es war unmöglich, es zu retten. Zu dieser Stunde -- es war ein Sonntag -- feierte alles, und man sah weder Kähne noch Fischer. Ich sah nicht einmal eine Stange, um den modrigen Fluß zu untersuchen, und kein Mensch war weit und breit zu sehen. Warum hätte ich nun von diesem unheilvollen Vorgange sprechen oder das Geheimnis dieses Unglücks verraten sollen? Helene hatte vielleicht ihren Vater gerächt. Ihre Eifersucht war ohne Zweifel das Schwert Gottes. Dennoch erfaßte mich ein Schauder, als ich die Mutter ansah. Welchem entsetzlichen Verhör würde nicht ihr Mann, ihr ewiger Richter, sie unterwerfen? Und sie hatte immer einen unbestechlichen Zeugen bei sich. Kinder haben eine durchsichtige Stirn und Haut, und die Lüge ist bei ihnen wie ein Licht, das selbst den Blick erröten läßt. Die unglückselige Frau dachte noch nicht an die Strafe, die zu Hause ihrer harrte. Sie starrte in die Bièvre. Ein solches Ereignis mußte das Leben jeder Frau furchtbar erschüttern, und es war das einer der schrecklichsten Schläge, die von Zeit zu Zeit über Juliens Liebe hereinbrachen. * * * * * Zwei oder drei Jahre später befand sich ein Notar bei dem Marquis de Vandenesse, der jetzt um seinen Vater trauerte und den Nachlaß zu ordnen hatte. Es war am Abend nach dem Diner. Dieser Notar war keiner von der Art, wie der Romanschriftsteller Sterne sie schildert. Es war kein kleiner englischer Notar, sondern ein großer, dicker Notar aus Paris, einer jener schätzbaren Männer, die ihre Albernheiten in das Gewand der Würde kleiden, ungekannte Wunden plump mit Füßen treten und obendrein noch fragen, warum man sich beklage. Wenn sie zufällig einmal das Wie und Weshalb ihrer schrecklichen Blödheit merken, dann sagen sie einfach: »Meiner Treu, davon habe ich nichts gewußt.« Kurz, es war ein Notar, dessen Albernheit sich sehen lassen konnte und für den die Akten der Inbegriff der Welt waren. Der Diplomat hatte Frau d'Aiglemont bei sich. Der General hatte sich noch vor dem Ende des Essens höflichst verabschiedet, um mit seinen beiden Kindern ins Ambigu-Comique oder ins Gaietétheater zu gehen. Obwohl die Melodramen das Gemüt übermäßig aufregen, ist man in Paris der Meinung, daß Kinder sie ohne Gefahr sehen können, weil darin immer die Unschuld siegt. Der Vater war gegangen, ohne auf den Nachtisch zu warten, denn seine Tochter und sein Sohn konnten es nicht erwarten, ins Theater zu kommen, und wollten auf jeden Fall vorm Aufgehen des Vorhangs dort sein. Der Notar, der unerschütterliche Notar, dachte nicht daran, sich zu fragen, warum Frau d'Aiglemont wohl ihre Kinder und ihren Mann ins Theater schicke, ohne mitzugehen, und blieb nach dem Essen wie angewurzelt auf seinem Stuhle sitzen. Eine Erörterung hatte den Nachtisch ein wenig in die Länge gezogen, und die Leute ließen sich auch mit dem Auftragen des Kaffees Zeit. Diese Zufälle verschlangen eine zweifellos kostbare Zeit, denn die hübsche Frau verriet Zeichen der Ungeduld; man hätte sie mit einem Rennpferd vergleichen können, das vor dem Laufe den Boden stampft. Der Notar kannte aber weder Pferde noch Frauen und fand einfach die Marquise sehr lebhaft, ja etwas quecksilberig. Entzückt, sich in der Gesellschaft einer Modedame und eines berühmten Staatsmannes zu befinden, begann dieser Notar den Geistreichen zu spielen. Er faßte das gezwungene Lächeln der Marquise, die auf Kohlen saß, für Beifall auf und legte sich nun erst recht ins Zeug. Der Herr des Hauses hatte im Einverständnis mit seiner Gefährtin schon mehrmals Schweigen beobachtet, wo der Notar eine lobende Antwort erwartete; aber während dieses vielsagenden Schweigens sah der Teufelskerl ins Feuer und sann auf neue Anekdoten. Dann hatte der Diplomat in seiner Verzweiflung sogar die Uhr gezogen. Endlich hatte die hübsche Frau den Hut aufgesetzt, als wenn sie gehen wollte, aber sie ging nicht. Der Notar sah nichts, verstand nichts; er war von sich selbst entzückt und überzeugt, er interessiere die Marquise so sehr, daß sie das Gehen vergessen hätte. »Sicher wird diese Frau mich in Zukunft zu ihrem Rechtsanwalt machen,« sagte er zu sich selbst. Die Marquise war aufgestanden, zog die Handschuhe an, bewegte nervös die Finger und sah bald den Marquis de Vandenesse an, der ihre Ungeduld teilte, bald den Notar, der überaus geistreich dreinsah. Bei jeder Pause, die der würdige Mann machte, atmete das hübsche Paar auf und sagte sich: »Endlich wird er gehen.« Doch mit nichten. Es war ein moralisches Alpdrücken und mußte schließlich dahin führen, daß die beiden Personen, auf die der Notar ebenso wirkte, wie eine Schlange auf Vögel, außer sich gerieten und zu irgendeiner Grobheit gezwungen wurden. Mitten in einem schönen Bericht über die unwürdigen Mittel, durch die Tillet, ein damals sehr beliebter Geschäftsmann, sein Vermögen gemacht hätte und die der geistreiche Notar bis ins kleinste auseinandersetzte -- hörte der Diplomat es an seiner Stutzuhr neun schlagen; er sah ein, sein Notar war ganz entschieden ein Esel, dem man den Laufpaß geben müsse, und er unterbrach ihn nun kurzweg durch eine Handbewegung. »Wünschen Sie die Feuerzange, Herr Marquis?« fragte der Notar, sie seinem Klienten hinreichend. »Nein, Herr, ich muß Sie jetzt wegschicken. Die gnädige Frau wird ihren Kindern entgegengehen, und ich werde die Ehre haben, sie zu begleiten.« »Schon neun Uhr! In liebenswürdiger Gesellschaft vergeht die Zeit doch zu schnell,« sagte der Notar, der schon eine ganze Stunde lang allein das Wort führte. Er suchte seinen Hut, pflanzte sich dann vor dem Kamin auf, unterdrückte mit Mühe einen Schluckauf und sagte zu seinem Klienten, ohne die vernichtenden Blicke zu bemerken, die die Marquise ihm zuwarf. »Lassen Sie uns zusammenfassen, Herr Marquis. Die Geschäfte gehen allem vor. Morgen werden wir also Ihrem Bruder eine Vorladung zustellen lassen, um ihn zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten aufzufordern. Wir werden das Inventar aufnehmen, und nachher -- nun ja --« Der Notar hatte die Absichten seines Klienten so schlecht verstanden, daß er die Angelegenheit gerade im umgekehrten Sinne der Weisungen, die der Marquis ihm eben erteilt hatte, in die Hand nahm. Das war denn doch eine heikle Sache, und Vandenesse mußte wohl oder übel dem tölpelhaften Notar von neuem seine Wünsche klarmachen. Daran knüpfte sich notwendigerweise eine abermals zeitraubende Erörterung. »Nun hören Sie,« sagte schließlich der Diplomat auf ein Zeichen hin, das die junge Frau ihm gegeben hatte, »Sie machen mich nervös. Kommen Sie morgen um neun Uhr wieder mit meinem Advokaten.« »Aber ich gestatte mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Herr Marquis, wir können morgen nicht mit Bestimmtheit darauf rechnen, Herrn Desroches zu treffen. Wenn die gerichtliche Zustellung nicht bis morgen mittag erlassen ist, läuft die Frist ab, und dann ...« In diesem Augenblick fuhr ein Wagen auf den Hof, und als die arme Frau dieses Geräusch hörte, drehte sie sich rasch um, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen schossen. Der Marquis klingelte, um sagen zu lassen, er sei weggegangen; aber der General, der unvermutet aus dem Gaietétheater zurückkam, trat vor dem Kammerdiener ein. Er hielt an der einen Hand seine Tochter, deren Augen rot waren, und an der andern seinen kleinen Jungen, der ein mürrisches Gesicht zog. »Was ist euch denn passiert?« fragte die Frau ihren Mann. »Ich werde es Ihnen später sagen,« antwortete der General und schritt in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand, und wo er Zeitungen liegen sah. Die Marquise warf sich verzweifelt auf ein Kanapee. Der Notar glaubte gegen die Kinder den freundlichen Herrn spielen zu müssen und schlug einen gezierten Ton an, indem er den Kleinen fragte: »Nun, mein Kleiner, was wurde denn im Theater gespielt?« »Das Tal des Gießbachs,« antwortete Gustav mürrisch. »Nun, ich bitte Sie,« rief der Notar, »unsere Schriftsteller sind halb verrückt! Das Tal des Gießbachs! Warum nicht der Gießbach des Tals? Es ist möglich, daß ein Tal keinen Gießbach hat, und wenn der Verfasser gesagt hätte: Der Gießbach des Tals, so hätte er eine klare, charakteristische, verständliche Form gewählt. Doch lassen wir das. Wie kann sich denn aber in einem Gießbach und in einem Tal ein Drama abspielen? Nun, allerdings! heutzutage liegt das hauptsächliche Lockmittel dieser Art von Schauspielen in den Dekorationen, und dieser Titel deutet eine imposante Ausstattung an. Du hast dich da wohl trefflich amüsiert, mein kleiner Freund?« setzte der Notar hinzu, indem er sich vor das Kind setzte. Als der Notar gefragt hatte, was für ein Drama sich wohl auf dem Grunde eines Gießbachs abspielen könne, drehte die Tochter der Marquise sich langsam um und weinte. Die Mutter war so ärgerlich gestimmt, daß sie die Bewegung ihrer Tochter nicht bemerkte. »O ja, Herr, ich habe mich gut amüsiert,« antwortete das Kind. »In dem Stück kam ein kleiner Junge vor, der war sehr hübsch und war ganz allein auf der Welt, weil sein Papa nicht sein Vater sein durfte. Und da kam er an eine große Brücke, die hoch über den Gießbach hinführt, und da kam ein großer Vagabund mit einem Bart und ganz schwarz angezogen, und der hat ihn ins Wasser geworfen. Da hat Helene angefangen zu weinen und laut zu schluchzen, und alle Leute haben sich über uns aufgehalten, und da hat der Vater uns ganz schnell, ganz schnell hinausgeführt.« Herr de Vandenesse und die Marquise standen bestürzt da, wie unter dem jähen Schlag eines Unglücks, das ihnen die Kraft, zu denken und zu handeln, raubte. »Gustav, wirst du den Mund halten!« rief der General. »Ich habe dir doch verboten zu erzählen, was im Theater geschehen ist, und du vergißt schon mein Geheiß?« »Euer Gnaden mögen verzeihen,« sagte der Notar, »die Schuld trifft mich, denn ich habe ihn gefragt -- aber ich wußte ja nicht, wie ernst ...« »So durfte er nicht antworten,« sagte der Vater und sah seinen Sohn streng an. Der Diplomat und die Marquise hatten nun aber doch die Ursache erfahren, weshalb die Kinder und der Vater so plötzlich zurückgekehrt waren. Die Mutter sah ihre Tochter an, sah sie weinen und erhob sich, um zu ihr zu gehen; aber ihr Gesicht verzog sich dabei heftig und nahm den Ausdruck einer maßlosen Strenge an. »Genug, Helene,« sagte sie zu ihr, »trockne im Nebenzimmer deine Tränen.« »Was hat sie denn getan, diese arme Kleine?« sagte der Notar, der zugleich die zornige Mutter und die weinende Kleine beschwichtigen wollte. »Sie ist so hübsch -- sie muß das gescheiteste Kind von der Welt sein. Ich bin überzeugt, gnädige Frau, sie macht Ihnen nur Freude. Nicht wahr, meine Kleine?« Helene sah zitternd ihre Mutter an, wischte die Tränen ab, versuchte, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, und flüchtete ins Nebenzimmer. »Und gewiß,« schwatzte der Notar noch immer weiter, »gnädige Frau sind eine gute Mutter und werden alle Ihre Kinder in gleichem Maße lieben. Sie sind übrigens zu tugendhaft zu jener traurigen Bevorzugung, deren unheilvolle Folgen ganz besonders deutlich wir Notare zu sehen bekommen. Uns läuft die Gesellschaft sozusagen durch die Finger. Wir sehen daher auch die Leidenschaften in ihrer häßlichsten Gestalt: der Selbstsucht. Hier will eine Mutter die Kinder ihres Mannes um ihr Erbe bringen zugunsten der Kinder, denen sie den Vorzug gibt. Auf der andern Seite will der Mann manchmal sein Vermögen ganz dem Kinde zukommen lassen, das den Haß der Mutter verdient hat. Und da gibt es dann Kämpfe, Urkunden, Gegenverschreibungen, Scheinverkäufe, Fideikommisse -- kurz, ein bedauernswertes Tohuwabohu -- auf Ehre, bedauernswert! Hier bringen Väter ihr Leben lang Kinder um ihr Erbe, indem sie das Gut ihrer Frauen stehlen -- ja, stehlen ist das richtige Wort. Wir sprachen vom Drama. Ach, ich versichere Ihnen, wenn wir das Geheimnis gewisser Schenkungen ausplaudern könnten, würden unsere Dichter entsetzliche bürgerliche Tragödien daraus machen können. Ich weiß nicht, was für eine Macht die Frauen gebrauchen, um das zu erreichen, was sie wollen. Denn, so zart und schwach sie aussehen, sie behalten immer die Oberhand. Ach ja, ja! Mich fangen sie nie, mich nicht! Ich erkenne immer den Grund solcher Bevorzugung, von denen man in der Welt höflicherweise immer sagt: »Wir wissen selbst nicht recht, weshalb.« Aber die Ehemänner kommen nie dahinter, diese Gerechtigkeit muß man ihnen angedeihen lassen. Sie werden mir darauf antworten, es gäbe eben liebevolle Kinder und --« Helene war mit ihrem Vater aus dem Nebenzimmer in den Salon zurückgekehrt und hörte aufmerksam dem Notar zu. Sie verstand ihn so gut, daß sie auf ihre Mutter einen furchtsamen Blick warf und mit dem ganzen Instinkt der Jugend ahnte, dieser Umstand werde die strenge Behandlung verdoppeln, die ihr bevorstand. Die Marquise erbleichte und machte Vandenesse durch eine Gebärde des Entsetzens auf ihren Gatten aufmerksam, der nachdenklich die Blumen der Tapete betrachtete. In diesem Moment konnte der Diplomat sich trotz aller Lebensart nicht mehr bezwingen und schleuderte dem Notar einen niederschmetternden Blick zu. »Kommen Sie hier hindurch, Herr,« sagte er zu ihm und schritt rasch auf das Gemach zu, das vor dem Salon lag. Der Notar folgte ihm zitternd, ohne seinen Satz zu vollenden. »Herr,« sagte nun der Marquis de Vandenesse, der die Tür des Salons heftig zuwarf, wo er das Ehepaar zurückließ, mit verhaltener Wut zu dem Juristen, »seit dem Diner haben Sie hier eine Dummheit nach der andern begangen und lauter Albernheiten gesagt. Um Gotteswillen, machen Sie, daß Sie hinauskommen! Sie richten sonst noch das größte Unglück an. Sie mögen ein ausgezeichneter Notar sein, aber dann bleiben Sie bei Ihren Leisten. Wenn Sie sich mal zufällig in Gesellschaft befinden, dann befleißigen Sie sich eines vorsichtigeren Benehmens ...« Dann ließ er den Notar ohne Abschiedsgruß stehen und kehrte in den Salon zurück. Der Notar stand einen Augenblick da, wie vor den Kopf geschlagen, fassungslos, ohne zu wissen, wo er sich befände. Als das Summen aufhörte, das ihm in den Ohren klang, glaubte er Seufzen und Hin- und Herlaufen im Salon zu hören, und darauf wurde heftig geklingelt. Er hatte Angst, dem Marquis de Vandenesse noch einmal zu begegnen, und da ihm die Beine nicht länger den Dienst versagten, erreichte er die Treppe und gab Fersengeld. Aber an der Tür der Gemächer stieß er erst noch einmal mit den Dienern zusammen, die hineineilten, um die Befehle ihres Herrn zu vernehmen. »So sind diese großen Herren,« sagte er zu sich selbst, als er endlich auf der Straße stand und seine Droschke suchte, »erst fordern sie einen auf, was zu sagen, ermuntern einen durch allerlei Komplimente, und man bildet sich ein, ihnen Spaß zu machen -- hat sich was! Impertinenzen kriegt man zu hören, es wird abgewinkt, und schließlich wird man gar an die Luft gesetzt -- ganz ohne Umstände. Dabei bin ich überaus geistreich gewesen. Ich habe nicht einmal was Unsinniges gesagt -- und alles in hübsche Worte gekleidet -- und alles anständig. Sieh an, er empfiehlt mir, mehr Vorsicht zu beobachten -- daran lasse ich's nicht fehlen. Ach, pfeif' drauf! Du bist Notar und Mitglied der Kammer. Der Herr Gesandte hat mal so einen Rappel bekommen -- diesen Leuten ist ja nichts heilig. Morgen soll er mir die Erklärung geben, inwiefern ich bei ihm nichts wie Dummheiten angestellt und nichts wie Albernheiten gesagt hätte. Ich werde Rechenschaft von ihm fordern -- das heißt, dafür -- für seine grobe Zurechtweisung. Mein Gott ja -- vielleicht habe ich auch unrecht -- ei was, fällt mir nicht ein, mir den Kopf darüber zu zerbrechen! Was mache ich mir daraus?« Der Notar kam zu Hause an und unterbreitete das Rätsel der Frau Notarin, indem er Punkt für Punkt die Geheimnisse des Abends erzählte. »Mein lieber Crottat, Seine Exzellenz hat vollauf recht gehabt, als er dir sagte, du hättest lauter Dummheiten angestellt und nichts wie Dummheiten gesagt.« »Wieso?« »Mein Lieber, das würde ich dir sagen -- aber du machst es deswegen ja doch morgen wieder genau so schlau. Ich empfehle dir, in Gesellschaften immer nur das zu sagen, was deines Amtes ist.« »Wenn du es mir nicht sagen willst, dann werde ich morgen schon wissen, wen ich zu fragen habe.« »Mein Gott, die dümmsten Menschen geben sich Mühe, so etwas niemand merken zu lassen, und du glaubst, ein Gesandter wird es dir sagen? Aber, Crottat, ich habe dich noch niemals so schwerfällig gesehen.« »Danke, meine Liebe.« 5. Kapitel. Die beiden Begegnungen. Ein ehemaliger Ordonnanzoffizier Napoleons, den wir nur den General oder den Marquis nennen werden, und der unter der Restauration zu großem Vermögen gekommen war, war nach Versailles gezogen, um dort die schönen Tage zu verleben. Er bewohnte ein Landhaus, das zwischen der Kirche und der Barrière de Montreuil lag, an dem Wege, der nach der Allee von Saint-Cloud führt. Sein Dienst bei Hofe gestattete ihm nicht, sich von Paris zu entfernen. Einst zu dem Zwecke erbaut, den flatterhaften Liebschaften irgendeines Grandseigneur zum Asyl zu dienen, war dieser Pavillon ein sehr weitläufiges Gebäude. Da er mitten im Garten errichtet worden war, lag er nach rechts und nach links gleich weit ab von den ersten Häusern von Montreuil und den Hütten der Umgebung der Barrière. Ohne völlig abgesondert zu sein, hatten auf diese Weise die Herren des Besitzes in unmittelbarer Nähe einer Stadt alle Vorzüge der Einsamkeit genossen. Eigentümlicherweise lagen die Fassade und die Eingangstür des Hauses unmittelbar nach dem Wege zu, der ehemals vielleicht wenig begangen gewesen war. Diese Vermutung erscheint wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß er an den köstlichen Pavillon grenzte, den Ludwig XV. für Fräulein de Romans erbauen ließ. Ehe man dorthin kommt, trifft man denn auch hie und da mehrere Kasinos, deren Inneres und Ausschmückung auf die geistvollen Ausschweifungen unserer Vorfahren hindeuten, die doch immerhin den Schatten und die Verborgenheit aufsuchten, um sich der Zügellosigkeit hinzugeben, deren man sie beschuldigt. An einem Winterabend befanden sich der Marquis, seine Frau und seine Kinder allein in diesem verlassenen Hause. Ihre Leute hatten die Erlaubnis erhalten, in Versailles die Hochzeit eines unter ihnen zu feiern; und in der Annahme, die Weihnachtsfeier, die sich an die Hochzeit anschloß, wäre eine triftige Entschuldigung, die die Herrschaft wohl gelten lassen würde, trugen sie kein Bedenken, die Festlichkeit länger auszudehnen, als die Hausordnung ihnen eigentlich erlaubte. Da jedoch der General als ein Mann bekannt war, der bisher noch immer mit unbeugsamer Rechtschaffenheit sein Wort gehalten hatte, so tanzten die ungehorsamen Diener nur noch mit Beklommenheit, als die ihnen zugebilligte Frist abgelaufen war. Es hatte elf Uhr geschlagen, und noch war niemand von den Leuten zurückgekehrt. Das Schweigen, das rings auf dem Lande herrschte, war so tief, daß man von Zeit zu Zeit den Wind durch die schwarzen Zweige der Bäume pfeifen hörte -- dann wieder heulte er ums Haus oder verfing sich in den langen Korridoren. Der Frost hatte die Luft so rein gemacht, den Boden und das Pflaster so gehärtet, daß von allem jene trockenen, hellen Töne hallten, deren Klarheit uns stets verwundert. Der dumpfe Schritt eines verspäteten Zechers oder der Lärm einer nach Paris zurückkehrenden Droschke hallten lauter und blieben auf größere Entfernung hörbar als sonst. Die toten Blätter, die plötzliche Wirbelwinde zum Tanze trieben, raschelten über die Steine des Hofes hin, so daß sie der Nacht eine Stimme verliehen, als sie stumm werden wollte. Kurz, es war einer jener scharfen Abende, die unserer Ichsucht ein unfruchtbares Mitleid mit den Armen oder dem Reisenden abnötigen und uns den Kamin zu dem wollüstigsten Eckchen machen. In diesem Augenblick bekümmerte sich die im Salon beisammensitzende Familie weder um die Abwesenheit der Diener, noch um die Leute ohne Herd, noch um die Poesie einer funkelnden Winternacht. Ohne zwecklos zu philosophieren, vertrauten Frau und Kinder dem Schutze eines alten Soldaten und gaben sich ganz den Freuden hin, die das häusliche Leben mit sich bringt, wenn man sich in seinen Gefühlen keinen Zwang anzutun braucht, wenn Liebe und Offenherzigkeit Worte, Blicke und Spiele beleben. Der General saß, oder besser gesagt, versank in einem hohen, geräumigen Lehnstuhl, der in der Kaminecke stand. Im Ofen leuchtete ein wohlgenährtes Feuer und strömte die starke Wärme aus, die stets ein sicheres Zeichen ist, daß draußen außerordentliche Kälte herrscht. An die Rückenlehne des Stuhls gelegt und ein wenig zur Seite geneigt, ruhte der Kopf dieses braven Vaters in einer Haltung, deren Nachlässigkeit eine vollkommene Ruhe, ein süßes Behagen ausdrückte. Seine wie im Halbschlaf lose über die Seiten herabhängenden Arme vollendeten das Bild gelassener Glückseligkeit. Er betrachtete das kleinste seiner Kinder, einen kaum fünf Jahre alten Jungen, der, halb nackend, sich durchaus nicht von der Mutter ausziehen lassen wollte. Der kleine Kerl riß aus vor dem Nachthemd und dem Nachthäubchen, das die Mutter ihm manchmal hinhielt. Er behielt seinen gestickten Kragen um und lachte seine Mutter aus, wenn sie ihn rief, weil er recht wohl merkte, daß sie selbst über diese kindliche Meuterei lachte. Er fing dann wieder an, mit seiner Schwester zu spielen, die ebenso naiv, aber schon etwas schalkhafter war als er. Sie sprach auch schon deutlicher, während seine undeutlichen Worte und wirren Gedanken selbst für seine Eltern kaum verständlich waren. Die kleine Moina, die etwa zwei Jahre älter war als er, rief durch Neckereien, die in ihr schon das Weib erkennen ließen, endloses Gelächter hervor, das ganz plötzlich losbrach und eigentlich keinen Grund zu haben schien. Aber als sie sich alle beide so drollig vorm Feuer herumkugelten, in heller Ungeniertheit ihre hübschen fleischigen Leiber und ihre weißen zarten Glieder zeigten, die Locken ihres schwarzen und blonden Haars vermischten, die rosigen Gesichter aneinander stießen, in die die Freude allerliebste Grübchen zeichnete, da konnte man es wohl nachfühlen, daß ein Vater und namentlich eine Mutter diese kleinen Seelen in ihr Herz geschlossen hatten. Gegen die lebhaften Farben ihrer feuchten Augen, ihrer leuchtenden Wangen, ihrer weißen Haut erblaßten selbst die Blumen des weichen Teppichs, des Tummelplatzes ihrer Lust, auf dem sie hinstürzten, sich überschlugen und miteinander rangen, ohne Schaden zu nehmen. Die Mutter saß ihrem Manne gegenüber in der andern Ecke des Kamins auf einem Sofa, von umhergestreuten Kleidungsstücken umgeben, einen roten Kinderschuh in der Hand, in einer Haltung zwangloser Gemütlichkeit. Ein Anflug von Ernst erstarb in einem sanften Lächeln, das um ihre Lippen schwebte. Sie mochte sechsunddreißig Jahre alt sein und war noch von großer Schönheit, dank der seltenen Regelmäßigkeit der Gesichtszüge, denen die Wärme, das Licht und das Glück in diesem Augenblick einen fast übernatürlichen Glanz verliehen. Oft hörte sie auf, den Kindern zuzusehen und richtete die liebkosenden Augen auf das ernste Gesicht ihres Mannes; manchmal begegneten sich ihre Augen, und die Eheleute tauschten einen Blick stummer Freude und tiefen Sinnens. Der General hatte ein stark gebräuntes Gesicht. Über seine breite, reine Stirn spannen sich ein paar Flechten ergrauenden Haares. Der mannhafte Blick seiner blauen Augen, die in den Falten seiner schlaffen Wangen ausgeprägte Tapferkeit ließen erkennen, daß er sich das rote Band, das das Knopfloch seines Rockes schmückte, sauer verdient hatte. In diesem Augenblick spiegelte sich die unschuldige Freude, in der seine beiden Kinder schwelgten, auf seinem Antlitz wider, das bei aller Festigkeit und Kraft von großer Gutmütigkeit und Offenherzigkeit zeugte. Dieser alte Soldat war ohne große Mühe wieder jung geworden. Liebe zur Kindheit ist ja immer bei einem Soldaten vorhanden, weil er vom Unglück des Lebens genug kennen lernt, um einzusehen, wieviel Elend die Gewalt mit sich bringt und welche Vorzüge die Schwäche genießt. Ein wenig abseits saß an einem runden Tisch im Licht von Astrallampen, deren heller Schein mit dem blassen Schimmer der auf dem Kamin stehenden Kerzen kämpfte, ein etwa dreizehn Jahre alter Knabe, der rasch die Blätter eines dicken Buches umwendete. Er ließ sich durch das Geschrei seiner Geschwister nicht ablenken, und sein Gesicht verriet die Wißbegier der Jugend. Daß er so völlig in dem, was er las, aufging, war wohl begreiflich, denn das Buch vor ihm enthielt die fesselnden Wunder von »Tausendundeiner Nacht«, und der Knabe trug die Uniform der Lyzeumsschüler. Er saß unbeweglich da, in nachdenklicher Haltung, einen Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf eine der Hände gestützt, deren weiße Finger sich in braunem Gelock vergruben. Das Licht fiel ihm voll aufs Gesicht, während der andere Teil seines Körpers im Dunkeln blieb. So glich er einem der schwarzen Selbstporträts Raphaels, auf denen er sich mit aufmerksamem, gesenktem, an die Zukunft denkendem Gesicht dargestellt hat. Zwischen diesem Tisch und der Marquise arbeitete ein großes, schönes Mädchen an einem Stickrahmen, bald beugte es sich darüber hin, bald lehnte es sich zurück, und ihr ebenholzschwarzes Haar, das künstlich zu Locken gewickelt war, erstrahlte im Lichtschein. Schon Helene für sich allein gab ein herrliches Bild ab. Ihre Schönheit zeichnete sich durch eine seltene Verschmelzung von Kraft und Eleganz aus. Obgleich sie das Haar in straffem Zug um den Kopf gelegt trug, war es doch so übervoll, daß es aus dem Kamme hervorsprang und sich am Anfang des Nackens übermütig ringelte. Ihre sehr dichten, regelmäßig gezeichneten Augenbrauen traten um so mehr hervor, als die Stirn rein und blendend weiß war. Sie hatte sogar auf der Oberlippe einen leichten Flaum mannhafter Kraft -- ihre Nase war griechisch und von ganz vollendetem Schnitt. Aber die entzückende Rundung der Formen, der freimütige Ausdruck der Züge, die Leuchtkraft eines zarten Fleisches, die wollüstig weichen Lippen, das feine Oval des Gesichts und vor allem die reine Keuschheit ihres jungfräulichen Blicks verliehen auch dieser kraftvollen Schönheit die weibliche Anmut und Zartheit und die bezaubernde Bescheidenheit, die wir von diesen Engeln des Friedens und der Liebe fordern. Nur hatte dieses Mädchen nichts Gebrechliches, nichts Schwaches an sich, und ihr Herz mußte ebenso sanft sein, ihre Seele ebenso stark, wie ihr Äußeres gebieterisch und ihr Gesicht lieblich war. Sie beobachtete das gleiche Schweigen, wie ihr Bruder, der Lyzeumsschüler, und schien ganz in eine jener mädchenhaften Grübeleien versunken zu sein, die oft dem Auge eines Vaters, ja dem Scharfblick einer Mutter entgehen. Man weiß dann nicht, ob man die Schatten, die unbestimmt über das Gesicht huschen, wie schwache Wölkchen über einen klaren Himmel, dem Spiel des Lichts oder geheimem Kummer zuschreiben soll. Der Mann und die Frau beschäftigten sich in diesem Augenblick gar nicht mit den beiden älteren Kindern. Dennoch hatte mehrmals ein prüfender Blick des Generals die stumme Szene überschaut, die den zweiten Teil dieses häuslichen Gemäldes bildete und schon eine anmutige Verwirklichung der Hoffnungen darstellte, die das Kinderspiel im Vordergrunde leise andeutete. Diese Gestalten gaben ein Abbild des menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Abstufungen und schlossen sich zu einer Art lebenden Gedichts zusammen. Die luxuriöse Ausstattung des Salons, die verschiedenen Stellungen, die Gegensätze der verschieden gefärbten Kleidung, die Kontraste der Gesichter, die die Altersunterschiede an sich schon und dann auch die Lichteffekte hervortreten ließen, breiteten über dieses Menschheitsbild all den Reichtum und die Mannigfaltigkeit, die man von den Darstellungen eines Bildhauers, eines Malers, eines Schriftstellers fordert. Schließlich verliehen noch die Stille und der Winter, die Einsamkeit und die Nacht dieser erhabenen und naiven Szene die ihnen eigne Majestät, einen köstlichen Natureffekt hinzufügend. Das eheliche Leben hat viele solcher geheiligten Stunden, deren unerklärlicher Reiz vielleicht auf das Hineinspielen einer bessern Welt zurückzuführen ist. Ohne Zweifel schimmern himmlische Strahlen über diesen Szenen, die den Menschen für einen Teil seiner Leiden belohnen und ihm das Erdenleben erträglich machen sollen. Dann gewinnt für unser Auge die ganze Welt eine wohlgefällige Form, wir erhalten Einblick in die erhabene Ordnung des Weltgeists, und auch die Gesetze des Gesellschaftslebens erscheinen uns gerechtfertigt im Sinne der Zukunft. Obwohl Helene einen zärtlichen Blick auf Abel und Moina warf, als die beiden wieder einmal in hellen Jubel ausbrachen, und obwohl ihr Gesicht vor Glück strahlte, wenn sie verstohlen ihren Vater betrachtete, so lag doch der Ausdruck einer tiefen Schwermut in ihren Gebärden, in ihrer Haltung und vor allem in ihren von langen Wimpern verschleierten Augen. Ihre weißen, kräftigen Hände, durch die das Licht fiel, um ihnen ein durchscheinendes, fast flüssiges Rosa mitzuteilen -- jawohl, diese Hände zitterten. Ein einziges Mal begegneten sich unversehens Helenens Augen und die der Marquise. Diese beiden Frauen sagten sich da mit einem einzigen Blick ihre Meinung: er war kalt und ehrerbietig bei Helene, finster und drohend bei der Mutter. Helene schlug sogleich die Augen zu ihrer Arbeit nieder, bewegte flink die Nadel und hob lange Zeit den Kopf nicht wieder, der ihr fast zu schwer zu werden schien. War die Mutter übermäßig streng gegen ihre Tochter, und hielt sie diese Strenge für notwendig? War sie eifersüchtig auf die Schönheit Helenens, mit der sie schließlich noch den Kampf aufnehmen konnte, freilich nur, wenn sie allen Zauber der Toilette entfaltete? Oder hatte dieses Mädchen, wie viele Mädchen, wenn ihr Blick sich klärt, Geheimnisse durchschaut, die die dem Anschein nach ihren Pflichten so treue Frau in ihr Herz ebenso tief wie in ein Grab zu versenken geglaubt hatte? Helene war in ein Alter gekommen, wo die Reinheit der Seele manchmal eine Gesinnung mit sich bringt, deren Härte gegen sich selbst das richtige Maß überschreitet, und zu einem fast unnatürlichen Gefühl wird. In gewissen Geistern nehmen Fehler die Größe von Verbrechen an; dann wirkt die Phantasie noch auf das Gewissen ein, und die jungen Mädchen übertreiben dann die Bestrafung, die sie sich selbst auferlegen, als wenn sie eine Missetat begangen hätten. Helene schien sich selbst für ganz unwürdig zu halten. Ein Geheimnis ihres früheren Lebens, ein unglücklicher Zufall vielleicht, den sie zuerst gar nicht verstanden, der aber, als ihr Verstand empfänglicher wurde und der Einfluß religiöser Begriffe sich geltend machte, an Bedeutung immer mehr gewonnen hatte, schien vor kurzem erst schließlich dazu geführt zu haben, daß sie in romantischer Übertreibung sich in ihren eigenen Augen tief erniedrigt hatte. Dieses veränderte Benehmen hatte an dem Tage begonnen, als sie in einer vor kurzem erschienenen Ausgabe ausländischer Theaterstücke die schöne Tragödie >Wilhelm Tell< von Schiller las. Die Mutter schalt die Tochter, daß sie das Buch hatte fallen lassen, und bemerkte dann, daß der Aufruhr, den diese Lektüre in Helenens Seele hervorgerufen hatte, im besondern auf die Szene zurückzuführen war, wo der Dichter eine Art von Brudergemeinschaft aufstellt zwischen Wilhelm Tell, der zur Befreiung eines ganzen Volks Menschenblut vergießt, und zwischen Johann Parricida. Helene wurde demütig, fromm und nachdenklich und wünschte nicht mehr zu Balle zu gehen. Noch nie war sie so zärtlich zu ihrem Vater gewesen, besonders wenn die Mutter ihre mädchenhaften Schmeicheleien und Liebkosungen nicht mitansah. Und wenn auch in dem Verhältnis zur Mutter eine gewisse Kälte herrschte, so kam sie doch so wenig zum Ausdruck, daß der General nichts davon bemerken konnte, so eifersüchtig er auch auf Einmütigkeit in seiner Familie hielt. Keines Menschen Augen wären scharfblickend genug gewesen, die Tiefen dieser beiden Frauenherzen zu ergründen: das eine war jung und edelmütig; das andere stolz und feinfühlend; das erste voll Duldsamkeit, das zweite voll Klugheit bei aller Liebe. Wenn die Mutter einen gewissen Despotismus gegen die Tochter walten ließ, so merkte jedenfalls niemand, als die Tochter selbst, auch nur das geringste von dieser weiblichen Zucht. Übrigens ließen erst die Dinge, die da kommen sollten, diese unlösbaren Mutmaßungen aufkommen. Bis zu dieser Nacht war noch nie der Blitz einer Anklage diesen beiden Seelen entfahren; aber zwischen ihnen und Gott stand sicherlich ein finsteres Geheimnis. »Nun, hurtig, Abel,« rief die Marquise und benützte einen Augenblick, wo Moina und ihr Bruder ermüdet waren und sich still verhielten, »komm, mein Sohn, du mußt zu Bett ...« Und sie warf ihm einen gebieterischen Blick zu und nahm ihn rasch auf die Knie. »Was?« sagte der General, »es ist halb elf Uhr, und von unserer Dienerschaft ist noch niemand zurückgekommen? So eine Sippschaft! -- Gustav,« setzte er hinzu, sich zu seinem Sohne wendend, »ich habe dir das Buch nur unter der Bedingung gegeben, daß du es um zehn Uhr weglegen solltest. Du hättest es zu der festgesetzten Stunde von selbst zuklappen und schlafen gehen sollen, wie du es mir versprochen hattest. Wenn du einmal ein tüchtiger Mensch werden willst, muß dir dein Wort ein zweites Glaubensbekenntnis sein, und du mußt daran festhalten, wie an deiner Ehre. Fox, einer der größten Redner Englands, zeichnete sich ganz besonders durch Schönheit seines Charakters aus. Die Treue gegen die übernommenen Verpflichtungen ist die hauptsächlichste seiner Eigenschaften. In seiner Kindheit hatte sein Vater, ein Engländer vom alten Schlage, ihm eine sehr nachdrückliche Lehre erteilt, die einen untilgbaren Eindruck auf das Gemüt eines kleinen Kindes machen mußte. Als Fox so alt war wie du, war er während der Ferien bei seinem Vater, der, wie alle reichen Engländer, einen ziemlich großen Park um sein Schloß hatte. In diesem Park stand ein alter Kiosk, der niedergerissen und an einer andern Stelle, von wo man eine großartige Aussicht hatte, wieder aufgebaut werden sollte. Kinder sehen nun gern zu, wenn etwas niedergerissen wird. Der kleine Fox wollte noch ein paar Tage länger Ferien haben, um beim Abbruch des Pavillons mit dabei zu sein; aber sein Vater verlangte, daß er pünktlich zum Schulanfang ins Gymnasium zurückkehrte. Da gab es nun einen kleinen Aufstand zwischen Vater und Sohn. Die Mutter, wie alle Mamas, stand dem kleinen Fox bei. Der Vater versprach daher seinem Sohne feierlichst, mit der Niederreißung des Kioskes bis zu den nächsten Ferien zu warten. Fox kehrte ins Gymnasium zurück. Der Vater glaubte, ein kleiner Junge würde über seinen Studien die ganze Geschichte vergessen; er ließ den Kiosk ruhig abreißen und an einer andern Stelle wieder aufbauen. Der eigensinnige Knabe aber dachte nur an den Kiosk. Als er wieder zu seinem Vater kam, war sein erstes, nach dem alten Bauwerk zu sehen; aber er kam ganz traurig zum Frühstück heim, und sagte zu seinem Vater: »Ihr habt mich belogen.« Der alte Gentleman verlor in seiner Verwirrung seine Würde nicht und antwortete: »Das ist wahr, mein Junge, aber ich werde meinen Fehler wieder gutmachen. Auf sein Wort muß man mehr halten als auf sein Geld, und alles Geld wäscht den Fleck nicht vom Gewissen, den ein Wortbruch zurückläßt.« Der Vater ließ den alten Pavillon, genau wie er gewesen war, wiederaufbauen, und als dies geschehen war, befahl er, ihn vor den Augen seines Sohnes abzutragen. Dies, Gustav, diene dir zur Lehre!« Gustav hatte seinem Vater aufmerksam zugehört und schloß sofort das Buch. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und der General nahm Moina an sich, die mit dem Schlaf kämpfte, und legte sie sanft auf seinen Schoß. Die Kleine ließ den haltlosen Kopf auf des Vaters Brust sinken und schlief dort gleich ein, eingehüllt in die goldenen Vorhänge ihres hübschen Haars. In diesem Augenblick hallten eilige Schritte auf der Straße, und plötzlich geschahen drei Schläge gegen die Tür und weckten das Echo des Hauses. Diese langanhaltenden Schläge hatten einen ebenso eindringlichen Klang wie der Schrei eines Menschen in Todesgefahr. Der Wachhund heulte wütend. Helene, Gustav, der General und seine Frau zitterten heftig; aber Abel, dem die Mutter das Nachtkleid vollends übergezogen hatte, und Moina wurden nicht munter. »Der hat's eilig!« rief der Soldat und legte sein Kind auf den Sessel. Er verließ rasch den Salon, ohne auf die Bitte seiner Frau zu hören, die ihm nachrief: »Lieber Mann, geh' doch nicht hin --« Der Marquis ging in sein Schlafzimmer, nahm ein Paar Pistolen an sich, brannte seine Blendlaterne an, eilte zur Treppe, rannte blitzschnell hinab und stand binnen kurzem an der Tür seines Hauses, wohin der Sohn ihm unerschrocken folgte. »Wer ist da?« fragte er. »Machen Sie auf!« antwortete eine Stimme keuchend und ganz außer Atem. »Gut Freund?« »Ja, Freund.« »Allein?« »Ja -- doch auf, auf, sonst kommen sie!« Sobald der General die Tür ein wenig geöffnet hatte, schlüpfte ein Mensch mit der phantastischen Geschwindigkeit eines Schattens herein; der General mußte nachgeben, denn der Unbekannte stieß die Pforte mit einem kraftvollen Fußtritt auf und lehnte sich gleich darauf entschlossen mit dem Rücken dagegen, wie um zu verhindern, daß man sie wieder öffne. Der General hob rasch die Pistole und die Blendlaterne zur Brust des Fremden, um ihm Respekt einzuflößen, und sah einen Mann von mittlerem Wuchs vor sich, der in einen weiten, nachschleppenden Pelzrock gehüllt war, wie ihn alte Leute tragen. Das Kleidungsstück schien daher auch nicht für ihn gemacht. Der Flüchtling trug, ob aus Vorsicht oder Zufall, den Hut tief auf der Stirn, bis an die Augen hinabgedrückt. »Mein Herr,« sagte er zum General, »senken Sie die Mündung Ihrer Pistole. Ich will ja ohne Ihre Einwilligung gar nicht hierbleiben; aber wenn ich gehe, wartet meiner der Tod an der Barrière. Und welcher Tod! Sie hätten sich vor Gott dafür zu verantworten. Ich bitte Sie um Gastfreundschaft auf zwei Stunden. Bedenken Sie, mein Herr, so flehentlich ich auch bitte, so muß ich doch auch mit dem Despotismus der Notwendigkeit Forderungen stellen. Ich verlange arabische Gastfreundschaft. Ich muß Ihnen heilig sein. Wo nicht, so öffnen Sie, und ich werde sterben. Verschwiegenheit, ein Obdach und Wasser, das ist's, was mir nottut. O, Wasser!« wiederholte er in röchelndem Tone. »Wer sind Sie?« fragte der General, überrascht von der fieberhaften Zungenfertigkeit, mit der der Unbekannte sprach. »Ach, wer ich bin? Gut, so öffnen Sie, und ich gehe,« antwortete der Mensch im Tone höllischer Ironie. Trotz der Geschicklichkeit, mit der der General das Licht seiner Laterne spielen ließ, konnte er nur den unteren Teil dieses Gesichts sehen, und da sprach nichts zugunsten einer so seltsam geforderten Gastfreundlichkeit: die Wangen waren blaß und zuckten, die Züge krampfhaft zusammengezogen. In dem Schatten, den der Hut warf, loderten die Augen wie zwei Lichter, die fast den schwachen Schein der Kerze überstrahlten. Doch, es mußte ihm eine Antwort gegeben werden. »Herr,« sagte der General, »Ihre Rede ist so sonderbar, daß Sie wohl an meiner Stelle --« »Mein Leben liegt in Ihrer Hand!« schrie der Fremde mit entsetzlicher Stimme, seinen Wirt unterbrechend. »Zwei Stunden?« fragte der Marquis unschlüssig. »Zwei Stunden,« wiederholte der Mensch. Aber plötzlich stieß er mit einer Gebärde der Verzweiflung den Hut zurück, entblößte die Stirn und warf, als wollte er einen letzten Versuch machen, einen Blick, dessen heller Glanz dem General in die Seele drang. Dieser Strahl von Geist und Willenskraft glich einem Blitz und wirkte ebenso zermalmend; denn es gibt Augenblicke, wo den Menschen eine unerklärliche Macht verliehen ist. »Nun denn, wer Sie auch sein mögen, Sie sollen unter meinem Dach in Sicherheit sein,« sagte der Hausherr ernst und glaubte einer jener triebartigen Regungen zu gehorchen, über die der Mensch sich manchmal keine Rechenschaft geben kann. »Gott vergelte es Ihnen,« setzte der Fremde hinzu und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sind Sie bewaffnet?« sagte der General. Statt aller Antwort öffnete der Fremde seinen Pelz und schlug ihn schnell wieder zusammen, so daß der General nichts Genaues hatte sehen können. Er war anscheinend ohne Waffen und in der Kleidung eines jungen Mannes, der vom Ball kommt. So flüchtig der Überblick des mißtrauischen Soldaten gewesen war, so sah er doch genug, um aufzurufen: »Wo zum Teufel können Sie sich so beschmutzt haben? Es ist doch trockenes Wetter.« »Noch immer Fragen?« versetzte der Unbekannte in hochmütigem Tone. In diesem Augenblick bemerkte der Marquis seinen Sohn und erinnerte sich der Lehre, die er ihm eben über strenge Befolgung des gegebenen Wortes erteilt hatte. Es verdroß ihn so sehr, ihn nun hier zu sehen, daß er in zornigem Tone zu ihm sagte: »Wie, Hans Narr, du bist hier, statt im Bett zu sein?« »Ich glaubte, ich könnte Ihnen in der Gefahr von Nutzen sein,« antwortete Gustav. »Marsch, auf dein Zimmer,« sagte der Vater, von der Antwort seines Sohnes besänftigt. »Und Sie,« wendete er sich an den Unbekannten, »folgen Sie mir!« Sie beobachteten nun Schweigen, wie zwei Spieler, die einander mißtrauen. Der General begann sich sogar finstern Ahnungen hinzugeben. Der Unbekannte lastete ihm bereits wie ein Alpdruck auf der Seele; aber da er ihm sein Wort gegeben hatte, so führte er ihn über die Korridore und Treppen seines Hauses und ließ ihn in ein großes, im zweiten Stock gelegenes Zimmer, gerade über dem Salon, treten. Dieser unbenutzte Raum diente im Winter als Trockenboden und hing mit keinem andern Gemach zusammen. An seinen vier vergilbten Wänden war weiter kein Schmuck, als ein unschöner kleiner Spiegel, den der frühere Besitzer auf dem Kaminsims hatte stehen lassen, und ein großer Spiegel, für den sich beim Einzug des Marquis keine Verwendung gefunden hatte. Man hatte ihn daher zufälligerweise dem Kamin gegenüber aufgehängt. Der Fußboden dieser großen Mansarde war nie gescheuert worden, die Luft war eisig, und zwei alte Stühle, an denen das Stroh zerrissen war, bildeten das einzige Mobiliar. Nachdem der General seine Laterne auf den Ofensims gestellt hatte, sagte er zu dem Unbekannten: »Sie müssen sich mit dieser kläglichen Mansarde begnügen, um in Sicherheit zu sein. Und da Sie mein Wort haben, daß ich Verschwiegenheit wahren werde, so erlauben Sie mir wohl, Sie einzuschließen.« Der Mensch senkte den Kopf, zum Zeichen des Einverständnisses. »Ich habe nichts verlangt als ein Asyl, Verschwiegenheit und Wasser,« bemerkte er. »Wasser werde ich Ihnen bringen,« antwortete der Marquis, der sorgsam die Tür zuschloß und sich zum Salon hinabtastete, um dort einen Leuchter zu nehmen und dann aus der Geschirrkammer selbst eine Karaffe zu holen. »Nun, was gibt es?« fragte die Marquise lebhaft ihren Mann. »Nichts, meine Liebe,« antwortete er in kaltem Tone. »Aber wir haben doch genau gehört, daß Sie jemand dort hinaufgeführt haben.« »Helene,« versetzte der General und sah seine Tochter an, die den Kopf zu ihm erhob, »bedenke, die Ehre deines Vaters hängt von deiner Verschwiegenheit ab. Du darfst nichts gehört haben.« Das junge Mädchen antwortete mit einem bezeichnenden Kopfnicken. Die Marquise war verwundert über die Methode, die hier ihr Mann anwandte, um der Tochter Schweigen aufzuerlegen. Ja seine Worte gaben ihr einen Stich ins Herz. Der General holte eine Karaffe und ein Glas und stieg in das Zimmer hinauf, wo sich sein Gefangener befand. Der Mann lehnte mit entblößtem Haupte, aufrecht stehend, an der Wand, in der Nähe des Kamins. Den Hut hatte er auf einen der Stühle geworfen. Er war jedenfalls nicht darauf gefaßt gewesen, plötzlich so hellem Licht ausgesetzt zu sein. Seine Stirn legte sich in Falten, und sein Gesicht nahm eine besorgte Miene an, als sein Blick den durchdringenden Augen des Generals begegnete; aber er beruhigte sich und zeigte ein freundliches Gesicht, um seinem Beschützer zu danken. Als der letztere das Glas und die Karaffe auf den Ofensims gestellt hatte, richtete der Unbekannte wieder einen so flammenden Blick wie zuvor auf ihn und brach das Schweigen. »Mein Herr,« sagte er mit einer sanften Stimme, die nichts mehr von dem Röcheln von vorhin, doch noch immer ein inneres Beben verriet, »ich werde Ihnen absonderlich erscheinen. Entschuldigen Sie Absonderlichkeiten, die die Not gebietet. Wenn Sie hier bleiben, so bitte ich Sie darum, mir nicht beim Trinken zuzusehen.« Ärgerlich, beständig einem Menschen gehorchen zu müssen, der ihm mißfiel, drehte der General sich brüsk um. Der Fremde zog ein weißes Tuch aus der Tasche, umwickelte sich damit die rechte Hand, ergriff dann die Karaffe und leerte sie auf einen Zug. Der Marquis hatte das stillschweigend gegebene Versprechen nicht brechen wollen, aber er blickte mechanisch in den Spiegel, und die gegenseitige Stellung der beiden Glasscheiben erlaubte ihm, den Fremden vollständig zu überschauen. Da sah er denn das Tuch plötzlich sich rot färben; denn die Hände, die es berührten, waren voll Blut. »Ah, Sie haben mich beobachtet,« rief der Mann, als er getrunken hatte. Er hüllte sich in den Mantel und betrachtete den General mißtrauisch. »Ich bin verloren -- sie kommen, da sind sie!« »Ich höre nichts,« sagte der Marquis. »Sie sind nicht mit dem Herzen dabei wie ich und können die fernen Geräusche nicht so hören.« »Sie haben also ein Duell gehabt, daß Sie so mit Blut bedeckt sind?« fragte der General, tief ergriffen, als er die Farbe der großen Flecke erkannte, mit denen die Kleider seines Gastes getränkt waren. »Ja, ein Duell, Sie haben es getroffen,« wiederholte der Fremde, und ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. In diesem Augenblick erklang das Geräusch mehrerer scharf galoppierender Pferde in der Ferne; aber es war so schwach wie der erste Lichtschein am Morgen. Das geübte Ohr des Generals erkannte die Gangart von militärisch gedrillten Pferden, die gewohnt waren, in der Schwadron zu laufen. »Das ist Gendarmerie,« sagte er. Er warf dem Gefangenen einen Blick zu, der ihn über die Zweifel beruhigen sollte, die seine unwillkürliche Neugierde in ihm erweckt haben mochte, nahm das Licht und kehrte in den Salon zurück. Kaum hatte er den Schlüssel zu dem oberen Zimmer auf den Kamin gelegt, als der Lärm der Reiter deutlicher wurde und sich mit einer Schnelligkeit, über die er erschrak, dem Pavillon näherte. In der Tat machten die Pferde vor der Pforte des Hauses Halt. Nach ein paar Worten mit seinen Kameraden stieg ein Reiter ab, klopfte ungestüm und nötigte den General, zu öffnen. Dieser vermochte eine geheime Erregung nicht zu verbergen, als er sechs Gendarmen sah, deren goldbetreßte Hüte im Mondlicht blitzten. »Gnädiger Herr,« fragte ein Brigadier, »haben Sie nicht eben jetzt einen Menschen nach der Barrière zu laufen hören?« »Nach der Barrière zu? Nein.« »Sie haben Ihre Tür niemand geöffnet?« »Pflege ich denn meine Tür persönlich zu öffnen --?« »Verzeihung, General, auch jetzt, dünkt mich --« »Ach was!« rief der Marquis zornig, »wollen Sie sich über mich lustig machen? Wie kommen Sie dazu?« »Keineswegs, keineswegs, gnädiger Herr,« versetzte der Brigadier höflich. »Sie werden uns unsern Diensteifer nicht verübeln. Wir wissen recht wohl, ein Pair von Frankreich läßt sich nicht dazu herbei, zu solcher Stunde der Nacht einen Mörder aufzunehmen; aber der Wunsch, Erkundigungen einzuziehen --« »Einen Mörder!« rief der General. »Und wer ist denn der --?« »Baron de Mauny ist eben durch einen Beilhieb getötet worden,« erwiderte der Gendarm. »Aber der Mörder wird eifrig verfolgt. Wir sind gewiß, daß er sich in dieser Gegend befindet, und werden ihn aufspüren. Entschuldigen Herr General!« Der Gendarm bestieg bei diesen Worten sein Pferd, so daß er glücklicherweise nicht das Gesicht des Generals sehen konnte. Der Brigadier, gewohnt, überall auf der Lauer zu sein, hätte vielleicht Verdacht geschöpft beim Anblick dieses offenen Gesichts, das die Seelenregungen so getreu widerspiegelte. »Kennt man den Namen des Mörders?« fragte der General. »Nein,« antwortete der Reiter. »Er hat den Schreibtisch voll Gold und Banknoten gelassen, ohne etwas anzurühren.« »Also ein Racheakt,« sagte der Marquis. »Ah bah -- an einem alten Manne? -- Nein, nein, der Galgenvogel hat nur nicht Zeit gehabt, sein Werk zu vollenden.« Und der Gendarm setzte seinen Kameraden nach, die schon in die Ferne sprengten. Der General stand eine Weile in einer Verblüffung da, die leicht begreiflich ist. Bald darauf hörte er seine Diener kommen; sie sprachen hitzig miteinander, und ihre Stimmen hallten laut auf der Montreuiler Straße. Sein Zorn suchte einen Vorwand, sich Luft zu machen, und entlud sich nun, als sie ankamen, wie ein Donnerschlag über ihren Häuptern. Seine Stimme hallte durch das Haus, daß es zitterte. Als der Beherzteste und Gewandteste unter ihnen ihre Verspätung damit entschuldigte, daß sie am Eingang von Montreuil von Gendarmen und Polizisten aufgehalten worden seien, die einen Mörder gesucht hätten, beruhigte er sich plötzlich wieder und schwieg. Durch diese Ausrede an die Pflichten seiner sonderbaren Lage erinnert, befahl er kurzweg allen seinen Leuten, auf der Stelle schlafen zu gehen. Sie wunderten sich darüber, daß der Kammerdiener mit seiner Lüge so gut durchgekommen war. Aber während dies sich im Hofe zutrug, hatte ein anscheinend ganz unbedeutender Vorfall die Lage der andern Personen, die in dieser Geschichte mitwirken, umgestaltet. Der Marquis war kaum hinausgegangen, als seine Frau abwechselnd den Mansardenschlüssel und ihre Tochter ansah und schließlich, sich zu ihrer Tochter neigend, mit leiser Stimme sagte: »Helene, Dein Vater hat den Schlüssel auf dem Kaminsims liegen lassen.« Das junge Mädchen hob erstaunt den Kopf und sah zaghaft die Mutter an, deren Augen vor Neugierde blitzten. »Und -- was denn, Mama?« antwortete sie bestürzt. »Ich möchte wissen, was dort oben vorgeht. Wenn jemand da ist, so hat er sich jedenfalls noch nicht gerührt. Geh hinauf ...« »Ich?« fragte das junge Mädchen entsetzt. »Fürchtest du dich?« »Nein, Mama, aber ich habe den Schritt eines Mannes gehört.« »Wenn ich selbst gehen könnte, würde ich dich nicht gebeten haben, hinaufzugehen, Helene,« versetzte die Mutter in einem Tone kalter Würde. »Wenn dein Vater wiederkäme und mich nicht fände, würde er mich vielleicht suchen. Dich wird er nicht vermissen.« »Madame,« antwortete Helene, »wenn Sie es mir befehlen, so geh' ich -- aber ich werde die Achtung vor meinem Vater verlieren ...« »Wie?« versetzte die Marquise in ironischem Tone. »Doch da du ernsthaft aufnimmst, was nur ein Scherz war, so gebiete ich dir jetzt, geh' hinauf und sieh nach, wer dort oben ist. Hier ist der Schlüssel, meine Tochter. Wenn dir dein Vater Schweigen über das, was in diesem Augenblick bei ihm vorgeht, auferlegt hat, so verbot er dir damit keineswegs, in dieses Zimmer zu gehen. Geh' und wisse, daß sich eine Tochter niemals ein Urteil über ihre Mutter erlauben darf ...« Diese letzten Worte sprach die Marquise mit aller Strenge einer gekränkten Mutter, dann nahm sie den Schlüssel und gab ihn Helene, die sich ohne ein Wort erhob und den Salon verließ. »Meine Mutter wird freilich seine Verzeihung zu erlangen wissen, aber ich werde meines Vaters Gunst für alle Zeit verscherzt haben. Will sie mich der Liebe berauben, die er für mich hat, will sie mich aus dem Hause jagen?« Diese Gedanken gärten plötzlich in ihrem Geist, während sie ohne Licht den Korridor entlangschritt, an dessen Ende die Tür des geheimnisvollen Zimmers lag. Als sie dort ankam, waren ihre Begriffe in fast unheilvolle Verwirrung geraten. Die unklaren Ideen hatten mit einem Schlage tausend bisher in ihrem Herzen zurückgehaltenen Gefühlen freien Lauf gegeben. Sie glaubte vielleicht schon nicht mehr an eine glückliche Zukunft und verzweifelte nun in diesem Augenblick vollends an ihrem Leben. Als sie den Schlüssel dem Schloß näherte, zitterte sie krampfhaft, und ihre Aufregung wurde so stark, daß sie einen Augenblick innehielt, um die Hand aufs Herz zu pressen, als hätte sie die Macht, das heftige, laute Pochen zu unterdrücken. Endlich machte sie die Tür auf. Der Mörder hatte ohne Zweifel auf das Kreischen der Angeln nicht geachtet. Obgleich sein Gehör sehr scharf war, blieb er regungslos, anscheinend in Gedanken verloren, stehen, wie an die Wand geklebt. Der Lichtkreis, den die Laterne warf, beleuchtete ihn matt, und er glich in diesem Helldunkel jenen finsteren Ritterstatuen, die, immer in aufrechter Haltung, an den Ecken schwarzer Gräber über gotischen Kapellen stehen. Perlen kalten Schweißes standen auf seiner gelben, breiten Stirn. Eine unglaubliche Kühnheit erleuchtete das heftig zusammengezogene Gesicht. Seine starren, trockenen Augen glühten und schienen über einen Kampf in dem Dunkel, das vor ihm lag, nachzusinnen. Stürmische Gedanken jagten schnell über dieses Gesicht hin, dessen fester, entschlossener Ausdruck auf eine Seele höherer Art deutete. Sein Körper, seine Haltung, seine Größenverhältnisse stimmten mit diesem wilden Geist überein. Dieser Mann war ganz Kraft und Gewalt, und er spähte in die Finsternis, als erblickte er darin das deutliche Abbild seiner Zukunft. Der General, gewohnt, die energischen Gesichter der Riesen zu sehen, die sich um Napoleon drängten, und überdies von einer berechtigten Neugierde beherrscht, hatte auf das eigentümliche Äußere dieses Mannes kaum geachtet; aber Helene, die, wie alle Frauen, äußeren Eindrücken sehr zugänglich war, fühlte sich sogleich durch die Mischung von Licht und Schatten, von Grandiosem und Leidenschaft, von einem poetischen Chaos gefesselt, das dem Unbekannten das Aussehen des sich von seinem Fall erhebenden Luzifers verlieh. Plötzlich folgte dem Sturm, der sich auf seinem Antlitz malte, wie durch Zauber die Ruhe, und eine unerklärliche Macht, für die der Fremde, vielleicht ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, Quelle und Gegenstand zugleich war, breitete sich mit der Geschwindigkeit der Überflutung um ihn her aus. Eine Sturzwelle von Gedanken schien von seiner Stirn hinwegzuströmen, als nun seine Züge ihre natürliche Form wiedergewannen. Das junge Mädchen, bezaubert von der Seltsamkeit dieser Begegnung und von dem Geheimnis, in das sie drang, konnte nun ein sanftes, interessantes Gesicht bewundern. Sie stand eine Zeitlang in magischem Schweigen da, von Regungen erfüllt, die bisher ihre junge Seele nicht gekannt hatte. Doch bald darauf -- ob nun Helene unwillkürlich einen Ausruf getan, eine Bewegung gemacht, oder ob der Mörder, von der Gedankenwelt zur wahren Welt zurückkehrend, außer seinem eigenen Atemzug noch einen andern gehört hatte -- drehte er plötzlich den Kopf der Tochter seines Wirtes zu und sah undeutlich im Schatten die hohe Gestalt und die majestätischen Formen eines Geschöpfes, das er für einen Engel halten mußte, als er es so unbeweglich und undeutlich wie eine Erscheinung dastehen sah. »Herr,« sagte sie mit bebender Stimme. Der Mörder zitterte. »Ein Weib!« rief er in sanftem Tone. »Ist's möglich? Entfernen Sie sich,« fuhr er fort, »ich gestehe niemand das Recht zu, mich anzuklagen, mich freizusprechen oder zu verurteilen. Ich muß für mich allein leben. Gehen Sie, mein Kind,« setzte er hinzu, mit einer überlegenen, herrischen Handbewegung, »ich würde den Dienst, den der Herr dieses Hauses mir erwiesen hat, schlecht vergelten, wenn ich eine einzige der Personen, die es bewohnen, die gleiche Luft mit mir atmen ließe. Ich muß mich den Gesetzen der Welt unterwerfen.« Dieser letzte Satz wurde mit leiser Stimme gesprochen. Indem er das ganze Elend, das dieser schwermütige Gedanke in sich schloß, sich vor seines Geistes Auge zu rufen schien, warf er auf Helene einen schlangenartigen Blick und wirbelte damit im Herzen dieses seltsamen jungen Mädchens eine Welt von Gedanken auf, die bisher darin geschlummert hatten. Es war wie ein Licht, das unbekannte Länder erleuchtet. Ihre Seele wurde zu Boden gedrückt und unterjocht, ohne daß sie die Kraft fand, sich gegen die magnetische Gewalt dieses Blickes zu wehren, so zufällig er auch auf sie gerichtet schien. Beschämt und zitternd, ging sie und kehrte in den Salon zurück. Da im nächsten Augenblick auch der Vater hereintrat, so konnte sie ihrer Mutter nichts sagen. Der General, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, schritt schweigend auf und ab. Mit gekreuzten Armen ging er in militärischem Takt von den Fenstern, die auf die Straße hinausführten, bis zu den Gartenfenstern, und wieder zurück. Seine Frau betrachtete den schlafenden Abel. Moina, die auf dem Sessel lag, wie ein Vogel in seinem Nest, schlummerte sorglos. Die ältere Schwester hielt ein Knäuel Seide in der einen, eine Nadel in der andern Hand und starrte ins Feuer. Das Schweigen, das im Salon draußen und im ganzen Hause herrschte, wurde nur durch die schleppenden Schritte der Dienstboten unterbrochen, die einer nach dem andern schlafen gingen, durch ein unterdrücktes Lachen, ein letztes Echo ihrer Freude und des Hochzeitsfestes, dann durch die Türen ihrer Kammern, die sie, miteinander sprechend, öffneten und gleich darauf schlossen. Einige dumpfe Geräusche schallten auch noch um die Betten her. Ein Stuhl fiel um. Das Husten eines alten Kutschers erklang leise und verstummte. Aber bald herrschte überall die düstere Majestät, die um Mitternacht über der entschlafenen Natur liegt. Nur die Sterne funkelten. Frost hatte die Erde gepackt. Kein Wesen sprach, nichts regte sich. Nur das Feuer brauste und machte, daß die tiefe Stille nur noch tiefer erschien. Die Uhr in Montreuil schlug eins. In diesem Augenblick hallten äußerst leichte Schritte im Oberstock. Der Marquis und seine Tochter glaubten bestimmt, den Mörder des Herrn de Mauny eingeschlossen zu haben, schrieben dieses Geräusch einer der Frauen zu und wunderten sich nicht weiter, als sie die Tür des vor dem Salon liegenden Zimmers aufgehen hörten. Plötzlich erschien der Mörder unter ihnen. Die Verblüffung des Marquis, die lebhafte Neugierde der Mutter und das Erstaunen der Tochter erlaubten ihm, bis in die Mitte des Salons vorzutreten, und in einer seltsam ruhigen und klangvollen Stimme zum General zu sagen: »Herr, die zwei Stunden gehen zu Ende.« »Sie hier!« rief der General. »Wie haben Sie es vermocht -- --?« Und mit einem furchtbaren Blick fragte er seine Frau und seine Kinder. Helene wurde rot wie das Feuer. »Sie,« fuhr der General in bebendem Tone fort, »Sie mitten unter uns! Ein mit Blut bedeckter Mörder hier! Sie beschmutzen dieses Bild! Fort, fort!« setzte er in wütendem Tone hinzu. Bei dem Wort Mörder stieß die Marquise einen Schrei aus. Für Helene aber schien es die Entscheidung des Lebens herbeizuführen, ihr Gesicht verriet nicht das geringste Erstaunen. Sie schien diesen Menschen erwartet zu haben. Allen ihren weiten Gedanken wohnte nur ein Sinn inne. Die Strafe, die der Himmel ihr für ihre Fehler vorbehalten hatte, brach herein. Das junge Mädchen hielt sich für ebenso verbrecherisch, wie dieser Mann es war, und sah ihn nun heiteren Auges an. Sie war seine Gefährtin, seine Schwester. Nach ihrer Überzeugung offenbarte sich ein Gebot Gottes in diesem Zufall. Einige Jahre später hätte eine reifere Vernunft sie über das Wesen ihrer Gewissensbisse besser aufgeklärt; jetzt aber beraubten sie sie aller Besinnung. Der Fremde blieb unbeweglich und kalt stehen. Ein verächtliches Lächeln lag auf seinen Zügen und auf seinen vollen, roten Lippen. »Sie erkennen schlecht den Edelsinn an, den ich in meinem Verhalten gegen Sie beobachtet habe,« sagte er langsam. »Ich habe das Glas, darin Sie mir Wasser reichten, meinen Durst zu stillen, nicht mit den Händen berühren wollen. Ich habe nicht einmal daran gedacht, meine blutenden Hände unter Ihrem Dach zu waschen, und wenn ich es verlasse, dann bleibt von meinem Verbrechen« -- bei diesen Worten zogen sich seine Lippen zusammen -- »nichts hier, als der Gedanke daran. Ich habe dieses Haus gestreift und lasse keine Spur zurück. Ich habe nicht einmal Ihrer Tochter erlaubt --« »Meine Tochter!« rief der General und warf einen Blick des Entsetzens auf Helene. »Ha, Unglückseliger, geh' oder ich bringe dich um!« »Die zwei Stunden sind noch nicht verflossen. Sie können mich weder töten noch ausliefern, ohne die Achtung vor sich selbst zu verlieren -- und auch die meine.« Bei diesem letzten Worte versuchte der verblüffte Soldat den Verbrecher anzusehen; aber er mußte die Augen niederschlagen, er fühlte sich nicht imstande, das unerträgliche Feuer eines Blickes auszuhalten, der ihn zum zweitenmal in innerster Seele verwirrte. Als er erkannte, daß seine Willenskraft abermals schwach wurde, fürchtete er, wiederum weichen Stimmungen nachzugeben. »Einen Greis zu ermorden! Sie können nie etwas von Familienleben kennen gelernt haben?« sprach er zu ihm und wies mit einer patriarchalischen Gebärde auf Frau und Kinder. »Ja, einen Greis!« wiederholte der Unbekannte, leicht die Stirn runzelnd. »Fliehen Sie!« rief der General, doch noch immer wagte er es nicht, den Blick zu seinem Gast zu erheben. »Ich werde Sie nicht töten. Nein, ich werde mich nie zum Geschäftsführer des Schafotts hergeben. Aber gehen Sie -- Sie flößen uns Abscheu ein.« »Das weiß ich,« antwortete der Verbrecher resigniert. »In Frankreich gibt es kein Fleckchen Erde mehr, darauf ich in Sicherheit den Fuß setzen könnte. Aber wenn die Gerechtigkeit im Sinne Gottes die besondern Fälle zu beurteilen wüßte, wenn sie sich herabließe, zu erforschen, wer von beiden das eigentliche Ungeheuer ist, der Mörder oder sein Opfer, dann würde ich mit Stolz unter den Menschen bleiben. Können Sie sich nicht denken, welche Verbrechen ein Mensch begangen haben muß, ehe er von einem andern Menschen mit dem Beil niedergeschlagen wird? Ich habe mich zum Richter und Henker aufgeworfen, ich habe die ohnmächtige menschliche Gerechtigkeit ergänzt. Das ist mein Verbrechen. Adieu, Herr! Trotz der Bitternis, mit der Sie Ihre Gastfreundschaft vermischt haben, werde ich deren gedenken. In meiner Brust wird gegen einen Menschen auf dieser Erde allzeit ein dankbares Gefühl wohnen, und dieser eine Mensch sind Sie ... Aber ich hätte doch gewünscht, Sie wären edelmütiger gewesen.« Er ging auf die Tür zu. In diesem Augenblick neigte sich das junge Mädchen zu ihrer Mutter und sagte ihr ein Wort ins Ohr. »Ah ...!« Der General erschrak über den Schrei, der seiner Frau entfuhr, so heftig, als hätte er Moina tot gesehen. Helene stand hochaufgerichtet da, und der Mörder war unwillkürlich umgekehrt, und auf sein Gesicht trat der Ausdruck einer gewissen Sorge um diese Familie. »Was haben Sie, liebe Frau?« fragte der Marquis. »Helene will mit ihm gehen,« sagte sie. Der Mörder errötete. »Da meine Mutter so schlecht einen fast unwillkürlichen Ausruf auslegt,« sagte Helene mit leiser Stimme, »so werde ich zur Tat machen, was sie im Herzen wünscht.« Nachdem das junge Mädchen einen stolzen, fast wilden Blick um sich her geworfen hatte, senkte sie die Augen und stand in einer bewundernswerten Haltung der Bescheidenheit da. »Helene,« sagte der General, »du bist in die Kammer hinaufgegangen, in die ich diesen Menschen gebracht hatte --?« »Ja, mein Vater.« »Helene,« fragte er mit einer von heftigem Zittern entstellten Stimme, »ist es das erstemal, daß du diesen Menschen gesehen hast?« »Ja, mein Vater.« »Dann ist es unnatürlich, daß du die Absicht hast ...« »Wenn es unnatürlich ist, so ist es doch wenigstens wahr, mein Vater.« »Ha, meine Tochter,« sagte die Marquise mit leiser Stimme, doch so, daß ihr Mann es hörte, »Helene, du verleugnest alle Grundsätze der Ehre, der Bescheidenheit, der Tugend, die ich in deinem Herzen zu entwickeln versucht habe. Wenn du bis zu dieser unseligen Stunde nie anders als verlogen gewesen bist, dann bist du nicht zu bedauern. Ist es die moralische Verkommenheit dieses Unbekannten, die dich verlockt? Wäre es die Gewalt, die allen Menschen zu eigen sein muß, die ein Verbrechen begehen -- --? Ich achte dich immer noch zu sehr, als daß ich glauben könnte --« »O, glauben Sie immerhin alles, Madame,« antwortete Helene in kaltem Tone. Aber trotz der Charakterstärke, die sie in diesem Augenblick bewies, vermochte das Feuer ihrer Augen kaum die Tränen aufzuzehren, die ihr dieselben füllten. Der Fremde erriet aus diesen Tränen des jungen Mädchens, was die Mutter gesprochen hatte und warf den Blick eines Adlers auf die Marquise, die, durch eine unwiderstehliche Macht gezwungen, diesen schrecklichen Verführer ansah. Als die Augen dieser Frau den hellen, leuchtenden Augen dieses Mannes begegneten, empfand sie in tiefster Seele einen Schauer, ähnlich dem Grausen, das uns beim Anblick eines Reptils befällt -- ähnlich den Schlägen, die uns bei Berührung einer Leydener Flasche durchzucken. »Mann,« rief sie ihrem Gatten zu, »es ist der Teufel! Er errät alles --« Der General erhob sich, um nach einer Klingelschnur zu greifen. »Er stürzt Sie ins Verderben,« sagte Helene zu dem Mörder. Der Unbekannte lächelte, tat einen Schritt, hielt den Marquis beim Arm fest, zwang ihn, einen Blick auszuhalten, der ihn betäubte, und raubte ihm so alle Willenskraft. »Ich werde Ihnen Ihre Gastfreundschaft lohnen,« sagte er, »damit werden wir quitt sein. Ich werde Ihnen eine ehrlose Handlung ersparen, indem ich mich selbst ausliefere. Was soll ich schließlich noch im Leben beginnen?« »Sie können bereuen,« antwortete Helene und sah ihn mit einem jener hoffnungsvollen Blicke an, die nur in den Augen von jungen Mädchen aufleuchten können. »Ich werde nie bereuen,« versetzte der Mörder mit tiefer Stimme und warf stolz den Kopf zurück. »Seine Hände sind mit Blut befleckt,« sagte der Vater zu seiner Tochter. »Ich werde sie abwischen,« erwiderte sie. »Aber,« fuhr der General fort, doch wagte er nicht, bei diesen Worten gleichzeitig auf den Unbekannten hinzuzeigen, »weißt du denn auch, ob er dich überhaupt haben will?« Der Mörder schritt auf Helene zu, deren Schönheit, so keusch sie auch war, und so sehr sie sich zu beherrschen wußte, von einer innern Glut erstrahlte, deren Widerschein die kleinsten Züge und zartesten Linien färbte und sozusagen hervortreten ließ. Nachdem er nun auf dieses entzückende Geschöpf einen sanften Blick geworfen hatte, dessen Feuer jedoch noch immer furchtbar war, sagte er im Tone tiefer Ergriffenheit: »Zum Zeichen, daß ich Sie um Ihrer selbst willen liebe und keinen Vorteil aus ihrer Leidenschaft für mich selbst ziehen will -- zum Zeichen, daß ich die zwei Stunden Leben, die Ihr Vater mir gewährt hat, zu bezahlen weiß -- zum Zeichen dessen weise ich Ihr Opfer, Ihre Hingebung zurück.« »Auch Sie stoßen mich von sich!« rief Helene in herzzerreißendem Tone. »Dann lebt wohl, ihr alle. Ich gehe in den Tod!« »Was bedeutet denn das?« fragten Vater und Mutter in gleichem Atem. Helene schwieg und senkte die Augen, nachdem sie die Marquise mit einem vielsagenden Blick forschend angesehen hatte. Seit dem Augenblick, wo der General und seine Frau versucht hatten, durch Wort oder Handlung das seltsame Vorrecht anzugreifen, das der Unbekannte sich anmaßte, indem er in ihrer Mitte blieb, und seit dieser letztere das betäubende Licht, das seinen Augen entströmte, voll auf sie gerichtet hatte, befanden sich beide im Banne eines unerklärlichen Zaubers; alle Vernunft war in Fesseln geschlagen und war nicht imstande, die übernatürliche Macht zurückzustoßen, unter der sie zusammenbrachen. Die Luft dünkte sie jetzt schwer und dick, und sie atmeten mühsam. Dabei vermochten sie nichts gegen den zu sagen, der sie so im Zaume hielt, obwohl eine innere Stimme ihnen deutlich sagte, der zauberhafte Mensch allein sei der Urquell ihrer Ohnmacht. In diesem geistigen Todeskampfe erkannte der General dennoch, daß seine Bemühungen sich jetzt nur darauf richten müßten, auf die schwankende Vernunft seines Kindes einzuwirken. Er nahm Helene um den Leib und trug sie in eine Fensternische. Hier war sie dem Mörder fern. »Mein geliebtes Kind,« sagte er mit leiser Stimme zu ihr, »wenn eine seltsame Liebe plötzlich in deinem Herzen entstanden ist, so haben mir dein Herz, dein Leben voll Unschuld, deine reine, fromme Seele so viel Beweise deines Charakters gegeben, daß ich unmöglich glauben kann, es fehle dir nun an der nötigen Energie, eine Regung des Wahnwitzes zu bezähmen. Wenn du trotzdem daran festhältst, so steckt eben ein Geheimnis dahinter. Nun, mein Herz ist ein Herz voll Duldsamkeit, du kannst ihm alles anvertrauen. Und wenn du es zerrissest, mein Kind, so würde ich den Kummer still in mir tragen und über dein Bekenntnis ein unverbrüchliches Schweigen bewahren. Sprich, bist du etwa eifersüchtig auf unsere Liebe zu deinen Brüdern und deiner jüngeren Schwester? Hast du Liebeskummer? Fühlst du dich hier unglücklich? Sprich, erkläre mir die Gründe, die dich dazu treiben, deiner Familie den Rücken zu kehren, ihr ihren größten Schatz zu rauben, deine Mutter, deine Brüder, deine kleine Schwester zu verlassen?« »Mein Vater,« antwortete sie, »ich bin weder eifersüchtig, noch in jemand verliebt, nicht einmal in Ihren Freund, den Diplomaten, Herrn de Vandenesse.« Die Marquise erbleichte, und ihre Tochter, die das bemerkte, hielt inne. »Muß ich nicht früher oder später sowieso unter dem Schutze eines Mannes leben?« »Das ist wohl wahr.« »Wissen wir jemals,« fuhr sie fort, »an was für ein Wesen wir unser Schicksal knüpfen? Ich -- ich glaube an diesen Mann.« »Kind,« sagte der General, die Stimme erhebend, »du bedenkst nicht, was alles für Leiden auf dich einstürmen werden!« »Ich denke an sein Leid.« »Was für ein Leben wird deiner harren?« rief der Vater. »Ein Frauenleben,« antwortete die Tochter leise. »Du bist ja schon sehr klug,« rief die Marquise, die Sprache wiederfindend. »Madame, die Fragen schreiben mir die Antworten vor; aber wenn Sie es wünschen, so werde ich deutlicher reden.« »Sagen Sie alles, meine Tochter -- ich bin Mutter.« Die Tochter sah die Mutter an, und die Mutter änderte ihren Ton. »Helene, ich werde Ihre Vorwürfe auf mich nehmen, wenn Sie welche gegen mich zu erheben haben. Das soll mir lieber sein, als Sie mit einem Menschen gehen zu sehen, den alle Welt mit Abscheu flieht.« »Sie sehen somit selbst, Madame, ohne mich würde er ganz allein sein.« »Genug, Madame!« rief der General. »Wir haben fortan nur noch eine Tochter.« Und er sah Moina an, die noch immer schlief. »Dich werde ich in ein Kloster bringen,« setzte er hinzu, sich zu Helene wendend. »Meinetwegen, mein Vater,« antwortete sie mit der Ruhe der Verzweiflung. »So werde ich dort sterben. Sie haben für mein Leben und für _seine_ Seele ja nur Gott Rechenschaft abzulegen.« Ein tiefes Schweigen folgte plötzlich auf diese Worte. Es war ein Auftritt, der alle alltäglichen Begriffe des Lebens über den Haufen warf, und die daran Beteiligten wagten nicht, einander anzusehen. Plötzlich erblickte der Marquis seine Pistolen, ergriff eine, lud sie schnell und richtete sie auf den Fremden. Bei dem Geräusch, das der Hahn machte, drehte der Mann sich um und heftete seinen ruhigen, durchdringenden Blick auf den General. Von einer unüberwindlichen Schwäche befallen, sank der Arm des alten Soldaten herab, und die Pistole fiel auf den Teppich. »Meine Tochter,« sagte nun der Vater und gab den entsetzlichen Kampf auf, »du bist frei. Küsse deine Mutter, wenn sie damit einverstanden ist. Was mich betrifft, ich will von dir nichts mehr sehen und hören ...« »Helene,« sagte die Mutter zu dem jungen Mädchen, »bedenke doch, du wirst im Elend leben --!« Ein Röcheln, das aus der breiten Brust des Mörders drang, lenkte ihren Blick auf diesen. Ein Ausdruck der Verachtung war auf seinem Antlitz zu lesen. »Es kommt mir teuer zu stehen, daß ich Ihnen Gastfreundschaft gewährte,« rief der General. »Vor kurzem haben Sie nur einen alten Mann umgebracht. Hier morden Sie eine ganze Familie. Was auch geschehen möge, diesem Hause steht Unglück bevor!« »Und wenn Ihre Tochter glücklich ist?« fragte der Mörder und sah den Soldaten fest an. »Wenn sie glücklich ist mit Ihnen,« antwortete der Vater, sich mit Mühe aufraffend, »so werde ich sie nicht bedauern.« Helene kniete schüchtern vor ihrem Vater nieder und sagte in liebkosendem Tone zu ihm: »O, mein Vater, ich liebe und verehre Sie, ob Sie nun die Schätze Ihrer Güte oder die Strenge des Zorns über mich ausschütten. Doch lassen Sie diese jähzornigen Worte nicht Ihre letzten sein!« Der General wagte nicht, seine Tochter anzusehen. In diesem Augenblick trat der Fremde vor und sah Helene mit einem Lächeln an, das zugleich etwas Höllisches an sich hatte. »Du, der ein Mörder kein Entsetzen einflößt, Engel des Mitleids,« sagte er, »komm, da du darauf bestehst, mir dein Geschick anzuvertrauen.« »Unbegreiflich!« rief der Vater. Die Marquise warf ihrer Tochter einen seltsamen Blick zu und öffnete ihr die Arme. Helene sank ihr weinend an die Brust. »Leb wohl,« sagte sie, »leb wohl, meine Mutter!« Helene gab entschlossen dem Fremden einen Wink. Der Mann zitterte. Sie küßte ihrem Vater die Hand, küßte in Eile, doch ohne Freude, Moina und den kleinen Abel und verschwand mit dem Mörder. »Wohin sind sie gegangen?« rief der General, auf die Schritte der beiden Flüchtlinge lauschend. »Madame,« fuhr er fort, sich an seine Frau wendend, »hinter diesem Abenteuer steckt ein Geheimnis. Sie müssen es kennen.« Die Marquise zitterte. »Seit einiger Zeit,« antwortete sie, »war Ihre Tochter äußerst romantisch geworden und zeigte oft seltsame Überschwenglichkeit. Trotz all meiner Sorge, diesen Hang ihres Charakters zu bekämpfen ...« »Das ist nicht klar.« Aber der General glaubte jetzt im Garten die Schritte seiner Tochter und des Fremden zu hören und sprach nicht weiter, sondern stürzte ans Fenster und riß es auf. »Helene!« schrie er hinaus. Die Stimme verhallte in der Nacht wie eine vergebliche Prophezeiung. Indem der General diesen Namen aussprach, der auf dieser Welt nun nichts weiter mehr war als ein Name, brach er wie durch Zauber den Bann, in den eine diabolische Gewalt ihn geschlagen hatte. Wie das Leuchten eines Geistes huschte es ihm übers Gesicht. Er sah deutlich die Szene vor sich, die sich eben abgespielt hatte, und verwünschte seine Schwäche, die ihm unbegreiflich war. Wie eine heiße Welle flutete es ihm vom Herzen zum Kopfe und zu den Füßen. Er wurde wieder er selbst, und in schrecklicher Wut, in rasendem Rachedurst stieß er einen fürchterlichen Schrei aus. »Hilfe! Hilfe!« Er rannte zu den Klingeln und zog an den Schnüren, als wollte er sie zerreißen, und erweckte so ein Schellen aller Glocken, wie man es im Schlosse noch nie vernommen hatte. Alle seine Leute fuhren entsetzt aus den Betten. Er schrie noch immer, riß die Fenster nach der Straße auf, rief die Gendarmen, fand seine Pistolen, feuerte sie ab, um die Reiter, seine Leute und die Nachbarn zu schnellerem Laufe anzutreiben. Die Hunde erkannten nun die Stimme ihres Herrn und bellten, die Pferde wieherten und stampften. Es war ein schrecklicher Tumult in dieser ruhigen Nacht. Als der General die Treppe hinablief, um hinter seiner Tochter herzueilen, sah er seine entsetzten Leute von allen Seiten zusammenkommen. »Meine Tochter! -- Helene ist entführt worden! -- Geht in den Garten -- bewacht die Straße -- laßt die Gendarmen herein -- sucht den Mörder!« Gleich darauf zerriß er in seiner Wut einfach die Kette, an der der große Wachhund lag. »Helene! Helene!« schrie er dem Tier zu. Der Hund machte einen Satz wie ein Löwe, bellte wütend und stürzte so schnell in den Garten hinein, daß der General ihm nicht folgen konnte. In diesem Augenblick erklang der Galopp von Pferden auf der Straße, und der General öffnete selbst in aller Eile. »Brigadier,« rief er, »schneiden Sie dem Mörder des Herrn de Mauny den Rückweg ab. Sie wollen durch meine Gärten. Schnell, besetzt die Wege nach der Pikardie ... ich mache eine Treibjagd durch alles Land, durch alle Gärten und Häuser. -- Ihr andern,« sagte er zu seinen Leuten, »bewacht die Straße und besetzt die Strecke von der Barrière bis nach Versailles! Vorwärts, allesamt!« Er ergriff ein Gewehr, das ihm sein Kammerdiener brachte, eilte in die Gärten und schrie dem Hunde zu: »Such!« Aus der Ferne antwortete ihm furchtbares Gebell, und er wandte sich nach der Richtung, aus der das Geheul des Hundes zu kommen schien. Um sieben Uhr morgens hatten die Nachsuchungen der Gendarmerie, des Generals, seiner Leute und der Nachbarn noch keinen Erfolg gehabt. Der Hund war nicht wiedergekommen. Erschöpft von der Anstrengung und durch den Gram dieser Nacht rasch gealtert, kehrte der Marquis in den Salon zurück, der für ihn nun verödet war, obgleich seine drei andern Kinder noch da waren. »Sie sind stets sehr kalt zu Ihrer Tochter gewesen,« sagte er, mit einem Blick auf seine Frau. »Hier ist uns doch etwas von ihr geblieben,« setzte er hinzu, auf den Stickrahmen zeigend, darauf er eine angefangene Blume erblickte. »Eben war sie noch hier -- und nun verloren -- verloren!« Er weinte, vergrub den Kopf in den Händen und saß eine Weile schweigend da. Er mochte sich nicht mehr in dem Zimmer umsehen, das ihm einstmals das Gemälde süßesten Hausglücks dargeboten hatte. Das Licht des Morgens kämpfte mit den erlöschenden Lampen; die Kerzen versengten ihre Papiermanschetten; alles stand im Einklang zu der Verzweiflung dieses Vaters. »Das Ding da muß vernichtet werden,« sagte er nach einem Augenblick des Schweigens und zeigte auf den Stickrahmen. »Ich kann nichts mehr sehen, was mich an sie erinnert.« Die entsetzliche Weihnacht, in der der Marquis und seine Frau das Unglück hatten, ihre älteste Tochter zu verlieren, ohne daß sie sich der seltsamen Gewalt widersetzen konnten, die ihr Verführer -- eigentlich ja ein Verführer wider Willen -- auf sie ausgeübt hatte, diese entsetzliche Nacht war gleichsam ein Wink vom Schicksal selbst. Kurz darauf richtete der Bankerott eines Wechselagenten den Marquis zugrunde. Er nahm auf die Güter seiner Frau Hypotheken auf, um eine Spekulation zu versuchen, deren Gewinn der Familie allen früheren Reichtum wiedergeben sollte. Die Spekulation schlug fehl und ruinierte ihn vollends. In seiner Verzweiflung, alles zu versuchen, wanderte der General aus. Sechs Jahre waren seit seiner Abreise verflossen. Die Familie hatte nur selten Nachricht von ihm erhalten. Sechs Tage vor dem Erlaß, durch den Spanien die Unabhängigkeit der amerikanischen Republiken anerkannte, hatte er seine Rückkehr angemeldet. An einem schönen, heitern Morgen befanden sich mehrere französische Handelsmänner, voller Ungeduld, in ihr Vaterland zurückzukehren, mit den Reichtümern, die sie in langer, saurer Arbeit und auf gefährlichen Reisen teils durch Mexiko, teils durch Kolumbia erworben hatten, auf einer spanischen Brigg, nur noch wenige Meilen von Bordeaux entfernt. Ein durch Mühseligkeiten oder Gram über seine Jahre hinaus gealterter Mann lehnte an der Schanzverkleidung und schien keinen Sinn für das Bild zu haben, das sich den Blicken der in Gruppen auf dem Verdeck herumstehenden Passagiere bot. Den Gefahren der Seefahrt entronnen und durch die Schönheit des Tages angelockt, waren alle auf Deck gestiegen, um die Heimat zu grüßen. Die Mehrzahl unter ihnen wollte durchaus in der Ferne schon die Leuchttürme, die Häuser der Gascogne, den Turm von Corduan zwischen den phantastischen Gebilden einiger weißen Wolken erkennen, die am Horizont heraufstiegen. Wäre nicht die silberne Furche gewesen, die der Kiel vor sich aufpflügte, wäre nicht die Schleppe gewesen, die er hinter sich herzog, so hätten die Reisenden glauben können, sie lägen regungslos mitten auf dem Ozean, so ruhig war die See. Der Himmel war von entzückender Reinheit. Die tiefe Färbung seines Gewölbes ging in unmerklichen Abstufungen in die bläuliche Farbe des Wassers über; wo beide aufeinanderstießen, sah man nur eine zarte Linie, von der flimmernden Helligkeit der Sterne. Die Sonne ließ Millionen von Spiegelscheiben auf der unermeßlichen Fläche des Meers aufblitzen, so daß die weiten Gefilde des Wassers vielleicht noch mehr leuchteten als das Firmament selbst. Ein wunderbar milder Wind blähte alle Segel der Brigg, und die schneeweißen Tücher, die gelben, wehenden Wimpel, das Labyrinth von Tauwerk zeichneten sich haarscharf auf dem glänzenden Grunde des Himmels, der leuchtenden Luft und des Meeres ab, ohne andere Farben anzunehmen, als die Schatten, die die Wolken von Segeln warfen. Ein schöner Tag, ein frischer Wind, der Anblick des Vaterlandes, eine hübsche, einsame Brigg, die wie eine zum Stelldichein fliegende Schöne über das Meer hinglitt -- das war ein Bild voll Harmonie, eine Szene von köstlichem Reiz. Von einem Punkt aus, auf dem alles reges Leben und Bewegung war, umfaßte die Menschenseele weite Fernen, die bewegungslos blieben, die unwandelbar sich ringsum ausdehnten. Es war eine wundersame Gegenüberstellung von Einsamkeit und Leben, von Stille und Lärm, ohne daß man hätte sagen können, wo der Lärm und das Leben, das Nichts und das Schweigen wäre. Denn keine menschliche Stimme unterbrach diesen himmlischen Zauber. Der spanische Kapitän, seine Matrosen und die Männer aus Frankreich standen oder saßen und überließen sich in frommer Schwärmerei ihren Erinnerungen. Die Luft selbst atmete Müßiggang. Die strahlenden Gesichter verrieten ein völliges Vergessen der schlechten Zeiten, die man überstanden hatte, und die Menschen wiegten sich auf ihrem schönen Schiff wie in einem goldenen Traume. Dennoch sah der alte, an die Schanzverkleidung gelehnte Passagier von Zeit zu Zeit voll Unruhe nach dem Horizont. In seinen Zügen prägte sich die Ahnung eines Unglücks oder ein Mißtrauen gegen die Güte des Schicksals aus, und er schien zu befürchten, daß man den Boden Frankreichs nicht schnell genug betreten könne. Dieser Mann war der Marquis. Das Glück hatte gegen seine verzweifelten Anstrengungen sich nicht spröde gezeigt. Nachdem er fünf Jahre alles mögliche versucht und bitter gearbeitet hatte, war er nun im Besitz eines beträchtlichen Vermögens. In seiner Ungeduld, die Heimat wiederzusehen und seiner Familie das Glück zu bringen, war er dem Beispiel einiger französischen Handelsleute von Habana gefolgt und hatte sich mit ihnen auf einem spanischen nach Bordeaux bestimmten Fahrzeug eingeschifft. Seine Phantasie, überdrüssig, immer Unglück vorauszusehen, spiegelte ihm die köstlichsten Bilder aus dem Glück seiner Vergangenheit wider. Beim Anblick der fernen braunen Linie, die das Land beschrieb, glaubte er seine Frau und seine Kinder zu sehen. Er saß an seinem Platze am Kamin und war umringt und liebkost von seinen Kindern. Er stellte sich Moina vor, schön, groß geworden, imposant wie ein junges Mädchen. Als dieses Bild der Phantasie ihm so klar vor Augen stand, wie ein Bild der Wirklichkeit, rannen ihm Tränen die Wangen hinab, und um seine Aufregung zu verbergen, sah er nach dem Horizont in der entgegengesetzten Richtung der verschwommenen Linie, die das Land bezeichnete. »Das ist er!« rief er. »Er verfolgt uns.« »Was gibt's?« rief der spanische Kapitän. »Ein Schiff,« antwortete der General mit leiser Stimme. »Ich habe es schon gestern gesehen,« antwortete Kapitän Gomez. Er sah den Franzosen fragend an. »Er hat bis jetzt Jagd auf uns gemacht,« sagte er dann dem General ins Ohr. »Ich begreife nicht, warum er uns nicht schon eingeholt hat,« versetzte der alte Soldat, »denn er ist ein besserer Segler, als Ihr verwünschter Sankt Ferdinand.« »Er wird Havarien erlitten oder Wasser übergenommen haben.« »Er kommt auf,« rief der Franzose. »Er ist ein kolumbischer Korsar,« sagte der Kapitän ihm ins Ohr. »Wir sind noch sechs Meilen von der Küste entfernt, und der Wind flaut ab.« »Er fährt nicht -- er fliegt -- als wenn er wüßte, daß ihm in zwei Stunden seine Beute entschlüpft sein wird -- welche Tollkühnheit!« »Der!« rief der Kapitän. »Ja, der heißt nicht umsonst der Othello. Er hat letztens eine spanische Fregatte in den Grund gebohrt und führt doch nur dreißig Kanonen. Ich habe die ganze Zeit über Angst vor ihm gehabt, denn ich wußte wohl, daß er in den Antillen kreuzte. Ah! ah!« fuhr er nach einer Pause fort, während deren er die Segel seines Schiffes beobachtet hatte, »der Wind frischt auf, wir werden unser Ziel erreichen. Das ist auch nötig, denn der Pariser würde kein Erbarmen kennen.« »Aber auch er erreicht sein Ziel,« antwortete der Marquis. Der »Othello« war nur noch drei Meilen entfernt. Obwohl die Mannschaft das Gespräch zwischen dem Marquis und Kapitän Gomez nicht mitangehört hatte, war doch die Mehrzahl der Matrosen und der Passagiere durch das Auftauchen dieses Segels nach der Stelle hingelockt worden, wo die beiden sich unterhielten. Aber alle hielten diese Brigg für ein Handelsschiff und betrachteten sie mit Interesse, als plötzlich ein Matrose in energischem Ton rief: »Beim heiligen Jakob, wir sind des Todes! Das ist der Pariser Kapitän!« Bei diesem schrecklichen Namen griff das Entsetzen im Schiff um sich, und eine Verwirrung entstand, die sich nicht beschreiben läßt. Der spanische Kapitän hielt durch seine Befehle noch eine Zeitlang seine Matrosen in Zucht und flößte ihnen Tatkraft ein. Er wollte um jeden Preis das Land erreichen und versuchte in aller Eile sämtliche hohen und niedrigen Leesegel auf Steuer- und auf Backbord zu hissen, um dem Winde alle Leinwand zu bieten, die seine Rahen trugen. Aber diese Manöver waren nur mit großer Schwierigkeit auszuführen; es fehlte an der bewundernswerten Zusammenarbeit, die auf einem Kriegsschiff so sehr besticht. Obwohl der »Othello« wie eine Schwalbe segelte, dank der geschickten Stellung seiner Segel, so kam er doch anscheinend so wenig auf, daß die unglücklichen Franzosen sich einer holden Illusion hingaben. Als nach unerhörten Anstrengungen infolge gewandter Manöver, die Gomez durch Winke und Befehle angeordnet hatte, der »Sankt Ferdinand« von neuem schnell seinem Ziel näherkam, legte plötzlich der Steuermann durch eine falsche Bewegung des Ruders, die er wahrscheinlich mit Absicht machte, die Brigg quer. Nun von der Seite gefaßt, killten die Segel so heftig, daß sie back braßten. Die Klüverbäume brachen, und das Schiff kam völlig aus dem Kurs. Vor unaussprechlicher Wut wurde der Kapitän weißer als seine Segel. Mit einem Satz sprang er auf den Steuermann zu und stieß so wütend mit dem Dolche nach ihm, daß er denselben wohl verfehlte, doch ihn dabei ins Meer stürzte. Dann packte er selbst das Steuer und versuchte der schrecklichen Zügellosigkeit Herr zu werden, in die sein braves, mutiges Schiff versetzt worden war. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen; denn wenn wir durch einen Verrat um einen Erfolg gebracht werden, den unsere Fähigkeiten errungen haben würden, so schmerzt uns das tiefer als selbst ein drohendes Ende. Aber je mehr der Kapitän fluchte, um so weniger glückte ihm sein Vorhaben. Er schoß selbst die Alarmkanone ab, in der Hoffnung, von der Küste aus gehört zu werden. In diesem Augenblick antwortete der Korsar mit einem Kanonenschuß, dessen Kugel zehn Klafter vom »Sankt Ferdinand« ins Wasser schlug. »Donnerwetter!« rief der General. »Gut gezielt. Sie haben ausgezeichnete Karonaden.« »O, der!« antwortete ein Matrose. »Sehen Sie, wenn der spricht, heißt's schweigen. Der Pariser würde sich vor einem englischen Kriegsschiff nicht fürchten.« »Es ist nichts zu machen,« rief der Kapitän im Tone der Verzweiflung. Er hatte sein Fernrohr ans Auge gesetzt und keine Spur von Land unterscheiden können. »Wir sind noch weiter von Frankreich entfernt, als ich gedacht habe.« »Warum wollen Sie verzagen?« versetzte der General. »Alle Ihre Passagiere sind Franzosen, und denen gehört die Fracht Ihres Schiffes. Dieser Korsar ist ein Pariser, sagen Sie? Nun wohl, hissen Sie den weißen Wimpel, und ...« »Und er wird uns in den Grund bohren,« antwortete der Kapitän. »Was wird weiter geschehen, da ihm einmal darum zu tun ist, sich einer reichen Beute zu bemächtigen?« »Ah! wenn er ein Seeräuber ist -- --« »Seeräuber?« rief einer der Matrosen in wildem Tone. »Ha, er tritt immer manierlich auf, und es geht dabei alles ganz ordnungsgemäß her, wie es sich gehört.« »Nun gut,« rief der General, die Augen zum Himmel aufschlagend, »ergeben wir uns.« Er hatte noch Kraft genug, die Tränen zurückzuhalten. Als er diese Worte beendet hatte, traf ein zweiter, besser gezielter Kanonenschuß das Hinterteil des »Sankt Ferdinand« und schlug ein Leck. »Beidrehen!« befahl der Kapitän in traurigem Tone. Und der Matrose, der der Anständigkeit des Parisers das Wort geredet hatte, betätigte sich in sehr geschickter Weise bei diesem verzweifelten Manöver. Die Mannschaft wartete in tiefster Bestürzung eine tödliche halbe Stunde lang. Der »Sankt Ferdinand« führte vier Millionen Piaster, die das Vermögen von fünf Passagieren bildeten. Davon betrug das des Generals eine Million einhunderttausend Frank. Der »Othello«, der noch um zehn Flintenschüsse entfernt war, zeigte jetzt deutlich die drohenden Mündungen von zwölf schußbereiten Kanonen. Er flog vor einem Winde hin, den der Teufel eigens für seine Segel blasen zu lassen schien; aber das Auge eines geschickten Seemanns konnte ohne Schwierigkeit das Geheimnis dieser Geschwindigkeit erkennen. Man brauchte nur einen Augenblick den schlanken, langgestreckten Bau der Brigg zu betrachten, ihre Schmalheit, die Höhe ihrer Masten, den Schnitt ihrer Segel, die bewundernswerte Leichtigkeit ihrer Takelage und die Flottheit, mit der alle ihre Leute, so einmütig, als wenn nur ein einziger Mensch dort tätig wäre, die weiße Fläche richteten und ordneten, die ihre Segel darboten. Alles verriet eine unglaubliche Kraft und Sicherheit an diesem flinken Geschöpf aus Holz, das ebenso rasch, ebenso klug war wie ein Rennpferd oder ein Raubvogel. Die Mannschaft des Korsaren verhielt sich still und war bereit, falls sie auf Widerstand stoßen sollte, das arme Handelsschiff zu vernichten, das sich zu seinem Glück ganz ruhig verhielt, wie ein Schüler, den sein Lehrer über einer Dummheit ertappt hat. »Wir haben Kanonen!« schrie der General und drückte dem spanischen Kapitän die Hand. Der letztere warf dem alten Soldaten einen Blick voll Wut und Verzweiflung zu und sagte zu ihm: »Und die Leute?« Der Marquis betrachtete die Mannschaft des »Sankt Ferdinand«, und ihn schauderte. Die vier Handelsleute waren blaß und zitterten vor Angst; während die Matrosen sich um einen unter ihnen scharten und sich dem Anschein nach verabredeten, auf die Seite des »Othello« zu treten, denn sie sahen mit begehrlichen Blicken nach dem Korsaren hin. Der erste Maat, der Kapitän und der Marquis allein tauschten Blicke aus, die eine einmütige und tapfere Gesinnung verrieten. »Ah, Kapitän Gomez, einstmals habe ich mit vor Kummer erstorbenem Herzen meinem Vaterland und meiner Familie Lebewohl gesagt. Soll ich sie auch nun nicht wiedersehen, wo ich eben meinen Kindern die Freude und das Glück bringen will?« Der General drehte sich um und ließ eine Träne der Wut ins Meer fallen. Dabei erblickte er den Steuermann, der auf den Korsaren zuschwamm. »Diesmal,« antwortete der Kapitän, »werden Sie ihm ohne Zweifel für alle Zeit Lebewohl sagen müssen.« Der Franzose erschrak über den stumpfsinnigen Blick, den der Spanier ihm zuwarf. In diesem Augenblick waren die beiden Schiffe fast an Bord; und beim Anblick der feindlichen Mannschaft glaubte der General an die unselige Prophezeiung seines Kapitäns. Drei Mann standen an jedem Geschütz. Wenn man ihre athletische Haltung, ihre eckigen Züge, ihre nackten, sehnigen Arme sah, hätte man sie für Statuen von Bronze halten können. Sie wären im Tode noch auf ihrem Posten geblieben, ohne umzufallen. Die Matrosen, gut bewaffnet, standen unbeweglich da, aber man sah ihnen an, wie flink und gewandt sie sein konnten, sobald ein Befehl sie aus ihrer Starrheit erweckte. Alle diese energischen Gesichter waren stark von der Sonne verbrannt und von der Arbeit gehärtet. Ihre Augen leuchteten wie Feuerfunken und verrieten Tatkraft, Intelligenz und höllische Freude. Die tiefe Stille, die auf diesem von Menschen und Hüten schwarzen Verdeck herrschte, zeugte für die unversöhnliche Disziplin, unter die ein gewaltiger Wille diese menschlichen Teufel gezwungen hatte. Der Anführer stand vor dem Hauptmast, ohne Waffen und mit gekreuzten Armen. Nur ein Beil lag ihm zu Füßen. Auf dem Kopfe trug er zum Schutze gegen die Sonne einen Filzhut mit breiter Krempe, dessen Schatten sein Gesicht verbarg. Gleich Hunden, die vor ihrem Herrn liegen, sahen Kanoniere, Soldaten und Matrosen abwechselnd auf den Kapitän und das Handelsschiff. Als die beiden Briggs zusammenstießen, erweckte die Erschütterung den Korsaren aus seiner Träumerei, und er sagte einem jungen Offizier, der zwei Schritt vor ihm stand, ein Wort ins Ohr. »An die Enterhaken!« rief der Leutnant. Und der »Sankt Ferdinand« wurde von dem »Othello« mit bewundernswerter Geschwindigkeit geentert. Gemäß den Befehlen, die der Korsar mit leiser Stimme erteilte und der Leutnant wiederholte, gingen die Leute, wie Seminaristen, wenn sie zur Messe gehen, an Bord der Prise, fesselten die Matrosen und Passagiere und bemächtigten sich der Schätze. In einem Augenblick waren die Tonnen voll Piastern, die Lebensmittel und die Mannschaft vom »Sankt Ferdinand« auf das Verdeck des »Othello« gebracht worden. Der General glaubte im Banne eines Traumes zu stehn, als ihm die Hände gefesselt und er auf einen Ballen geworfen wurde, ganz als ob er selber nur ein Stück Ware sei. Eine Beratung fand zwischen dem Korsaren, dem Leutnant und einem Matrosen statt, der den Posten eines ersten Maats zu haben schien. Als die Unterredung, die nur kurze Zeit währte, zu Ende war, rief der Matrose durch einen Pfiff seine Leute herbei. Er erteilte ihnen einen Befehl, und sie sprangen alle auf den »Sankt Ferdinand«, kletterten am Tauwerk in die Höhe und begannen, das Schiff seiner Rahen, Segel und Takelage zu berauben, mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der ein Soldat auf dem Schlachtfelde einen toten Kameraden entkleidet, dessen Schuhe und Mantel ihm begehrenswert erschienen sind. »Wir sind verloren,« sagte zum Marquis der spanische Kapitän, der mit den Blicken die Gebärden der drei Anführer während ihrer Beratung und die Bewegungen der Matrosen verfolgt hatte, die die regelrechte Plünderung seiner Brigg vornahmen. »Wieso?« fragte der General gelassen. »Was denken Sie, was sie mit uns machen werden?« versetzte der Spanier. »Sie haben ohne Zweifel erkannt, daß sie den »Sankt Ferdinand« nicht gut in den Häfen von Frankreich und Spanien verkaufen können, und so wollen sie ihn nun versenken, um ihn los zu werden. Und was uns betrifft, glauben Sie, sie werden sich damit befassen, uns durchzufüttern, da sie nicht wissen, an welchem Hafen sie uns absetzen könnten?« Kaum hatte der Kapitän diese Worte beendet, als der General ein entsetzliches Geschrei und den dumpfen Fall mehrerer Körper hörte, die man ins Meer warf. Er wandte sich um und sah die vier Handelsleute nicht mehr. Acht Kanoniere mit wilden Gesichtern standen noch mit in die Luft gereckten Armen da, als der Soldat mit Entsetzen zu ihnen hinsah. »Habe ich's Ihnen nicht gesagt?« meinte der spanische Kapitän trocken. Der Marquis erhob sich rasch. Das Meer war schon wieder ruhig geworden. Er sah nicht einmal mehr die Stelle, wo seine unglücklichen Gefährten verschwunden waren. Mit zusammengebundenen Händen und Füßen lagen sie wohl schon am Grunde der See, wenn nicht Haifische sie zerrissen hatten. Ein paar Schritte von ihm schlossen der treulose Steuermann und der Matrose des »Sankt Ferdinand«, der vorhin die Macht des Pariser Kapitäns gerühmt hatte, Brüderschaft mit den Piraten und bezeichneten mit dem Finger diejenigen von den Seeleuten der Brigg, die nach ihrer Meinung würdig waren, in die Mannschaft des »Othello« eingereiht zu werden. Den andern fesselten zwei Schiffsjungen trotz der gräßlichen Verwünschungen, die sie ausstießen, die Füße. Als die Auswahl beendet war, packten die acht Kanoniere die Verurteilten und warfen sie ohne Umstände ins Meer. Die Korsaren betrachteten mit boshafter Neugierde die verschiedenen Bewegungen der Unglücklichen, wie sie hinabfielen, was für Gesichter sie schnitten, wie ihr letzter Todeskampf verlief. Aber ihre Züge verrieten weder Hohn, noch Schreck, noch Mitleid. Es war für sie eine ganz einfache Sache, an die sie gewöhnt waren. Die älteren unter ihnen betrachteten daher auch lieber mit einem finstern, verhaltenen Lächeln die mit Piastern gefüllten Tonnen, die vor dem Hauptmast standen. Der General und Kapitän Gomez saßen auf einem Warenballen und sahen sich fragend an. Sie waren nun noch die einzigen, die von der Mannschaft des »Sankt Ferdinand« noch am Leben waren. Die sieben Matrosen, die von den beiden Verrätern ausgewählt worden waren, hatten sich inzwischen schon zu fröhlichen Piraten umgewandelt. »Was für schändliche Kerle!« rief plötzlich der General, und eine gerechte, edelmütige Entrüstung ließ ihn seinen Kummer und die Vorsicht vergessen. »Sie gehorchen der Notwendigkeit,« antwortete Gomez ruhig. »Wenn Sie einem dieser Menschen einmal wieder begegneten, würden Sie ihm nicht Ihren Degen durch den Leib rennen?« »Kapitän,« sagte der Leutnant, sich an den Spanier wendend, »der Pariser hat von Ihnen sprechen hören. Sie sind, sagt er, der einzige, der die Antillendurchfahrt und die brasilianische Küste genau kennt. Wollen Sie --?« Der Kapitän unterbrach den Leutnant mit einem Ausruf der Verachtung und antwortete: »Ich werde den Seemannstod erleiden als treuer Spanier und Christ -- verstehst du?« »Ins Meer mit ihm!« rief der junge Mann. Auf diesen Befehl packten zwei Kanoniere Gomez. »Ihr seid feige Hunde!« schrie der General und versuchte die Korsaren zurückzuhalten. »Alter,« sagte der Leutnant zu ihm, »regen Sie sich nicht auf. Wenn Ihr rotes Band am Knopfloch auch auf unsern Kapitän einigen Eindruck macht, ich lächle darüber. Auch wir beide werden sogleich eine kleine Unterhaltung miteinander haben.« In diesem Augenblick verkündete ein dumpfer Fall, in den kein Laut der Klage sich mischte, dem General, daß der wackere Gomez den Seemannstod erlitten hatte. »Mein Geld oder den Tod!« schrie er in einem furchtbaren Wutanfall. »Ah, Sie sind vernünftig,« antwortete der Korsar spöttisch. »Sie wissen nun doch, daß Sie eins von beiden bestimmt von uns erhalten werden ...« Auf ein Zeichen des Leutnants eilten zwei Matrosen herbei, um dem Franzosen die Füße zusammenzubinden. Aber der General stieß sie mit einer unerwarteten Kühnheit zurück, befreite sich mit fast übermenschlicher Gewalt von dem Strick, womit seine Hände gefesselt waren, riß mit einer Bewegung, mit der niemand gerechnet hatte, den Säbel an sich, den der Leutnant an der Seite trug, und begann mit der Gewandtheit eines alten Kavalleristen, der sein Handwerk versteht, zu fechten. »Ha, Briganten! Ihr sollt einen alten Soldaten Napoleons nicht wie eine Auster ins Meer werfen!« Pistolenschüsse, auf den um sich schlagenden Franzosen abgefeuert, lenkten die Aufmerksamkeit des Parisers auf diese Szene, der inzwischen die dem »Sankt Ferdinand« geraubte Takelage auf sein Schiff hatte herüberschaffen lassen. Kaltblütig packte er nun den mutigen General von hinten, hob ihn rasch empor, schleppte ihn an den Bordrand und war im Begriff, ihn wie eine unbrauchbare Spiere ins Wasser zu werfen. In diesem Augenblick sah der General in das wilde Auge des Mannes, der seine Tochter entführt hatte. Der Vater und der Schwiegersohn erkannten sich auf der Stelle. Der Kapitän gab seiner Bewegung plötzlich eine andere Richtung, und statt den General ins Meer zu werfen, stellte er ihn in raschem Schwunge, als wenn der schwere Mann gar nichts gewogen hätte, vor den Hauptmast. Ein Murmeln erhob sich auf dem Verdeck. Aber der Korsar warf seinen Leuten nur einen Blick zu, worauf tiefstes Schweigen eintrat. »Es ist Helenens Vater,« sagte der Kapitän mit klarer, fester Stimme. »Wehe dem, der es an Achtung gegen ihn fehlen läßt!« Ein freudiges Geschrei erklang auf dem Verdeck und stieg gen Himmel, wie ein Gebet in einer Kirche, wie der ernste Ruf des Tedeums. Die Schiffsjungen schaukelten sich im Tauwerk, die Matrosen warfen die Mützen in die Luft, die Kanoniere trampelten mit den Füßen, alles war in Bewegung, schrie, pfiff und fluchte. Diese Heiterkeit hatte etwas so Fanatisches an sich, daß der General unruhig und beklommen wurde. Er schrieb den Aufruhr einem entsetzlichen Geheimnis zu, und sein erster Ruf, als er die Sprache wiederfand, war das Wort: »Meine Tochter! Wo ist sie?« Der Korsar warf dem General einen jener tiefen Blicke zu, die, ohne daß man sich's erklären konnte, die unerschrockensten Seelen niederwarfen, und der Soldat verstummte, zur großen Befriedigung der Matrosen, die sich darüber freuten, daß ihr Führer über alle Menschen Gewalt zu haben schien. Dann führte der Räuber ihn an eine Treppe, hieß ihn hinabsteigen, brachte ihn vor die Tür einer Kabine, öffnete sie rasch und sagte: »Sie ist hier.« Dann verschwand er, während der alte Haudegen verblüfft das Bild betrachtete, das sich seinen Blicken bot. Als Helene die Tür des Gemachs so ungestüm öffnen hörte, war sie von dem Divan aufgestanden, auf dem sie lag. Doch nun erblickte sie den Marquis und stieß einen Schrei der Überraschung aus. Sie war so verändert, daß es des Auges eines Vaters bedurfte, um sie zu erkennen. Die Tropensonne hatte sie noch schöner gemacht. Ihr weißes Gesicht war braun geworden und hatte ein wunderbares Kolorit erhalten, das ihr einen Ausdruck orientalischer Poesie verlieh. Dieses Antlitz trug den Stempel der Größe, Majestät, Energie und einer Seelentiefe, die auf die rohesten Gemüter Eindruck machen mußte. Ihr langes, überreiches Haar fiel in dicken Locken auf einen vornehmen Hals und gab dem Stolz dieses Gesichts einen machtvollen Rahmen. In ihrer Haltung und Gebärde verriet Helene, daß sie sich ihrer Macht auch vollauf bewußt war. Eine an Triumph grenzende Zufriedenheit blähte leicht ihre rosafarbenen Nasenflügel, und ihr ruhiges Glück erkannte man allein schon daran, in welchem Maße ihre Schönheit sich entfaltet hatte. Dabei hatte sie gleichzeitig doch eine unsagbare jungfräuliche Weichheit an sich und jenen besonderen Stolz, der allen denen eigen ist, die sich über alles geliebt wissen. Sklavin und Herrscherin zugleich, wollte sie gern gehorchen, da sie regieren konnte. Sie war mit einer Pracht gekleidet, die der Anmut und Vornehmheit nicht ermangelte. Ihre ganze Toilette bestand aus indischem Musselin; der Diwan und die Kissen waren von Kaschmir, und ein persischer Teppich bedeckte den Boden der geräumigen Kabine. Ihre vier Kinder spielten zu ihren Füßen und bauten sich phantastische Schlösser aus Perlenhalsbändern, aus kostbaren Schmucksachen, aus wertvollen Gegenständen. Ein paar Vasen aus Sèvresporzellan, von Madame Jaquotot bemalt, enthielten seltene, duftende Blumen: Jasmin aus Mexiko und Kamelien. Zwischen diesen Blumen flatterten gezähmte kleine Vögel aus Amerika herum, die in ihrer Buntfarbigkeit Rubinen, Saphiren und lebendigem Golde glichen. Ein Piano stand in diesem Salon, und an den Wänden hingen hier und dort Bilder, die nicht groß waren, aber von den besten Malern herrührten: ein »Sonnenuntergang« von Hippolyt Schinner neben einem Ter Borch, eine Heilige Jungfrau von Raphael neben einer Skizze von Géricault; ein Gerard Dow neben Porträtmalern des Kaiserreichs. Auf einem Lacktisch befand sich eine goldene Schüssel voll köstlicher Früchte. Kurz, Helene schien die Königin eines großen Reiches zu sein, und ihr gekrönter Gemahl schien in diesem Boudoir die schönsten Dinge der Erde zusammengetragen zu haben. Die Kinder sahen ihren Großvater neugierig an; gewohnt, wie sie waren, an Kampf und Lärm, glichen sie den kleinen neugierigen, nach Krieg und Blut lüsternen Römerkindern, die David auf seinem Gemälde »Brutus« dargestellt hat. »Wie ist das möglich?« rief Helene und faßte ihren Vater an, um sich von der Leibhaftigkeit dieser Erscheinung zu überzeugen. »Helene!« -- »Mein Vater!« Sie sanken einander in die Arme, doch die Umarmung des Greises war die weniger starke und liebevolle. »Sie waren auf diesem Schiffe?« »Ja,« antwortete er traurig, setzte sich auf den Diwan und betrachtete die Kinder, die sich in naiver Wißbegierde um ihn scharten. »Ich wäre nicht mehr am Leben, wenn nicht --« »Wenn nicht mein Mann gewesen wäre,« unterbrach sie ihn. »Ich errate es.« »Ach!« rief der General, »warum muß ich dich wiederfinden, Helene, dich, die ich so sehr beweint habe! Ich werde also alle Zeit dein Schicksal zu beklagen haben!« »Warum?« fragte sie lächelnd. »Werden Sie nicht zufrieden sein, wenn Sie erfahren, daß ich die glücklichste aller Frauen bin?« »Glücklich!« rief er und sprang erstaunt auf. »Ja, mein guter Vater,« fuhr sie fort, ergriff seine Hände, drückte sie auf ihren wogenden Busen und sah ihn mit vor Freude funkelnden Augen an. »Und inwiefern glücklich?« fragte er, neugierig, das Leben seiner Tochter kennen zu lernen. Vor diesem strahlenden Angesicht vergaß er alles andere. »Hören Sie, mein Vater,« antwortete sie, »ich habe zum Geliebten, zum Gatten, zum Diener, zum Herrn einen Mann, dessen Seele ebenso groß ist wie dieses grenzenlose Meer, ebenso unerschöpflich an Milde, wie der Himmel. Kurz, er ist ein Gott! Seit sieben Jahren ist ihm niemals ein Wort, ein Gefühl, eine Gebärde entschlüpft, die einen Mißklang in die göttliche Harmonie seiner Rede, seiner Liebkosungen und seiner Liebe hätten bringen können. Er hat mich immer nur mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und mit freudestrahlenden Augen angesehen. Dort oben übertönt seine donnernde Stimme oft das Heulen des Sturms oder den Kampfeslärm. Aber hier ist sie sanft und klangvoll wie die Musik Rossinis, dessen Werke mir vor kurzem geschenkt worden sind. Alles, was die Laune einer Frau sich nur ersinnen kann, bekomme ich. Ja, meine Wünsche werden oft noch überboten. Kurz, ich gebiete über das Meer, und man gehorcht mir dort wie einer Herrscherin. -- O, glücklich!« fuhr sie fort, sich selbst unterbrechend, »glücklich ist nicht der richtige Ausdruck für mein Glück. Mein Glück ist anders als das aller Frauen. Eine Liebe zu fühlen, eine grenzenlose Hingebung zu dem, den man liebt, und in seinem Herzen eine ebenso grenzenlose Liebe zu finden, eine immer sich gleiche Liebe, in der die Seele der Frau sich baden kann -- sagen Sie, ist das nicht Glück? Hier bin ich Gebieterin. Noch nie hat ein Geschöpf meines Geschlechts den Fuß auf dieses edle Schiff gesetzt, wo Victor nur ein paar Schritte von mir entfernt ist. -- Er kann sich von mir immer nur so weit entfernen wie bis zum Heck oder zum Bug,« fuhr sie mit einer feinen Schelmerei fort, »und sieben Jahre! eine Liebe, die sieben Jahre lang so innig bleibt, die sieben Jahre lang fast alle Augenblicke eine Probe zu bestehen hatte -- ist das nicht Liebe? Ja, es ist weit, weit mehr noch als Liebe! Es ist das Herrlichste, das ich mein Leben lang kennen gelernt habe! Die menschliche Stimme hat keine Ausdrücke für ein himmlisches Glück.« Ein Tränenstrom entrann ihren brennenden Augen. Die vier Kinder stießen ein klägliches Geschrei aus und liefen herbei, wie Küchlein die Mutter umringend. Der älteste Knabe schlug nach dem General und warf ihm drohende Blicke zu. »Abel,« sagte sie, »mein Engel, ich weine ja doch vor Freude.« Sie nahm ihn auf die Knie; das Kind liebkoste sie zutraulich, indem es die Arme um den majestätischen Hals Helenens schlang, wie ein kleiner Löwe, der mit seiner Mutter spielen will. »Und du hast keine Langeweile?« rief der General, betäubt von der überschwenglichen Antwort seiner Tochter. »Doch,« antwortete sie. »Wenn wir mal an Land gehen; denn auch dann verlasse ich meinen Mann nie.« »Aber du liebtest doch Festlichkeiten, Bälle, Musik?« »Musik -- das ist seine Stimme; meine Festlichkeiten -- das sind die Stunden, zu denen ich mich für ihn schmücke. Wenn ich ihm in meinem Putz gefalle, ist's dann nicht, als ob die ganze Erde mich bewunderte? Und deshalb allein werfe ich diese Diamanten, diese Halsbänder, diese Diademe von Edelsteinen, diese Reichtümer, diese Blumen, diese Meisterwerke der Künste nicht ins Meer. Er bringt sie mir in Fülle und sagt dann immer: >Helene, da du nicht in die Welt gehst, soll die Welt zu dir kommen.<« »Aber auf diesem Schiffe gibt es Menschen -- entsetzliche, tollkühne Menschen, die in ihrer wilden Leidenschaft ...« »Ich verstehe Sie, mein Vater,« sagte sie lächelnd. »Doch beruhigen Sie sich. Selbst eine Kaiserin ist noch nie so ehrerbietig behandelt worden wie ich. Diese Leute sind abergläubisch; sie glauben, ich sei der Schutzgeist dieses Fahrzeugs, ihrer Unternehmungen und Erfolge. Und dann ist er ein Gott für sie. Eines Tages -- ein einziges Mal -- ließ ein Matrose es an Achtung gegen mich fehlen ... nur in Worten,« setzte sie lachend hinzu. »Ehe Victor es erfahren konnte, warfen die Leute den Mann ins Meer, obwohl ich ihm Verzeihung gewährte. Sie lieben mich wie ihren guten Engel, ich pflege sie, wenn sie krank sind, und habe schon das Glück gehabt, durch die Ausdauer weiblicher Sorge ein paar von ihnen vom Tode zu erretten. Diese armen Menschen sind zugleich Riesen und Kinder.« »Und wenn Kämpfe stattfinden?« »Daran bin ich gewöhnt,« antwortete sie. »Nur das erstemal habe ich gezittert. Jetzt ist meine Seele gegen diese Gefahr gefeit, und dann -- ich bin doch Ihre Tochter,« setzte sie hinzu, »ich liebe sogar den Kampf.« »Und wenn er den Tod fände?« »So würde ich mit ihm sterben.« »Und deine Kinder?« »Sie sind Söhne des Meers und der Gefahr, sie teilen das Leben ihrer Eltern ... Unser Dasein ist eines und unteilbar. Wir führen alle das gleiche Leben, sind durch ein und denselben Eid aneinander gebunden und an ein und dasselbe Lebensschiff gefesselt -- das wissen wir wohl.« »Du liebst ihn also so sehr, daß du ihn allem andern vorziehst?« »Allem,« antwortete sie. »Doch dringen wir nicht in dieses Geheimnis ein. Sehen Sie dieses teure Kind an! Es ist sein Ebenbild.« Sie preßte Abel mit großem Ungestüm an sich und drückte ihm leidenschaftliche Küsse auf die Wangen und auf das Haar ... »Aber,« rief der General, »ich werde nie vergessen können, daß er eben neun Menschen hat ins Meer werfen lassen.« »So mußte es eben sein,« antwortete sie, »denn er ist menschlich und edelmütig. Er vergießt so wenig Blut wie möglich, nur daß er unter allen Umständen für die Erhaltung und die Interessen der kleinen Welt sorgen muß, die er beschützt, und die heilige Sache nicht vernachlässigen darf, der er sich gewidmet hat. Sprechen Sie mit ihm über das, was Ihnen unrecht erscheint, und Sie werden sehen, er wird Sie zu einer andern Meinung bekehren.« »Und sein Verbrechen?« sagte der General, wie mit sich selbst redend. »Aber,« versetzte sie mit kalter Würde, »wenn das nun eine tugendhafte Tat war? Wenn die Justiz der Menschen ihm die Rache versagte?« »So darf man sich nicht selbst rächen!« rief der General. »Was ist denn die Hölle anders,« fragte sie, »als eine ewige Rache für die paar Sünden eines einzigen Tages?« »Ah! Du bist verloren, er hat dich in Bann geschlagen, dich verwandelt, dich verdorben. Deine Vernunft ist aus den Fugen.« »Nein, mein Vater, glauben Sie das nicht; denn wenn Sie ihn nur anhören, ansehen wollten, so werden Sie ihn lieben.« »Helene,« sagte der General ernst, »wir sind nur noch wenige Meilen von Frankreich entfernt.« Sie zitterte, dann sah sie zu den Fenstern der Kajüte hinaus und zeigte auf das Meer, das dort seine unermeßlichen Savannen grünen Wassers ausbreitete. »Das ist meine Heimat,« antwortete sie und klopfte mit der Fußspitze auf den Teppich. »Willst du nicht mitkommen, deine Mutter, deine Schwester, deine Brüder wiedersehen?« »O ja,« sagte sie, mit Tränen in der Stimme, »wenn er es will und mich begleitet.« »So hast du nichts mehr, Helene,« versetzte der Soldat streng, »weder Heimat noch Familie?« »Ich bin sein Weib,« versetzte sie mit Stolz und Adel. »Dies ist seit sieben Jahren das erste Glück, das nicht von ihm kommt,« setzte sie hinzu, ergriff die Hand ihres Vaters und küßte sie, »und es ist auch der erste Tadel, den ich hören muß.« »Und dein Gewissen?« »Mein Gewissen -- ist er.« In diesem Augenblick zitterte sie heftig. »Da kommt er,« sagte sie. »Selbst in einem Kampfe erkenne ich unter allen Schritten den seinen heraus, wenn er über das Verdeck eilt.« Plötzlich färbte eine Röte ihre Wangen blutrot, ließ ihre Züge sich aufhellen und strahlen, ließ ihre Augen flammen. Glück und Liebe sprach aus all ihren Zügen, aus den bläulichen Adern, die leicht hervortraten, und aus dem unwillkürlichen Zittern ihres ganzen Körpers. Diese tiefinnere Bewegung rührte den General. In der Tat erschien einen Moment später der Korsar, setzte sich auf einen Fauteuil, nahm seinen ältesten Sohn zu sich und begann mit ihm zu spielen. Ein Weilchen herrschte Schweigen; denn der General versank in einen Zustand, der etwas Traumhaftes an sich hatte, und betrachtete diese elegante Kabine, in der diese Familie seit sieben Jahren zwischen dem Himmel und dem Meere dahinschwamm, von der starken Hand eines Mannes durch die Gefahren des Kampfes und des Sturms geführt, wie im Leben ein Hausstand von dem Familienvater mitten durch das soziale Elend hindurchgesteuert wird. Er betrachtete mit Bewunderung seine Tochter, das phantastische Abbild einer Meeresgöttin, mild an Schönheit, reich an Glück. Die Schätze ihrer Seele, das Leuchten ihrer Augen und die unbeschreibliche Poesie ihrer Person überstrahlten alle Schätze, die sie umgaben. Diese Verhältnisse waren von einer Seltsamkeit, die ihn verblüffte, und alle Gefühle und Gedanken schienen hier auf eine so erhabene Höhe gehoben, daß die alltäglichen Ideen umgeworfen wurden und keine Geltung mehr hatten. Die kalten, kleinlichen Berechnungen der Gesellschaft erloschen vor diesem Gemälde. Der alte Soldat fühlte das alles und begriff auch, daß seine Tochter ein so vielgestaltiges, an Kontrasten und Eindrücken so reiches Leben, das von einer so wahren Liebe ausgefüllt wurde, niemals aufgeben würde. Da sie nun einmal der Gefahr getrotzt hatte, ohne davor zurückzuschrecken, so konnte sie nun nicht mehr in die kleinlichen Szenen der läppischen, dünkelhaften Welt zurückkehren. »Bin ich Ihnen hier im Wege?« fragte der Korsar, indem er das Schweigen brach und auf seine Frau blickte. »Nein,« antwortete ihm der General. »Helene hat mir alles gesagt. Ich sehe, sie ist für uns verloren.« »Nein,« antwortete der Korsar lebhaft, »noch ein paar Jahre, dann ist meine Tat verjährt, und ich werde nach Frankreich zurückkehren können. Wenn das Gewissen rein ist und der Verstoß gegen eure gesellschaftlichen Gesetze nur zurückzuführen war auf ...« Er schwieg, denn er verschmähte es, sich zu rechtfertigen. »Fühlen Sie in diesem Augenblick,« fragte der General, ihn unterbrechend, »keine Reue über die neuen Mordtaten, die Sie unter meinen Augen begangen haben?« »Wir hatten keine Lebensmittel mehr,« antwortete der Korsar ruhig. »Aber dann konnten Sie diese Leute in einem Boot die Küste erreichen lassen --« »So hätten sie uns ein Kriegsschiff auf den Hals gehetzt, das uns den Rückweg abgeschnitten hätte, und wir würden nicht nach Chile entkommen können.« »Ehe diese Leute von Frankreich aus die spanische Admiralität benachrichtigten, konnten Sie längst ...« »Schon in Frankreich könnte man Anstoß daran nehmen, daß ein Mann, der noch vom Gericht gesucht wird, sich einer Brigg bemächtigt hat, deren Fracht Einwohnern von Bordeaux gehörte. Übrigens, haben Sie auf dem Schlachtfelde nicht auch manchmal ein paar Kanonenschüsse zu viel abgefeuert?« Wiederum eingeschüchtert durch den Blick des Korsaren, schwieg der General, und seine Tochter betrachtete ihn mit einer Miene, die in gleichem Maße Triumph wie Betrübnis ausdrückte. »General,« sagte der Korsar mit tiefer Stimme, »ich habe es mir zum Gesetz gemacht, niemals etwas von der Beute beiseite zu bringen. Aber ohne Zweifel ist mein Anteil an dem gesamten Gewinn beträchtlicher, als Ihr Vermögen gewesen ist. Erlauben Sie mir, es Ihnen in anderm Gelde zurückzuerstatten --« Er nahm aus dem Kasten des Pianos ein Pack Banknoten, zählte die Scheine nicht erst und legte etwa eine Million in die Hände des Generals. »Sie begreifen,« fuhr er fort, »ich habe kein Verlangen, mir die Müßiggänger auf den Straßen von Bordeaux anzusehen. Andererseits soll aber auch durch die reizvollen Gefahren unsers Zigeunerlebens, durch die Szenerie des südlichen Amerika, durch unsere tropischen Nächte, durch unsere Schlachten und durch das Vergnügen, die Flagge einer jungen Nation oder eines Simon Bolivar zum Siege zu führen, Ihre Vaterlandsliebe nicht zum Wanken gebracht werden. Wir müssen uns also trennen. Eine Schaluppe und zuverlässige Leute werden Sie begleiten. Hoffen wir auf ein drittes und dann glücklicheres Zusammentreffen.« »Victor, ich möchte noch einen Augenblick mit meinem Vater sprechen,« sagte Helene in schmollendem Tone. »In zehn Minuten kann uns eine französische Fregatte auf den Fersen sein. Doch, mir soll's recht sein! Wir werden ein Tänzchen aufführen. Meine Leute --« »O, gehen Sie, mein Vater!« rief die Frau des Seemanns, »und bringen Sie meiner Schwester, meinen Brüdern und -- und meiner Mutter,« setze sie hinzu, »diese Pfänder des Andenkens.« Sie nahm eine Handvoll kostbarer Steine, Halsbänder und Schmucksachen, wickelte sie in einen Kaschmirschal und bot sie schüchtern dem Vater an. »Was soll ich ihnen von dir sagen?« fragte er und schien betroffen, daß seine Tochter so auffällig gestockt hatte, ehe sie das Wort Mutter aussprach. »O, können Sie an meiner Seele zweifeln? Ich bete täglich um Ihrer aller Glück.« »Helene,« antwortete der Greis und sah sie aufmerksam an, »soll ich dich nicht mehr wiedersehen? Werde ich niemals den wahren Beweggrund deiner Flucht erfahren?« »Dieses Geheimnis gehört nicht mir,« sagte sie in ernstem Tone. »Und hätte ich das Recht, es Ihnen mitzuteilen, so würde ich es vielleicht dennoch nicht sagen. Ich habe zehn Jahre lang unerhörtes Unrecht erlitten ...« Sie sprach nicht weiter und streckte dem Vater die Kostbarkeiten hin, die sie für ihre Angehörigen bestimmt hatte. Der General war vom Kriege her gewöhnt, im Punkte der sogenannten Beute ein weites Gewissen zu haben, und nahm die Geschenke an, die die Tochter ihm bot. Er dachte bei sich, daß unter der Einwirkung einer so reinen und erhabenen Seele, wie Helene sie besaß, der Pariser Kapitän ein ehrlicher Mensch bleiben und sich darauf beschränken würde, gegen die Spanier zu kämpfen. Er ließ sich daher von seiner alten Vorliebe für alle Tapferkeit hinreißen. Überdies, dachte er sich, wäre es auch lächerlich gewesen, sich zugeknöpft zu verhalten; er drückte somit dem Korsaren kraftvoll die Hand, küßte seine Helene, seine einzige Tochter, mit der den Soldaten eigenen Herzhaftigkeit und ließ eine Träne auf das Gesicht fallen, dessen stolzer, fast mannhafter Ausdruck ihm mehr als einmal zugelächelt hatte. Der Seemann hielt ihm gerührt seine Kinder hin, daß er sie segne. Endlich sagten sie sich alle mit einem letzten, langen Blick voll Zärtlichkeit Lebewohl. »Seid allzeit glücklich!« rief der General und eilte aufs Verdeck. Auf der See bot sich dem General ein seltsames Schauspiel. Der in Brand gesteckte »Sankt Ferdinand« loderte wie ein riesiges Strohfeuer. Die Matrosen, die damit beauftragt worden waren, die spanische Brigg zu versenken, hatten an Bord eine Ladung von Rum entdeckt, davon man auf dem »Othello« reichlichen Vorrat führte, und sie fanden es nun spaßhaft, mitten auf dem Meer eine große Punschbowle anzuzünden. Für Leute, die die anscheinende Eintönigkeit des Ozeans alle Gelegenheiten ergreifen ließ, um eine Abwechslung in ihr Leben zu bringen, war das eine verzeihliche Zerstreuung. Als der General von der Brigg in die Schaluppe des »Sankt Ferdinand« stieg, die mit sechs kräftigen Matrosen bemannt wurde, war seine Aufmerksamkeit unwillkürlich zwischen dem Brande des spanischen Schiffs und seiner Tochter geteilt, die an der Seite des Korsaren stand. Beide waren auf das Heck ihres Fahrzeugs getreten. Bestürmt von einem Heere von Erinnerungen, sah er nun das weiße Kleid Helenens leicht wie ein Schleier im Winde wehen, sah gegen den Hintergrund von Meer und Himmel diese schöne, hehre Gestalt, die ihre ganze Umgebung, ja die weite Flut selbst zu beherrschen schien -- und da vergaß er mit der Sorglosigkeit eines alten Soldaten, der über Berge von Leichen geritten war, daß er auf dem Grabe des wackeren Gomez schwamm. Über ihm erhob sich eine ungeheure Rauchsäule, wie eine braune Wolke, und die Sonne durchdrang sie hier und dort und erleuchtete sie in poetischem Schimmer. Es war ein zweiter Himmel, ein finsterer Dom, unter dem es zuckte und glühte und über den sich der unabänderliche Azur des Firmaments wölbte, das durch diese flüchtige Gegenüberstellung nur noch tausendmal schöner erschien. Die bizarren Farben dieses Rauchs, abwechselnd gelb, goldig, rot, schwarz, dunstig durcheinander gemischt, überzogen das Schiff; es knisterte, krachte und kreischte. Die Flamme zischte, das Tauwerk zerfressend, und lief in dem Fahrzeug herum, wie ein Volksaufstand durch die Straßen einer Stadt läuft. Der Rum erzeugte blaue Flammen, die auf und nieder tanzten, als wenn der Genius des Meers diesen rasenden Likör angesteckt hätte, gerade wie die Hand eines Studenten bei einer Zecherei das lustige Feuerwerk eines Punsches spielen läßt. Allein die Sonne mit ihrer noch gewaltigen Leuchtkraft, eifersüchtig auf diesen dreist auflodernden Schein, ließ in ihren hellen Strahlen kaum das Farbenspiel dieses Brandes erkennen. Der »Othello« benützte, um sich zu entfernen, den geringen Wind, den er auf seinem neuen Kurse auffangen konnte, und neigte sich bald nach der einen, bald nach der andern Seite, wie ein Papierdrache, der in den Lüften schaukelt. Die schöne Brigg nahm geradeswegs Kurs nach Süden, und bald verschwand sie den Blicken des Generals im phantastischen Schatten von Wolken, bald zeigte sie sich wieder, anmutig über die Flut dahingleitend. Jedesmal, wenn Helene ihren Vater sehen konnte, winkte sie mit dem Taschentuche noch einen Gruß herüber. Binnen kurzem versank der »Sankt Ferdinand« und rief einen Strudel hervor, der sich aber bald auf der weiten Meeresfläche verlaufen hatte. Von der ganzen Szene war nun nichts mehr zu sehen, als eine Rauchwolke, die vom Winde hinweggetragen wurde. Der »Othello« war schon fern. Die Schaluppe näherte sich dem Lande, und die Wolke schob sich zwischen das kleine Fahrzeug und die Brigg. Zum letztenmal sah der General seine Tochter durch eine Spalte, die der Wind in den schwimmenden Rauch riß. Eine prophetische Vision! Das weiße Taschentuch und das weiße Kleid allein hoben sich gegen diesen dunkeln Hintergrund ab. Zwischen dem grünen Wasser und dem blauen Himmel war die Brigg selbst nicht mehr zu sehen. Helene war nur noch ein kaum erkenntlicher Punkt, eine zarte, von allem andern losgelöste Linie, ein Engel im Himmel, eine Idee, eine Erinnerung. * * * * * Nachdem der Marquis den Reichtum seiner Familie wiederherstellt hatte, starb er, von den großen Anstrengungen der letzten Jahre aufgerieben. Wenige Jahre nach seinem Tode mußte die Marquise mit Moina in ein Bad der Pyrenäen fahren. Das launenhafte Kind wollte die Schönheiten dieser Berge kennen lernen. Als sie von einem Ausflug ins Gebirge nach dem Bade zurückkehrten, trug sich folgende Szene zu: »Mein Gott,« sagte Moina, »wir sind töricht gewesen, Mama, daß wir nicht noch ein paar Tage länger in den Bergen geblieben sind. Wir wären dort besser aufgehoben gewesen als hier. Hast du das fortgesetzte Jammern dieses verwünschten Kindes und das Geplärr dieser unglücklichen Frau gehört, die ohne Zweifel lauter Kauderwelsch zusammenredet, denn ich habe noch kein Wort von dem, was sie sagt, verstanden. Was für eine Sorte Menschen hat man uns da zu Nachbarn gegeben? Diese Nacht war eine der schrecklichsten, die ich in meinem Leben zugebracht habe!« »Ich habe nichts gehört,« antwortete die Marquise, »aber ich werde die Wirtin aufsuchen, mein liebes Kind, und mir die Stube nebenan ausbitten. Dort werden wir ungestört sein und keinen Lärm mehr hören. Wie fühlst du dich heute morgen? Bist du abgespannt?« Bei diesen Worten war die Marquise aufgestanden, um an Moinas Bett zu treten. »Laß sehen,« sagte sie zu ihr und suchte nach der Hand der Tochter. »O, laß mich, Mutter,« antwortete Moina, »du bist kalt.« Indem sie so sprach, drehte sie sich schmollend auf dem Kopfkissen herum, aber die Bewegung war trotzdem so anmutig, daß eine Mutter sich nicht wohl dadurch gekränkt fühlen konnte. In diesem Augenblick erscholl in dem Nachbarzimmer ein Klagelaut, so langgezogen und innig, daß ein Frauenherz davon tief gerührt werden mußte. »Aber wenn du das die ganze Nacht mitangehört hast, warum hast du mich dann nicht geweckt? Wir hätten -- --« Jetzt unterbrach ein lautes Stöhnen die Marquise, und sie rief: »Da stirbt jemand.« Und sie ging rasch hinaus. »Schicke mir Pauline,« rief Moina, »ich will mich anziehen.« Die Marquise ging sogleich hinunter und fand die Wirtin im Hofe, zwischen mehreren Leuten, die ihr aufmerksam zuzuhören schienen. »Frau Wirtin, Sie haben jemand neben uns einquartiert, und diese Person scheint sehr viel zu leiden --« »Ach, sprechen Sie nicht davon!« rief die Wirtin. »Ich habe eben nach dem Bürgermeister geschickt. Stellen Sie sich nur vor, es ist eine Frau, eine arme Unglückliche, die gestern abend zu Fuß angekommen ist, von Spanien her. Sie hat keinen Paß und kein Geld. Sie trug auf dem Rücken ein kleines Kind, das im Sterben ist. Ich konnte mir nicht versagen, sie hier aufzunehmen. Heute morgen bin ich selbst zu ihr gegangen; denn gestern bei ihrer Ankunft war mir's nicht so recht geheuer. Die arme kleine Frau! Sie hatte sich mit ihrem Kinde hingelegt, und beide rangen mit dem Tode. >Frau<, sagte sie zu mir und zog einen goldenen Ring vom Finger, >ich besitze nichts mehr als das, nehmen Sie ihn, um sich bezahlt zu machen. Er wird dafür ausreichen, denn mein Aufenthalt hier wird nicht lange währen. Armes Kleinchen, wir werden zusammen sterben.< -- Damit meinte sie ihr Kind. Ich habe ihren Ring genommen und sie gefragt, wer sie sei. Aber sie wollte mir um keinen Preis ihren Namen sagen. Ich habe nun nach dem Arzt und dem Bürgermeister geschickt.« »Aber,« rief die Marquise, »lassen Sie ihr alle Hilfe angedeihen, die ihr vonnöten ist! Mein Gott, vielleicht ist's noch Zeit, sie zu retten. Ich werde Ihnen alles bezahlen, was die Sache kostet.« »Ach, Madame, sie scheint recht stolz zu sein, und ich weiß nicht, ob sie das annehmen wird.« »Ich werde sie aufsuchen.« Sogleich stieg die Marquise zu der Unbekannten hinauf. Sie dachte nicht daran, wie sehr sie noch das Leid der schon im Sterben Liegenden vermehren sollte; denn Frau d'Aiglemont ging noch in Trauer. Die Marquise erbleichte beim Anblick der Unglücklichen. Trotz der schrecklichen Leiden, die Helenens Schönheit entstellt hatten, erkannte sie ihre ältere Tochter. Als Helene eine schwarz gekleidete Frau erblickte, richtete sie sich auf, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank auf ihr Bett zurück -- sie sah in dieser Frau ihre Mutter vor sich. »Meine Tochter,« sagte Frau d'Aiglemont, »was fehlt Ihnen? -- Pauline! Moina!« »Nichts fehlt mir,« antwortete Helene mit schwacher Stimme. »Ich hoffte, meinen Vater wiederzusehen. Doch Ihre Trauer verkündet mir --« Sie beendete den Satz nicht, drückte ihr Kind ans Herz, wie um es zu wärmen, küßte es auf die Stirn und warf ihrer Mutter einen Blick zu, der noch immer, wenn auch gemildert durch Verzeihung, einen Vorwurf ausdrückte. Die Marquise wollte diesen Vorwurf nicht sehen; sie vergaß, daß Helene ein einstmals in der Zeit der Tränen und der Verzweiflung empfangenes Kind war, das Kind der Pflicht, ein Kind, das die Ursache ihres größten Unglücks, ihrer schwersten Leiden gewesen war; und sie trat sanft auf die ältere Tochter zu, an nichts mehr denkend, als daß sie Helenen zuerst die Wonne der Mutterschaft verdankt hatte. Die Augen der Mutter waren voll von Tränen, und ihre Tochter küssend, rief sie: »Helene, meine Tochter!« Helene schwieg. Sie hatte auf den Seufzer ihres Kindes gelauscht. In diesem Augenblick traten Moina, ihre Kammerfrau Pauline, die Wirtin und ein Arzt ein. Die Marquise hielt die eisige Hand ihrer Tochter in den ihren und sah sie mit aufrichtiger Verzweiflung an. In wildem Grimme über das Unglück -- denn die Witwe des Seemanns war einem Schiffbruch entronnen und hatte daraus von ihrer ganzen schönen Familie nichts als ein Kind gerettet -- sagte sie in furchtbarem Tone zu ihrer Mutter: »Dies alles ist Ihr Werk! Wenn Sie mir das gewesen wären, was --« »Moina, geh' hinaus -- gehen Sie alle hinaus!« rief Frau d'Aiglemont, Helenens Stimme überschreiend. »Um Gottes willen, meine Tochter,« fuhr sie fort, »lassen Sie uns in diesem Augenblick nicht den unglücklichen Kampf von neuem beginnen ...« »Ich werde schweigen,« antwortete Helene mit einer übernatürlichen Anstrengung. »Ich bin selbst Mutter und weiß, Moina darf nicht -- wo ist mein Kind?« Moina, von Neugierde getrieben, kehrte zurück. »Meine Schwester,« sagte dieses verzogene Kind, »der Arzt ...« »Alles ist unnütz,« antwortete Helene. »Ach, warum bin ich nicht mit sechzehn Jahren gestorben, als ich mir das Leben nehmen wollte? Das Glück ist niemals außerhalb der Gesetze zu finden -- Moina -- du --« Sie starb -- ihr Kopf sank über den des Kindes hernieder, das sie krampfhaft an sich gepreßt hatte. »Deine Schwester hat dir ohne Zweifel sagen wollen, Moina,« sagte Madame d'Aiglemont, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, wo sie in Tränen zerfloß, »daß ein Mädchen niemals das Glück in einem romantischen Dasein, außerhalb der einmal gültigen und ihr eingeprägten Begriffe, und vor allem nicht fern von der Mutter finden kann.« 6. Kapitel. Eine schuldige Mutter im Alter. An einem der ersten Tage des Juni 1848 erging sich eine Dame von etwa fünfzig Jahren, die jedoch noch älter aussah, als es ihrem eigentlichen Alter entsprochen hätte, im Mittagsonnenschein auf einer Allee im Garten eines großen in der Rue Plumet zu Paris gelegenen Hauses. Nachdem sie ein paarmal auf dem leicht gewundenen Pfade hin und her gewandelt war, den sie nicht verließ, um die Fenster eines Zimmers, die ihre ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen schienen, nicht aus den Augen zu verlieren, setzte sie sich auf einen jener halb ländlichen Stühle, die man aus den noch mit der Rinde versehenen Ästen junger Bäume anfertigt. Von diesem Platze aus konnte die Dame durch eines der in die Umfassungsmauern eingefügten Gittertore sowohl die inneren Boulevards, in deren Mitte der prachtvolle Invalidendom seine goldene Kuppel über die Wipfel unzähliger Ulmen emporreckt -- ein herrliches Landschaftsbild -- wie auch den weniger großartigen Anblick ihres Gartens genießen, der durch die graue Fassade eines der schönsten Häuser von ganz Faubourg Saint-Germain begrenzt wurde. Dort war noch alles still, in den Nachbargärten, auf den Boulevards und an der Kirche; denn in diesem vornehmen Viertel beginnt der Tag kaum gegen Mittag. Wenn nicht etwas besonderes vorliegt, wenn nicht gerade mal eine junge Dame ausreiten will oder ein alter Diplomat ein Protokoll aufzunehmen hat, schläft dort um diese Stunde noch alles, Herren und Diener, oder man steht höchstens eben erst auf. Die so früh schon wache Dame war die Marquise d'Aiglemont, die Mutter der Frau de Saint-Héreen, der dieses schöne Haus gehörte. Die Marquise hatte es an die Tochter abgetreten, der sie ihr ganzes Vermögen geschenkt hatte. Für sich selbst hatte sie nur eine kleine lebenslängliche Rente zurückbehalten. Die Komtesse Moina de Saint-Héreen war das letzte Kind, das der Frau d'Aiglemont verblieben war. Um die Heirat mit dem Erben eines der berühmtesten und vornehmsten Häuser von Frankreich zu ermöglichen, hatte die Marquise alles geopfert. Auch war nichts natürlicher. Sie hatte nacheinander zwei Söhne verloren. Der eine, Gustav Marquis d'Aiglemont, war an der Cholera gestorben; der andere, Abel, war vor Constantine[2] gefallen. Gustav hinterließ Kinder und eine Witwe. Aber die an sich schon laue Zuneigung, die Frau d'Aiglemont für ihre Söhne gehabt hatte, schwächte, auf ihre Enkel übergehend, natürlich noch mehr ab. Sie benahm sich freundlich gegen Madame d'Aiglemont die Jüngere, aber sie hielt sich in den Grenzen des oberflächlichen Gefühls, die der gute Ton und das Herkommen im Verkehr mit Verwandten vorschreiben. [2] Stadt in Algerien, die am 13. Oktober 1837 von Marschall Balée erobert wurde. Da die Vermögensverhältnisse der beiden nun toten Söhne vollständig geregelt gewesen waren, so hatte sie ihre Ersparnisse und ihren eigenen Besitz ungeschmälert ihrer teuern Moina überweisen können. Moina, seit ihrer Kindheit eine entzückende Schönheit, war allzeit für Frau d'Aiglemont der Gegenstand einer mit der Geburt entstandenen oder unwillkürlichen Bevorzugung gewesen, wie man sie bei Familienmüttern oft findet: eine bedenkliche Sympathie, die manchem unerklärlich scheint, die aber der Menschenkenner sich oft nur zu gut erklären kann. Das reizende Gesicht Moinas, die Stimme dieses Nesthäkchens, ihr Benehmen, ihre Haltung, ihre Gebärden, ihr Mienenspiel: alles an ihr erweckte bei der Marquise die tiefsten Gefühle, die überhaupt das Herz einer Mutter bewegen, beunruhigen oder erfreuen können. Ihr Leben von heute, ihr Leben von morgen und ihr vergangenes Leben wurzelte nun ganz im Herzen dieser jungen Frau, in das sie alles gelegt hatte, was es für sie noch an Reizen und Werten auf dieser Welt gab. Moina war ja zum Glück allein noch von vier Kindern, die älter gewesen waren als sie, am Leben geblieben. Madame d'Aiglemont hatte, wie man sich in der Gesellschaft erzählte, auf höchst tragische Weise eine bildschöne Tochter verloren, deren Schicksal fast unbekannt geblieben war, und einen kleinen Jungen, der im Alter von fünf Jahren verunglückt war. Die Marquise erblickte ohne Zweifel einen Fingerzeig des Himmels in der Güte, die das Schicksal der Tochter ihres Herzens zu erzeigen schien, und bewahrte ihren vom launischen Tode schon hinweggerafften Kindern nur ein schwaches Erinnern. Sie ruhten in ihrem Herzen, etwa wie die Toten eines Schlachtfelds unter den flachen Hügeln, die die wuchernden Blumen des Feldes schon fast ganz unsichtbar gemacht haben. Die Welt hätte die Marquise wegen dieser Gleichgültigkeit und Bevorzugung streng zur Rechenschaft ziehen können; aber die Welt von Paris wird von einem solchen Strom von Ereignissen, Moden und neuen Ideen hinweggerissen, daß das ganze Leben der Frau d'Aiglemont schon in Vergessenheit geraten sein mußte. Niemand dachte daran, ihr ein kaltes Benehmen, ein Vergessen zur Missetat anzurechnen, denn daran war niemand etwas gelegen, während ihre große Zärtlichkeit gegen Moina sehr viele Leute interessierte und alles das für sich hatte, was uns ein blindes Vorurteil unantastbar macht. Auch ging die Marquise wenig in Gesellschaft; den meisten Familien, die sie kannten, galt sie für fromm, gut und nachsichtig. Um über diesen äußern Schein hinaus, mit dem sich die Gesellschaft begnügt, in jemandes Wesen einzudringen, muß ja schon eine ausnahmsweise lebhafte Teilnahme vorhanden sein. Und was verzeiht man nicht alten Leuten, die nur noch ein Schatten zu sein scheinen und nichts weiter sein wollen als eine Erinnerung? Kurz, Frau d'Aiglemont war ein Vorbild, auf das die Kinder wohlgefällig ihre Väter, die Schwiegersöhne ihre Schwiegermütter hinwiesen. Sie hatte vor der Zeit schon Moina all ihren Besitz abgetreten, ließ sich an dem Glück der jungen Komtesse genügen und lebte nur für sie. Wenn vorsichtige alte Leute oder griesgrämige Onkel dieses Verhalten mit den Worten tadelten: »Madame d'Aiglemont wird es vielleicht eines Tages noch bereuen, zugunsten ihrer Tochter ihr Vermögen weggegeben zu haben; denn wenn sie auch das Herz der Frau de Saint-Héreen genau kennt, kann sie auch auf die Anständigkeit ihres Schwiegersohns ebenso bestimmt rechnen?« Dann erhob sich gegen diese Propheten ein allgemeiner Aufstand, und von allen Seiten regnete es Lobreden auf Moina. »Man muß es bei Madame Saint-Héreen anerkennen,« sagte eine junge Frau, »sie sorgt dafür, daß die Mutter in der alten Umgebung und den alten Gewohnheiten weiterlebt. Madame d'Aiglemont ist wunderbar eingerichtet, hat einen Wagen, der ihr ganz allein zur Verfügung steht, und kann wie zuvor überall hingehen.« »Bloß nicht in die Italienische Oper,« antwortete leise ein alter Schmarotzer, einer jener Menschen, die sich für befugt halten, ihren Freunden unter dem Vorwande, sich als unabhängig hinzustellen, allerlei Schmähreden über andere aufzutischen. »Die alte Dame schwärmt nur noch für Musik und spielt ihrem verhätschelten Kinde schnurrige Sachen vor. Sie war seinerzeit doch so hervorragend musikalisch. Aber da die Loge der jungen Komtesse immer von jungen Schmetterlingen umgaukelt ist und die Alte das kleine Dämchen stören würde, die man schon eine große Kokette nennt, so geht die arme Mama nie mehr in die Italienische Oper.« »Madame de Saint-Héreen,« sagte ein heiratsfähiges Mädchen, »veranstaltet für ihre Mutter prachtvolle Soiréen und hält einen Salon, wo ganz Paris verkehrt.« »Und kein Mensch sich um die Marquise kümmert,« setzte der Parasit hinzu. »Tatsache ist, daß Madame d'Aiglemont nie allein ist,« bemerkte ein Geck, um den jungen Damen das Wort zu reden. »Am Morgen,« antwortete der alte Menschenkenner mit leiser Stimme, »schläft die teure Moina. Um vier Uhr ist die teure Moina auf der Ausfahrt. Am Abend geht die teure Moina zu Balle oder ins Theater. Aber freilich, Madame d'Aiglemont kann die teure Moina sehen, wenn sie Toilette macht, oder während des Diners, wenn die teure Moina zufällig einmal mit ihrer Mutter speist. Vor etwa acht Tagen, mein Herr,« sagte der alte Schmarotzer und nahm den Arm eines schüchternen Lehrers, eines Neulings in dem Hause, wo man sich eben befand, »sah ich diese traurige, einsame Mutter an ihrem Kamin. >Was haben Sie?< fragte ich sie. Die Marquise sah mich lächelnd an, aber sie hatte sicherlich geweint. >Ich dachte so bei mir,< sagte sie zu mir, >es sei doch recht seltsam, daß ich nun so allein bin, nachdem ich fünf Kinder gehabt habe. Doch das ist unser Los. Und ich bin ja auch glücklich, wenn ich nur weiß, daß Moina sich vergnügt.< Sie konnte sich mir anvertrauen, denn ich habe seinerzeit ihren Mann sehr gut gekannt. Das war ein armer Kerl, und es war ein Glück für ihn, daß er sie zur Frau bekam, er hat ihr sicherlich seine Pairswürde und seine Stellung am Hofe Karls X. verdankt.« Aber in das Geschwätz der Welt schleichen sich so viele Irrtümer ein, es entstehen leicht so tiefgehende Fehler, daß der Sittenchronist verpflichtet ist, die sorglos von so vielen Sorglosen hingeworfenen Behauptungen klug abzuwägen. Man darf es vielleicht nie aussprechen, wer unrecht habe, das Kind oder die Mutter. Zwischen zwei solchen Herzen gibt es nur einen Richter -- und dieser Richter ist Gott! Gott verlegt oft seine Rache in den Schoß von Familien und bedient sich in Ewigkeit der Kinder gegen die Mütter, der Väter gegen die Söhne, der Völker gegen die Könige, der Fürsten gegen die Nationen -- kurz, er spielt alles gegen alles aus, ersetzt in der geistigen Welt Gefühle durch Gefühle, wie die jungen Blätter im Frühling an die Stelle der alten treten, handelt nach einer unabänderlichen Ordnung und strebt in allem nur einem ihm allein bekannten Ziele zu. Ohne Zweifel geht ein jedes Ding in seinen Schoß oder, besser gesagt, kehrt dorthin zurück. Diese religiösen Gedanken, den Herzen alter Leute so natürlich, zogen vereinzelt durch Madame d'Aiglemonts Seele; sie lagen dort noch halb im Schatten, bald tief auf dem Grunde, bald vollständig entfaltet, wie Blumen, die während eines Sturmes an die Oberfläche des Wassers gestiegen sind. Sie hatte sich hingesetzt, ermüdet, geschwächt von einem langen Grübeln, einer jener Träumereien, die das ganze Leben noch einmal heraufbeschwören und vor den Augen des von Todesahnung heimgesuchten Menschen vorbeiziehen lassen. Diese vor der Zeit gealterte Frau wäre für einen auf dem Boulevard vorbeigehenden Dichter eine merkwürdige Erscheinung gewesen. Wenn man sie im feinen Schatten einer Akazie sitzen sah -- in einem Akazienschatten zur Mittagszeit -- so hätte alle Welt eins der tausend Dinge lesen können, die auf diesem Gesicht geschrieben standen, das selbst inmitten der warmen Sonnenstrahlen kalt und blaß blieb. Ihr ausdrucksvolles Gesicht drückte noch etwas Schwereres und Herberes aus, als nur das Bewußtsein zur Neige gehenden Lebens, noch etwas Tieferes, als ein von Prüfungen ermattetes Gemüt. Sie war eine jener Typen, die unter Tausenden von unbeachteten, weil charakterlosen Physiognomien uns stutzig machen und nachdenklich stimmen, ebenso wie man zwischen den tausend Gemälden eines Museums gewaltig gefesselt wird durch den erhabenen Kopf, auf dem Murillo den Mutterschmerz gemalt hat, oder durch das Gesicht der Beatrice Cenci, wo Guido über der Tiefe des verbrecherischsten Gemüts die rührendste Unschuld darstellt, oder durch das finstere Antlitz Philipps II., auf dem Velasquez für immer den majestätischen und abschreckenden Ausdruck der königlichen Würde festgehalten hat. Gewisse Menschengesichter sind despotische Bildnisse, die zu uns sprechen, in uns dringen, auf unsere geheimsten Gedanken antworten, ja zu vollkommenen Gedichten werden. Das eisige Antlitz der Madame d'Aiglemont war eine jener furchtbaren Poesien, eins jener Gesichter, die zu Tausenden in der »Divina Comedia« des Dante Alighieri auftauchen. Während der raschen Blütezeit der Frau, eignen sich die Züge ihrer Schönheit wunderbar zu der Verstellung, die ihre natürliche Schwäche und unsere sozialen Gesetze ihr aufnötigen. Unter dem reichen Kolorit ihres frischen Gesichts, dem Feuer ihrer Augen, dem anmutigen Gewebe ihrer so zarten Züge, so vielfältiger gerader oder gebogener, doch reiner Linien, die ihr alle vollkommen zu Gebote stehen, können alle ihre Regungen geheim bleiben. Wenn die Röte die an sich schon lebhafte Farbe erhöht, so verrät sie dann noch gar nichts; alles innere Feuer mischt sich dann noch so gut in den Glanz dieser lebensvoll strahlenden Augen, daß die flüchtige Flamme eines Unglücks dort nur als ein Reiz mehr in Erscheinung tritt. Nichts ist so verschwiegen, wie ein junges Gesicht, weil nichts unbeweglicher ist. Das Gesicht einer jungen Frau hat die Ruhe, die Glätte, die Frische, die die Oberfläche eines Sees zeigt. Der charakteristische Ausdruck fängt bei den Frauen erst mit dreißig Jahren an. Bis dahin findet der Maler in ihren Gesichtern nur Rosa und Weiß, das Lächeln und den Ausdruck, dem immer wieder ein und derselbe Gedanke zugrunde liegt, ein allgemeiner Gedanke ohne Tiefe, nämlich das Bewußtsein der Jugend und der Liebe. Aber im Alter hat alles bei der Frau seine Rolle gespielt, die Leidenschaften haben sich auf ihrem Gesicht eingeprägt, sie ist Liebende, Gattin, Mutter gewesen; die heftigsten Ausdrücke der Freude und des Schmerzes haben ihre Züge entstellt und tausend Furchen gegraben, die alle eine Sprache reden. Dann wird ein Frauenkopf entweder erhaben in seiner Schreckhaftigkeit, schön in seiner Schwermut oder großartig in seiner Ruhe. Wenn es erlaubt ist, dieses sonderbare Gleichnis weiterzuspinnen, so könnte man sagen, der ausgetrocknete See ließe dann die Spuren aller Bäche erkennen, die ihn gebildet hatten. Ein Frauenkopf gehört dann weder der Gesellschaft, die in ihrer Frivolität zurückschreckt vor dem Abbilde der vernichtenden Wirkung, die die geliebten und gewöhnlichen Begriffe von Eleganz und Lebensfreude dort ausgeübt haben, noch gehört er den Alltagskünstlern an, die darin nichts entdecken -- er gehört den wahren Poeten, denn sie allein würdigen und erkennen das Schöne unabhängig von dem Herkommen und dem Vorurteil, welchem beiden allein gar vieles seinen Ruf des Schönen und Künstlerischen verdankt. Obwohl Madame d'Aiglemont einen modernen Hut trug, war doch leicht zu erkennen, daß ihr einstmals schwarzes Haar infolge heftiger Aufregungen weiß geworden war. Aber die Art, wie sie es scheitelte, verriet ihren guten Geschmack, bekundete die anmutigen Gewohnheiten der vornehmen Dame und umrahmte wirksam die welke, gefurchte Stirn, die noch immer Spuren ihres ehemaligen Glanzes aufwies. Der Gesichtsschnitt, die Regelmäßigkeit der Züge gaben noch heute einen allerdings nur schwachen Begriff von der großen Schönheit, auf die sie einmal hatte stolz sein dürfen; aber noch besser erkannte man daran, wie tief und furchtbar die Schmerzen gewesen sein mußten, da sie dieses Gesicht, diese Schläfen, diese Wangen hohl gemacht und die Augen ihrer Wimpern beraubt hatten, die den Blick so anmutig machen. An dieser Frau war alles Schweigen; ihr Gang und ihre Bewegungen hatten die ernste, gefaßte Langsamkeit, die immer Ehrfurcht erweckt. Ihre Bescheidenheit, fast zur Schüchternheit geworden, schien die Folge der Gewohnheit, die sie seit einigen Jahren hatte: vor ihrer Tochter in den Hintergrund zu treten. Sie sprach sehr selten und sehr sanft, wie alle Leute, die viel nachdenken, sich sammeln und gezwungen sind, für sich selbst zu leben. Dieses Benehmen erweckte ein unerklärliches Gefühl, das weder Furcht noch Mitleid war, in das sich aber geheimnisvoll alle Ideen mischten, welche diese einander so entgegengesetzten Regungen auslösen. Die Natur ihrer Furchen, die Art, wie ihr Gesicht sich in Falten gelegt hatte, die Fahlheit ihres Blicks -- das alles zeugte dafür, daß sie jene Tränen geweint hatte, die, vom Herzen aufgezehrt, nie zur Erde fallen. Ein Unglücklicher, der gewöhnt war, zum Himmel hinaufzuschauen, um ihn in den Unbilden seines Daseins anzurufen, hätte leicht in den Augen dieser Mutter gelesen, daß ein grausames Los es ihr zur Gewohnheit gemacht hatte, jede Stunde des Tages zu beten, hätte auch die geheimen Spuren des seelischen Meltaus entdeckt, der alle Blüten des Gemüts, bis hinab auf das Gefühl der Mutterschaft, vernichtet. Maler haben wohl Farbe für solche Porträts; aber Gedanken und Worte sind nicht imstande, sie getreu zu zeichnen. Es findet sich in den Tönen der Haut und im ganzen Gepräge des Gesichts manches unerklärliche Phänomen, das, vom Auge gesehen, sogleich zur Seele dringt; aber wenn der Dichter eine so furchtbare Veränderung des Gesichtsausdrucks begreiflich machen will, so steht ihm kein anderes Mittel zur Verfügung, als die Ereignisse zu berichten, auf die sie zurückzuführen ist. Dieses Gesicht deutete auf einen Sturm, der sich kalt und in aller Stille abgespielt hatte, auf einen geheimen Kampf zwischen dem Heroismus des mütterlichen Schmerzes und der Unbeständigkeit unserer Gefühle, die, wie wir selbst, ihr Ende finden und nichts Endloses in sich tragen. Diese unaufhörlich ins Innere der Seele zurückgedrängten Leiden hatten auf die Dauer dieser Frau etwas seltsam Krankhaftes verliehen. Ohne Zweifel hatten allzu heftige Erschütterungen das Mutterherz auch körperlich beeinträchtigt, und eine Krankheit, vielleicht eine Herzerweiterung, bedrohte langsam ihr Leben, ohne daß Julie sich dessen bewußt war. Die wahren Schmerzen liegen anscheinend so ruhig in dem tiefen Bett, das sie sich bereiten -- sie scheinen dort zu schlummern, aber sie nagen noch immer an der Seele, gleich jener furchtbaren Säure, die das Kristall zerfrißt. In diesem Augenblick rannen zwei Tränen an den Wangen der Marquise hinab, und sie erhob sich, als wenn ein Gedanke, schmerzlicher als alle anderen, ihr plötzlich weh getan hätte. Sie hatte ohne Zweifel über Moinas Zukunft nachgedacht. Und indem sie die Schmerzen voraussah, die ihrer Tochter harrten, fiel ihr alles Unglück des eigenen Lebens wieder schwer aufs Herz. Die Lage dieser Mutter wird verständlich sein, sobald wir die ihrer Tochter dargelegt haben. Graf Saint-Héreen war vor einem halben Jahre abgereist, um eine politische Mission zu erfüllen. Moina, die zu aller Eitelkeit der geliebten Frau noch die Launen des verhätschelten Kindes hinzufügte, hatte teils aus Leichtsinn, teils zur Befriedigung der tausend weiblichen Koketterien, und vielleicht auch um deren Macht zu erproben, während der Abwesenheit ihres Gatten ein Vergnügen daran gefunden, mit der Leidenschaft eines gewandten, doch herzlosen Mannes zu spielen, denn wenn dieser auch erklärte, vor Liebe toll zu sein, so war es doch eben nur jene Liebe, die sich mit all dem kleinlichen gesellschaftlichen Ehrgeiz des Gecken verträgt. Madame d'Aiglemont, die eine langjährige Erfahrung gelehrt hatte, das Leben zu kennen, die Männer zu beurteilen, die Gesellschaft zu fürchten, hatte die fortschreitende Entwickelung dieser Liebelei beobachtet und ahnte nun den Untergang ihrer Tochter, da sie sie in die Hände eines Mannes gefallen sah, dem nichts heilig war. Mußte es nicht für sie das Entsetzlichste sein, einen Wüstling in dem Manne zu erkennen, dem Moina mit Freuden zugehörte? Ihr geliebtes Kind befand sich also am Rande eines Abgrunds. Das war für sie eine fürchterliche Gewißheit, und doch wagte sie nicht, sie zu warnen; denn sie fürchtete sich vor der Komtesse. Sie wußte im voraus, Moina würde auf keinen der klugen Ratschläge hören, Julie hatte keine Gewalt über diese Seele, die ihr gegenüber von Eisen, gegen alle andern aber von Wachs war. Ihre Mutterliebe wäre groß genug gewesen, der Tochter ihr Mitleid nicht zu versagen, wenn eine durch die edlen Eigenschaften des Verführers gerechtfertigte Leidenschaft ihre Tochter unglücklich gemacht hätte; allein Moina folgte einer Regung der Gefallsucht, und die Marquise verachtete den Grafen Alfred de Vandenesse, weil sie wußte, daß er der Mann dazu war, seinen Kampf mit Moina wie eine Schachpartie zu behandeln. Obwohl Graf Alfred de Vandenesse dieser unglücklichen Mutter Abscheu einflößte, war sie doch gezwungen, die letzten Gründe ihres Widerwillens in den tiefsten Falten ihres Herzens zu begraben. Sie hatte in engen Beziehungen zu dem Marquis de Vandenesse, Alfreds Vater, gestanden, und diese in den Augen der Welt sehr respektable Freundschaft berechtigte den jungen Mann, mit Madame de Saint-Héreen vertraulich zu verkehren, in die er von Kind auf »verschossen« gewesen zu sein behauptete. Auch wenn Frau d'Aiglemont sich entschlossen hätte, zwischen ihre Tochter und Alfred de Vandenesse ein furchtbares Wort zu schleudern, das sie hätte trennen können, so wäre es doch umsonst gewesen; sie war überzeugt, daß es ihr nicht gelungen wäre, sie auseinanderzubringen, trotz aller Gewalt dieses Wortes, mit dem sie sich außerdem in den Augen ihrer Tochter entehrt haben würde. Alfred war zu verderbt, Moina zu geistreich, um an eine solche Enthüllung zu glauben, und die junge Komtesse würde sie als eine mütterliche Kriegslist ausgelegt und sich darüber hinweggesetzt haben. Frau d'Aiglemont hatte ihren Kerker mit eigenen Händen erbaut und sich darin eingemauert -- nun mußte sie dort sterben und ruhig zuschauen, wie das schöne Leben Moinas, das ihr Stolz, ihr Glück, ihr Trost geworden war, ein Dasein, das ihr tausendmal teuerer war als das ihrige, zugrunde ging. Ein schreckliches, unglaubliches Leiden, für das es keine Worte gibt! Ein bodenloser Abgrund! Sie wartete ungeduldig, daß ihre Tochter aufstände, und dennoch fürchtete sie sich vor ihr, gleich dem Unglücklichen, der, zum Tode verurteilt, gern mit dem Leben zu Ende sein möchte und doch fröstelt bei dem Gedanken an den Henker. Die Marquise hatte beschlossen, einen letzten Versuch zu machen; aber sie hatte wohl weniger Angst vor einem Fehlschlag, als vielmehr davor, daß ihr Herz eine neue, schmerzliche Wunde empfangen könnte, die ihr den letzten Rest von Mut rauben würde. Mit ihrer Mutterliebe war es eben schon so weit gekommen: sie liebte ihre Tochter und schreckte vor ihr zurück, wie man einen Dolchstoß fürchtet und ihm dennoch entgegenrennt. Das mütterliche Gefühl ist in liebenden Herzen so groß, daß eine Mutter, ehe sie zur Gleichgültigkeit gelangt, sterben oder sich an eine große Kraft, die Religion oder die Nächstenliebe, anlehnen muß. Seit die Marquise aufgestanden war, hatte ihr unseliger Geist ihr einen Teil von diesen Tatsachen vorgehalten, die so unbedeutend zu sein scheinen, im geistigen Leben aber große Ereignisse bilden. In der Tat ruft manchmal eine Gebärde ein ganzes Drama hervor, die Betonung eines Wortes zerreißt ein ganzes Leben, die Gleichgültigkeit eines Blickes tötet die glücklichste Liebe. Die Marquise d'Aiglemont hatte leider schon zu viele solche Gebärden gesehen, zu viele solche Worte gehört, zu viele solche Blicke erhalten, alles Lieblosigkeiten, die ihre Seele tief schmerzten und bei deren Erinnerung sie sich keinen Hoffnungen hingeben konnte. Alles das hatte ihr bewiesen, daß Alfred ihr das Herz der Tochter geraubt hatte, daß das Kind sich nicht mehr aus Freude daran, sondern nur noch aus Pflicht mit der Mutter beschäftigte. Tausend ganz unbedeutende Dinge waren ihr ein Zeugnis für das abscheuliche Verhalten, das die Komtesse sich ihr gegenüber angewöhnte -- eine Undankbarkeit, die die Marquise vielleicht als eine Strafe ansah. Um die Handlungsweise ihrer Tochter zu entschuldigen, faßte sie sie sogar als Willen der Vorsehung auf. Sie wollte eben noch die Hand anbeten können, die sie schlug. An diesem Morgen dachte sie an alles, und alles bereitete ihr so tiefes Herzweh, erfüllte sie mit so großem Kummer, daß der Becher überlaufen mußte, wenn der geringste Schmerz hinzugefügt wurde. Ein kalter Blick hätte jetzt der Marquise Tod sein können. Es ist schwer, diese häuslichen Geschehnisse zu beschreiben, aber einige werden vielleicht genügen, um alle anzudeuten und zu bezeichnen. So hatte die Marquise, die etwas schwerhörig geworden war, Moina niemals dazu bewegen können, lauter zu sprechen, wenn sie mit ihr redete; aber als sie sie mit der Naivität der Leidenden einmal bat, einen Satz zu wiederholen, den sie nicht verstanden hatte, so gehorchte die Komtesse wohl, doch mit so unverhohlenem Unwillen, daß Frau d'Aiglemont ihre bescheidene Bitte nie mehr wiederholte. Seit diesem Tage trug die Marquise Sorge, nahe an ihre Tochter heranzurücken, wenn diese etwas erzählte oder plauderte; aber oft schien die Komtesse sich über die Schwerhörigkeit der Mutter zu ärgern und machte ihr gar leichtsinnigerweise deshalb Vorwürfe. Folgendes unter Tausenden herausgerissene Beispiel konnte eben nur ein Mutterherz merken, alle diese Dinge wären einem Zuschauer vielleicht gar nicht aufgefallen; denn solche Feinheiten sind für andere Augen, als die einer Mutter, unbemerkbar. Madame d'Aiglemont hatte eines Tages zu ihrer Tochter gesagt, die Prinzessin de Cadignan hätte sie besucht, und Moina rief bloß: »Wie? sie hat sich deinetwegen bemüht?« Die Miene, mit der diese Worte gesprochen wurden, die besondere Betonung, die die Komtesse ihnen gab, verrieten, wenn auch in kaum merklicher Form, eine Verwunderung, eine vornehme Geringschätzung. Angesichts solcher Gefühlshärte muß in der Tat ein allzeit junges, zartes Herz die Sitte der Wilden, ihre Greise zu töten, wenn sie sich an den Zweigen eines stark geschüttelten Baumes nicht mehr halten können, als menschenfreundlichen Brauch empfinden. Frau d'Aiglemont erhob sich, lächelte und ging hinaus, um im geheimen zu weinen. Die wohlerzogenen Leute, und vor allem Frauen, verraten ihre Gefühle nur durch unmerkliche Bewegungen, an denen aber jedes mitfühlende Herz, zumal wenn es in seinem Leben ähnliches Unglück erlitten hat, wie diese mürbe gemachte Mutter, die innere Erregung nicht minder deutlich erkennen kann. Niedergedrückt von ihren Erinnerungen, dachte Frau d'Aiglemont jetzt an diese eine von all jenen winzigen, und doch so schmerzlichen, so grausamen Kleinigkeiten, und in diesem Augenblick kam ihr die bittere, unter einem Lächeln verborgene Verachtung stärker als je zum Bewußtsein. Aber ihre Tränen versiegten, als sie die Jalousien des Zimmers öffnen hörte, wo ihre Tochter ruhte. Sie eilte auf dem Pfade, der an dem Gitter vorbeiführte, wo sie soeben noch gesessen hatte, den Fenstern zu. Im Gehen fiel ihr noch auf, daß der Gärtner den Sand dieses seit einiger Zeit sehr schlecht gehaltenen Weges mit ganz besonderer Sorgfalt geharkt hatte. Als Frau d'Aiglemont unter den Fenstern ihrer Tochter ankam, wurden die Jalousien rasch zugemacht. »Moina!« rief sie. Keine Antwort. »Die Frau Komtesse ist im kleinen Salon,« sagte Moinas Kammermädchen, als die Marquise ins Haus trat und fragte, ob ihre Tochter aufgestanden sei. Frau d'Aiglemonts Herz war zu voll, ihr Geist zu sehr von Gedanken erfüllt, als daß sie in diesem Augenblick über so nebensächliche Umstände nachgedacht hätte; sie ging sogleich in den kleinen Salon, wo sie die Komtesse im Morgenkleid fand. Über das noch ungeordnete Haar hatte sie ein Häubchen geworfen, die Füßchen steckten in Pantoffeln, im Gürtel trug sie den Schlüssel ihres Schlafzimmers. Ihr Gesicht verriet fast stürmische Gedanken und lebhafte Farben. Sie saß auf einem Diwan und schien nachzudenken. »Weshalb stört man mich?« sagte sie in hartem Tone. »Ah, Sie sind's, meine Mutter,« setzte sie zerstreut hinzu, sich selbst unterbrechend. »Ja, mein Kind, es ist deine Mutter ...« Der Ton, in dem Frau d'Aiglemont diese Worte aussprach, verriet eine Inbrunst, eine Rührung, aus deren Art man, um sie einigermaßen zu kennzeichnen, das Wort Heiligkeit anwenden muß. Sie legte darein in der Tat so deutlich den heiligen Charakter einer Mutter, daß die Tochter betroffen war und sich zu ihr umwandte, mit einer Bewegung, die Ehrfurcht, Unruhe und Reue ausdrückte. Die Marquise schloß die Tür des Salons, zu dem doch niemand gelangen konnte, ohne in den davorliegenden Zimmern Geräusch zu verursachen. Diese Abgelegenheit sicherte vor unberufenen Zeugen. »Meine Tochter,« sagte die Marquise, »es ist meine Pflicht, dich über eine der wichtigsten Krisen in unserm Leben, im Frauenleben aufzuklären. Du befindest dich jetzt in ihr, vielleicht ohne es zu ahnen, aber ich werde dich nicht sowohl als Mutter wie als Freundin darauf aufmerksam machen. Indem du dich verheiratet hast, erlangtest du die volle Freiheit des Handelns, du bist darin nur deinem Gatten Rechenschaft schuldig; aber ich habe dich so wenig die mütterliche Gewalt fühlen lassen -- und das war vielleicht ein Unrecht -- daß ich mich im Recht glaube, wenigstens einmal im Leben, in einer ernsten Lage, wo du des Rats bedarfst, dir meine Meinung zu sagen. Denke daran, Moina, daß ich dich mit einem Manne von hohem Range vermählt habe, auf den du stolz sein kannst, den ...« »Mutter,« rief Moina in widerspenstigem Tone, sie unterbrechend, »ich weiß, was Sie mir sagen wollen -- Sie wollen mir eine Predigt über Alfred halten ...« »Du würdest es nicht so gut erraten, Moina,« fuhr die Marquise fort und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, »wenn du nicht fühltest ...« »Was denn?« versetzte sie in fast hochmütigem Tone. »Aber, Mutter, ich muß doch sagen --« »Moina,« rief Madame d'Aiglemont mit großer Kraft, »du mußt unbedingt aufmerksam anhören, was ich dir zu sagen habe ...« »Ich höre,« sagte die Komtesse und kreuzte die Arme, halb im Trotz, halb in Unterwürfigkeit. »Gestatten Sie jedoch, meine Mutter,« setzte sie mit unglaublicher Kaltblütigkeit hinzu, »daß ich Pauline rufe. Sie soll einen Gang besorgen.« Sie klingelte. »Mein liebes Kind, Pauline darf nicht hören --« »Mama,« versetzte die Komtesse in ernsthaftem Tone, der der Mutter sehr sonderbar vorkommen mußte, »ich habe --« Sie hielt inne, denn das Kammermädchen erschien. »Pauline, gehen Sie selbst zu Baudran und fragen Sie, warum ich meinen Hut noch nicht habe.« Sie setzte sich wieder und sah aufmerksam ihre Mutter an. Die Marquise, deren Herz zu brechen drohte und deren Augen trocken waren, empfand in diesem Augenblick ein Gefühl, dessen Schmerz nur von Müttern begriffen werden kann. Sie nahm das Wort, um Moina über die Gefahr zu belehren, in der diese schwebte. Aber ob nun die Komtesse sich verletzt fühlte durch das Mißtrauen, das ihre Mutter gegen den Sohn des Marquis de Vandenesse hegte, oder ob sie auf eine jener unbegreiflichen Torheiten verfiel, die sich nur aus der Unerfahrenheit der Jugend erklären lassen, jedenfalls benützte sie eine Pause, die ihre Mutter machte, um ihr mit einem gezwungenen Lachen zuzurufen: »Mama, ich habe nur Eifersucht auf den Vater in Ihnen gesucht ...« Bei diesem Worte schloß Frau d'Aiglemont die Augen, senkte den Kopf und stieß den leisesten aller Seufzer aus. Sie blickte nach oben, als gehorche sie dem unüberwindlichen Gefühl, das uns in den großen Krisen des Lebens veranlaßt, Gott anzurufen; dann heftete sie einen Blick schrecklicher Majestät und doch auch tiefen Schmerzes auf ihre Tochter. »Mein Kind,« sagte sie in verändertem Tone, »du bist jetzt unbarmherziger gegen deine Mutter gewesen, als der Mann war, den sie hintergangen hat, und als selbst vielleicht Gott sein wird.« Frau d'Aiglemont erhob sich; aber als sie an der Tür stand, drehte sie sich noch einmal um. Sie sah in den Augen ihrer Tochter nichts als Befremdung und ging hinaus. Sie konnte noch bis zum Garten gehen; dort verließen sie die Kräfte. Ihr Herz zog sich in heftigem Schmerz zusammen, und sie sank auf eine Bank. Ihre über den Sand hinirrenden Augen erkannten die frische Fußspur eines Mannes, dessen Stiefel sehr deutliche Eindrücke zurückgelassen hatten. Es war kein Zweifel mehr, ihre Tochter war verloren, und sie glaubte nun auch den Grund zu erkennen, weshalb Moina Pauline weggeschickt hatte. Dieser grausame Gedanke brachte eine Deutung mit sich, die noch häßlicher war, als alles übrige. Sie vermutete, der Sohn des Marquis de Vandenesse hätte im Herzen Moinas die Ehrfurcht vernichtet, die eine Tochter der Mutter schuldig ist. Der Herzkrampf nahm zu, sie sank in Ohnmacht, ohne es selbst zu spüren, und saß wie eingeschlafen da. Die junge Komtesse fand, ihre Mutter hätte sich zuviel herausgenommen und ihr einen deutlichen »Rüffel« gegeben. Sie glaubte, am Abend würde die alte Dame durch eine Liebkosung oder irgendwelche Aufmerksamkeit ihr unpassendes Benehmen wieder gutmachen. Als sie im Garten den Schrei einer Frau hörte, neigte sie sich nachlässig hinaus, und im selben Augenblick rief Pauline, die noch nicht fortgegangen war, um Hilfe und hielt die Marquise in den Armen. »Erschrecken Sie doch meine Tochter nicht!« war das letzte Wort, das diese Mutter aussprach. Moina sah, wie ihre Mutter blaß, leblos, nur noch mit Mühe atmend, hereingetragen wurde. Die Sterbende bewegte die Arme, als wenn sie sich sträuben oder sprechen wollte. Entsetzt über diesen Anblick, lief Moina hinter ihrer Mutter her und half schweigend ihr Bett zurechtzumachen und sie auszukleiden. Sie erkannte nun, daß sie an diesem Ende schuld war, und dieses Schuldbewußtsein drückte sie zu Boden. In diesem letzten Augenblick erkannte sie, was im Herzen der Mutter vorgegangen war, und konnte nun doch nichts mehr gutmachen. Sie wollte allein mit ihr sein; und als niemand mehr im Zimmer war, als sie die Hand, die für sie immer eine liebkosende Hand gewesen war, kalt werden fühlte, da zerfloß sie in Tränen. Über dieses Weinen erwachend, konnte die Marquise ihre Moina noch einmal ansehen; und als sie das Schluchzen hörte, das den zarten, halb entblößten Busen zerreißen zu wollen schien, betrachtete sie ihre Tochter und lächelte. Dieses Lächeln bewies der jungen Muttermörderin, daß das Herz einer Mutter ein Abgrund ist, in dessen Tiefe sich noch immer ein Verzeihen findet. Sobald man um den Zustand der Marquise wußte, wurden reitende Boten abgesandt, um den Arzt, den Chirurgen und die Enkelkinder der Frau d'Aiglemont zu holen. Die junge Marquise d'Aiglemont und ihre Kinder trafen zu gleicher Zeit mit den Ärzten ein, und als sich noch die Dienerschaft hinzugesellte, war es eine feierliche, schweigende, schmerzlich gespannte Versammlung. Die junge Marquise, die vergebens auf einen Laut gehorcht hatte, klopfte leise an die Tür des Zimmers. Bei diesem Zeichen fuhr Moina aus ihrem Schmerz empor und stieß ungestüm die beiden Flügel auf. Sie sah mit scheuen Blicken diese Familienversammlung an und stand vor all den Leuten in einem Zustande, der in seiner Unordnung und Wirrnis deutlicher redete, als Worte es vermocht hätten. Angesichts so tiefer, eindringlicher Reue blieben alle stumm. Man konnte die kalten, krampfhaft auf dem Totenbette ausgestreckten Füße der Marquise sehen. Moina lehnte sich an die Tür, sah ihre Verwandten an und sagte mit hohler Stimme: »Ich habe meine Mutter verloren!« Ende. [ Anmerkungen zur Transkription: Ae, Oe und Ue wurden im gesamten Text durch Ä, Ö und Ü ersetzt. Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzen in der Formatierung wurden prinzipiell beibehalten. Gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert: _Text_ Text in Antiqua (nicht in Fraktur) wurde mit + markiert: +Text+ Römische Zahlen, die im Originaltext in Antiqua erscheinen, wurden nicht gekennzeichnet. Im folgenden werden alle am Originaltext vorgenommenen Änderungen aufgelistet: S. 11: Karussel --> Karussell S. 13: Julies --> Juliens S. 36: miteilte --> mitteilte S. 68: Helena --> Helene S. 74: Sérezy --> Sérizy S. 104: Helenes --> Helenens S. 149: Beistrich nach »mit dreißig Jahren kann eine Frau« entfernt S. 149: hervoruft --> hervorruft S. 172: Punkt nach »grüblerisch veranlagt« hinzugefügt S. 180: »schon eine ganze Stunde lang« (ein --> eine) S. 183: »sie macht Ihnen nur Freude« (Sie --> sie) S. 218: »das der Unbekannte sich anmaßte« (daß --> das) S. 220: »aber wenn Sie es wünschen« (sie --> Sie) S. 231: Anführungszeichen vor »Wir sind noch weiter« hinzugefügt S. 233: Mut und Verzweiflung --> Wut und Verzweiflung S. 251: »um Ihrer aller Glück« (ihrer --> Ihrer) S. 252: »in Brand gesteckte« (gesteckt --> gesteckte) ] End of Project Gutenberg's Die Frau von dreißig Jahren, by Honoré de Balzac *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FRAU VON DREIßIG JAHREN *** ***** This file should be named 26261-8.txt or 26261-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/2/6/2/6/26261/ Produced by Norbert H. Langkau, Evelyn Kawrykow and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. They may be modified and printed and given away--you may do practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. *** START: FULL LICENSE *** THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg-tm License (available with this file or online at https://gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country outside the United States. 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org 1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived from the public domain (does not contain a notice indicating that it is posted with permission of the copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in the United States without paying any fees or charges. If you are redistributing or providing access to a work with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted with the permission of the copyright holder, your use and distribution must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg-tm License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. However, if you provide access to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1. 1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided that - You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has agreed to donate royalties under this paragraph to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid within 60 days following each date on which you prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty payments should be clearly marked as such and sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation." - You provide a full refund of any money paid by a user who notifies you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm License. You must require such a user to return or destroy all copies of the works possessed in a physical medium and discontinue all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm works. - You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the electronic work is discovered and reported to you within 90 days of receipt of the work. - You comply with all other terms of this agreement for free distribution of Project Gutenberg-tm works. 1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below. 1.F. 1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread public domain works in creating the Project Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic works, and the medium on which they may be stored, may contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by your equipment. 1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all liability to you for damages, costs and expenses, including legal fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH DAMAGE. 1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a written explanation to the person you received the work from. If you received the work on a physical medium, you must return the medium with your written explanation. The person or entity that provided you with the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a refund. If you received the work electronically, the person or entity providing it to you may choose to give you a second opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy is also defective, you may demand a refund in writing without further opportunities to fix the problem. 1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE. 1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any provision of this agreement shall not void the remaining provisions. 1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance with this agreement, and any volunteers associated with the production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email [email protected]. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at https://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director [email protected] Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit https://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: https://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.