Die Frau von dreißig Jahren

By Honoré de Balzac

Project Gutenberg's Die Frau von dreißig Jahren, by Honoré de Balzac

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Title: Die Frau von dreißig Jahren

Author: Honoré de Balzac

Translator: Walter Heichen

Release Date: August 11, 2008 [EBook #26261]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FRAU VON DREIßIG JAHREN ***




Produced by Norbert H. Langkau, Evelyn Kawrykow and the
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                      Die Frau von dreißig Jahren



                               Roman von

                            Honoré de Balzac



                        Vollständige Übertragung

                           von Walter Heichen




                       A. Weichert Verlag Berlin




                      Sämtliche Rechte vorbehalten
           Printed in Germany -- Druck von A. Weichert Berlin




Einleitung.


Wenn man die bedeutendsten Erzählungskünstler der verschiedenen
Literaturen aufzählt, wird der Name Balzac mitgenannt werden. Seinen
ganz besondern und festen Platz in der Weltliteratur hat er jedoch als
Begründer und erster Meister des realistischen Romans und damit als
Schöpfer einer ganz neuen Kunstform, die später Zola ausbaute und zum
künstlerischen System erhob. »Balzacs Realismus war jedoch weit davon
entfernt, ein so brutaler zu sein, wie derselbe später geworden ist.
Denn mit scharfsichtiger Beobachtung der Wirklichkeit und ihrer
Bedürfnisse und Forderungen, mit der unerbittlichen Anatomie des
Menschenherzens, insbesondere des weiblichen, verband Balzac eine
äußerst reiche, regsame Phantasie, welche ihn davor bewahrte, bloße
Photographien in Worten zu liefern, wie mehr als einer seiner Nachahmer
später getan hat. Die besseren seiner psychologischen Dramen -- als
solche können seine Romane bezeichnet werden -- müssen zu den
eigenartigsten Hervorbringungen der europäischen Literatur des
neunzehnten Jahrhunderts gezählt werden.« -- --

»Wenn man die trocknen, widerlichen Register liest, welche die
Geschichte genannt werden, so bemerkt man, daß die Schriftsteller aller
Länder und Zeiten vergessen haben, uns die Geschichte der Sitten zu
liefern. Diese Lücke will ich, soweit es in meinen Kräften steht,
ausfüllen. Ich will das Inventar der Leidenschaften, Tugenden und Laster
der Gesellschaft aufstellen, durch das Zusammendrängen der
gleichartigen Charaktere Typen geben und mit Mühe und eiserner Ausdauer
über das Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts das Buch schreiben, das
uns Rom, Athen, Tyrus, Memphis, Persien und Indien leider nicht
hinterlassen haben.« Mit diesen Worten leitet er den großen Romanzyklus
ein, dem er den Gesamttitel »Menschliche Komödie« gab. Als
Sittenschilderer und Kulturhistoriker der genannten Zeitepoche mußte er
natürlich zu einem pessimistischen und ausgeprägt materialistischen
Ergebnis kommen. Wir sehen daher in seinen Werken fast durchweg den
Hunger nach Reichtum als die treibende Kraft wirken. Die Losung der
modernen Welt ist nicht die Liebe, sondern das Gold. Der Glaube an den
Mammon, die Zuversicht auf die Macht der Millionen sind der einzige
Idealismus der Balzacschen Helden, und ohne Zweifel hat der Dichter
selbst diesem Glaubensbekenntnis gehuldigt, so furchtbar und
unerbittlich auch dieser Durst nach Gold sich uns in seinen Werken
darstellt.

Seinen Ausgang nahm Balzac jedoch von der Romantik, und selbst das
vorliegende Werk, das neben die modernsten Seelenschilderungen gestellt
werden kann, steht mit einem Fuß auf dem Boden der Romantik. Die
phantastische Liebe des Engländers zu der Heldin hat allen Duft des
»blauen Blümleins« an sich, so realistisch nachher auch das Ende ist.
Das mysteriöse Erscheinen des politischen Mörders und Seeräubers im
vorletzten Teil ist Romantik reinsten Wassers, und das Kapitel auf dem
Korsarenschiff selbst erinnert sogar an Eugen Sue oder an Dumas. Dennoch
kann man gerade dem fast übersinnlichen Lord Grenville, der jahrelang
einer idealen Liebe treu bleibt, die Lebenswahrheit nicht absprechen.
Dieser sonderbare Schwärmer ist mit bewundernswerter Konsequenz
gezeichnet, und trotz allen romantischen Anhauchs eine überaus
interessante Gestalt. Der Gegenstand seiner Liebe, die Heldin des
Romans, ist eine köstliche Probe für Balzacs Seelenmalerei und vor allem
für Balzacs Art, Frauen zu schildern. Er unterscheidet sich in dieser
Art, zarte, reine Frauen zu zeichnen, höchst vorteilhaft von einer
großen Zahl französischer Schriftsteller, die das Weib als Ausbund von
Sinnlichkeit, Leichtsinn und Unbeständigkeit darzustellen pflegen. Mit
dieser >Frau von dreißig Jahren< entdeckte er gewissermaßen den
Frauentypus für alle seine Romane und eroberte sich damit gleichzeitig
die dauernde Gunst der weiblichen Lesewelt; auch dem deutschen Leser
wird er durch seine Auffassung der weiblichen Seele zum sympathischsten
der französischen Sittenschilderer der neueren Literatur.

Honoré de Balzac wurde am 20. Mai 1799 in Tours geboren, erhielt seine
Erziehung auf dem Gymnasium zu Vendôme und in Paris, wurde dann
Schreiber bei einem Notar und versuchte schon ziemlich früh, sich ganz
auf eigene Füße zu stellen. Von Geburt zum Adel gehörend, fehlten ihm
doch die Mittel dieser Gesellschaftsklasse, und er sah sich zu harter
Arbeit gezwungen. Zuerst machte er sich allerlei kaufmännische
Unternehmungen, buchhändlerische Pläne, Spekulationen in Bergwerken und
Bodenkultur, viele große Ideen, auf die er stolz war und die sich doch
nicht durchführen ließen -- das war das Programm der ersten Zeit, das
mit einem großen Fiasko endigte und ihn zu einem ständigen Klienten des
Gerichtsvollziehers machte. Dann legte er sich auf die Schriftstellerei,
doch zuerst auch ohne Erfolg. Mit dem Erscheinen des »Chouan« im Jahre
1829 wurde er ein berühmter Mann, und von nun an schrieb er mit großem
Fleiß und wachsendem Glück (einmal dreißig Bände in drei Jahren).
Während seines arbeitsreichen Lebens verfaßte er neunzig Romane und
Novellen, die zusammen 120 Bände bilden. Aber zu Reichtum brachte er es
dennoch wohl nicht; denn obwohl er viel Geld durch seine Werke
verdiente, gab er auch mit ebensolcher Leichtigkeit Riesensummen aus,
der Luxus war ihm zum Leben unentbehrlich. Seltsamerweise hatte er dabei
die Angewohnheit, sich während der Arbeit in ein härenes Gewand zu
kleiden, das durch einen Strick um den Leib zusammengehalten wurde. Im
Leben war er Freund des Aufwandes und der Genüsse, in der Arbeit tat er
den Mantel der Aszese an. Das war bei ihm nicht so ganz äußerlich, wie
es auf den ersten Blick erscheint; denn in seinen Werken ist er über
allen Tand der Welt erhaben und kritisiert scharf und vernichtend alle
Leerheit des Lebens, alle Albernheiten des Menschengeschlechts, alle
Nichtigkeit der Gesellschaft. Die größte Zeit seines Lebens brachte er
in Paris zu -- seine Gattin, eine Frau von Hanska und geborene Gräfin
Eveline Rzewuska holte er sich aus Rußland -- doch schon im Jahre seiner
Verheiratung (1850) starb er. Als seine Hauptwerke gelten: »Physiologie
der Ehe«, »Der Chouan«, »Der Chagrin«, »Die Frau von dreißig Jahren«,
»Die Lilie im Tal«, »Die Erforschung des Absoluten«, »Cäsar Birotteau«,
»Eugenie Grandet«, »Vater Goriot«, »Ein Junggesellenheim« und sein
letzter Roman »Die armen Verwandten«. Sein Theaterstück »Mercadet«
erscheint noch heute hin und wieder auf der Bühne.
                                                    +W. H.+




1. Kapitel.

Erste Fehler.


Es war in den ersten Tagen des Monats April 1813, da verhieß der Morgen
eines Sonntags einen jener schönen Tage, an denen der Pariser zum
erstenmal im Jahre keinen Schmutz auf dem Pflaster und keine Wolken am
Himmel sieht. Kurz vor der Mittagsstunde lenkte eine stattliche, mit
zwei flinken Pferden bespannte Kalesche aus der Rue Castiglione in die
Rue de Rivoli ein und reihte sich dann, Halt machend, an mehrere
Equipagen an, die sich an dem vor kurzem erst geöffneten Gitter mitten
auf der Terrasse des Feuillants aufgestellt hatten.

Dieses vornehme Gefährt wurde von einem anscheinend sorgenvollen, ja
kränklichen Herrn gelenkt. Sein gelblicher Schädel wies nur noch wenig
schon ergrautes Haar auf, was ihn vor der Zeit alt erscheinen ließ. Dem
Reitknecht, der hinter dem Wagen hergeritten war, warf er die Zügel zu,
dann stieg er ab, um einem jungen Mädchen, dessen Anmut und Schönheit
sogleich den auf der Terrasse umherschlendernden Müßiggängern auffiel,
beim Aussteigen zu helfen.

Die kleine Person ließ sich gern um die Taille fassen, als sie auf den
Rand des Wagens getreten war, und schlang die Arme um den Hals ihres
Führers, der sie auf die Treppe niedersetzte und dabei nicht einmal den
Besatz ihres grünen Ripskleides zerdrückte. Ein Liebhaber hätte sich
nicht so sehr in acht genommen. Der Unbekannte mußte der Vater dieses
Kindes sein, das, ohne sich bei ihm zu bedanken, seinen Arm nahm und ihn
stürmisch in den Garten hineinzog.

Der alte Vater bemerkte die bewundernden Blicke einiger jungen Leute,
und der Ausdruck von Trauer, der auf seinem Gesicht lag, verschwand auf
einen Augenblick. Er hat schon lange das Alter erreicht, an dem die
Männer auf die trügerischen Genüsse verzichten müssen, die die Eitelkeit
gewährt, aber er lächelte noch.

»Die Leute halten dich für meine Frau,« flüsterte er der jungen Person
ins Ohr, richtete sich stolz auf und schritt mit einer Langsamkeit
einher, die sie zur Verzweiflung brachte.

Er schien sich viel auf seine Tochter einzubilden, und er freute sich
wahrscheinlich weit mehr als sie an den Seitenblicken, die die
Neugierigen auf die kleinen Füße in Schuhen von flohbraunem Prünell, auf
die in dem ausgeschnittenen Kleide vorteilhaft hervortretende, köstliche
Taille und auf den frischen, von einer gestickten Krause nicht ganz
bedeckten Nacken warfen. Beim Gehen flog auf einen Augenblick das Kleid
des jungen Mädchens ein wenig auf und ließ über den Stiefelchen ein von
durchbrochenem Seidenstrumpf fein umschlossenes Bein sehen.

Mancher Spaziergänger überholte daher auch das Paar, um das jugendliche
Gesicht zu bewundern und noch einmal anzuschauen. Lange Locken braunen
Haars umgaben es. Die Hautfarbe mit ihrem Weiß und Rosa erglühte nicht
nur unter dem Abglanz rosafarbnen Satins, mit dem ein eleganter Hut
abgefüttert war, sondern auch von dem ungeduldigen Verlangen, das in
allen Zügen dieser niedlichen Person zitterte. Süßer Mutwille belebte
die schönen, schwarzen Augen, die mandelförmig geschnitten, von schön
gebogenen Brauen überwölbt, von langen Wimpern besetzt waren und sanft,
feucht und rein in die Welt schauten. Leben und Jugend schütteten ihre
Schätze auf diesem mutwilligen Gesicht aus und auf einer Büste, die
anmutig blieb, obwohl man damals den Gürtel unmittelbar unter dem Busen
trug.

Ohne auf die Huldigungen zu achten, betrachtete das junge Mädchen in
banger Erwartung das Schloß der Tuilerien, das ohne Zweifel das Ziel
war, auf das sie so ungestüm zuschritt. Es war dreiviertel zwölf. So
morgendlich die Stunde auch war, so kamen doch mehrere Frauen, die sich
alle in Toilette hatten zeigen wollen, vom Schlosse zurück, nicht ohne
sich verdrießlich umzusehen, als bedauerten sie es, zu spät gekommen zu
sein und dadurch ein erwünschtes Schauspiel versäumt zu haben. In ihrer
Mißlaune ließen diese enttäuschten Schönen sich wohl auch einige Worte
entschlüpfen, die die hübsche Unbekannte flüchtig erhaschte, was ihre
Unruhe seltsam steigerte. Der Greis achtete mehr mit neugierigem, als
spöttischem Blick auf die Zeichen der Ungeduld und Furcht, die sich auf
dem reizenden Gesicht seiner Gefährtin abspielten -- er tat dies mit so
großer Besorgtheit, daß man wohl annehmen durfte, er hätte noch einen
gewissen väterlichen Hintergedanken dabei.

Dieser Sonntag war der 13. April des Jahres 1813. Am übernächsten Tage
brach Napoleon zu dem unglücklichen Feldzug auf, währenddessen er
nacheinander Bessières und Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten
bei Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern,
ja von Bernadotte verraten sehen und in der furchtbaren Schlacht bei
Leipzig um die Entscheidung kämpfen sollte. Die großartige, vom Kaiser
befehligte Parade sollte das letzte der militärischen Schaustücke sein,
die so lange Zeit die Bewunderung der Pariser und Ausländer erregt
hatten. Die alte Garde sollte ein letztes Mal die geschickten Manöver
vorführen, deren Pomp und Schneidigkeit bisweilen selbst diesen Riesen
in Erstaunen setzten, der sich nun zu seinem Zweikampf mit Europa
rüstete.

Ein gewisses Gefühl der Trauer führte eine glänzende, neugierige
Menschenmenge zu den Tuilerien hinaus. Jeder schien in die Zukunft zu
schauen und hatte vielleicht das Vorgefühl, daß man auf die Phantasie
angewiesen sein würde, wenn man dieses Bild in seiner Pracht noch einmal
vor Augen haben wollte -- daß bald die Zeiten kommen würden, wo -- wie
es heute schon der Fall ist -- diese Heldentage Frankreichs fast der
Fabel anzugehören scheinen.

»Laß uns doch schneller gehen, Vater,« sagte das junge Mädchen mit
schalkhafter Miene und zog den Greis mit sich fort. »Ich höre schon den
Tambour.«

»Das sind die Truppen -- sie ziehen in die Tuilerien ein,« antwortete
er.

»Oder sie sind schon beim Vorbeimarsch -- alle Leute kommen schon
zurück,« versetzte sie mit kindischem Schmerz, der dem Greis ein Lächeln
entlockte.

»Die Parade fängt erst um halb ein Uhr an,« entgegnete der Vater und
hielt nur zur Not Schritt mit seiner vorwärts hastenden Tochter.

Den rechten Arm bewegte sie so heftig, daß man hätte meinen mögen, sie
gebrauche ihn beim Laufen. Ihre kleine, in hübschem Handschuh steckende
Hand zerknüllte ungeduldig ein Taschentuch und glich dem Ruder einer
Gondel, das die Wellen teilt. Der alte Mann lächelte bisweilen; aber
manchmal verdüsterte auch ein Ausdruck der Besorgnis sein vertrocknetes
Gesicht. In seiner Liebe zu diesem reizenden Geschöpf erfreute er sich
ebenso sehr an der Gegenwart, wie er sich um die Zukunft härmte. Er
schien bei sich zu denken: »Heute ist sie noch glücklich, wird sie es
immer sein?« Denn alte Leute sind stets geneigt, in die Zukunft junger
Leute ihren Kummer hineinzutragen.

Als Vater und Tochter unter dem Säulengange des Pavillons ankamen, auf
dem die Trikolore wehte, und durch den man hindurch muß, wenn man von
dem Garten der Tuilerien nach dem Karussell will, riefen ihnen die
Posten gebieterisch zu: »Hier geht's nicht weiter!«

Die Kleine reckte sich auf den Zehen in die Höhe und konnte eine Menge
von geputzten Frauen sehen, die sich zu beiden Seiten der Marmorarkade
drängten, aus der der Kaiser kommen mußte.

»Da siehst du, Vater, wir sind zu spät gegangen.«

Sie schmollte ärgerlich -- ein Zeichen, wie viel ihr daran gelegen war,
diese Parade mitanzusehen.

»Nun, Julie, so gehen wir wieder. Du hast es nicht gern, in solchem
Gedränge zu sein.«

»Wir wollen noch bleiben, lieber Vater. Von hier aus kann ich wenigstens
den Kaiser sehen. Wenn er nun in dem Feldzug den Tod fände, so habe ich
ihn wenigstens einmal gesehen.«

Der Vater zitterte ein wenig, als er diese egoistischen Worte hörte;
seine Tochter sprach in weinerlichem Tone. Er sah sie an und glaubte
unter den gesenkten Lidern ein paar Tränen zu bemerken, die wohl weniger
aus Enttäuschung als aus einem jener ersten Schmerzen entsprangen, deren
Geheimnis ein alter Vater so leicht erraten kann. Plötzlich errötete
Julie und stieß einen Ruf aus, dessen Bedeutung weder die Posten noch
der alte Mann verstanden. Bei diesem Schrei drehte sich ein Offizier,
der von dem Hof nach der Treppe eilte, lebhaft um, schritt bis an die
Arkade des Gartens, erkannte die junge Person, die im Augenblick hinter
den hohen Pelzmützen der Grenadiere verschwand, und hob für sie und
ihren Vater sogleich den Befehl auf, den er selbst erteilt hatte. Ohne
sich um das Getümmel der eleganten Menge zu kümmern, die die Arkade
belagerte, zog er das junge Mädchen, das vor Freude außer sich war, zu
sich hin.

»Nun wundere ich mich nicht mehr, daß sie es so eilig hatte und so böse
auf mich war. Sie hat gewußt, daß du hier Dienst hast,« sagte der alte
Herr in ebenso ernsthaftem, wie spöttischem Tone zu dem Offizier.

»Herr Herzog,« antwortete der junge Mann, »wenn Sie einen guten Platz
haben wollen, so dürfen wir uns nicht mit Schwatzen aufhalten. Der
Kaiser liebt es nicht zu warten, und der Großmarschall hat mich eben
abgesandt, ihm Meldung zu machen.«

Während er so sprach, hatte er mit einer gewissen Vertraulichkeit
Juliens Arm genommen und zog sie rasch nach der Reitbahn hin mit sich
fort. Julie sah mit Erstaunen eine ungeheure Menschenmenge,
dichtgedrängt in dem kleinen Raum zwischen den grauen Mauern des
Palastes und den mit Ketten verbundenen Prellsteinen stehen, die die
große Sandfläche in der Mitte des Tuilerienhofs abgrenzten. Die Reihe
von Posten, die für den Kaiser und seinen Generalstab einen Durchgang
freihalten mußte, hatte einen schweren Stand gegen den Druck dieser hin
und her wogenden, wie ein Bienenschwarm summenden Menschenmasse, die sie
zur Seite zu drängen drohte.

»Es wird also sehr schön werden?« fragte Julie lächelnd.

»So geben Sie doch acht!« rief der Offizier und faßte Julie um den Leib,
um sie mit ebenso viel Kraft wie Schnelligkeit emporzuheben und an einer
Säule vorbeizutragen. Hätte er seine neugierige Verwandte nicht so rasch
hinweggezogen, so hätte sie leicht mit dem Hinterteil eines weißen
Pferdes mit grünsamtenem, reich mit Gold gesticktem Sattel, das der
Mameluck Napoleons unmittelbar vor der Arkade am Zügel hielt, in
unsanfte Berührung kommen können. Zehn Schritt weiter vorn stampften all
die Pferde, die der hohen Offiziere, der Begleiter des Kaisers, harrten.

Der junge Mann stellte Vater und Tochter an den ersten Prellstein
rechter Hand. Sie standen hier vor der Menge, und durch ein Kopfnicken
empfahl er sie der Obhut der beiden Grenadiere, zwischen denen sie
standen.

Als der Offizier zum Palast zurückkehrte, hatte auf seinem Antlitz der
jähe Schreck, den ihm der unvermutete Seitensprung des Pferdes um
Juliens willen bereitet hatte, einem Ausdruck des Glücks und der Freude
Platz gemacht; Julie hatte ihm geheimnisvoll die Hand gedrückt, sei es,
um ihm zu danken, sei es, um zu sagen: »Endlich sehe ich Sie wieder!«
Sie neigte sogar sanft den Kopf zur Antwort auf den Gruß, mit dem der
Offizier von ihr und auch von ihrem Vater Abschied nahm.

Der alte Herr, der mit Absicht die beiden jungen Leute allein gelassen
zu haben schien, kam ein Stückchen hinterdrein und blieb ernst und
still; aber er beobachtete sie scharf und bemühte sich, sie in den
trügerischen Glauben zu wiegen, als habe er nur Augen für das
prachtvolle Schauspiel, das sich auf der Reitbahn abspielte. Als Julie
den Vater mit dem Blick eines Schülers ansah, der seinem Lehrer nicht
recht traut, antwortete der Alte sogar mit einem Lächeln wohlwollender
Heiterkeit; aber sein durchdringendes Auge war dem jungen Offizier bis
unter die Arkade gefolgt, und nicht die kleinste Einzelheit dieser
raschen Szene war ihm entgangen.

»Welch schöner Anblick!« rief Julie mit leiser Stimme und drückte die
Hand ihres Vaters.

Das malerische, großartige Bild, das in diesem Augenblick die Reitbahn
darbot, entlockte den gleichen Ausruf Tausenden von Zuschauern, deren
Gesichter alle vor Bewunderung strahlten. Eine andere Reihe von Leuten,
ebenso dichtgedrängt wie die, vor der der alte Herr und seine Tochter
sich befanden, stand in einer mit dem Schlosse parallel verlaufenden
Linie auf dem engen, gepflasterten Raum, der sich längs dem Gitter der
Reitbahn hinzieht. Diese Menge gab durch die große Buntheit der
Frauenkleider dem riesigen Rechteck, das die Gebäude der Tuilerien und
dieses damals erst seit kurzem bestehende Gitter bildeten, vollends erst
einen scharfen Umriß.

Die Regimenter der Alten Garde, die nur im Vorbeireiten gemustert werden
sollten, nahmen diesen mächtigen Platz ein und standen dem Palast
gegenüber in imposanten, zehn Glieder tiefen Fronten. Jenseits der
Einfriedigung, doch innerhalb der Reitbahn, standen, ebenfalls in
parallelen Fronten, mehrere Regimenter Infanterie und Kavallerie. Diese
sollten unter dem Triumphbogen hindurch, der die Mitte des Gitters
schmückte, und auf dessen First zu jener Zeit die prachtvollen Rosse
Venedigs standen, in Parade vorbeimarschieren.

Die Musik der Regimenter, die vor den Galerien des Louvre aufgestellt
war, konnte man nicht sehen, weil die polnischen Ulanen davor standen.
Ein großer Teil der Sandfläche war leer geblieben, wie eine Arena, die
für die Bewegungen der in tiefem Schweigen dastehenden Korps
hergerichtet war. Von diesen mit der Symmetrie militärischer Kunst
aufgestellten Massen blitzten die Sonnenstrahlen im dreieckigen Feuer
von zehntausend Bajonetten zurück. Die Luft bewegte die Federbüsche der
Soldaten und ließ sie wallen wie die Bäume eines Waldes, die ein
Sturmwind beugt. Bei der Verschiedenheit der Uniformen, der Aufschläge,
der Waffen und Achselschnüre boten diese alten, stummen und
eindrucksvollen Scharen dem Auge tausend Farbengegensätze.

Dieses gewaltige Gemälde -- das Miniaturbild eines Schlachtfeldes vor
Beginn des Kampfes -- ein Gemälde von großer Buntheit und seltsam
wechselnden Gruppen, erhielt in den hohen, majestätischen Gebäuden, an
deren Regungslosigkeit die Führer und Soldaten sich ein Beispiel zu
nehmen schienen, einen poetischen Rahmen. Der Zuschauer verglich
unwillkürlich diese Mauern von Menschen mit jenen Mauern von Stein. Die
Frühlingssonne, die ihr Licht verschwenderisch auf die weißen, vor alter
Zeit gebauten Wände und die Jahrhunderte alten Mauern warf, beleuchtete
voll die zahllosen, schwarzbraunen Gesichter, die alle von bestandenen
Gefahren erzählten und ernst den kommenden Gefahren entgegensahen.

Nur die Obersten eines jeden Regiments schritten vor den Fronten, die
diese heldenhaften Männer bildeten, auf und ab. Hinter den von Silber,
Azur, Purpur und Gold funkelnden Truppenmassen konnten die Neugierigen
die mit dreifarbigen Fähnchen geschmückten Lanzen von sechs
unermüdlichen polnischen Ulanen sehen, die, gleich den Hunden, die eine
Herde über das Feld treiben, unaufhörlich zwischen den Truppen und den
Neugierigen hin und her galoppierten, um zu verhindern, daß die Leute
den kleinen Zwischenraum überschritten, den man ihnen neben dem
kaiserlichen Gitter eingeräumt hatte.

Wenn dieses Hin und Her nicht gewesen wäre, hätte man glauben können,
man befände sich im Palast der schönen Fee, im verzauberten Walde. Das
Frühlingslüftchen, das über die Mützen der Grenadiere hinwehte und die
hohen Federbüsche bewegte, brachte allein ein wenig Leben in die
Regungslosigkeit der Soldaten -- und das dumpfe Murmeln der Menge allein
unterbrach die Stille. Nur hin und wieder klang der Ton eines
Halbmondes, oder aus Versehen geschah ein leichter Schlag gegen die
Kesselpauke, um im Echo vom kaiserlichen Palast zurückzuhallen -- das
waren die einzigen Laute, die an jenes ferne Donnern erinnerten, das
einem Gewitter vorausgeht.

Eine unbeschreibliche Begeisterung tat sich in dem Harren der Menge
kund. Am Vorabend eines Feldzugs, dessen Gefahren der geringste Bürger
erkannte, wollte Frankreich Napoleon Lebewohl sagen. Diesmal handelte es
sich für das französische Kaisertum um Sein oder Nichtsein. Dieser
Gedanke schien in gleichem Maße die städtische Bevölkerung und die
soldatische Bevölkerung zu erfüllen, und sie drängten sich in einmütigem
Schweigen in der Einfriedigung, über der Napoleons Adler und Genius
schwebten.

Die Soldaten, Frankreichs Hoffnung -- die Soldaten, sein letzter
Blutstropfen, waren für die Mehrzahl der Zuschauer ebenfalls ein
Gegenstand heftiger Besorgnis. Zwischen einem großen Teile der
Herumstehenden und des Militärs war dies vielleicht ein Abschied auf
ewig; aber alle Herzen, selbst die, die dem Kaiser durchaus feindlich
gesinnt waren, sandten heiße Gebete zum Himmel um den Ruhm des
Vaterlandes. Diejenigen, die des zwischen Europa und Frankreich
entbrannten Kampfes überdrüssig waren, hatten alle beim Durchgang unter
dem Triumphbogen ihres Hasses vergessen und begriffen wieder, daß am
Tage der Gefahr Napoleon ganz Frankreich verkörperte.

Die Schloßuhr schlug halb eins. In diesem Augenblick verstummte das
Summen der Menge, und das Schweigen wurde so tief, daß man ein Kind
hätte sprechen hören können. Der alte Herr und seine Tochter, die beide
ganz Auge zu sein schienen, vernahmen jetzt ein Geräusch von klirrenden
Sporen und rasselnden Degen, das unter dem hallenden Bogengange des
Schlosses hervorklang.

Ein kleiner, ziemlich korpulenter Mann, gekleidet in grüne Uniform,
weiße Hose und Reitstiefel, erschien plötzlich. Den Dreimaster, der
ebenso absonderlich aussah, wie der ganze Mann, behielt er auf dem
Kopfe; das breite, rote Band der Ehrenlegion floß über seine Brust, an
der Seite trug er einen kleinen Degen. Aller Augen, von allen Punkten
des Platzes aus, waren zu gleicher Zeit auf diesen einen Mann gerichtet.
Sogleich schlugen die Tamboure den Wirbel, die beiden Musikkapellen
setzten zu einem Stück ein, dessen kriegerischer Ausdruck sich in allen
Instrumenten von der großen Pauke bis zur sanftesten Flöte wiederholte.
Bei diesem Ruf zum Streit zitterten die Seelen, die Fahnen salutierten,
die Soldaten präsentierten mit einmütigem, regelrechtem Griff, der die
Gewehre von der ersten Reihe bis zu der letzten auf der ganzen Reitbahn
mit einem Schlag in Bewegung setzte. Kommandoworte pflanzten sich wie
ein Echo von Glied zu Glied fort. Der Schrei: »Es lebe der Kaiser!«
erscholl aus der begeisterten Menge. Kurz, alles wogte, zitterte,
vibrierte.

Napoleon war zu Pferde gestiegen. Das erst hatte Leben in diese
schweigenden Massen gebracht, den Instrumenten Stimme verliehen, den
Adlern und Fahnen Schwung gegeben, alle Gesichter in Bewegung gesetzt.
Selbst die Mauern des alten Palastes schienen zu rufen: »Es lebe der
Kaiser!« Es war nichts Menschliches mehr, es war ein Zauber, ein Abglanz
der göttlichen Gewalt oder besser noch ein flüchtiges Ebenbild dieser so
flüchtigen Herrschaft.

Der von so viel Liebe, Begeisterung, Aufopferung und Gebet umringte
Mensch, für den die Sonne die Wolken des Himmels verscheucht hatte,
hielt drei Schritt vor der kleinen prunkvollen Schwadron seines Gefolges
-- der Großmarschall war zu seiner Linken, der Marschall vom Dienst zu
seiner Rechten. Inmitten all dieser stürmischen Erregung, die er allein
hervorrief, schien sich nicht eine Muskel seines Gesichts zu bewegen.

»O, mein Gott, ja. Bei Wagram, mitten im Feuer, an der Moskwa, zwischen
den Toten -- immer ist er ruhig wie der Täufer. Ja, er!«

Diese Antwort wurde auf zahlreiches Fragen von dem Grenadier erteilt,
der in der Nähe des jungen Mädchens stand. Julie hatte sich auf einen
Augenblick ganz in die Betrachtung des Gesichts versenkt, deren Ruhe ein
so sicheres Machtbewußtsein ausdrückte. Der Kaiser bemerkte Fräulein von
Chantillonest und neigte sich zu Duroc hin, um ein paar kurze Worte zu
ihm zu sprechen, über die der Großmarschall lächelte.

Die Parade begann. Wenn die junge Person bis dahin bald das starre
Gesicht Napoleons, bald die blauen, roten und grünen Truppenreihen
betrachtet hatte, so galt ihre Aufmerksamkeit bei all den Bewegungen,
die die alten Soldaten rasch und regelmäßig ausführten, fast
ausschließlich einem jungen Offizier, der unter den paradierenden Massen
hin und her sprengte und in unermüdlicher Tätigkeit immer wieder zu der
Gruppe zurückritt, an deren Spitze die schlichte Gestalt Napoleons
leuchtete. Dieser Offizier ritt einen wunderschönen Rappen und fiel
unter der buntfarbigen Menge durch die himmelblaue Uniform der
kaiserlichen Ordonnanzoffiziere ganz besonders auf.

Seine Stickereien funkelten so hell in der Sonne, und der Federbusch
seines schmalen, langen Tschakos schimmerte so prächtig, daß die
Zuschauer ihn mit einem Irrlicht, einer zur Erscheinung gewordenen
Seele, vergleichen mußten, die aus dem Kaiser selbst herausgefahren zu
sein schien, und durch die er diese Bataillone, deren Waffen wie ein
Flammenmeer wogten, belebte und lenkte. Auf einen Wink seiner Augen
teilten sie sich, flossen wieder zusammen, wirbelten durcheinander wie
die Wellen eines Strudels oder zogen an ihm vorbei wie die langen,
hochgerichteten Kämme, die der vom Sturm erregte Ozean gegen seine
Gestade wälzt.

Als die Manöver vorüber waren, ritt der Ordonnanzoffizier mit
verhängtem Zügel heran und zügelte sein Pferd kurz vor dem Kaiser, um
seines Befehles zu harren. In diesem Augenblick war er zwanzig Schritt
von Julie entfernt und hielt gerade vor der kaiserlichen Gruppe, ganz in
jener Stellung, die Gérard auf dem Gemälde von der Schlacht bei
Austerlitz dem General Rapp gegeben hat. Jetzt durfte das junge Mädchen
seinen Geliebten in all seinem militärischen Glanze bewundern.

Oberst Victor d'Aiglemont, kaum dreißig Jahre alt, war groß, wohlgebaut
und schlank. Sein glückliches Ebenmaß kam nie besser zur Geltung, als
wenn er seine Kraft anwandte, ein Pferd zu regieren, dessen eleganter,
glatter Rücken sich unter ihm zu beugen schien. Sein männliches, braunes
Gesicht besaß jenen unerklärlichen Reiz, den eine vollkommene
Regelmäßigkeit der Züge jungen Gesichtern verleiht. Seine Stirn war groß
und hoch. Seine feurigen Augen, von dichten Brauen beschattet und mit
langen Wimpern besetzt, zeichneten sich wie zwei weiße Ovale zwischen
schwarzen Umrissen ab. Seine Nase hatte die graziöse Biegung des
Adlerschnabels. Den Purpur der Lippen hob der feine Schwung des
unvermeidlichen schwarzen Schnurrbarts noch mehr hervor. Seine vollen
Wangen zeigten die braune, gelbe Färbung, die auf außerordentliche
Körperkraft deutet. Sein Gesicht -- eines von denen, die den Stempel der
Tapferkeit tragen -- hatte jenen Typus, den noch heute der Künstler
sucht, wenn er einen der Helden aus der französischen Kaiserzeit
darstellen will.

Das Pferd war in Schweiß gebadet, und sein Kopf zitterte in heftiger
Ungeduld. Die breit aufgestellten Vorderfüße standen in einer Linie,
ohne daß einer über den andern hinausragte. Das lange Haar seines
dichten Schweifs wogte hin und her. Die Ergebenheit dieses Tiers gegen
seinen Herrn bot ein körperliches Abbild der Ergebenheit seines Herrn
gegen seinen Kaiser.

Als Julie ihren Geliebten so ganz an den Augen Napoleons hängen sah,
erfüllte sie der Gedanke, daß er sie noch gar nicht angesehen hätte, mit
Eifersucht. Plötzlich spricht der Herrscher ein Wort, Victor gibt seinem
Pferd die Sporen und sprengt im Galopp davon. Aber der Schatten eines
Prellsteins auf dem Sande macht das Pferd scheu -- es stutzt, weicht
zurück und bäumt sich so heftig, daß der Reiter in Gefahr scheint.

Julie wird blaß und stößt einen Schrei aus. Alles wirft ihr neugierige
Blicke zu, sie aber sieht niemand. Ihre Augen sind nur auf dieses so
wilde Pferd gerichtet, das der Offizier zum Gehorsam zwingt, um im
Galopp Napoleons Befehle weiterzutragen. Diese betäubenden Bilder nahmen
Juliens Sinne so völlig gefangen, daß sie, ohne es zu wissen, sich fest
an den Arm des Vaters klammerte und diesem unwillkürlich durch den
stärkeren oder schwächeren Druck ihrer Finger verriet, was in ihr
vorging.

Als Victor beinah von seinem Pferde abgeworfen wurde, faßte sie noch
fester zu und drohte zu fallen. Der alte Herr betrachtete mit düsterer,
schmerzlicher Unruhe das Antlitz seines Kindes, und Gefühle wie Mitleid,
Eifersucht, ja Kummer zeigten sich in seinem runzligen Gesicht. Aber als
das ungewohnte Aufblitzen ihrer Augen, der Schrei, den sie ausstieß, und
die krampfhafte Umspannung ihrer Finger ihm den letzten Rest einer
geheimen Liebe offenbart hatten, da mußte er wohl mit Trauer der Zukunft
gedenken, denn sein Gesicht nahm jetzt einen finstern Ausdruck an. In
diesem Augenblick schien Juliens Seele in die des Offiziers
übergegangen zu sein. Ein noch grausamerer Gedanke, als alle, die den
alten Herrn bisher erschreckt hatten, grub sich in die Falten seines
leidenden Gesichts ein, als er d'Aiglemont im Vorbeireiten einen Blick
des Einverständnisses mit Julie wechseln sah, deren Augen feucht waren,
deren Antlitz sich auffallend gerötet hatte. Fast grob führte er seine
Tochter plötzlich nach dem Garten der Tuilerien.

»Aber, Papa,« sagte sie, »es stehen doch noch Regimenter auf der
Reitbahn, die sollen auch noch manövrieren.«

»Nein, mein Kind, alle Truppen rücken ab.«

»Ich glaube, Sie irren sich, mein Vater. Herr d'Aiglemont hat ihnen den
Befehl gebracht, anzutreten.«

»Aber, mein Kind, ich habe Schmerzen und will nicht bleiben.«

Julie mußte ihrem Vater wohl oder übel glauben, als sie die Augen auf
dieses Gesicht warf, dem väterliche Sorgen eine Miene des Kummers gaben.

»Haben Sie große Schmerzen?« fragte sie, aber in ihrer Zerstreutheit
klang diese Frage recht gleichgültig.

»Wird mir nicht jeder neue Tag nur noch aus Gnade zuteil?« antwortete
der Greis.

»Sie wollen also wieder von Ihrem Tode sprechen, damit ich recht traurig
sein soll? Und ich war so froh! Wollen Sie wohl Ihre garstigen,
schwarzen Gedanken verscheuchen?«

»Ach,« rief der Vater seufzend, »du verhätscheltes Ding! Die besten
Herzen sind manchmal recht grausam. Euch unser ganzes Leben opfern,
immer nur an euch denken, für euer Wohlsein sorgen, unsere Liebhabereien
euern Launen unterordnen, euch anbeten, euch sogar unser Blut geben --
ist denn das noch nichts? Um uns nur immer euer Lächeln und eure
geringschätzige Liebe zu erhalten, müßten wir die Allmacht eines Gottes
haben. Schließlich kommt ein anderer. Ein Verehrer, ein Gatte raubt uns
euer Herz.«

Julie sah ihren Vater erstaunt an, der langsam neben ihr herging und
erloschene Blicke auf sie warf.

»Ihr spielt Versteck mit uns, vielleicht auch sogar mit euch selbst,«
fuhr er fort.

»Was sagen Sie da, mein Vater?«

»Ich denke, Julie, du hast Geheimnisse vor mir. Du liebst,« sagte der
Greis eindringlich, als er seine Tochter erröten sah. »Ach, ich hatte
gehofft, du würdest deinem alten Vater bis zum Tode treu bleiben, ich
hoffte, dich bei mir zu behalten, mich an deinem Glück und Glanze
erfreuen zu können, dich zu bewundern, schön, wie du eben noch warst!
Solange ich nicht wußte, welches Geschick dir bevorstände, hätte ich
noch glauben können, daß dir eine ruhige Zukunft beschieden sein werde;
aber jetzt kann ich unmöglich die Hoffnung auf ein glückliches Leben
meiner Tochter mit ins Grab nehmen; denn du liebst noch mehr den Oberst
als den Vetter. Ich kann nicht mehr daran zweifeln.«

»Warum sollte ich ihn nicht lieben dürfen?« rief sie mit lebhafter
Neugierde.

»Ach, meine Julie, du kannst mich ja doch nicht verstehen,« versetzte
der Vater seufzend.

»Sprechen Sie immerhin,« erwiderte sie mit einer Gebärde des
Eigenwillens.

»Gut, mein Kind, so höre mich an. Die jungen Mädchen erschaffen sich oft
edle, entzückende Bilder, ganz ideale Gestalten und formen sich allerlei
Hirngespinste über Menschen, Gefühle und Welt. Dann verleihen sie in
ihrer Unschuld einem Charakter all die geträumte Vollkommenheit und
schwören nun darauf. Sie lieben in dem Manne ihrer Wahl dieses
Phantasiegeschöpf; aber später, wenn keine Zeit mehr da ist, sich von
dem Unglück zu befreien, verwandelt sich das Trugbild, das sie so
verschönt haben, ihr erstes Götzenbild, schließlich in ein häßliches
Skelett. Julie, mir wäre es lieber, du liebtest einen Greis, statt
diesen Offizier. Ach, wenn du dich um zehn Jahre weiter ins Leben
versetzen könntest, würdest du meiner Erfahrung recht geben. Ich kenne
Victor. Seine Heiterkeit ist eine Heiterkeit ohne Geist -- eine
Kasernenheiterkeit; er ist ohne Talent und verschwenderisch. Er ist
einer von jenen Männern, die der Himmel dazu geschaffen hat, an einem
Tage vier Mahlzeiten zu genießen und zu verdauen, zu schlafen, die erste
beste zu lieben und sich zu schlagen. Er versteht nicht, was Leben
heißt. Sein gutes Herz -- denn ein gutes Herz hat er -- wird ihn
vielleicht dazu verleiten, seine Börse einem Unglücklichen, einem
Kameraden zu geben; aber er ist gleichgültig, er besitzt nicht die
Zartheit des Herzens, die uns keine andere Sorge hegen läßt, als eine
Frau glücklich zu machen. Er ist unwissend und egoistisch -- kurz, es
gibt da sehr viele Aber.«

»Er muß doch wohl Geist haben, mein Vater, und was können, sonst wäre er
doch nicht Oberst geworden.«

»Meine Liebe, Oberst wird Victor auch sein Leben lang bleiben. Ich habe
noch niemand gesehen, der mir deiner würdig erschienen wäre,« versetzte
der alte Vater mit einer gewissen Begeisterung.

Er blieb einen Augenblick stehen, betrachtete seine Tochter und fügte
hinzu:

»Aber, meine arme Julie, du bist noch zu jung, zu schwach, zu zart, um
die Kümmernisse und die Mühseligkeiten der Ehe zu ertragen. D'Aiglemont
ist ein Muttersöhnchen und von seinen Eltern ebenso verhätschelt worden,
wie du von deiner Mutter und mir. Wie wäre es überhaupt möglich, daß ihr
zwei unversöhnlichen Trotzköpfe, wenn ihr mal verschiedener Meinung
seid, euch verständigen könntet? Du wirst da entweder Amboß oder Hammer,
entweder Opfer oder Tyrann. Und ob nun das eine oder das andere, in
jedem Falle ist dann die Summe der Leiden im Leben einer Frau gleich
groß. Da du aber sanft und bescheiden bist, so wirst du wohl zuerst
nachgeben. Schließlich bist du eben,« sagte er mit veränderter Stimme,
»von einer Zartheit des Empfindens, die mißverstanden werden wird, und
dann ...«

Er sprach nicht weiter -- Tränen hinderten ihn daran.

»Victor,« fuhr er nach einer Pause fort, »wird die naive Reinheit deiner
Seele verletzen. Ich kenne das Militär, meine Julie. Ich habe auch unter
Soldaten gelebt. Es kommt selten vor, daß bei diesen Leuten über die
Gewohnheiten, die sie inmitten all des Unglücks, das sie umgibt, oder
infolge ihres an Zufällen reichen Abenteurerlebens annehmen, zuletzt
noch einmal das Herz den Sieg davonträgt.«

»Sie wollen also, mein Vater,« versetzte Julie in einem Tone, der
zwischen Ernst und Scherz die Mitte hielt, »Einspruch gegen meine Liebe
erheben? Ich soll nicht heiraten, wie ich will, sondern wie Sie es
bestimmen?«

»Heiraten, wie ich es bestimme?« rief der Vater mit einer Bewegung des
Erstaunens. »Ach, mein Kind, ich und bestimmen! Bald wirst du ja doch
meine Stimme, die, wenn sie auch schilt, doch in aller Liebe schilt,
nicht mehr hören. Und das ist ja immer so, die Opfer, die die Eltern
ihnen darbringen, schreiben die Kinder persönlichen Gefühlen zu. Heirate
Victor, meine Julie! Eines Tages wirst du es bitter beklagen, eine Null
zum Manne zu haben, und sein Mangel an Ordnungssinn, sein Egoismus,
seine Gefühlsgrobheit, sein liebeleeres Gemüt und tausend andere Dinge
werden dich an ihm schmerzen. Dann denke daran, daß unter diesen Bäumen
die prophetische Stimme deines alten Vaters dir vergebens zu Ohren
gedrungen ist!«

Der Greis schwieg -- er hatte seine Tochter darüber ertappt, daß sie
eigensinnig den Kopf zurückwarf. Alle beide taten ein paar Schritte nach
dem Gitter, wo ihr Wagen Halt gemacht hatte. Auf diesem schweigsamen
Gange betrachtete das junge Mädchen verstohlen das Gesicht ihres Vaters,
und ihre trotzige Miene verschwand allmählich. Der tiefe Schmerz, der
auf dieser zu Boden gesenkten Stirn ausgeprägt war, ging ihr sehr nahe.

»Ich verspreche Ihnen, mein Vater,« sagte sie mit sanfter Rührung,
»Victor nicht eher vor Ihnen zu nennen, als bis Sie sich von Ihren
Vorurteilen gegen ihn bekehrt haben.«

Der alte Herr sah seine Tochter erstaunt an. Ein paar Tränen traten aus
seinen Augen und rollten die gefurchten Wangen hinab. Er konnte Julie
nicht mitten unter diesen Menschen küssen, aber er drückte ihr liebevoll
die Hand. Als er in den Wagen stieg, waren alle schmerzlichen Gedanken,
die seine Stirn verfinstert hatten, entschwunden. Seine Tochter traurig
zu sehen, beunruhigte ihn nun weit mehr, als die unschuldige Freude,
deren Geheimnis Julie während der Parade unwissentlich verraten hatte.

                   *       *       *       *       *

In den ersten Märztagen des Jahres 1814 -- seit jener Parade vor dem
Kaiser war noch nicht ganz ein Jahr verflossen, da rollte eine Kalesche
auf der Chaussee, die von Amboise nach Tours führt. Als sie unter dem
grünen Dach von Nußbäumen hervorfuhr, das sich um die Post von Frillière
wölbt, zogen die Pferde mit solcher Schnelligkeit, daß der Wagen im
nächsten Augenblick schon die über die Cise gebaute Brücke, wo dieser
Fluß in die Loire mündet, erreichte und hier Halt machte.

Infolge der wilden Jagd, zu der ein junger Postillon auf Befehl seines
Herrn vier der kräftigsten Postpferde angetrieben hatte, war ein Strang
gerissen. So fügte es die Laune des Zufalls, daß die beiden Insassen der
Kalesche, aus dem Schlummer erwachend, Muße hatten, eine der schönsten
Landschaften zu betrachten, die man an den an Schönheiten reichen Ufern
der Loire finden kann.

Zur Rechten übersieht man auf einen Blick alle Krümmungen der Cise, die
sich wie eine silberne Schlange durch das Gras der Wiesen hinzieht, die
die ersten Triebe des Frühlings um diese Zeit smaragden färbten. Zur
Linken erscheint die Loire in all ihrer Herrlichkeit. Zahllose kleine
Stellen, wo ein etwas frischer Morgenwind Wirbel auftrieb, spiegelten
auf der weiten Wasserfläche, die dieser majestätische Strom entfaltet,
den Schimmer der Sonne wieder. Hier und dort reihen auf der ausgedehnten
Flut Inseln wie die einzelnen Teile eines Halsbandes sich aneinander. Am
Ufer breiten die schönsten Gefilde der Touraine, soweit das Auge reicht,
ihre Schätze aus. In der Ferne wird der Blick erst durch die Hügel von
Cher begrenzt, die in diesem Augenblick leuchtende Linien auf dem
durchsichtigen Azur des Himmels zogen. Durch das zarte Laub der Inseln
hindurch sieht man im Hintergrunde des Gemäldes Tours, das, wie Venedig,
mitten aus der Flut aufzusteigen scheint. Die Türme der alten Kathedrale
ragen in die Luft, wo sie sich an diesem Morgen in den phantastischen
Gebilden einiger weißen Wolken verloren.

Jenseits der Brücke, an der der Wagen angehalten hatte, sieht der
Reisende vor sich eine Kette von Felsen, die sich an der Loire entlang
bis nach Tours hinzieht. Eine Laune der Natur scheint sie dorthin
gestellt zu haben, um den Strom einzudämmen, dessen Wellen unaufhörlich
das Gestein aushöhlen -- ein Schauspiel, das stets das Staunen des
Reisenden erweckt. Der Flecken Vouvray liegt gleichsam eingezwängt in
die Schluchten und Gründe dieser Felsen, die vor der Cisebrücke ein Knie
bilden.

Die gewaltigen Krümmungen dieser zerrissenen Hügelkette sind von Vouvray
bis Tours von einer weinbauenden Bevölkerung bewohnt. An mehr als einer
Stelle sind die Häuser in drei Staffeln mitten zwischen die Felsen
eingebaut und durch gefahrvolle Stiegen, die in den Stein geschlagen
sind, miteinander verbunden. Über der Spitze eines Daches sieht man ein
Mädchen in rotem Rock in einen Garten laufen. Zwischen den Ranken und
Reben von Weinstöcken steigt der Rauch eines Schornsteins auf. Dörfler
arbeiten auf senkrechten Feldern. Auf einem abgerutschten Felsblock
sitzt eine alte Frau und spinnt in aller Ruhe unter den Blüten eines
Mandelbaums. Sie sieht auf die Reisenden zu ihren Füßen hinab und
lächelt über deren Angst. Die Risse im Boden machen ihr ebensowenig
Sorge wie die überhängenden Trümmer einer alten Mauer, die nur noch
durch die gewundenen Wurzeln eines Efeumantels vor dem völligen
Zusammenbruch bewahrt ist.

Die Hammerschläge von Küfern hallen in den Gewölben luftiger Keller.
Kurz, hier, wo die Natur dem Menschenfleiß Fuß zu fassen wehrt, ist die
Erde überall bebaut und fruchtbar. So läßt sich auch auf dem ganzen Lauf
der Loire nichts mit dem reichen Panorama vergleichen, das die Touraine
vor den Augen des Reisenden ausbreitet. Das dreifache Gemälde dieser
Szene, dessen Fülle hier kaum angedeutet worden ist, bietet der Seele
eines jener Bilder, die sie sich auf ewig ins Gedächtnis schreibt; und
wenn ein Poet sich daran erfreut hat, so träumt er oft davon, und im
Traume baut sich dann das Bild mit romantischen Effekten märchenhaft
auf.

In dem Augenblick, wo der Wagen an die Cisebrücke gelangte, tauchten
mehrere weiße Segel zwischen den Loireinseln auf und brachten noch mehr
Harmonie in diese harmonische Gegend. Die Weiden am Rande des Flusses
mischten ihren durchdringenden Duft in die würzige feuchte Brise. Die
Vögel zwitscherten ihre Liebeslieder; der eintönige Gesang eines
Ziegenhirten fügte eine Art Melancholie hinzu, und das Rufen von
Schiffern deutete auf reges Treiben in der Ferne. Leichter Dunst hing
launisch um die in der weiten Landschaft verstreuten Bäume und trug
zuletzt auch zu dem anmutigen Gesamtbild bei. Es war die Touraine in all
ihrer Herrlichkeit, der Lenz in all seiner Pracht. Dieser Teil
Frankreichs, der einzige, den die fremden Heere nicht behelligen
sollten, war um diese Zeit auch der einzige, der ruhig war. Man hätte
glauben können, die Invasion wagte sich nicht an ihn heran.

Ein Kopf mit einer Soldatenmütze sah zur Kalesche heraus, als sie die
Fahrt einstellte. Gleich darauf öffnete ein ungeduldiger Soldat selbst
die Tür und sprang auf die Straße, wie um den Postillon auszuzanken.
Aber als der Oberst Graf d'Aiglemont sah, mit welcher Geschicklichkeit
der Tourainer den zerrissenen Strang ausbesserte, beruhigte er sich. Er
kehrte zum Wagenschlag zurück und reckte die Arme, als seien sie ihm
eingeschlafen. Er gähnte, blickte über die Landschaft hin und legte die
Hand auf den Arm einer jungen Frau, die sorgsam in einen Pelz
eingewickelt war.

»Wach auf, Julie,« sagte er in heiserem Tone. »Sieh dir die Gegend an --
es ist herrlich hier.«

Julie reckte den Kopf zum Wagen heraus. Sie trug auf dem Kopfe eine
Kapuze von Marderfell, und der faltenreiche Pelz verhüllte ihre ganze
Gestalt so völlig, daß man nichts als ihr Gesicht sehen konnte. Julie
d'Aiglemont sah jetzt schon anders aus, als das junge Mädchen, das
einst, strahlend vor Glück und Freude, zu der Parade in den Tuilerien
geeilt war. Ihr noch immer zartes Gesicht hatte nicht mehr die rosige
Färbung, die ihm früher einen so herrlichen Glanz verliehen hatte. Ein
paar schwarze Locken, die sich durch die Feuchtigkeit der Nacht aus
ihrem Haar gelöst hatten, hoben das fahle Weiß ihres Gesichts, dessen
Lebhaftigkeit stumpf geworden zu sein schien, nur noch deutlicher
hervor. In ihren Augen brannte indessen ein unnatürliches Feuer; und
unter den Lidern zeigten sich auf den müden Wangen einige bläuliche
Töne.

Mit gleichgültigem Blick sah sie über die Gefilde von Cher, über die
Loire und ihre Inseln, über Tours und die weitgestreckten Felsen von
Vouvray hin. Ohne sich das entzückende Tal der Cise anzuschauen, lehnte
sie sich ins Innere des Wagens zurück und sagte mit einer Stimme, die in
dieser frischen Natur schwach und leblos klang: »Ja, großartig.«

Sie hatte, wie man sieht, zu ihrem Unglück ihren Willen gegen den Vater
durchgesetzt.

»Julie, möchtest du nicht gern hier leben?«

»O, hier oder anderswo,« antwortete sie gleichgültig.

»Ist dir nicht wohl?« fragte der Oberst d'Aiglemont.

»Nicht doch,« entgegnete die junge Frau mit augenblicklicher
Lebhaftigkeit.

Sie sah ihren Mann lächelnd an und setzte hinzu:

»Schlafen möchte ich.«

Plötzlich hörte man den Galopp eines Pferdes. Victor d'Aiglemont ließ
die Hand seiner Frau los und sah nach der Biegung hin, die die Straße an
dieser Stelle machte. Als Julie den Blick des Obersten nicht mehr auf
sich ruhen fühlte, verschwand der Ausdruck der Heiterkeit, den sie ihrem
blassen Gesicht gegeben hatte, wie wenn ein Licht aufgehört hätte, es zu
beleuchten. Sie hatte weder Lust, die Landschaft noch einmal zu
betrachten, noch verlangte sie danach, zu erfahren, wer der so ungestüm
einhergaloppierende Reiter wäre, sondern lehnte sich in die Ecke des
Wagens zurück, und ihr Blick blieb, ohne eine Spur von Gefühl zu
verraten, auf die Kruppen der Gäule geheftet. Sie sah ebenso
stumpfsinnig drein, wie etwa ein bretonischer Bauer, wenn er die Litanei
seines Pfarrers anhört.

Ein junger Mann auf einem kostbaren Pferde sprengte plötzlich aus einem
Wäldchen von Pappeln und blühendem Weißdorn hervor.

»Es ist ein Engländer,« sagte der Oberst.

»O, mein Gott ja, Herr General,« antwortete der Postillon. »Er gehört zu
der Rasse von Kerlen, die wie man sagt, Frankreich auffressen wollen.«

Der Unbekannte war einer von den Reisenden, die sich gerade auf dem
Festlande befanden, als Napoleon zur Strafe für die Verletzung des
Völkerrechts, die das Kabinett von Saint-James durch den Bruch des
Vertrags von Amiens begangen hatte, alle Engländer im Lande festhielt.
Der Willkür der kaiserlichen Macht ausgesetzt, blieben diese Gefangenen
nicht alle an den Orten, wo sie in Haft genommen wurden, noch in denen,
die sie sich im Anfang als Aufenthalt hatten wählen dürfen. Die Mehrzahl
derer, die in diesem Augenblick in der Touraine weilten, waren aus
verschiedenen Orten des Kaiserreichs, wo ihre Anwesenheit dem Interesse
der Kontinentalpolitik zu schaden schien, hierher versetzt worden. Der
junge Gefangene, der in diesem Augenblick in einem Ritt seine
morgendliche Langeweile spazieren führte, war ein solches Opfer
bürokratischer Macht.

Vor zwei Jahren hatte ein Befehl vom Ministerium des Äußern ihn aus dem
Klima von Montpelliers hinwegführt, wo er von einem Brustleiden Genesung
suchte. Diese Kur wurde nun durch den Bruch des Friedens unliebsam
beendet. In dem Augenblick, wo der junge Mann einen Militär in
d'Aiglemont erkannte, beeilte er sich, dessen Blicke zu vermeiden und
wandte ziemlich brüsk den Kopf nach den Wiesen der Cise hin.

»Alle Engländer sind unverschämt, als wenn ihnen der Erdball gehörte,«
murmelte der Oberst. »Glücklicherweise wird Soult sie in die Kandare
nehmen.«

Als der Gefangene an dem Wagen vorüberritt, warf er einen Blick hinein.
So flüchtig dieser Blick war, konnte er doch den melancholischen
Ausdruck bewundern, der dem Antlitz der Gräfin einen unbeschreiblichen
Reiz verlieh. Es gibt viele Männer, deren Herz schon durch den bloßen
Anblick einer leidenden Frau mächtig ergriffen wird. Für sie scheint der
Schmerz ein Beweis für Treue und Liebe zu sein. Julie sah starr auf ein
Kissen des Wagens und bemerkte weder das Pferd noch den Reiter.

Inzwischen war der Strang rasch, aber auch fest ausgebessert worden. Der
Graf nahm wieder Platz im Wagen. Der Postillon gab sich Mühe, die
versäumte Zeit einzuholen, und kutschierte in schneller Fahrt auf der
von überhängenden Felsen eingefaßten Chaussee hin. Dies war derjenige
Teil der Straße, wo die Weine Vouvrays reifen und wo in der Ferne die
berühmten Ruinen von Marmontier, dem Zufluchtsort des heiligen Martin,
auftauchen.

»Was will denn dieser spindeldürre Mylord von uns?« rief der Oberst, der
sich umsah und in dem Reiter, der von der Brücke aus dem Wagen gefolgt
war, den jungen Engländer erkannte.

Da jedoch der Unbekannte keinen Verstoß gegen Anstand und Höflichkeit
beging, wenn er auf der Chaussee spazieren ritt, so lehnte der Oberst
sich in die Wagenecke zurück und begnügte sich damit, dem Engländer
einen drohenden Blick zugeworfen zu haben. Allein trotz seiner
Voreingenommenheit entging es ihm nicht, daß das Pferd überaus schön war
und der Reiter sich sehr gut hielt.

Der junge Mann hatte eins jener ausgesprochen britischen Gesichter,
deren Teint so zart, deren Haut so sammetweich und weiß ist, daß man
manchmal glauben möchte, sie gehörten einem jungen Mädchen an. Seine
Kleidung war von der Zierlichkeit und Sauberkeit, die den Modestutzern
des fashionablen England eigentümlich ist. Man hätte meinen mögen, er
errötete beim Anblick der Gräfin mehr aus Verschämtheit als aus
Vergnügen.

Ein einziges Mal erhob Julie die Augen zu dem Fremden, und auch dazu
hatte sie gewissermaßen erst von ihrem Manne aufgefordert werden müssen.
Er sagte, sie solle sich doch mal die Beine eines echten Rassepferdes
ansehen. Da begegneten die Augen Juliens denen des schüchternen
Engländers. Von diesem Moment an ließ der Edelmann sein Pferd nicht mehr
im Schritt neben der Kalesche hergehen, sondern folgte in einiger
Entfernung. Die Komtesse beachtete den Unbekannten kaum. Sie hatte
keinen Blick für die Vollkommenheiten weder der Menschen- noch der
Pferderasse, die ihn und sein Tier auszeichnen mochten, und sank in die
Tiefe des Wagens zurück, nachdem sie nur flüchtig die Brauen
emporgezogen hatte, wie um dem Lobe ihres Mannes beizustimmen.

Der Oberst schlummerte wieder, und die beiden Gatten langten in Tours
an, ohne weiter ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Den
entzückenden Landschaften und wechselnden Bildern, durch die die Fahrt
ging, widmete Julie keine Aufmerksamkeit. Mehrmals betrachtete Frau
d'Aiglemont ihren schlafenden Gatten. Beim letzten Blicke, den sie auf
ihn richtete, fiel infolge eines heftigen Rucks, den der Wagen machte,
ein Medaillon, das sie an einem Trauerbändchen um den Hals trug, in
ihren Schoß, und so sah sie plötzlich das Bild ihres Vaters vor sich.

Bei diesem Anblick stürzten die bisher zurückgehaltenen Tränen aus ihren
Augen. Vielleicht bemerkte der Brite die nasse, schimmernde Spur, die
diese Zähren auf einen Augenblick an den bleichen Wangen der Komtesse
hinterließen, doch an der Luft trocknete diese Spur schnell.

Graf d'Aiglemont reiste im Auftrage des Kaisers und hatte dem Marschall
Soult, der Frankreich gegen einen Einfall der Engländer in das
Königreich Navarra verteidigen sollte, wichtige Befehle zu überbringen.
Er benutzte seine Mission, um seine Frau der Gefahr zu entziehen, in der
damals Paris schwebte, und wollte sie nun zu einer alten Verwandten nach
Tours bringen. Binnen kurzem rollte die Kalesche über die Brücke hinweg,
hatte das Straßenpflaster von Tours unter sich und bog in die Grande Rue
ein, wo sie vor dem altertümlichen Hause der ehemaligen Marquise de
Listomere-Landon hielt.

Die Marquise de Listomere-Landon war eine jener alten, blassen,
weißhaarigen Frauen, die ein feines Lächeln haben, einen Reifrock tragen
und sich mit einer Haube von unbekannter Mode putzen. Die Porträts von
siebzigjährigen Damen aus dem Zeitalter Ludwigs XV. haben immer etwas
Wohltuendes an sich; es ist, als ob diese Frauen noch immer liebten. Sie
sind weniger fromm als gottergeben, und auch das nicht ganz so, wie es
den Anschein hat. Sie duften immer nach Puder +à la maréchale+, erzählen
hübsch, plaudern noch angenehmer und lachen über Anekdoten aus den alten
Zeiten weit herzlicher als über einen Witz. An der Gegenwart haben sie
kein Gefallen.

Als eine alte Kammerfrau der Gräfin (denn sie durfte ihren Titel bald
wieder führen) den Besuch eines Neffen meldete, den sie seit dem Anfang
des spanischen Feldzugs nicht mehr gesehen hatte, nahm sie die Brille ab
und klappte die »Galerie des alten Hofs« -- ihr Lieblingsbuch -- zu.
Dann setzte sie ihre alten Beine noch einmal in fast jugendliche
Bewegung und betrat gerade in dem Augenblick die Treppe, als die
Ehegatten die Stufen hinaufzusteigen begannen.

Tante und Nichte warfen sich einen raschen Blick zu.

»Guten Tag, liebe Tante,« rief der Oberst, umarmte die alte Dame und
küßte sie mit Hast. »Ich führe Ihnen da eine junge Dame zu, die Sie in
Ihre Obhut nehmen sollen. Ich vertraue Ihnen damit mein Kleinod an.
Meine Julie ist weder kokett noch eifersüchtig, sie ist ein Engel an
Sanftmut. -- Aber sie wird hier hoffentlich zum Schoßkindchen,« setzte
er hinzu, sich unterbrechend.

»Bösewicht!« antwortete die Marquise, ihm einen spöttischen Blick
zuwerfend.

Sie bot als erste mit einer gewissen liebenswürdigen Anmut Julien den
Mund zum Kusse. Die junge Frau stand nachdenklich da und schien mehr
neugierig als verlegen.

»Wir werden einander also näher kennen lernen, mein liebes Herz?« sagte
die Marquise. »Haben Sie nicht zuviel Angst vor mir. Im Umgang mit
jungen Leuten gebe ich mir alle Mühe, nicht alt zu sein.«

Ehe sie in den Salon traten, hatte schon die Marquise nach der in der
Provinz üblichen Sitte ein Frühstück für ihre Gäste bestellt; aber der
Graf gebot der Redseligkeit seiner Tante Einhalt, indem er ihr in
ernstem Tone mitteilte, er könne ihr nur so viel Zeit widmen, wie zum
Wechseln der Pferde nötig wäre.

Die drei Verwandten traten rasch in den Salon, und der Graf mußte sich
beeilen, um seine Tante von den politischen und militärischen
Ereignissen zu unterrichten, die ihn nötigten, für seine Frau bei ihr
Schutz zu suchen. Währenddessen blickte die Tante zwischen ihrem
fortwährend erzählenden Neffen und ihrer Nichte hin und her. Aus der
unerwünschten Trennung erklärte sie es sich, daß die letztere so blaß
und traurig aussähe. Sie machte dabei ein Gesicht, als wenn sie sagen
wollte: »Sieh, sieh! die jungen Leute scheinen sich sehr lieb zu haben.«

In diesem Augenblick vernahm man auf dem alten, schweigsamen Hofe,
zwischen dessen Pflaster schon Gras wucherte, das Knallen von Peitschen.
Viktor küßte noch einmal die Marquise und eilte hinaus.

»Leb wohl, meine Liebe,« sagte er zu seiner Frau, die ihm zum Wagen
gefolgt war, und gab ihr einen Kuß.

»Ach, Victor, laß mich noch weiter mitfahren,« antwortete sie in
zärtlichem Tone. »Ich möchte dich nicht verlassen.«

»Was denkst du denn?«

»Nun, wenn du es so haben willst, so leb' wohl,« versetzte Julie.

Der Wagen verschwand.

»Sie haben meinen armen Victor also sehr lieb?« fragte die Marquise ihre
Nichte und sah sie mit einem jener forschenden Blicke an, wie sie alte
Frauen gern auf junge richten.

»Ach, Madame,« antwortete Julie, »man muß wohl einen Mann lieben, wenn
man ihn heiratet.«

Diese Phrase wurde in einem Ton von Naivität ausgesprochen, der zu
gleicher Zeit ein ganz keusches Herz voll tiefer Geheimnisse verraten
konnte. Eine Frau, die die Freundin eines Duclos und eines Marschalls
Richelieu gewesen war, mußte sich bewogen fühlen, in das Geheimnis
dieser jungen Ehe einzudringen. Tante und Nichte standen in diesem
Augenblick auf der Torschwelle und sahen der davonfahrenden Kutsche
nach. Die Augen der Gräfin drückten nicht das aus, was die Marquise
unter Liebe verstand. Die gute Dame war eine Provençalin und in ihren
Gefühlen etwas überschwenglich gewesen.

»Sie haben sich also von meinem Taugenichts von Neffen ins Garn ziehen
lassen?« fragte sie ihre Nichte.

Die Gräfin zitterte unwillkürlich, denn in Blick und Ton der alten
Kokette schien sich eine tiefere Charakterkenntnis Victors zu verraten,
als sie vielleicht selbst besaß. In ihrer Unruhe nahm daher Frau
d'Aiglemont Zuflucht zu jener Art von Verstellung, die, so ungeschickt
sie ist, doch der einzige Ausweg naiver Herzen ist, wenn sie leiden.

Frau de Listomere gab sich mit Juliens Antworten zufrieden; aber sie
dachte mit Freude daran, daß ihre Einsamkeit von einem Liebesgeheimnis
erheitert werden könnte; denn sie war der Meinung, ihre Nichte habe
irgendeine amüsante Intrige angezettelt. Als Frau d'Aiglemont sich in
einem prächtigen Salon befand, dessen Tapeten mit Goldleisten eingefaßt
waren, und an einem großen Feuer saß, gegen die durch die Fenster
hereinziehende Kälte durch einen chinesischen Windschirm geschützt,
wollte die Traurigkeit nicht mehr von ihr weichen. Unter so altem
Getäfel, zwischen diesen Möbeln vom vorigen Jahrhundert konnte auch
schwerlich Heiterkeit aufkommen.

Dennoch machte es der jungen Pariserin Spaß, in diese tiefe Einsamkeit,
in die Stille der Provinz versetzt zu sein. Als sie ein paar Worte mit
ihrer Tante gewechselt, an die sie nur einmal als Jungvermählte einen
Brief geschrieben hatte, versank sie wieder in Schweigen, und man hätte
meinen mögen, sie lausche einer Opernmusik.

Erst nachdem sie zwei Stunden lang in einer der Trappisten würdigen
Stille dagesessen hatte, wurde sie sich bewußt, daß das eine große
Unhöflichkeit gegen ihre Tante sei. Sie erinnerte sich, daß sie ihr nur
sehr einsilbige Antworten gegeben hatte.

Die alte Dame hatte die Stimmung ihrer Nichte berücksichtigt, in jenem
feinen Taktgefühl, das die Leute der alten Zeit kennzeichnet. In diesem
Augenblick strickte die Greisin. Sie war allerdings auch ein paarmal
hinausgegangen, um in einem gewissen grünen Zimmer nachzuschauen, wo die
Komtesse schlafen sollte und wo die Dienstmädchen das Gepäck
unterbrachten. Dann nahm sie wieder Platz in einem großen Lehnstuhl und
musterte insgeheim die junge Frau. Julie schämte sich nun, daß sie sich
ihren unwiderstehlichen Grübeleien so ganz überlassen hatte, und
versuchte ein wenig darüber zu spötteln, um desto eher Verzeihung dafür
zu erlangen.

»Meine liebe Kleine, wir kennen den Schmerz von Witwen,« antwortete die
Tante.

Julie hätte vierzig Jahre alt sein müssen, um die Ironie zu verstehen,
die um die Lippen der alten Dame spielte.

Am andern Tage war die Komtesse besser gestimmt und plauderte viel. Frau
de Listomere verzweifelte nicht mehr daran, mit dieser jungen Gattin,
die sie erst für ein unzugängliches, blödes Wesen gehalten hatte, auf
vertrauten Fuß zu gelangen. Sie schwatzte mit ihr von den Freuden des
Landes, von Bällen und den Häusern, wo sie Besuche machen könnten.
Zuerst wies Julie alle Aufforderungen, außerhalb des Hauses Zerstreuung
zu suchen, zurück. Trotzdem die alte Dame sehnsüchtig danach verlangte,
sich mit ihrer schönen Nichte zu zeigen, gab sie es denn endlich auf,
sie der Gesellschaft der Stadt vorzustellen. In dem Kummer über den Tod
des Vaters, um den sie noch trauerte -- sie trug sogar noch
Trauerkleider -- hatte sie einen Vorwand gefunden für ihre Liebe zur
Einsamkeit und ihre stete Betrübnis.

Nach Verlauf von acht Tagen bewunderte die alte Dame Juliens engelhafte
Sanftmut, Bescheidenheit, Anmut und duldsamen Geist und interessierte
sich außerdem über die Maßen für die geheimnisvolle Melancholie, die
dieses junge Herz zu verzehren schien. Die Komtesse gehörte zu jenen
Frauen, die dazu geboren sind, liebenswürdig zu sein, und, wohin sie
auch gehen, Glück mit sich zu bringen scheinen. Ihre Gesellschaft wurde
der Marquise de Listomere so lieb und kostbar, daß sie schließlich in
ihre Nichte ganz vernarrt war und sich gar nicht mehr von ihr trennen
wollte.

Ein Monat genügte, so hatte sich zwischen ihnen eine ewige Freundschaft
gebildet. Nicht ohne Verwunderung bemerkte die alte Dame, daß sich in
den Gesichtszügen der Frau d'Aiglemont eine große Veränderung zu zeigen
begann. Die lebhafte Färbung, die an dem Antlitz aufgefallen war, verlor
sich allmählich, und es überzog sich mit einer matten Blässe. Während
Julie ihre jugendliche Blüte verlor, ließ zugleich auch ihre traurige
Stimmung nach. Mitunter erweckte die Greisin bei ihrer jungen Verwandten
Ausbrüche der Heiterkeit oder ausgelassenes Lachen, das aber bald wieder
von einem unzeitgemäßen Gedanken zurückgedrängt wurde. Sie erriet, daß
weder die Erinnerung an den Vater noch die Abwesenheit Victors der Grund
zu der tiefen Schwermut war, die einen Schleier über das Leben ihrer
Nichte warf. Und dann vermutete sie dahinter allerlei Arges, und es
wurde ihr schwer, auf die wahre Ursache des Übels zu kommen; denn die
Wahrheit finden wir vielleicht stets nur durch Zufall.

Endlich offenbarte Julie eines Tages den Augen der erstaunten Tante ein
neues Wesen: sie vergaß völlig die verheiratete Frau, zeigte alle
Naivität eines unbesonnenen Mädchens, einen Freimut, eine Kindlichkeit,
die eines Backfisches würdig waren, und all den zarten, manchmal so
tiefen Geist, der die junge Welt in Frankreich auszeichnet. Nun nahm
Frau de Listomere sich fest vor, die Geheimnisse dieser Seele zu
ergründen, deren Absonderlichkeit ebenso undurchdringlich schien wie das
Gemüt einer Meisterin der Verstellungskunst.

Es begann zu dunkeln, und die beiden Damen saßen vor einem Fenster, das
auf die Straße hinausging. Julie schaute wieder nachdenklich vor sich
hin, da ritt ein Herr vorüber.

»Auch einer von denen, die Sie auf dem Gewissen haben,« sagte die alte
Dame.

Frau d'Aiglemont sah ihre Tante halb verwundert, halb beunruhigt an.

»Es ist ein junger Engländer von Adel, Seine Ehren Arthur Ormond, der
älteste Sohn des Lord Grenville. Von ihm ist Interessantes zu berichten.
Im Jahre 1802 kam er nach Montpellier. Die Ärzte hatten ihn dorthin
geschickt, und er hoffte, in der Luft dieser Gegend Heilung eines
Brustleidens zu finden, dem er zu erliegen fürchtete. Wie alle seine
Landsleute, wurde er nun von Napoleon bei Ausbruch des Krieges hier
zurückgehalten. Dieses Ungeheuer muß ja fortwährend Krieg führen, das
geht nicht anders. Zu seiner Zerstreuung hat nun der junge Brite
angefangen, seine Krankheit, die man für tödlich hielt, zu studieren.
So hat er allmählich Gefallen an Anatomie und Arzneikunde gefunden. Er
ist nun ganz vernarrt in diese Künste, was bei einem Manne von Stand
etwas Außergewöhnliches ist. Freilich, der Regent hat sich ja auch mit
Chemie befaßt. Kurz, Arthur hat erstaunliche Fortschritte gemacht --
selbst die Professoren von Montpellier haben sich darüber gewundert. Das
Studium hat ihn über sein unfreiwilliges Exil hinweggetröstet, und
gleichzeitig hat er sich gründlich ausgeheilt. Man sagt, er habe zwei
Jahre lang fast gar nicht gesprochen, sehr behutsam geatmet und in einem
Stalle geschlafen. Getrunken hat er nur die Milch einer Kuh, die er sich
aus der Schweiz hat kommen lassen, und gegessen hat er fast nichts als
Kresse. Seit er in Tours weilt, hat er mit niemand verkehrt; er ist
stolz wie ein Pfau -- aber Sie haben es ihm wahrscheinlich angetan, denn
meinetwegen reitet er gewiß nicht zweimal täglich unter unsern Fenstern
vorüber. Das macht er erst, seit Sie hier sind. Sicherlich ist er
verliebt in Sie.«

Diese Worte erweckten die Komtesse wie aus einem verzauberten Schlummer.
Ein Lächeln, eine Handbewegung entschlüpften ihr, über die die Marquise
erstaunt war. Anstatt jene unbewußte Befriedigung zu verraten, die
selbst die strengste Frau empfindet, wenn sie erfährt, sie mache einen
Mann unglücklich, blieb Juliens Blick matt und kalt. Ihr Gesicht drückte
einen an Abscheu grenzenden Widerwillen aus. Es lag darin aber nicht die
Geringschätzung, mit der eine liebende Frau sich über die ganze Welt
hinwegsetzt, zugunsten eines einzigen Wesens; nein, Julie glich in
diesem Augenblick einer Person, in der die allzu frische Erinnerung an
eine Gefahr noch nicht ganz verheilt ist. Die Tante war schon fest
überzeugt gewesen, daß Julie ihren Neffen nicht liebe -- doch nun
entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, daß sie überhaupt niemand liebte.
Mit Zittern wurde sie sich klar darüber, daß sie in Julie ein aus allen
Himmeln herabgestürztes Wesen erkennen müsse, die an einem Tage,
vielleicht in einer Nacht, vollauf erkannt habe, was für eine Null sie
zum Manne hatte.

»Sie kennt ihn -- es ist nicht anders,« dachte sie, »und nun wird mein
Neffe bald auch die Schattenseiten der Ehe kennen lernen.«

Sie nahm sich nun vor, Julie für die monarchischen Lehren zu gewinnen,
die im Jahrhundert Ludwigs XV. gegolten hatten. Aber ein paar Stunden
später erkannte oder vielmehr erriet sie die in der Welt ziemlich
häufige Stimmung, aus der Juliens Melancholie entsprang.

Plötzlich nachdenklich geworden, zog Julie sich früher, als sie es sonst
pflegte, zurück. Als die Kammerfrau ihr beim Entkleiden behilflich
gewesen war und sie dann allein gelassen hatte, blieb Julie, statt zu
Bett zu gehen, vorm Kamin sitzen, auf einem Ruhebett von gelbem Sammet,
einem altertümlichen Möbel, das betrübten wie glücklichen Menschen eine
gleich behagliche Stätte bot. Sie weinte, seufzte, sann nach; dann
rückte sie einen kleinen Tisch heran, suchte Papier und begann zu
schreiben. Die Stunden vergingen rasch; Julie schüttete in diesem Briefe
ihr Herz ans, doch schien ihr das nicht leicht zu fallen; jeder Satz
führte endlose Träumereien herbei, und plötzlich brach sie in Tränen aus
und hielt inne.

In diesem Augenblick schlug die Uhr zwei. Der Kopf war ihr schwer, wie
der einer Sterbenden, und das Kinn sank auf die Brust. Als Julie aufsah,
erblickte sie ihre Tante, die so plötzlich aufgetaucht war, als sei sie
aus den über die Wände gespannten Tapeten herausgetreten.

»Was haben Sie denn, meine Kleine?« fragte die Tante. »Warum so lange
wach bleiben, und vor allem warum einsame Tränen vergießen? In Ihrem
Alter?«

Sie setzte sich ohne Umstände neben ihre Nichte und verschlang mit den
Blicken den angefangenen Brief.

»Haben Sie an Ihren Mann geschrieben?«

»Weiß ich denn, wo er steckt?« antwortete die Komtesse.

Die Tante nahm das Blatt und las es. Sie hatte mit Vorbedacht die Brille
mitgebracht. Das unschuldige Geschöpf überließ ihr den Brief, ohne den
geringsten Einspruch zu erheben. Wenn sie so alle Willenskraft vergaß,
so war das weder ein Mangel an Frauenwürde, noch ein Gefühl geheimer
Schuld; nein, ihre Tante hatte sie hier in einem jener kritischen
Momente überrascht, wo das Gemüt sich keinen Rat weiß, wo alles einerlei
ist, das Gute und das Böse, die Verschwiegenheit und die Offenbarung.
Gleich einem jungen tugendsamen Mädchen, das einen Liebhaber mit
Verachtung überhäuft, am Abend aber sich ein Herz wünscht, dem es seinen
Kummer anvertrauen kann, ließ Julie es ohne ein Wort der Gegenrede zu,
daß das Siegel verletzt wurde, mit dem für jeden taktvollen Menschen ein
offener Brief versehen ist, und sah nachdenklich zu, wie die Marquise
las:

»Meine liebe Luise! Warum mahnst Du mich so oft um Erfüllung des
unklügsten Versprechens, das zwei unwissende junge Mädchen sich geben
konnten? Du fragst Dich oft, schreibst Du, warum ich seit sechs Monaten
auf Deine Fragen nicht geantwortet hätte? Wenn Du mein Schweigen nicht
verstanden hast, so wirst Du die Ursache wohl heute erraten, wenn Du
die Geheimnisse vernimmst, die ich Dir offenbaren werde. Ich hätte sie
auf ewig in der Tiefe meines Herzens begraben, wenn Du mich nicht von
Deiner bevorstehenden Verheiratung benachrichtigt hättest. Du willst
also heiraten, Luise. Bei diesem Gedanken zittere ich. Arme Kleine,
heirate. Nach wenigen Monaten wirst Du nur noch mit bitterstem Schmerz
Dich dessen erinnern, was wir einstmals gewesen sind, als wir eines
Abends in Ecouen alle beide unter die größten Eichen des Berges gegangen
waren und das schöne Tal zu unseren Füßen betrachteten, die Strahlen der
untergehenden Sonne bewunderten, deren Glanz uns umgab. Wir setzten uns
auf einen Steinblock und verfielen in eine Verzückung, auf die die
sanfteste Melancholie folgte. Du als erste fandest, diese ferne Sonne
spräche uns von der Zukunft. Wir waren gar neugierig und närrisch
damals. Erinnerst Du Dich all unserer Überschwenglichkeiten? Wir küßten
uns -- wie zwei, die sich lieben. Wir gelobten uns, daß, wer sich zuerst
verheiraten würde, der anderen getreu die Geheimnisse der Ehe, die
Freuden, die unsere kindliche Seele sich so köstlich ausmalte, berichten
solle. Mit dem Hochzeitsabend wird Deine Verzweiflung beginnen, Luise.
Zu jener Zeit warst Du jung, schön, sorglos, wohl auch glücklich. Man
wird Dich in wenigen Tagen zu dem machen, was ich jetzt bin: häßlich,
leidend und alt. Wenn ich Dir sagte, wie stolz, wie eitel, wie froh ich
war, den Oberst Victor d'Aiglemont zu heiraten, so würde das Torheit
sein. Und doch, wie soll ich es Dir schildern? Ich erinnere mich meiner
selbst nicht mehr. In wenigen Augenblicken war meine Kindheit für mich
zum fernen Traum geworden. Mein Benehmen am Hochzeitstage, mit dem eine
Verbindung geweiht wurde, deren Tragweite mir nicht bewußt war, hat
Anstoß erregt. Mein Vater hat mehrmals versucht, meine Heiterkeit
einzuschränken, denn ich bekundete eine Freude, die man unpassend fand,
und in dem, was ich alles zusammenschwatzte, fand man Durchtriebenheit,
und zwar gerade deshalb, weil ich mir gar nichts Arges dabei dachte. Mit
dem Brautschleier, mit dem Kleide und mit den Blumen trieb ich tausend
Kindereien. Als ich am Abend in dem Zimmer allein war, wohin man mich
mit Pomp geleitet hatte, sann ich nach, mit welchem Schelmenstreich ich
wohl Victor necken könnte. Und während ich seiner harrte, schlug mein
Herz so heftig, wie ehemals an den Silvesterabenden, wenn ich insgeheim
in den Salon schlüpfte, wo die Geschenke ausgelegt waren. Als mein Mann
hereinkam und mich suchte, da war das erstickte Lachen, das ich aus
meinem Versteck unter einem Berg von Musselin hören ließ, ach, der
letzte Ausbruch der holden Fröhlichkeit, die die Tage unserer Kindheit
vergoldete ...«

Als die Matrone den Brief gelesen hatte, der nach einem solchen Anfang
wohl noch traurigere Bemerkungen aufnehmen sollte, legte sie langsam die
Brille auf den Tisch, legte auch den Brief wieder hin und heftete auf
ihre Nichte zwei grüne Augen, deren klares Feuer durch das Alter noch
nicht geschwächt worden war.

»Meine Kleine,« sagte sie, »eine verheiratete Frau kann, ohne den
Anstand zu verletzen, nicht gut so etwas an ein junges Mädchen
schreiben ...«

»Das dachte ich auch schon,« antwortete Julie, ihre Tante unterbrechend,
»und ich schämte mich vor mir selbst, als Sie es lasen ...«

»Wenn uns bei Tische eine Speise nicht zusagt, so brauchen wir sie doch
niemand anderm zu verekeln, mein Kind,« fuhr die Alte gutgelaunt fort,
»und das Heiraten ist doch von Eva an bis zu uns herab immer für was
ganz Herrliches gehalten worden ... Haben Sie keine Mutter mehr?« fragte
die alte Frau.

Die Komtesse zitterte, dann hob sie sanft den Kopf und sagte:

»Seit einem Jahr habe ich mehr als einmal bedauert, daß meine Mutter
nicht mehr am Leben ist; aber es war unrecht von mir, daß ich auf die
Warnungen meines Vaters nicht gehört habe. Er wollte Victor nicht zum
Schwiegersohne.«

Sie sah ihre Tante an, und ein Schauer der Freude trocknete ihre Tränen,
als sie den Ausdruck von Güte bemerkte, der dieses alte Gesicht belebte.
Sie streckte ihre junge Hand der Marquise hin, die sich ihrer so
liebreich anzunehmen schien, und als ihre Finger sich drückten, da war
das Einverständnis zwischen diesen beiden Frauen vollständig.

»Arme Waise!« setzte die Tante hinzu.

Dieses Wort berührte Julie, als wenn ein letzter Lichtstrahl auf sie
fiele. Sie glaubte noch einmal die prophetische Stimme ihres Vaters zu
vernehmen.

»Ihre Hände sind fieberheiß! Ist das immer der Fall?« fragte die Alte.

»Seit sechs oder acht Tagen hat das Fieber mich nicht mehr verlassen,«
antwortete sie.

»Und Sie haben mir das verheimlicht?«

»Ich hab's ja schon ein Jahr lang,« sagte Julie mit einer Art
schamhafter Angst.

»Also, mein kleiner, guter Engel,« fuhr die Tante fort, »ist die Ehe
für Sie bisher nur ein fortgesetzter Schmerz gewesen?«

Die junge Frau wagte nicht zu antworten, aber sie machte eine bejahende
Gebärde, die all ihr Leid verriet.

»Sie sind also unglücklich?«

»O, nein, meine Tante. Victor liebt mich bis zur Vergötterung, und auch
ich bete ihn an, er ist so gut.«

»Ja, lieb haben Sie ihn, aber Sie fliehen ihn dennoch, nicht wahr?«

»Ja -- bisweilen -- er sucht mich zu oft --«

»Wenn Sie allein sind, beunruhigt Sie dann nicht oft die Furcht, er
könne kommen und Sie überraschen?«

»Ach, gewiß, meine Tante. Aber ich habe ihn sehr lieb, das versichere
ich Ihnen.«

»Klagen Sie sich nicht insgeheim an, Sie verständen nicht, an dem, was
ihn erfreut, Freude zu finden, oder Sie seien dessen nicht fähig? Denken
Sie manchmal nicht, die legitime Liebe sei härter zu ertragen, als
vielleicht eine strafbare Leidenschaft?«

»O, das ist's,« sagte sie weinend. »Sie erraten alles -- wo doch für
mich alles ein Rätsel ist. Meine Sinne sind betäubt, ich kann nicht
denken, ja ich lebe kaum noch. Meine Seele ist von einer unbestimmten
Furcht bedrückt, die meine Gefühle zu Eis wandelt und mich in beständige
Lethargie versenkt. Ich bin ohne Stimme, mich zu beklagen, und ohne
Worte, meinen Schmerz auszudrücken. Ich leide, und schäme mich doch zu
leiden, wenn ich Victor so glücklich sehe in dem, was mich tötet.«

»Kindereien, Albernheiten all das!« rief die Tante, deren vertrocknetes
Gesicht sich plötzlich unter einem fröhlichen Lächeln belebte -- einem
Abglanz ihrer Jugendzeit.

»Und auch Sie -- Sie lachen!« sagte die junge Frau in Verzweiflung.

»Ich bin ebenso gewesen,« antwortete die Marquise schlagfertig. »Sind
Sie nicht jetzt, wo Victor Sie allein gelassen hat, wieder junges
Mädchen und ruhig geworden? Ein junges Mädchen, das keine Liebesfreude
mehr hat, aber auch kein Liebesleid?«

Julie machte große, fast stumpfsinnige Augen.

»Nun ja doch, mein Engel, Sie beten Victor an, nicht wahr? Aber Sie
möchten weit lieber seine Schwester als seine Frau sein, und das
Eheleben ist eben gar nicht Ihr Fall?«

»Nun denn -- ja, Tante. Aber warum lächeln Sie dazu?«

»O, Sie haben recht, mein armes Kind. All das ist nicht zum Spaßen. Ihre
Zukunft würde Ihnen mehr als ein Unglück bescheren, wenn nicht ich Sie
unter meine Obhut nähme, und wenn meine langjährige Erfahrung mich nicht
die ganz unschuldige Ursache Ihres Kummers hätte erraten lassen. Mein
Neffe hat sein Glück nicht verdient, der Tropf! Unter der Regierung
unseres vielgeliebten fünfzehnten Ludwig würde eine junge Frau in Ihrer
Lage den Gatten bald bestraft haben, wenn er sich wie ein ungeschlachter
Landsknecht benommen hätte! Der Egoist! Die Soldaten dieses kaiserlichen
Tyrannen sind durch die Bank unwissende Bösewichter! Sie halten
Brutalität für Galanterie; sie kennen die Frauen nicht mehr und
verstehen nicht zu lieben. Sie glauben, die Aussicht, doch bald in den
Tod zu gehen, entbände sie von Rücksicht und Aufmerksamkeiten gegen uns.
Früher wußte man ebenso gut zu lieben wie zu sterben -- beides zu
gleicher Zeit. Meine Nichte, ich werde Ihnen den Mann erziehen. Ich
werde dem traurigen, doch ganz natürlichen Mißstand ein Ende machen.
Wenn das so weiterginge, würden Sie einander schließlich hassen und die
Scheidung herbeiwünschen, sofern Sie nicht daran sterben, ehe es zu
diesem verzweifelten Ende kommt.«

Julie hörte ihrer Tante mit Erstaunen, ja wie betäubt, zu, verwundert,
Worte zu vernehmen, deren Richtigkeit von ihr mehr geahnt als eingesehen
wurde, und ganz entsetzt, aus dem Munde einer vielerfahrenen Verwandten,
nur in milderer Gestalt, den gleichen Einwand wiederzuhören, den ihr
Vater gegen Victor erhoben hatte. Sie hatte vielleicht eine lebhafte
Ahnung dessen, was ihr bevorstände, und empfand ohne Zweifel schon die
Last des Unglücks, das sie bedrücken sollte, denn sie vergoß Tränen und
warf sich in die Arme der alten Dame mit den Worten:

»Seien Sie mir Mutter!«

Die Tante weinte nicht; denn die Revolution hat den Frauen aus dem alten
Königreich das Weinen abgewöhnt. Erst die verliebte Lebensweise und dann
die Schreckensherrschaft haben sie mit den schmerzlichsten Umstürzen
vertraut gemacht, so daß sie nun in den Gefahren des Lebens eine kalte
Würde und eine aufrichtige Zuneigung, doch ohne jede Überschwenglichkeit,
bewahren. Auf diese Weise vergessen sie darüber nie die Etikette und eine
Vornehmheit des Benehmens, die die neuen Sitten sehr zu Unrecht verpönt
haben.

Die Matrone nahm die junge Frau in die Arme und küßte sie auf die Stirn,
mit einer Zärtlichkeit und Anmut, die bei diesen Frauen oft mehr Manier
und Gewohnheit als Sache des Herzens ist. Sie tröstete ihre Nichte mit
süßen Worten, versprach ihr eine glückliche Zukunft, half ihr beim
Schlafengehen und schläferte sie mit liebevollen Vesprechungen ein, ganz
als wenn Julie ihre Tochter gewesen wäre -- eine geliebte Tochter, deren
Hoffnungen und Kümmernisse sie zu ihren eigenen machte; sie sah sich
noch einmal jung in ihrer Nichte, fand sich in ihr noch einmal als
unerfahrenes, hübsches Mädchen.

Glücklich, eine Freundin gefunden zu haben, eine Mutter, der sie hinfort
alles sagen könnte, schlief die Komtesse ein. Als sich am folgenden
Morgen Tante und Nichte mit der tiefen Herzlichkeit und in dem
Einverständnis küßten, die einen Fortschritt im gegenseitigen Fühlen,
eine noch vollständigere Verkettung zweier Seelen beweisen -- vernahmen
sie den Schritt eines Pferdes, wandten gleichzeitig den Kopf und
erblickten den jungen Engländer, der langsam, wie seine Gewohnheit war,
vorbeiritt.

Er schien in gewissem Sinne das Leben, das die beiden einsamen Frauen
führten, studiert zu haben und unterließ nie, sich einzufinden, wenn sie
beim Frühstück oder beim Mittagessen saßen. Sein Pferd ging von selbst
im langsamen Schritt -- er brauchte ihm keinen Wink zu geben; und in der
Zeit, die es brauchte, an dem Raum zwischen den beiden Fenstern des
Eßzimmers vorbeizukommen, warf Arthur einen melancholischen Blick
hinein, meistens ohne von der Komtesse irgendwie beachtet zu werden.

Die Marquise hatte sich die philisterhafte Neugierde angewöhnt, die sich
an die kleinsten Dinge heftet, um dem Leben in der Provinz Abwechslung
zu verleihen, und von der sich selbst überlegene Geister nur schwer
freihalten. Sie fand großen Spaß an der schüchternen, ernsthaften, und
so stillschweigend offenbarten Liebe des Engländers. Diese Blicke im
Vorüberreiten gehörten nun schon zur Tagesordnung, und jedesmal
begrüßte sie Arthurs Vorbeikunft mit einem neuen Scherz.

Als sich die beiden Frauen an diesem Morgen zu Tische setzten,
erblickten sie den Insulaner zu gleicher Zeit. Diesmal begegneten sich
Juliens und Arthurs Augen so voll und unverhohlen, daß die junge Frau
errötete. Sogleich gab der Engländer seinem Pferde die Sporen und
verschwand im Galopp.

»Aber, Madame,« sagte Julie zu ihrer Tante, »was ist da zu machen? Wer den
Engländer hier immer vorbeireiten sieht, muß ja doch merken, daß ich --«

»Jawohl,« antwortete die Tante, sie unterbrechend.

»Sollte ich mir das nicht verbitten?«

»Das hieße ihn auf den Gedanken bringen, er sei Ihnen gefährlich. Und
könnten Sie denn jemand hindern, hin und her zu reiten, wo es ihm
gefällt? Wir werden einfach morgen nicht mehr in diesem Zimmer speisen.
Wenn uns der junge Kavalier hier nicht mehr sieht, wird er diese Liebe
durchs Fenster einstellen. Sehen Sie, mein liebes Kind, so muß sich eine
Frau benehmen, die weltgewandt ist.«

Aber das Unglück Juliens sollte vervollkommnet werden. Kaum erhoben sich
die beiden Frauen vom Tische, so traf plötzlich Victors Kammerdiener
ein. Er kam, so schnell sein Pferd hatte laufen können, auf
Schleichwegen von Bourges her und überbrachte der Gräfin einen Brief
ihres Gatten. Victor hatte den Kaiser verlassen und meldete seiner Frau
den Zusammenbruch des Imperiums, die Eroberung von Paris und die
Begeisterung, die an allen Punkten Frankreichs für die Bourbonen
lebendig wurde. Aber da er nicht wußte, wie er bis nach Tours gelangen
sollte, so bat er sie, in aller Eile nach Orleans zu kommen, wo er sich
mit Durchgangspässen für sie einzufinden hoffte. Der Kammerdiener, ein
alter Soldat, sollte Julie von Tours nach Orleans geleiten. Victor hielt
diesen Weg noch für frei.

»Gnädige Frau haben keinen Augenblick zu verlieren,« sagte der
Kammerdiener, »die Preußen, Österreicher und Engländer wollen in Blois
oder in Orleans zueinander stoßen.«

In ein paar Stunden war die junge Frau bereit und reiste in einem alten
Reisewagen ab, den die Tante ihr borgte.

»Warum wollen Sie nicht mit uns nach Paris kommen?« fragte sie, die
Marquise umarmend. »Wo nun die Bourbonen wieder auf den Thron kommen,
würden Sie dort ...«

»Ich würde auch ohne diese unerwartete Rückkehr des Königshauses
hingekommen sein, meine arme Kleine, denn Sie bedürfen meines Ratschlags
zu notwendig, Sie sowohl, als auch Victor. Ich werde also alle
Vorkehrungen treffen, um Sie dort aufzusuchen.«

Julie nahm Abschied. Ihre Kammerzofe begleitete sie, und der alte Soldat
ritt neben dem Wagen her, über seiner Herrin Sicherheit wachend. Als sie
des Nachts auf einer Poststation vor Blois anlangten, sah Julie zum
erstenmal zum Schlag heraus. Es beunruhigte sie, daß ein Gefährt hinter
dem ihren herkam und es von Amboise her nicht verlassen hatte. Nun
wollte sie sehen, wer ihre Reisegefährten seien. Beim Mondlicht erkannte
sie Arthur, er stand drei Schritte vor ihr, die Augen auf ihren Wagen
geheftet. Ihre Blicke begegneten sich.

Die Komtesse warf sich rasch in die Tiefe der Kalesche zurück -- sie
zitterte vor Furcht. Wie die Mehrzahl der jungen wirklich unschuldigen
und unerfahrenen Frauen, erschien es ihr schon als Fehltritt,
unabsichtlich bei einem jungen Manne Liebe erweckt zu haben. Sie empfand
ein unwillkürliches Entsetzen, das ihr vielleicht das Bewußtsein ihrer
Schwäche gegenüber einer so kühnen Annäherung einflößte.

Eine der stärksten Waffen des Mannes ist diese furchtbare Macht, sich
der von Natur regen Phantasie einer Frau, die über eine solche
Verfolgung erschrickt oder sich beleidigt fühlt, immer wieder
aufzudringen. Die Komtesse erinnerte sich des Rates, den die Tante ihr
gegeben hatte, und beschloß, während der ganzen Reise in ihrem
Reisewagen zu bleiben und nicht ein einziges Mal herauszukommen. Aber
auf jeder Station hörte sie den Engländer um die beiden Wagen
herumgehen. Und auf dem Wege hallte ihr das unwillkommene Geräusch
seines Gespanns unaufhörlich in den Ohren. Die junge Frau dachte,
Victor, bei dem sie ja nun bald sein würde, werde schon ein Mittel
wissen, sie gegen diese sonderbare Verfolgung zu schützen.

»Aber wenn mich dieser junge Mann nun nicht liebt?«

Diese Betrachtung war die letzte von allen, die sie anstellte. Als sie
nach Orleans kam, wurde ihre Postkutsche von den Preußen angehalten, auf
den Hof einer Herberge gebracht und dort von Soldaten bewacht.
Widerstand war unmöglich. Die Fremden gaben den drei Reisenden durch
gebieterische Gebärden zu verstehen, sie hätten Befehl, niemand aus dem
Wagen herauszulassen.

Die Komtesse blieb unter Tränen fast zwei Stunden lang die Gefangene
dieser Soldaten, die rauchten, lachten und sie manchmal mit frecher
Neugierde betrachteten. Aber endlich sah sie sie mit Respekt von dem
Wagen wegtreten, und hörte das Trappeln mehrerer Pferde. Bald umringte
eine Schar höherer ausländischer Offiziere, an deren Spitze sich ein
österreichischer General befand, die Kalesche.

»Gnädige Frau,« sagte der General zu ihr, »entschuldigen Sie. Es hat ein
Versehen stattgefunden -- Sie können Ihre Reise ohne Furcht fortsetzen,
und hier haben Sie einen Paß, der Ihnen weiterhin jede Unannehmlichkeit
ersparen wird.«

Die Komtesse nahm das Papier zitternd entgegen und stammelte ein paar
undeutliche Worte. Sie sah neben dem General, und in der Kleidung eines
englischen Offiziers, Arthur stehen, dem sie ohne Zweifel ihre rasche
Befreiung verdankte. Zugleich freudig und betrübt, sah der junge
Engländer zur Seite und wagte nicht einmal heimlich nach Julie
hinzuschauen. -- Dank dem Paß, gelangte Frau d'Aiglemont ohne weiteres
verdrießliches Abenteuer nach Paris. Sie traf hier ihren Gatten, der,
von seinem Treueid gegen den Kaiser entbunden, beim Grafen d'Artois, dem
von seinem Bruder Ludwig XVIII. ernannten Generalleutnant des
Königreichs, schmeichelhafteste Aufnahme gefunden hatte.

Victor wurde in der königlichen Garde zum Range eines Generals
befördert. Inmitten der Festlichkeiten, mit denen man die Rückkehr der
Bourbonen feierte, wurde die arme Julie von einem recht großen Unglück
betroffen, das nicht ohne Einfluß auf ihr Leben bleiben konnte: sie
verlor die Marquise de Listomere-Landon. Die alte Dame starb, als sie
den Herzog von Angoulème in Tours wiedersah, vor Freude und an einem ins
Herz zurückgetretenen Tropfen Blutes. So war denn die Frau tot, der ihr
Alter das Recht gegeben hätte, Victor aufzuklären, die einzige, die
durch triftige Ratschläge eine völlige Harmonie zwischen Mann und Frau
hätte herstellen können. Sie war tot, und Julie fühlte die ganze
Tragweite dieses Verlusts. Nun war sie wieder allein und ohne
Vermittlerin zwischen sich und dem Gatten. Aber jung und schüchtern, wie
sie war, mußte sie im Anfang lieber dulden als klagen. Eben die
Vollkommenheit ihres Charakters ließ es nicht zu, daß sie sich dem
entzöge, was sie für ihre Pflicht hielt, oder nach der Ursache ihrer
Schmerzen forschte. Denn diesen ein Ende zu machen, wäre eine zu heikle
Sache gewesen; Julie hätte gefürchtet, ihre jungfräuliche Scham zu
verletzen.

Ein Wort über die Schicksale des Herrn d'Aiglemont während der
Restauration!

Trifft man nicht viele Menschen, deren völlige Nichtigkeit allen Leuten,
die sie kennen, ein Geheimnis bleibt? Ein hoher Rang, eine vornehme
Geburt, wichtige Ämter, ein gewisser Firnis von Höflichkeit, eine große
Zurückhaltung im Benehmen oder das Blendwerk des Vermögens -- das sind
für sie sozusagen Schutzwälle, die es der Kritik verwehren, bis in ihr
intimes Leben einzudringen. Diese Leute gleichen den Königen, deren
wahre Gestalt, Charakter und Sitten niemals genau bekannt sind oder
richtig beurteilt werden, weil sie entweder aus zu großer Ferne oder aus
zu großer Nähe gesehen werden. Diese Personen, deren Verdienst »gemacht«
ist, fragen, statt zu sprechen, besitzen die Kunst, die andern in Szene
zu setzen, und vermeiden es so, selbst vor sie treten zu müssen; dann
ziehen sie mit glücklichem Geschick jeden am Fädchen seiner
Leidenschaften oder Interessen und spielen auf diese Weise mit Menschen,
die ihnen in Wahrheit überlegen sind, machen sie zu Marionetten und
halten sie für klein, weil es ihnen gelungen ist, sie bis zu sich
herabzuziehen. Sie gelangen dann zu dem ganz natürlichen Triumph des
beschränkten, aber beharrlichen Kopfes über die Rastlosigkeit
bedeutender Köpfe. Um diese leeren Köpfe zu beurteilen und ihren
negativen Wert abzuwägen, muß daher der Beobachter einen mehr feinen,
als überlegenen Geist besitzen, mehr Geduld als Weite des Blickes, mehr
Feingefühl und Takt als Bildung und Größe der Ideen. So viel
Geschicklichkeit diese Usurpatoren auch entfalten, ihre schwachen Seiten
zu verbergen, so ist es ihnen doch sehr schwer, ihre Frauen, Mütter,
Kinder oder den Freund des Hauses zu täuschen; aber diese Personen
bewahren fast immer das Geheimnis eines Gegenstandes, der gewissermaßen
die gemeinsame Ehre angeht, ja sie helfen ihnen oft noch, die Welt zu
täuschen. Wenn dank solcher häuslichen Verschwörung viele Nullen für
höhere Menschen gelten, so machen sie die Zahl der höhern Menschen wett,
die für Nullen gelten, so daß der Gesellschaftsstaat immer die gleiche
Menge scheinbarer Kapazitäten hat.

Man denke sich nun, welche Rolle eine Frau von Geist und Gefühl neben
einem Manne dieses Schlages spielen muß. Man wird erkennen, daß das ein
Leben voll des Schmerzes und der Aufopferung ist, für die gewisse Herzen
voll Liebe und Zartgefühl nichts hienieden schadlos halten kann. Wenn
eine starke Frau sich in so schrecklicher Lage befindet, so entreißt sie
sich ihr durch ein Verbrechen, wie es Katharina II. tat, die trotzdem
die »Große« genannt wird. Aber nicht alle Frauen sitzen auf einem
Throne, und so verzehren die meisten sich in häuslichem Unglück, das,
wenn es auch im Verborgenen bleibt, doch nicht minder schrecklich ist.
Diejenigen, die hienieden unmittelbaren Trost für ihre Leiden suchen,
tauschen, wenn sie ihren Pflichten treu bleiben wollen, eben doch nur
andere Schmerzen dagegen ein, oder wenn sie die Gesetze zugunsten ihres
Vergnügens verletzen, so begehen sie Fehltritte.

Diese Betrachtungen sind sämtlich auf das geheime Leben Juliens
anwendbar. So lange Napoleon auf der Höhe war, war der Graf d'Aiglemont
ein Oberst wie viele andere, ein guter Ordonnanzoffizier, der eine
gefährliche Sendung ausgezeichnet erfüllen konnte, aber unfähig war, ein
Kommando von einiger Wichtigkeit zu übernehmen. Er erregte keinerlei
Neid, und galt für einen der Tapferen, denen der Kaiser seine Gunst
schenkte. Er war das, was man beim Militär schlechtweg »eine gute Haut«
nennt.

Bei der Restauration, die ihm den Titel des Marquis zurückgab, zeigte er
sich nicht undankbar; er ging mit den Bourbonen nach Gand. Diese
Handlungsweise voll Konsequenz schien das Horoskop Lügen zu strafen, das
einstmals sein Schwiegervater gestellt hatte, als er sagte, Victor werde
nicht über den Oberst hinauskommen. Bei der zweiten Rückkehr wurde er
zum Generalleutnant befördert und wieder zum Marquis erhoben und
verfolgte nun das ehrgeizige Ziel, die Pairswürde zu erlangen. Er hielt
sich zu den Grundsätzen und der Politik der Konservativen, umhüllte sich
mit einer Verstellung, hinter der nichts steckte, wurde ernst,
bedächtig, wortkarg und galt für einen tiefen Geist. Er beschränkte sich
beständig auf die Formen der Höflichkeit, verschanzte sich hinter
feststehenden Formeln, ging bald sparsam, bald verschwenderisch mit den
fertigen Phrasen um, die in Paris regelmäßig geprägt wurden, um in
kleiner Münze den Dummköpfen die Bedeutung großer Ideen oder Ereignisse
zu übermitteln, und so hielt die Gesellschaft ihn für einen Mann von
Geschmack und Wissen.

Starr auf seine aristokratischen Ansichten versessen, hatte er den Ruf
eines schönen Charakters. Wenn er zufällig einmal wieder sorglos und
flott wurde, wie er es einst gewesen war, so legten die andern der
Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit seiner Worte einen verborgenen
diplomatischen Sinn bei.

»O, er sagt bloß nicht, was er sagen will,« dachten die sehr ehrbaren
Leute.

Seine Tugenden kamen ihm ebenso zustatten wie seine Fehler. Seine
Tapferkeit brachte ihm einen hohen Ruf als Soldat ein, der auch durch
nichts Lügen gestraft wurde, weil er nie selbständig kommandiert hatte.
Sein männliches, edles Gesicht ließ große Gedanken vermuten, und seine
Physiognomie hatte für niemand, außer seiner Frau, etwas Hohles. Indem
Marquis d'Aiglemont alle Welt seine unechten Talente loben hörte,
glaubte er schließlich selbst daran, daß er einer der hervorragendsten
Männer bei Hofe sei, wo er dank seinem Äußeren zu gefallen wußte und
niemand seine verschiedenen Vorzüge bestritt.

Trotzdem war Herr d'Aiglemont zu Hause bescheiden. Er fühlte instinktiv
die Überlegenheit seiner Frau, so jung sie auch war; und aus diesem
unwillkürlichen Respekt erwuchs eine geheime Macht, zu der die Marquise
wider den eigenen Willen gelangte, so sehr sie sich auch sträubte, die
Bürde auf sich zu nehmen. Als Ratgeberin ihres Mannes lenkte sie dessen
Handlungen und verwaltete das Vermögen. Dieser fast widernatürliche
Einfluß wurde für sie zu einer Art Demütigung und brachte viele
Schmerzen mit sich, die sie in ihrem Herzen begrub. Zuerst sagte sie
sich in ihrem echt weiblichen Instinkt, es sei weit schöner, einem
talentvollen Manne sich unterzuordnen, als einen Tropf zu regieren, und
eine junge Frau, die wie ein Mann denken und handeln müsse, sei weder
Frau noch Mann, bliebe wohl frei von den Mißständen des Weibes, sage
dabei aber doch allen Freuden ihres Geschlechtes ab. Und bei dem allem
erreiche sie doch keines der Vorrechte, das unsere Gesetze dem stärkeren
Geschlecht einräumen.

Hinter ihrem Leben verbarg sich ein recht bitterer Hohn. Mußte sie nicht
zu einem hohlen Götzen beten, ihren Protektor protegieren, einen
armseligen Menschen, der ihr zum Lohn für beständige Aufopferung die
egoistische Liebe der Ehemänner zuwarf, in ihr nichts als das Weib sah.
Entweder aus Unwissen oder aus Gleichgültigkeit beging er das tiefe
Unrecht, daß er sich weder darum kümmerte, was ihr Freude mache, noch
sich darum sorgte, weshalb sie immer so traurig sei und so auffallend
abnehme.

Wie die meisten Ehemänner, die das Joch eines überlegenen Geistes
verspüren, schloß der Marquis, um seine Eigenliebe zu retten, aus
Juliens physischer Schwäche auch auf moralische Schwäche, und klagte
gern das Geschick an, das ihm ein kränkliches Mädchen zur Frau gegeben
hätte. Kurz, er stellte sich als das Opfer hin, während er doch der
Henker war.

Die Marquise, auf der alles Elend dieses tristen Daseins lastete, mußte
ihren blöden Gebieter noch anlächeln, noch mit Blumen ein Trauerhaus
ausschmücken und vor einem von geheimem Jammer blassen Gesicht die Maske
des Glücks tragen. Diese Verantwortlichkeit für die Ehre des Hauses bei
großartiger Selbstverleugnung verlieh der jungen Marquise unmerklich
eine frauliche Würde, ein Bewußtsein der Tugend, die ihr zum Schutzwall
gegen die Gefahren der Welt dienten. Und wenn wir dieses Herz bis auf
den Grund erforschen wollen, so hatte vielleicht das tiefinnere,
verborgene Unglück, mit dem ihre erste, ihre naive Jungmädchenliebe
endete, ihr Abscheu vor der Leidenschaft eingeflößt; vielleicht begriff
sie nie den hinreißenden Trieb, noch die verbotenen, doch berauschenden
Freuden, über die gewisse Frauen die Gesetze der Klugheit vergessen, auf
denen die Gesellschaft beruht.

Sie verzichtete wie auf einen Traum auf die sanften Freuden, auf die
zarte Harmonie, die Madame de Listomere-Landon in ihrer langjährigen
Erfahrung ihr verheißen hatte; sie wartete mit Ergebung auf das Ende
ihrer Schmerzen, indem sie jung zu sterben hoffte. Seit ihrer Rückkehr
aus der Touraine war ihre Gesundheit täglich schwächer geworden, und das
Leben schien ihr nur noch durch das Leiden zugemessen zu sein -- ein
vornehmes Leiden übrigens, eine dem Anschein nach fast wonnevolle
Krankheit, die in den Augen oberflächlicher Menschen für die Grille
eines Hausdämchens gelten konnte.

Die Ärzte hatten die Marquise dazu verurteilt, auf einem Diwan zu
liegen, wo sie sich mit Blumen umgab und nun dahinsiechte wie diese.
Ihre Schwäche verbot ihr das Gehen und den Aufenthalt in frischer Luft;
sie fuhr nur noch im geschlossenen Wagen aus. Beständig umgeben von
allen Wundern unsers Luxus und unserer modernen Industrie, glich sie
weniger einer Kranken als einer blasierten Königin. Einige Freunde, die
ihre Krankheit und Schwäche entzückend fanden und vielleicht auch
bestimmt darauf rechneten, daß sie in Zukunft wieder ganz gesund würde,
besuchten sie, denn sie waren ja immer sicher, sie zu Hause zu treffen,
brachten ihr alle Neuigkeiten und unterrichteten sie über die tausend
kleinen Ereignisse, die das Leben in Paris so abwechslungsreich machen.

Ihre Melancholie war ernst und tief, aber es war die Melancholie des
Überflusses. Die Marquise d'Aiglemont glich einer schönen Blume, deren
Wurzel von einem schwarzen Insekt angefressen ist. Sie ging bisweilen in
Gesellschaften, nicht aus Geschmack daran, sondern um den Forderungen
der Stellung zu genügen, nach der ihr Mann strebte. Ihre Stimme und die
Vollendung ihres Gesangs trugen ihr den Beifall ein, der fast immer
einer jungen Frau schmeichelt. Aber was nützten ihr Erfolge, die weder
mit ihrem Empfinden noch mit ihrem Hoffen etwas zu tun hatten? Ihr Mann
machte sich nichts aus Musik. Zuletzt fühlte sie sich stets befangen in
den Salons, wo ihre Schönheit ihr Huldigungen einbrachte. Ihre Situation
erregte dort eine Art grausamen Mitleids, eine kalte Neugierde.

Sie war von einem Fieber befallen, das fast regelmäßig mit dem Tode
endet -- ein Leiden, von dem die Frauen untereinander nur flüsternd
sprechen, und für die unsere Neologie noch keinen Namen hat finden
können. Trotz des Schweigens, in dessen Mitte sich ihr Dasein vollzog,
war die Ursache ihres Leidens für niemand ein Geheimnis. Trotz der Ehe,
noch immer ein junges Mädchen, erfüllten die geringsten Blicke sie mit
Scham. Um nicht erröten zu müssen, erschien sie daher stets fröhlich und
lachend; sie erkünstelte eine falsche Freude, erklärte immer, sie
befände sich sehr wohl oder kam den Fragen nach ihrer Gesundheit mit
schamhaften Lügen zuvor.

Inzwischen trug 1817 ein Ereignis viel dazu bei, den beklagenswerten
Zustand zu ändern, in dem Julie bisher sich befunden hatte. Sie bekam
eine Tochter und wollte selbst stillen. Zwei Jahre lang war bei den
lebhaften Zerstreuungen und unruhevollen Freuden, die die Sorgen einer
Mutter mit sich bringen, ihr Leben weniger unglücklich.

Sie mußte sich nun von ihrem Manne fernhalten. Die Ärzte prophezeiten
eine Besserung; aber die Marquise glaubte nicht an diese auf Vermutungen
gegründeten Weissagungen. Wie alle Leute, für die das Leben keine Freude
mehr hat, erblickte sie vielleicht im Tode eine glückliche Erlösung.

Im Anfang des Jahres 1819 war das Leben für sie grausamer als je zuvor.
In dem Augenblick, wo sie sich des negativen Glücks erfreute, das sie zu
erringen gewußt hatte, sah sie furchtbare Abgründe vor sich: ihr Mann
hatte sich allmählich ihrer entwöhnt. Dieses Erkalten einer schon so
lauen und ganz egoistischen Liebe konnte mehr Unglück herbeiführen, als
sie bei allem feinen Takt und aller Klugheit voraussehen konnte. Obwohl
sie sicher war, eine große Herrschaft über Victor zu behalten und seine
Achtung für immer zu besitzen, fürchtete sie den Einfluß der
Leidenschaften auf einen so unbedeutenden, so lächerlich unüberlegten
Mann. Oft überraschten ihre Freunde sie bei lang anhaltendem Grübeln;
die weniger Tiefblickenden fragten sie scherzend nach dem Geheimnis
ihrer Gedanken, als wenn eine junge Frau an nichts anderes als an
Frivolitäten denken könnte, als wenn nicht fast immer ein tiefer Sinn in
den Gedanken einer Hausmutter läge.

Übrigens führt uns das Unglück, wie das wahre Glück, immer zu
Träumereien. Manchmal spielte Julie mit ihrer Helene, betrachtete sie
mit finsterm Blick und antwortete plötzlich nicht mehr auf die
kindlichen Fragen, die den Müttern so viel Vergnügen machen. Sie sann
dann über ihr Schicksal in Gegenwart und Zukunft nach. Ihre Augen wurden
naß von Tränen, wenn ein plötzliches Erinnern ihr das Bild jener Parade
in den Tuilerien wieder vorzauberte. Die prophetischen Worte ihres
Vaters klangen ihr abermals in den Ohren, und ihr Gewissen tadelte sie,
deren Weisheit verkannt zu haben.

Aus diesem törichten Ungehorsam entsprang all ihr Unglück; und oft wußte
sie nicht, welches unter ihren Leiden am schwersten zu ertragen sei.
Nicht nur blieben die süßen Schätze ihrer Seele ungehoben, nein, sie
konnte selbst in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens zu keinem
Einverständnis mit ihrem Gatten gelangen.

In dem Augenblick, wo die Fähigkeit zu lieben in ihr erstarkte und sich
wärmer regte, erlosch die gesetzliche, die eheliche Liebe unter schweren
Leiden physischer und moralischer Art. Sie hegte nur für ihren Mann
jenes an Verachtung grenzende Mitleid, das auf die Dauer alle Gefühle
vernichtet. Wenn nicht schon ihre Gespräche mit den Freunden, die
Beispiele oder gewisse Abenteuer der vornehmen Gesellschaft sie darüber
belehrt hätten, daß die Liebe auch großes Glück bescheren könne, so
würden ihre Wunden ihr schließlich eine Ahnung von den tiefen, reinen
Wonnen eingeflößt haben, die ein Band zwischen brüderlichen Seelen
bilden müssen.

In dem Bilde, das ihre Erinnerung ihr von der Vergangenheit entwarf,
zeichnete sich das lautere Gesicht Arthurs mit jedem Tage reiner und
schöner ab; doch betrachtete sie es stets nur flüchtig, denn sie wagte
nicht, bei dieser Erinnerung zu verweilen. Die schweigsame, schüchterne
Liebe des jungen Engländers war das einzige Ereignis, das seit der
Verheiratung eine sanfte Spur in diesem düstern, einsamen Herzen
zurückgelassen hatte.

Vielleicht richteten sich alle getäuschten Hoffnungen, alle
fehlgeschlagenen Wünsche, die allmählich Juliens Geist verdüstert
hatten, durch ein natürliches Spiel der Phantasie auf diesen Mann,
dessen Manieren, Gefühl und Art anscheinend eine so große
Übereinstimmung mit ihrem Wesen aufwiesen. Aber dieser Gedanke hatte
immer den Charakter einer Laune, eines Traumes. Nach einem solchen
haltlosen Sinnen, das immer in Seufzern seinen Abschluß fand, erwachte
Julie noch unglücklicher und empfand nur noch tiefer ihre verborgenen
Schmerzen, nachdem sie sie unter den Fittichen eines Glückes
eingeschläfert hatte, das die Phantasie ihr vorgegaukelt.

Manchmal nahmen ihre Klagen einen törichten, tollkühnen Charakter an;
sie verlangte Vergnügungen um jeden Preis. Aber noch öfter verharrte sie
in einer unsagbaren stumpfsinnigen Betäubung, hörte zu, ohne zu
verstehen, oder spann so unklare, unbestimmte Gedanken, daß sie sie in
Worten nicht hätte ausdrücken können.

In ihrem intimsten Wollen, in den Gewohnheiten, die sie einstmals als
junges Mädchen sich erträumt hatte, so tief verwundet, mußte sie nun
ihre Tränen in sich hinein weinen. Wem hätte sie ihr Leid klagen sollen?
Von wem konnte sie verstanden werden? Und dann besaß sie ja auch jenes
äußerste Zartgefühl des Weibes, jene liebliche Schamhaftigkeit des
Gefühls, die darin besteht, keine unnütze Klage laut werden zu lassen,
den Vorteil unbenutzt zu lassen, sobald der Sieg den Sieger ebenso
erniedrigen müßte wie den Besiegten.

Julie suchte Herrn d'Aiglemont ihre Fähigkeit, die ihr eigenen Tugenden
zu verleihen und rühmte sich gegen die Welt eines Glückes, das ihr doch
nicht beschieden war.

All ihr weibliches Feingefühl wurde vollständig umsonst aufgeboten, eine
Rücksicht zu nehmen, die ihr Mann ja doch nicht beachtete, indem er sich
im Gegenteil dadurch in seinem Egoismus bestärkt fühlte. Bisweilen war
sie nahe daran, vor Unglück den Verband zu verlieren; aber zum Glück
führte eine echte Frommheit sie immer wieder zu einer äußersten
Hoffnung: sie nahm Zuflucht zu dem zukünftigen Leben -- eine
bewundernswerte Glaubenskraft ließ sie von neuem ihre schmerzliche Bürde
auf sich nehmen.

Diese furchtbaren Kämpfe, diese innere Zerrissenheit blieben ohne Ruhm,
ihre langen Stunden der Schwermut blieben unbekannt; keine Menschenseele
fing ihre matten Blicke, ihre bitteren Tränen auf -- dem Zufall
hingegeben, erloschen sie in der Einsamkeit.

Die Gefahren der kritischen Lage, zu der die Marquise unmerklich durch
die Kraft der Verhältnisse gelangt war, enthüllten sich ihr in vollem
Ernst erst an einem Abend im Januar 1820.

Wenn zwei Eheleute sich ganz genau kennen und sich seit langem
aneinander gewöhnt haben, wenn eine Frau die geringsten Gebärden eines
Mannes zu deuten weiß und Gefühle oder Dinge, die er ihr verbirgt,
durchschauen kann, dann geht ihr oft nach vorhergehenden Betrachtungen
oder Bemerkungen, die zufällig und ursprünglich auch ohne jeden Belang
gemacht werden, ganz plötzlich ein Licht auf, und oftmals erwacht eine
Frau mit einem Male am Rande oder am Boden eines Abgrunds.

So erriet die Marquise, die sich seit zwei Tagen freute, allein zu sein,
ganz plötzlich das Geheimnis ihres Alleinseins. Ob aus Untreue oder aus
Überdruß, ob aus Edelsinn oder Mitleid mit ihr -- ihr Gatte gehörte ihr
nicht mehr. In diesem Augenblick dachte sie nicht mehr an sich, noch an
ihre Leiden und Opfer; sie war nur noch Mutter, und ihr Augenmerk galt
der Zukunft, dem Glück ihrer Tochter, des einzigen Wesens, von dem ihr
noch ein wenig Glückseligkeit kam -- ihrer Helene, des einzigen Guts,
das sie noch ans Leben fesselte.

Jetzt wollte Julie nicht sterben -- sie wollte ihr Kind vor dem
entsetzlichen Joch bewahren, unter dem eine Stiefmutter das Leben dieses
teueren Wesens erdrücken konnte. Bei dieser neuen Voraussicht eines
finstern Geschicks verfiel sie in eine jener glühenden Grübeleien, die
ganze Jahre verzehren. Zwischen ihr und ihrem Gatten mußte hinfort eine
ganze Welt von Gedanken liegen, deren Last auf sie allein fallen würde.
Bisher war sie gewiß gewesen, von Victor geliebt zu sein, soweit er der
Liebe fähig war, und sie hatte sich einem Glücke hingegeben, das sie
selbst nicht teilte. Aber jetzt hatte sie nicht mehr die Genugtuung, zu
wissen daß ihre Tränen ihren Mann noch immer rühren würden -- jetzt
stand sie allein in der Welt, und es blieb ihr keine Wahl als das
Unglück.

In der Stille und dem Schweigen des Abends erlahmte alle ihre Kraft,
aller Mut brach nieder, und in dem Augenblick, wo sie ihren Diwan und
ihr fast erloschenes Feuer verließ, um zu ihrer Tochter zu gehen und
beim Scheine einer Lampe mit trockenen Augen das Kind anzusehen, kehrte
Herr d'Aiglemont in fröhlichster Stimmung heim. Julie bewog ihn, mit
ihr zusammen die schlafende Helene zu bewundern, aber er fertigte die
Begeisterung seiner Frau mit einer banalen Phrase ab.

»In diesem Alter,« sagte er, »sind alle Kinder niedlich.«

Nachdem er seiner Tochter einen flüchtigen Kuß auf die Stirn gegeben,
ließ er die Vorhänge der Wiege herab, sah Julie an, nahm sie bei der
Hand und führte sie zu dem Diwan, wo eben noch so viele unheilvolle
Gedanken sie bestürmt hatten.

»Sie sind sehr schön heute abend, Madame d'Aiglemont!« rief er mit der
unerträglichen Heiterkeit, deren Leere der Marquise so wohlbekannt war.

»Wo haben Sie den Abend verbracht?« fragte sie, tiefe Gleichgültigkeit
erkünstelnd.

»Bei Madame de Sérizy.«

Er hatte einen Lichtschirm vom Kamin genommen und betrachtete aufmerksam
das Transparent. Die Spur der Tränen, die seine Frau vergossen, hatte er
nicht bemerkt. Julie zitterte. Die Sprache reichte nicht hin, den Strom
von Gedanken in Worte zu fassen, der aus ihrem Herzen hervorbrechen
wollte und den sie dort zurückhalten mußte.

»Madame de Sérizy gibt nächsten Montag ein Konzert und kommt um vor
Sehnsucht, dich dabei zu haben. Du hast dich seit langem nicht in
Gesellschaften sehen lassen, das ist für sie Grund genug, dich dringend
einzuladen. Es ist ein ganz nettes Weib -- und hat dich sehr lieb. Tu
mir den Gefallen und komm mit. Ich habe so gut wie zugesagt für dich ...«

»Ich werde mitkommen,« antwortete Julie.

Der Ton der Stimme, die Betonung und der Blick der Marquise hatten
etwas so Eindringliches, so Merkwürdiges, daß Victor bei all seiner
Oberflächlichkeit seine Frau erstaunt ansah. Das war alles. Julie hatte
erraten, Madame de Sérizy sei die Frau, die ihr das Herz ihres Mannes
entwendete.

Sie versank in eine Träumerei der Verzweiflung und schien angelegentlich
das Feuer zu betrachten. Victor drehte den Lichtschirm in den Fingern,
mit der gelangweilten Miene eines Mannes, der anderswo glücklich gewesen
ist und die Abspannung nach genossener Wonne mit sich bringt. Als er
mehrmals gegähnt hatte, nahm er eine Kerze in die eine Hand, mit der
andern suchte er nachlässig den Hals seiner Frau und wollte sie umarmen.
Aber Julie bückte sich, bot ihm die Stirn und empfing den Abendkuß,
diesen mechanischen, liebelosen Kuß -- ein Stück Komödie, das ihr jetzt
widerwärtig erschien.

Als Victor die Tür geschlossen hatte, sank die Marquise auf einen
Sessel; die Beine versagten ihr den Dienst, sie zerfloß in Tränen. Man
muß den Jammer eines ähnlichen Auftritts erlitten haben, um allen
Schmerz zu begreifen, den diese Szene in sich schloß, um die langen,
furchtbaren Katastrophen zu erraten, zu denen sie führen kann. Die
simplen, nichtssagenden Worte, das Schweigen zwischen dem Ehepaar, die
Gebärden, die Blicke, die Art, wie der Marquis sich vor das Feuer
setzte, alles das hatte dazu gedient, diese Stunde zu einer tragischen
Lösung des einsamen, schmerzvollen Lebens zu machen, das Julie führte.

In ihrem Wahnsinn warf sie sich vor dem Diwan auf die Knie, vergrub das
Gesicht, um nichts zu sehen, und betete zum Himmel. Den gewohnten Worten
ihrer Andacht verlieh sie einen eigenen Ton, eine neue Bedeutung, die
ihrem Gatten das Herz zerrissen hätten, wenn er es hätte hören können.

Acht Tage lang sann sie über ihr Schicksal nach, ihrem Unglück
preisgegeben. Sie faßte es von allen Seiten ins Auge und suchte nach
Mitteln und Wegen, um nicht ihr eigenes Herz belügen zu müssen, die
Herrschaft über den Marquis wiederzugewinnen und so lange zu leben, bis
das Glück ihrer Tochter gesichert war. Sie beschloß nun, mit ihrer
Nebenbuhlerin zu kämpfen, sich wieder in der Gesellschaft zu zeigen,
dort zu glänzen und, nur um den Gatten für sich zu gewinnen, ihm eine
Liebe vorzuheucheln, die sie doch eben nicht empfinden konnte. Und hatte
sie mit ihren Künsten ihn ihrer Macht unterworfen, so wollte sie kokett
zu ihm sein, wie es die kapriziösen Mätressen sind, die sich ein
Vergnügen daraus machen, ihre Verehrer auf die Folter zu spannen.

Diese häßliche Handlungsweise war das einzige Mittel, das ihr in ihrem
Leid noch zur Verfügung stand. So würde sie vielleicht Herrin ihres
Kummers werden, nach ihrem Gefallen über ihren Schmerz gebieten können,
ihn auf seltenere Anfälle einschränken -- die Unterjochung des Mannes,
der Triumph, ihn zum Sklaven eines furchtbaren Despotismus gemacht zu
haben, würde ihr dazu verhelfen. Sie machte sich kein Gewissen daraus,
ihm ein Leben aufzuzwingen, das ihm manchmal lästig werden müßte. Mit
einem Sprunge stürzte sie sich in die kalten Berechnungen der
Gleichgültigkeit, um ihre Tochter zu retten, sie ersann sich auf der
Stelle alle Hinterlisten, alle Lügen der Geschöpfe, die nicht lieben,
das Trugwerk der Koketterie und die grausame Tücke, um deren willen die
Männer das Weib so gründlich hassen, bei dem sie dann angeborene
Verderbnis vermuten.

Unbewußt machten ihre weibliche Eitelkeit, ihr Vorteil und ein geheimer
Wunsch nach Rache gemeinsame Sache mit ihrer Mutterliebe, um sie auf
eine Bahn zu locken, wo nur neue Schmerzen ihrer harrten. Sie hatte eine
zu schöne Seele, einen zu harten Geist, und vor allem zu viel Offenheit,
um sich lange eines solchen Betrugs schuldig zu machen. Sie war gewohnt,
beim ersten Schritt in das Laster -- denn dies war Laster -- in ihrer
Seele zu lesen, und so mußte der Schrei ihres Gewissens die Stimme der
Leidenschaft und des Egoismus übertönen.

In der Tat, bei einer jungen Frau, deren Herz noch rein ist, und bei der
die Liebe jungfräulich geblieben, ist selbst das Gefühl der Mutterschaft
der Stimme der Scham unterworfen. Ist nicht die Scham das ganze Weib?
Aber Julie wollte noch keine Gefahr, noch keinen Fehler in dem neuen
Leben erblicken.

Sie ging zu Madame de Sérizy. Ihre Nebenbuhlerin erwartete, eine
bleiche, schmachtende Frau zu sehen; die Marquise hatte Rot aufgelegt
und zeigte sich in allem Glanze eines Schmuckes, der ihre Schönheit in
das vorteilhafteste Licht setzte.

Gräfin de Sérizy zählte zu jenen Frauen, die sich in Paris eine gewisse
Herrschaft über Mode und Gesellschaft anmaßen. Ihr Urteilsspruch hatte
in dem Kreise, wo sie regierte, nach ihrer eigenen Meinung allgemeine
Geltung; sie hatte die Kühnheit, Worte zu prägen; sie war unumschränkte
Richterin. Literatur, Politik, Männer und Frauen, alles unterlag ihrer
Kritik; und das Urteil anderer schien Frau Sérizy nicht zu beachten. Ihr
Haus war in allen Punkten ein Muster guten Geschmacks.

In diesen von eleganten, schönen Frauen überfüllten Salons triumphierte
nun Julie über die Komtesse. Geistreich, lebhaft, mutwillig, hatte sie
die hervorragendsten Männer des Abends um sich versammelt. Zum größten
Verdruß der Frauen war dabei ihre Toilette ganz untadelhaft, und alle
beneideten sie um einen Rockschnitt, um eine Taillenform, deren Wirkung
man allgemein dem Genie einer unbekannten Schneiderin zuschrieb, denn
die Frauen glauben immer lieber an die Kunst und Wissenschaft einer
Schneiderin als an die Anmut und Vollkommenheit derer, die so gebaut
sind, daß sie das Werk dieser Schneiderin nun auch gut tragen können.

Als Julie sich erhob, um am Piano die Romanze der Desdemona zu singen,
liefen die Männer aus allen Salons herbei, um diese berühmte Stimme zu
hören, die so lange nicht erklungen, und ein tiefes Schweigen trat ein.
Die Marquise fühlte sich heftig beklommen, als sie die Köpfe an den
Türen sich drängen und alle Blicke auf sich geheftet sah. Sie suchte mit
den Augen ihren Mann, warf ihm einen koketten Blick zu und sah mit
Vergnügen, daß er sich in diesem Moment in seiner Eigenliebe sehr
geschmeichelt fühlte.

Glücklich über diesen Triumph, entzückte sie in dem ersten Teile des
»+Al piu salice+« die ganze Versammlung. Noch nie hatte die Malibran
oder die Pasta einen Gesang hören lassen von solcher Vollendung des
Gefühls und der Betonung. Aber als sie fortfahren wollte, sah sie sich
unter den Gruppen um und erblickte Arthur, dessen unverwandter Blick sie
nicht verließ. Da zitterte sie heftig, und ihre Stimme schlug um. Madame
de Sérizy eilte von ihrem Platz auf die Marquise zu.

»Was haben Sie, meine Teure? O, arme Kleine, sie ist leidend! Ich hatte
gleich meine Befürchtungen, als sie sich daran wagte -- es mußte ja
ihre Kräfte übersteigen.«

Die Romanze wurde unterbrochen. Julie hatte in ihrem Verdruß nicht den
Mut fortzufahren und ließ das falsche Mitleid ihrer Nebenbuhlerin über
sich ergehen. Alle Frauen flüsterten untereinander, und indem sie über
diesen Vorfall sprachen, errieten sie den zwischen der Marquise und Frau
de Sérizy entbrannten Kampf und verschonten auch die letztere nicht mit
ihrer Schmähsucht.

Die seltsamen Ahnungen, die so oft Juliens Herz erschüttert hatten,
waren mit einem Schlag zur Wahrheit geworden. Wenn sie an Arthur dachte,
hatte es ihr gefallen, sich vorzustellen, daß ein Mann von so sanftem
Äußern seiner ersten Liebe treu geblieben sein müßte. Manchmal hatte sie
sich geschmeichelt, der Gegenstand dieser schönen Leidenschaft zu sein,
der reinen und wahren Leidenschaft eines jungen Mannes, dessen ganzes
Denken und Dichten seiner Geliebten gehörte, der keine Winkelzüge kennt,
der über Dinge errötet, über die sonst nur eine Frau errötet, der wie
eine Frau denkt, ihr keine Nebenbuhlerin gibt und sich ihr überläßt,
ohne nach Ehrgeiz, Ruhm oder Vermögen zu fragen.

Alles dies hatte sie aus Torheit, aus Zeitvertreib von Arthur gedacht.
Nun glaubte sie plötzlich ihren Traum verwirklicht zu sehen; sie las auf
dem fast weiblichen Gesicht des jungen Arthur die tiefen Gedanken, die
sanfte Melancholie, die schmerzliche Ergebung, denen sie preisgegeben
war. Sie erkannte sich in ihm wieder. Unglück und Schwermut sind die
beredtesten Vermittler der Liebe und bringen zwei leidende Wesen mit
unglaublicher Schnelligkeit in Einklang. Der innere Blick und die Art,
Dinge oder Ideen in sich aufzunehmen, sind bei ihnen vollständig und
zutreffend. Die Heftigkeit der Überraschung, die die Marquise erlitt,
enthüllte ihr daher auch alle Gefahren der Zukunft. Sie war glücklich,
in ihrem gewohnten leidenden Zustand einen Vorwand für ihre Verwirrung
zu finden und ließ sich gern von dem spitzfindigen Mitleid der Frau de
Sérizy überschütten.

Die Unterbrechung der Romanze war ein Ereignis, über das sich mehrere
Personen auf verschiedene Weise unterhielten. Die einen beklagten
Juliens Geschick und bedauerten es, daß eine so hervorragende Frau für
die Gesellschaft verloren sei; die andern wollten den Grund ihres
Leidens und der Einsamkeit, in der sie lebte, genau kennen.

»Nun wohl, mein teurer Ronquerolles,« sagte der Marquis zu dem Bruder
der Frau de Sérizy, »du beneidest mich um mein Glück beim Anblick der
Frau d'Aiglemont, und du machst mir den Vorwurf, ich sei ihr untreu? Ei,
du würdest mein Schicksal sehr wenig beneidenswert finden, wenn du wie
ich ein oder zwei Jahre lang neben einer hübschen Frau leben müßtest,
ohne daß du es wagen dürftest, ihr die Hand zu küssen, aus Furcht, du
könntest sie zerbrechen. Gib dich nie mit diesen zarten Kleinodien ab --
sie sind nur gut dazu, unter Glas gestellt zu werden -- sie sind so
zerbrechlich und so wertvoll, daß wir uns immer in acht nehmen müssen.
Führst du denn dein schönes Pferd oft aus? Man hat mir gesagt, du hast
Angst, es könnte von Platzregen oder Schneefall überrascht werden. Nun,
das ist dieselbe Geschichte wie bei mir. Es ist wahr, ich kann auf die
Tugend meiner Frau einen Eid leisten; aber meine Ehe ist ein
Luxusartikel und wenn du glaubst, ich sei verheiratet, so irrst du dich.
Daher ist auch meine Untreue in gewissem Maße berechtigt. Ich möchte
gerne wissen, wie ihr euch an meiner Stelle verhieltet, ihr Herren
Lacher. Viele Männer würden weit weniger Federlesens mit ihrer Frau
machen als ich. Ich bin überzeugt,« setzte er mit leiser Stimme hinzu,
»Frau d'Aiglemont ahnt nichts; und ich wäre gewiß auch sehr im Unrecht,
wenn ich mich beklagen wollte, ich bin sehr glücklich. Nur ist nichts
für einen gefühlvollen Mann lästiger, als ein armes Wesen leiden zu
sehen, an das man gebunden ist --«

»Du bist also sehr gefühlvoll?« antwortete Herr de Ronquerolles. »Na ja,
du bist ja auch selten zu Hause.«

Dieses freundschaftliche Epigramm erweckte Lachen unter den Zuhörern.
Aber Arthur blieb kalt und ruhig -- er war einer von den wenigen
Kavalieren, die den Ernst zur Grundlage ihres Charakters machen. Die
sonderbaren Worte dieses Ehemannes riefen ohne Zweifel gewisse
Hoffnungen in dem jungen Engländer wach. Er trachtete mit Ungeduld nach
einem Augenblick, wo er mit Herrn d'Aiglemont allein sein könnte, und
die Gelegenheit dazu bot sich bald.

»Mein Herr,« sagte er zu ihm, »ich sehe mit unendlichem Schmerz, in
welchem Zustand sich die Frau Marquise befindet, und wenn Sie erfahren,
daß sie eines elenden Todes sterben muß, wenn nicht eine besondere Kur
angewendet wird, so denke ich, Sie werden mit dem Leiden ihrer Frau
keinen Scherz treiben. Wenn ich so zu Ihnen spreche, so bin ich dazu in
gewissem Sinne berechtigt, denn ich habe die Gewißheit, Frau d'Aiglemont
retten und dem Leben und dem Glück zurückgeben zu können. Es ist wenig
natürlich, daß ein Mann meines Ranges Arzt sei, allein der Zufall hat es
so gefügt, daß ich Medizin studiert habe. Ich leide so sehr an der
Langeweile,« fuhr er fort und er heuchelte einen kalten Egoismus, der
seinen Zwecken dienen sollte, »und es ist mir daher eine angenehme
Zerstreuung, meine Zeit und meine Reisen dem Wohle eines leidenden
Wesens zu widmen. Das tu ich lieber, als blödem Zeitvertreib
nachzujagen. Krankheiten dieser Art finden selten Heilung, weil sie
zuviel Sorgfalt, zuviel Geduld und Muße erfordern; vor allem gehört dazu
Geld, man muß reisen können und aufs peinlichste die Vorschriften
befolgen, die jeden Tag anders lauten und doch nichts Unangenehmes
haben. Wir sind zwei Kavaliere,« fuhr er fort, und gab diesem Worte die
Bedeutung des englischen Ausdrucks »Gentlemen«, »und können uns
verständigen. Ich erkläre Ihnen, daß Sie jeden Augenblick Richter meines
Verhaltens sein sollen, sobald Sie meinen Vorschlag annehmen. Ich werde
nichts unternehmen, ohne Sie zu Rate gezogen zu haben. Sie sollen alles
überwachen, und ich bürge für den Erfolg, wenn Sie willens sind, sich
nach meinen Angaben zu richten, das heißt vor allem,« flüsterte er ihm
ins Ohr, »lange Zeit nicht der Gatte der Frau d'Aiglemont zu sein.«

»Das steht fest, Mylord,« sagte der Marquis lachend, »nur ein Engländer
kann mir einen so bizarren Vorschlag machen. Gestatten Sie mir, ihn
weder zurückzuweisen noch anzunehmen. Ich werde es mir überlegen. Vor
allem muß er meiner Frau unterbreitet werden.«

In diesem Augenblick war Julie wieder am Piano erschienen. Sie sang das
Lied der Semiramis: »+Son regina, son guerriera.+« Einmütiger Beifall --
aber gedämpft, wie er eben im Viertel der vornehmen Welt gezollt wird --
bekundete die Begeisterung, die sie entzündet hatte.

Als d'Aiglemont seine Frau nach Hause führte, erkannte sie, halb mit
Unruhe, halb mit Freude den raschen Erfolg ihrer Versuche. Ihr Gatte,
aufgerüttelt durch die Rolle, die sie gespielt hatte, machte ihr ein
paar Komplimente, schlug dabei aber den Ton an, den er einer
Schauspielerin gegenüber angewendet haben würde. Julie fand es spaßhaft,
als tugendhafte, verheiratete Frau so behandelt zu werden; sie wollte
mit ihrer Macht nur spielen, und ihre Herzensgüte ließ sie daher in
diesem ersten Kampfe noch einmal unterliegen -- allein es war die
furchtbarste aller Lehren, die das Schicksal ihr erteilte.

Gegen zwei oder drei Uhr morgens saß Julie in düsterer, träumerischer
Stimmung, aufrecht im ehelichen Bett; eine Lampe verbreitete ein
ungewisses Licht in dem Zimmer, die tiefste Stille herrschte; und seit
etwa einer Stunde vergoß die Marquise, der peinigendsten Reue
preisgegeben, Tränen, deren Bitterkeit niemand nachfühlen kann als eine
Frau vielleicht, die sich in der gleichen Lage befunden hat. Es gehört
die Seele Juliens dazu, um wie sie das Entsetzen einer berechneten
Liebkosung zu fühlen, um im selben Maße wie sie von einem kalten Kuß
verletzt zu sein. Nach einer solchen schmerzlichen Erniedrigung war ihr
Herz zu endgültiger Abtrünnigkeit gelangt -- das letzte Fädchen ihrer
Ehe war gerissen. Sie verachtete sich selbst, sie verwünschte die
Heirat, sie wäre am liebsten tot gewesen, und wenn ihre Tochter nicht
geschrien hätte, würde sie sich vielleicht zum Fenster hinaus aufs
Straßenpflaster geworfen haben.

Herr d'Aiglemont schlief friedlich an ihrer Seite -- die heißen Tränen,
die seine Frau auf ihn fallen ließ, weckten ihn nicht auf.

Am andern Tage gelang es Julien wieder, sich fröhlich zu stellen. Sie
fand die Kraft, glücklich zu erscheinen und, wenn auch nicht ihre
Melancholie, so doch einen unüberwindlichen Abscheu zu verbergen. Von
diesem Tage an betrachtete sie sich nicht mehr als untadelhafte Frau.
Hatte sie sich nicht selbst belogen? War sie von nun an nicht der
Heuchelei fähig, und konnte sie nicht später in den ehebrecherischen
Handlungen einen erstaunlichen Scharfsinn entfalten? Ihre Ehe war die
Ursache dieser Perversität a priori, die vorderhand noch unausgeübt
blieb. Indessen hatte sie sich schon die Frage vorgelegt, warum sie sich
einem Manne, der sie liebte und den sie liebte, versagen solle, da sie
sich doch gegen ihr Herz und gegen die Stimme der Natur einem Ehemanne
hingegeben hatte, den sie nicht mehr liebte.

Alle Fehltritte und vielleicht auch alle Verbrechen haben zur Grundlage
einen schlechten Gedankengang oder ein Übermaß an Egoismus. Wenn die
Gesellschaft bestehen soll, so muß jeder einzelne die individuellen
Opfer bringen, die die Gesetze erfordern, das heißt, den Trieb seiner
Natur dem Gesetz gemäß eindämmen. Wenn man die Vorteile der Gesellschaft
mitgenießt, hat man auch die Verpflichtung, die Bedingungen
innezuhalten, die die Grundfesten der Gesellschaft bilden. Die
Unglücklichen, die kein Brot haben und doch das Eigentum achten müssen,
sind nicht minder zu beklagen, als die Frauen, die in ihrem Sehnen und
in der Zartheit ihrer Natur verletzt sind.

Einige Tage nach dieser Szene, deren Geheimnis in dem ehelichen Bett
begraben blieb, stellte d'Aiglemont seiner Frau Lord Grenville vor.
Julie empfing Arthur mit kalter Höflichkeit, die ihrer Verstellungskunst
Ehre machte. Sie legte ihrem Herzen Schweigen auf, hängte einen Schleier
vor ihren Blick, gab ihrer Stimme Festigkeit und vermochte so noch
Herrin ihrer Zukunft zu bleiben. Nachdem sie durch diese Mittel, die den
Frauen sozusagen angeboren sind, die ganze Tiefe der Liebe erkannt
hatte, die sie eingeflößt, lächelte Frau d'Aiglemont zu der Hoffnung auf
baldige Genesung, und widersetzte sich nicht mehr dem Willen ihres
Mannes, der sie mit Gewalt dazu zu bewegen suchte, sich bei dem jungen
Doktor in die Kur zu geben. Dennoch wollte sie sich Lord Grenville nicht
eher anvertrauen, als bis sie seine Worte und Manieren genau erforscht
hatte und überzeugt sein konnte, daß er den Edelmut besitzen würde,
schweigend zu leiden. Sie hatte die absoluteste Macht über ihn und
mißbrauchte sie bereits -- doch war sie nicht Weib? -- -- -- --

Montcontour war eine alte Burg und lag auf einem der gelblichen Felsen,
an deren Fuß die Loire vorbeifließt -- unweit jener Stelle, wo im Jahre
1814 Julie einmal Halt gemacht hatte. Es ist eins der kleinen Schlösser
der Touraine, weiß, zierlich, mit Schnitzwerk an den Türmchen und
verschnörkelt wie flandrische Spitzen -- eins der prunkvollen
Miniaturschlösser, die sich mit ihren Maulbeeranlagen, ihren Weinbergen,
ihren Felsengängen, ihren langen, durchbrochenen Balustraden, ihren
Höhlen im Gestein, ihren Mänteln von Efeu und ihren steilen Hängen im
Flusse spiegeln. Die Dächer von Montcontour flimmern im Sonnenlicht --
alles glänzt dort. Tausend Anklänge an Spanien erfüllen diese
entzückende Behausung mit Poesie; Goldginster und Glockenblumen teilen
ihren Wohlgeruch dem Winde mit; die Luft weht liebkosend, die Erde
lächelt überall, und überall umhüllt süßer Zauber die Seele, stimmt sie
träge, verliebt, weich und wiegt sie in Schlummer. Diese schöne, milde
Gegend unterdrückt allen Schmerz und erweckt alle Leidenschaft. Unter
diesem reinen Himmel, angesichts dieser schimmernden Gewässer bleibt
niemand kalt. Hier erstirbt aller Ehrgeiz, man sinkt einem stillen Glück
in den Schoß, wie allabendlich die Sonne in ihrem eigenen Bett von
Purpur und Azur versinkt.

An einem milden Abend des Monats August im Jahre 1821 schritten zwei
Personen auf den steinigen Wegen dahin, die die Felsen durchschneiden,
auf denen das Schloß liegt, und stiegen zu den Höhen hinauf, um ohne
Zweifel die vielfältigen Aussichtspunkte zu bewundern, die man dort
entdeckt.

Diese beiden Menschen waren Julie und Lord Grenville; aber Julie schien
eine ganz neue Frau zu sein. Die Marquise hatte die frische Farbe der
Gesundheit. Ihre von üppiger Kraft belebten Augen schimmerten durch
einen feuchten Schleier, ähnlich jenem zarten Naß, das den Augen von
Kindern unwiderstehlichen Reiz gibt. Sie lächelte zwanglos, sie war
glücklich zu leben und verstand nun, was Leben heißt. An der Art, wie
sie ihre kleinen Füße hob, war leicht zu sehen, daß kein Leiden mehr wie
ehemals ihre geringsten Bewegungen schwerfällig, ihre Blicke, ihre Worte
und ihre Gebärden müde und leblos machte.

Unter dem Schirm von weißer Seide, der sie vor den heißen Strahlen der
Sonne schützte, glich sie einer Jungverheirateten im Brautschleier,
einer Jungfrau, die bereit war, sich dem Zauber der Liebe zu überlassen.

Arthur führte sie mit der Sorgfalt eines Liebenden, geleitete sie, wie
ein Wärter ein Kind leitet, wies ihr den besten Weg, räumte die Steine
vor ihren Tritten fort, zeigte ihr eine Stelle, wo eine Aussicht sich
öffnete, oder führte sie vor eine Blume -- immer bewogen von einer
unermüdlichen Güte, einer zärtlichen Absicht, einer tiefen Kenntnis
alles dessen, was dieser Frau wohltat: Gefühle, die ihm angeboren zu
sein schienen, ebenso und noch in höherem Maße vielleicht als die zu
seinem Dasein an sich notwendigen Triebe.

Die Kranke und ihr Arzt gingen im gleichen Schritt und wunderten sich
nicht über ein Ebenmaß des Ganges, das vom ersten Tage an, wo sie
nebeneinander hergegangen waren, zu bestehen schien. Sie gehorchten ein
und demselben Willen, blieben unter dem Eindruck ein und desselben
Gefühls stehen; ihre Blicke, ihre Worte entsprachen wechselseitigen
Gedanken.

Als sie beide auf der Höhe eines Weinbergs angelangt waren, wollten sie
sich auf einen der langen Steinblöcke setzen, die aus den in den Felsen
gehauenen Kellern herausgenommen werden; aber Julie betrachtete die
Gegend, ehe sie sich setzte.

»Die schöne Landschaft!« rief sie. »Hier laßt uns Hütten bauen. Ja, wir
wollen ein Zelt aufschlagen und hier leben. Victor,« rief sie, »so
kommen Sie doch schnell!«

Herr d'Aiglemont antwortete von unten mit einem Jägerruf, doch ohne
seine Schritte zu beschleunigen. Er betrachtete nur von Zeit zu Zeit
seine Frau, wenn die Windungen des Weges es ihm erlaubten. Julie atmete
mit Wonne die Luft ein, hob den Kopf und warf aus Arthur einen der
feinen Blicke, in denen eine Frau von Geist all ihr Denken offenbart.

»O,« fuhr sie fort, »hier möchte ich immer bleiben! Kann man jemals müde
werden, dieses schöne Tal zu bewundern? Kennen Sie den Namen dieses
reizenden Flusses, Mylord?«

»Es ist die Cise.«

»Die Cise,« wiederholte sie. »Und dort unten vor uns -- was ist das?«

»Das sind die Weinberge von Cher,« sagte er.

»Und rechts? Ach ja, das ist Tours. Aber sehen Sie nur, wie herrlich
sich in der Ferne die Türme dieser Kathedrale ausnehmen!«

Sie verstummte und ließ auf Arthurs Arm die Hand sinken, die sie nach
der Stadt ausgestreckt hatte und beide bewunderten schweigend die
Landschaft und die Schönheiten dieser harmonischen Natur. Das Murmeln
des Wassers, die Reinheit der Luft und des Himmels -- alles stimmte zu
den Gedanken, die in Menge auf ihre liebenden, jungen Herzen eindrangen.

»O, mein Gott, wie liebe ich dieses Land!« rief Julie in wachsender,
naiver Begeisterung. »Sie haben lange hier gewohnt?« setzte sie nach
einer Pause hinzu.

Bei diesen Worten erbebte Lord Grenville.

»Hier war's,« antwortete er schwermütig und deutete auf ein Wäldchen
von Nußbäumen an der Straße, »wo ich, als Gefangener, Sie zum erstenmal
sah.«

»Ja, aber da war ich schon recht traurig, und diese Gegend erschien mir
wild, doch jetzt --«

Sie hielt inne -- Lord Grenville wagte nicht, sie anzusehen.

»Ihnen,« sagte Julie endlich nach langem Schweigen, »verdanke ich diese
Wonne. Lebendig muß man sein, wenn man die Freuden des Lebens empfinden
will -- ich aber war bisher für alles tot. Sie haben mir mehr gegeben
als bloß die Gesundheit -- Sie haben mich gelehrt, den Wert alles dessen
zu erkennen --«

Die Frauen haben ein unnachahmbares Talent, ihre Gefühle ohne allzu
große Worte auszudrücken; ihre Beredsamkeit liegt vor allem in der
Betonung, in der Gebärde, in Haltung und Blick. Lord Grenville verbarg
den Kopf in den Händen, denn Tränen rollten ihm aus den Augen. Dieser
Dank war der erste, den Julie ihm seit ihrer Abreise von Paris zollte.
Während eines vollen Jahres hatte er die Marquise mit der größten
Aufopferung gepflegt. Unterstützt von d'Aiglemont, hatte er sie zu den
Gewässern von Aix, dann ans Gestade des Meeres, dann nach Rochelle
geführt.

In jedem Augenblick beobachtete er die Veränderungen, die seine klugen
und ganz einfachen Vorschriften an der zerrütteten Natur Juliens
hervorriefen, er hatte sie betreut, wie etwa ein leidenschaftlicher
Gärtner eine seltene Blume. Die Marquise schien die verständige Pflege
Arthurs mit aller Selbstsucht einer Pariserin hinzunehmen, die an
Huldigungen gewöhnt ist, oder mit der Gleichgültigkeit einer Kurtisane,
die nicht weiß, was die Sachen kosten oder was die Männer wert sind, und
sie nach dem Grade des Nutzens einschätzt, den sie davon hat.

Der Einfluß der Örtlichkeit auf das Gemüt ist ein Punkt, der der
Erwähnung wert ist. Wenn uns am Strande des Wassers unfehlbar die
Schwermut befällt, so bewirkt ein anderes Gesetz unserer
eindrucksfähigen Natur, daß auf den Bergen unsere Gefühle sich läutern.
Die Leidenschaft gewinnt an Tiefe, was sie an Lebhaftigkeit zu verlieren
scheint.

Der Anblick des weiten Loirebeckens, die Höhe des hübschen Hügels, wo
die beiden Liebenden Platz genommen hatten, erweckten vielleicht die
liebliche Ruhe, in der sie zuerst das Glück kosteten, hinter anscheinend
belanglosen Worten die Größe einer verborgenen Leidenschaft zu erkennen.
In dem Augenblick, wo Julie den Satz beendete, der Lord Grenville so
tief gerührt hatte, bewegte ein liebkosender Wind die Wipfel der Bäume
und breitete die Frische des Wassers in der Luft aus. Einige Wolken
bedeckten die Sonne, und weiche Schatten ließen alle Schönheiten dieser
herrlichen Natur ungeblendet überschauen.

Julie wandte den Kopf ab, um dem jungen Lord ihre eigenen Tränen zu
verbergen, denn Arthurs Rührung wirkte sogleich ansteckend auf sie. Aber
es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten und zu trocknen. Sie wagte
nicht, die Augen zu ihm zu erheben, denn sie fürchtete, er könne dann in
diesem Blicke eine zu große Freude lesen.

In ihrem weiblichen Instinkt fühlte sie, daß sie in dieser gefährlichen
Stunde ihre Liebe auf dem Grunde des Herzens begraben mußte. Allein das
Schweigen konnte im gleichen Maße bedrohlich werden. Als sie erkannte,
daß Lord Grenville nicht imstande sei, ein Wort zu sprechen, sagte Julie
in sanftem Tone:

»Sie sind ergriffen von dem, was ich gesagt habe, Mylord. Vielleicht ist
diese tiefe Rührung der einzige Weg, auf dem eine holde, gute Seele wie
die Ihre zu einem falschen Urteil gelangen kann. Sie werden mich für
undankbar gehalten haben, weil Sie mich auf dieser Reise, die zum Glück
nun bald zu Ende ist, kalt und zurückhaltend oder spöttisch und
gefühllos fanden. Ich würde Ihrer Pflege nicht wert gewesen sein, wenn
ich sie nicht zu schätzen gewußt hätte. Mylord, ich habe nichts
vergessen. Ach, und ich werde nichts vergessen, weder die Achtsamkeit,
mit der Sie über mich gewacht haben, wie eine Mutter ihr Kind bewacht,
noch vor allem das edle Zutrauen unserer geschwisterlichen Gespräche,
die Zartheit Ihrer Behandlung. Ach, das sind Reize, gegen die wir alle
ohne Waffen sind. Mylord, es liegt nicht in meiner Macht, Sie zu
belohnen ...«

Bei diesen Worten entfernte sich Julie rasch, und Lord Grenville rührte
keinen Finger, sie zurückzuhalten; die Marquise ging zu einem Felsen,
der ein kleines Stück abseits lag, und blieb dort unbeweglich stehen.
Den beiden Menschen war ihre eigene Erregtheit ein Geheimnis -- ohne
Zweifel weinten sie im stillen. Der Gesang der Vögel, so lustig, so voll
zarten Ausdrucks angesichts der sinkenden Sonne, mußte die heftige
Bewegung noch steigern, die sie gezwungen hatte, auseinander zu eilen.
Die Natur selbst nahm es auf sich, einer Liebe Ausdruck zu geben, von
der sie nicht zu sprechen wagten.

»Nun wohl, Mylord,« fuhr Julie fort und trat in einer Haltung voll Würde
wieder vor ihn hin, seine Hand ergreifend, »ich bitte Sie darum, halten
Sie das Leben rein und heilig, das Sie mir zurückgegeben haben. Wir
werden uns hier trennen. Ich weiß,« setzte sie hinzu, als sie Lord
Grenville erblassen sah, »zum Lohne für Ihre Aufopferung fordere ich da
von Ihnen ein noch größeres Opfer, als alle die, deren Größe von mir
besser anerkannt werden sollte -- aber es muß sein. Sie dürfen nicht in
Frankreich bleiben. Aber wenn ich Ihnen das gebiete, heißt das nicht
auch schon, Ihnen Rechte gewähren -- und die müssen geheiligt bleiben,«
setzte sie hinzu, die Hand des jungen Mannes auf ihr klopfendes Herz
legend.

»Ja,« sagte Arthur und stand auf.

In diesem Augenblick wies er auf d'Aiglemont, der sein Kind im Arm hielt
und von der andern Seite auf der Balustrade des Schlosses erschien. Er
war durch einen Hohlweg geklettert, um hier seine Helene herabspringen
zu lassen.

»Julie, ich werde von meiner Liebe kein Wort zu Ihnen sprechen -- unsere
Seelen verstehen sich zu gut. So tief, so geheim meine Herzensfreuden
auch waren, Sie haben sie geteilt, alle. Ich fühle es, ich weiß es, ich
sehe es. Jetzt erhalte ich den köstlichen Beweis für den beständigen
Einklang unserer Herzen -- aber ich werde fliehen. Ich habe schon
mehrmals mit zuviel Besonnenheit ausgeklügelt, wie man diesen Menschen
umbringen könnte, um auf die Dauer der Versuchung zu widerstehen --
deshalb darf ich nicht in Ihrer Nähe bleiben.«

»Ich habe denselben Gedanken gehabt,« sagte sie und ließ auf ihrem
erregten Gesicht die Spuren einer schmerzlichen Bestürzung erscheinen.

Aber es lag so viel Tugend, so viel Sicherheit in sich selbst, so viel
von heimlichem Siegen über die Liebe in den Worten und der Gebärde, die
Julie entschlüpft waren, daß Lord Grenville von tiefer Bewunderung
durchdrungen war. Selbst das Verbrechen hatte in diesem naiven Gewissen
keinen Schatten zurückgelassen. Das religiöse Empfinden, das auf dieser
schönen Stirn thronte, mußte stets die schlechten Gedanken dieser Art
verscheuchen, die unsere unvollkommene Natur wider unsern Willen erzeugt
und die uns zu gleicher Zeit die Größe und die Gefahren unsers
Schicksals offenbaren.

»Ich hätte mich dann Ihrer Verachtung ausgesetzt, und doch würde es
meine Rettung gewesen sein,« fuhr sie fort, die Augen niederschlagend.
»Ihre Achtung verlieren, hieße das nicht sterben?«

Dieses heldenmütige Liebespaar stand einen Augenblick schweigend da,
bemüht, den Schmerz zurückzudrängen. Ob gut, ob schlecht, ihre Gedanken
waren getreulich die gleichen, und sie verstanden sich in ihrer
innerlichen Wonne ebensogut, wie in ihren verborgensten Schmerzen.

»Ich darf nicht murren, das Unglück meines Daseins ist mein eigenes
Werk,« setzte sie hinzu, die tränenvollen Augen zum Himmel aufschlagend.

»Mylord,« rief der General von seinem Platz aus, mit einer Handbewegung,
»an dieser Stelle sind wir uns ja zum erstenmal begegnet. Sie erinnern
sich vielleicht nicht? Sehen Sie nur -- dort unten -- bei den Pappeln!«

Der Engländer antwortete mit einem kurzen Kopfnicken.

»Ich sollte jung und unglücklich sterben,« fuhr Julie fort. »Ja, glauben
Sie nicht, daß ich am Leben bleibe. Der Kummer wird ebenso tödlich sein,
wie die schreckliche Krankheit es hätte werden können, von der Sie mich
geheilt haben. Ich halte mich nicht für sündig. Nein, die Gefühle, die
ich für Sie gehegt habe, sind unwiderstehlich, ewig -- aber sie regen
sich gegen meinen Willen, und ich will tugendhaft bleiben. Ich werde zu
gleicher Zeit meinem Gewissen als Gattin, meinen Pflichten als Mutter
und der Stimme meines Herzens treu bleiben. Hören Sie mich an,« setzte
sie mit veränderter Stimme hinzu, »diesem Manne dort werde ich nie mehr
angehören.«

Und mit einer Gebärde, die in ihrem Abscheu und ihrer Aufrichtigkeit
erschreckend war, wies Julie auf ihren Mann.

»Die Gesetze der Welt,« fuhr sie fort, »verlangen von mir, daß ich ihm
das Leben glücklich mache -- ich werde dem gehorchen. Ich werde seine
Dienerin sein; meine Ergebenheit gegen ihn wird ohne Grenzen sein, aber
von heute ab bin ich Witwe. Ich will weder vor mir selbst noch vor der
Welt eine Prostituierte sein. Wenn ich Herrn d'Aiglemont nicht mehr
gehöre, so auch niemals einem andern. Sie werden von mir nichts weiter
besitzen, als was Sie mir entrissen haben. Dies ist das Urteil, das ich
über mich selbst ausgesprochen habe,« sagte sie, Arthur mit Stolz
anblickend. »Es ist unwiderruflich, Mylord. Erfahren Sie noch, wenn Sie
einem verbrecherischen Gedanken nachgäben, so würde die Witwe des Herrn
d'Aiglemont in ein Kloster gehen, in Italien oder in Spanien. Das
Unglück hat gewollt, wir sollten von unserer Liebe sprechen. Diese
Geständnisse waren vielleicht unvermeidlich; aber es soll das letztemal
sein, daß unsere Herzen so heftig erschüttert wurden. Morgen werden Sie
vorgeben, einen Brief erhalten zu haben, der Sie nach England ruft, und
wir werden scheiden, um einander nie wiederzusehen.«

Erschöpft von dieser Anstrengung, fühlte Julie, daß ihre Knie brachen --
eine tödliche Kälte ergriff sie. Doch sie hatte den echt weiblichen
Einfall, sich rasch hinzusetzen, um nicht in Arthurs Arme zu fallen.

»Julie!« rief Lord Grenville.

Dieser durchdringende Schrei hallte wider wie ein Donnerschlag. Dieser
herzzerreißende Aufschrei drückte alles aus, was der bisher stumme
Liebende nicht hatte sagen können.

»Nun, was hat sie denn?« fragte der General.

Als der Marquis den Schrei hörte, war er schnell herzugeschritten und
stand jetzt plötzlich vor dem Liebespaar.

»Es wird nichts weiter sein,« sagte Julie mit der bewundernswerten
Kaltblütigkeit, die die Frauen dank ihrer natürlichen Schlauheit bei den
großen Krisen des Lebens oft an den Tag legen. »Die Kühle unter diesem
Nußbaum hat mir fast eine Ohnmacht verursacht, und mein Doktor ist wohl
heftig darüber erschrocken. Bin ich für ihn nicht sozusagen ein
Kunstwerk, das noch nicht ganz fertig ist? Er hat vielleicht Angst
gehabt, es zerstört zu sehen.«

Sie nahm keck Lord Grenvilles Arm, lächelte ihrem Manne zu, blickte noch
einmal über die Landschaft hin, ehe sie den Gipfel der Felsen verließ
und zog ihren Reisegefährten an der Hand mit sich fort.

»Dies ist sicherlich die schönste Gegend, die wir gesehen haben,« sagte
sie. »Ich werde sie nie vergessen. Sehen Sie nur, Victor, welche Fernen,
welche weite Flächen und welche Mannigfaltigkeit! Angesichts dieses
Landes begreife ich, was Liebe heißt!«

Sie stieß ein fast krampfhaftes Lachen aus, mit dem es ihr gelang, den
Gatten zu täuschen, sprang lustig in den Hohlweg und verschwand.

»Ah bah, wenn schon!« sagte sie, als sie weit von Herrn d'Aiglemont
entfernt war. »Ah bah! Mein Freund, in einem Augenblick werden wir nicht
mehr sein können -- werden wir niemals wieder wir selbst sein können --
kurz, werden wir nicht mehr leben können.«

»Lassen Sie uns langsam gehn,« antwortete Lord Grenville, »die Wagen
sind noch fern. Wir werden zusammen gehen, und wenn es uns erlaubt ist,
Worte in unsere Blicke zu legen, so werden unsere Herzen noch einen
Augenblick länger leben.«

Sie schritten in den letzten Sonnenstrahlen auf dem Damme am Rande des
Wassers dahin, fast in völligem Schweigen, undeutliche Worte sprechend,
die sanft und leise waren, wie das Murmeln der Loire, und doch die Seele
erschütterten. Die Sonne umhüllte sie im Augenblick ihres Niedergangs
mit rotem Schein -- dann verschwand sie wie ein melancholisches Abbild
ihrer unglücklichen Liebe. Der General war unruhig, als er seinen Wagen
nicht an der Stelle fand, wo er Halt gemacht hatte, und lief bald vor
dem Liebespaar her, bald folgte er hinterdrein. An der Unterhaltung
beteiligte er sich nicht.

Das edle, taktvolle Verhalten, das Lord Grenville während der ganzen
Reise bewahrte, hatte den Verdacht des Marquis zerstört, und seit
einiger Zeit ließ er seiner Frau völlige Freiheit, im Vertrauen auf die
punische Treue des Lorddoktors.

Arthur und Julie schritten noch immer in der traurigen, schmerzlichen
Harmonie ihrer gebrochenen Herzen dahin. Als sie vorhin die Abhänge von
Montcontour hinangestiegen waren, hatten alle beide eine unklare
Hoffnung, ein unruhiges Glück gefühlt, von dem sie sich nicht
Rechenschaft zu geben wagten; aber als sie nun den Damm entlang zu Tal
stiegen, hatten sie das gebrechliche Gebäude umgestürzt, das sie in
ihrer Phantasie aufgebaut und vor dem sie kaum zu atmen gewagt hatten,
wie Kinder, die den Einsturz ihrer Kartenhäuser voraussehen. Sie waren
jetzt ohne Hoffnung.

Noch an demselben Abend nahm Lord Grenville Abschied. Der letzte Blick,
den er auf Julie warf, bewies leider, daß er von dem Augenblick an, wo
die Sympathie ihnen die ganze Größe einer so starken Leidenschaft
enthüllte, recht gehabt hatte, als er sich selbst nicht mehr traute.

Am folgenden Tage saßen Herr und Frau d'Aiglemont ohne ihren
Reisegefährten im Wagen und legten rasch denselben Weg zurück, den die
Marquise einst im Jahre 1814 schon gefahren war, damals noch unbekannt
mit der Verehrung, deren Hartnäckigkeit sie fast verwünscht hatte.
Tausend vergebene Eindrücke waren ihr jetzt erinnerlich. Das Herz hat
sein Gedächtnis für sich. So unfähig eine Frau auch sein mag, sich der
wichtigsten Ereignisse des Lebens zu erinnern, so wird sie doch ihr
ganzes Leben lang nicht die Dinge vergessen, die mit ihren Gefühlen
zusammenhängen.

So entsann sich auch Julie ganz genau selbst völlig belangloser
Einzelheiten; sie sah mit Freude die nebensächlichsten Begebenheiten
ihrer ersten Reise wieder vor sich, ja sie wußte wieder, was für
besondere Gedanken ihr an gewissen Punkten der Reise gekommen waren.

Victor war von neuem leidenschaftlich in seine Frau verliebt, seit sie
die Frische ihrer Jugend und all ihre Schönheit wiedergefunden hatte. Er
schmiegte sich nach Art der Liebenden dicht an sie. Als er versuchte,
sie in die Arme zu nehmen, machte sie sich sanft los und fand einen
Vorwand, sich dieser unschuldigen Liebkosung zu entziehen.

Bald darauf empfand sie Abscheu vor der Berührung Victors, dessen
Körperwärme sie empfand und auf sich übergehen fühlte, denn sie saßen
eng nebeneinander. Sie wollte sich allein auf den Vordersitz des Wagens
setzen, aber ihr Mann war so liebenswürdig, ihr den Fond zu überlassen.
Sie dankte ihm für die Aufmerksamkeit mit einem Seufzer, den er falsch
auffaßte. Dieser alte Schürzenjäger der Garnison legte die Melancholie
seiner Frau zu seinen Gunsten aus, so daß seine Frau sich schließlich
gezwungen sah, mit einer Bestimmtheit zu ihm zu reden, die ihm wohl oder
übel doch imponierte.

»Mein Freund,« sagte sie zu ihm, »Sie hätten mich schon einmal beinahe
umgebracht, das wissen Sie. Wenn ich noch ein junges, unerfahrenes
Mädchen wäre, dann würde ich das Opfer meines Lebens noch einmal von
vorn anfangen. Aber ich bin Mutter, ich habe eine Tochter zu erziehen,
und ihr muß ich mich ebenso erhalten wie Ihnen. Fügen wir uns also in
ein Unglück, das uns gleichermaßen betrifft. Sie sind dabei noch am
wenigsten zu beklagen. Haben Sie nicht Ersatz zu finden gewußt für das,
was meine Pflicht, unsere gemeinsame Ehre und vor allem die Natur mir
verbieten? Jawohl,« setzte sie hinzu, »Sie haben leichtsinnigerweise in
einem Schubkasten drei Briefe der Frau de Sérizy liegen lassen. Mein
Schweigen beweist Ihnen, daß ich eine nachsichtige Frau bin, die von
Ihnen nicht dasselbe Opfer fordert, zu dem sie durch die Gesetze
verurteilt ist; aber ich habe alles reiflich bedacht und bin mir klar
darüber geworden, daß unsere Rollen nicht die gleichen sind und das
Unglück allein der Frau vorherbestimmt ist. Meine Tugend ruht auf
festen, unerschütterlichen Grundsätzen. Ich werde ein untadelhaftes
Leben zu führen wissen -- aber lassen Sie mich leben.«

Der Marquis war verblüfft über diese Logik, die die Frauen aus dem
hellen Buche der Liebe sich anzueignen verstehen, und die gewisse Würde,
die ihnen in Krisen dieser Art natürlich ist, zwang ihn ins Joch. Der
instinktive Widerwille, den Julie gegen alles bekundete, was ihre Liebe
und die Stimme ihres Herzens verletzte, ist eine der schönsten
Eigenschaften der Frauen und entspringt vielleicht einer natürlichen
Tugend, die weder die Gesetze noch die Zivilisation zum Schweigen
bringen. Wer möchte wohl deshalb die Frauen tadeln? Sind sie nicht, wenn
sie das zarte Gefühl zum Schweigen bringen, das ihnen verbietet, zwei
Männern anzugehören, gewissermaßen wie Prediger, die keinen Glauben
haben?

Einige strenge Geister werden die Art, wie Julie sich mit ihren
Pflichten und mit ihrer Liebe auseinandersetzte, tadeln -- die
leidenschaftlichen Seelen werden sie ihr sogar zum Verbrechen anrechnen.
Diese allgemeine Mißbilligung klagt entweder das Unglück an, das auf
Ungehorsam gegen die Gesetze zu folgen pflegt, oder aber traurige
Unvollkommenheiten in den Einrichtungen, auf denen die europäische
Gesellschaft beruht.

Zwei Jahre verstrichen. Herr und Frau d'Aiglemont führten das Leben der
Leute von Welt, jeder ging seines Weges, und in den Salons fremder Leute
trafen sie sich öfter als im eigenen Heim. Eine solche vornehme
Scheidung ist das Ende sehr vieler Ehen in der großen Gesellschaft.

Eines Abends befanden sich die Eheleute seltsamerweise im eigenen Salon
beisammen. Frau d'Aiglemont hatte eine ihrer Freundinnen zu Tisch
gehabt. Der General, der sonst immer in der Stadt speiste, war zu Hause
geblieben.

»Sie werden recht glücklich sein, Frau Marquise,« sagte Herr d'Aiglemont
und setzte die Tasse, aus der er eben seinen Kaffee getrunken hatte, auf
den Tisch.

Der Marquis sah mit halb trauriger, halb boshafter Miene Madame de
Wimphen an und setzte hinzu:

»Ich fahre zu einer langen Jagd -- zusammen mit dem Oberjägermeister.
Sie werden mindestens acht Tage lang vollkommen Witwe sein. Das ist ja
so Ihr Fall. Denk' ich wenigstens. -- Wilhelm,« sagte er zu dem Diener,
der die Tassen wegtrug, »lassen Sie anspannen.«

Frau de Wimphen war jene Luise, der Frau d'Aiglemont einst den Rat hatte
geben wollen, unverheiratet zu bleiben. Die beiden Frauen warfen sich
einen verständnisinnigen Blick zu, der bewies, daß Julie in ihrer
Freundin eine Vertraute ihrer Schmerzen, eine kostbare und barmherzige
Vertraute gefunden hatte; denn Madame de Wimphen war sehr glücklich
verheiratet. Da sie sich in entgegengesetzter Lage befanden, bildete
vielleicht das Glück der einen eine Bürgschaft dafür, daß sie sich der
andern und ihres Unglücks annehmen werde. In ähnlichen Fällen ist
Verschiedenheit des Schicksals fast immer ein mächtiges
Freundschaftsband.

»Ist denn jetzt Jagdzeit?« fragte Julie, einen gleichgültigen Blick auf
ihren Gatten werfend.

Es war Ende März.

»Madame, der Oberjägermeister jagt, wann er will und wo er will. Wir
pirschen in königlichen Forsten auf Wildschweine.«

»Sehen Sie sich vor, daß Ihnen nichts passiert.«

»Das kann man nie wissen,« antwortete er lächelnd.

»Der Wagen des gnädigen Herrn ist bereit,« meldete Wilhelm.

Der General erhob sich, küßte Frau de Wimphen die Hand und wandte sich
zu Julie.

»Madame, wenn ich nun einem Eber zum Opfer falle!« sagte er in bittendem
Tone.

»Was bedeutet denn das?« fragte Frau de Wimphen.

»Nun, kommen Sie,« sagte Frau d'Aiglemont zu Victor.

Dann lächelte sie Luise zu, als wollte sie sagen: »Du wirst sehen.«

Julie hielt ihrem Manne den Nacken hin, und er trat herzu, sie zu
küssen. Da bückte sich aber die Marquise so tief, daß der eheliche Kuß
sich in der Rüsche ihres Kragens verlor.

»Sie werden es vor Gott bezeugen,« sagte der Marquis, sich an Frau de
Wimphen wendend, »ein königlicher Befehl mußte mich erst abrufen, damit
ich einmal diese flüchtige Gunst erlange. Und das heißt bei meiner Frau
Liebe. So weit hat sie mich gebracht -- ich weiß nicht, durch welche
Kunstgriffe ... Viel Vergnügen!«

Und er ging hinaus.

»Aber dein armer Mann ist wirklich ganz nett,« rief Luise, als die
beiden Frauen allein waren. »Er liebt dich.«

»O, sprich keine Silbe mehr nach diesem letzten Wort. Der Name, den ich
trage, ist mir ein Greuel.«

»Aber Victor gehorcht dir doch aufs Wort,« sagte Luise.

»Sein Gehorsam,« antwortete Julie, »beruht zum Teil auf der hohen
Achtung, die ich ihm eingeflößt habe. Ich bin eine sehr tugendhafte
Frau, im Sinne des Gesetzes. Ich mache ihm seine Behausung angenehm, ich
drücke, was seine Liebeshändel anbetrifft, ein Auge zu, ich mache keine
Schulden auf sein Vermögen, er kann seine Zinsen nach Belieben
verprassen; meine Sorge ist nur darauf gerichtet, daß das Kapital
unangetastet bleibt. Zu diesen Bedingungen habe ich den Frieden. Mein
Leben kann er sich nicht erklären, oder er will sich's nicht erklären.
Aber wenn ich in dieser Weise meinen Gatten am Gängelbande habe, so muß
ich deswegen doch die Wirkungen seines Charakters fürchten. Ich bin wie
ein Bärenführer, der beständig Angst hat, daß eines Tages der Maulkorb
reißen könnte. Wenn Victor sich einmal für berechtigt hielte, mich nicht
mehr zu achten, so wage ich mir gar nicht auszumalen, was geschehen
könnte; denn er ist jähzornig -- voll Eigenliebe -- und vor allem sehr
eitel. Sein Geist ist nicht zart und fein genug, um in einer heiklen
Angelegenheit sich klug zu verhalten, sobald seine schlimmen
Leidenschaften dabei im Spiele sind -- er ist von schwachem Charakter
und würde mich vorsätzlich kränken, um morgen vor Gram zu sterben. Ein
solches Verhängnis wäre freilich ein Glück -- aber es ist eigentlich
leider nicht zu befürchten.«

Ein Weilchen schwiegen die beiden Freundinnen -- ihre Gedanken galten
den geheimen Ursachen dieser Lage.

»Der Gehorsam gegen meine Wünsche ist sogar bis zur Grausamkeit
getrieben worden,« fuhr Julie fort, einen verständnisinnigen Blick auf
Luise richtend. »Und doch hatte ich _ihm_ nicht verboten, an mich zu
schreiben. Ach ja! _Er_ hat mich vergessen, und er hatte recht. Es wäre
ein zu großes Unheil gewesen, wenn auch sein Lebensschiff hätte
zerschellen müssen. Ist's nicht an dem meinen genug? Glaubst du, meine
Liebe, ich lese die englischen Zeitungen, in der einzigen Hoffnung,
seinen Namen gedruckt zu finden. Nun, er ist noch nicht im Oberhaus
erschienen.«

»Also kannst du Englisch?«

»Habe ich dir das nicht gesagt? -- ich habe es gelernt.«

»Arme Kleine,« rief Luise, Juliens Hand ergreifend. »Aber wie kannst du
da noch leben?«

»Das ist ein Geheimnis,« antwortete die Marquise und machte
unwillkürlich eine Gebärde von fast kindlicher Naivität. »Höre. Ich
nehme Opium. Die Geschichte der Herzogin von ... aus London hat mich auf
die Idee gebracht. Weißt du, Mathurin hat einen Roman darüber
geschrieben. Ich nehme nur ganz schwache Tropfen Laudanum. Es gibt mir
Schlaf. Nicht mehr als sieben Stunden bin ich noch wach, und die widme
ich nur meiner Tochter.«

Luise sah ins Feuer. Sie wagte nicht, ihre Freundin anzusehen, deren
ganzes Elend sich jetzt zum erstenmal ihren Blicken enthüllte.

»Luise, verrate mich aber nicht,« sagte Julie nach einem Augenblick des
Schweigens.

Plötzlich brachte ein Diener der Marquise einen Brief.

»Ha!« rief sie erbleichend.

»Ich frage nicht erst, von wem,« sagte Frau de Wimphen.

Die Marquise las und hörte nichts mehr. Ihre Freundin sah die
stürmischsten Gefühle, die gefährlichste Aufregung in den Zügen der Frau
d'Aiglemont sich abspielen. Julie wurde bald blaß, bald rot und warf
schließlich das Papier ins Feuer.

»Dieser Brief ist wie ein Flammenherd! Mein Herz! ich ersticke!«

Sie erhob sich und schritt auf und ab. Ihre Augen brannten.

»So hat er Paris nicht verlassen,« rief sie.

Sie stieß die abgerissenen Worte, die Frau de Wimphen nicht zu
unterbrechen wagte, in schrecklichen Pausen hervor. Nach jedem
Stillstand erklangen die Worte in immer tieferem Ton, und die letzten
Sätze hatten etwas Furchtbares.

»Er hat mich inzwischen immer wieder gesehen, ohne daß ich es gewußt
habe. Jeden Tag hat er einen Blick von mir aufgefangen, und das hat ihn
am Leben erhalten. Du weißt nicht, Luise -- er stirbt und bittet darum,
mir Lebewohl zu sagen. Er weiß, daß mein Mann heute abend auf mehrere
Tage verreist, und er will im Augenblick kommen. O, daran werde ich
sterben. Ich bin verloren. Höre, bleibe du bei mir. Vor zwei Frauen wird
er es nicht wagen. O, bleib! Ich fürchte mich.«

»Aber, mein Mann weiß, daß ich bei dir zu Tisch bin,« antwortete Frau de
Wimphen. »Er wird mich holen kommen.«

»Gut, ehe du gehst, habe ich ihn weggeschickt. Ich werde uns allen
beiden den Tod geben. Ach, er wird glauben, ich liebte ihn nicht mehr.
Und dieser Brief! Meine Liebe, er enthielt Sätze, die ich noch in
Flammenschrift vor mir sehe!«

Ein Wagen rollte vor das Portal.

»Ach!« rief die Marquise mit einer gewissen Freude, »er kommt öffentlich
und ohne ein Geheimnis daraus zu machen.«

»Lord Grenville,« meldete der Diener.

Regungslos blieb die Marquise stehen. Als sie aber Arthur sah, der jetzt
blaß, mager und abgezehrt war, da war keine Strenge mehr möglich.
Obgleich es Lord Grenville tief schmerzte, Julie nicht allein zu finden,
erschien er doch ruhig und kalt. Aber für diese beiden in das Geheimnis
seiner Liebe eingeweihten Frauen hatte der Klang seiner Stimme, der
Ausdruck seiner Blicke etwas von der Macht, die man dem Zitterrochen[1]
zuschreibt.

[1] Ein Seefisch, der das Vermögen besitzt, elektrische Schläge
auszuteilen, teils zu seiner Verteidigung, teils um sich seiner Beute zu
bemächtigen.

Die Marquise und Frau de Wimphen waren wie betäubt durch die starke
Übertragung eines entsetzlichen Schmerzes. Beim Klang der Stimme Lord
Grenvilles zitterte Frau d'Aiglemont so heftig, daß sie ihm nicht zu
antworten wagte, weil sie ihm damit die Größe der Macht, die er auf sie
ausübte, zu enthüllen fürchtete. Lord Grenville seinerseits wagte es
nicht, Julie anzusehen, und so mußte Frau de Wimphen fast allein für
eine Unterhaltung, die gar kein Interesse hatte, sorgen. Mit einem Blick
voll rührender Erkenntlichkeit dankte Julie ihr für die Hilfe, die sie
ihr leistete.

Auf diese Weise geboten die beiden Liebenden ihren Gefühlen Schweigen
und mußten sich in den vorgeschriebenen Grenzen der Pflicht und des
gesellschaftlichen Anstandes halten. Bald aber wurde Herr de Wimphen
gemeldet. Als sie ihn eintreten sahen, warfen sich die beiden
Freundinnen einen Blick zu und begriffen, ohne ein Wort zu sprechen, die
neuen Schwierigkeiten der Lage. Es war unmöglich, Herrn de Wimphen das
Geheimnis dieses Dramas teilen zu lassen, und Luise hatte keine
triftigen Gründe, ihren Mann zu bitten, sie noch länger bei ihrer
Freundin bleiben zu lassen. Als Frau de Wimphen ihren Schal umlegte,
erhob sich Julie, um ihr dabei behilflich zu sein, und sagte mit leiser
Stimme:

»Ich werde Mut haben. Wenn er öffentlich zu mir gekommen ist, was habe
ich da zu befürchten? Aber wenn du nicht gewesen wärst -- wenn ich ihn
allein so verändert gesehen hätte -- ich würde ihm zu Füßen gefallen
sein.«

»Nun, Arthur, Sie haben mir nicht gehorcht,« sagte Frau d'Aiglemont mit
zitternder Stimme und nahm ihren Platz auf einer Causeuse wieder ein.
Lord Grenville wagte nicht, sich neben sie zu setzen.

»Ich habe mir nicht länger die Wonne versagen können, Ihre Stimme zu
hören, bei Ihnen zu sein. Es war ein Wahnsinn, ein Fieber. Ich bin nicht
mehr Herr über mich. Ich habe mich über mich selbst konsultiert -- ich
bin zu schwach. Ich muß sterben. Aber sterben, ohne Sie gesehen zu haben
-- ohne das Rauschen Ihres Kleides gehört zu haben -- ohne Ihre Tränen
aufgefangen zu haben -- was wäre das für ein Tod!«

Er wollte sich von Julie entfernen -- aber bei einer raschen Bewegung
fiel ihm eine Pistole aus der Tasche. Die Marquise sah diese Waffe, und
im Augenblick schien ihr alle Besinnung, alle Denkkraft genommen zu
sein. Lord Grenville hob die Pistole auf und schien sehr verdrossen über
diesen Zufall, der vielleicht als Berechnung eines unglücklichen
Liebhabers aufgefaßt werden konnte.

»Arthur?« fragte Julie.

»Gnädige Frau,« antwortete er, die Augen niederschlagend, »ich kam in
Verzweiflung her -- ich wollte --«

Er hielt inne.

»Sie wollten sich bei mir töten!« rief sie.

»Nicht allein,« antwortete er mit sanfter Stimme.

»Wie? Vielleicht auch meinen Mann?«

»Nein, nein!« rief er mit erstickter Stimme. »Aber beruhigen Sie sich,«
setzte er hinzu, »mein unheilvoller Plan ist verraucht. Als ich eintrat,
als ich Sie sah, da fühlte ich von neuem den Mut, zu schweigen, allein
zu sterben.«

Julie erhob sich und warf sich in Arthurs Arme, der trotz des heftigen
Schluchzens seiner Geliebten zwei wilde, leidenschaftliche Worte
verstehen konnte:

»Das Glück kennen lernen und dann sterben,« sagte sie. »Das -- ja!«

Die ganze Geschichte Juliens lag in diesem tiefen Aufschrei -- dem
Schrei der Natur und der Liebe, der Frauen ohne Religion erliegen.
Arthur ergriff sie und trug sie mit der stürmischen Inbrunst, die ein
unverhofftes Glück entfacht, zum Diwan. Aber plötzlich riß sich die
Marquise aus den Armen des Geliebten, warf ihm den starren Blick einer
verzweifelten Frau zu, nahm ihn bei der Hand, ergriff einen Leuchter und
zog ihn mit sich in das Schlafzimmer.

Leise zog sie von dem Bett, wo Helene schlief, die Vorhänge weg, so daß
man ihr Kind sah -- sie hielt eine Hand vor die Kerze, damit nicht das
Licht den durchscheinenden, kaum geschlossenen Lidern des kleinen
Mädchens wehe täte. Helene lag mit ausgebreiteten Armen da und lächelte
im Schlafe. Mit einem Blick zeigte Julie Lord Grenville ihr Kind. Dieser
Blick sagte alles.

»Einem Manne können wir selbst untreu werden, auch wenn er uns lieb hat.
Ein Mann ist ein starkes Geschöpf und findet Trost. Die Gesetze der Welt
können wir verachten. Aber ein Kind ohne Mutter --!«

Alle diese Gedanken und tausend noch weit zärtlichere lagen in diesem
Blick.

»Wir können sie mit uns nehmen,« murmelte der Engländer. »Ich werde sie
sehr lieb haben.«

»Mama!« rief Helene, erwachend.

Bei diesem Worte zerfloß Julie in Tränen. Lord Grenville setzte sich,
kreuzte die Arme und sah stumm und finster vor sich hin.

»Mama!« Dieser frohe, naive Ruf erweckte so viele edeln,
unwiderstehlichen Gefühle, daß die Liebe auf einen Augenblick unter der
mächtigen Stimme der Mutterschaft erdrückt wurde. Julie war nicht mehr
Weib, sie war Mutter. Lord Grenville widerstand nicht mehr -- Juliens
Tränen warfen ihn nieder.

In diesem Augenblick hörte man, wie eine Tür ungestüm geöffnet wurde,
und die Worte: »Frau d'Aiglemont, bist du hier?« widerhallten wie ein
Donnerschlag im Herzen des Liebespaares. Der Marquis war zurückgekommen.
Ehe Julie die Geistesgegenwart gewinnen konnte, kam der General aus
seinem Zimmer und näherte sich dem seiner Frau. Diese beiden Zimmer
hingen zusammen. Zum Glück gab Julie Lord Grenville rasch ein Zeichen,
und der Engländer sprang in eine Toilette, deren Tür die Marquise
geschwind schloß.

»Nun, meine Gemahlin,« sagte Viktor, »da bin ich wieder. Die Jagd findet
nicht statt. Ich will schlafen gehen.«

»Gute Nacht,« sagte sie zu ihm. »Das will ich eben auch tun. Laß mich
also allein -- ich bin beim Auskleiden.«

»Du bist recht unzart heute abend -- doch ich gehorche Ihnen, Frau
Marquise.«

Der General kehrte in sein Zimmer zurück. Julie begleitete ihn, um die
Verbindungstür zu schließen, und eilte dann, Lord Grenville zu befreien.
Sie gewann alle Geistesgegenwart wieder und dachte, der Besuch ihres
alten Arztes sei schließlich ganz natürlich. Sie konnte ihn ja im Salon
zurückgelassen haben, um erst ihre Tochter zu Bett zu bringen; sie
wollte ihm nun sagen, er solle sich geräuschlos dorthin begeben. Aber
als sie die Tür des Kabinetts öffnete, schrie sie laut auf. Die Finger
Lord Grenvilles waren in die Türspalte geraten und zermalmt worden.

»He, was hast du denn?« rief ihr Mann herüber.

»Nichts,« antwortete sie, »ich habe mich mit einer Nadel in den Finger
gestochen.«

Die Verbindungstür öffnete sich plötzlich wieder. Die Marquise glaubte,
ihr Mann käme aus Interesse für sie, und verwünschte diese Besorgtheit,
an der das Herz ja doch keinen Anteil hatte. Sie hatte kaum Zeit, die
Toilette zu schließen, und Lord Grenville hatte seine Hand noch nicht
befreien können. Der General kam in der Tat wieder herein; aber die
Marquise irrte sich -- eine plötzliche Mißhelligkeit führte ihn her.

»Kannst du mir ein seidenes Halstuch leihen? Der dumme Charles hat mir
nicht ein einziges Kopftuch hingelegt. Am Anfang unserer Ehe hast du
dich um meine Sachen mit so peinlicher Sorge bekümmert, daß es mir sogar
zuviel wurde. Ach, der Honigmond hat weder für mich noch für meine
Halstücher lange gedauert. Jetzt bin ich ganz und gar auf diese
steinalten Kammerdiener angewiesen, die mit mir umgehen, wie sie Lust
haben.«

»Hier ist ein Halstuch. Sie sind nicht in den Salon gegangen?«

»Nein.«

»Sie würden dort vielleicht Lord Grenville noch getroffen haben.«

»Ist er in Paris?«

»Augenscheinlich.«

»O, so geh ich hin -- dieser gute Doktor --«

»Aber jetzt muß er schon gegangen sein,« rief Julie.

Der Marquis stand in diesem Augenblick mitten im Zimmer seiner Frau und
wickelte sich das Tuch um den Kopf, wobei er sich wohlgefällig im
Spiegel betrachtete.

»Ich weiß gar nicht, wo unsere Leute sind,« sagte er. »Ich habe dreimal
nach Charles geklingelt -- er ist nicht gekommen. Du bist also auch ohne
deine Kammerfrau? Klingle nach ihr -- ich möchte heute nacht noch eine
Decke mehr im Bett haben.«

»Pauline ist fortgegangen,« antwortete die Marquise trocken.

»Um Mitternacht?« sagte der General.

»Ich habe ihr erlaubt, in die Oper zu gehen.«

»Sonderbar,« versetzte der Mann, indem er sich völlig entkleidete. »Mir
war doch so, als hätte ich sie die Treppe hinaufgehen sehen.«

»Dann ist sie ohne Zweifel zurückgekehrt,« sagte Julie und tat, als sei
sie dieses Gesprächs nun überdrüssig.

Um keinen Verdacht bei ihrem Gatten zu erwecken, zog die Marquise dann
die Klingel, doch ganz schwach.

Die Ereignisse dieser Nacht sind nicht vollauf bekannt geworden; aber
alle mußten ebenso einfach, doch auch ebenso entsetzlich gewesen sein --
wie es die gewöhnlichen häuslichen Vorfälle sind, die vorangegangen
waren. Am folgenden Tage legte die Marquise d'Aiglemont sich auf mehrere
Tage ins Bett.

»Was ist denn nur Außergewöhnliches bei dir geschehen, daß alle Welt von
deiner Frau spricht?« fragte Herr de Ronquerolles Herrn d'Aiglemont ein
paar Tage nach dieser an Katastrophen reichen Nacht.

»Glaube mir, bleib Junggeselle,« antwortete d'Aiglemont. »Helenens Bett
hat Feuer gefangen; meine Frau ist darüber fast zu Tode erschrocken, daß
sie nun wieder auf ein Jahr krank ist, wie der Arzt sagt. Heiratest du
eine hübsche Frau, so wird sie häßlich; heiratest du eine Frau in
blühender Gesundheit, so wird sie kränklich. Du hältst sie für
leidenschaftlich -- sie ist aber kalt. Oder aber sie ist, wenn auch
äußerlich kalt, doch so leidenschaftlich, daß sie dich umbringt oder dir
Schande macht. Bald wird das sanfteste Geschöpf eine Kratzbürste -- na,
und eine Kratzbürste wird nie wieder weich. Bald entfaltet das Kind,
das du für schwach und einfältig gehalten hast, dir gegenüber eine
eiserne Willenskraft, einen dämonischen Geist. Ich habe die Ehe satt.«

»Oder die Frau.«

»Schwer zu sagen. Übrigens, kommst du mit in die Kirche zum Heiligen
Thomas von Aquino? Ich will mir die Beerdigung Lord Grenvilles ansehen.«

»Ein sonderbarer Zeitvertreib. Aber,« fuhr Ronquerolles fort, »weiß man
genau, woran er gestorben ist?«

»Sein Kammerdiener behauptet, Mylord habe die ganze Nacht über draußen
auf einem Fenstersims sitzen müssen, um seine Geliebte nicht um die Ehre
zu bringen. Und um diese Zeit ist es verteufelt kalt gewesen!«

»Eine solche Aufopferung wäre bei uns andern, bei uns alten Praktikern
sehr anerkennenswert -- aber Lord Grenville war so jung, und -- ein
Engländer. Diese Engländer müssen immer was Apartes haben.«

»Bah!« versetzte d'Aiglemont, »solcher Heroismus hängt ganz von der
Frau ab, die ihn uns einflößt, und für meine Frau ist der arme Arthur
ganz gewiß nicht gestorben!«




2. Kapitel.

Ungekannte Leiden.


Zwischen dem Flüßchen Loing und der Seine erstreckt sich eine weite
Ebene, begrenzt von dem Walde von Fontainebleau und von den Ortschaften
Moret, Nemours und Montereau. Dieses trockene Land weist nur ein paar
vereinzelte Hügel auf; hier und dort liegen mitten auf den Feldern
kleine Waldvierecke, die dem Wild zur Zuflucht dienen, sonst sieht man
überall nur die grauen oder gelblichen Linien ohne Ende, die den
Horizonten der Sologne, der Beauce und des Berri eigentümlich sind. In
der Mitte dieser Ebene, zwischen Moret und Montereau, sieht der Reisende
ein altes Schloß. Saint-Lange heißt es, und seine Lage ist von einer
gewissen Großartigkeit, ja Majestät.

Hier gibt es herrliche Ulmenalleen, Gräben, lange Umfassungsmauern,
große Gärten, weitläufige Herrenhäuser, bei deren Erbauung es dem
Anschein nach nur auf den Vorteil der Steuerverwaltung oder der
Generalpächter abgesehen war. Wenn der Künstler oder ein Träumer sich
zufällig in den tief ausgefahrenen Wegen oder in dem zähen Lehmboden
verirrt, der den Zugang zu diesem Lande erschwert, so fragt er sich,
durch welchen Zufall dieses poetische Schloß in diese Savanne von
Getreide, in diese Wüste von Kreide, Mergel und Sand geraten ist, wo der
Frohsinn stirbt, wo unfehlbar Traurigkeit uns befallen muß, wo die Seele
unaufhörlich von einer Einsamkeit ohne Stimmen, von einem eintönigen
Horizont, von negativen Schönheiten ermüdet wird -- wo alles dem Kummer
Vorschub leistet, der keinen Trost mehr wünscht.

Eine junge Frau, die in Paris wegen ihrer Schönheit und ihres Geistes
gefeiert worden war, deren Vermögen mit ihrer Berühmtheit in Einklang
stand, ließ sich zum großen Erstaunen des etwa eine Meile von
Saint-Lange gelegenen Dörfchens gegen Ende des Jahres 1820 hier häuslich
nieder. Die Pächter und die Bauern hatten seit undenklichen Zeiten
niemals mehr eine Herrschaft auf dem Schlosse gesehen. Das Land, obwohl
von beträchtlicher Ergiebigkeit, war der Obhut eines Verwalters
überlassen und wurde von alten Dienern besorgt.

Die Ankunft der Frau Marquise versetzte daher die ganze Gegend in
Aufregung. Mehrere Personen hatten sich am Ende des Dorfes im Hofe einer
dürftigen Herberge aufgestellt, die am Schnittpunkt der Straßen von
Nemours und Moret lag. Hier sahen sie eine Kalesche vorüberkommen, die
ziemlich langsam fuhr, denn die Marquise war von Paris her zu Wagen
gekommen. Auf dem Vordersitz hielt die Kammerfrau ein kleines Mädchen,
das mehr nachdenklich als vergnügt schien. Die Mutter ruhte im Fond des
Wagens, wie eine Kranke, die von den Ärzten aufs Land geschickt wird.
Das tieftraurige Gesicht dieser jungen, zarten Frau befriedigte die
Dorfpolitiker gar nicht; denn sie hatten aus ihrer Ankunft in
Saint-Lange die Hoffnung geschöpft, daß es in der Gemeinde nun »ein
Leben« werden würde. Gewiß war Leben und Treiben dieser sichtlich von
Schmerzen befallenen Frau durchaus zuwider.

Der klügste Kopf von Saint-Lange erklärte am Abend in der Schenke, und
zwar in der Stube, wo der Stammtisch der Honoratioren sich befand, nach
dem Ausdruck von Trauer zu schließen, den das Gesicht der Frau Marquise
unverkennbar zur Schau trüge, müsse sie eine ruinierte Frau sein. In
Abwesenheit des Herrn Marquis, von dem die Zeitungen berichtet hatten,
er müsse den Herzog von Angoulème nach Spanien begleiten, wolle sie nun
jedenfalls aus Saint-Lange die erforderlichen Summen herauswirtschaften,
um die infolge falscher Börsenspekulationen entstandenen Schwierigkeiten
aus der Welt zu schaffen. Der Marquis sei einer der tollsten Spieler.
Vielleicht sollte das Land parzellenweise verkauft werden. Da könnte
man dann noch »seinen Schnitt« machen. Jeder sollte nur dran denken,
seine Taler zu zählen, sie aus der Schatulle nehmen und alle Mittel
zusammenholen, um sein Teilchen einzuheimsen, wenn Saint-Lange
losgeschlagen würde.

Diese Zukunft erschien so rosig, daß alle Honoratioren vor Neugierde
entbrannten, zu erfahren, ob die Sache sich wirklich so verhielte. Sie
sannen nun auf Mittel, von den Schloßleuten die Wahrheit zu erforschen;
aber von diesen konnte niemand etwas Genaueres über die Katastrophe
sagen, die ihre Herrin zu Beginn des Winters auf ihr altes Schloß
Saint-Lange führte, wo sie doch andere Ländereien besaß, die wegen ihrer
anmutigen Lage und schönen Gärten berühmt waren. Der Herr Bürgermeister
kam, um der gnädigen Frau seine Huldigung darzubringen, aber er wurde
nicht vorgelassen. Nach dem Bürgermeister versuchte es der Verwalter --
doch mit dem gleichen Mißerfolg.

Die Frau Marquise verließ ihr Zimmer nur, um es herrichten zu lassen,
und blieb während dieser Zeit in einem kleinen anstoßenden Salon, wo sie
speiste, wenn man ihre Art zu essen so nennen konnte; denn sie setzte
sich nur an den Tisch, betrachtete die Gerichte mit Widerwillen und nahm
genau nur so viel zu sich, wie sie brauchte, um nicht Hungers zu
sterben. Dann kehrte sie sogleich zu dem antiken Lehnstuhl zurück, in
dem sie vom Morgen an in der Nische des einzigen Fensters saß, das dem
Zimmer Licht spendete. Sie sah ihre Tochter nur während der wenigen
Augenblicke, die sie sich zu ihrem traurigen Mahle vergönnte, und auch
dann schien sie sie nur mit Mühe um sich zu dulden. Mußten es nicht
unerhörte Schmerzen sein, die bei einer jungen Frau das mütterliche
Fühlen unterdrücken konnten? Von ihren Leuten erhielt niemand Zutritt
zu ihr. Ihre Kammerfrau war die einzige Person, von der sie sich gern
bedienen ließ. Sie verlangte völlige Ruhe im ganzen Schlosse, selbst
ihre Tochter mußte weitab von ihr spielen. Es war ihr so schwer, auch
nur das geringste Geräusch zu ertragen, daß jede menschliche Stimme,
selbst die ihres Kindes, sie unangenehm berührte. Die Landleute
beschäftigten sich erst viel mit den Eigentümlichkeiten der »Gnädigen«,
doch als alle möglichen Mutmaßungen erschöpft waren, dachten weder die
Dörfchen der Umgebung noch die Bauern mehr an die kranke Frau.

Die Marquise, sich selbst überlassen, konnte sich nun ganz ihrer
Schweigsamkeit hingeben, inmitten der Stille, die sie um sich her
geschaffen hatte. Sie hatte keine Veranlassung, das mit Tapeten
überspannte Zimmer zu verlassen, darin ihre Großmutter gestorben war und
wohin sie nun gekommen war, um einen sanften Tod zu erleiden, ohne
Zeugen, ohne Störungen, ohne falsches Beileid egoistischer Menschen, das
in den Städten die Todesqual des Sterbenden verdoppelt.

Diese Frau war sechsundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter kostet eine
noch von poetischen Illusionen erfüllte Seele gern den Tod, wenn er ihr
als Wohltat erscheint. Aber der Tod ist gegen junge Leute kokett. Er
kommt heran und geht wieder, zeigt sich und versteckt sich. Seine
Langsamkeit nimmt ihm in ihren Augen allen Zauber, und die Ungewißheit,
ob sie morgen noch leben werden, treibt sie schließlich wieder in die
Welt, wo sie dem Schmerz wieder begegnen werden, der unerbittlicher ist
als der Tod und seine Geißel über ihnen schwingt, ohne auf sich warten
zu lassen.

Die Frau, die sich also vom Leben abschloß, sollte denn auch in ihrer
Einsamkeit alle Bitternis dieser vergeblichen Todessehnsucht kennen
lernen -- sie sollte in einer moralischen Agonie, der der Tod kein Ende
machte, eine furchtbare Lehrzeit des Egoismus durchmachen, die die Blume
ihres Herzens ganz entblättern und es für die Gesellschaft tauglich
machen sollte.

Diese grausame, traurige Lehre ist immer die Frucht unserer ersten
Schmerzen. Es war das erste und vielleicht das einzige Mal in ihrem
Leben, daß die Marquise wahrhaft litt. Sollte es nicht in der Tat ein
Irrtum sein, zu glauben, die Gefühle entständen immer aufs neue? Sind
sie nicht, einmal erschlossen, auf die Dauer im Grunde unseres Herzens
vorhanden? Dort schlummern sie ein oder werden wach, wie es die Zufälle
des Lebens mit sich bringen; aber sie bleiben, und ihr Vorhandensein
gibt notwendigerweise der Seele Form. So kann jedes Gefühl nur _einen_
Haupttag haben -- den mehr oder minder langen Tag seines ersten Sturmes.
So kann der Schmerz, das beständigste unserer Gefühle, nur wenn er uns
zum erstenmal befällt, heftig sein, und seine andern Angriffe müssen
immer schwächer werden, teils deshalb, weil wir uns an sein Wiederkommen
gewöhnen, teils infolge eines Naturgesetzes. Die Natur nämlich, um sich
lebend zu erhalten, setzt dieser zerstörenden Kraft eine gleich große,
sehr zähe Kraft entgegen, die aus den Berechnungen der Ichsucht
entspringt.

Aber welchem von allen Leiden gebührt nun eigentlich der Name »Schmerz?«
Der Verlust der Eltern ist ein Kummer, auf den die Natur die Menschen
vorbereitet hat; das physische Weh ist vorübergehend und reicht nicht an
die Seele; und wenn es andauert, so hört es auf, ein Weh zu sein, und
wird zum Tode. Wenn eine junge Frau ein neugeborenes Kind verliert, so
wird die eheliche Liebe ihr bald einen Nachfolger bescheren. Dieser
Kummer ist also auch vorübergehend. Gewiß sind diese Leiden und viele
ähnliche in gewissem Sinne Schläge, Wunden; aber keines berührt die
Lebensfähigkeit in ihrem Kern, und sie müßten in unnatürlicher Raschheit
aufeinander folgen, sollten sie das Gefühl ertöten, das uns treibt, dem
Glück nachzugehen.

Der große, wahre Schmerz ist also ein so mörderisches Leiden, daß es zu
gleicher Zeit die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft befällt,
keinen Teil des Lebens unversehrt läßt, das Denken auf ewig aus den
Fugen bringt, seinen Namenszug unauslöschlich auf die Lippen und die
Stirn schreibt, die Quellen der Freude zuschüttet und in die Seele einen
grundsätzlichen Ekel einpflanzt, der uns dann alles und jedes auf dieser
Welt verleidet. Um unermeßlich zu sein, um in dieser Weise auf Seele und
Leib zu lasten, muß dieses Leid uns in einem Augenblick des Lebens
ereilen, wo alle Kräfte der Seele und des Leibes noch jung sind, muß er
ein Herz in voller Lebenskraft zerschmettern. Dann macht das Leid eine
breite Wunde; groß ist der Schmerz, und kein Wesen kann aus dieser
Krankheit ohne irgendeine poetische Veränderung hervorgehen. Entweder
nimmt es den Weg gen Himmel, oder wenn es hienieden bleibt, so kehrt es
in die Welt zurück, um die Welt zu belügen, ihr Komödie vorzuspielen. Es
kennt nun die Kulisse, die man betritt, um mit Berechnung zu weinen, zu
scherzen. Nach dieser feierlichen Krise gibt es keine Geheimnisse mehr
im Gesellschaftsleben, über das man sich von da ab ein unwiderrufliches
Urteil gebildet hat.

Bei den jungen Frauen im Alter der Marquise wird dieser erste,
einschneidendste aller Schmerzen immer durch das gleiche Geschehnis
verursacht. Die Frau, und vor allem die junge Frau, die ebenso groß an
Seele wie an Schönheit ist, wird jederzeit dort ihr Leben einsetzen,
wohin Natur, Gesellschaft oder Neigung sie stellen -- und sie wird ihr
Leben ganz einsetzen. Wenn dieses Einsetzen ein Fehlschlag ist, ohne daß
sie das Leben dabei verliert, so empfindet sie die grausamsten
Schmerzen, weil ja eben die erste Liebe das schönste aller Gefühle ist.

Warum hat dieses Unglück noch keinen Maler oder Poeten gefunden? Aber
kann es gemalt, kann es besungen werden? Nein, die Natur der Schmerzen,
die es erregt, entzieht sich der Analyse und den Farben der Kunst. Und
dann sind diese Schmerzen auch noch nie offenbart und mitgeteilt worden.
Wenn man ein Weib darin trösten will, muß man sie erraten; denn immer
werden sie mit bitterer Wonne gehegt und fromm genährt, und sie bleiben
am Grunde der Seele -- wie eine Lawine, die in ein Tal gestürzt ist,
alles vor sich her niederwirft, um sich Platz darin zu schaffen.

Die Marquise litt jetzt an diesen Schmerzen, die lange Zeit ungekannt
bleiben werden, weil alles auf der Welt sie verwünscht, während das
Gefühl sie hegt und pflegt und das Gewissen eines echten Weibes sich
immer das Recht zuspricht, sie zu hegen. Es verhält sich mit diesen
Schmerzen, wie mit unrettbar aus dem Leben ausgestoßenen Kindern, an
denen das Herz der Mutter dennoch inniger hängt als an den glücklicher
begabten Kindern. Noch nie vielleicht war diese Katastrophe, die uns für
alles Leben der Außenwelt ganz unzugänglich macht, so heftig, so
vollständig, so grausam vergrößert durch die Verhältnisse, wie im Falle
der Marquise.

Ein geliebter, junger edelsinniger Mann, dessen Wünsche sie nie
befriedigt hatte, um nicht gegen die Gesetze der Welt zu verstoßen, war
gestorben, um ihr das zu retten, was die Gesellschaft die »weibliche
Ehre« nennt. Wem konnte sie nun gestehen: »Ich leide!« Ihre Tränen
hätten ihren Mann beleidigt, die erste Ursache der Katastrophe. Die
Gesetze, die Sitten verboten ihr die Klage; eine Freundin hätte sich
daran geweidet, ein Mann darauf spekuliert. Nein, die arme Trauernde
konnte nur in einer Wüste nach Herzenslust weinen, ihre Leiden aufsaugen
oder von ihnen verzehrt werden, selbst sterben oder etwas in sich töten,
vielleicht ihr Gewissen.

Seit einigen Tagen heftete sie die Augen beständig auf einen flachen
Horizont, wo es, wie in ihrem zukünftigen Leben, nichts zu suchen,
nichts zu hoffen gab, wo alles auf einen Blick zu übersehen war und wo
sie die Abbilder der kalten Verödung erblickte, die ihr unaufhörlich das
Herz zerriß. Die nebeligen Vormittage, ein Himmel von matter Helligkeit,
dicht über der Erde hinziehende Wolken -- das entsprach den Phasen ihrer
seelischen Krankheit.

Ihr Herz war nicht gebrochen und auch nicht mehr oder weniger
abgestorben; nein, unter der langsamen Einwirkung eines unerträglichen
Schmerzes -- unerträglich, weil er zwecklos war -- wurde ihre frische,
blühende Natur zu Stein. Sie litt durch sich und für sich. Heißt also
leiden nicht schon mit einem Fuß im Egoismus stehen? So zogen denn auch
furchtbare Gedanken durch ihr Gewissen und verletzten es. Sie prüfte
sich selbst ehrlich und fand eine Doppelnatur in sich. Sie hatte in
sich ein Weib, das nicht mehr dulden wollte.

Sie versetzte sich zurück in die Freuden ihrer Kindheit, deren
Glückseligkeit sie kaum empfunden hatte und deren klare Bilder nun in
Menge auftauchten, wie um ihr die Schuld an dem Trugwerk einer in den
Augen der Welt anständigen, in Wahrheit entsetzlichen Ehe beizumessen.
Daß sie in ihrer Jugend von zarter Schamhaftigkeit gewesen, daß sie sich
in der Sinnenlust Zwang auferlegt, daß sie der Welt dennoch Opfer
gebracht hatte -- welchen Gewinn hatte sie nun davon gehabt? Obwohl
alles in ihr von Liebe sprach und Liebe erwartete, fragte sie sich doch,
wozu jetzt die Harmonie ihrer Bewegungen, ihr Lächeln und ihre Anmut
noch da seien. Sie fühlte sich nicht mehr gern frisch und üppig, wie man
etwa einen zwecklos wiederholten Ton nicht gern hat. Ihre Schönheit
selbst war ihr unerträglich, wie ein nutzloser Gegenstand. Sie sah mit
Entsetzen voraus, daß sie in Zukunft nicht mehr ein in sich vollendetes
Wesen sein könnte. Hatte ihr inneres Ich nicht die Fähigkeit eingebüßt,
die Eindrücke mit jener köstlichen Unschuld aufzunehmen, die dem Leben
so viel keusche Freude verleiht? In Zukunft mußten die meisten Eindrücke
in ihr, kaum aufgenommen, auch schon wieder verwischt sein, und viele
von denen, die sie einstmals ergriffen hätten, würden ihr dann
gleichgültig werden.

Nach der Kindheit des Leibes kommt die Kindheit des Herzens. Ihr
Geliebter hatte diese zweite Kindheit mit in sein Grab genommen. An
Begierden noch jung, hatte sie doch nicht mehr die völlige Jugend der
Seele, die allem im Leben ihren Wert und ihre Würze mitteilt. Mußte sie
nicht den Grundsatz, traurig zu sein, und allem zu mißtrauen, im Herzen
behalten -- einen Hang, der ihren Regungen den frischen Schwung, den
hinreißenden Zauber rauben mußte? Denn nichts konnte ihr mehr das Glück
geben, das sie erhofft, das sie sich so schön erträumt hatte.

Ihre ersten, echten Tränen löschten das himmlische Feuer aus, das die
ersten Regungen des Herzens bestrahlt, und sie mußte immer daran
kranken, nicht zu sein, was sie hätte sein können. Aus diesem Glauben
muß der bittere Ekel hervorgehen, der dazu führt, daß man sich abwendet,
wenn eine neue Freude sich zeigt. Sie beurteilte jetzt das Leben wie ein
Greis, der bereit ist, es zu verlassen. Obgleich sie sich jung fühlte,
lastete die Masse ihrer freudlosen Tage schwer auf ihrer Seele, drückte
sie nieder und machte sie vor der Zeit alt. Mit einem Schrei der
Verzweiflung fragte sie die Welt, was sie ihr zum Ersatz für die Liebe
gäbe, die ihr das Leben erhalten und die sie verloren hatte. Sie fragte
sich, ob in ihrer erloschenen, so keuschen und reinen Liebe der Gedanke
nicht noch verbrecherischer gewesen sei, als die Tat es hätte sein
können. Es war ihr ein Genuß, sich als schuldig hinzustellen, um der
Welt Trotz zu bieten und sich dafür zu trösten, daß die Welt nicht
ebenso wie sie jene vollkommene Seelengemeinschaft beweinte, die den
Schmerz der Hinterbliebenen lindert, weil sie in ihr der Zuversicht sein
kann, das Glück nicht nur ganz genossen, sondern auch voll gespendet zu
haben und in sich ein treues Bild des Verblichenen zu bewahren.

Sie war unzufrieden wie eine Schauspielerin, die mit ihrer Rolle
durchgefallen ist, denn dieser Schmerz griff alle Fibern, Herz und Kopf
an. War ihre Natur in ihren intimsten Wünschen verletzt, so war damit
ihre Eitelkeit nicht minder verwundet wie die Gutherzigkeit, die allein
eine Frau zu einem Opfer bewegen kann.

Dadurch, daß sie alle Fragen verwarf, alle Hebel der verschiedenen
Stellungen in Bewegung setzte, die uns die verschiedenen Naturen, die
soziale, moralische und physische anweisen, erschlaffte sie die
seelischen Kräfte so sehr, daß sie sich in den widersprechendsten
Betrachtungen verirrte und auf keinen Ausweg mehr kam.

Daher öffnete sie manchmal, wenn der Nebel fiel, ihr Fenster und blieb
gedankenlos davor stehen. Mechanisch atmete sie den feuchten, erdigen
Geruch ein, der in der Luft verbreitet war. Sie stand regungslos da --
wie eine Irrsinnige -- denn die Wirrnis ihres Schmerzes machte sie gegen
die Harmonie in der Natur wie für die Wonne des Denkens in gleichem Maße
stumpf.

Eines Tages, gegen Mittag -- die Sonne hatte gerade heiteres Wetter
geschaffen -- trat die Kammerfrau, ohne befohlen zu sein, herein und
sagte zu ihr:

»Da kommt nun zum vierten Male der Herr Pfarrer und will die Frau
Marquise sprechen, und er besteht heute so fest entschlossen darauf, daß
wir nicht mehr wissen, was wir ihm antworten sollen.«

»Er will ohne Zweifel etwas Geld für die Armen der Gemeinde, nehmen Sie
fünfhundert Louis und bringen Sie sie ihm in meinem Namen.«

»Gnädige Frau,« sagte die Dienerin, einen Augenblick später
zurückkommend, »der Herr Pfarrer will das Geld nicht nehmen und wünscht,
Sie zu sprechen.«

»So mag er kommen!« antwortete die Marquise, mit einer Gebärde des
Unwillens, die dem Priester einen traurigen Empfang verkündete. Sie
wollte sich ohne Zweifel durch eine kurze, offene Erklärung gegen seine
weiteren Zudringlichkeiten schützen.

Die Marquise hatte ihre Mutter in sehr jungen Jahren verloren, und die
Lockerung, die während der Revolution die religiösen Bande in Frankreich
erfuhren, hatte naturgemäß auch auf ihre Erziehung Einfluß gehabt. Die
Frommheit ist eine frauliche Tugend, die Frauen allein aufeinander
übertragen, und die Marquise war ein Kind des 18. Jahrhunderts, zu
dessen philosophischem Glauben ihr Vater sich bekannt hatte. Sie nahm
keine religiösen Übungen vor. Für sie war ein Priester ein öffentlicher
Beamter, dessen Nützlichkeit ihr anfechtbar erschien. In ihrer Lage
konnte die Stimme der Religion ihre Leiden nur noch verbittern; und dann
glaubte sie auch überhaupt nicht an Dorfpfaffen, ebensowenig wie an
deren Erleuchtungen; sie beschloß daher, den ihren auf seinen Platz zu
verweisen, in aller Ruhe und Freundlichkeit. Nach Art der Reichen,
gedachte sie sich seiner durch eine Wohltat zu entledigen.

Der Pfarrer kam, und sein Aussehen war nicht geeignet, der Marquise
andere Begriffe einzuflößen. Sie sah einen dicken, kleinen Mann mit
vorspringendem Bauch, rotem, doch altem und runzligem Gesicht, der zu
lächeln versuchte, doch nur schlecht damit zustande kam. Sein kahler,
von zahlreichen Querfalten gefurchter Schädel war so weit, daß man einen
Viertelkreis davon übersehen konnte, nach vornüber geneigt, was sein
Gesicht noch kleiner erscheinen ließ. Den untern Teil des Kopfes überm
Nacken rahmten ein paar weiße Haare ein, deren man auch vorn an den
Ohren noch einige sah. Nichtsdestoweniger war die Physiognomie dieses
Priesters die eines von Natur vergnügten Menschen gewesen. Seine dicken
Lippen, seine leicht aufgeworfene Nase, sein in Doppelfalten
verschwindendes Kinn bekundeten einen glücklichen Charakter.

Die Marquise bemerkte zuerst nur die Hauptzüge, aber bei dem ersten
Wort, das der Priester zu ihr sprach, war sie überrascht, eine so sanfte
Stimme zu hören; sie sah ihn aufmerksamer an und bemerkte unter seinen
grau werdenden Brauen Augen, die geweint hatten. Der Umriß seiner Wange,
von der Seite gesehen, verlieh seinem Haupte einen so erhabenen Ausdruck
des Schmerzes, daß die Marquise in diesem Pfarrer »einen Menschen«
erkannte.

»Frau Marquise, die Reichen gehören nur dann zu uns, wenn sie leiden;
und die Leiden einer verheirateten, jungen, schönen und reichen Frau,
die weder Kinder noch Angehörige verloren hat, lassen sich erraten und
werden durch Wunden verursacht, deren Zuckungen nur durch die Religion
gelindert werden können. Ihre Seele ist in Gefahr, gnädige Frau. Ich
spreche zu Ihnen in diesem Augenblick nicht von dem andern Leben, das
unser harrt. Nein, ich bin hier nicht im Beichtstuhl. Aber gehört es
nicht auch zu meiner Pflicht, Sie über die Zukunft Ihres
gesellschaftlichen Lebens aufzuklären? Sie werden also einem Greise
verzeihen, wenn er zudringlich war -- es geschieht nur Ihres Glückes
wegen.«

»Das Glück, mein Herr, ist für mich nicht mehr da. Ich werde bald zu
Ihnen gehören, wie Sie sich ausdrücken, und zwar für immer.«

»Nein, gnädige Frau, an dem Schmerz, der Sie bedrückt und sich in Ihren
Zügen ausspricht, werden Sie nicht sterben. Wenn Sie daran hätten
sterben sollen, so würden Sie nicht in Saint-Lange sein. Wir gehen an
den Wirkungen eines gewissen Kummers nie so leicht zugrunde wie an
betrogenen Hoffnungen. Ich habe weit unerträglichere, weit
schrecklichere Schmerzen kennen gelernt, die doch nicht zum Tode geführt
haben.«

Die Marquise machte eine Gebärde des Zweifels.

»Gnädige Frau, ich kenne einen Mann, dessen Unglück so groß war, daß
Ihre Schmerzen Ihnen unbedeutend erscheinen würden, wenn Sie sie mit den
seinen verglichen ...«

Ob nun die lange Einsamkeit ihr schon lästig wurde, ob sie durch die
Aussicht, einem Freundesherzen ihre schmerzlichen Gedanken anvertrauen
zu können, angenehm berührt wurde, jedenfalls betrachtete sie den
Pfarrer mit einer fragenden Miene, die dieser unmöglich mißdeuten
konnte.

»Gnädige Frau,« fuhr der Priester fort, »dieser Mann war ein Vater, dem
von einst zahlreicher Familie nur drei Kinder geblieben waren. Er hatte
nacheinander die Eltern verloren, dann eine Tochter und eine Frau. Er
blieb allein, tief in der Provinz, auf einem kleinen Gute, wo er lange
Zeit glücklich gewesen war. Seine drei Söhne waren beim Heer, und jeder
hatte einen seiner Dienstzeit entsprechenden Rang erlangt. In den
hundert Tagen kam der älteste zur Garde und wurde Oberst; der zweite war
Bataillonschef bei der Artillerie, und der jüngste hatte den Rang eines
Hauptmanns bei den Dragonern. Gnädige Frau, diese drei Jungen liebten
ihren Vater ebenso innig, wie sie von ihm geliebt wurden. Wenn Sie die
Sorglosigkeit junger Leute kennen, die ihren Liebhabereien leben und
niemals Zeit haben, sich den Eltern zu widmen, werden Sie aus einem
einzigen Umstand die Innigkeit ersehen, mit der sie an dem armen,
einsamen Alten hingen, der nun nur noch für sie und durch sie lebte. Es
verging keine Woche, wo er nicht von einem seiner Kinder einen Brief
erhalten hätte. Aber er hatte auch nie einen von ihnen vorgezogen, was
stets den Respekt der Kinder vermindert, noch war er ungerecht und
streng gewesen. Kurz und gut, er fuhr nach Paris, um ihnen vor ihrer
Abreise nach Belgien Lebewohl zu sagen. Sie waren nun abgereist, der
Vater kehrte heim. Der Krieg begann, er bekam Briefe aus Fleurus, aus
Ligny, alles ging gut. Die Schlacht bei Waterloo wurde geschlagen -- Sie
kennen das Ergebnis. Ganz Frankreich wurde mit einem Schlage in Trauer
versetzt. Alle Familien waren in größter Sorge. Er wartete, gnädige
Frau, Sie können sich das denken; er hatte nicht Rast, nicht Ruhe. Er
las die Zeitungen und ging alle Tage selbst zur Post. Eines Tages
meldete man ihm den Diener seines Sohnes, des Obersten. Er sieht diesen
Mann auf dem Pferde seines Herrn sitzen, da brauchte er keine Frage erst
zu stellen: der Oberst war tot -- von einer Kanonenkugel mitten
durchgerissen. Gegen Abend kommt zu Fuß der Diener des jüngsten an; der
jüngste war am Tage nach der Schlacht gestorben. Endlich, gegen
Mitternacht, kommt ein Artillerist und meldet ihm den Tod des letzten
Kindes, auf dessen Haupt nun in so kurzer Zeit dieser arme Vater sein
ganzes Leben gesetzt hatte. Ja, gnädige Frau, sie waren alle gefallen!«

Nach einer Pause hatte der Priester seine eigene Rührung überwunden und
fügte mit sanfter Stimme die folgenden Worte hinzu:

»Und der Vater ist leben geblieben, gnädige Frau. Er hat begriffen, wenn
Gott ihn auf Erden ließe, müsse er hier sein Leid auf sich nehmen, und
so tut er es denn. Aber er hat sich an die Brust der Religion geworfen.
Was kann aus ihm geworden sein?«

Die Marquise hob den Blick zu dem Antlitz des Pfarrers, das jetzt einen
erhabenen Zug der Trauer und Ergebung zeigte, und erwartete das folgende
Wort, das sie weinen machte:

»Priester, gnädige Frau; er war ja schon durch die Tränen geweiht, ehe
er am Fuße des Altars die Weihe empfing.«

Auf einen Augenblick herrschte Schweigen. Die Marquise und der Pfarrer
sahen zum Fenster hinaus nach dem nebligen Horizont, als könnten sie
dort die Kinder sehen, die nicht mehr waren.

»Nicht Priester in einer Stadt, sondern einfacher Dorfpfarrer,« fuhr er
fort.

»In Saint-Lange,« sagte sie, die Tränen trocknend.

»Ja, Gnädige.«

Nie hatte sich die Majestät des Schmerzes Julien erhabener gezeigt; und
dieses »Ja, Gnädige« grub sich ihr ins tiefste Herz, wie die Last eines
endlosen Grams. Diese Stimme, die so sanft ins Ohr klang, erschütterte
ihr Innerstes. Ach, es war ja die Stimme des Unglücks, diese volle,
ernste Stimme, die einen so durchdringenden Zauber auszuüben schien.

»Herr Pfarrer,« sagte fast ehrfurchtsvoll die Marquise, »und wenn ich
nicht sterbe, was wird dann aus mir werden?«

»Gnädige, haben Sie nicht ein Kind?«

»Ja,« sagte sie kalt.

Der Pfarrer warf auf die Frau einen Blick, wie etwa ein Arzt auf einen
Kranken, der in Gefahr schwebt, und beschloß, alles, was in seinen
Kräften stände, zu versuchen, um sie dem Geist des Bösen streitig zu
machen, der schon die Hand nach ihr ausstreckte.

»Sie sehen, Gnädige, wir müssen mit unsern Schmerzen am Leben bleiben,
und die Religion allein bietet uns wahren Trost. Erlauben Sie mir,
wiederzukommen -- hören Sie noch öfter die Stimme eines Mannes, der mit
allen Schmerzen mitzufühlen weiß, und im Grunde, wie ich doch glaube,
nichts allzu Abschreckendes an sich hat.«

»Ja, Herr Pfarrer, kommen Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie an mich gedacht
haben.«

»Gut, Gnädige, auf baldiges Wiedersehen!«

Dieser Besuch löste sozusagen die Spannung in der Seele der Marquise,
deren Kräfte durch Gram und Einsamkeit schon zu sehr aufgerieben waren.
Der Priester ließ in ihrem Herzen einen Balsam und den heilsamen
Widerhall seiner frommen Worte zurück. Sie empfand nun jene Beruhigung,
die den Gefangenen erquickt, wenn er die Tiefe seiner Einsamkeit und die
Schwere seiner Ketten erkannt hat und nun plötzlich durch ein Klopfen an
der Mauer erfährt, daß er einen Nachbarn hat, der durch diesen Ton mit
ihm in Gedankenaustausch tritt. Sie hatte unverhofft einen Vertrauten
gefunden.

Aber sie versank bald wieder in ihre finsteren Betrachtungen und sagte
sich, wie der Gefangene, ein Leidensgefährte könne weder die Fesseln
noch die Schrecken der Zukunft erleichtern. Der Pfarrer hatte sie bei
seinem ersten Besuch in ihrem ganz egoistischen Schmerz nicht gleich
kopfscheu machen wollen; aber er hoffte, daß es seiner Kunst gelingen
werde, in einer zweiten Unterredung sie um einige Schritte weiter der
Religion zuzuführen.

Am übernächsten Tage kam er denn auch, und der Empfang, den die
Marquise ihm bereitete, ließ erkennen, daß sein Besuch erwünscht war.

»Nun, Frau Marquise,« sagte der Greis, »haben Sie ein wenig über die
Menge menschlicher Leiden nachgedacht? Haben Sie die Augen gen Himmel
erhoben? Haben Sie die Unermeßlichkeit von Welten gesehen, die uns in
unserm Dünkel so klein macht, unsern eiteln Stolz zerdrückt und unser
Weh verringert ...?«

»Nein, Herr Pfarrer,« sagte sie, »die gesellschaftlichen Gesetze lasten
mir zu schwer auf dem Herzen und zerreißen es mir zu schmerzlich, als
daß ich mich zum Himmel aufschwingen könnte. Aber die Gesetze sind
vielleicht nicht so grausam, wie die Sitten der Gesellschaft. O, die
Gesellschaft!«

»Wir müssen sowohl den Gesetzen wie den Sitten gehorchen, Gnädige. Das
Gesetz bildet die Losung der Gesellschaft, die Sitten regeln ihre
Handlungen.«

»Sich der Gesellschaft fügen?« versetzte die Marquise mit einer
unwillkürlichen Gebärde des Schmerzes. »Herr Pfarrer, das ist ja eben
die Quelle aller unserer Leiden. Gott hat nicht ein einziges Gesetz des
Unglücks geschaffen; aber die Menschen taten sich zusammen und haben ihm
ins Handwerk gepfuscht. Wir, wir Frauen, erleiden durch die Zivilisation
mehr Mißhandlungen, als durch die Natur. Die Natur legt uns physische
Schmerzen auf, die ihr Männer uns nicht erleichtert, und die
Zivilisation hat Gefühle entwickelt, die ihr fortwährend verletzt. Die
Natur läßt die schwachen Wesen eingehen, aber die Zivilisation
verurteilt sie zum Leben und überliefert sie andauerndem Unglück. Die
Ehe, eine Einrichtung, auf der heute die Gesellschaft beruht, bürdet die
Lasten, die sie mit sich bringt, ganz allein uns auf. Für den Mann die
Freiheit, für die Frau Pflichten. Wir müssen euch unser ganzes Leben
weihen, ihr uns nur vereinzelte Augenblicke. Und dann trifft der Mann
nur eine Wahl, wo wir uns blind unterwerfen. O, Herr Pfarrer, Ihnen kann
ich alles sagen. Nun denn, die Ehe, wenigstens wie sie sich heute
gestaltet hat, scheint mir nur eine gesetzlich erlaubte Prostitution zu
sein. Und daraus sind meine Leiden entstanden. Aber ich allein unter den
unglücklichen, so schrecklich verkuppelten Geschöpfen, muß schweigen!
Ich bin ja allein die Urheberin meines Elends, ich habe meine Ehe
gewollt!«

Sie hielt inne, vergoß bittere Tränen und schwieg.

»In diesen Untiefen des Jammers, in diesem Ozean des Schmerzes,« fuhr
sie fort, »habe ich eine Sandbank gefunden, auf die ich den Fuß setzte,
wo ich in Ruhe leiden konnte: ein Orkan hat alles hinweggerissen. Nun
bin ich allein, ohne Stütze, zu schwach gegen die Stürme.«

»Wir sind nie schwach, wenn Gott mit uns ist,« sagte der Priester. »Und
wenn Sie übrigens hienieden keine Liebe mehr zu befriedigen haben, haben
Sie dann nicht doch noch Pflichten zu erfüllen?«

»Immer Pflichten!« rief sie ungeduldig. »Aber wo sind für mich die
Gefühle, die uns die Kraft geben, sie zu erfüllen? Herr Pfarrer, nichts
aus nichts oder nichts für nichts, das ist eins der gerechtesten Gesetze
der moralischen wie der physischen Natur. Sollen etwa diese Bäume grünes
Laub treiben ohne den Saft, der die Knospen sprengt? Auch die Seele hat
ihren Saft. Bei mir ist der Saft in der Quelle versiegt.«

»Ich will Ihnen nicht von den religiösen Gefühlen sprechen, die die
Ergebung einflößt,« sagte der Pfarrer, »aber die Mutterschaft, Gnädige,
ist denn das nicht --?«

»Halten Sie inne, Herr Pfarrer,« sagte die Marquise. »Gegen Sie werde
ich aufrichtig sein. Ich kann es hinfort gegen niemand sonst mehr sein,
ich bin zur Unwahrheit verurteilt; die Gesellschaft verlangt ein
fortwährendes Fratzenschneiden, und unter der Strafe der Schändung
gebietet sie uns, ihren Förmlichkeiten zu gehorchen. Es gibt zweierlei
Mutterschaft, Herr Pfarrer. Ehemals wußte ich nichts von solchen
Unterscheidungen; heute kenne ich sie. Ich bin nur zur Hälfte Mutter --
besser wär's, es gar nicht zu sein! Helene ist nicht von _ihm_! O,
erschrecken Sie nicht. Saint-Lange ist ein Abgrund, darin viele falschen
Gefühle versunken sind, draus unheilvolles Licht hervorgegangen ist, in
den die gebrechlichen Gebäude der widernatürlichen Gesetze hinabgestürzt
sind. Ich habe ein Kind, das genügt. Ich bin Mutter, so will es das
Gesetz. Aber Sie, Herr Pfarrer, der Sie eine so fein mitfühlende Seele
haben, werden vielleicht den Weheschrei einer armen Frau verstehen, die
nie ein falsches Gefühl in ihr Herz hat dringen lassen. Gott wird mich
richten, aber ich glaube doch nicht gegen seine Gesetze zu verstoßen,
wenn ich den Regungen nachgebe, die er mir in die Seele gepflanzt hat,
und folgendes habe ich nun darin gefunden: Ist nicht ein Kind, Herr
Pfarrer, das Abbild zweier Wesen, die Frucht zweier ganz ineinander
verschmolzenen Gefühle? Wenn es nicht mit allen Fibern des Leibes, wie
mit aller Liebe des Herzens verwachsen ist, wenn es nicht an kostbare
Wonnen, an die Zeiten und Orte, wo diese beiden Wesen glücklich waren,
an ihre Sprache voll menschlicher Musik und an ihren süßen
Gedankenaustausch erinnert, dann ist ein Kind ein verfehltes Werk. Ja,
für sie muß es ein entzückendes Miniaturbild sein, in welchem sie die
Poesie ihres geheimen Doppellebens wiederfinden. Es muß für sie eine
Quelle furchtbarer Regungen sein, muß zugleich all ihre Vergangenheit
und all ihre Zukunft sein. Meine arme, kleine Helene ist das Kind ihres
Vaters, das Kind der Pflicht und des Zufalls; sie erweckt in mir nur den
Instinkt des Weibes, ich stehe für sie nur auf dem Boden des Gesetzes,
das unwiderstehlich antreibt, das Geschöpf zu beschützen, das unser
Schoß gebar. Ich bin nicht zu tadeln, im Sinne der Gesellschaft. Habe
ich der Tochter nicht mein Leben und mein Glück geopfert? Ihr Schreien
erschüttert mich im Innersten; wenn sie ins Wasser fiele, würde ich
nachspringen, sie herauszuholen. Aber sie ist nicht in meinem Herzen.
Ach, die Liebe hat mir den Traum einer erhabeneren, vollkommeneren
Mutterschaft vorgegaukelt; und in einem erloschenen Traume habe ich das
Kind liebkost, nach dem mein Herz verlangte und das unerzeugt blieb: die
köstliche Blume, die schon in der Seele wächst, ehe sie im Leibe wachsen
kann. Ich bin für Helene das, was nach der natürlichen Ordnung eine
Mutter für ihren Sprößling sein muß. Wenn sie meiner einmal nicht mehr
bedarf, so ist eben, kurz gesagt, die Ursache verschwunden, und damit
hören auch die Wirkungen auf. Wenn die Mutter das anbetungswürdige
Vorrecht hat, die Mutterschaft auf das ganze Leben ihres Kindes
auszudehnen, dann muß wohl diese göttliche Dauer des Gefühls dem
Lichtschein einer seelischen Empfängnis zugeschrieben werden. Wenn das
Kind nicht zu allererst schon in der Seele der Mutter gebildet wird,
dann dauert die Mutterschaft nur eine gewisse Zeit und hört auf, wie es
bei den Tieren der Fall ist. Und es ist wahr, ich fühle es: je größer
meine arme Kleine wird, um so mehr löst mein Herz sich von ihr los. Die
Opfer, die ich ihr gebracht, haben mich ihr schon entfremdet, während
bei einem andern Kinde, das fühle ich, mein Herz unerschöpflich sein
würde. Für dieses andere würde überhaupt nichts ein Opfer sein -- alles
wäre Freude gewesen. Hier, Herr Pfarrer, vermögen in mir die Religion
und die Vernunft nichts gegen meine Gefühle auszurichten. Hat sie
unrecht, wenn sie sterben will, die Frau, die weder Mutter noch Gattin
ist, die zu ihrem Unglück einen Blick in die grenzenlosen Schönheiten
der wahren Liebe, in die unermeßlichen Freuden der rechten Mutterschaft
getan hat? Was kann aus ihr werden? Ich werde Ihnen sagen, was sie
fühlt. Hundertmal am Tage, hundertmal in der Nacht schüttelt ein Schauer
mir Hirn, Herz und Leib, wenn eine nur schwach abgewehrte Erinnerung mir
die Bilder eines Glückes vorführt, das ich mir größer vorstelle, als es
vielleicht sein würde. Diese grausamen Phantasien nehmen meinen Gefühlen
alle Wärme, und ich frage mich: >Wie würde mein Leben sein, _wenn_ --?<«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen und zerfloß in Tränen.

»So sieht es im Grunde meines Herzens aus!« fuhr sie fort. »Für ein Kind
von ihm hätte ich gern das schrecklichste Unglück auf mich genommen. Der
Gott, der im Sterben alle Sünden dieser Erde auf sich nahm, wird mir
diesen für mich tödlichen Gedanken verzeihen; aber ich weiß, die Welt
ist unversöhnlich: für sie sind meine Gedanken Blasphemien; ich verstoße
damit gegen alle ihre Gesetze. Ach! ich möchte dieser Welt den Krieg
erklären, um die Gesetze und Sitten umzugestalten, um sie
entzweizuschlagen. Was hat sie nicht alles an mir verwundet: all mein
Denken, all mein Wesen, all mein Fühlen, all mein Wünschen, all mein
Hoffen -- in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit! Für mich ist der Tag
voller Finsternis, mein Denken ein Schwert, mein Herz eine Wunde, mein
Kind eine Verneinung. Jawohl, wenn Helene spricht, wünsch' ich ihr
andere Augen. Sie ist da zum Zeugnis alles dessen, was sie sein müßte
und was sie nicht ist! Sie ist mir unerträglich. Ich lächle sie an, ich
bemühe mich, sie für die Gefühle zu entschädigen, die ich ihr nicht
entgegenbringen kann. Ich leide! O, Herr Pfarrer, ich leide zu sehr, als
daß ich leben könnte. Und ich werde für eine tugendhafte Frau gelten!
Und ich habe keinen Fehltritt begangen! Und man wird mich ehren! Ich
habe die unwillkürliche Liebe bekämpft, der ich nicht Raum geben durfte.
Aber wenn ich auch physisch treu geblieben bin -- habe ich auch mein
Herz bewahrt? Das,« setzte sie hinzu, die rechte Hand auf den Busen
legend, »hat allzeit nur einem Manne gehört! Mein Kind täuscht sich auch
darüber nicht. Es gibt auch bei Müttern Blicke, Töne, Gebärden, die die
Seele eines Kindes wie mit Füßen treten; und wenn ich meine arme Kleine
ansehe, wenn ich mit ihr spreche, wenn ich sie nehme, dann fühlt sie,
daß mein Arm ruhig bleibt, daß meine Stimme nicht zittert, daß meine
Augen kalt bleiben. Sie wirft mir anklägerische Blicke zu, die ich nicht
ertragen kann. Mitunter habe ich Angst, in ihr einen Richter zu finden,
der mich ohne Verhör verurteilen wird. Gebe es der Himmel, daß sich
nicht eines Tages der Haß zwischen uns stelle! Großer Gott, öffne mir
doch lieber das Grab, laß mich in Saint-Lange enden! Ich will in jene
Welt eintreten, wo ich meine andere Seele wiederfinden werde, wo ich
ganz und gar Mutter sein werde! O, verzeihen Sie mir, Herr Pfarrer, ich
bin verrückt. Ich ersticke an diesen Worten -- doch nun habe ich sie
gesagt. Ach, Sie weinen auch, Sie werden mich nicht verachten. Helene,
meine Tochter, Helene, komm!« rief sie in einer Art von Verzweiflung,
als sie ihr Kind hörte, das vom Spaziergang zurückkam.

Die Kleine kam lachend und schreiend; sie brachte einen Schmetterling,
den sie gefangen hatte; aber als sie ihre Mutter in Tränen sah,
verstummte sie, schmiegte sich an sie und ließ sich auf die Stirn
küssen.

»Sie wird einmal sehr schön werden,« meinte der Priester.

»Sie ist ganz ihr Vater,« antwortete die Marquise und küßte ihr Kind mit
Ungestüm, wie um eine Schuld abzutragen oder einen Vorwurf, den sie sich
selbst machte, zu beschwichtigen.

»Dir ist heiß, Mama.«

»Geh', laß uns allein, mein Engel,« antwortete die Marquise.

Das Kind ging ohne Kummer, ohne einen Blick auf die Mutter; es schien
fast froh zu sein, ein so trauriges Gesicht zu fliehen, und begriff
schon, daß die Gefühle, die sich darin ausdrückten, ihr abhold waren.
Das Lächeln ist das Handgeld, die Sprache, der Ausdruck der
Mütterlichkeit. Die Marquise konnte nicht lächeln. Sie errötete, als sie
den Priester ansah: sie hatte sich als Mutter zeigen wollen, doch weder
sie noch ihr Kind hatten lügen können. Ja, die Küsse einer aufrichtigen
Frau haben einen göttlichen Honig, der dieser Liebkosung eine Seele, ein
zartes Feuer zu verleihen scheint, das zu Herzen dringt. Die Küsse,
denen diese Würze und Weihe fehlt, sind herb und trocken. Der Priester
hatte diesen Unterschied empfunden, konnte den Abgrund ermessen, der
zwischen der Mütterlichkeit des Fleisches und der Mütterlichkeit des
Herzens liegt. Nachdem er daher auf diese Frau einen durchdringenden
Blick geworfen hatte, sprach er zu ihr:

»Sie haben recht, Gnädige, es wäre für Sie besser, Sie wären tot ...«

»Ach, Sie verstehen meine Leiden, ich sehe es,« antwortete sie, »weil
Sie als christlicher Priester die unseligen Entschlüsse, die der Jammer
mir eingab, erraten und gutheißen. Jawohl, ich habe mir selbst den Tod
geben wollen. Aber es hat mir an dem nötigen Mut gefehlt, meinen Plan
auszuführen. Mein Körper ist feige gewesen, wenn meine Seele stark war
-- und wenn meine Hand nicht zitterte, hat wieder meine Seele
geschwankt. Das Geheimnis dieser Kämpfe, dieser wechselnden Stärke und
Schwäche ist mir unbekannt. Ich bin ohne Zweifel eben Weib und als
solches kläglicherweise ohne Ausdauer im Wollen, stark nur zum Lieben.
Ich verachte mich selbst. Am Abend, als meine Leute schliefen, ging ich
mutig zu dem kleinen Teich. Am Rande angelangt, entsetzte meine feige
Seele sich vor der Vernichtung. Ich bekenne meine Schwächen. Als ich im
Bett lag, schämte ich mich vor mir selbst und wurde wieder mutig. In
einem dieser Augenblicke habe ich Laudanum genommen -- aber ich hatte
nur Schmerzen, gestorben bin ich nicht. Ich hatte geglaubt, den ganzen
Inhalt des Fläschchens zu trinken, und habe schon bei der Hälfte
aufgehört.«

»Sie sind verloren, gnädige Frau,« sagte der Priester ernst und mit
tränenvoller Stimme. »Sie werden in die Welt zurückkehren und die Welt
betrügen. Sie werden dort das suchen und finden, was Sie als
Entschädigung für Ihre Unbilden ansehen. Eines Tages werden Sie dann
die Strafe für Ihre Wollust ...«

»Ich,« rief sie, »ich sollte hingehen und dem ersten besten Schurken,
der die Komödie einer Liebe zu spielen verstände, die letzten kostbaren
Reichtümer meines Herzens preisgeben und mein Leben um einen Augenblick
zweifelhaften Glücks zugrunde richten? Nein! meine Seele wird sich an
einer reinen Flamme verzehren. Herr Pfarrer, die Männer haben alle die
Sinne ihres Geschlechts; aber den Mann, der auch Seele hat und so alle
Forderungen unserer Natur befriedigt, dessen melodische Harmonie sich
nur unter dem Druck wahrer Gefühle verrät, diesen Mann trifft man nicht
zweimal im Leben. Meine Zukunft ist furchtbar, ich weiß es: ohne Liebe
ist das Weib nichts, ohne Wollust ist die Schönheit nichts; aber würde
die Welt nicht mein Glück verdammen, wenn es sich mir noch einmal böte?
Ich bin meiner Tochter eine ehrbare Mutter schuldig. Ach, ich bin in
einen eisernen Ring gesteckt, von dem ich mich nicht ohne Schimpf
freimachen kann. Die Pflichten der Familie ohne Gegenlohn zu erfüllen,
wird mir zum Überdruß; ich werde das Leben verwünschen; aber meine
Tochter wird wenigstens ein schönes Scheinbild von einer Mutter haben.
Zum Ersatz für den Schatz an Liebe, den ich ihr versagt habe, werde ich
ihr einen Schatz an Tugend spenden. Um der Freuden willen, die sonst den
Müttern das Glück ihrer Kinder bereitet, liegt mir ja auch gar nichts am
Leben. Ich glaube nicht an Glück. Was wird Helenens Los sein? Ohne
Zweifel das meine. Welche Mittel haben die Mütter, ihren Töchtern die
Gewißheit zu geben, daß der Mann, dem sie sie überliefern, ein Ehegatte
nach ihrem Herzen sein wird. Ihr verachtet arme Geschöpfe, die sich für
ein paar Taler einem Vorübergehenden verkaufen: der Hunger und die
Notdurft erteilen diesen Eintagsverbindungen die Absolution. Aber die
dauernde Verbindung duldet, ja fordert die Gesellschaft, und doch ist
diese Verbindung etwa zwischen einem jungen keuschen Mädchen und einem
Manne, den sie kaum drei Monate lang kennt, noch weit entsetzlicher;
denn dieses Mädchen ist für sein ganzes Leben verkauft. Es ist wahr, der
Preis ist weit höher. Wenn ihr sie wenigstens ehrtet, da ihr ihnen
einmal doch keine Entschädigung für ihre Schmerzen zubilligt! aber nein,
die Welt verleumdet gerade die tugendhaftesten unter uns. Dies ist unser
Schicksal, von seinen zwei Seiten betrachtet: entweder eine öffentliche
Prostitution und die Schande -- oder eine heimliche Prostitution und das
Unglück. Was gar die armen Mädchen ohne Mitgift anbetrifft -- die werden
verrückt und sterben. Mit ihnen hat niemand Mitleid. Die Schönheit, die
Tugenden sind keine Werte auf euerm Menschenmarkt, und diesen
Tummelplatz des Egoismus nennt man Gesellschaft. So laßt die Töchter
doch nicht mehr erben! Dann werdet ihr wenigstens ein Naturgesetz
erfüllen, und die Männer werden ihre Gefährtinnen nach der Stimme ihres
Herzens wählen und heiraten.«

»Gnädige Frau, Ihre Reden beweisen mir, daß Sie weder Familiensinn noch
religiösen Sinn haben. Sie werden daher auch nicht zwischen dem
gesellschaftlichen Egoismus, der Sie verletzt, und dem Egoismus des
Individuums, der Sie mit dem Verlangen nach Genüssen erfüllt, schwanken --«

»Familie, Herr Pfarrer! Gibt es denn das? Ich verneine die Familie in
einer Gesellschaft, die beim Tode des Vaters und der Mutter die Habe
verteilt und jeden seines Weges gehen heißt. Die Familie ist eine
zeitliche und zufällige Vereinigung, die der Tod sofort löst. Unsere
Gesetze haben die Geschlechter, die Erbschaften, die Fortdauer der
Vorbilder und Traditionen zerstört. Ich sehe nichts als Schutt um mich
her.«

»Meine Gnädige, Sie werden nicht eher zu Gott zurückkehren, als bis
seine Hand schwer auf Sie fallen wird, und ich wünsche Ihnen, daß Sie
Zeit genug haben mögen, Ihren Frieden mit ihm zu machen. Sie suchen
Ihren Trost, indem Sie den Blick zur Erde senken, statt ihn zum Himmel
erheben. Der Hang zu trügerischem Philosophieren und das persönliche
Interesse haben Ihr Herz überfallen; Sie sind taub gegen die Stimme der
Religion, wie es die Kinder dieses Jahrhunderts ohne Glauben eben sind.
Die Freuden der Welt erzeugen nichts als Leid. Sie werden mit den
Schmerzen nur wechseln -- weiter nichts.«

»Ich werde Ihre Prophezeiung Lügen strafen,« sagte sie mit bitterm
Lächeln, »ich werde dem treu bleiben, der für mich gestorben ist.«

»Der Schmerz,« erwiderte er, »ist nur in den von der Religion bereiteten
Seelen lebensfähig.«

Sie senkte ehrerbietig die Augen, um die Zweifel nicht sehen zu lassen,
die sich in ihrem Blick hätten verraten können. Die Energie der Klagen,
die die Marquise angestimmt, hatte ihn tieftraurig gemacht. Da er das
menschliche Ich in seinen tausend Gestalten kannte, verzweifelte er
daran, auf dieses Herz besänftigend einzuwirken, das das Leid zur Wüste
statt zum weichen Boden gemacht hatte und in dem das Samenkorn des
himmlischen Sämanns nicht entkeimen konnte, da sein sanftes Wort darin
von dem lauten, schrecklichen Geschrei der Ichsucht erstickt wurde.

Nichtsdestoweniger entfaltete er die Ausdauer des Apostels und kam
mehrmals wieder, immer von der Hoffnung hingeführt, diese so edle,
stolze Seele zu Gott zu bekehren; aber an dem Tage, wo er erkannte, daß
die Marquise nur deshalb gern mit ihm plauderte, weil es ihr wohltat,
von dem verlorenen Geliebten zu sprechen, da gab er es auf. Er wollte
sein Amt nicht dadurch herabsetzen, daß er sich zum Gelegenheitsmacher
für schlummernde Leidenschaften hergab. Er stellte diese Gespräche ein
und bahnte allmählich einen förmlichen Verkehr an, wo dann nur von
alltäglichen Dingen gesprochen wurde.

Der Frühling kam heran. Die Marquise fand Zerstreuungen in ihrer tiefen
Traurigkeit und beschäftigte sich, da sie sonst nichts zu tun hatte, mit
ihrem Grund und Boden, wo sie einige Arbeiten anzuordnen beliebte.

Im Monat Oktober verließ sie ihr altes Schloß Saint-Lange, wo sie wieder
frisch und schön geworden war im Müßiggang eines Schmerzes, der, zuerst
heftig, wie ein kraftvoll geworfener Diskus, schließlich in Melancholie
erloschen war, wie der Diskus nach allmählich schwächer werdenden
Schwingungen zu fliegen aufhört. Die Melancholie besteht aus einer Reihe
ähnlicher seelischer Schwingungen, deren erste an die Verzweiflung,
deren letzte an das Vergnügen stößt; in der Jugend ist sie die
Morgendämmerung -- im Alter das Abendrot.

Als ihre Kalesche durch das Dorf fuhr, empfing die Marquise den Gruß des
Pfarrers, der aus der Kirche kam und in die Pfarre ging; aber als sie
den Gruß erwiderte, schlug sie die Augen nieder und wandte den Kopf zur
Seite, um ihn nicht wiederzusehen.

Der Priester hatte nur zu sehr recht gehabt gegen diese arme Diana von
Ephesus.




3. Kapitel.

Mit dreißig Jahren.


Ein junger Mann von großen Hoffnungen -- ein Sproß eines jener
historischen Geschlechter, deren Namen immer, selbst den Gesetzen zum
Trotz, eng mit dem Ruhme Frankreichs verknüpft sein werden, befand sich
auf dem Ball bei Madame Firmiani. Diese Dame hatte ihm Empfehlungsbriefe
an einige ihrer Freundinnen in Neapel mitgegeben. Herr Karl de
Vandenesse -- so hieß der junge Mann -- kam, um sich dafür zu bedanken
und Abschied zu nehmen. Nachdem Vandenesse mehrere Missionen mit Talent
erfüllt hatte, war er in letzter Zeit einem unserer bevollmächtigten
Minister attachiert worden, der auf den Kongreß von Laibach entsendet
wurde. Diese Reise wollte er gleich dazu benutzen, Italien kennen zu
lernen.

Dieses Fest war also gewissermaßen ein Abschied von den Genüssen der
Stadt Paris, vor diesem schnellen Leben, diesem Wirbel von Gedanken und
Vergnügungen, den man so oft verwünscht und dem sich hinzugeben doch so
süß ist. Karl de Vandenesse war seit drei Jahren gewöhnt, die
europäischen Hauptstädte zu betreten und zu verlassen, wie die Launen
seines diplomatischen Berufs es mit sich brachten. Wenn er nun Paris
verlassen mußte, so brauchte ihm das nicht weiter leid zu tun. Die
Frauen machten gar keinen Eindruck mehr auf ihn: vielleicht weil er der
Meinung war, eine echte Leidenschaft würde im Leben eines Mannes, der im
Staatsdienst stand, zu viel Raum einnehmen; vielleicht erschien ihm
auch das läppische Treiben einer oberflächlichen Galanterie zu leer für
eine starke Seele. Wir erheben ja alle hohe Ansprüche auf Seelenstärke.
In Frankreich ist kein Mensch, sei er auch mittelmäßig, damit
einverstanden, bloß für geistreich zu gelten. So hatte auch Karl trotz
seiner Jugend -- er war kaum dreißig Jahre alt -- schon die
philosophische Gewohnheit angenommen, Begriffe, Ergebnisse, Absichten
ins Auge zu fassen, wo Männer seines Alters nur Gefühle, Freuden,
Hirngespinste sehen. Er drängte die Wärme und Überschwenglichkeit, die
jungen Leuten natürlich ist, in die Tiefen seiner von Natur edelmütigen
Seele zurück. Er strebte danach, einen kalt berechnenden Menschen aus
sich zu machen, die moralischen Reichtümer, die der Zufall ihm in die
Hände gegeben hatte, zu Manieren, liebenswürdigen Formen,
verführerischen Kunstgriffen umzuwandeln: die echte Methode des
Ehrgeizigen. Dieses traurige Spiel wird in der Regel nur zu dem Zwecke
unternommen, um das zu erlangen, was wir heutzutage »eine schöne
Position« nennen.

Er warf einen letzten Blick auf die Säle, wo getanzt wurde. Bevor er den
Ball verließ, wollte er ohne Zweifel noch ein Bild davon mit
hinwegnehmen, wie ein Zuschauer die Loge in der Oper nicht verläßt, ohne
das Schlußbild anzuschauen. Es war ja auch eine leicht verständliche
Laune, daß Herr de Vandenesse nun dieses echt französische Treiben, den
Prunk und die lachenden Gesichter dieses Pariser Festes betrachtete. Er
stellte es im Geist neben die neuen Erscheinungen, die malerischen
Szenen, die in Neapel seiner harrten, wo er einige Tage zu verbringen
vorhatte, ehe er sich auf seinen Posten begeben wollte.

Er schien das wechselvolle und doch so bald ausstudierte Frankreich mit
dem Lande zu vergleichen, dessen Sitten und Gebräuche ihm nur aus
widersprechenden Urteilen oder aus zum größten Teil schlecht gemachten
Büchern bekannt waren. Einige ziemlich poetische, aber heute recht
alltäglich gewordene Betrachtungen gingen ihm da durch den Kopf und
entsprachen -- vielleicht ohne daß er sich dessen bewußt war -- den
geheimen Wünschen seines Herzens. Denn das war im Grunde nicht blasiert,
sondern stellte noch immer seine Anforderungen -- es war nicht
abgestumpft, sondern eigentlich nur unbetätigt.

»Das sind,« sagte er zu sich selbst, »die elegantesten, die reichsten
Frauen von Paris, mit den höchsten Titeln. Hier sind die Berühmtheiten
des Tages, die Größen vom Parlament, aus der Aristokratie und aus der
Literatur. Dort Künstler, hier Staatsmänner. Und doch sehe ich nur
kleinliche Intrigen, totgeborene Liebschaften, nichtssagendes Lächeln,
grundlosen Dünkel, erloschene Blicke, viel Geist, der aber zwecklos
verschwendet wird. Alle diese weißen und rosigen Gesichter suchen
weniger die Freude als die Zerstreuung. Keine Regung ist wahr. Wer
weiter nichts haben will als hübsch angeordneten Putz, frische Spitzen,
hübsche Toiletten, überzarte Weiber, wem das Leben nichts weiter ist als
eine Fläche, über die er flüchtig hinstreifen will, für den ist das hier
die richtige Welt. Dann muß man sich eben mit diesen inhaltslosen
Phrasen, mit diesen entzückenden Fratzen begnügen -- Gefühl im Herzen
darf man nicht verlangen. Ich meines Teils hege einen Abscheu vor diesen
platten Intrigen, deren Ende immer eine Heirat, eine Unterpräfektur,
eine Generalpächterstelle ist, und wenn sich's um Liebe handelt, so sind
heimliche Abmachungen das Ende -- so ist jeder Anschein von
Leidenschaften verpönt. Unter diesen beredten Gesichtern verrät nicht
ein einziges eine Seele, die einen Begriff wie etwa die Reue kennt. Hier
verbirgt sich der Kummer oder das Unglück ängstlich unter allerlei
Scherzen. Unter diesen Frauen bemerke ich keine, mit der ich gern ringen
würde, von der ich mich in einen Abgrund hineinreißen lassen könnte. Wo
in Paris ist Energie zu finden? Ein Dolch ist eine Kuriosität, die man
an einem vergoldeten Nagel aufhängt, zu der man ein hübsches Futteral
machen läßt. Weiber, Gedanken, Gefühle, alles ist sich gleich. Es gibt
keine Leidenschaften mehr, weil die Individualitäten verschwunden sind.
Rang, Geist und Vermögen sind gleichgemacht worden, und wir haben uns
alle in den schwarzen Frack geworfen, um das tote Frankreich zu
betrauern. Menschen, die uns gleichen, lieben wir aber nicht. Zwischen
zweien, die sich lieben sollen, müssen Verschiedenheiten auszugleichen,
Zwischenräume auszufüllen sein. Dieser Reiz der Liebe ist 1789
verschwunden. Unser Überdruß, unsere faden Sitten sind das Ergebnis des
politischen Systems. In Italien wenigstens ist das alles anders. Dort
sind die Weiber noch bösartige Tiere, gefährliche Sirenen ohne Vernunft,
ihre Lüste, ihre Begierden sind ihre einzige Logik. Man muß sich vor
ihnen in acht nehmen wie vor Tigern.«

Frau Firmiani unterbrach ihn in diesem Selbstgespräch, dessen tausend
widerspruchsvolle, unvollendete, verworrene Gedanken sich nicht
wiedergeben lassen. Das Gute an einer Träumerei liegt durchaus in ihrer
Unklarheit -- ist sie nicht eine Art intellektuellen Nebels?

»Ich will,« sagte sie zu ihm und nahm seinen Arm, »Sie einer Frau
vorstellen, die nach allem, was sie von Ihnen gehört hat, Sie unbedingt
kennen zu lernen wünscht.«

Sie führte ihn in einen Salon nebenan, wo sie mit einem Wink, einem
Lächeln und einem Blick von echt pariserischer Art auf eine in der
Kaminecke sitzende Dame zeigte.

»Wer ist das?« fragte Graf de Vandenesse lebhaft.

»Eine Frau, von der Sie sich gewiß schon mehrmals unterhalten haben, um
sie zu loben oder zu schmähen -- eine Frau, die in Einsamkeit lebt --
ein wahrhaft geheimnisvolles Wesen.«

»Wenn Sie jemals in Ihrem Leben barmherzig gewesen sind, so nennen Sie
mir den Namen der Dame!«

»Marquise d'Aiglemont.«

»Ich werde Unterricht bei ihr nehmen. Sie hat es verstanden, aus einem
recht mittelmäßigen Gatten einen Pair von Frankreich, aus einer Null von
Menschen eine politische Kapazität zu machen. Aber sagen Sie mir,
glauben Sie, daß Lord Grenville für sie gestorben sei, wie einige Frauen
behauptet haben?«

»Vielleicht. Seit diesem Abenteuer, ob es nun falsch oder wahr ist, hat
diese arme Frau sich völlig verändert. Sie ist noch nicht wieder in die
Welt zurückgekehrt. Eine vierjährige Treue -- das will schon was heißen
in Paris. Wenn Sie sie hier sehen ...«

Frau Firmiani hielt inne, dann setzte sie mit schlauer Miene hinzu: »Ich
vergesse, ich muß schweigen. Plaudern Sie mit ihr.«

Karl blieb einen Augenblick regungslos stehen, leicht gegen die
Türverkleidung gelehnt. Unverwandt betrachtete er die Frau, die zur
Berühmtheit geworden war, ohne daß jemand die Gründe erklären konnte,
auf denen ihr Ruf beruhte. Die Welt weist viele solcher seltsamen
Anomalien auf. Der Ruhm der Frau d'Aiglemont war sicherlich nicht
größer als der gewisser Männer, die immer an einem unbekannten Werke
arbeiten: Statistiker, die man für gelehrt hält auf Grund von
Berechnungen, die zu veröffentlichen sie sich wohl hüten; Politiker, die
von einem Zeitungsartikel leben; Schriftsteller oder Künstler, deren
Werk immer in der Mappe bleibt; Gelehrte, die aber nur bei denen dafür
gelten, die selbst nichts von Wissenschaft verstehen, wie etwa
Sganarelle ein Lateiner ist in den Augen derer, die nicht Lateinisch
können; Männer, denen man in einem bestimmten Punkte ein unbestrittenes
Talent zuschreibt, sei es in der Verwaltung der Künste, sei es in
irgendeiner wichtigen Mission.

Das wunderbare Wort: »Er ist eine Spezialität,« ist, wie es scheint, für
diese Arten von politischen oder literarischen Strohköpfen erfunden
worden.

Karl verharrte länger, als er eigentlich wollte, in Betrachtungen, und
war mit sich selbst unzufrieden, daß er einer Frau so tiefe
Aufmerksamkeit widmete. Aber die Gegenwart dieser Frau widerlegte ja
auch alle die Gedanken, die der junge Diplomat vor einem Augenblick noch
beim Betrachten der Ballgesellschaft gehegt hatte.

Die Marquise, jetzt dreißig Jahre alt, war schön, wenn auch von
schwächlichen Formen und übergroßer Zartheit. Ihr größter Reiz lag in
einer Physiognomie, deren starre Ruhe eine erstaunliche Tiefe der Seele
verriet. Ihr glänzendes Auge, das jedoch von beständigem Sinnen
verschleiert zu sein schien, zeugte von einem Leben im Fieber und von
der größten Resignation. Ihre fast stets keusch zu Boden gesenkten Lider
schlugen sich selten auf. Wenn sie Blicke um sich warf, so gingen die
Augen langsam und traurig -- und man hätte sagen können, sie sparten ihr
Feuer für Beobachtungen im verborgenen auf.

Daher fühlte sich auch jeder Mann höherer Art seltsam zu dieser sanften,
schweigsamen Frau hingezogen. Wenn der Geist das Rätsel ihres
beständigen Schwankens zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit,
zwischen der Gesellschaft und ihrer Einsamkeit zu erraten suchte, so war
die Seele nicht weniger begierig, die Geheimnisse eines gewissermaßen
auf seine Leiden stolzen Herzens zu ergründen. Und dann strafte nichts
an ihr den Eindruck, den sie zuerst machte, späterhin Lügen.

Wie fast alle Frauen, die sehr langes Haar haben, war sie blaß, ja
vollkommen weiß. Ihre Haut, die von wunderbarer Zartheit war -- ein
selten trügendes Zeichen -- deutete auf echtes Feingefühl. Die Natur
will, daß dies sich schon äußerlich kundtue, und zwar fast immer in
Zügen von so wunderbarer Vollendung, wie sie die chinesischen Maler
ihren phantastischen Figuren verleihen. Ihr Hals war vielleicht ein
wenig lang; aber ein Hals von dieser Art ist der anmutigste und gibt den
Frauenköpfen eine unbestimmte Ähnlichkeit mit den magnetischen,
wellenartigen Bewegungen der Schlangen. Gäbe es nicht ein einziges von
den tausend Kennzeichen, durch die sich dem Beobachter die
heuchlerischsten Charaktere verraten, so würde es ihm zur Beurteilung
einer Frau genügen, die Gebärden ihres Kopfes und die so verschiedenen,
so ausdrucksvollen Biegungen des Halses aufmerksam zu verfolgen.

Bei Frau d'Aiglemont war die Kleidung im Einklang mit dem Tiefsinn, der
ihre Person beherrschte. Ihre breiten Haarflechten bildeten über dem
Kopfe eine hohe Krone, an der keinerlei Schmuck angebracht war; denn sie
schien für immer allem Putz und Zierat abgesagt zu haben. Auch
entdeckte man an ihr niemals die kleinlichen Kunstgriffe der Koketterie,
durch die sich so viele Frauen unliebsam bemerkbar machen. Nur ihr
Leibchen, so bescheiden es auch war, ließ doch ein wenig die eleganten
Formen ihrer Taille erkennen. Und dann war ihr langes Kleid von
außergewöhnlich vornehmem Schnitt. Das war sein einziger Luxus. Wenn man
in der Anordnung eines Stoffes Ideen suchen darf, so hätte man sagen
können, die zahlreichen, schlichten Falten ihrer Robe verliehen ihr ein
Gepräge hohen Adels. Nichtsdestoweniger verriet sie vielleicht die
untilgbaren Weiberschwächen in der peinlichen Sorgfalt, die sie ihrer
Hand und ihrem Fuß widmete; aber wenn sie sie mit gewissem Vergnügen
zeigte, so wäre es doch selbst der boshaftesten Nebenbuhlerin schwer
gewesen, diese Bewegungen affektiert zu finden; sie schienen eben ganz
unwillkürlich und aus kindlichen Gewohnheiten hervorzugehen.

Eine graziöse Gleichgültigkeit ließ über diesen Rest von Gefallsucht
hinwegsehen. Die Menge von einzelnen Zügen, die Gesamtheit von
unbedeutenden Umständen, die eine Frau häßlich oder hübsch, abstoßend
oder liebenswürdig machen, können bei Frauen, wie Madame d'Aiglemont,
nur flüchtig angedeutet sein; denn bei ihnen ist die Seele das
Bindeglied aller Einzelheiten, denen sie eine köstliche Einstimmigkeit
aufdrückt. So entsprach denn auch ihre Haltung vollkommen dem Charakter
ihres Gesichts und ihrer Kleidung. In einem gewissen Alter verstehen es
gewisse auserlesene Frauen, in ihre Haltung eine Sprache zu legen. Ist
es das Leid, ist es das Glück, das der Frau von dreißig Jahren, der
glücklichen oder der unglücklichen, das Geheimnis dieser beredten
Haltung offenbart? Das wird immer ein lebendes Rätsel sein, das jeder
nach seinen Wünschen und Hoffnungen oder nach seiner Methode auslegt.

Die Art, wie die Marquise beide Ellenbogen auf die Lehnen ihres Sessels
stützte und die Fingerspitzen beider Hände aufeinanderstellte, als wolle
sie damit spielen, die Biegung ihres Halses, das Gehenlassen ihres
müden, doch geschmeidigen Körpers, der wie zerschlagen in dem Fauteuil
ruhte, die Lässigkeit ihrer Beine, die Ungezwungenheit ihrer Lage, ihre
trägen, schwermütigen Bewegungen -- das alles verriet in ihr eine Frau,
die kein Interesse mehr am Leben, die die Freuden der Liebe gar nicht
kennen gelernt, sondern nur erträumt hat, und die schwer an der Bürde
leidvoller Erinnerungen trägt, eine Frau, die seit langem an der Zukunft
oder an sich selbst verzweifelt, eine Frau, die nichts zu tun hat und in
der Leere schon das Nichts erblickt.

Karl de Vandenesse bewunderte dieses prächtige »Tableau«, doch sah er
darin nur eine geschicktere Mache, als gewöhnliche Frauen herausbringen.
Er kannte d'Aiglemont. Beim ersten Blick auf seine Frau, die er noch
nicht gesehen hatte, durchschaute nun der junge Diplomat
Mißverhältnisse, unausweichliche Verschiedenheiten -- um diesen legalen
Ausdruck zu gebrauchen -- die zwischen den beiden Personen eine so
starke Scheidewand aufzurichten schienen, daß diese Frau unmöglich
diesen Mann lieben konnte. Dennoch führte Frau d'Aiglemont ein
untadelhaftes Leben, und gerade ihre Tugend verlieh all den Rätseln, die
ein Menschenkenner an ihr entdecken mochte, noch einen höheren Wert. Als
Vandenesse die erste Regung des Erstaunens überwunden hatte, sann er
nach, wie er sich wohl am besten Frau d'Aiglemont nähern könne, und er
beschloß, einen ziemlich alltäglichen Kunstgriff der Diplomatie
anzuwenden und sie in Verlegenheit zu bringen, um auf diese Weise zu
erfahren, wie sie eine Albernheit aufnehmen würde.

»Gnädige Frau,« sagte er und setzte sich einfach neben sie, »eine
Indiskretion, die ich mit Freuden begrüße, hat mir verraten, daß ich --
ich weiß nicht, auf welche Vorzüge hin -- das Glück genieße, von Ihnen
mit Interesse betrachtet zu werden. Ich bin Ihnen um so mehr Dank
schuldig, als ich bisher noch nie der Gegenstand einer solchen Gunst
gewesen bin. Sie werden daher daran schuld sein, wenn ich mir nun einen
neuen Fehler zulege. Ich werde hinfort nicht mehr bescheiden sein.«

»Daran werden Sie unrecht tun, mein Herr,« sagte sie lachend. »Die
Eitelkeit muß man denen überlassen, die sonst nichts weiter aufzuweisen
haben.«

Zwischen dem jungen Manne und der Marquise entspann sich ein Gespräch,
und sie streiften, wie es Brauch ist, in einem Augenblick eine ganze
Menge von Gegenständen: Malerei, Musik, Literatur, Politik,
Gesellschaft, Ereignisse und Dinge. Dann kamen sie durch einen
unmerklichen Übergang auf das ewige Thema der Plaudereien in Frankreich
und in andern Ländern, auf die Liebe, auf die Gefühle und die Frauen.

»Wir sind Sklavinnen.«

»Sie sind Königinnen.«

Die mehr oder minder geistreichen Phrasen Karls und der Marquise lassen
sich in diesem einfachen Ausdruck zusammenfassen; denn das ist die Form
für alle gegenwärtigen und künftigen Gespräche über diesen Gegenstand.
Werden diese beiden Phrasen nicht zu einer bestimmten Stunde nicht immer
wieder die schärfere Bedeutung haben: »Lieben Sie mich!« -- »Ich werde
Sie lieben!«

»Gnädige Frau,« rief Karl de Vandenesse, »Sie sorgen noch dafür, daß ich
mit lebhaftem Bedauern Paris verlasse. Ich werde gewiß in Italien nicht
wieder so geistreiche Stunden genießen können, wie diese eine jetzt
gewesen ist.«

»Dafür werden Sie vielleicht dem Glück begegnen, mein Herr, und das ist
mehr wert als alle die glänzendsten Gedanken, die an jedem Abend in
Paris ausgesprochen werden, mögen sie nun echt oder falsch sein.«

Ehe Karl die Marquise verließ, erhielt er von ihr die Erlaubnis, ihr
einen Abschiedsbesuch zu machen. Er schätzte sich sehr glücklich, daß er
diese Bitte in der Form der Aufrichtigkeit vorgetragen hatte; denn am
Abend, als er sich zu Bett legte, und noch am andern Morgen, ja den
ganzen Tag über, wurde er den Gedanken an diese Frau nicht mehr los.
Bald fragte er sich, warum die Marquise sich für ihn interessiere; was
ihre Absichten sein mochten, daß sie ihn wiederzusehen wünschte; und er
war unermüdlich, alle möglichen Erklärungen dafür zu suchen. Bald
glaubte er auch, die Beweggründe dieser Neugierde zu erkennen; er
berauschte sich an Hoffnung oder sah alles wieder sehr kühl an, je nach
der Auslegung, mit der er diesen Höflichkeitswunsch erklärte, der in
Paris ja so alltäglich ist. Bald war es alles, bald war es nichts.

Schließlich wollte er dem Verlangen, das ihn zur Frau d'Aiglemont zog,
widerstehen; aber er ging dennoch hin. Es gibt Gedanken, denen wir
gehorchen, ohne sie selbst zu kennen: sie sind, uns unbewußt, in uns.
Obwohl diese Betrachtung mehr paradox als wahr erscheinen mag, wird doch
jeder ehrliche Mensch in seinem Leben tausend Beweise dafür finden. Als
Karl sich zur Marquise begab, gehorchte er einem solchen Gedanken des
Unbewußtseins, und was unser Geist später daraus macht, ist nichts
weiter als die vorherbestimmte, im Keim gelegene Entwicklung.

Eine Frau von dreißig Jahren hat unwiderstehliche Reize für einen jungen
Mann. Es gibt nichts Natürlicheres, nichts stärker Verschlungenes,
nichts besser Vorbereitetes, als die tiefe Liebe zwischen einer Frau wie
die Marquise und einem Manne wie Vandenesse -- eine Liebe, für die es in
der Welt unendlich viele Beispiele gibt. Ein junges Mädchen hat zu viele
Illusionen, ist zu unerfahren, der Geschlechtstrieb ist noch zu sehr mit
ihrer Liebe verwoben, als daß ein junger Mann sich geschmeichelt fühlen
könnte, von ihr geliebt zu sein; während eine Frau die ganze Tragweite
der Opfer kennt, die darzubringen sind. Da, wo die eine sich von der
Neugierde, von einer Lockung, die mit Liebe nichts gemein hat, hinreißen
läßt, gehorcht die andere einem Gefühl, über das sie sich vollkommen
klar ist. Ist eine solche Wahl nicht etwas höchst Schmeichelhaftes? Die
erfahrene Frau, die mit einem fast immer mit Leid und Unglück teuer
bezahlten Wissen gewappnet ist, scheint mehr zu geben als sich selbst;
während das junge unwissende und leichtgläubige Mädchen nichts weiß und
daher auch keinen Vergleich anstellen, Wert und Unwert nicht abschätzen
kann; es nimmt die Liebe hin und widmet sich erst ihrem Studium. Die
eine belehrt uns, gibt uns Ratschläge und hat das Alter, wo man sich
gern leiten läßt, wo Gehorchen ein Vergnügen ist; die andere will erst
alles lernen und zeigt sich naiv, wo jene zärtlich ist. Diese gewährt
dir nur einen einzigen Triumph, jene aber nötigt dich zu beständigem
Kampf. Die erstere hat nur Tränen und Freuden; die letztere hat die
Wollust und die Reue. Wenn ein junges Mädchen sich zur Mätresse hergeben
soll, muß sie schon verdorben sein, und dann verläßt man sie mit
Abscheu. Eine Frau dagegen hat tausend Mittel, zugleich ihre Macht und
ihre Würde zu bewahren. Die eine unterwirft sich uns zu sehr, und man
kann sich ihr in öder Sorglosigkeit hingeben; die andere aber setzt zu
viel aufs Spiel und fordert daher tausend Metamorphosen der Liebe. Die
eine entehrt nur sich allein, die andere tötet um deinetwillen eine
ganze Familie. Das junge Mädchen besitzt nur eine einzige Koketterie und
glaubt alles gesagt zu haben, wenn sie ihr Kleid hat fallen lassen; aber
die Koketterien einer Frau sind unzählig, und sie verbirgt sich unter
tausend Schleiern; schließlich schmeichelt sie allen Eitelkeiten, und
die Unerfahrene schmeichelt nur einer.

Ferner werden bei einer Frau von dreißig Jahren Unentschlossenheit,
Entsetzen, Befürchtungen, Sorgen und Stürme entfesselt, die es in der
Liebe eines jungen Mädchens niemals gibt. Wenn eine Frau in diesem Alter
steht, verlangt sie von einem jungen Manne, daß er ihr die Achtung
wiederherstelle, die sie ihm geopfert hat; sie lebt nur für ihn,
beschäftigt sich mit seiner Zukunft, will ihm ein schönes, ein
glänzendes Leben bereiten; sie gehorcht, sie bittet und gebietet, läßt
sich herab und erhebt sich und weiß bei tausend Gelegenheiten Trost zu
schaffen, wo das junge Mädchen nichts kann als seufzen.

Schließlich kann außer allen Vorteilen ihrer Stellung die Frau von
dreißig Jahren sich auch noch zum jungen Mädchen machen, alle Rollen
spielen, schamhaft sein und sogar durch ein Unglück an Schönheit
gewinnen. Zwischen beiden besteht der unermeßliche Unterschied, der
zwischen dem Vorhergesehenen und dem Unvorhergesehenen besteht, zwischen
der Kraft und der Schwäche. Die Frau von dreißig Jahren befriedigt
alles, und das junge Mädchen muß -- sonst hört sie zu ihrer Strafe auf,
ein junges Mädchen zu sein -- immer unbefriedigt bleiben.

Diese Gedanken entwickeln sich im Herzen eines jungen Mannes und bilden
in ihm die stärkste Leidenschaft aus; denn sie vereint die durch die
Sitten künstlich geschaffenen Gefühle mit den echten Gefühlen der Natur.

Der größte und entschiedenste Schritt im Leben der Frauen ist gerade
derjenige, den die Frau immer als den unbedeutendsten ansieht. Ist sie
verheiratet, so gehört sie nicht mehr sich selbst, sie ist die Königin,
aber auch die Sklavin des häuslichen Herdes. Die weibliche Keuschheit
ist unvereinbar mit den Pflichten und Freiheiten der Welt. Die Frauen
emanzipieren heißt sie verderben. Wenn man einem Fremden das Recht
gewährt, in das Allerheilige des Haushalts einzutreten, gibt man sich
ihm damit nicht auf Gnade und Ungnade preis? Wenn eine Frau ihn dort
einführt, ist dies nicht schon ein Fehltritt oder, genau genommen, der
Anfang eines Fehltritts? Man muß wohl diese Theorie in all ihrer Strenge
gelten lassen oder die Leidenschaften für straflos erklären.

Bis auf den heutigen Tag hat die Gesellschaft in Frankreich einen
Mittelweg einzuschlagen verstanden: sie spottet, wenn daraus Unglück
entsteht. Wie die Spartaner, die nur die Ungeschicklichkeit bestraften,
scheint sie den Diebstahl zuzulassen. Aber vielleicht ist dieses System
sehr klug. Die allgemeine Verachtung bildet die schrecklichste aller
Züchtigungen, weil sie nämlich die Frau ins Herz trifft. Die Frauen
sehen darauf und müssen auch alle darauf halten, geachtet zu sein; mit
der Achtung ist ihr Leben dahin. Daher ist Achtung auch das erste, was
sie in der Liebe verlangen. Selbst die Verderbteste unter ihnen bedingt
sich vor allem Absolution für die Vergangenheit aus, ehe sie ihre
Zukunft verkauft, und versucht ihrem Geliebten begreiflich zu machen,
daß sie für unwiderstehliche Seligkeiten die Ehren daran setze, die die
Welt ihr verweigern wird.

Es gibt keine Frau, die nicht, wenn sie zum erstenmal einen jungen Mann
bei sich empfängt und mit ihm allein ist, einige solche Betrachtungen
anstellte, vor allem, wenn dieser Mann, wie Karl de Vandenesse, hübsch
oder geistreich ist. Desgleichen werden die meisten jungen Männer einige
geheime Wünsche auf einen der tausend Gedanken gründen, die die ihnen
angeborene Liebe zu schönen, geistreichen und unglücklichen Frauen, wie
Frau d'Aiglemont war, entschuldbar erscheinen läßt.

Als daher Frau Marquise Herrn de Vandenesse melden hörte, war sie
bestürzt; und er war fast befangen, trotz des sichern Auftretens, das
bei den Diplomaten gewissermaßen mit zum ganzen Menschen gehört. Aber
die Marquise nahm bald das leutselige, freundliche Wesen an, hinter dem
die Frauen gegen die Auslegung der Eitelkeit Schutz suchen. Dieses
Benehmen schließt jeden Hintergedanken aus und läßt sozusagen die
Innigkeit zu, indem es sie aber durch die Formen der Höflichkeit auf den
richtigen Grad bringt. Die Frauen halten sich dann, solange sie wollen,
in dieser zweideutigen Lage, wie auf einem Kreuzweg, der gleichzeitig
zur Achtung, zur Gleichgültigkeit, zur Befremdung oder zur Leidenschaft
führt. Nur mit dreißig Jahren kann eine Frau die mancherlei Auswege in
einer solchen Lage erkennen. Sie weiß da zu lachen, zu scherzen, ja
zärtlich zu werden, ohne sich etwas zu vergeben. Sie besitzt dann den
nötigen Takt, um bei einem Manne alle Saiten des Gefühls anzuschlagen
und die Töne zu prüfen, die sie hervorruft. Ihr Schweigen ist ebenso
gefährlich wie ihre Rede. Man kann bei einer Frau in diesem Alter nie
erraten, ob sie aufrichtig oder falsch ist, ob sie sich lustig macht
oder ob sie es mit ihren Bekenntnissen ehrlich meint. Nachdem sie dir
das Recht eingeräumt hat, mit ihr zu kämpfen, macht sie plötzlich durch
ein Wort, durch einen Blick, durch eine jener Gebärden, deren Macht sie
kennt, dem Kampf ein Ende, läßt dich sitzen und nimmt dein Geheimnis mit
sich fort. Sie hat es nun in der Hand, dich mit einem bloßen Scherzwort
zu opfern oder sich deiner ganz zu bemächtigen, sich weiter mit dir zu
befassen, in gleicher Weise beschützt durch ihre eigene Schwäche und
durch deine Kraft.

Obwohl die Marquise sich während des ersten Besuches auf diesen
neutralen Boden stellte, wußte sie dennoch ihre Frauenwürde in hohem
Grade zu bewahren. Ihre geheimen Schmerzen lagerten stets wie eine
leichte Wolke, die zum Teil die Sonne verhüllt, auf ihrer erkünstelten
Fröhlichkeit. Vandenesse ging, nachdem er in diesem Gespräch ungekannte
Genüsse gekostet hatte; aber er blieb überzeugt, die Marquise sei eine
von den Frauen, die zu erobern so große Opfer koste, daß man sich nicht
unterfangen könne, sie zu lieben.

»Es würde,« sagte er im Gehen zu sich selbst, »eine Liebe sein, deren
Ende nicht abzusehen ist -- ein Verkehr, der selbst einen ehrgeizigen
Diplomaten ermüden muß. Jedoch, wenn ich wollte ...«

Dieses fatale »Wenn ich wollte!« ist beständig das Verhängnis der
eigensinnigen Menschen. In Frankreich führt die Eigenliebe zur
Leidenschaft.

Karl kehrte zu Frau d'Aiglemont zurück und glaubte wahrzunehmen, daß sie
an seiner Unterhaltung Gefallen fände. Statt sich mit Naivität dem Glück
der Liebe zu überlassen, wollte er nun eine doppelte Rolle spielen. Er
versuchte verliebt zu erscheinen und dabei kalt den Fortgang dieses
Verhältnisses zu studieren, zugleich Liebender und Diplomat zu sein.
Allein er war edelsinnig und jung; dieses Studium mußte ihn zu einer
grenzenlosen Liebe führen; denn ob sie Verstellung übte oder sich
natürlich gab, die Marquise war immer stärker als er. So oft er von Frau
d'Aiglemont fortging, beharrte er bei seinem Mißtrauen und unterwarf die
Situationen, durch die schrittweise seine Seele hindurch müsse, einer
strengen Analyse, die seine eigentlichen Empfindungen tötete.

»Heute,« sagte er sich bei dem dritten Besuch, »hat sie mir zu verstehen
gegeben, sie sei sehr unglücklich und stände ganz allein da, sie würde
sich sehnlichst den Tod wünschen, wenn ihre Tochter nicht wäre. Sie hat
sich in eine vollendete Resignation gehüllt. Doch ich bin weder ihr
Bruder, noch ihr Beichtvater, warum hat sie mir ihren Kummer anvertraut?
Sie liebt mich.«

Zwei Tage später, als er wieder ihr Haus verließ, stellte er eine
Betrachtung über die modernen Sitten an.

»Die Liebe nimmt immer die Färbung des betreffenden Jahrhunderts an. Im
Jahre 1822 ist sie daher doktrinär. Statt sie, wie einstmals, an
Tatsachen nachzuweisen, bespricht man sie gelehrt, disputiert über sie,
macht sie zu einer Dissertation. Die Frauen sind jetzt auf dreierlei
Mittel verfallen. Erst stellen sie unsere Liebe in Zweifel und sprechen
uns die Fähigkeit ab, ebensosehr zu lieben wie sie. Koketterie!
tatsächlich herausgefordert hat die Marquise mich heute abend. Dann
stellen sie sich tiefunglücklich, um unsern natürlichen Edelsinn oder
unsere Eigenliebe wachzurufen. Schmeichelt es einem Manne nicht, als
Tröster in einem großen Unglück aufzutreten? Endlich haben sie noch die
Manie der Jungfräulichkeit. Und sie hat wirklich glauben müssen, ich
hielte sie für uneingeweiht. Mein guter Glaube in diesem Punkte kann
eine ausgezeichnete Spekulation werden.«

Aber eines Tages war Karl am Ende mit seinen mißtrauischen Gedanken und
fragte sich, ob die Marquise nicht doch aufrichtig sei, ob so viel Leid
gespielt sein könne, und warum sie Resignation heucheln solle? Sie lebte
in tiefer Einsamkeit und verzehrte sich in schweigendem Kummer, den sie
kaum einmal durch den mehr oder minder gepreßten Ton eines Ausrufs
verriet.

Von diesem Augenblick an hegte Karl ein lebhaftes Interesse für Frau
d'Aiglemont. Aber als er zu der gewohnten Zusammenkunft ging, die ihnen
beiden nun zur Notwendigkeit geworden war und für die sie infolge eines
wechselseitigen Instinkts eine Stunde frei hielten, fand Vandenesse
seine Geliebte noch immer mehr gewandt als wahr, und sein letztes Wort
war: »Entschieden ist dieses Weib raffiniert.«

Er trat ein, fand die Marquise in ihrer Lieblingshaltung -- einer
Haltung voll Melancholie; sie schlug die Augen zu ihm auf, ohne sich zu
bewegen, und warf ihm einen jener vollen Blicke zu, die einem Lächeln
gleichen. Frau d'Aiglemont ließ Vertrauen, ja wahre Freundschaft
erkennen -- doch nichts von Liebe. Karl setzte sich und konnte nichts
sagen. Er war ergriffen von einer jener Aufregungen, für die es keine
Sprache gibt.

»Was haben Sie?« fragte sie ihn in zärtlichem Tone.

»Nichts ... doch,« sagte er, »ich denke an etwas, womit Sie sich noch
gar nicht beschäftigt haben.«

»Das wäre?«

»Aber der Kongreß ist ja beendet.«

»Ah,« antwortete sie, »Sie sollten also zum Kongreß gehen.«

Eine direkte Antwort wäre das beredteste, zarteste Geständnis gewesen;
doch Karl gab sie nicht. Das Gesicht der Frau d'Aiglemont verriet eine
so aufrichtige Freundschaft, daß daran alle Berechnungen der Eitelkeit,
alle Hoffnungen der Liebe, aller Argwohn der Diplomatie scheiterten. Sie
ahnte nicht oder schien es doch durchaus nicht zu ahnen, daß sie geliebt
sei; und als Karl, ganz verwirrt, sich in Schweigen hüllte, mußte er
sich gestehen, nichts gesagt und nichts getan zu haben, was sie zu
diesem Glauben berechtigt hätte.

Herr de Vandenesse fand an diesem ganzen Abend die Marquise nur so, wie
sie stets gewesen war, einfach und freundlich, aufrichtig in ihrem
Schmerz, glücklich, einen Freund zu haben, stolz, einer Seele zu
begegnen, die die ihrige verstände; darüber ging sie nicht hinaus und
schien es für unmöglich zu halten, daß eine Frau sich zweimal verlieben
könne; aber sie hatte die Liebe kennen gelernt und bewahrte sie noch
blutend in der Tiefe ihres Herzens; sie glaubte nicht daran, daß das
Glück zweimal einer Frau seinen berauschenden Trank kredenzen könne;
denn sie glaubte nicht allein an den Geist, sondern an die Seele; und
für sie war die Liebe an sich kein Mittel zur Verführung, gestattete
aber die Entfaltung aller edlen Verführungskünste.

In diesem Augenblick wurde Karl de Vandenesse wieder junger Mann, der
Glanz eines so erhabenen Charakters zwang ihn ins Joch, und er wollte in
alle Geheimnisse dieses mehr durch den Zufall als durch einen Fehltritt
vernichteten Lebens eingeweiht sein. Frau d'Aiglemont warf ihrem Freunde
nur einen Blick zu, als sie ihn um Aufklärung über das Übermaß von Leid
bitten hörte, das ihrer Schönheit alle Harmonien der Traurigkeit
verleihe; aber dieser tiefe Blick war wie das Siegel zu einem
feierlichen Vertrag.

»Stellen Sie mir keine ähnlichen Fragen mehr,« sagte sie. »Vier Jahre
ist's her, da starb an einem ähnlichen Tage der, der mich liebte, der
einzige Mann, für dessen Glück ich alles, ja die Achtung vor mir selbst
geopfert hätte -- er starb, um mir die Ehre zu retten. Diese Liebe
endete jung, rein und in der Fülle ihrer Illusionen. Ehe ich mich einer
Leidenschaft hingab, zu der ein beispielloses Verhängnis mich trieb,
ließ ich mich verführen durch das, was so viele junge Mädchen zugrunde
richtet, durch einen Mann, der eine Null ist, aber ein liebenswürdiges
Auftreten hat. Die Ehe entblätterte meine Hoffnungen eine nach der
andern. Heute habe ich das legitime Glück und auch das Glück, das man
das strafbare nennt, verloren, und das Glück an sich überhaupt nicht
kennen gelernt. Es bleibt nichts mehr für mich übrig. Wenn ich nicht zu
sterben verstanden habe, so muß ich zum mindesten meinen Erinnerungen
treu bleiben.«

Bei diesen Worten weinte sie nicht, sie schlug die Augen nieder und
verrenkte kaum merklich die Finger, die sie in ihrer gewohnten Gebärde
aufeinandergesetzt hatte. Dies wurde schlicht hingesprochen, aber der
Klang ihrer Stimme war der Klang einer Verzweiflung, die ebenso tief
war, wie ihre Liebe zu sein schien, und raubte Karl alle Hoffnung.
Dieses furchtbare Dasein, in drei Sätzen beschrieben, und durch das
Ringen einer Hand erläutert, dieser starke Schmerz in einer schwachen
Frau, dieser Abgrund in einem hübschen Kopfe, endlich die Schwermut und
die Tränen einer vierjährigen Trauer bezauberten Vandenesse, der
schweigend und klein vor dieser großen, edlen Frau stand. Er sah nicht
mehr die so erlesenen, vollendeten, materiellen Schönheiten, sondern nur
die so überaus feinfühlende Seele. Endlich begegnete er hier dem idealen
Wesen, das der phantastische Traum, die gewaltige Sehnsucht aller derer
ist, die ihr Leben in eine einzige Leidenschaft setzen, sie mit Inbrunst
suchen und oft sterben, ohne alle diese erträumten Schätze genossen zu
haben.

Gegenüber solcher Sprache und solcher erhabenen Schönheit fand Karl
seine Ideen eng und beschränkt. In seinem Unvermögen, seine Worte der
Hoheit dieser zugleich so einfachen und so erhabenen Szene anzupassen,
antwortete er mit Gemeinplätzen über das Schicksal der Frauen.

»Gnädige, man muß seine Schmerzen zu vergessen wissen oder sich ein Grab
graben.«

Aber vor dem Gefühl steht die trockene Vernunft immer kläglich da, die
eine ist natürlich begrenzt, wie alles Positive, und das andere ist
unbegrenzt. Die Vernunft walten zu lassen, wo Gefühl hingehört, ist die
Eigentümlichkeit der Seelen ohne Schwung. Vandenesse schwieg daher,
betrachtete lange Frau d'Aiglemont und ging dann. Eine Beute neuer
Ideen, die ihm diese Frau immer größer erscheinen ließen, glich er einem
Maler, der etwa die gewöhnlichen Modelle seines Ateliers zum Typus
genommen hat und nun plötzlich die Mnemosyne des Museums erblickt, die
schönste und am wenigsten geschätzte Statue des Altertums.

Karl war aufs tiefste bezaubert. Er liebte Frau d'Aiglemont mit der
Ehrlichkeit der Liebe, mit der Inbrunst, die der ersten Leidenschaft
eine unsagbare Anmut, eine Lauterkeit verleiht, von der der Mann, wenn
er später noch einmal liebt, immer nur Bruchstücke wiederfindet:
wonnevolle Leidenschaften, von den Frauen, die sie hervorgerufen haben,
fast immer mit Wonne genossen, weil sie in dem schönen Alter von dreißig
Jahren, dem Höhepunkt der Poesie des Frauenlebens, den Verlauf solcher
Leidenschaften voll überschauen können, und ihr Blick in die Zukunft
ebenso sicher ist wie der in die Vergangenheit. Die Frauen kennen dann
den ganzen Wert der Liebe und erfreuen sich ihrer in der ständigen
Furcht, sie zu verlieren: Ihre Seele hat dann noch all das Jugendschöne,
das sie zu verlieren beginnen, und ihre Leidenschaft holt sich immer
neue Kraft an der Betrachtung einer Zukunft, vor der ihnen graut.

»Ich liebe,« sagte de Vandenesse diesmal, als er die Marquise verließ,
»und nun finde ich zu meinem Unglück eine Frau, die an Erinnerungen
hängt. Es hält schwer, gegen einen Toten anzukämpfen, der nicht mehr da
ist, der keine Dummheiten machen kann, der nie Mißfallen erregt und an
dem man nur die guten Eigenschaften sieht. Soll man versuchen, den in
der Erinnerung fortlebenden Zauber und die Hoffnungen zu vernichten, die
einen verlorenen Geliebten überdauert haben, gerade weil er nur Wünsche
erweckt hat? Ebensogut könnte man versuchen, die Vollkommenheit selbst
von ihrem Throne zu stoßen. Denn sind nicht die Wünsche allein das
Schönste, das Verführerischste an der ganzen Liebe?«

Diese traurige Betrachtung entsprang der Mutlosigkeit, der Furcht, keine
Erfolge zu haben -- ein Gefühl, mit dem alle wahren Leidenschaften
beginnen. Sie war die letzte Berechnung seiner Diplomatie, die hiermit
auf diesem Gebiete ihren Geist aufgab. Von nun ab hatte er keine
Hintergedanken mehr, er wurde zum Spielball seiner Liebe und verlor sich
im Nichts jenes unerklärlichen Glücks, das an einem Wort, einem
Schweigen, einer unklaren Hoffnung Genüge findet.

Er wollte platonisch lieben, kam alle Tage, mit Frau d'Aiglemont die
gleiche Luft zu atmen, nistete sich fast in ihrem Hause ein und
begleitete sie überall hin, mit der Tyrannei einer Leidenschaft, die der
blindesten Ergebenheit den Egoismus beimischt. Die Liebe hat ihren
Instinkt, sie weiß den Weg zum Herzen zu finden, wie das schwächste
Insekt auf seine Blume zugeht, mit einem unwiderstehlichen Willen, der
vor nichts zurückschreckt. Wenn ein Gefühl wahr ist, so ist daher auch
sein Schicksal nicht zweifelhaft. Muß nicht eine Frau in größte Angst
versetzt werden, wenn sich der Gedanke bei ihr einstellt, daß ihr Leben
davon abhängt, ob ihr Geliebter mehr oder weniger Wahrheit, Kraft und
Ausdauer in seiner Liebe beweisen wird?

Einer Frau, einer Gattin und Mutter ist es nun unmöglich, sich gegen die
Liebe eines jungen Mannes zu schützen; das einzige Mittel, das in ihrer
Macht steht, ist, ihn von dem Augenblick an, wo sie dieses Geheimnis des
Herzens errät -- und das errät eine Frau immer -- nicht mehr zu
empfangen. Allein dieser Entschluß scheint zu entscheidend zu sein, als
daß eine Frau ihn noch in einem Alter fassen könnte, wo die Ehe sie
bedrückt, langweilt oder gleichgültig macht, wo die eheliche Liebe nur
noch lau ist und der Mann ihr am Ende gar schon untreu geworden ist.
Sind die Frauen häßlich, so schmeichelt ihnen eine Leidenschaft, die sie
auf eine Stufe mit den schönen stellt; sind sie jung und reizend, so muß
die Verführung auf sie im selben Grade wirken, wie sie selbst
verführerisch sind, nämlich sehr stark; sind sie tugendhaft, so ist das
Gefühl ja doch himmlisch, obzwar von dieser Welt, und das läßt sie
gerade in der Größe der Opfer, die sie ihrem Geliebten bringen, und in
dem Ruhm eines so schweren Kampfes allein schon eine gewisse Absolution
erblicken. Alles ist ein Fallstrick. Daher ist auch keine Lehre stark
genug, gegen diese starke Verführung etwas zu vermögen. Die
Abschließung, die ehemals in Griechenland und im Orient für die Frau
Gesetz war und die in England jetzt Mode wird, ist der einzige Schutz
für die häßliche Moral; aber unter der Herrschaft dieses Systems gehen
alle Annehmlichkeiten der Welt zugrunde. Die Geselligkeit, die Feinheit
und Vornehmheit der Sitten sind nicht mehr möglich. Die Nationen werden
ihre Wahl zu treffen haben.

So fand denn einige Monate nach ihrem ersten Zusammentreffen mit
Vandenesse Frau d'Aiglemont ihr Leben eng mit dem des jungen Mannes
verschlungen; sie wunderte sich darüber, ohne sonderlich betroffen zu
sein, ja sie fand fast ein gewisses Vergnügen daran, seine Geschmäcker
und Gedanken zu teilen. Hatte sie die Denkweise de Vandenesses
angenommen, oder hatte Vandenesse sich ihre kleinsten Launen angeeignet?
Sie stellte keine Untersuchung an. Schon von dem Strom seiner
Leidenschaft mit fortgerissen, sagte sich diese bewundernswerte Frau in
der trügerischen Zuversicht der Furcht:

»O nein! Ich werde dem die Treue bewahren, der für mich gestorben ist.«

Pascal hat gesagt: »An Gott zweifeln, heißt schon an ihn glauben.«
Ebenso sträubt sich eine Frau gar nicht -- oder sie ist eben schon
verliebt. An dem Tage, wo die Marquise sich eingestand, sie werde
geliebt, war es mit ihr auch schon soweit, daß sie zwischen tausend
widersprechenden Gefühlen hin und her trieb. Der Aberglaube der
Erfahrung redete seine Sprache. Würde sie glücklich sein? Könnte sie das
Glück finden außerhalb der Gesetze, die die Gesellschaft, ob zu Recht
oder zu Unrecht, als ihre Moral aufgestellt hat? Bisher hatte das Leben
nur Bitterkeit über sie ausgeschüttet. Konnte es denn zwischen zwei
Wesen, die durch die gesellschaftlichen Anstandsregeln voneinander
getrennt waren, innerhalb der Grenzen, in denen ihr Verhältnis bleiben
müßte, zu einem Glücke kommen? Doch wiederum, wird das Glück jemals zu
teuer bezahlt? Und dann ist das Glück, das so heiß ersehnt wird, das zu
suchen so natürlich ist, vielleicht hier endlich einmal gefunden?

Ein seltsames Zusammentreffen findet sich immer ein, die Sache der
Liebenden zu fördern. Während sie diese geheimen Betrachtungen
anstellte, kam Vandenesse. Seine Gegenwart verscheuchte das
metaphysische Phantom der Vernünftelei. Solcher Art sind die Wandlungen,
die bei einem jungen Manne und einer jungen Frau von dreißig Jahren
selbst eine rasche, stürmische Liebe durchmachen muß, aber es kommt
immer zu einem Augenblick, wo die Wolken verschwinden, wo die
Vernunftgründe zu einem einzigen, letzten Gedanken zusammenschrumpfen,
der sich mit einer Begierde vermischt und ihr Nachdruck verleiht.

Je länger der Widerstand gewesen ist, um so mächtiger ist dann die
Stimme der Liebe. Hier also endet diese Betrachtung oder vielmehr --
wenn es erlaubt ist, der Malkunst einen ihrer pittoresken Ausdrücke zu
entlehnen -- diese »am bloßgelegten Muskel« gemachte Studie. (Denn diese
Geschichte legt mehr die Gefahren und den Mechanismus der Liebe
auseinander, als daß sie sie darstellt.) Aber von diesem Augenblick an
verlieh jeder Tag diesem Skelett neue Farben, bekleidete es mit der
Anmut der Jugend, gab daran dem Fleisch und den Bewegungen Leben und
flößte ihm den Glanz, die Schönheit des Empfindens und die Reize des
Lebens ein.

Karl fand Frau d'Aiglemont nachdenklich, und fragte sie in bebendem
Tone, dem die süße Magie des Herzens besondere Eindringlichkeit verlieh:
»Was ist Ihnen denn?« -- Doch sie hütete sich, zu antworten. Diese
köstliche Frage verriet eine vollkommene Übereinstimmung der Seelen; und
in dem wunderbaren Instinkt des Weibes begriff die Marquise, daß sie in
gewissem Sinne ein Entgegenkommen zeigen würde, wenn sie jetzt Klagen
anstimmte oder ihrem Unglück Ausdruck verlieh. Und wenn schon jedes
dieser Worte eine von allen beiden verstandene Bedeutung hatte, stand
sie da nicht schon mit einem Fuß im Abgrund? Sie las mit scharfem,
klarem Blick in ihrem Innern und schwieg, Vandenesse folgte ihrem
Beispiel und schwieg auch.

»Ich bin leidend,« sagte sie endlich, voll Schrecken über die hohe
Bedeutung eines Augenblicks, wo die Sprache der Augen vollständig die
Rede ersetzte, zu der beide nicht fähig waren.

»Gnädige Frau,« antwortete Karl in liebenswürdigem Tone, dem man aber
trotzdem seine heftige Erregung anhörte, »Seele und Leib, alles hängt
zusammen. Wenn Sie glücklich wären, würden sie jung und frisch sein.
Warum weigern Sie sich, von der Liebe alles das zurückzuverlangen,
dessen die Liebe Sie beraubt hat? Sie glauben, das Leben sei mit dem
Augenblick zu Ende, wo es, für Sie, erst anfängt. Vertrauen Sie sich
der Pflege eines Freundes an. Es ist so süß, geliebt zu sein.«

»Ich bin schon alt,« sagte sie, »nichts würde mich also entschuldigen,
wollte ich aufhören zu leiden, wie bisher. Übrigens, lieben müsse man,
sagen Sie? Nun wohl, das darf ich nicht und kann ich auch nicht. Außer
Ihnen, dessen Freundschaft ein wenig Freude in mein Dasein bringt,
gefällt mir kein Mensch, wäre kein Mensch imstande, meine Erinnerungen
auszulöschen. Einen Freund nehme ich an, einen Verehrer würde ich
fliehen. Und wäre es auch edel von mir, ein welkes Herz gegen ein junges
einzutauschen, Illusionen anzunehmen, die ich nicht mehr teilen kann,
ein Glück entstehen zu lassen, an das ich nicht glauben oder um dessen
Verlust ich beständig zittern würde? Ich würde auf Ergebenheit
vielleicht mit Egoismus antworten, ich würde berechnen, wo der andere
fühlt; meine Erinnerungen würden beständig der Lebendigkeit seiner
Freude im Wege sein. Nein, sehen Sie, für eine erste Liebe gibt es
niemals Ersatz. Und schließlich, welcher Mann würde zu solchem Preise
mein Herz haben wollen?«

Diese Worte, voll grausamer Koketterie, waren der letzte Versuch der
Klugheit.

»Wenn er den Mut verliert, gut, dann bleibe ich allein und treu.« Dieser
Gedanke regte sich im Herzen der jungen Frau und war für sie dasselbe,
was der zu schwache Zweig einer Weide ist, den ein Schwimmer ergreift,
ehe er sich vom Strom wegreißen läßt.

Als Vandenesse diesen Einspruch hörte, zitterte er unwillkürlich, und
dieses Beben wirkte mächtiger auf das Herz der Marquise ein, als seine
Aufmerksamkeiten bisher. Was rührt denn die Frauen am meisten? Wenn sie
in uns ein ebenso starkes Feingefühl, ebenso erlesene Empfindungen
entdecken, als die ihren sind. Die unwillkürliche Bewegung Karls verriet
eine wahre Liebe. Die Stärke seiner Liebe erkannte Frau d'Aiglemont an
der Stärke seines Schmerzes.

Der junge Mann antwortete kalt:

»Sie haben vielleicht recht. Neue Liebe, neuer Kummer.«

Dann gab er dem Gespräch eine andere Wendung und plauderte von
gleichgültigen Dingen. Aber er war sichtlich ergriffen und betrachtete
Frau d'Aiglemont mit gespannter Aufmerksamkeit, als wenn er sie zum
letzten Male sähe. Endlich verließ er sie, indem er mit Bewegung zu ihr
sagte:

»Leben Sie wohl, gnädige Frau.«

»Auf Wiedersehen,« sagte sie mit jener feinen Koketterie, deren
Geheimnis nur Frauen ersten Ranges besitzen.

Er antwortete nicht und ging.

Als Karl nicht mehr da war, als sein leerer Stuhl für ihn sprach,
empfand sie tausendfaches Bedauern und fühlte sich im Unrecht. In dem
Augenblick, wo eine Frau unedel gehandelt oder eine edle Seele verletzt
zu haben glaubt, macht die Liebe in ihr einen riesigen Fortschritt. Vor
bösen Gefühlen in der Liebe braucht man niemals Angst zu haben; sie sind
sehr heilsam. Immer nur eine Tugend ist's, was die Frauen zu Fall
bringt. »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert,« das ist
durchaus nicht bloß ein Paradoxon der Kanzel.

Ein paar Tage lang ließ Vandenesse sich nicht sehen. An jedem Abend
erwartete die Marquise ihn zu der gewohnten Besuchsstunde mit reuevoller
Ungeduld. Schreiben wäre ein Geständnis gewesen; und dann sagte ihr
auch ihr Instinkt, er werde wiederkommen. Am sechsten Tage meldete der
Kammerdiener ihn an. Niemals zuvor hatte sie diesen Namen mit so großer
Freude nennen hören. Sie erschrak über diese Freude.

»Sie haben mich recht schwer bestraft,« sagte sie zu ihm.

Vandenesse sah sie verblüfft an.

»Bestraft?« fragte er. »Und wofür?«

Karl verstand die Marquise sehr wohl; aber da sie ahnte, welche Leiden
sie ihm verursacht hatte, wollte er sich im selben Augenblick dafür an
ihr rächen.

»Warum haben Sie mich nicht besucht?« fragte sie lächelnd.

»Es ist also niemand bei Ihnen gewesen?« sagte er, um keine unmittelbare
Antwort zu geben.

»Herr de Ronquerolles und Herr de Marsay, ferner der kleine d'Escrignon
sind hier gewesen, die einen gestern, der andere heute mittag, gegen
zwei Uhr. Ich glaube, ich habe auch Frau Firmiani und Ihre Schwester
gesehen, Madame de Listomere.«

Ein neues Leiden! ein Schmerz, der unbegreiflich ist für alle, die nicht
mit überwältigendem und wildem Despotismus lieben; denn für solch einen
Liebenden führt das geringste zu ungeheuerlicher Eifersucht, zu dem
beständigen Wunsche, das geliebte Wesen allen Einflüssen zu entziehen,
die nichts mit seiner Liebe zu tun haben.

»Was?« dachte Vandenesse bei sich. »Sie hat zufriedene Menschen gesehen
und bei sich empfangen, hat mit ihnen gesprochen, während ich einsam und
unglücklich war!«

Er begrub seinen Schmerz und versenkte seine Liebe im Grunde seines
Herzens, wie man einen Sarg ins Meer versenkt. Seine Gedanken waren von
der Art, die man nicht ausspricht, sie hatten die rasche Wirkung jener
Säuren, die, so schnell sie sich verflüchtigen, doch töten. Inzwischen
bewölkte sich seine Stirn, und Frau d'Aiglemont gehorchte dem weiblichen
Instinkt, indem sie diese Traurigkeit teilte, ohne daß sie sie verstand.
Es war nicht ihre Schuld, wenn sie Leid verursachte, und Vandenesse
begriff das.

Er sprach von seinem Zustand und seiner Eifersucht, als wenn dies eine
der Hypothesen wäre, über die ein Liebespaar immer gerne spricht. Die
Marquise verstand alles und wurde jetzt so innig gerührt, daß sie die
Tränen nicht zurückhalten konnte.

Mit diesem Augenblick traten sie in den Himmel der Liebe ein. Der Himmel
und die Hölle sind zwei große Gedichte und bilden die beiden einzigen
Punkte, um die sich unser Leben dreht: die Freude oder der Schmerz. Was
ist denn der Himmel, und was wird er ewig sein? Ein Abbild der
unendlichen Fülle unserer Freuden, die stets nur in ihren Einzelheiten
dargestellt werden können, weil das Glück ein einziges Ganzes ist. Und
die Hölle? Stellt sie nicht die unendlichen Qualen unserer Schmerzen
dar, aus denen wir nur deshalb ein Werk der Poesie machen können, weil
sie alle einander unähnlich sind?

Eines Abends saßen die beiden Liebenden allein und schweigend
nebeneinander. Sie betrachteten eine der schönsten Phasen des
Firmaments, einen jener reinen Himmel, die letzten Strahlen der
untergehenden Sonne mit Tinten von Gold und Purpur bekleiden. Um diese
Zeit des Tages scheint das langsame Abnehmen des Lichts süße
Empfindungen zu erwecken; unsere Leidenschaften regen sich leise, und
wir fühlen wonnevoll eine gewisse Aufregung inmitten der Stille.

Die Natur zeigt uns das Glück an unbestimmten Bildern. Ist es uns nahe,
so scheint sie uns aufzufordern, es zu genießen. Hat es uns geflohen, so
versetzt sie uns in die Stimmung, daß wir es betrauern. In diesen
bezaubernden Augenblicken, unter dem Baldachin dieses Lichtes, dessen
zarte Harmonien zu intimen Reizen zusammenfließen, ist es schwer, den
Stimmen des Herzens zu widerstehen, denen dann so viel Zauberkraft
innewohnt. Dann läßt der Kummer nach, die Freude berauscht, und der
Schmerz wird so schwer, daß man ihn endlich abwerfen möchte. Die Pracht
des Abends ist das Zeichen für Liebeserklärungen und fordert dazu
heraus. Das Schweigen wird gefährlicher als die Rede, denn es teilt dem
Auge die ganze Gewalt des unendlichen Himmels mit, der sich in ihm
spiegelt. Wenn man spricht, so besitzt das geringste Wort eine
unwiderstehliche Kraft. Ist dann nicht auch Licht in der Stimme, Purpur
im Blick? Ist nicht der Himmel gleichsam in uns, oder dünkt es uns
nicht, im Himmel zu sein?

Vandenesse und Julie -- denn seit einigen Tagen ließ sie sich so
vertraulich nennen, während es ihr gefiel, ihn Karl zu nennen --
Vandenesse und Julie sprachen miteinander; aber der primitive Gegenstand
ihres Gesprächs war ihnen ganz fern; sie wußten kaum noch, was ihre
Worte für Sinn hätten -- dafür lauschte sie mit um so größerer Wonne den
geheimen Gedanken, die sich hinter diesen Worten versteckten. Die Hand
der Marquise lag in der Vandenesses, und sie überließ sie ihm, ohne zu
glauben, daß dies eine Gunstbezeugung wäre.

Sie neigten sich vor und sahen auf eine jener majestätischen
Landschaften voller Schnee, Gletscher und grauen Schatten, die die
Flanken phantastischer Berge färben -- eines jener Gemälde mit schroffen
Gegensätzen zwischen den roten und schwarzen Tönen, die den Himmel mit
einer unnachahmlichen Poesie von kurzer Dauer schmücken, mit prächtigen
Streifen, in denen die Sonne noch einmal auflebt -- ein schönes
Leichentuch, in das sie sich sterbend hüllt.

In diesem Augenblick streiften Juliens Haare leicht Vandenesses Wange.
Sie fühlte diese kaum merkliche Berührung, sie zitterte heftig, und er
noch mehr. Denn alle beide waren allmählich zu einem jener
unerklärlichen Höhepunkte gelangt, wo, sofern das Herz bereits der
Melancholie überliefert oder aber in den Strudel der Liebe geraten ist,
die Stille ringsum den Sinnen ein so feines Tastgefühl verleiht, daß der
schwächste Anstoß Tränen hervorruft oder die Schwermut entfesselt.

Julie drückte fast unwillkürlich die Hand ihres Freundes. Dieser
vielsagende Druck flößte dem zaghaften Liebhaber Mut ein. Die Freuden
dieses Augenblicks und die Hoffnungen auf die Zukunft, alles floß in
eine Regung zusammen -- in die der ersten Liebkosung, des keuschen,
bescheidenen Kusses, den Frau d'Aiglemont der Wange rauben ließ. So
gering die Gunst war, um so mächtiger, um so gefährlicher wurde sie. Zu
ihrem Unglück war dabei kein Schein und keine Falschheit im Spiele. Es
war ein Austausch zweier schönen Seelen, die durch das sogenannte Gesetz
getrennt waren und durch alles, was die Natur an Verführerischem
besitzt, vereint wurden.

In diesem Augenblick trat General d'Aiglemont ein.

»Wir haben ein anderes Ministerium bekommen,« sagte er. »Ihr Oheim
gehört zum neuen Kabinett. Sie haben also gute Aussicht, Gesandter zu
werden, Vandenesse.«

Karl und Julie sahen sich errötend an. Dieses gegenseitige Schamgefühl
war nur ein neues Band. Beide hatten den gleichen Gedanken -- die
gleichen Gewissensbisse: ein furchtbares Band zwischen zwei Liebenden,
die eines Kusses schuldig sind, ganz ebenso stark wie zwischen zwei
Räubern, die gemeinsam einen Menschen umgebracht haben. Doch der Marquis
mußte eine Antwort haben.

»Ich will nicht mehr aus Paris fort,« sagte Karl de Vandenesse.

»Wir wissen, weshalb,« versetzte der General und tat ganz besonders
schlau, wie jemand, der ein großes Geheimnis entdeckt. »Sie wollen nicht
von Ihrem Onkel lassen -- er soll Sie zum Erben seiner Pairswürde
ernennen.«

Die Marquise flüchtete in ihr Zimmer und sprach über ihren Gatten das
furchtbare Wort:

»Er ist doch wirklich zu einfältig!«




4. Kapitel.

Der Finger Gottes.


Zwischen der Barrière d'Italie und der Barrière de la Santé hat man auf
dem innern Boulevard, der zum Botanischen Garten führt, eine Aussicht,
die den Künstler und selbst den von Augenweiden aller Art übersättigten
Reisenden entzücken muß. Wenn man eine mäßige Anhöhe erreicht hat, von
der aus sich der Boulevard im Schatten seiner hohen dichten Bäume wie
ein grüner, stiller Waldweg anmutig hinzieht, sieht man zu seinen Füßen
ein tiefes, von ländlichen Gebäuden erfülltes, mit lichtem Grün besätes,
von den braunen Wässern der Bièvre und der Gobelins durchströmtes Tal.
Am gegenüberliegenden Abhange umfassen ein paar tausend Dächer,
aneinandergedrängt wie die Köpfe einer Menge, das Elend des Faubourgs
Saint-Marceau. Die prächtige Kuppel des Pantheons, der düstere,
schwermütige Dom des Val-de-Grâce beherrschen stolz eine ganze
amphitheatralisch aufgebaute Stadt, deren Terrassen von den gewundenen
Straßen eigenartig umrissen werden. Von dort aus erscheinen die
Proportionen der beiden Bauwerke riesenhaft; hoch überragen sie nicht
nur die baufälligen Häuser, sondern auch die Wipfel der höchsten Pappeln
des Tales. Zur Linken erscheint wie ein schwarzes, hageres Gespenst die
Sternwarte, und durch ihre Fenster und Galerien scheint das Licht
hindurch, phantastische Bilder hervorrufend.

In weiterer Ferne leuchtet der elegante durchbrochene Turm der
Invalidenkirche zwischen den bläulichen Baummassen des Luxembourgparks
und den grauen Türmen von Saint-Sulpice. Von dort gesehen, vermischen
sich die Umrisse dieser Bauwerke mit Laubwerk und mit Schatten und sind
den Launen des Himmels unterworfen, der unaufhörlich Farbe, Licht und
Aussehen wechselt. Fern von dir türmen sich Gebäude in die Luft; in
deiner Nähe schlängeln sich wogende Bäume und ländliche Pfade. Rechts
siehst du durch einen breiten Einschnitt in dieser einzigartigen
Landschaft die lange, blanke Fläche des Sankt Martinkanals, von roten
Steinen eingefaßt, geschmückt mit Lindenbäumen, umrahmt von den im
echten romanischen Stil gehaltenen Bauten der zahlreichen Speicher.
Dort verlieren sich auch die dunstigen Hügel von Belleville, bestanden
von Häusern und Mühlen, mit ihren Geländewellen in den Wolken.

Aber zwischen der Reihe von Dächern, die das Tal umrahmen, und dem
Horizont, der ebenso undeutlich ist wie eine Erinnerung aus der
Kindheit, liegt eine Stadt, die du nicht sehen kannst -- eine ungeheure
Stadt, versunken in einen Abgrund zwischen der Höhe, auf der das
»Hospital zur Pietät« liegt, und dem Gipfel, der den Ostkirchhof trägt,
also gewissermaßen zwischen dem Leiden und dem Tode. Sie läßt ein
dumpfes Brausen hören, wie der Ozean, wenn er hinter einem Felsenriff
brandet, als wolle sie dir zurufen: »Da bin ich.« Wenn die Sonne ihre
Fluten von Licht über das Antlitz von Paris ausgießt, wenn sie die
Linien der Stadt rein und flüssig erscheinen läßt, wenn sie ein paar
Fensterscheiben in Brand setzt, die Ziegel bestrahlt, die goldenen
Kreuze aufflackern läßt, die Mauern weiß färbt und die Atmosphäre zu
einem Gazeschleier verwandelt; wenn sie durch phantastische Schatten
reiche Kontraste schafft, wenn der Himmel azurblau ist und die Erde
braust und dröhnt und die Glocken reden, dann bewunderst du von dort aus
eins jener eindrucksvollen Zauberbilder, das die Phantasie niemals
vergißt, das du anbetest, das dich berauscht wie ein wundervoller
Anblick von Neapel, Stambul oder Florida. Diesem Blicke fehlt nichts zur
vollen Harmonie. Hier braust der Lärm der Welt und murmelt der Friede
der Einsamkeit -- man hört die Stimmen von Millionen von Menschen und
auch die Stimme Gottes. Dort liegt eine Weltstadt unter den friedlichen
Zypressen des Père-Lachaise gebettet.

An einem Frühlingsmorgen, zur Zeit, als die Sonne alle Schönheiten
dieser Landschaft erglänzen ließ, habe ich sie bewundert, gelehnt an
eine große Ulme, die ihre gelben Blüten dem Winde gab. Im Anblick dieser
reichen, erhabenen Bilder dachte ich mit Bitterkeit an die
Geringschätzung, die wir bis in unsere Bücher hinein gegen unser
Vaterland von heute bekunden. Ich verwünschte die armen Reichen, die,
unseres schönen Frankreichs überdrüssig, für Geld sich das Recht
erkaufen, ihr Vaterland zu verachten, im Galopp zu reisen und durch ein
Lorgnon die Gegenden Italiens betrachten, das jetzt schon »jeder
Schuster« kennt. Ich betrachtete mit Liebe das moderne Paris, ich
träumte, als plötzlich das Geräusch eines Kusses meine Einsamkeit störte
und die Philosophie zum Teufel jagte.

In der Seitenallee, entlang dem steilen Abhang, an dessen Fuß das Wasser
hinströmt, gewahrte ich eine Frau, die mir noch ziemlich jung erschien.
Sie war einfach und doch höchst elegant gekleidet, und ihr sanftes
Gesicht schien vom heiteren Glück der Landschaft widerzustrahlen. Ein
schöner junger Mann setzte den hübschesten kleinen Jungen, den man sehen
kann, auf die Erde, so daß ich niemals habe erfahren können, ob der Kuß
auf der Wange der Mutter oder des Kindes erklungen war.

Ein und derselbe zarte, lebhafte Sinn leuchtete in den Augen, den
Gebärden, dem Lächeln dieser beiden jungen Leute. Sie reichten sich den
Arm in so glücklichem Einvernehmen und näherten sich in einem so
wunderbaren Gleichmaß der Bewegung, daß sie, ganz in sich versunken,
meine Anwesenheit gar nicht bemerkten.

Aber ein zweites, unzufriedenes und schmollendes Kind, das ihnen den
Rücken kehrte, warf mir Blicke zu, deren Ausdruck mich seltsam
berührte. Es ließ seinen Bruder allein gehen und war bald hinter, bald
vor seiner Mutter und dem jungen Manne. Ebenso anmutig, ebenso schön wie
das andere, aber von zarten Formen, verhielt es sich stumm und steif und
machte fast den Eindruck einer in Schlaf versunkenen Schlange. Es war
ein kleines Mädchen.

Die Gangart der hübschen Frau und ihres Gefährten hatte etwas seltsam
Übereinstimmendes. Es war fast, als wenn zwei Maschinen sich bewegten,
so sehr entsprachen einander die Bewegungen der beiden. Aus
Zerstreutheit vielleicht legten sie nur die kurze Strecke zwischen der
kleinen Brücke und einem an der Biegung des Boulevards haltenden Wagen
zurück und begannen diesen Spaziergang immer von neuem, wobei sie
stehenblieben, sich ansahen und lachten, wie es die Laune eines bald
belebten, bald schmachtenden, bald ernsten, bald närrischen Gesprächs
mit sich brachte.

Verborgen hinter der großen Ulme, bewunderte ich diese reizende Szene
und würde mich sicherlich behutsam entfernt haben, wenn ich nicht auf
dem Gesicht des kleinen, träumerischen und schweigsamen Mädchens die
Spur eines über sein Alter hinausgehenden Denkens bemerkt hätte. Wenn
die Mutter der Kleinen und der junge Mann, in ihre Nähe gekommen, wieder
umdrehten, dann senkte sie oft heimlich den Kopf und warf ihnen, wie
auch ihrem Bruder, einen verstohlenen und wirklich recht seltsamen Blick
zu. Aber nichts könnte die durchdringende Verschlagenheit, die boshafte
Naivität, die wilde Aufmerksamkeit wiedergeben, die dieses Kindergesicht
mit den leichten Ringen um die Augen plötzlich belebten, sobald die
hübsche Frau oder ihr Begleiter die blonden Locken, den frischen Hals
des kleinen Jungen streichelten oder seinen weißen Kragen
zurechtstrichen, wenn er in kindlichem Eifer neben ihnen herzulaufen
versuchte.

Es sprach jedenfalls die Leidenschaft eines Erwachsenen aus dem schmalen
Gesicht dieses seltsamen Mädchens. Es war leidend oder grüblerisch
veranlagt. Und was verkündet bei diesen kaum erblühten Geschöpfen
sicherer den nahen Tod? Das im Körper steckende Leiden oder das
frühreife Grübeln, das die Seele verzehrt, die noch fast im Keim liegt?
Eine Mutter weiß das vielleicht. Ich für meinen Teil kenne nichts
Gräßlicheres als greisenhaftes Sinnen auf einer Kinderstirn. Die
Gotteslästerung auf den Lippen einer Jungfrau ist noch weniger
ungeheuerlich.

Die fast stumpfsinnige Haltung dieses schon grüblerischen Kindes, seine
spärlichen Bewegungen, alles interessierte mich. Ich beobachtete die
Kleine neugierig. Aus einer bei Menschenkindern natürlichen Laune
verglich ich sie mit ihrem Bruder und suchte die Ähnlichkeiten und
Verschiedenheiten zwischen beiden zu erspähen. Die Schwester hatte
braunes Haar, schwarze Augen und eine früh entwickelte Kraft -- das
alles bildete einen starken Gegensatz zu dem blonden Haar, den
meergrünen Augen und der graziösen Schwäche des Knaben. Das ältere Kind
mochte etwa sieben oder acht Jahre alt sein, das jüngere kaum vier.

Sie waren in der gleichen Weise gekleidet. Als ich sie jedoch aufmerksam
betrachtete, bemerkte ich an den weißen Kragen ihrer Hemdchen einen ganz
unbedeutenden Unterschied, der mich aber später einen ganzen Roman in
der Vergangenheit und ein ganzes Drama in der Zukunft übersehen ließ.
Und es war doch nur eine Kleinigkeit. Ein einfacher Saum umgab den
Kragen des kleinen braunen Mädchens, während hübsche Stickereien den des
Knaben schmückten und ein Herzensgeheimnis verrieten, eine
stillschweigende Bevorzugung, die die Kinder aber doch in der Seele
ihrer Mutter erkennen, gleich als sei der Geist Gottes in ihnen.

Sorglos und lustig, glich der Blonde einem kleinen Mädchen, so zart war
seine weiße Haut, so anmutig seine Bewegungen, so süß sein Gesicht;
während die ältere trotz ihrer Kraft, trotz der Schönheit ihrer Züge und
ihres blendenden Teints einem kleinen kränklichen Jungen glich. Ihre
lebhaften Augen hatten nicht jenen feuchten Schleier, der Kinderaugen
soviel Reiz verleiht; sie schienen von einem innern Feuer ausgetrocknet
zu sein, wie etwa bei Leuten, die in der Atmosphäre eines königlichen
Hofes leben müssen. Das Weiße ihrer Augen hatte auch einen gewissen
Stich ins Fahle, Gelbliche -- ein Zeichen für einen ungestümen
Charakter.

Zweimal hatte ihr kleiner Bruder ihr mit einer rührenden Anmut, mit
fröhlichem Blick und einer ausdrucksvollen Miene, die unsern Kindermaler
Charlet entzückt haben würde, das kleine Jagdhorn hingereicht, auf dem
er von Zeit zu Zeit blies. Aber jedesmal hatte das Mädchen auf seine in
liebkosendem Tone gestellte Frage: »Willst du's haben, Helene?« nur mit
einem barschen Blick geantwortet.

Sie trug eine unbekümmerte Miene zur Schau und war dennoch finster, ja
schrecklich; denn sie zitterte und wurde rot, wenn ihr Bruder sich ihr
näherte. Aber der Kleine schien die düstere Stimmung seiner Schwester
nicht zu bemerken, und sein Wesen, halb Sorglosigkeit, halb Interesse,
vollendete den Gegensatz zwischen ihm und der Schwester: hier der wahre
Charakter der Kindheit, dort die Sorge und das Wissen des Erwachsenen,
scharf ausgeprägt auf einem schon verdüsterten Mädchengesicht.

»Mama, Helene will nicht spielen,« rief der Kleine und benutzte, um eine
Beschwerde vorzubringen, einen Augenblick, wo seine Mutter und der junge
Mann schweigend auf der Gobelinsbrücke stehengeblieben waren.

»Laß sie, Karl. Du weißt, sie murrt immer.«

Diese Worte, die die Mutter leicht hinwarf, während sie sich gleich
darauf mit dem jungen Manne wieder umdrehte, entlockten Helene Tränen.
Sie verschluckte sie stumm, warf ihrem Bruder einen jener tiefen Blicke
zu, die mir unerklärlich schienen, und betrachtete mit einer Miene, die
fast einen unheilvollen Scharfsinn verriet, erst den schroffen Abhang,
auf dessen Spitze der Kleine stand, dann den Bièvrefluß, die Brücke und
mich.

Ich fürchtete, von dem glücklichen Paar gesehen zu werden, dessen
Unterhaltung ich dann ohne Zweifel gestört haben würde; ich zog mich
leise zurück und suchte Zuflucht hinter einer Hollunderhecke, deren
Laubwerk mich völlig allen Blicken verbarg. Ich setzte mich ruhig auf
den Rand des Abhangs und betrachtete schweigend bald die wechselnden
Schönheiten der Gegend, bald das wilde Mädchen, das ich durch die Lücken
des Hollunders noch genau sehen konnte, denn ich hatte den Kopf an den
Fuß der Hecke gelehnt, wo er sich fast in gleicher Höhe mit dem
Boulevard befand.

Als Helene mich nicht mehr sah, schien sie unruhig; ihre schwarzen Augen
suchten mich in der Ferne der Allee, hinter den Bäumen, kurz, sie sah
sich mit unerklärlicher Neugierde nach mir um. Was hatte sie an mir? In
diesem Augenblick erschallte in der Stille das naive Lachen Karls wie
der Gesang eines Vogels. Der junge Mann, ebenso blond, ließ ihn in
seinen Armen tanzen und küßte ihn, wobei er ihn mit einer Fülle von
zusammenhanglosen Koseworten überschüttete, wie wir sie eben an Kinder
richten, ohne uns an den eigentlichen Sinn der Worte zu kehren.

Die Mutter sah lächelnd diesem Spiele zu und sprach von Zeit zu Zeit mit
leiser Stimme wohl ein paar von Herzen kommende Worte; denn ihr Gefährte
hielt dann ganz glücklich inne und sah sie mit seinen blauen Augen voll
Feuer, voll Anbetung an. Ihre Stimmen, wie sie sich so mit der des
Kindes vermischten, hatten etwas überaus Zärtliches, Inniges an sich.
Sie bildeten alle drei ein entzückendes Bild, und dieses zärtliche Bild
verlieh der großartigen Landschaft, in die es hineingestellt war, eine
unsagbare Anmut und Weichheit.

Eine schöne, weiße, lachende Frau, ein Kind der Liebe, ein in Jugend
strahlender Mann, ein reiner Himmel und alle Harmonie der Natur -- das
alles schmolz zu einem Einklang zusammen, der der Seele unendlich
wohltat. Ich ertappte mich über einem Lächeln, als wenn das Glück mein
eigenes gewesen wäre. Der schöne junge Mann hörte es neun schlagen.
Nachdem er seine fast ernst und traurig gewordene Gefährtin geküßt
hatte, kehrte er zu seinem zweiräderigen Wagen zurück, den ein alter
Diener langsam heranführte. Der junge Mann küßte ein letztes Mal noch
das Kind, das dazwischen lustig schwatzte. Als der Herr hinwegfuhr und
die junge Frau dem rollenden Wagen nachsah, der in der grünen Allee des
Boulevards eine Staubwolke hinter sich zurückließ, lief Karl zu seiner
Schwester, die an der Brücke stand, und ich hörte ihn mit silberner
Stimme zu ihr sagen:

»Warum hast du nicht auch meinem guten Freund Adieu gesagt?«

Als Helene ihren Bruder an dem Rande des Abhanges sah, warf sie ihm den
entsetzlichsten Blick zu, der je die Augen eines Kindes entflammt hat,
und gab ihm einen heftigen Stoß. Der Knabe glitt an dem steilen Hang aus
und stolperte über Wurzeln, so daß er gegen die scharfen Steine der
Mauer fiel. Er zerschlug sich die Stirn an ihnen, und gleich darauf
stürzte er blutend in das schlammige Wasser des Flusses, das in tausend
braunen Kreisen vor seinem hübschen blonden Kopf zur Seite wich. Ich
hörte den schrillen Schrei des armen Kleinen; aber bald war nichts mehr
zu hören -- er verschwand im Schlamme mit einem gurgelnden Laut, wie ein
Stein, wenn er versinkt. Der Sturz hatte sich mit Blitzesschnelle
vollzogen. Ich erhob mich rasch und stieg auf einem Pfade hinab. Helene
war außer Fassung und schrie herzzerreißend:

»Mama! Mama!«

Die Mutter war neben mir. Sie war wie ein Vogel geflogen. Aber weder die
Augen der Mutter, noch die meinen konnten die Stelle entdecken, wo das
Kind versunken war. Eine große Fläche des schwarzen Wassers war in
brodelnde Bewegung geraten. Das Bett der Bièvre hat an dieser Stelle
zehn Fuß tiefen Schlamm. Das Kind mußte darin sterben, es war unmöglich,
es zu retten. Zu dieser Stunde -- es war ein Sonntag -- feierte alles,
und man sah weder Kähne noch Fischer. Ich sah nicht einmal eine Stange,
um den modrigen Fluß zu untersuchen, und kein Mensch war weit und breit
zu sehen.

Warum hätte ich nun von diesem unheilvollen Vorgange sprechen oder das
Geheimnis dieses Unglücks verraten sollen? Helene hatte vielleicht ihren
Vater gerächt. Ihre Eifersucht war ohne Zweifel das Schwert Gottes.
Dennoch erfaßte mich ein Schauder, als ich die Mutter ansah. Welchem
entsetzlichen Verhör würde nicht ihr Mann, ihr ewiger Richter, sie
unterwerfen? Und sie hatte immer einen unbestechlichen Zeugen bei sich.
Kinder haben eine durchsichtige Stirn und Haut, und die Lüge ist bei
ihnen wie ein Licht, das selbst den Blick erröten läßt. Die
unglückselige Frau dachte noch nicht an die Strafe, die zu Hause ihrer
harrte. Sie starrte in die Bièvre.

Ein solches Ereignis mußte das Leben jeder Frau furchtbar erschüttern,
und es war das einer der schrecklichsten Schläge, die von Zeit zu Zeit
über Juliens Liebe hereinbrachen.

                   *       *       *       *       *

Zwei oder drei Jahre später befand sich ein Notar bei dem Marquis de
Vandenesse, der jetzt um seinen Vater trauerte und den Nachlaß zu ordnen
hatte. Es war am Abend nach dem Diner. Dieser Notar war keiner von der
Art, wie der Romanschriftsteller Sterne sie schildert. Es war kein
kleiner englischer Notar, sondern ein großer, dicker Notar aus Paris,
einer jener schätzbaren Männer, die ihre Albernheiten in das Gewand der
Würde kleiden, ungekannte Wunden plump mit Füßen treten und obendrein
noch fragen, warum man sich beklage. Wenn sie zufällig einmal das Wie
und Weshalb ihrer schrecklichen Blödheit merken, dann sagen sie einfach:
»Meiner Treu, davon habe ich nichts gewußt.« Kurz, es war ein Notar,
dessen Albernheit sich sehen lassen konnte und für den die Akten der
Inbegriff der Welt waren.

Der Diplomat hatte Frau d'Aiglemont bei sich. Der General hatte sich
noch vor dem Ende des Essens höflichst verabschiedet, um mit seinen
beiden Kindern ins Ambigu-Comique oder ins Gaietétheater zu gehen.
Obwohl die Melodramen das Gemüt übermäßig aufregen, ist man in Paris der
Meinung, daß Kinder sie ohne Gefahr sehen können, weil darin immer die
Unschuld siegt. Der Vater war gegangen, ohne auf den Nachtisch zu
warten, denn seine Tochter und sein Sohn konnten es nicht erwarten, ins
Theater zu kommen, und wollten auf jeden Fall vorm Aufgehen des Vorhangs
dort sein.

Der Notar, der unerschütterliche Notar, dachte nicht daran, sich zu
fragen, warum Frau d'Aiglemont wohl ihre Kinder und ihren Mann ins
Theater schicke, ohne mitzugehen, und blieb nach dem Essen wie
angewurzelt auf seinem Stuhle sitzen. Eine Erörterung hatte den
Nachtisch ein wenig in die Länge gezogen, und die Leute ließen sich auch
mit dem Auftragen des Kaffees Zeit. Diese Zufälle verschlangen eine
zweifellos kostbare Zeit, denn die hübsche Frau verriet Zeichen der
Ungeduld; man hätte sie mit einem Rennpferd vergleichen können, das vor
dem Laufe den Boden stampft. Der Notar kannte aber weder Pferde noch
Frauen und fand einfach die Marquise sehr lebhaft, ja etwas
quecksilberig.

Entzückt, sich in der Gesellschaft einer Modedame und eines berühmten
Staatsmannes zu befinden, begann dieser Notar den Geistreichen zu
spielen. Er faßte das gezwungene Lächeln der Marquise, die auf Kohlen
saß, für Beifall auf und legte sich nun erst recht ins Zeug. Der Herr
des Hauses hatte im Einverständnis mit seiner Gefährtin schon mehrmals
Schweigen beobachtet, wo der Notar eine lobende Antwort erwartete; aber
während dieses vielsagenden Schweigens sah der Teufelskerl ins Feuer
und sann auf neue Anekdoten. Dann hatte der Diplomat in seiner
Verzweiflung sogar die Uhr gezogen. Endlich hatte die hübsche Frau den
Hut aufgesetzt, als wenn sie gehen wollte, aber sie ging nicht. Der
Notar sah nichts, verstand nichts; er war von sich selbst entzückt und
überzeugt, er interessiere die Marquise so sehr, daß sie das Gehen
vergessen hätte.

»Sicher wird diese Frau mich in Zukunft zu ihrem Rechtsanwalt machen,«
sagte er zu sich selbst.

Die Marquise war aufgestanden, zog die Handschuhe an, bewegte nervös die
Finger und sah bald den Marquis de Vandenesse an, der ihre Ungeduld
teilte, bald den Notar, der überaus geistreich dreinsah. Bei jeder
Pause, die der würdige Mann machte, atmete das hübsche Paar auf und
sagte sich: »Endlich wird er gehen.«

Doch mit nichten. Es war ein moralisches Alpdrücken und mußte
schließlich dahin führen, daß die beiden Personen, auf die der Notar
ebenso wirkte, wie eine Schlange auf Vögel, außer sich gerieten und zu
irgendeiner Grobheit gezwungen wurden. Mitten in einem schönen Bericht
über die unwürdigen Mittel, durch die Tillet, ein damals sehr beliebter
Geschäftsmann, sein Vermögen gemacht hätte und die der geistreiche Notar
bis ins kleinste auseinandersetzte -- hörte der Diplomat es an seiner
Stutzuhr neun schlagen; er sah ein, sein Notar war ganz entschieden ein
Esel, dem man den Laufpaß geben müsse, und er unterbrach ihn nun kurzweg
durch eine Handbewegung.

»Wünschen Sie die Feuerzange, Herr Marquis?« fragte der Notar, sie
seinem Klienten hinreichend.

»Nein, Herr, ich muß Sie jetzt wegschicken. Die gnädige Frau wird ihren
Kindern entgegengehen, und ich werde die Ehre haben, sie zu begleiten.«

»Schon neun Uhr! In liebenswürdiger Gesellschaft vergeht die Zeit doch
zu schnell,« sagte der Notar, der schon eine ganze Stunde lang allein das
Wort führte.

Er suchte seinen Hut, pflanzte sich dann vor dem Kamin auf, unterdrückte
mit Mühe einen Schluckauf und sagte zu seinem Klienten, ohne die
vernichtenden Blicke zu bemerken, die die Marquise ihm zuwarf.

»Lassen Sie uns zusammenfassen, Herr Marquis. Die Geschäfte gehen allem
vor. Morgen werden wir also Ihrem Bruder eine Vorladung zustellen
lassen, um ihn zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten aufzufordern. Wir
werden das Inventar aufnehmen, und nachher -- nun ja --«

Der Notar hatte die Absichten seines Klienten so schlecht verstanden,
daß er die Angelegenheit gerade im umgekehrten Sinne der Weisungen, die
der Marquis ihm eben erteilt hatte, in die Hand nahm. Das war denn doch
eine heikle Sache, und Vandenesse mußte wohl oder übel dem tölpelhaften
Notar von neuem seine Wünsche klarmachen. Daran knüpfte sich
notwendigerweise eine abermals zeitraubende Erörterung.

»Nun hören Sie,« sagte schließlich der Diplomat auf ein Zeichen hin, das
die junge Frau ihm gegeben hatte, »Sie machen mich nervös. Kommen Sie
morgen um neun Uhr wieder mit meinem Advokaten.«

»Aber ich gestatte mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Herr Marquis,
wir können morgen nicht mit Bestimmtheit darauf rechnen, Herrn Desroches
zu treffen. Wenn die gerichtliche Zustellung nicht bis morgen mittag
erlassen ist, läuft die Frist ab, und dann ...«

In diesem Augenblick fuhr ein Wagen auf den Hof, und als die arme Frau
dieses Geräusch hörte, drehte sie sich rasch um, um die Tränen zu
verbergen, die ihr in die Augen schossen. Der Marquis klingelte, um
sagen zu lassen, er sei weggegangen; aber der General, der unvermutet
aus dem Gaietétheater zurückkam, trat vor dem Kammerdiener ein. Er hielt
an der einen Hand seine Tochter, deren Augen rot waren, und an der
andern seinen kleinen Jungen, der ein mürrisches Gesicht zog.

»Was ist euch denn passiert?« fragte die Frau ihren Mann.

»Ich werde es Ihnen später sagen,« antwortete der General und schritt in
ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand, und wo er Zeitungen
liegen sah.

Die Marquise warf sich verzweifelt auf ein Kanapee.

Der Notar glaubte gegen die Kinder den freundlichen Herrn spielen zu
müssen und schlug einen gezierten Ton an, indem er den Kleinen fragte:

»Nun, mein Kleiner, was wurde denn im Theater gespielt?«

»Das Tal des Gießbachs,« antwortete Gustav mürrisch.

»Nun, ich bitte Sie,« rief der Notar, »unsere Schriftsteller sind halb
verrückt! Das Tal des Gießbachs! Warum nicht der Gießbach des Tals? Es
ist möglich, daß ein Tal keinen Gießbach hat, und wenn der Verfasser
gesagt hätte: Der Gießbach des Tals, so hätte er eine klare,
charakteristische, verständliche Form gewählt. Doch lassen wir das. Wie
kann sich denn aber in einem Gießbach und in einem Tal ein Drama
abspielen? Nun, allerdings! heutzutage liegt das hauptsächliche
Lockmittel dieser Art von Schauspielen in den Dekorationen, und dieser
Titel deutet eine imposante Ausstattung an. Du hast dich da wohl
trefflich amüsiert, mein kleiner Freund?« setzte der Notar hinzu, indem
er sich vor das Kind setzte.

Als der Notar gefragt hatte, was für ein Drama sich wohl auf dem Grunde
eines Gießbachs abspielen könne, drehte die Tochter der Marquise sich
langsam um und weinte. Die Mutter war so ärgerlich gestimmt, daß sie die
Bewegung ihrer Tochter nicht bemerkte.

»O ja, Herr, ich habe mich gut amüsiert,« antwortete das Kind. »In dem
Stück kam ein kleiner Junge vor, der war sehr hübsch und war ganz allein
auf der Welt, weil sein Papa nicht sein Vater sein durfte. Und da kam er
an eine große Brücke, die hoch über den Gießbach hinführt, und da kam
ein großer Vagabund mit einem Bart und ganz schwarz angezogen, und der
hat ihn ins Wasser geworfen. Da hat Helene angefangen zu weinen und laut
zu schluchzen, und alle Leute haben sich über uns aufgehalten, und da
hat der Vater uns ganz schnell, ganz schnell hinausgeführt.«

Herr de Vandenesse und die Marquise standen bestürzt da, wie unter dem
jähen Schlag eines Unglücks, das ihnen die Kraft, zu denken und zu
handeln, raubte.

»Gustav, wirst du den Mund halten!« rief der General. »Ich habe dir doch
verboten zu erzählen, was im Theater geschehen ist, und du vergißt schon
mein Geheiß?«

»Euer Gnaden mögen verzeihen,« sagte der Notar, »die Schuld trifft mich,
denn ich habe ihn gefragt -- aber ich wußte ja nicht, wie ernst ...«

»So durfte er nicht antworten,« sagte der Vater und sah seinen Sohn
streng an.

Der Diplomat und die Marquise hatten nun aber doch die Ursache erfahren,
weshalb die Kinder und der Vater so plötzlich zurückgekehrt waren. Die
Mutter sah ihre Tochter an, sah sie weinen und erhob sich, um zu ihr zu
gehen; aber ihr Gesicht verzog sich dabei heftig und nahm den Ausdruck
einer maßlosen Strenge an.

»Genug, Helene,« sagte sie zu ihr, »trockne im Nebenzimmer deine
Tränen.«

»Was hat sie denn getan, diese arme Kleine?« sagte der Notar, der
zugleich die zornige Mutter und die weinende Kleine beschwichtigen
wollte. »Sie ist so hübsch -- sie muß das gescheiteste Kind von der Welt
sein. Ich bin überzeugt, gnädige Frau, sie macht Ihnen nur Freude. Nicht
wahr, meine Kleine?«

Helene sah zitternd ihre Mutter an, wischte die Tränen ab, versuchte,
ein ruhiges Gesicht zu zeigen, und flüchtete ins Nebenzimmer.

»Und gewiß,« schwatzte der Notar noch immer weiter, »gnädige Frau sind
eine gute Mutter und werden alle Ihre Kinder in gleichem Maße lieben.
Sie sind übrigens zu tugendhaft zu jener traurigen Bevorzugung, deren
unheilvolle Folgen ganz besonders deutlich wir Notare zu sehen bekommen.
Uns läuft die Gesellschaft sozusagen durch die Finger. Wir sehen daher
auch die Leidenschaften in ihrer häßlichsten Gestalt: der Selbstsucht.
Hier will eine Mutter die Kinder ihres Mannes um ihr Erbe bringen
zugunsten der Kinder, denen sie den Vorzug gibt. Auf der andern Seite
will der Mann manchmal sein Vermögen ganz dem Kinde zukommen lassen, das
den Haß der Mutter verdient hat. Und da gibt es dann Kämpfe, Urkunden,
Gegenverschreibungen, Scheinverkäufe, Fideikommisse -- kurz, ein
bedauernswertes Tohuwabohu -- auf Ehre, bedauernswert! Hier bringen
Väter ihr Leben lang Kinder um ihr Erbe, indem sie das Gut ihrer Frauen
stehlen -- ja, stehlen ist das richtige Wort. Wir sprachen vom Drama.
Ach, ich versichere Ihnen, wenn wir das Geheimnis gewisser Schenkungen
ausplaudern könnten, würden unsere Dichter entsetzliche bürgerliche
Tragödien daraus machen können. Ich weiß nicht, was für eine Macht die
Frauen gebrauchen, um das zu erreichen, was sie wollen. Denn, so zart
und schwach sie aussehen, sie behalten immer die Oberhand. Ach ja, ja!
Mich fangen sie nie, mich nicht! Ich erkenne immer den Grund solcher
Bevorzugung, von denen man in der Welt höflicherweise immer sagt: »Wir
wissen selbst nicht recht, weshalb.« Aber die Ehemänner kommen nie
dahinter, diese Gerechtigkeit muß man ihnen angedeihen lassen. Sie
werden mir darauf antworten, es gäbe eben liebevolle Kinder und --«

Helene war mit ihrem Vater aus dem Nebenzimmer in den Salon
zurückgekehrt und hörte aufmerksam dem Notar zu. Sie verstand ihn so
gut, daß sie auf ihre Mutter einen furchtsamen Blick warf und mit dem
ganzen Instinkt der Jugend ahnte, dieser Umstand werde die strenge
Behandlung verdoppeln, die ihr bevorstand. Die Marquise erbleichte und
machte Vandenesse durch eine Gebärde des Entsetzens auf ihren Gatten
aufmerksam, der nachdenklich die Blumen der Tapete betrachtete. In
diesem Moment konnte der Diplomat sich trotz aller Lebensart nicht mehr
bezwingen und schleuderte dem Notar einen niederschmetternden Blick zu.

»Kommen Sie hier hindurch, Herr,« sagte er zu ihm und schritt rasch auf
das Gemach zu, das vor dem Salon lag.

Der Notar folgte ihm zitternd, ohne seinen Satz zu vollenden.

»Herr,« sagte nun der Marquis de Vandenesse, der die Tür des Salons
heftig zuwarf, wo er das Ehepaar zurückließ, mit verhaltener Wut zu dem
Juristen, »seit dem Diner haben Sie hier eine Dummheit nach der andern
begangen und lauter Albernheiten gesagt. Um Gotteswillen, machen Sie,
daß Sie hinauskommen! Sie richten sonst noch das größte Unglück an. Sie
mögen ein ausgezeichneter Notar sein, aber dann bleiben Sie bei Ihren
Leisten. Wenn Sie sich mal zufällig in Gesellschaft befinden, dann
befleißigen Sie sich eines vorsichtigeren Benehmens ...«

Dann ließ er den Notar ohne Abschiedsgruß stehen und kehrte in den Salon
zurück. Der Notar stand einen Augenblick da, wie vor den Kopf
geschlagen, fassungslos, ohne zu wissen, wo er sich befände. Als das
Summen aufhörte, das ihm in den Ohren klang, glaubte er Seufzen und Hin-
und Herlaufen im Salon zu hören, und darauf wurde heftig geklingelt. Er
hatte Angst, dem Marquis de Vandenesse noch einmal zu begegnen, und da
ihm die Beine nicht länger den Dienst versagten, erreichte er die Treppe
und gab Fersengeld. Aber an der Tür der Gemächer stieß er erst noch
einmal mit den Dienern zusammen, die hineineilten, um die Befehle ihres
Herrn zu vernehmen.

»So sind diese großen Herren,« sagte er zu sich selbst, als er endlich
auf der Straße stand und seine Droschke suchte, »erst fordern sie einen
auf, was zu sagen, ermuntern einen durch allerlei Komplimente, und man
bildet sich ein, ihnen Spaß zu machen -- hat sich was! Impertinenzen
kriegt man zu hören, es wird abgewinkt, und schließlich wird man gar an
die Luft gesetzt -- ganz ohne Umstände. Dabei bin ich überaus geistreich
gewesen. Ich habe nicht einmal was Unsinniges gesagt -- und alles in
hübsche Worte gekleidet -- und alles anständig. Sieh an, er empfiehlt
mir, mehr Vorsicht zu beobachten -- daran lasse ich's nicht fehlen. Ach,
pfeif' drauf! Du bist Notar und Mitglied der Kammer. Der Herr Gesandte
hat mal so einen Rappel bekommen -- diesen Leuten ist ja nichts heilig.
Morgen soll er mir die Erklärung geben, inwiefern ich bei ihm nichts wie
Dummheiten angestellt und nichts wie Albernheiten gesagt hätte. Ich
werde Rechenschaft von ihm fordern -- das heißt, dafür -- für seine
grobe Zurechtweisung. Mein Gott ja -- vielleicht habe ich auch unrecht
-- ei was, fällt mir nicht ein, mir den Kopf darüber zu zerbrechen! Was
mache ich mir daraus?«

Der Notar kam zu Hause an und unterbreitete das Rätsel der Frau Notarin,
indem er Punkt für Punkt die Geheimnisse des Abends erzählte.

»Mein lieber Crottat, Seine Exzellenz hat vollauf recht gehabt, als er
dir sagte, du hättest lauter Dummheiten angestellt und nichts wie
Dummheiten gesagt.«

»Wieso?«

»Mein Lieber, das würde ich dir sagen -- aber du machst es deswegen ja
doch morgen wieder genau so schlau. Ich empfehle dir, in Gesellschaften
immer nur das zu sagen, was deines Amtes ist.«

»Wenn du es mir nicht sagen willst, dann werde ich morgen schon wissen,
wen ich zu fragen habe.«

»Mein Gott, die dümmsten Menschen geben sich Mühe, so etwas niemand
merken zu lassen, und du glaubst, ein Gesandter wird es dir sagen? Aber,
Crottat, ich habe dich noch niemals so schwerfällig gesehen.«

»Danke, meine Liebe.«




5. Kapitel.

Die beiden Begegnungen.


Ein ehemaliger Ordonnanzoffizier Napoleons, den wir nur den General oder
den Marquis nennen werden, und der unter der Restauration zu großem
Vermögen gekommen war, war nach Versailles gezogen, um dort die schönen
Tage zu verleben. Er bewohnte ein Landhaus, das zwischen der Kirche und
der Barrière de Montreuil lag, an dem Wege, der nach der Allee von
Saint-Cloud führt. Sein Dienst bei Hofe gestattete ihm nicht, sich von
Paris zu entfernen.

Einst zu dem Zwecke erbaut, den flatterhaften Liebschaften irgendeines
Grandseigneur zum Asyl zu dienen, war dieser Pavillon ein sehr
weitläufiges Gebäude. Da er mitten im Garten errichtet worden war, lag
er nach rechts und nach links gleich weit ab von den ersten Häusern von
Montreuil und den Hütten der Umgebung der Barrière. Ohne völlig
abgesondert zu sein, hatten auf diese Weise die Herren des Besitzes in
unmittelbarer Nähe einer Stadt alle Vorzüge der Einsamkeit genossen.

Eigentümlicherweise lagen die Fassade und die Eingangstür des Hauses
unmittelbar nach dem Wege zu, der ehemals vielleicht wenig begangen
gewesen war. Diese Vermutung erscheint wahrscheinlich, wenn man bedenkt,
daß er an den köstlichen Pavillon grenzte, den Ludwig XV. für Fräulein
de Romans erbauen ließ. Ehe man dorthin kommt, trifft man denn auch hie
und da mehrere Kasinos, deren Inneres und Ausschmückung auf die
geistvollen Ausschweifungen unserer Vorfahren hindeuten, die doch
immerhin den Schatten und die Verborgenheit aufsuchten, um sich der
Zügellosigkeit hinzugeben, deren man sie beschuldigt.

An einem Winterabend befanden sich der Marquis, seine Frau und seine
Kinder allein in diesem verlassenen Hause. Ihre Leute hatten die
Erlaubnis erhalten, in Versailles die Hochzeit eines unter ihnen zu
feiern; und in der Annahme, die Weihnachtsfeier, die sich an die
Hochzeit anschloß, wäre eine triftige Entschuldigung, die die Herrschaft
wohl gelten lassen würde, trugen sie kein Bedenken, die Festlichkeit
länger auszudehnen, als die Hausordnung ihnen eigentlich erlaubte.

Da jedoch der General als ein Mann bekannt war, der bisher noch immer
mit unbeugsamer Rechtschaffenheit sein Wort gehalten hatte, so tanzten
die ungehorsamen Diener nur noch mit Beklommenheit, als die ihnen
zugebilligte Frist abgelaufen war. Es hatte elf Uhr geschlagen, und noch
war niemand von den Leuten zurückgekehrt. Das Schweigen, das rings auf
dem Lande herrschte, war so tief, daß man von Zeit zu Zeit den Wind
durch die schwarzen Zweige der Bäume pfeifen hörte -- dann wieder heulte
er ums Haus oder verfing sich in den langen Korridoren.

Der Frost hatte die Luft so rein gemacht, den Boden und das Pflaster so
gehärtet, daß von allem jene trockenen, hellen Töne hallten, deren
Klarheit uns stets verwundert. Der dumpfe Schritt eines verspäteten
Zechers oder der Lärm einer nach Paris zurückkehrenden Droschke hallten
lauter und blieben auf größere Entfernung hörbar als sonst. Die toten
Blätter, die plötzliche Wirbelwinde zum Tanze trieben, raschelten über
die Steine des Hofes hin, so daß sie der Nacht eine Stimme verliehen,
als sie stumm werden wollte.

Kurz, es war einer jener scharfen Abende, die unserer Ichsucht ein
unfruchtbares Mitleid mit den Armen oder dem Reisenden abnötigen und uns
den Kamin zu dem wollüstigsten Eckchen machen.

In diesem Augenblick bekümmerte sich die im Salon beisammensitzende
Familie weder um die Abwesenheit der Diener, noch um die Leute ohne
Herd, noch um die Poesie einer funkelnden Winternacht. Ohne zwecklos zu
philosophieren, vertrauten Frau und Kinder dem Schutze eines alten
Soldaten und gaben sich ganz den Freuden hin, die das häusliche Leben
mit sich bringt, wenn man sich in seinen Gefühlen keinen Zwang anzutun
braucht, wenn Liebe und Offenherzigkeit Worte, Blicke und Spiele
beleben.

Der General saß, oder besser gesagt, versank in einem hohen, geräumigen
Lehnstuhl, der in der Kaminecke stand. Im Ofen leuchtete ein
wohlgenährtes Feuer und strömte die starke Wärme aus, die stets ein
sicheres Zeichen ist, daß draußen außerordentliche Kälte herrscht. An
die Rückenlehne des Stuhls gelegt und ein wenig zur Seite geneigt, ruhte
der Kopf dieses braven Vaters in einer Haltung, deren Nachlässigkeit
eine vollkommene Ruhe, ein süßes Behagen ausdrückte. Seine wie im
Halbschlaf lose über die Seiten herabhängenden Arme vollendeten das Bild
gelassener Glückseligkeit.

Er betrachtete das kleinste seiner Kinder, einen kaum fünf Jahre alten
Jungen, der, halb nackend, sich durchaus nicht von der Mutter ausziehen
lassen wollte. Der kleine Kerl riß aus vor dem Nachthemd und dem
Nachthäubchen, das die Mutter ihm manchmal hinhielt. Er behielt seinen
gestickten Kragen um und lachte seine Mutter aus, wenn sie ihn rief,
weil er recht wohl merkte, daß sie selbst über diese kindliche Meuterei
lachte. Er fing dann wieder an, mit seiner Schwester zu spielen, die
ebenso naiv, aber schon etwas schalkhafter war als er. Sie sprach auch
schon deutlicher, während seine undeutlichen Worte und wirren Gedanken
selbst für seine Eltern kaum verständlich waren.

Die kleine Moina, die etwa zwei Jahre älter war als er, rief durch
Neckereien, die in ihr schon das Weib erkennen ließen, endloses
Gelächter hervor, das ganz plötzlich losbrach und eigentlich keinen
Grund zu haben schien. Aber als sie sich alle beide so drollig vorm
Feuer herumkugelten, in heller Ungeniertheit ihre hübschen fleischigen
Leiber und ihre weißen zarten Glieder zeigten, die Locken ihres
schwarzen und blonden Haars vermischten, die rosigen Gesichter
aneinander stießen, in die die Freude allerliebste Grübchen zeichnete,
da konnte man es wohl nachfühlen, daß ein Vater und namentlich eine
Mutter diese kleinen Seelen in ihr Herz geschlossen hatten. Gegen die
lebhaften Farben ihrer feuchten Augen, ihrer leuchtenden Wangen, ihrer
weißen Haut erblaßten selbst die Blumen des weichen Teppichs, des
Tummelplatzes ihrer Lust, auf dem sie hinstürzten, sich überschlugen und
miteinander rangen, ohne Schaden zu nehmen.

Die Mutter saß ihrem Manne gegenüber in der andern Ecke des Kamins auf
einem Sofa, von umhergestreuten Kleidungsstücken umgeben, einen roten
Kinderschuh in der Hand, in einer Haltung zwangloser Gemütlichkeit. Ein
Anflug von Ernst erstarb in einem sanften Lächeln, das um ihre Lippen
schwebte. Sie mochte sechsunddreißig Jahre alt sein und war noch von
großer Schönheit, dank der seltenen Regelmäßigkeit der Gesichtszüge,
denen die Wärme, das Licht und das Glück in diesem Augenblick einen
fast übernatürlichen Glanz verliehen. Oft hörte sie auf, den Kindern
zuzusehen und richtete die liebkosenden Augen auf das ernste Gesicht
ihres Mannes; manchmal begegneten sich ihre Augen, und die Eheleute
tauschten einen Blick stummer Freude und tiefen Sinnens.

Der General hatte ein stark gebräuntes Gesicht. Über seine breite, reine
Stirn spannen sich ein paar Flechten ergrauenden Haares. Der mannhafte
Blick seiner blauen Augen, die in den Falten seiner schlaffen Wangen
ausgeprägte Tapferkeit ließen erkennen, daß er sich das rote Band, das
das Knopfloch seines Rockes schmückte, sauer verdient hatte. In diesem
Augenblick spiegelte sich die unschuldige Freude, in der seine beiden
Kinder schwelgten, auf seinem Antlitz wider, das bei aller Festigkeit
und Kraft von großer Gutmütigkeit und Offenherzigkeit zeugte.

Dieser alte Soldat war ohne große Mühe wieder jung geworden. Liebe zur
Kindheit ist ja immer bei einem Soldaten vorhanden, weil er vom Unglück
des Lebens genug kennen lernt, um einzusehen, wieviel Elend die Gewalt
mit sich bringt und welche Vorzüge die Schwäche genießt.

Ein wenig abseits saß an einem runden Tisch im Licht von Astrallampen,
deren heller Schein mit dem blassen Schimmer der auf dem Kamin stehenden
Kerzen kämpfte, ein etwa dreizehn Jahre alter Knabe, der rasch die
Blätter eines dicken Buches umwendete. Er ließ sich durch das Geschrei
seiner Geschwister nicht ablenken, und sein Gesicht verriet die
Wißbegier der Jugend. Daß er so völlig in dem, was er las, aufging, war
wohl begreiflich, denn das Buch vor ihm enthielt die fesselnden Wunder
von »Tausendundeiner Nacht«, und der Knabe trug die Uniform der
Lyzeumsschüler. Er saß unbeweglich da, in nachdenklicher Haltung, einen
Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf eine der Hände gestützt, deren
weiße Finger sich in braunem Gelock vergruben. Das Licht fiel ihm voll
aufs Gesicht, während der andere Teil seines Körpers im Dunkeln blieb.
So glich er einem der schwarzen Selbstporträts Raphaels, auf denen er
sich mit aufmerksamem, gesenktem, an die Zukunft denkendem Gesicht
dargestellt hat.

Zwischen diesem Tisch und der Marquise arbeitete ein großes, schönes
Mädchen an einem Stickrahmen, bald beugte es sich darüber hin, bald
lehnte es sich zurück, und ihr ebenholzschwarzes Haar, das künstlich zu
Locken gewickelt war, erstrahlte im Lichtschein. Schon Helene für sich
allein gab ein herrliches Bild ab. Ihre Schönheit zeichnete sich durch
eine seltene Verschmelzung von Kraft und Eleganz aus. Obgleich sie das
Haar in straffem Zug um den Kopf gelegt trug, war es doch so übervoll,
daß es aus dem Kamme hervorsprang und sich am Anfang des Nackens
übermütig ringelte. Ihre sehr dichten, regelmäßig gezeichneten
Augenbrauen traten um so mehr hervor, als die Stirn rein und blendend
weiß war. Sie hatte sogar auf der Oberlippe einen leichten Flaum
mannhafter Kraft -- ihre Nase war griechisch und von ganz vollendetem
Schnitt. Aber die entzückende Rundung der Formen, der freimütige
Ausdruck der Züge, die Leuchtkraft eines zarten Fleisches, die wollüstig
weichen Lippen, das feine Oval des Gesichts und vor allem die reine
Keuschheit ihres jungfräulichen Blicks verliehen auch dieser kraftvollen
Schönheit die weibliche Anmut und Zartheit und die bezaubernde
Bescheidenheit, die wir von diesen Engeln des Friedens und der Liebe
fordern.

Nur hatte dieses Mädchen nichts Gebrechliches, nichts Schwaches an sich,
und ihr Herz mußte ebenso sanft sein, ihre Seele ebenso stark, wie ihr
Äußeres gebieterisch und ihr Gesicht lieblich war. Sie beobachtete das
gleiche Schweigen, wie ihr Bruder, der Lyzeumsschüler, und schien ganz
in eine jener mädchenhaften Grübeleien versunken zu sein, die oft dem
Auge eines Vaters, ja dem Scharfblick einer Mutter entgehen. Man weiß
dann nicht, ob man die Schatten, die unbestimmt über das Gesicht
huschen, wie schwache Wölkchen über einen klaren Himmel, dem Spiel des
Lichts oder geheimem Kummer zuschreiben soll.

Der Mann und die Frau beschäftigten sich in diesem Augenblick gar nicht
mit den beiden älteren Kindern. Dennoch hatte mehrmals ein prüfender
Blick des Generals die stumme Szene überschaut, die den zweiten Teil
dieses häuslichen Gemäldes bildete und schon eine anmutige
Verwirklichung der Hoffnungen darstellte, die das Kinderspiel im
Vordergrunde leise andeutete. Diese Gestalten gaben ein Abbild des
menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Abstufungen und schlossen
sich zu einer Art lebenden Gedichts zusammen. Die luxuriöse Ausstattung
des Salons, die verschiedenen Stellungen, die Gegensätze der verschieden
gefärbten Kleidung, die Kontraste der Gesichter, die die
Altersunterschiede an sich schon und dann auch die Lichteffekte
hervortreten ließen, breiteten über dieses Menschheitsbild all den
Reichtum und die Mannigfaltigkeit, die man von den Darstellungen eines
Bildhauers, eines Malers, eines Schriftstellers fordert.

Schließlich verliehen noch die Stille und der Winter, die Einsamkeit und
die Nacht dieser erhabenen und naiven Szene die ihnen eigne Majestät,
einen köstlichen Natureffekt hinzufügend. Das eheliche Leben hat viele
solcher geheiligten Stunden, deren unerklärlicher Reiz vielleicht auf
das Hineinspielen einer bessern Welt zurückzuführen ist. Ohne Zweifel
schimmern himmlische Strahlen über diesen Szenen, die den Menschen für
einen Teil seiner Leiden belohnen und ihm das Erdenleben erträglich
machen sollen. Dann gewinnt für unser Auge die ganze Welt eine
wohlgefällige Form, wir erhalten Einblick in die erhabene Ordnung des
Weltgeists, und auch die Gesetze des Gesellschaftslebens erscheinen uns
gerechtfertigt im Sinne der Zukunft.

Obwohl Helene einen zärtlichen Blick auf Abel und Moina warf, als die
beiden wieder einmal in hellen Jubel ausbrachen, und obwohl ihr Gesicht
vor Glück strahlte, wenn sie verstohlen ihren Vater betrachtete, so lag
doch der Ausdruck einer tiefen Schwermut in ihren Gebärden, in ihrer
Haltung und vor allem in ihren von langen Wimpern verschleierten Augen.
Ihre weißen, kräftigen Hände, durch die das Licht fiel, um ihnen ein
durchscheinendes, fast flüssiges Rosa mitzuteilen -- jawohl, diese Hände
zitterten. Ein einziges Mal begegneten sich unversehens Helenens Augen
und die der Marquise. Diese beiden Frauen sagten sich da mit einem
einzigen Blick ihre Meinung: er war kalt und ehrerbietig bei Helene,
finster und drohend bei der Mutter.

Helene schlug sogleich die Augen zu ihrer Arbeit nieder, bewegte flink
die Nadel und hob lange Zeit den Kopf nicht wieder, der ihr fast zu
schwer zu werden schien. War die Mutter übermäßig streng gegen ihre
Tochter, und hielt sie diese Strenge für notwendig? War sie eifersüchtig
auf die Schönheit Helenens, mit der sie schließlich noch den Kampf
aufnehmen konnte, freilich nur, wenn sie allen Zauber der Toilette
entfaltete? Oder hatte dieses Mädchen, wie viele Mädchen, wenn ihr Blick
sich klärt, Geheimnisse durchschaut, die die dem Anschein nach ihren
Pflichten so treue Frau in ihr Herz ebenso tief wie in ein Grab zu
versenken geglaubt hatte?

Helene war in ein Alter gekommen, wo die Reinheit der Seele manchmal
eine Gesinnung mit sich bringt, deren Härte gegen sich selbst das
richtige Maß überschreitet, und zu einem fast unnatürlichen Gefühl wird.
In gewissen Geistern nehmen Fehler die Größe von Verbrechen an; dann
wirkt die Phantasie noch auf das Gewissen ein, und die jungen Mädchen
übertreiben dann die Bestrafung, die sie sich selbst auferlegen, als
wenn sie eine Missetat begangen hätten.

Helene schien sich selbst für ganz unwürdig zu halten. Ein Geheimnis
ihres früheren Lebens, ein unglücklicher Zufall vielleicht, den sie
zuerst gar nicht verstanden, der aber, als ihr Verstand empfänglicher
wurde und der Einfluß religiöser Begriffe sich geltend machte, an
Bedeutung immer mehr gewonnen hatte, schien vor kurzem erst schließlich
dazu geführt zu haben, daß sie in romantischer Übertreibung sich in
ihren eigenen Augen tief erniedrigt hatte.

Dieses veränderte Benehmen hatte an dem Tage begonnen, als sie in einer
vor kurzem erschienenen Ausgabe ausländischer Theaterstücke die schöne
Tragödie >Wilhelm Tell< von Schiller las. Die Mutter schalt die Tochter,
daß sie das Buch hatte fallen lassen, und bemerkte dann, daß der
Aufruhr, den diese Lektüre in Helenens Seele hervorgerufen hatte, im
besondern auf die Szene zurückzuführen war, wo der Dichter eine Art von
Brudergemeinschaft aufstellt zwischen Wilhelm Tell, der zur Befreiung
eines ganzen Volks Menschenblut vergießt, und zwischen Johann Parricida.

Helene wurde demütig, fromm und nachdenklich und wünschte nicht mehr zu
Balle zu gehen. Noch nie war sie so zärtlich zu ihrem Vater gewesen,
besonders wenn die Mutter ihre mädchenhaften Schmeicheleien und
Liebkosungen nicht mitansah. Und wenn auch in dem Verhältnis zur Mutter
eine gewisse Kälte herrschte, so kam sie doch so wenig zum Ausdruck, daß
der General nichts davon bemerken konnte, so eifersüchtig er auch auf
Einmütigkeit in seiner Familie hielt. Keines Menschen Augen wären
scharfblickend genug gewesen, die Tiefen dieser beiden Frauenherzen zu
ergründen: das eine war jung und edelmütig; das andere stolz und
feinfühlend; das erste voll Duldsamkeit, das zweite voll Klugheit bei
aller Liebe. Wenn die Mutter einen gewissen Despotismus gegen die
Tochter walten ließ, so merkte jedenfalls niemand, als die Tochter
selbst, auch nur das geringste von dieser weiblichen Zucht.

Übrigens ließen erst die Dinge, die da kommen sollten, diese unlösbaren
Mutmaßungen aufkommen. Bis zu dieser Nacht war noch nie der Blitz einer
Anklage diesen beiden Seelen entfahren; aber zwischen ihnen und Gott
stand sicherlich ein finsteres Geheimnis.

»Nun, hurtig, Abel,« rief die Marquise und benützte einen Augenblick, wo
Moina und ihr Bruder ermüdet waren und sich still verhielten, »komm,
mein Sohn, du mußt zu Bett ...«

Und sie warf ihm einen gebieterischen Blick zu und nahm ihn rasch auf
die Knie.

»Was?« sagte der General, »es ist halb elf Uhr, und von unserer
Dienerschaft ist noch niemand zurückgekommen? So eine Sippschaft! --
Gustav,« setzte er hinzu, sich zu seinem Sohne wendend, »ich habe dir
das Buch nur unter der Bedingung gegeben, daß du es um zehn Uhr weglegen
solltest. Du hättest es zu der festgesetzten Stunde von selbst zuklappen
und schlafen gehen sollen, wie du es mir versprochen hattest. Wenn du
einmal ein tüchtiger Mensch werden willst, muß dir dein Wort ein zweites
Glaubensbekenntnis sein, und du mußt daran festhalten, wie an deiner
Ehre. Fox, einer der größten Redner Englands, zeichnete sich ganz
besonders durch Schönheit seines Charakters aus. Die Treue gegen die
übernommenen Verpflichtungen ist die hauptsächlichste seiner
Eigenschaften. In seiner Kindheit hatte sein Vater, ein Engländer vom
alten Schlage, ihm eine sehr nachdrückliche Lehre erteilt, die einen
untilgbaren Eindruck auf das Gemüt eines kleinen Kindes machen mußte.
Als Fox so alt war wie du, war er während der Ferien bei seinem Vater,
der, wie alle reichen Engländer, einen ziemlich großen Park um sein
Schloß hatte. In diesem Park stand ein alter Kiosk, der niedergerissen
und an einer andern Stelle, von wo man eine großartige Aussicht hatte,
wieder aufgebaut werden sollte. Kinder sehen nun gern zu, wenn etwas
niedergerissen wird. Der kleine Fox wollte noch ein paar Tage länger
Ferien haben, um beim Abbruch des Pavillons mit dabei zu sein; aber sein
Vater verlangte, daß er pünktlich zum Schulanfang ins Gymnasium
zurückkehrte. Da gab es nun einen kleinen Aufstand zwischen Vater und
Sohn. Die Mutter, wie alle Mamas, stand dem kleinen Fox bei. Der Vater
versprach daher seinem Sohne feierlichst, mit der Niederreißung des
Kioskes bis zu den nächsten Ferien zu warten. Fox kehrte ins Gymnasium
zurück. Der Vater glaubte, ein kleiner Junge würde über seinen Studien
die ganze Geschichte vergessen; er ließ den Kiosk ruhig abreißen und an
einer andern Stelle wieder aufbauen. Der eigensinnige Knabe aber dachte
nur an den Kiosk. Als er wieder zu seinem Vater kam, war sein erstes,
nach dem alten Bauwerk zu sehen; aber er kam ganz traurig zum Frühstück
heim, und sagte zu seinem Vater: »Ihr habt mich belogen.« Der alte
Gentleman verlor in seiner Verwirrung seine Würde nicht und antwortete:
»Das ist wahr, mein Junge, aber ich werde meinen Fehler wieder
gutmachen. Auf sein Wort muß man mehr halten als auf sein Geld, und
alles Geld wäscht den Fleck nicht vom Gewissen, den ein Wortbruch
zurückläßt.« Der Vater ließ den alten Pavillon, genau wie er gewesen
war, wiederaufbauen, und als dies geschehen war, befahl er, ihn vor den
Augen seines Sohnes abzutragen. Dies, Gustav, diene dir zur Lehre!«

Gustav hatte seinem Vater aufmerksam zugehört und schloß sofort das
Buch. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und der General nahm Moina
an sich, die mit dem Schlaf kämpfte, und legte sie sanft auf seinen
Schoß. Die Kleine ließ den haltlosen Kopf auf des Vaters Brust sinken
und schlief dort gleich ein, eingehüllt in die goldenen Vorhänge ihres
hübschen Haars.

In diesem Augenblick hallten eilige Schritte auf der Straße, und
plötzlich geschahen drei Schläge gegen die Tür und weckten das Echo des
Hauses. Diese langanhaltenden Schläge hatten einen ebenso eindringlichen
Klang wie der Schrei eines Menschen in Todesgefahr. Der Wachhund heulte
wütend. Helene, Gustav, der General und seine Frau zitterten heftig;
aber Abel, dem die Mutter das Nachtkleid vollends übergezogen hatte,
und Moina wurden nicht munter.

»Der hat's eilig!« rief der Soldat und legte sein Kind auf den Sessel.
Er verließ rasch den Salon, ohne auf die Bitte seiner Frau zu hören, die
ihm nachrief:

»Lieber Mann, geh' doch nicht hin --«

Der Marquis ging in sein Schlafzimmer, nahm ein Paar Pistolen an sich,
brannte seine Blendlaterne an, eilte zur Treppe, rannte blitzschnell
hinab und stand binnen kurzem an der Tür seines Hauses, wohin der Sohn
ihm unerschrocken folgte.

»Wer ist da?« fragte er.

»Machen Sie auf!« antwortete eine Stimme keuchend und ganz außer Atem.

»Gut Freund?«

»Ja, Freund.«

»Allein?«

»Ja -- doch auf, auf, sonst kommen sie!«

Sobald der General die Tür ein wenig geöffnet hatte, schlüpfte ein
Mensch mit der phantastischen Geschwindigkeit eines Schattens herein;
der General mußte nachgeben, denn der Unbekannte stieß die Pforte mit
einem kraftvollen Fußtritt auf und lehnte sich gleich darauf
entschlossen mit dem Rücken dagegen, wie um zu verhindern, daß man sie
wieder öffne. Der General hob rasch die Pistole und die Blendlaterne zur
Brust des Fremden, um ihm Respekt einzuflößen, und sah einen Mann von
mittlerem Wuchs vor sich, der in einen weiten, nachschleppenden Pelzrock
gehüllt war, wie ihn alte Leute tragen. Das Kleidungsstück schien daher
auch nicht für ihn gemacht. Der Flüchtling trug, ob aus Vorsicht oder
Zufall, den Hut tief auf der Stirn, bis an die Augen hinabgedrückt.

»Mein Herr,« sagte er zum General, »senken Sie die Mündung Ihrer
Pistole. Ich will ja ohne Ihre Einwilligung gar nicht hierbleiben; aber
wenn ich gehe, wartet meiner der Tod an der Barrière. Und welcher Tod!
Sie hätten sich vor Gott dafür zu verantworten. Ich bitte Sie um
Gastfreundschaft auf zwei Stunden. Bedenken Sie, mein Herr, so
flehentlich ich auch bitte, so muß ich doch auch mit dem Despotismus der
Notwendigkeit Forderungen stellen. Ich verlange arabische
Gastfreundschaft. Ich muß Ihnen heilig sein. Wo nicht, so öffnen Sie,
und ich werde sterben. Verschwiegenheit, ein Obdach und Wasser, das
ist's, was mir nottut. O, Wasser!« wiederholte er in röchelndem Tone.

»Wer sind Sie?« fragte der General, überrascht von der fieberhaften
Zungenfertigkeit, mit der der Unbekannte sprach.

»Ach, wer ich bin? Gut, so öffnen Sie, und ich gehe,« antwortete der
Mensch im Tone höllischer Ironie.

Trotz der Geschicklichkeit, mit der der General das Licht seiner Laterne
spielen ließ, konnte er nur den unteren Teil dieses Gesichts sehen, und
da sprach nichts zugunsten einer so seltsam geforderten
Gastfreundlichkeit: die Wangen waren blaß und zuckten, die Züge
krampfhaft zusammengezogen. In dem Schatten, den der Hut warf, loderten
die Augen wie zwei Lichter, die fast den schwachen Schein der Kerze
überstrahlten. Doch, es mußte ihm eine Antwort gegeben werden.

»Herr,« sagte der General, »Ihre Rede ist so sonderbar, daß Sie wohl an
meiner Stelle --«

»Mein Leben liegt in Ihrer Hand!« schrie der Fremde mit entsetzlicher
Stimme, seinen Wirt unterbrechend.

»Zwei Stunden?« fragte der Marquis unschlüssig.

»Zwei Stunden,« wiederholte der Mensch.

Aber plötzlich stieß er mit einer Gebärde der Verzweiflung den Hut
zurück, entblößte die Stirn und warf, als wollte er einen letzten
Versuch machen, einen Blick, dessen heller Glanz dem General in die
Seele drang. Dieser Strahl von Geist und Willenskraft glich einem Blitz
und wirkte ebenso zermalmend; denn es gibt Augenblicke, wo den Menschen
eine unerklärliche Macht verliehen ist.

»Nun denn, wer Sie auch sein mögen, Sie sollen unter meinem Dach in
Sicherheit sein,« sagte der Hausherr ernst und glaubte einer jener
triebartigen Regungen zu gehorchen, über die der Mensch sich manchmal
keine Rechenschaft geben kann.

»Gott vergelte es Ihnen,« setzte der Fremde hinzu und stieß einen tiefen
Seufzer aus.

»Sind Sie bewaffnet?« sagte der General.

Statt aller Antwort öffnete der Fremde seinen Pelz und schlug ihn
schnell wieder zusammen, so daß der General nichts Genaues hatte sehen
können. Er war anscheinend ohne Waffen und in der Kleidung eines jungen
Mannes, der vom Ball kommt. So flüchtig der Überblick des mißtrauischen
Soldaten gewesen war, so sah er doch genug, um aufzurufen:

»Wo zum Teufel können Sie sich so beschmutzt haben? Es ist doch
trockenes Wetter.«

»Noch immer Fragen?« versetzte der Unbekannte in hochmütigem Tone.

In diesem Augenblick bemerkte der Marquis seinen Sohn und erinnerte sich
der Lehre, die er ihm eben über strenge Befolgung des gegebenen Wortes
erteilt hatte. Es verdroß ihn so sehr, ihn nun hier zu sehen, daß er in
zornigem Tone zu ihm sagte:

»Wie, Hans Narr, du bist hier, statt im Bett zu sein?«

»Ich glaubte, ich könnte Ihnen in der Gefahr von Nutzen sein,«
antwortete Gustav.

»Marsch, auf dein Zimmer,« sagte der Vater, von der Antwort seines
Sohnes besänftigt. »Und Sie,« wendete er sich an den Unbekannten,
»folgen Sie mir!«

Sie beobachteten nun Schweigen, wie zwei Spieler, die einander
mißtrauen. Der General begann sich sogar finstern Ahnungen hinzugeben.
Der Unbekannte lastete ihm bereits wie ein Alpdruck auf der Seele; aber
da er ihm sein Wort gegeben hatte, so führte er ihn über die Korridore
und Treppen seines Hauses und ließ ihn in ein großes, im zweiten Stock
gelegenes Zimmer, gerade über dem Salon, treten.

Dieser unbenutzte Raum diente im Winter als Trockenboden und hing mit
keinem andern Gemach zusammen. An seinen vier vergilbten Wänden war
weiter kein Schmuck, als ein unschöner kleiner Spiegel, den der frühere
Besitzer auf dem Kaminsims hatte stehen lassen, und ein großer Spiegel,
für den sich beim Einzug des Marquis keine Verwendung gefunden hatte.
Man hatte ihn daher zufälligerweise dem Kamin gegenüber aufgehängt. Der
Fußboden dieser großen Mansarde war nie gescheuert worden, die Luft war
eisig, und zwei alte Stühle, an denen das Stroh zerrissen war, bildeten
das einzige Mobiliar.

Nachdem der General seine Laterne auf den Ofensims gestellt hatte, sagte
er zu dem Unbekannten:

»Sie müssen sich mit dieser kläglichen Mansarde begnügen, um in
Sicherheit zu sein. Und da Sie mein Wort haben, daß ich Verschwiegenheit
wahren werde, so erlauben Sie mir wohl, Sie einzuschließen.«

Der Mensch senkte den Kopf, zum Zeichen des Einverständnisses.

»Ich habe nichts verlangt als ein Asyl, Verschwiegenheit und Wasser,«
bemerkte er.

»Wasser werde ich Ihnen bringen,« antwortete der Marquis, der sorgsam
die Tür zuschloß und sich zum Salon hinabtastete, um dort einen Leuchter
zu nehmen und dann aus der Geschirrkammer selbst eine Karaffe zu holen.

»Nun, was gibt es?« fragte die Marquise lebhaft ihren Mann.

»Nichts, meine Liebe,« antwortete er in kaltem Tone.

»Aber wir haben doch genau gehört, daß Sie jemand dort hinaufgeführt
haben.«

»Helene,« versetzte der General und sah seine Tochter an, die den Kopf
zu ihm erhob, »bedenke, die Ehre deines Vaters hängt von deiner
Verschwiegenheit ab. Du darfst nichts gehört haben.«

Das junge Mädchen antwortete mit einem bezeichnenden Kopfnicken. Die
Marquise war verwundert über die Methode, die hier ihr Mann anwandte, um
der Tochter Schweigen aufzuerlegen. Ja seine Worte gaben ihr einen Stich
ins Herz. Der General holte eine Karaffe und ein Glas und stieg in das
Zimmer hinauf, wo sich sein Gefangener befand. Der Mann lehnte mit
entblößtem Haupte, aufrecht stehend, an der Wand, in der Nähe des
Kamins. Den Hut hatte er auf einen der Stühle geworfen. Er war
jedenfalls nicht darauf gefaßt gewesen, plötzlich so hellem Licht
ausgesetzt zu sein. Seine Stirn legte sich in Falten, und sein Gesicht
nahm eine besorgte Miene an, als sein Blick den durchdringenden Augen
des Generals begegnete; aber er beruhigte sich und zeigte ein
freundliches Gesicht, um seinem Beschützer zu danken. Als der letztere
das Glas und die Karaffe auf den Ofensims gestellt hatte, richtete der
Unbekannte wieder einen so flammenden Blick wie zuvor auf ihn und brach
das Schweigen.

»Mein Herr,« sagte er mit einer sanften Stimme, die nichts mehr von dem
Röcheln von vorhin, doch noch immer ein inneres Beben verriet, »ich
werde Ihnen absonderlich erscheinen. Entschuldigen Sie Absonderlichkeiten,
die die Not gebietet. Wenn Sie hier bleiben, so bitte ich Sie darum, mir
nicht beim Trinken zuzusehen.«

Ärgerlich, beständig einem Menschen gehorchen zu müssen, der ihm
mißfiel, drehte der General sich brüsk um. Der Fremde zog ein weißes
Tuch aus der Tasche, umwickelte sich damit die rechte Hand, ergriff dann
die Karaffe und leerte sie auf einen Zug. Der Marquis hatte das
stillschweigend gegebene Versprechen nicht brechen wollen, aber er
blickte mechanisch in den Spiegel, und die gegenseitige Stellung der
beiden Glasscheiben erlaubte ihm, den Fremden vollständig zu
überschauen.

Da sah er denn das Tuch plötzlich sich rot färben; denn die Hände, die
es berührten, waren voll Blut.

»Ah, Sie haben mich beobachtet,« rief der Mann, als er getrunken hatte.
Er hüllte sich in den Mantel und betrachtete den General mißtrauisch.
»Ich bin verloren -- sie kommen, da sind sie!«

»Ich höre nichts,« sagte der Marquis.

»Sie sind nicht mit dem Herzen dabei wie ich und können die fernen
Geräusche nicht so hören.«

»Sie haben also ein Duell gehabt, daß Sie so mit Blut bedeckt sind?«
fragte der General, tief ergriffen, als er die Farbe der großen Flecke
erkannte, mit denen die Kleider seines Gastes getränkt waren.

»Ja, ein Duell, Sie haben es getroffen,« wiederholte der Fremde, und ein
bitteres Lächeln huschte über seine Lippen.

In diesem Augenblick erklang das Geräusch mehrerer scharf galoppierender
Pferde in der Ferne; aber es war so schwach wie der erste Lichtschein am
Morgen.

Das geübte Ohr des Generals erkannte die Gangart von militärisch
gedrillten Pferden, die gewohnt waren, in der Schwadron zu laufen.

»Das ist Gendarmerie,« sagte er.

Er warf dem Gefangenen einen Blick zu, der ihn über die Zweifel
beruhigen sollte, die seine unwillkürliche Neugierde in ihm erweckt
haben mochte, nahm das Licht und kehrte in den Salon zurück. Kaum hatte
er den Schlüssel zu dem oberen Zimmer auf den Kamin gelegt, als der Lärm
der Reiter deutlicher wurde und sich mit einer Schnelligkeit, über die
er erschrak, dem Pavillon näherte.

In der Tat machten die Pferde vor der Pforte des Hauses Halt. Nach ein
paar Worten mit seinen Kameraden stieg ein Reiter ab, klopfte ungestüm
und nötigte den General, zu öffnen. Dieser vermochte eine geheime
Erregung nicht zu verbergen, als er sechs Gendarmen sah, deren
goldbetreßte Hüte im Mondlicht blitzten.

»Gnädiger Herr,« fragte ein Brigadier, »haben Sie nicht eben jetzt einen
Menschen nach der Barrière zu laufen hören?«

»Nach der Barrière zu? Nein.«

»Sie haben Ihre Tür niemand geöffnet?«

»Pflege ich denn meine Tür persönlich zu öffnen --?«

»Verzeihung, General, auch jetzt, dünkt mich --«

»Ach was!« rief der Marquis zornig, »wollen Sie sich über mich lustig
machen? Wie kommen Sie dazu?«

»Keineswegs, keineswegs, gnädiger Herr,« versetzte der Brigadier höflich.
»Sie werden uns unsern Diensteifer nicht verübeln. Wir wissen recht
wohl, ein Pair von Frankreich läßt sich nicht dazu herbei, zu solcher
Stunde der Nacht einen Mörder aufzunehmen; aber der Wunsch,
Erkundigungen einzuziehen --«

»Einen Mörder!« rief der General. »Und wer ist denn der --?«

»Baron de Mauny ist eben durch einen Beilhieb getötet worden,« erwiderte
der Gendarm. »Aber der Mörder wird eifrig verfolgt. Wir sind gewiß, daß
er sich in dieser Gegend befindet, und werden ihn aufspüren.
Entschuldigen Herr General!«

Der Gendarm bestieg bei diesen Worten sein Pferd, so daß er
glücklicherweise nicht das Gesicht des Generals sehen konnte. Der
Brigadier, gewohnt, überall auf der Lauer zu sein, hätte vielleicht
Verdacht geschöpft beim Anblick dieses offenen Gesichts, das die
Seelenregungen so getreu widerspiegelte.

»Kennt man den Namen des Mörders?« fragte der General.

»Nein,« antwortete der Reiter. »Er hat den Schreibtisch voll Gold und
Banknoten gelassen, ohne etwas anzurühren.«

»Also ein Racheakt,« sagte der Marquis.

»Ah bah -- an einem alten Manne? -- Nein, nein, der Galgenvogel hat nur
nicht Zeit gehabt, sein Werk zu vollenden.«

Und der Gendarm setzte seinen Kameraden nach, die schon in die Ferne
sprengten. Der General stand eine Weile in einer Verblüffung da, die
leicht begreiflich ist. Bald darauf hörte er seine Diener kommen; sie
sprachen hitzig miteinander, und ihre Stimmen hallten laut auf der
Montreuiler Straße. Sein Zorn suchte einen Vorwand, sich Luft zu machen,
und entlud sich nun, als sie ankamen, wie ein Donnerschlag über ihren
Häuptern. Seine Stimme hallte durch das Haus, daß es zitterte.

Als der Beherzteste und Gewandteste unter ihnen ihre Verspätung damit
entschuldigte, daß sie am Eingang von Montreuil von Gendarmen und
Polizisten aufgehalten worden seien, die einen Mörder gesucht hätten,
beruhigte er sich plötzlich wieder und schwieg. Durch diese Ausrede an
die Pflichten seiner sonderbaren Lage erinnert, befahl er kurzweg allen
seinen Leuten, auf der Stelle schlafen zu gehen. Sie wunderten sich
darüber, daß der Kammerdiener mit seiner Lüge so gut durchgekommen war.

Aber während dies sich im Hofe zutrug, hatte ein anscheinend ganz
unbedeutender Vorfall die Lage der andern Personen, die in dieser
Geschichte mitwirken, umgestaltet. Der Marquis war kaum hinausgegangen,
als seine Frau abwechselnd den Mansardenschlüssel und ihre Tochter ansah
und schließlich, sich zu ihrer Tochter neigend, mit leiser Stimme sagte:

»Helene, Dein Vater hat den Schlüssel auf dem Kaminsims liegen lassen.«

Das junge Mädchen hob erstaunt den Kopf und sah zaghaft die Mutter an,
deren Augen vor Neugierde blitzten.

»Und -- was denn, Mama?« antwortete sie bestürzt.

»Ich möchte wissen, was dort oben vorgeht. Wenn jemand da ist, so hat
er sich jedenfalls noch nicht gerührt. Geh hinauf ...«

»Ich?« fragte das junge Mädchen entsetzt.

»Fürchtest du dich?«

»Nein, Mama, aber ich habe den Schritt eines Mannes gehört.«

»Wenn ich selbst gehen könnte, würde ich dich nicht gebeten haben,
hinaufzugehen, Helene,« versetzte die Mutter in einem Tone kalter Würde.
»Wenn dein Vater wiederkäme und mich nicht fände, würde er mich
vielleicht suchen. Dich wird er nicht vermissen.«

»Madame,« antwortete Helene, »wenn Sie es mir befehlen, so geh' ich --
aber ich werde die Achtung vor meinem Vater verlieren ...«

»Wie?« versetzte die Marquise in ironischem Tone. »Doch da du ernsthaft
aufnimmst, was nur ein Scherz war, so gebiete ich dir jetzt, geh' hinauf
und sieh nach, wer dort oben ist. Hier ist der Schlüssel, meine Tochter.
Wenn dir dein Vater Schweigen über das, was in diesem Augenblick bei ihm
vorgeht, auferlegt hat, so verbot er dir damit keineswegs, in dieses
Zimmer zu gehen. Geh' und wisse, daß sich eine Tochter niemals ein
Urteil über ihre Mutter erlauben darf ...«

Diese letzten Worte sprach die Marquise mit aller Strenge einer
gekränkten Mutter, dann nahm sie den Schlüssel und gab ihn Helene, die
sich ohne ein Wort erhob und den Salon verließ.

»Meine Mutter wird freilich seine Verzeihung zu erlangen wissen, aber
ich werde meines Vaters Gunst für alle Zeit verscherzt haben. Will sie
mich der Liebe berauben, die er für mich hat, will sie mich aus dem
Hause jagen?«

Diese Gedanken gärten plötzlich in ihrem Geist, während sie ohne Licht
den Korridor entlangschritt, an dessen Ende die Tür des geheimnisvollen
Zimmers lag. Als sie dort ankam, waren ihre Begriffe in fast unheilvolle
Verwirrung geraten. Die unklaren Ideen hatten mit einem Schlage tausend
bisher in ihrem Herzen zurückgehaltenen Gefühlen freien Lauf gegeben.
Sie glaubte vielleicht schon nicht mehr an eine glückliche Zukunft und
verzweifelte nun in diesem Augenblick vollends an ihrem Leben.

Als sie den Schlüssel dem Schloß näherte, zitterte sie krampfhaft, und
ihre Aufregung wurde so stark, daß sie einen Augenblick innehielt, um
die Hand aufs Herz zu pressen, als hätte sie die Macht, das heftige,
laute Pochen zu unterdrücken. Endlich machte sie die Tür auf. Der Mörder
hatte ohne Zweifel auf das Kreischen der Angeln nicht geachtet. Obgleich
sein Gehör sehr scharf war, blieb er regungslos, anscheinend in Gedanken
verloren, stehen, wie an die Wand geklebt. Der Lichtkreis, den die
Laterne warf, beleuchtete ihn matt, und er glich in diesem Helldunkel
jenen finsteren Ritterstatuen, die, immer in aufrechter Haltung, an den
Ecken schwarzer Gräber über gotischen Kapellen stehen.

Perlen kalten Schweißes standen auf seiner gelben, breiten Stirn. Eine
unglaubliche Kühnheit erleuchtete das heftig zusammengezogene Gesicht.
Seine starren, trockenen Augen glühten und schienen über einen Kampf in
dem Dunkel, das vor ihm lag, nachzusinnen. Stürmische Gedanken jagten
schnell über dieses Gesicht hin, dessen fester, entschlossener Ausdruck
auf eine Seele höherer Art deutete. Sein Körper, seine Haltung, seine
Größenverhältnisse stimmten mit diesem wilden Geist überein.

Dieser Mann war ganz Kraft und Gewalt, und er spähte in die Finsternis,
als erblickte er darin das deutliche Abbild seiner Zukunft. Der General,
gewohnt, die energischen Gesichter der Riesen zu sehen, die sich um
Napoleon drängten, und überdies von einer berechtigten Neugierde
beherrscht, hatte auf das eigentümliche Äußere dieses Mannes kaum
geachtet; aber Helene, die, wie alle Frauen, äußeren Eindrücken sehr
zugänglich war, fühlte sich sogleich durch die Mischung von Licht und
Schatten, von Grandiosem und Leidenschaft, von einem poetischen Chaos
gefesselt, das dem Unbekannten das Aussehen des sich von seinem Fall
erhebenden Luzifers verlieh.

Plötzlich folgte dem Sturm, der sich auf seinem Antlitz malte, wie durch
Zauber die Ruhe, und eine unerklärliche Macht, für die der Fremde,
vielleicht ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, Quelle und Gegenstand
zugleich war, breitete sich mit der Geschwindigkeit der Überflutung um
ihn her aus. Eine Sturzwelle von Gedanken schien von seiner Stirn
hinwegzuströmen, als nun seine Züge ihre natürliche Form wiedergewannen.

Das junge Mädchen, bezaubert von der Seltsamkeit dieser Begegnung und
von dem Geheimnis, in das sie drang, konnte nun ein sanftes,
interessantes Gesicht bewundern. Sie stand eine Zeitlang in magischem
Schweigen da, von Regungen erfüllt, die bisher ihre junge Seele nicht
gekannt hatte. Doch bald darauf -- ob nun Helene unwillkürlich einen
Ausruf getan, eine Bewegung gemacht, oder ob der Mörder, von der
Gedankenwelt zur wahren Welt zurückkehrend, außer seinem eigenen Atemzug
noch einen andern gehört hatte -- drehte er plötzlich den Kopf der
Tochter seines Wirtes zu und sah undeutlich im Schatten die hohe Gestalt
und die majestätischen Formen eines Geschöpfes, das er für einen Engel
halten mußte, als er es so unbeweglich und undeutlich wie eine
Erscheinung dastehen sah.

»Herr,« sagte sie mit bebender Stimme.

Der Mörder zitterte.

»Ein Weib!« rief er in sanftem Tone. »Ist's möglich? Entfernen Sie
sich,« fuhr er fort, »ich gestehe niemand das Recht zu, mich anzuklagen,
mich freizusprechen oder zu verurteilen. Ich muß für mich allein leben.
Gehen Sie, mein Kind,« setzte er hinzu, mit einer überlegenen,
herrischen Handbewegung, »ich würde den Dienst, den der Herr dieses
Hauses mir erwiesen hat, schlecht vergelten, wenn ich eine einzige der
Personen, die es bewohnen, die gleiche Luft mit mir atmen ließe. Ich muß
mich den Gesetzen der Welt unterwerfen.«

Dieser letzte Satz wurde mit leiser Stimme gesprochen. Indem er das
ganze Elend, das dieser schwermütige Gedanke in sich schloß, sich vor
seines Geistes Auge zu rufen schien, warf er auf Helene einen
schlangenartigen Blick und wirbelte damit im Herzen dieses seltsamen
jungen Mädchens eine Welt von Gedanken auf, die bisher darin
geschlummert hatten. Es war wie ein Licht, das unbekannte Länder
erleuchtet. Ihre Seele wurde zu Boden gedrückt und unterjocht, ohne daß
sie die Kraft fand, sich gegen die magnetische Gewalt dieses Blickes zu
wehren, so zufällig er auch auf sie gerichtet schien.

Beschämt und zitternd, ging sie und kehrte in den Salon zurück. Da im
nächsten Augenblick auch der Vater hereintrat, so konnte sie ihrer
Mutter nichts sagen.

Der General, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, schritt schweigend
auf und ab. Mit gekreuzten Armen ging er in militärischem Takt von den
Fenstern, die auf die Straße hinausführten, bis zu den Gartenfenstern,
und wieder zurück. Seine Frau betrachtete den schlafenden Abel. Moina,
die auf dem Sessel lag, wie ein Vogel in seinem Nest, schlummerte
sorglos. Die ältere Schwester hielt ein Knäuel Seide in der einen, eine
Nadel in der andern Hand und starrte ins Feuer.

Das Schweigen, das im Salon draußen und im ganzen Hause herrschte, wurde
nur durch die schleppenden Schritte der Dienstboten unterbrochen, die
einer nach dem andern schlafen gingen, durch ein unterdrücktes Lachen,
ein letztes Echo ihrer Freude und des Hochzeitsfestes, dann durch die
Türen ihrer Kammern, die sie, miteinander sprechend, öffneten und gleich
darauf schlossen. Einige dumpfe Geräusche schallten auch noch um die
Betten her. Ein Stuhl fiel um. Das Husten eines alten Kutschers erklang
leise und verstummte.

Aber bald herrschte überall die düstere Majestät, die um Mitternacht
über der entschlafenen Natur liegt. Nur die Sterne funkelten. Frost
hatte die Erde gepackt. Kein Wesen sprach, nichts regte sich. Nur das
Feuer brauste und machte, daß die tiefe Stille nur noch tiefer erschien.
Die Uhr in Montreuil schlug eins. In diesem Augenblick hallten äußerst
leichte Schritte im Oberstock.

Der Marquis und seine Tochter glaubten bestimmt, den Mörder des Herrn de
Mauny eingeschlossen zu haben, schrieben dieses Geräusch einer der
Frauen zu und wunderten sich nicht weiter, als sie die Tür des vor dem
Salon liegenden Zimmers aufgehen hörten.

Plötzlich erschien der Mörder unter ihnen. Die Verblüffung des Marquis,
die lebhafte Neugierde der Mutter und das Erstaunen der Tochter
erlaubten ihm, bis in die Mitte des Salons vorzutreten, und in einer
seltsam ruhigen und klangvollen Stimme zum General zu sagen:

»Herr, die zwei Stunden gehen zu Ende.«

»Sie hier!« rief der General. »Wie haben Sie es vermocht -- --?«

Und mit einem furchtbaren Blick fragte er seine Frau und seine Kinder.
Helene wurde rot wie das Feuer.

»Sie,« fuhr der General in bebendem Tone fort, »Sie mitten unter uns!
Ein mit Blut bedeckter Mörder hier! Sie beschmutzen dieses Bild! Fort,
fort!« setzte er in wütendem Tone hinzu.

Bei dem Wort Mörder stieß die Marquise einen Schrei aus. Für Helene aber
schien es die Entscheidung des Lebens herbeizuführen, ihr Gesicht
verriet nicht das geringste Erstaunen. Sie schien diesen Menschen
erwartet zu haben. Allen ihren weiten Gedanken wohnte nur ein Sinn inne.
Die Strafe, die der Himmel ihr für ihre Fehler vorbehalten hatte, brach
herein. Das junge Mädchen hielt sich für ebenso verbrecherisch, wie
dieser Mann es war, und sah ihn nun heiteren Auges an. Sie war seine
Gefährtin, seine Schwester. Nach ihrer Überzeugung offenbarte sich ein
Gebot Gottes in diesem Zufall. Einige Jahre später hätte eine reifere
Vernunft sie über das Wesen ihrer Gewissensbisse besser aufgeklärt;
jetzt aber beraubten sie sie aller Besinnung. Der Fremde blieb
unbeweglich und kalt stehen. Ein verächtliches Lächeln lag auf seinen
Zügen und auf seinen vollen, roten Lippen.

»Sie erkennen schlecht den Edelsinn an, den ich in meinem Verhalten
gegen Sie beobachtet habe,« sagte er langsam. »Ich habe das Glas, darin
Sie mir Wasser reichten, meinen Durst zu stillen, nicht mit den Händen
berühren wollen. Ich habe nicht einmal daran gedacht, meine blutenden
Hände unter Ihrem Dach zu waschen, und wenn ich es verlasse, dann bleibt
von meinem Verbrechen« -- bei diesen Worten zogen sich seine Lippen
zusammen -- »nichts hier, als der Gedanke daran. Ich habe dieses Haus
gestreift und lasse keine Spur zurück. Ich habe nicht einmal Ihrer
Tochter erlaubt --«

»Meine Tochter!« rief der General und warf einen Blick des Entsetzens
auf Helene. »Ha, Unglückseliger, geh' oder ich bringe dich um!«

»Die zwei Stunden sind noch nicht verflossen. Sie können mich weder
töten noch ausliefern, ohne die Achtung vor sich selbst zu verlieren --
und auch die meine.«

Bei diesem letzten Worte versuchte der verblüffte Soldat den Verbrecher
anzusehen; aber er mußte die Augen niederschlagen, er fühlte sich nicht
imstande, das unerträgliche Feuer eines Blickes auszuhalten, der ihn zum
zweitenmal in innerster Seele verwirrte. Als er erkannte, daß seine
Willenskraft abermals schwach wurde, fürchtete er, wiederum weichen
Stimmungen nachzugeben.

»Einen Greis zu ermorden! Sie können nie etwas von Familienleben kennen
gelernt haben?« sprach er zu ihm und wies mit einer patriarchalischen
Gebärde auf Frau und Kinder.

»Ja, einen Greis!« wiederholte der Unbekannte, leicht die Stirn
runzelnd.

»Fliehen Sie!« rief der General, doch noch immer wagte er es nicht, den
Blick zu seinem Gast zu erheben. »Ich werde Sie nicht töten. Nein, ich
werde mich nie zum Geschäftsführer des Schafotts hergeben. Aber gehen
Sie -- Sie flößen uns Abscheu ein.«

»Das weiß ich,« antwortete der Verbrecher resigniert. »In Frankreich
gibt es kein Fleckchen Erde mehr, darauf ich in Sicherheit den Fuß
setzen könnte. Aber wenn die Gerechtigkeit im Sinne Gottes die besondern
Fälle zu beurteilen wüßte, wenn sie sich herabließe, zu erforschen, wer
von beiden das eigentliche Ungeheuer ist, der Mörder oder sein Opfer,
dann würde ich mit Stolz unter den Menschen bleiben. Können Sie sich
nicht denken, welche Verbrechen ein Mensch begangen haben muß, ehe er
von einem andern Menschen mit dem Beil niedergeschlagen wird? Ich habe
mich zum Richter und Henker aufgeworfen, ich habe die ohnmächtige
menschliche Gerechtigkeit ergänzt. Das ist mein Verbrechen. Adieu, Herr!
Trotz der Bitternis, mit der Sie Ihre Gastfreundschaft vermischt haben,
werde ich deren gedenken. In meiner Brust wird gegen einen Menschen auf
dieser Erde allzeit ein dankbares Gefühl wohnen, und dieser eine Mensch
sind Sie ... Aber ich hätte doch gewünscht, Sie wären edelmütiger
gewesen.«

Er ging auf die Tür zu. In diesem Augenblick neigte sich das junge
Mädchen zu ihrer Mutter und sagte ihr ein Wort ins Ohr.

»Ah ...!«

Der General erschrak über den Schrei, der seiner Frau entfuhr, so
heftig, als hätte er Moina tot gesehen. Helene stand hochaufgerichtet
da, und der Mörder war unwillkürlich umgekehrt, und auf sein Gesicht
trat der Ausdruck einer gewissen Sorge um diese Familie.

»Was haben Sie, liebe Frau?« fragte der Marquis.

»Helene will mit ihm gehen,« sagte sie.

Der Mörder errötete.

»Da meine Mutter so schlecht einen fast unwillkürlichen Ausruf
auslegt,« sagte Helene mit leiser Stimme, »so werde ich zur Tat machen,
was sie im Herzen wünscht.«

Nachdem das junge Mädchen einen stolzen, fast wilden Blick um sich her
geworfen hatte, senkte sie die Augen und stand in einer bewundernswerten
Haltung der Bescheidenheit da.

»Helene,« sagte der General, »du bist in die Kammer hinaufgegangen, in
die ich diesen Menschen gebracht hatte --?«

»Ja, mein Vater.«

»Helene,« fragte er mit einer von heftigem Zittern entstellten Stimme,
»ist es das erstemal, daß du diesen Menschen gesehen hast?«

»Ja, mein Vater.«

»Dann ist es unnatürlich, daß du die Absicht hast ...«

»Wenn es unnatürlich ist, so ist es doch wenigstens wahr, mein Vater.«

»Ha, meine Tochter,« sagte die Marquise mit leiser Stimme, doch so, daß
ihr Mann es hörte, »Helene, du verleugnest alle Grundsätze der Ehre, der
Bescheidenheit, der Tugend, die ich in deinem Herzen zu entwickeln
versucht habe. Wenn du bis zu dieser unseligen Stunde nie anders als
verlogen gewesen bist, dann bist du nicht zu bedauern. Ist es die
moralische Verkommenheit dieses Unbekannten, die dich verlockt? Wäre es
die Gewalt, die allen Menschen zu eigen sein muß, die ein Verbrechen
begehen -- --? Ich achte dich immer noch zu sehr, als daß ich glauben
könnte --«

»O, glauben Sie immerhin alles, Madame,« antwortete Helene in kaltem
Tone.

Aber trotz der Charakterstärke, die sie in diesem Augenblick bewies,
vermochte das Feuer ihrer Augen kaum die Tränen aufzuzehren, die ihr
dieselben füllten. Der Fremde erriet aus diesen Tränen des jungen
Mädchens, was die Mutter gesprochen hatte und warf den Blick eines
Adlers auf die Marquise, die, durch eine unwiderstehliche Macht
gezwungen, diesen schrecklichen Verführer ansah.

Als die Augen dieser Frau den hellen, leuchtenden Augen dieses Mannes
begegneten, empfand sie in tiefster Seele einen Schauer, ähnlich dem
Grausen, das uns beim Anblick eines Reptils befällt -- ähnlich den
Schlägen, die uns bei Berührung einer Leydener Flasche durchzucken.

»Mann,« rief sie ihrem Gatten zu, »es ist der Teufel! Er errät
alles --«

Der General erhob sich, um nach einer Klingelschnur zu greifen.

»Er stürzt Sie ins Verderben,« sagte Helene zu dem Mörder.

Der Unbekannte lächelte, tat einen Schritt, hielt den Marquis beim Arm
fest, zwang ihn, einen Blick auszuhalten, der ihn betäubte, und raubte
ihm so alle Willenskraft.

»Ich werde Ihnen Ihre Gastfreundschaft lohnen,« sagte er, »damit werden
wir quitt sein. Ich werde Ihnen eine ehrlose Handlung ersparen, indem
ich mich selbst ausliefere. Was soll ich schließlich noch im Leben
beginnen?«

»Sie können bereuen,« antwortete Helene und sah ihn mit einem jener
hoffnungsvollen Blicke an, die nur in den Augen von jungen Mädchen
aufleuchten können.

»Ich werde nie bereuen,« versetzte der Mörder mit tiefer Stimme und warf
stolz den Kopf zurück.

»Seine Hände sind mit Blut befleckt,« sagte der Vater zu seiner Tochter.

»Ich werde sie abwischen,« erwiderte sie.

»Aber,« fuhr der General fort, doch wagte er nicht, bei diesen Worten
gleichzeitig auf den Unbekannten hinzuzeigen, »weißt du denn auch, ob er
dich überhaupt haben will?«

Der Mörder schritt auf Helene zu, deren Schönheit, so keusch sie auch
war, und so sehr sie sich zu beherrschen wußte, von einer innern Glut
erstrahlte, deren Widerschein die kleinsten Züge und zartesten Linien
färbte und sozusagen hervortreten ließ. Nachdem er nun auf dieses
entzückende Geschöpf einen sanften Blick geworfen hatte, dessen Feuer
jedoch noch immer furchtbar war, sagte er im Tone tiefer Ergriffenheit:

»Zum Zeichen, daß ich Sie um Ihrer selbst willen liebe und keinen
Vorteil aus ihrer Leidenschaft für mich selbst ziehen will -- zum
Zeichen, daß ich die zwei Stunden Leben, die Ihr Vater mir gewährt hat,
zu bezahlen weiß -- zum Zeichen dessen weise ich Ihr Opfer, Ihre
Hingebung zurück.«

»Auch Sie stoßen mich von sich!« rief Helene in herzzerreißendem Tone.
»Dann lebt wohl, ihr alle. Ich gehe in den Tod!«

»Was bedeutet denn das?« fragten Vater und Mutter in gleichem Atem.

Helene schwieg und senkte die Augen, nachdem sie die Marquise mit einem
vielsagenden Blick forschend angesehen hatte. Seit dem Augenblick, wo
der General und seine Frau versucht hatten, durch Wort oder Handlung das
seltsame Vorrecht anzugreifen, das der Unbekannte sich anmaßte, indem er
in ihrer Mitte blieb, und seit dieser letztere das betäubende Licht, das
seinen Augen entströmte, voll auf sie gerichtet hatte, befanden sich
beide im Banne eines unerklärlichen Zaubers; alle Vernunft war in
Fesseln geschlagen und war nicht imstande, die übernatürliche Macht
zurückzustoßen, unter der sie zusammenbrachen.

Die Luft dünkte sie jetzt schwer und dick, und sie atmeten mühsam. Dabei
vermochten sie nichts gegen den zu sagen, der sie so im Zaume hielt,
obwohl eine innere Stimme ihnen deutlich sagte, der zauberhafte Mensch
allein sei der Urquell ihrer Ohnmacht. In diesem geistigen Todeskampfe
erkannte der General dennoch, daß seine Bemühungen sich jetzt nur darauf
richten müßten, auf die schwankende Vernunft seines Kindes einzuwirken.
Er nahm Helene um den Leib und trug sie in eine Fensternische. Hier war
sie dem Mörder fern.

»Mein geliebtes Kind,« sagte er mit leiser Stimme zu ihr, »wenn eine
seltsame Liebe plötzlich in deinem Herzen entstanden ist, so haben mir
dein Herz, dein Leben voll Unschuld, deine reine, fromme Seele so viel
Beweise deines Charakters gegeben, daß ich unmöglich glauben kann, es
fehle dir nun an der nötigen Energie, eine Regung des Wahnwitzes zu
bezähmen. Wenn du trotzdem daran festhältst, so steckt eben ein
Geheimnis dahinter. Nun, mein Herz ist ein Herz voll Duldsamkeit, du
kannst ihm alles anvertrauen. Und wenn du es zerrissest, mein Kind, so
würde ich den Kummer still in mir tragen und über dein Bekenntnis ein
unverbrüchliches Schweigen bewahren. Sprich, bist du etwa eifersüchtig
auf unsere Liebe zu deinen Brüdern und deiner jüngeren Schwester? Hast
du Liebeskummer? Fühlst du dich hier unglücklich? Sprich, erkläre mir
die Gründe, die dich dazu treiben, deiner Familie den Rücken zu kehren,
ihr ihren größten Schatz zu rauben, deine Mutter, deine Brüder, deine
kleine Schwester zu verlassen?«

»Mein Vater,« antwortete sie, »ich bin weder eifersüchtig, noch in
jemand verliebt, nicht einmal in Ihren Freund, den Diplomaten, Herrn de
Vandenesse.«

Die Marquise erbleichte, und ihre Tochter, die das bemerkte, hielt inne.

»Muß ich nicht früher oder später sowieso unter dem Schutze eines Mannes
leben?«

»Das ist wohl wahr.«

»Wissen wir jemals,« fuhr sie fort, »an was für ein Wesen wir unser
Schicksal knüpfen? Ich -- ich glaube an diesen Mann.«

»Kind,« sagte der General, die Stimme erhebend, »du bedenkst nicht, was
alles für Leiden auf dich einstürmen werden!«

»Ich denke an sein Leid.«

»Was für ein Leben wird deiner harren?« rief der Vater.

»Ein Frauenleben,« antwortete die Tochter leise.

»Du bist ja schon sehr klug,« rief die Marquise, die Sprache
wiederfindend.

»Madame, die Fragen schreiben mir die Antworten vor; aber wenn Sie es
wünschen, so werde ich deutlicher reden.«

»Sagen Sie alles, meine Tochter -- ich bin Mutter.«

Die Tochter sah die Mutter an, und die Mutter änderte ihren Ton.

»Helene, ich werde Ihre Vorwürfe auf mich nehmen, wenn Sie welche gegen
mich zu erheben haben. Das soll mir lieber sein, als Sie mit einem
Menschen gehen zu sehen, den alle Welt mit Abscheu flieht.«

»Sie sehen somit selbst, Madame, ohne mich würde er ganz allein sein.«

»Genug, Madame!« rief der General. »Wir haben fortan nur noch eine
Tochter.«

Und er sah Moina an, die noch immer schlief.

»Dich werde ich in ein Kloster bringen,« setzte er hinzu, sich zu Helene
wendend.

»Meinetwegen, mein Vater,« antwortete sie mit der Ruhe der Verzweiflung.
»So werde ich dort sterben. Sie haben für mein Leben und für _seine_
Seele ja nur Gott Rechenschaft abzulegen.«

Ein tiefes Schweigen folgte plötzlich auf diese Worte. Es war ein
Auftritt, der alle alltäglichen Begriffe des Lebens über den Haufen
warf, und die daran Beteiligten wagten nicht, einander anzusehen.
Plötzlich erblickte der Marquis seine Pistolen, ergriff eine, lud sie
schnell und richtete sie auf den Fremden. Bei dem Geräusch, das der Hahn
machte, drehte der Mann sich um und heftete seinen ruhigen,
durchdringenden Blick auf den General.

Von einer unüberwindlichen Schwäche befallen, sank der Arm des alten
Soldaten herab, und die Pistole fiel auf den Teppich.

»Meine Tochter,« sagte nun der Vater und gab den entsetzlichen Kampf
auf, »du bist frei. Küsse deine Mutter, wenn sie damit einverstanden
ist. Was mich betrifft, ich will von dir nichts mehr sehen und hören ...«

»Helene,« sagte die Mutter zu dem jungen Mädchen, »bedenke doch, du
wirst im Elend leben --!«

Ein Röcheln, das aus der breiten Brust des Mörders drang, lenkte ihren
Blick auf diesen. Ein Ausdruck der Verachtung war auf seinem Antlitz zu
lesen.

»Es kommt mir teuer zu stehen, daß ich Ihnen Gastfreundschaft gewährte,«
rief der General. »Vor kurzem haben Sie nur einen alten Mann umgebracht.
Hier morden Sie eine ganze Familie. Was auch geschehen möge, diesem
Hause steht Unglück bevor!«

»Und wenn Ihre Tochter glücklich ist?« fragte der Mörder und sah den
Soldaten fest an.

»Wenn sie glücklich ist mit Ihnen,« antwortete der Vater, sich mit Mühe
aufraffend, »so werde ich sie nicht bedauern.«

Helene kniete schüchtern vor ihrem Vater nieder und sagte in
liebkosendem Tone zu ihm:

»O, mein Vater, ich liebe und verehre Sie, ob Sie nun die Schätze Ihrer
Güte oder die Strenge des Zorns über mich ausschütten. Doch lassen Sie
diese jähzornigen Worte nicht Ihre letzten sein!«

Der General wagte nicht, seine Tochter anzusehen. In diesem Augenblick
trat der Fremde vor und sah Helene mit einem Lächeln an, das zugleich
etwas Höllisches an sich hatte.

»Du, der ein Mörder kein Entsetzen einflößt, Engel des Mitleids,« sagte
er, »komm, da du darauf bestehst, mir dein Geschick anzuvertrauen.«

»Unbegreiflich!« rief der Vater.

Die Marquise warf ihrer Tochter einen seltsamen Blick zu und öffnete ihr
die Arme. Helene sank ihr weinend an die Brust.

»Leb wohl,« sagte sie, »leb wohl, meine Mutter!«

Helene gab entschlossen dem Fremden einen Wink. Der Mann zitterte. Sie
küßte ihrem Vater die Hand, küßte in Eile, doch ohne Freude, Moina und
den kleinen Abel und verschwand mit dem Mörder.

»Wohin sind sie gegangen?« rief der General, auf die Schritte der beiden
Flüchtlinge lauschend.

»Madame,« fuhr er fort, sich an seine Frau wendend, »hinter diesem
Abenteuer steckt ein Geheimnis. Sie müssen es kennen.«

Die Marquise zitterte.

»Seit einiger Zeit,« antwortete sie, »war Ihre Tochter äußerst
romantisch geworden und zeigte oft seltsame Überschwenglichkeit. Trotz
all meiner Sorge, diesen Hang ihres Charakters zu bekämpfen ...«

»Das ist nicht klar.«

Aber der General glaubte jetzt im Garten die Schritte seiner Tochter und
des Fremden zu hören und sprach nicht weiter, sondern stürzte ans
Fenster und riß es auf.

»Helene!« schrie er hinaus.

Die Stimme verhallte in der Nacht wie eine vergebliche Prophezeiung.
Indem der General diesen Namen aussprach, der auf dieser Welt nun nichts
weiter mehr war als ein Name, brach er wie durch Zauber den Bann, in den
eine diabolische Gewalt ihn geschlagen hatte. Wie das Leuchten eines
Geistes huschte es ihm übers Gesicht. Er sah deutlich die Szene vor
sich, die sich eben abgespielt hatte, und verwünschte seine Schwäche,
die ihm unbegreiflich war. Wie eine heiße Welle flutete es ihm vom
Herzen zum Kopfe und zu den Füßen. Er wurde wieder er selbst, und in
schrecklicher Wut, in rasendem Rachedurst stieß er einen fürchterlichen
Schrei aus.

»Hilfe! Hilfe!«

Er rannte zu den Klingeln und zog an den Schnüren, als wollte er sie
zerreißen, und erweckte so ein Schellen aller Glocken, wie man es im
Schlosse noch nie vernommen hatte. Alle seine Leute fuhren entsetzt aus
den Betten. Er schrie noch immer, riß die Fenster nach der Straße auf,
rief die Gendarmen, fand seine Pistolen, feuerte sie ab, um die Reiter,
seine Leute und die Nachbarn zu schnellerem Laufe anzutreiben. Die
Hunde erkannten nun die Stimme ihres Herrn und bellten, die Pferde
wieherten und stampften. Es war ein schrecklicher Tumult in dieser
ruhigen Nacht. Als der General die Treppe hinablief, um hinter seiner
Tochter herzueilen, sah er seine entsetzten Leute von allen Seiten
zusammenkommen.

»Meine Tochter! -- Helene ist entführt worden! -- Geht in den Garten --
bewacht die Straße -- laßt die Gendarmen herein -- sucht den Mörder!«

Gleich darauf zerriß er in seiner Wut einfach die Kette, an der der
große Wachhund lag.

»Helene! Helene!« schrie er dem Tier zu.

Der Hund machte einen Satz wie ein Löwe, bellte wütend und stürzte so
schnell in den Garten hinein, daß der General ihm nicht folgen konnte.
In diesem Augenblick erklang der Galopp von Pferden auf der Straße, und
der General öffnete selbst in aller Eile.

»Brigadier,« rief er, »schneiden Sie dem Mörder des Herrn de Mauny den
Rückweg ab. Sie wollen durch meine Gärten. Schnell, besetzt die Wege
nach der Pikardie ... ich mache eine Treibjagd durch alles Land, durch
alle Gärten und Häuser. -- Ihr andern,« sagte er zu seinen Leuten,
»bewacht die Straße und besetzt die Strecke von der Barrière bis nach
Versailles! Vorwärts, allesamt!«

Er ergriff ein Gewehr, das ihm sein Kammerdiener brachte, eilte in die
Gärten und schrie dem Hunde zu:

»Such!«

Aus der Ferne antwortete ihm furchtbares Gebell, und er wandte sich nach
der Richtung, aus der das Geheul des Hundes zu kommen schien.

Um sieben Uhr morgens hatten die Nachsuchungen der Gendarmerie, des
Generals, seiner Leute und der Nachbarn noch keinen Erfolg gehabt. Der
Hund war nicht wiedergekommen. Erschöpft von der Anstrengung und durch
den Gram dieser Nacht rasch gealtert, kehrte der Marquis in den Salon
zurück, der für ihn nun verödet war, obgleich seine drei andern Kinder
noch da waren.

»Sie sind stets sehr kalt zu Ihrer Tochter gewesen,« sagte er, mit einem
Blick auf seine Frau. »Hier ist uns doch etwas von ihr geblieben,«
setzte er hinzu, auf den Stickrahmen zeigend, darauf er eine angefangene
Blume erblickte. »Eben war sie noch hier -- und nun verloren --
verloren!«

Er weinte, vergrub den Kopf in den Händen und saß eine Weile schweigend
da. Er mochte sich nicht mehr in dem Zimmer umsehen, das ihm einstmals
das Gemälde süßesten Hausglücks dargeboten hatte. Das Licht des Morgens
kämpfte mit den erlöschenden Lampen; die Kerzen versengten ihre
Papiermanschetten; alles stand im Einklang zu der Verzweiflung dieses
Vaters.

»Das Ding da muß vernichtet werden,« sagte er nach einem Augenblick des
Schweigens und zeigte auf den Stickrahmen. »Ich kann nichts mehr sehen,
was mich an sie erinnert.«

Die entsetzliche Weihnacht, in der der Marquis und seine Frau das
Unglück hatten, ihre älteste Tochter zu verlieren, ohne daß sie sich der
seltsamen Gewalt widersetzen konnten, die ihr Verführer -- eigentlich ja
ein Verführer wider Willen -- auf sie ausgeübt hatte, diese entsetzliche
Nacht war gleichsam ein Wink vom Schicksal selbst. Kurz darauf richtete
der Bankerott eines Wechselagenten den Marquis zugrunde. Er nahm auf die
Güter seiner Frau Hypotheken auf, um eine Spekulation zu versuchen,
deren Gewinn der Familie allen früheren Reichtum wiedergeben sollte. Die
Spekulation schlug fehl und ruinierte ihn vollends. In seiner
Verzweiflung, alles zu versuchen, wanderte der General aus. Sechs Jahre
waren seit seiner Abreise verflossen. Die Familie hatte nur selten
Nachricht von ihm erhalten. Sechs Tage vor dem Erlaß, durch den Spanien
die Unabhängigkeit der amerikanischen Republiken anerkannte, hatte er
seine Rückkehr angemeldet.

An einem schönen, heitern Morgen befanden sich mehrere französische
Handelsmänner, voller Ungeduld, in ihr Vaterland zurückzukehren, mit den
Reichtümern, die sie in langer, saurer Arbeit und auf gefährlichen
Reisen teils durch Mexiko, teils durch Kolumbia erworben hatten, auf
einer spanischen Brigg, nur noch wenige Meilen von Bordeaux entfernt.
Ein durch Mühseligkeiten oder Gram über seine Jahre hinaus gealterter
Mann lehnte an der Schanzverkleidung und schien keinen Sinn für das Bild
zu haben, das sich den Blicken der in Gruppen auf dem Verdeck
herumstehenden Passagiere bot. Den Gefahren der Seefahrt entronnen und
durch die Schönheit des Tages angelockt, waren alle auf Deck gestiegen,
um die Heimat zu grüßen.

Die Mehrzahl unter ihnen wollte durchaus in der Ferne schon die
Leuchttürme, die Häuser der Gascogne, den Turm von Corduan zwischen den
phantastischen Gebilden einiger weißen Wolken erkennen, die am Horizont
heraufstiegen. Wäre nicht die silberne Furche gewesen, die der Kiel vor
sich aufpflügte, wäre nicht die Schleppe gewesen, die er hinter sich
herzog, so hätten die Reisenden glauben können, sie lägen regungslos
mitten auf dem Ozean, so ruhig war die See.

Der Himmel war von entzückender Reinheit. Die tiefe Färbung seines
Gewölbes ging in unmerklichen Abstufungen in die bläuliche Farbe des
Wassers über; wo beide aufeinanderstießen, sah man nur eine zarte Linie,
von der flimmernden Helligkeit der Sterne. Die Sonne ließ Millionen von
Spiegelscheiben auf der unermeßlichen Fläche des Meers aufblitzen, so
daß die weiten Gefilde des Wassers vielleicht noch mehr leuchteten als
das Firmament selbst.

Ein wunderbar milder Wind blähte alle Segel der Brigg, und die
schneeweißen Tücher, die gelben, wehenden Wimpel, das Labyrinth von
Tauwerk zeichneten sich haarscharf auf dem glänzenden Grunde des
Himmels, der leuchtenden Luft und des Meeres ab, ohne andere Farben
anzunehmen, als die Schatten, die die Wolken von Segeln warfen.

Ein schöner Tag, ein frischer Wind, der Anblick des Vaterlandes, eine
hübsche, einsame Brigg, die wie eine zum Stelldichein fliegende Schöne
über das Meer hinglitt -- das war ein Bild voll Harmonie, eine Szene von
köstlichem Reiz. Von einem Punkt aus, auf dem alles reges Leben und
Bewegung war, umfaßte die Menschenseele weite Fernen, die bewegungslos
blieben, die unwandelbar sich ringsum ausdehnten. Es war eine wundersame
Gegenüberstellung von Einsamkeit und Leben, von Stille und Lärm, ohne
daß man hätte sagen können, wo der Lärm und das Leben, das Nichts und
das Schweigen wäre. Denn keine menschliche Stimme unterbrach diesen
himmlischen Zauber.

Der spanische Kapitän, seine Matrosen und die Männer aus Frankreich
standen oder saßen und überließen sich in frommer Schwärmerei ihren
Erinnerungen. Die Luft selbst atmete Müßiggang. Die strahlenden
Gesichter verrieten ein völliges Vergessen der schlechten Zeiten, die
man überstanden hatte, und die Menschen wiegten sich auf ihrem schönen
Schiff wie in einem goldenen Traume.

Dennoch sah der alte, an die Schanzverkleidung gelehnte Passagier von
Zeit zu Zeit voll Unruhe nach dem Horizont. In seinen Zügen prägte sich
die Ahnung eines Unglücks oder ein Mißtrauen gegen die Güte des
Schicksals aus, und er schien zu befürchten, daß man den Boden
Frankreichs nicht schnell genug betreten könne. Dieser Mann war der
Marquis. Das Glück hatte gegen seine verzweifelten Anstrengungen sich
nicht spröde gezeigt. Nachdem er fünf Jahre alles mögliche versucht und
bitter gearbeitet hatte, war er nun im Besitz eines beträchtlichen
Vermögens. In seiner Ungeduld, die Heimat wiederzusehen und seiner
Familie das Glück zu bringen, war er dem Beispiel einiger französischen
Handelsleute von Habana gefolgt und hatte sich mit ihnen auf einem
spanischen nach Bordeaux bestimmten Fahrzeug eingeschifft.

Seine Phantasie, überdrüssig, immer Unglück vorauszusehen, spiegelte ihm
die köstlichsten Bilder aus dem Glück seiner Vergangenheit wider. Beim
Anblick der fernen braunen Linie, die das Land beschrieb, glaubte er
seine Frau und seine Kinder zu sehen. Er saß an seinem Platze am Kamin
und war umringt und liebkost von seinen Kindern. Er stellte sich Moina
vor, schön, groß geworden, imposant wie ein junges Mädchen. Als dieses
Bild der Phantasie ihm so klar vor Augen stand, wie ein Bild der
Wirklichkeit, rannen ihm Tränen die Wangen hinab, und um seine Aufregung
zu verbergen, sah er nach dem Horizont in der entgegengesetzten Richtung
der verschwommenen Linie, die das Land bezeichnete.

»Das ist er!« rief er. »Er verfolgt uns.«

»Was gibt's?« rief der spanische Kapitän.

»Ein Schiff,« antwortete der General mit leiser Stimme.

»Ich habe es schon gestern gesehen,« antwortete Kapitän Gomez.

Er sah den Franzosen fragend an.

»Er hat bis jetzt Jagd auf uns gemacht,« sagte er dann dem General ins
Ohr.

»Ich begreife nicht, warum er uns nicht schon eingeholt hat,« versetzte
der alte Soldat, »denn er ist ein besserer Segler, als Ihr verwünschter
Sankt Ferdinand.«

»Er wird Havarien erlitten oder Wasser übergenommen haben.«

»Er kommt auf,« rief der Franzose.

»Er ist ein kolumbischer Korsar,« sagte der Kapitän ihm ins Ohr. »Wir
sind noch sechs Meilen von der Küste entfernt, und der Wind flaut ab.«

»Er fährt nicht -- er fliegt -- als wenn er wüßte, daß ihm in zwei
Stunden seine Beute entschlüpft sein wird -- welche Tollkühnheit!«

»Der!« rief der Kapitän. »Ja, der heißt nicht umsonst der Othello. Er
hat letztens eine spanische Fregatte in den Grund gebohrt und führt doch
nur dreißig Kanonen. Ich habe die ganze Zeit über Angst vor ihm gehabt,
denn ich wußte wohl, daß er in den Antillen kreuzte. Ah! ah!« fuhr er
nach einer Pause fort, während deren er die Segel seines Schiffes
beobachtet hatte, »der Wind frischt auf, wir werden unser Ziel
erreichen. Das ist auch nötig, denn der Pariser würde kein Erbarmen
kennen.«

»Aber auch er erreicht sein Ziel,« antwortete der Marquis.

Der »Othello« war nur noch drei Meilen entfernt. Obwohl die Mannschaft
das Gespräch zwischen dem Marquis und Kapitän Gomez nicht mitangehört
hatte, war doch die Mehrzahl der Matrosen und der Passagiere durch das
Auftauchen dieses Segels nach der Stelle hingelockt worden, wo die
beiden sich unterhielten. Aber alle hielten diese Brigg für ein
Handelsschiff und betrachteten sie mit Interesse, als plötzlich ein
Matrose in energischem Ton rief:

»Beim heiligen Jakob, wir sind des Todes! Das ist der Pariser Kapitän!«

Bei diesem schrecklichen Namen griff das Entsetzen im Schiff um sich,
und eine Verwirrung entstand, die sich nicht beschreiben läßt. Der
spanische Kapitän hielt durch seine Befehle noch eine Zeitlang seine
Matrosen in Zucht und flößte ihnen Tatkraft ein. Er wollte um jeden
Preis das Land erreichen und versuchte in aller Eile sämtliche hohen und
niedrigen Leesegel auf Steuer- und auf Backbord zu hissen, um dem Winde
alle Leinwand zu bieten, die seine Rahen trugen.

Aber diese Manöver waren nur mit großer Schwierigkeit auszuführen; es
fehlte an der bewundernswerten Zusammenarbeit, die auf einem
Kriegsschiff so sehr besticht. Obwohl der »Othello« wie eine Schwalbe
segelte, dank der geschickten Stellung seiner Segel, so kam er doch
anscheinend so wenig auf, daß die unglücklichen Franzosen sich einer
holden Illusion hingaben. Als nach unerhörten Anstrengungen infolge
gewandter Manöver, die Gomez durch Winke und Befehle angeordnet hatte,
der »Sankt Ferdinand« von neuem schnell seinem Ziel näherkam, legte
plötzlich der Steuermann durch eine falsche Bewegung des Ruders, die er
wahrscheinlich mit Absicht machte, die Brigg quer. Nun von der Seite
gefaßt, killten die Segel so heftig, daß sie back braßten. Die
Klüverbäume brachen, und das Schiff kam völlig aus dem Kurs. Vor
unaussprechlicher Wut wurde der Kapitän weißer als seine Segel. Mit
einem Satz sprang er auf den Steuermann zu und stieß so wütend mit dem
Dolche nach ihm, daß er denselben wohl verfehlte, doch ihn dabei ins
Meer stürzte. Dann packte er selbst das Steuer und versuchte der
schrecklichen Zügellosigkeit Herr zu werden, in die sein braves, mutiges
Schiff versetzt worden war. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die
Augen; denn wenn wir durch einen Verrat um einen Erfolg gebracht werden,
den unsere Fähigkeiten errungen haben würden, so schmerzt uns das tiefer
als selbst ein drohendes Ende. Aber je mehr der Kapitän fluchte, um so
weniger glückte ihm sein Vorhaben. Er schoß selbst die Alarmkanone ab,
in der Hoffnung, von der Küste aus gehört zu werden.

In diesem Augenblick antwortete der Korsar mit einem Kanonenschuß,
dessen Kugel zehn Klafter vom »Sankt Ferdinand« ins Wasser schlug.

»Donnerwetter!« rief der General. »Gut gezielt. Sie haben ausgezeichnete
Karonaden.«

»O, der!« antwortete ein Matrose. »Sehen Sie, wenn der spricht, heißt's
schweigen. Der Pariser würde sich vor einem englischen Kriegsschiff
nicht fürchten.«

»Es ist nichts zu machen,« rief der Kapitän im Tone der Verzweiflung. Er
hatte sein Fernrohr ans Auge gesetzt und keine Spur von Land
unterscheiden können. »Wir sind noch weiter von Frankreich entfernt, als
ich gedacht habe.«

»Warum wollen Sie verzagen?« versetzte der General. »Alle Ihre
Passagiere sind Franzosen, und denen gehört die Fracht Ihres Schiffes.
Dieser Korsar ist ein Pariser, sagen Sie? Nun wohl, hissen Sie den
weißen Wimpel, und ...«

»Und er wird uns in den Grund bohren,« antwortete der Kapitän. »Was wird
weiter geschehen, da ihm einmal darum zu tun ist, sich einer reichen
Beute zu bemächtigen?«

»Ah! wenn er ein Seeräuber ist -- --«

»Seeräuber?« rief einer der Matrosen in wildem Tone. »Ha, er tritt immer
manierlich auf, und es geht dabei alles ganz ordnungsgemäß her, wie es
sich gehört.«

»Nun gut,« rief der General, die Augen zum Himmel aufschlagend, »ergeben
wir uns.«

Er hatte noch Kraft genug, die Tränen zurückzuhalten.

Als er diese Worte beendet hatte, traf ein zweiter, besser gezielter
Kanonenschuß das Hinterteil des »Sankt Ferdinand« und schlug ein Leck.

»Beidrehen!« befahl der Kapitän in traurigem Tone.

Und der Matrose, der der Anständigkeit des Parisers das Wort geredet
hatte, betätigte sich in sehr geschickter Weise bei diesem verzweifelten
Manöver.

Die Mannschaft wartete in tiefster Bestürzung eine tödliche halbe Stunde
lang. Der »Sankt Ferdinand« führte vier Millionen Piaster, die das
Vermögen von fünf Passagieren bildeten. Davon betrug das des Generals
eine Million einhunderttausend Frank.

Der »Othello«, der noch um zehn Flintenschüsse entfernt war, zeigte
jetzt deutlich die drohenden Mündungen von zwölf schußbereiten Kanonen.
Er flog vor einem Winde hin, den der Teufel eigens für seine Segel
blasen zu lassen schien; aber das Auge eines geschickten Seemanns konnte
ohne Schwierigkeit das Geheimnis dieser Geschwindigkeit erkennen. Man
brauchte nur einen Augenblick den schlanken, langgestreckten Bau der
Brigg zu betrachten, ihre Schmalheit, die Höhe ihrer Masten, den Schnitt
ihrer Segel, die bewundernswerte Leichtigkeit ihrer Takelage und die
Flottheit, mit der alle ihre Leute, so einmütig, als wenn nur ein
einziger Mensch dort tätig wäre, die weiße Fläche richteten und
ordneten, die ihre Segel darboten.

Alles verriet eine unglaubliche Kraft und Sicherheit an diesem flinken
Geschöpf aus Holz, das ebenso rasch, ebenso klug war wie ein Rennpferd
oder ein Raubvogel. Die Mannschaft des Korsaren verhielt sich still und
war bereit, falls sie auf Widerstand stoßen sollte, das arme
Handelsschiff zu vernichten, das sich zu seinem Glück ganz ruhig
verhielt, wie ein Schüler, den sein Lehrer über einer Dummheit ertappt
hat.

»Wir haben Kanonen!« schrie der General und drückte dem spanischen
Kapitän die Hand.

Der letztere warf dem alten Soldaten einen Blick voll Wut und
Verzweiflung zu und sagte zu ihm:

»Und die Leute?«

Der Marquis betrachtete die Mannschaft des »Sankt Ferdinand«, und ihn
schauderte. Die vier Handelsleute waren blaß und zitterten vor Angst;
während die Matrosen sich um einen unter ihnen scharten und sich dem
Anschein nach verabredeten, auf die Seite des »Othello« zu treten, denn
sie sahen mit begehrlichen Blicken nach dem Korsaren hin. Der erste
Maat, der Kapitän und der Marquis allein tauschten Blicke aus, die eine
einmütige und tapfere Gesinnung verrieten.

»Ah, Kapitän Gomez, einstmals habe ich mit vor Kummer erstorbenem Herzen
meinem Vaterland und meiner Familie Lebewohl gesagt. Soll ich sie auch
nun nicht wiedersehen, wo ich eben meinen Kindern die Freude und das
Glück bringen will?«

Der General drehte sich um und ließ eine Träne der Wut ins Meer fallen.
Dabei erblickte er den Steuermann, der auf den Korsaren zuschwamm.

»Diesmal,« antwortete der Kapitän, »werden Sie ihm ohne Zweifel für alle
Zeit Lebewohl sagen müssen.«

Der Franzose erschrak über den stumpfsinnigen Blick, den der Spanier ihm
zuwarf. In diesem Augenblick waren die beiden Schiffe fast an Bord; und
beim Anblick der feindlichen Mannschaft glaubte der General an die
unselige Prophezeiung seines Kapitäns. Drei Mann standen an jedem
Geschütz. Wenn man ihre athletische Haltung, ihre eckigen Züge, ihre
nackten, sehnigen Arme sah, hätte man sie für Statuen von Bronze halten
können. Sie wären im Tode noch auf ihrem Posten geblieben, ohne
umzufallen. Die Matrosen, gut bewaffnet, standen unbeweglich da, aber
man sah ihnen an, wie flink und gewandt sie sein konnten, sobald ein
Befehl sie aus ihrer Starrheit erweckte. Alle diese energischen
Gesichter waren stark von der Sonne verbrannt und von der Arbeit
gehärtet. Ihre Augen leuchteten wie Feuerfunken und verrieten Tatkraft,
Intelligenz und höllische Freude.

Die tiefe Stille, die auf diesem von Menschen und Hüten schwarzen
Verdeck herrschte, zeugte für die unversöhnliche Disziplin, unter die
ein gewaltiger Wille diese menschlichen Teufel gezwungen hatte. Der
Anführer stand vor dem Hauptmast, ohne Waffen und mit gekreuzten Armen.
Nur ein Beil lag ihm zu Füßen. Auf dem Kopfe trug er zum Schutze gegen
die Sonne einen Filzhut mit breiter Krempe, dessen Schatten sein Gesicht
verbarg. Gleich Hunden, die vor ihrem Herrn liegen, sahen Kanoniere,
Soldaten und Matrosen abwechselnd auf den Kapitän und das Handelsschiff.
Als die beiden Briggs zusammenstießen, erweckte die Erschütterung den
Korsaren aus seiner Träumerei, und er sagte einem jungen Offizier, der
zwei Schritt vor ihm stand, ein Wort ins Ohr.

»An die Enterhaken!« rief der Leutnant.

Und der »Sankt Ferdinand« wurde von dem »Othello« mit bewundernswerter
Geschwindigkeit geentert. Gemäß den Befehlen, die der Korsar mit leiser
Stimme erteilte und der Leutnant wiederholte, gingen die Leute, wie
Seminaristen, wenn sie zur Messe gehen, an Bord der Prise, fesselten die
Matrosen und Passagiere und bemächtigten sich der Schätze. In einem
Augenblick waren die Tonnen voll Piastern, die Lebensmittel und die
Mannschaft vom »Sankt Ferdinand« auf das Verdeck des »Othello« gebracht
worden.

Der General glaubte im Banne eines Traumes zu stehn, als ihm die Hände
gefesselt und er auf einen Ballen geworfen wurde, ganz als ob er selber
nur ein Stück Ware sei. Eine Beratung fand zwischen dem Korsaren, dem
Leutnant und einem Matrosen statt, der den Posten eines ersten Maats zu
haben schien. Als die Unterredung, die nur kurze Zeit währte, zu Ende
war, rief der Matrose durch einen Pfiff seine Leute herbei. Er erteilte
ihnen einen Befehl, und sie sprangen alle auf den »Sankt Ferdinand«,
kletterten am Tauwerk in die Höhe und begannen, das Schiff seiner Rahen,
Segel und Takelage zu berauben, mit der gleichen Geschwindigkeit, mit
der ein Soldat auf dem Schlachtfelde einen toten Kameraden entkleidet,
dessen Schuhe und Mantel ihm begehrenswert erschienen sind.

»Wir sind verloren,« sagte zum Marquis der spanische Kapitän, der mit
den Blicken die Gebärden der drei Anführer während ihrer Beratung und
die Bewegungen der Matrosen verfolgt hatte, die die regelrechte
Plünderung seiner Brigg vornahmen.

»Wieso?« fragte der General gelassen.

»Was denken Sie, was sie mit uns machen werden?« versetzte der Spanier.
»Sie haben ohne Zweifel erkannt, daß sie den »Sankt Ferdinand« nicht gut
in den Häfen von Frankreich und Spanien verkaufen können, und so wollen
sie ihn nun versenken, um ihn los zu werden. Und was uns betrifft,
glauben Sie, sie werden sich damit befassen, uns durchzufüttern, da sie
nicht wissen, an welchem Hafen sie uns absetzen könnten?«

Kaum hatte der Kapitän diese Worte beendet, als der General ein
entsetzliches Geschrei und den dumpfen Fall mehrerer Körper hörte, die
man ins Meer warf. Er wandte sich um und sah die vier Handelsleute nicht
mehr. Acht Kanoniere mit wilden Gesichtern standen noch mit in die Luft
gereckten Armen da, als der Soldat mit Entsetzen zu ihnen hinsah.

»Habe ich's Ihnen nicht gesagt?« meinte der spanische Kapitän trocken.

Der Marquis erhob sich rasch. Das Meer war schon wieder ruhig geworden.
Er sah nicht einmal mehr die Stelle, wo seine unglücklichen Gefährten
verschwunden waren. Mit zusammengebundenen Händen und Füßen lagen sie
wohl schon am Grunde der See, wenn nicht Haifische sie zerrissen hatten.

Ein paar Schritte von ihm schlossen der treulose Steuermann und der
Matrose des »Sankt Ferdinand«, der vorhin die Macht des Pariser Kapitäns
gerühmt hatte, Brüderschaft mit den Piraten und bezeichneten mit dem
Finger diejenigen von den Seeleuten der Brigg, die nach ihrer Meinung
würdig waren, in die Mannschaft des »Othello« eingereiht zu werden. Den
andern fesselten zwei Schiffsjungen trotz der gräßlichen Verwünschungen,
die sie ausstießen, die Füße.

Als die Auswahl beendet war, packten die acht Kanoniere die Verurteilten
und warfen sie ohne Umstände ins Meer. Die Korsaren betrachteten mit
boshafter Neugierde die verschiedenen Bewegungen der Unglücklichen, wie
sie hinabfielen, was für Gesichter sie schnitten, wie ihr letzter
Todeskampf verlief. Aber ihre Züge verrieten weder Hohn, noch Schreck,
noch Mitleid. Es war für sie eine ganz einfache Sache, an die sie
gewöhnt waren.

Die älteren unter ihnen betrachteten daher auch lieber mit einem
finstern, verhaltenen Lächeln die mit Piastern gefüllten Tonnen, die vor
dem Hauptmast standen. Der General und Kapitän Gomez saßen auf einem
Warenballen und sahen sich fragend an. Sie waren nun noch die einzigen,
die von der Mannschaft des »Sankt Ferdinand« noch am Leben waren. Die
sieben Matrosen, die von den beiden Verrätern ausgewählt worden waren,
hatten sich inzwischen schon zu fröhlichen Piraten umgewandelt.

»Was für schändliche Kerle!« rief plötzlich der General, und eine
gerechte, edelmütige Entrüstung ließ ihn seinen Kummer und die Vorsicht
vergessen.

»Sie gehorchen der Notwendigkeit,« antwortete Gomez ruhig. »Wenn Sie
einem dieser Menschen einmal wieder begegneten, würden Sie ihm nicht
Ihren Degen durch den Leib rennen?«

»Kapitän,« sagte der Leutnant, sich an den Spanier wendend, »der Pariser
hat von Ihnen sprechen hören. Sie sind, sagt er, der einzige, der die
Antillendurchfahrt und die brasilianische Küste genau kennt. Wollen
Sie --?«

Der Kapitän unterbrach den Leutnant mit einem Ausruf der Verachtung und
antwortete:

»Ich werde den Seemannstod erleiden als treuer Spanier und Christ --
verstehst du?«

»Ins Meer mit ihm!« rief der junge Mann.

Auf diesen Befehl packten zwei Kanoniere Gomez.

»Ihr seid feige Hunde!« schrie der General und versuchte die Korsaren
zurückzuhalten.

»Alter,« sagte der Leutnant zu ihm, »regen Sie sich nicht auf. Wenn Ihr
rotes Band am Knopfloch auch auf unsern Kapitän einigen Eindruck macht,
ich lächle darüber. Auch wir beide werden sogleich eine kleine
Unterhaltung miteinander haben.«

In diesem Augenblick verkündete ein dumpfer Fall, in den kein Laut der
Klage sich mischte, dem General, daß der wackere Gomez den Seemannstod
erlitten hatte.

»Mein Geld oder den Tod!« schrie er in einem furchtbaren Wutanfall.

»Ah, Sie sind vernünftig,« antwortete der Korsar spöttisch. »Sie wissen
nun doch, daß Sie eins von beiden bestimmt von uns erhalten werden ...«

Auf ein Zeichen des Leutnants eilten zwei Matrosen herbei, um dem
Franzosen die Füße zusammenzubinden. Aber der General stieß sie mit
einer unerwarteten Kühnheit zurück, befreite sich mit fast
übermenschlicher Gewalt von dem Strick, womit seine Hände gefesselt
waren, riß mit einer Bewegung, mit der niemand gerechnet hatte, den
Säbel an sich, den der Leutnant an der Seite trug, und begann mit der
Gewandtheit eines alten Kavalleristen, der sein Handwerk versteht, zu
fechten.

»Ha, Briganten! Ihr sollt einen alten Soldaten Napoleons nicht wie eine
Auster ins Meer werfen!«

Pistolenschüsse, auf den um sich schlagenden Franzosen abgefeuert,
lenkten die Aufmerksamkeit des Parisers auf diese Szene, der inzwischen
die dem »Sankt Ferdinand« geraubte Takelage auf sein Schiff hatte
herüberschaffen lassen. Kaltblütig packte er nun den mutigen General von
hinten, hob ihn rasch empor, schleppte ihn an den Bordrand und war im
Begriff, ihn wie eine unbrauchbare Spiere ins Wasser zu werfen.

In diesem Augenblick sah der General in das wilde Auge des Mannes, der
seine Tochter entführt hatte. Der Vater und der Schwiegersohn erkannten
sich auf der Stelle. Der Kapitän gab seiner Bewegung plötzlich eine
andere Richtung, und statt den General ins Meer zu werfen, stellte er
ihn in raschem Schwunge, als wenn der schwere Mann gar nichts gewogen
hätte, vor den Hauptmast. Ein Murmeln erhob sich auf dem Verdeck. Aber
der Korsar warf seinen Leuten nur einen Blick zu, worauf tiefstes
Schweigen eintrat.

»Es ist Helenens Vater,« sagte der Kapitän mit klarer, fester Stimme.
»Wehe dem, der es an Achtung gegen ihn fehlen läßt!«

Ein freudiges Geschrei erklang auf dem Verdeck und stieg gen Himmel, wie
ein Gebet in einer Kirche, wie der ernste Ruf des Tedeums. Die
Schiffsjungen schaukelten sich im Tauwerk, die Matrosen warfen die
Mützen in die Luft, die Kanoniere trampelten mit den Füßen, alles war in
Bewegung, schrie, pfiff und fluchte. Diese Heiterkeit hatte etwas so
Fanatisches an sich, daß der General unruhig und beklommen wurde. Er
schrieb den Aufruhr einem entsetzlichen Geheimnis zu, und sein erster
Ruf, als er die Sprache wiederfand, war das Wort:

»Meine Tochter! Wo ist sie?«

Der Korsar warf dem General einen jener tiefen Blicke zu, die, ohne daß
man sich's erklären konnte, die unerschrockensten Seelen niederwarfen,
und der Soldat verstummte, zur großen Befriedigung der Matrosen, die
sich darüber freuten, daß ihr Führer über alle Menschen Gewalt zu haben
schien. Dann führte der Räuber ihn an eine Treppe, hieß ihn
hinabsteigen, brachte ihn vor die Tür einer Kabine, öffnete sie rasch
und sagte:

»Sie ist hier.«

Dann verschwand er, während der alte Haudegen verblüfft das Bild
betrachtete, das sich seinen Blicken bot. Als Helene die Tür des Gemachs
so ungestüm öffnen hörte, war sie von dem Divan aufgestanden, auf dem
sie lag. Doch nun erblickte sie den Marquis und stieß einen Schrei der
Überraschung aus. Sie war so verändert, daß es des Auges eines Vaters
bedurfte, um sie zu erkennen. Die Tropensonne hatte sie noch schöner
gemacht. Ihr weißes Gesicht war braun geworden und hatte ein wunderbares
Kolorit erhalten, das ihr einen Ausdruck orientalischer Poesie verlieh.
Dieses Antlitz trug den Stempel der Größe, Majestät, Energie und einer
Seelentiefe, die auf die rohesten Gemüter Eindruck machen mußte.

Ihr langes, überreiches Haar fiel in dicken Locken auf einen vornehmen
Hals und gab dem Stolz dieses Gesichts einen machtvollen Rahmen. In
ihrer Haltung und Gebärde verriet Helene, daß sie sich ihrer Macht auch
vollauf bewußt war. Eine an Triumph grenzende Zufriedenheit blähte
leicht ihre rosafarbenen Nasenflügel, und ihr ruhiges Glück erkannte man
allein schon daran, in welchem Maße ihre Schönheit sich entfaltet hatte.

Dabei hatte sie gleichzeitig doch eine unsagbare jungfräuliche Weichheit
an sich und jenen besonderen Stolz, der allen denen eigen ist, die sich
über alles geliebt wissen. Sklavin und Herrscherin zugleich, wollte sie
gern gehorchen, da sie regieren konnte.

Sie war mit einer Pracht gekleidet, die der Anmut und Vornehmheit nicht
ermangelte. Ihre ganze Toilette bestand aus indischem Musselin; der
Diwan und die Kissen waren von Kaschmir, und ein persischer Teppich
bedeckte den Boden der geräumigen Kabine. Ihre vier Kinder spielten zu
ihren Füßen und bauten sich phantastische Schlösser aus
Perlenhalsbändern, aus kostbaren Schmucksachen, aus wertvollen
Gegenständen. Ein paar Vasen aus Sèvresporzellan, von Madame Jaquotot
bemalt, enthielten seltene, duftende Blumen: Jasmin aus Mexiko und
Kamelien. Zwischen diesen Blumen flatterten gezähmte kleine Vögel aus
Amerika herum, die in ihrer Buntfarbigkeit Rubinen, Saphiren und
lebendigem Golde glichen.

Ein Piano stand in diesem Salon, und an den Wänden hingen hier und dort
Bilder, die nicht groß waren, aber von den besten Malern herrührten: ein
»Sonnenuntergang« von Hippolyt Schinner neben einem Ter Borch, eine
Heilige Jungfrau von Raphael neben einer Skizze von Géricault; ein
Gerard Dow neben Porträtmalern des Kaiserreichs.

Auf einem Lacktisch befand sich eine goldene Schüssel voll köstlicher
Früchte. Kurz, Helene schien die Königin eines großen Reiches zu sein,
und ihr gekrönter Gemahl schien in diesem Boudoir die schönsten Dinge
der Erde zusammengetragen zu haben.

Die Kinder sahen ihren Großvater neugierig an; gewohnt, wie sie waren,
an Kampf und Lärm, glichen sie den kleinen neugierigen, nach Krieg und
Blut lüsternen Römerkindern, die David auf seinem Gemälde »Brutus«
dargestellt hat.

»Wie ist das möglich?« rief Helene und faßte ihren Vater an, um sich von
der Leibhaftigkeit dieser Erscheinung zu überzeugen.

»Helene!« -- »Mein Vater!«

Sie sanken einander in die Arme, doch die Umarmung des Greises war die
weniger starke und liebevolle.

»Sie waren auf diesem Schiffe?«

»Ja,« antwortete er traurig, setzte sich auf den Diwan und betrachtete
die Kinder, die sich in naiver Wißbegierde um ihn scharten. »Ich wäre
nicht mehr am Leben, wenn nicht --«

»Wenn nicht mein Mann gewesen wäre,« unterbrach sie ihn. »Ich errate
es.«

»Ach!« rief der General, »warum muß ich dich wiederfinden, Helene, dich,
die ich so sehr beweint habe! Ich werde also alle Zeit dein Schicksal zu
beklagen haben!«

»Warum?« fragte sie lächelnd. »Werden Sie nicht zufrieden sein, wenn Sie
erfahren, daß ich die glücklichste aller Frauen bin?«

»Glücklich!« rief er und sprang erstaunt auf.

»Ja, mein guter Vater,« fuhr sie fort, ergriff seine Hände, drückte sie
auf ihren wogenden Busen und sah ihn mit vor Freude funkelnden Augen an.

»Und inwiefern glücklich?« fragte er, neugierig, das Leben seiner
Tochter kennen zu lernen. Vor diesem strahlenden Angesicht vergaß er
alles andere.

»Hören Sie, mein Vater,« antwortete sie, »ich habe zum Geliebten, zum
Gatten, zum Diener, zum Herrn einen Mann, dessen Seele ebenso groß ist
wie dieses grenzenlose Meer, ebenso unerschöpflich an Milde, wie der
Himmel. Kurz, er ist ein Gott! Seit sieben Jahren ist ihm niemals ein
Wort, ein Gefühl, eine Gebärde entschlüpft, die einen Mißklang in die
göttliche Harmonie seiner Rede, seiner Liebkosungen und seiner Liebe
hätten bringen können. Er hat mich immer nur mit einem freundlichen
Lächeln auf den Lippen und mit freudestrahlenden Augen angesehen. Dort
oben übertönt seine donnernde Stimme oft das Heulen des Sturms oder den
Kampfeslärm. Aber hier ist sie sanft und klangvoll wie die Musik
Rossinis, dessen Werke mir vor kurzem geschenkt worden sind. Alles, was
die Laune einer Frau sich nur ersinnen kann, bekomme ich. Ja, meine
Wünsche werden oft noch überboten. Kurz, ich gebiete über das Meer, und
man gehorcht mir dort wie einer Herrscherin. -- O, glücklich!« fuhr sie
fort, sich selbst unterbrechend, »glücklich ist nicht der richtige
Ausdruck für mein Glück. Mein Glück ist anders als das aller Frauen.
Eine Liebe zu fühlen, eine grenzenlose Hingebung zu dem, den man liebt,
und in seinem Herzen eine ebenso grenzenlose Liebe zu finden, eine immer
sich gleiche Liebe, in der die Seele der Frau sich baden kann -- sagen
Sie, ist das nicht Glück? Hier bin ich Gebieterin. Noch nie hat ein
Geschöpf meines Geschlechts den Fuß auf dieses edle Schiff gesetzt, wo
Victor nur ein paar Schritte von mir entfernt ist. -- Er kann sich von
mir immer nur so weit entfernen wie bis zum Heck oder zum Bug,« fuhr sie
mit einer feinen Schelmerei fort, »und sieben Jahre! eine Liebe, die
sieben Jahre lang so innig bleibt, die sieben Jahre lang fast alle
Augenblicke eine Probe zu bestehen hatte -- ist das nicht Liebe? Ja, es
ist weit, weit mehr noch als Liebe! Es ist das Herrlichste, das ich mein
Leben lang kennen gelernt habe! Die menschliche Stimme hat keine
Ausdrücke für ein himmlisches Glück.«

Ein Tränenstrom entrann ihren brennenden Augen. Die vier Kinder stießen
ein klägliches Geschrei aus und liefen herbei, wie Küchlein die Mutter
umringend. Der älteste Knabe schlug nach dem General und warf ihm
drohende Blicke zu.

»Abel,« sagte sie, »mein Engel, ich weine ja doch vor Freude.«

Sie nahm ihn auf die Knie; das Kind liebkoste sie zutraulich, indem es
die Arme um den majestätischen Hals Helenens schlang, wie ein kleiner
Löwe, der mit seiner Mutter spielen will.

»Und du hast keine Langeweile?« rief der General, betäubt von der
überschwenglichen Antwort seiner Tochter.

»Doch,« antwortete sie. »Wenn wir mal an Land gehen; denn auch dann
verlasse ich meinen Mann nie.«

»Aber du liebtest doch Festlichkeiten, Bälle, Musik?«

»Musik -- das ist seine Stimme; meine Festlichkeiten -- das sind die
Stunden, zu denen ich mich für ihn schmücke. Wenn ich ihm in meinem Putz
gefalle, ist's dann nicht, als ob die ganze Erde mich bewunderte? Und
deshalb allein werfe ich diese Diamanten, diese Halsbänder, diese
Diademe von Edelsteinen, diese Reichtümer, diese Blumen, diese
Meisterwerke der Künste nicht ins Meer. Er bringt sie mir in Fülle und
sagt dann immer: >Helene, da du nicht in die Welt gehst, soll die Welt
zu dir kommen.<«

»Aber auf diesem Schiffe gibt es Menschen -- entsetzliche, tollkühne
Menschen, die in ihrer wilden Leidenschaft ...«

»Ich verstehe Sie, mein Vater,« sagte sie lächelnd. »Doch beruhigen Sie
sich. Selbst eine Kaiserin ist noch nie so ehrerbietig behandelt worden
wie ich. Diese Leute sind abergläubisch; sie glauben, ich sei der
Schutzgeist dieses Fahrzeugs, ihrer Unternehmungen und Erfolge. Und dann
ist er ein Gott für sie. Eines Tages -- ein einziges Mal -- ließ ein
Matrose es an Achtung gegen mich fehlen ... nur in Worten,« setzte sie
lachend hinzu. »Ehe Victor es erfahren konnte, warfen die Leute den Mann
ins Meer, obwohl ich ihm Verzeihung gewährte. Sie lieben mich wie ihren
guten Engel, ich pflege sie, wenn sie krank sind, und habe schon das
Glück gehabt, durch die Ausdauer weiblicher Sorge ein paar von ihnen vom
Tode zu erretten. Diese armen Menschen sind zugleich Riesen und Kinder.«

»Und wenn Kämpfe stattfinden?«

»Daran bin ich gewöhnt,« antwortete sie. »Nur das erstemal habe ich
gezittert. Jetzt ist meine Seele gegen diese Gefahr gefeit, und dann --
ich bin doch Ihre Tochter,« setzte sie hinzu, »ich liebe sogar den
Kampf.«

»Und wenn er den Tod fände?«

»So würde ich mit ihm sterben.«

»Und deine Kinder?«

»Sie sind Söhne des Meers und der Gefahr, sie teilen das Leben ihrer
Eltern ... Unser Dasein ist eines und unteilbar. Wir führen alle das
gleiche Leben, sind durch ein und denselben Eid aneinander gebunden und
an ein und dasselbe Lebensschiff gefesselt -- das wissen wir wohl.«

»Du liebst ihn also so sehr, daß du ihn allem andern vorziehst?«

»Allem,« antwortete sie. »Doch dringen wir nicht in dieses Geheimnis
ein. Sehen Sie dieses teure Kind an! Es ist sein Ebenbild.«

Sie preßte Abel mit großem Ungestüm an sich und drückte ihm
leidenschaftliche Küsse auf die Wangen und auf das Haar ...

»Aber,« rief der General, »ich werde nie vergessen können, daß er eben
neun Menschen hat ins Meer werfen lassen.«

»So mußte es eben sein,« antwortete sie, »denn er ist menschlich und
edelmütig. Er vergießt so wenig Blut wie möglich, nur daß er unter allen
Umständen für die Erhaltung und die Interessen der kleinen Welt sorgen
muß, die er beschützt, und die heilige Sache nicht vernachlässigen darf,
der er sich gewidmet hat. Sprechen Sie mit ihm über das, was Ihnen
unrecht erscheint, und Sie werden sehen, er wird Sie zu einer andern
Meinung bekehren.«

»Und sein Verbrechen?« sagte der General, wie mit sich selbst redend.

»Aber,« versetzte sie mit kalter Würde, »wenn das nun eine tugendhafte
Tat war? Wenn die Justiz der Menschen ihm die Rache versagte?«

»So darf man sich nicht selbst rächen!« rief der General.

»Was ist denn die Hölle anders,« fragte sie, »als eine ewige Rache für
die paar Sünden eines einzigen Tages?«

»Ah! Du bist verloren, er hat dich in Bann geschlagen, dich verwandelt,
dich verdorben. Deine Vernunft ist aus den Fugen.«

»Nein, mein Vater, glauben Sie das nicht; denn wenn Sie ihn nur anhören,
ansehen wollten, so werden Sie ihn lieben.«

»Helene,« sagte der General ernst, »wir sind nur noch wenige Meilen von
Frankreich entfernt.«

Sie zitterte, dann sah sie zu den Fenstern der Kajüte hinaus und zeigte
auf das Meer, das dort seine unermeßlichen Savannen grünen Wassers
ausbreitete.

»Das ist meine Heimat,« antwortete sie und klopfte mit der Fußspitze auf
den Teppich.

»Willst du nicht mitkommen, deine Mutter, deine Schwester, deine Brüder
wiedersehen?«

»O ja,« sagte sie, mit Tränen in der Stimme, »wenn er es will und mich
begleitet.«

»So hast du nichts mehr, Helene,« versetzte der Soldat streng, »weder
Heimat noch Familie?«

»Ich bin sein Weib,« versetzte sie mit Stolz und Adel. »Dies ist seit
sieben Jahren das erste Glück, das nicht von ihm kommt,« setzte sie
hinzu, ergriff die Hand ihres Vaters und küßte sie, »und es ist auch der
erste Tadel, den ich hören muß.«

»Und dein Gewissen?«

»Mein Gewissen -- ist er.«

In diesem Augenblick zitterte sie heftig.

»Da kommt er,« sagte sie. »Selbst in einem Kampfe erkenne ich unter
allen Schritten den seinen heraus, wenn er über das Verdeck eilt.«

Plötzlich färbte eine Röte ihre Wangen blutrot, ließ ihre Züge sich
aufhellen und strahlen, ließ ihre Augen flammen. Glück und Liebe sprach
aus all ihren Zügen, aus den bläulichen Adern, die leicht hervortraten,
und aus dem unwillkürlichen Zittern ihres ganzen Körpers. Diese
tiefinnere Bewegung rührte den General.

In der Tat erschien einen Moment später der Korsar, setzte sich auf
einen Fauteuil, nahm seinen ältesten Sohn zu sich und begann mit ihm zu
spielen. Ein Weilchen herrschte Schweigen; denn der General versank in
einen Zustand, der etwas Traumhaftes an sich hatte, und betrachtete
diese elegante Kabine, in der diese Familie seit sieben Jahren zwischen
dem Himmel und dem Meere dahinschwamm, von der starken Hand eines Mannes
durch die Gefahren des Kampfes und des Sturms geführt, wie im Leben ein
Hausstand von dem Familienvater mitten durch das soziale Elend
hindurchgesteuert wird.

Er betrachtete mit Bewunderung seine Tochter, das phantastische Abbild
einer Meeresgöttin, mild an Schönheit, reich an Glück. Die Schätze ihrer
Seele, das Leuchten ihrer Augen und die unbeschreibliche Poesie ihrer
Person überstrahlten alle Schätze, die sie umgaben.

Diese Verhältnisse waren von einer Seltsamkeit, die ihn verblüffte, und
alle Gefühle und Gedanken schienen hier auf eine so erhabene Höhe
gehoben, daß die alltäglichen Ideen umgeworfen wurden und keine Geltung
mehr hatten. Die kalten, kleinlichen Berechnungen der Gesellschaft
erloschen vor diesem Gemälde.

Der alte Soldat fühlte das alles und begriff auch, daß seine Tochter ein
so vielgestaltiges, an Kontrasten und Eindrücken so reiches Leben, das
von einer so wahren Liebe ausgefüllt wurde, niemals aufgeben würde. Da
sie nun einmal der Gefahr getrotzt hatte, ohne davor zurückzuschrecken,
so konnte sie nun nicht mehr in die kleinlichen Szenen der läppischen,
dünkelhaften Welt zurückkehren.

»Bin ich Ihnen hier im Wege?« fragte der Korsar, indem er das Schweigen
brach und auf seine Frau blickte.

»Nein,« antwortete ihm der General. »Helene hat mir alles gesagt. Ich
sehe, sie ist für uns verloren.«

»Nein,« antwortete der Korsar lebhaft, »noch ein paar Jahre, dann ist
meine Tat verjährt, und ich werde nach Frankreich zurückkehren können.
Wenn das Gewissen rein ist und der Verstoß gegen eure gesellschaftlichen
Gesetze nur zurückzuführen war auf ...«

Er schwieg, denn er verschmähte es, sich zu rechtfertigen.

»Fühlen Sie in diesem Augenblick,« fragte der General, ihn
unterbrechend, »keine Reue über die neuen Mordtaten, die Sie unter
meinen Augen begangen haben?«

»Wir hatten keine Lebensmittel mehr,« antwortete der Korsar ruhig.

»Aber dann konnten Sie diese Leute in einem Boot die Küste erreichen
lassen --«

»So hätten sie uns ein Kriegsschiff auf den Hals gehetzt, das uns den
Rückweg abgeschnitten hätte, und wir würden nicht nach Chile entkommen
können.«

»Ehe diese Leute von Frankreich aus die spanische Admiralität
benachrichtigten, konnten Sie längst ...«

»Schon in Frankreich könnte man Anstoß daran nehmen, daß ein Mann, der
noch vom Gericht gesucht wird, sich einer Brigg bemächtigt hat, deren
Fracht Einwohnern von Bordeaux gehörte. Übrigens, haben Sie auf dem
Schlachtfelde nicht auch manchmal ein paar Kanonenschüsse zu viel
abgefeuert?«

Wiederum eingeschüchtert durch den Blick des Korsaren, schwieg der
General, und seine Tochter betrachtete ihn mit einer Miene, die in
gleichem Maße Triumph wie Betrübnis ausdrückte.

»General,« sagte der Korsar mit tiefer Stimme, »ich habe es mir zum
Gesetz gemacht, niemals etwas von der Beute beiseite zu bringen. Aber
ohne Zweifel ist mein Anteil an dem gesamten Gewinn beträchtlicher, als
Ihr Vermögen gewesen ist. Erlauben Sie mir, es Ihnen in anderm Gelde
zurückzuerstatten --«

Er nahm aus dem Kasten des Pianos ein Pack Banknoten, zählte die Scheine
nicht erst und legte etwa eine Million in die Hände des Generals.

»Sie begreifen,« fuhr er fort, »ich habe kein Verlangen, mir die
Müßiggänger auf den Straßen von Bordeaux anzusehen. Andererseits soll
aber auch durch die reizvollen Gefahren unsers Zigeunerlebens, durch die
Szenerie des südlichen Amerika, durch unsere tropischen Nächte, durch
unsere Schlachten und durch das Vergnügen, die Flagge einer jungen
Nation oder eines Simon Bolivar zum Siege zu führen, Ihre
Vaterlandsliebe nicht zum Wanken gebracht werden. Wir müssen uns also
trennen. Eine Schaluppe und zuverlässige Leute werden Sie begleiten.
Hoffen wir auf ein drittes und dann glücklicheres Zusammentreffen.«

»Victor, ich möchte noch einen Augenblick mit meinem Vater sprechen,«
sagte Helene in schmollendem Tone.

»In zehn Minuten kann uns eine französische Fregatte auf den Fersen
sein. Doch, mir soll's recht sein! Wir werden ein Tänzchen aufführen.
Meine Leute --«

»O, gehen Sie, mein Vater!« rief die Frau des Seemanns, »und bringen Sie
meiner Schwester, meinen Brüdern und -- und meiner Mutter,« setze sie
hinzu, »diese Pfänder des Andenkens.«

Sie nahm eine Handvoll kostbarer Steine, Halsbänder und Schmucksachen,
wickelte sie in einen Kaschmirschal und bot sie schüchtern dem Vater an.

»Was soll ich ihnen von dir sagen?« fragte er und schien betroffen, daß
seine Tochter so auffällig gestockt hatte, ehe sie das Wort Mutter
aussprach.

»O, können Sie an meiner Seele zweifeln? Ich bete täglich um Ihrer aller
Glück.«

»Helene,« antwortete der Greis und sah sie aufmerksam an, »soll ich dich
nicht mehr wiedersehen? Werde ich niemals den wahren Beweggrund deiner
Flucht erfahren?«

»Dieses Geheimnis gehört nicht mir,« sagte sie in ernstem Tone. »Und
hätte ich das Recht, es Ihnen mitzuteilen, so würde ich es vielleicht
dennoch nicht sagen. Ich habe zehn Jahre lang unerhörtes Unrecht
erlitten ...«

Sie sprach nicht weiter und streckte dem Vater die Kostbarkeiten hin,
die sie für ihre Angehörigen bestimmt hatte. Der General war vom Kriege
her gewöhnt, im Punkte der sogenannten Beute ein weites Gewissen zu
haben, und nahm die Geschenke an, die die Tochter ihm bot. Er dachte bei
sich, daß unter der Einwirkung einer so reinen und erhabenen Seele, wie
Helene sie besaß, der Pariser Kapitän ein ehrlicher Mensch bleiben und
sich darauf beschränken würde, gegen die Spanier zu kämpfen.

Er ließ sich daher von seiner alten Vorliebe für alle Tapferkeit
hinreißen. Überdies, dachte er sich, wäre es auch lächerlich gewesen,
sich zugeknöpft zu verhalten; er drückte somit dem Korsaren kraftvoll
die Hand, küßte seine Helene, seine einzige Tochter, mit der den
Soldaten eigenen Herzhaftigkeit und ließ eine Träne auf das Gesicht
fallen, dessen stolzer, fast mannhafter Ausdruck ihm mehr als einmal
zugelächelt hatte.

Der Seemann hielt ihm gerührt seine Kinder hin, daß er sie segne.
Endlich sagten sie sich alle mit einem letzten, langen Blick voll
Zärtlichkeit Lebewohl.

»Seid allzeit glücklich!« rief der General und eilte aufs Verdeck.

Auf der See bot sich dem General ein seltsames Schauspiel. Der in Brand
gesteckte »Sankt Ferdinand« loderte wie ein riesiges Strohfeuer. Die
Matrosen, die damit beauftragt worden waren, die spanische Brigg zu
versenken, hatten an Bord eine Ladung von Rum entdeckt, davon man auf
dem »Othello« reichlichen Vorrat führte, und sie fanden es nun spaßhaft,
mitten auf dem Meer eine große Punschbowle anzuzünden.

Für Leute, die die anscheinende Eintönigkeit des Ozeans alle
Gelegenheiten ergreifen ließ, um eine Abwechslung in ihr Leben zu
bringen, war das eine verzeihliche Zerstreuung. Als der General von der
Brigg in die Schaluppe des »Sankt Ferdinand« stieg, die mit sechs
kräftigen Matrosen bemannt wurde, war seine Aufmerksamkeit unwillkürlich
zwischen dem Brande des spanischen Schiffs und seiner Tochter geteilt,
die an der Seite des Korsaren stand. Beide waren auf das Heck ihres
Fahrzeugs getreten.

Bestürmt von einem Heere von Erinnerungen, sah er nun das weiße Kleid
Helenens leicht wie ein Schleier im Winde wehen, sah gegen den
Hintergrund von Meer und Himmel diese schöne, hehre Gestalt, die ihre
ganze Umgebung, ja die weite Flut selbst zu beherrschen schien -- und da
vergaß er mit der Sorglosigkeit eines alten Soldaten, der über Berge von
Leichen geritten war, daß er auf dem Grabe des wackeren Gomez schwamm.

Über ihm erhob sich eine ungeheure Rauchsäule, wie eine braune Wolke,
und die Sonne durchdrang sie hier und dort und erleuchtete sie in
poetischem Schimmer. Es war ein zweiter Himmel, ein finsterer Dom, unter
dem es zuckte und glühte und über den sich der unabänderliche Azur des
Firmaments wölbte, das durch diese flüchtige Gegenüberstellung nur noch
tausendmal schöner erschien.

Die bizarren Farben dieses Rauchs, abwechselnd gelb, goldig, rot,
schwarz, dunstig durcheinander gemischt, überzogen das Schiff; es
knisterte, krachte und kreischte. Die Flamme zischte, das Tauwerk
zerfressend, und lief in dem Fahrzeug herum, wie ein Volksaufstand durch
die Straßen einer Stadt läuft.

Der Rum erzeugte blaue Flammen, die auf und nieder tanzten, als wenn der
Genius des Meers diesen rasenden Likör angesteckt hätte, gerade wie die
Hand eines Studenten bei einer Zecherei das lustige Feuerwerk eines
Punsches spielen läßt. Allein die Sonne mit ihrer noch gewaltigen
Leuchtkraft, eifersüchtig auf diesen dreist auflodernden Schein, ließ in
ihren hellen Strahlen kaum das Farbenspiel dieses Brandes erkennen.

Der »Othello« benützte, um sich zu entfernen, den geringen Wind, den er
auf seinem neuen Kurse auffangen konnte, und neigte sich bald nach der
einen, bald nach der andern Seite, wie ein Papierdrache, der in den
Lüften schaukelt.

Die schöne Brigg nahm geradeswegs Kurs nach Süden, und bald verschwand
sie den Blicken des Generals im phantastischen Schatten von Wolken, bald
zeigte sie sich wieder, anmutig über die Flut dahingleitend.

Jedesmal, wenn Helene ihren Vater sehen konnte, winkte sie mit dem
Taschentuche noch einen Gruß herüber. Binnen kurzem versank der »Sankt
Ferdinand« und rief einen Strudel hervor, der sich aber bald auf der
weiten Meeresfläche verlaufen hatte. Von der ganzen Szene war nun nichts
mehr zu sehen, als eine Rauchwolke, die vom Winde hinweggetragen wurde.
Der »Othello« war schon fern. Die Schaluppe näherte sich dem Lande, und
die Wolke schob sich zwischen das kleine Fahrzeug und die Brigg. Zum
letztenmal sah der General seine Tochter durch eine Spalte, die der Wind
in den schwimmenden Rauch riß.

Eine prophetische Vision! Das weiße Taschentuch und das weiße Kleid
allein hoben sich gegen diesen dunkeln Hintergrund ab. Zwischen dem
grünen Wasser und dem blauen Himmel war die Brigg selbst nicht mehr zu
sehen. Helene war nur noch ein kaum erkenntlicher Punkt, eine zarte, von
allem andern losgelöste Linie, ein Engel im Himmel, eine Idee, eine
Erinnerung.

                   *       *       *       *       *

Nachdem der Marquis den Reichtum seiner Familie wiederherstellt hatte,
starb er, von den großen Anstrengungen der letzten Jahre aufgerieben.
Wenige Jahre nach seinem Tode mußte die Marquise mit Moina in ein Bad
der Pyrenäen fahren. Das launenhafte Kind wollte die Schönheiten dieser
Berge kennen lernen. Als sie von einem Ausflug ins Gebirge nach dem
Bade zurückkehrten, trug sich folgende Szene zu:

»Mein Gott,« sagte Moina, »wir sind töricht gewesen, Mama, daß wir nicht
noch ein paar Tage länger in den Bergen geblieben sind. Wir wären dort
besser aufgehoben gewesen als hier. Hast du das fortgesetzte Jammern
dieses verwünschten Kindes und das Geplärr dieser unglücklichen Frau
gehört, die ohne Zweifel lauter Kauderwelsch zusammenredet, denn ich
habe noch kein Wort von dem, was sie sagt, verstanden. Was für eine
Sorte Menschen hat man uns da zu Nachbarn gegeben? Diese Nacht war eine
der schrecklichsten, die ich in meinem Leben zugebracht habe!«

»Ich habe nichts gehört,« antwortete die Marquise, »aber ich werde die
Wirtin aufsuchen, mein liebes Kind, und mir die Stube nebenan ausbitten.
Dort werden wir ungestört sein und keinen Lärm mehr hören. Wie fühlst du
dich heute morgen? Bist du abgespannt?«

Bei diesen Worten war die Marquise aufgestanden, um an Moinas Bett zu
treten.

»Laß sehen,« sagte sie zu ihr und suchte nach der Hand der Tochter.

»O, laß mich, Mutter,« antwortete Moina, »du bist kalt.«

Indem sie so sprach, drehte sie sich schmollend auf dem Kopfkissen
herum, aber die Bewegung war trotzdem so anmutig, daß eine Mutter sich
nicht wohl dadurch gekränkt fühlen konnte. In diesem Augenblick erscholl
in dem Nachbarzimmer ein Klagelaut, so langgezogen und innig, daß ein
Frauenherz davon tief gerührt werden mußte.

»Aber wenn du das die ganze Nacht mitangehört hast, warum hast du mich
dann nicht geweckt? Wir hätten -- --«

Jetzt unterbrach ein lautes Stöhnen die Marquise, und sie rief:

»Da stirbt jemand.«

Und sie ging rasch hinaus.

»Schicke mir Pauline,« rief Moina, »ich will mich anziehen.«

Die Marquise ging sogleich hinunter und fand die Wirtin im Hofe,
zwischen mehreren Leuten, die ihr aufmerksam zuzuhören schienen.

»Frau Wirtin, Sie haben jemand neben uns einquartiert, und diese Person
scheint sehr viel zu leiden --«

»Ach, sprechen Sie nicht davon!« rief die Wirtin. »Ich habe eben nach
dem Bürgermeister geschickt. Stellen Sie sich nur vor, es ist eine Frau,
eine arme Unglückliche, die gestern abend zu Fuß angekommen ist, von
Spanien her. Sie hat keinen Paß und kein Geld. Sie trug auf dem Rücken
ein kleines Kind, das im Sterben ist. Ich konnte mir nicht versagen, sie
hier aufzunehmen. Heute morgen bin ich selbst zu ihr gegangen; denn
gestern bei ihrer Ankunft war mir's nicht so recht geheuer. Die arme
kleine Frau! Sie hatte sich mit ihrem Kinde hingelegt, und beide rangen
mit dem Tode. >Frau<, sagte sie zu mir und zog einen goldenen Ring vom
Finger, >ich besitze nichts mehr als das, nehmen Sie ihn, um sich
bezahlt zu machen. Er wird dafür ausreichen, denn mein Aufenthalt hier
wird nicht lange währen. Armes Kleinchen, wir werden zusammen sterben.<
-- Damit meinte sie ihr Kind. Ich habe ihren Ring genommen und sie
gefragt, wer sie sei. Aber sie wollte mir um keinen Preis ihren Namen
sagen. Ich habe nun nach dem Arzt und dem Bürgermeister geschickt.«

»Aber,« rief die Marquise, »lassen Sie ihr alle Hilfe angedeihen, die
ihr vonnöten ist! Mein Gott, vielleicht ist's noch Zeit, sie zu retten.
Ich werde Ihnen alles bezahlen, was die Sache kostet.«

»Ach, Madame, sie scheint recht stolz zu sein, und ich weiß nicht, ob
sie das annehmen wird.«

»Ich werde sie aufsuchen.«

Sogleich stieg die Marquise zu der Unbekannten hinauf. Sie dachte nicht
daran, wie sehr sie noch das Leid der schon im Sterben Liegenden
vermehren sollte; denn Frau d'Aiglemont ging noch in Trauer. Die
Marquise erbleichte beim Anblick der Unglücklichen. Trotz der
schrecklichen Leiden, die Helenens Schönheit entstellt hatten, erkannte
sie ihre ältere Tochter.

Als Helene eine schwarz gekleidete Frau erblickte, richtete sie sich
auf, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank auf ihr Bett zurück
-- sie sah in dieser Frau ihre Mutter vor sich.

»Meine Tochter,« sagte Frau d'Aiglemont, »was fehlt Ihnen? -- Pauline!
Moina!«

»Nichts fehlt mir,« antwortete Helene mit schwacher Stimme. »Ich hoffte,
meinen Vater wiederzusehen. Doch Ihre Trauer verkündet mir --«

Sie beendete den Satz nicht, drückte ihr Kind ans Herz, wie um es zu
wärmen, küßte es auf die Stirn und warf ihrer Mutter einen Blick zu, der
noch immer, wenn auch gemildert durch Verzeihung, einen Vorwurf
ausdrückte. Die Marquise wollte diesen Vorwurf nicht sehen; sie vergaß,
daß Helene ein einstmals in der Zeit der Tränen und der Verzweiflung
empfangenes Kind war, das Kind der Pflicht, ein Kind, das die Ursache
ihres größten Unglücks, ihrer schwersten Leiden gewesen war; und sie
trat sanft auf die ältere Tochter zu, an nichts mehr denkend, als daß
sie Helenen zuerst die Wonne der Mutterschaft verdankt hatte. Die Augen
der Mutter waren voll von Tränen, und ihre Tochter küssend, rief sie:

»Helene, meine Tochter!«

Helene schwieg. Sie hatte auf den Seufzer ihres Kindes gelauscht.

In diesem Augenblick traten Moina, ihre Kammerfrau Pauline, die Wirtin
und ein Arzt ein. Die Marquise hielt die eisige Hand ihrer Tochter in
den ihren und sah sie mit aufrichtiger Verzweiflung an. In wildem Grimme
über das Unglück -- denn die Witwe des Seemanns war einem Schiffbruch
entronnen und hatte daraus von ihrer ganzen schönen Familie nichts als
ein Kind gerettet -- sagte sie in furchtbarem Tone zu ihrer Mutter:

»Dies alles ist Ihr Werk! Wenn Sie mir das gewesen wären, was --«

»Moina, geh' hinaus -- gehen Sie alle hinaus!« rief Frau d'Aiglemont,
Helenens Stimme überschreiend. »Um Gottes willen, meine Tochter,« fuhr
sie fort, »lassen Sie uns in diesem Augenblick nicht den unglücklichen
Kampf von neuem beginnen ...«

»Ich werde schweigen,« antwortete Helene mit einer übernatürlichen
Anstrengung. »Ich bin selbst Mutter und weiß, Moina darf nicht -- wo ist
mein Kind?«

Moina, von Neugierde getrieben, kehrte zurück.

»Meine Schwester,« sagte dieses verzogene Kind, »der Arzt ...«

»Alles ist unnütz,« antwortete Helene. »Ach, warum bin ich nicht mit
sechzehn Jahren gestorben, als ich mir das Leben nehmen wollte? Das
Glück ist niemals außerhalb der Gesetze zu finden -- Moina -- du --«

Sie starb -- ihr Kopf sank über den des Kindes hernieder, das sie
krampfhaft an sich gepreßt hatte.

»Deine Schwester hat dir ohne Zweifel sagen wollen, Moina,« sagte Madame
d'Aiglemont, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, wo sie in Tränen
zerfloß, »daß ein Mädchen niemals das Glück in einem romantischen
Dasein, außerhalb der einmal gültigen und ihr eingeprägten Begriffe, und
vor allem nicht fern von der Mutter finden kann.«




6. Kapitel.

Eine schuldige Mutter im Alter.


An einem der ersten Tage des Juni 1848 erging sich eine Dame von etwa
fünfzig Jahren, die jedoch noch älter aussah, als es ihrem eigentlichen
Alter entsprochen hätte, im Mittagsonnenschein auf einer Allee im Garten
eines großen in der Rue Plumet zu Paris gelegenen Hauses. Nachdem sie
ein paarmal auf dem leicht gewundenen Pfade hin und her gewandelt war,
den sie nicht verließ, um die Fenster eines Zimmers, die ihre ganze
Aufmerksamkeit zu beanspruchen schienen, nicht aus den Augen zu
verlieren, setzte sie sich auf einen jener halb ländlichen Stühle, die
man aus den noch mit der Rinde versehenen Ästen junger Bäume anfertigt.
Von diesem Platze aus konnte die Dame durch eines der in die
Umfassungsmauern eingefügten Gittertore sowohl die inneren Boulevards,
in deren Mitte der prachtvolle Invalidendom seine goldene Kuppel über
die Wipfel unzähliger Ulmen emporreckt -- ein herrliches Landschaftsbild
-- wie auch den weniger großartigen Anblick ihres Gartens genießen, der
durch die graue Fassade eines der schönsten Häuser von ganz Faubourg
Saint-Germain begrenzt wurde.

Dort war noch alles still, in den Nachbargärten, auf den Boulevards und
an der Kirche; denn in diesem vornehmen Viertel beginnt der Tag kaum
gegen Mittag. Wenn nicht etwas besonderes vorliegt, wenn nicht gerade
mal eine junge Dame ausreiten will oder ein alter Diplomat ein Protokoll
aufzunehmen hat, schläft dort um diese Stunde noch alles, Herren und
Diener, oder man steht höchstens eben erst auf.

Die so früh schon wache Dame war die Marquise d'Aiglemont, die Mutter
der Frau de Saint-Héreen, der dieses schöne Haus gehörte. Die Marquise
hatte es an die Tochter abgetreten, der sie ihr ganzes Vermögen
geschenkt hatte. Für sich selbst hatte sie nur eine kleine
lebenslängliche Rente zurückbehalten. Die Komtesse Moina de Saint-Héreen
war das letzte Kind, das der Frau d'Aiglemont verblieben war. Um die
Heirat mit dem Erben eines der berühmtesten und vornehmsten Häuser von
Frankreich zu ermöglichen, hatte die Marquise alles geopfert. Auch war
nichts natürlicher. Sie hatte nacheinander zwei Söhne verloren. Der
eine, Gustav Marquis d'Aiglemont, war an der Cholera gestorben; der
andere, Abel, war vor Constantine[2] gefallen. Gustav hinterließ Kinder
und eine Witwe. Aber die an sich schon laue Zuneigung, die Frau
d'Aiglemont für ihre Söhne gehabt hatte, schwächte, auf ihre Enkel
übergehend, natürlich noch mehr ab. Sie benahm sich freundlich gegen
Madame d'Aiglemont die Jüngere, aber sie hielt sich in den Grenzen des
oberflächlichen Gefühls, die der gute Ton und das Herkommen im Verkehr
mit Verwandten vorschreiben.

[2] Stadt in Algerien, die am 13. Oktober 1837 von Marschall Balée
erobert wurde.

Da die Vermögensverhältnisse der beiden nun toten Söhne vollständig
geregelt gewesen waren, so hatte sie ihre Ersparnisse und ihren eigenen
Besitz ungeschmälert ihrer teuern Moina überweisen können.

Moina, seit ihrer Kindheit eine entzückende Schönheit, war allzeit für
Frau d'Aiglemont der Gegenstand einer mit der Geburt entstandenen oder
unwillkürlichen Bevorzugung gewesen, wie man sie bei Familienmüttern oft
findet: eine bedenkliche Sympathie, die manchem unerklärlich scheint,
die aber der Menschenkenner sich oft nur zu gut erklären kann. Das
reizende Gesicht Moinas, die Stimme dieses Nesthäkchens, ihr Benehmen,
ihre Haltung, ihre Gebärden, ihr Mienenspiel: alles an ihr erweckte bei
der Marquise die tiefsten Gefühle, die überhaupt das Herz einer Mutter
bewegen, beunruhigen oder erfreuen können. Ihr Leben von heute, ihr
Leben von morgen und ihr vergangenes Leben wurzelte nun ganz im Herzen
dieser jungen Frau, in das sie alles gelegt hatte, was es für sie noch
an Reizen und Werten auf dieser Welt gab.

Moina war ja zum Glück allein noch von vier Kindern, die älter gewesen
waren als sie, am Leben geblieben. Madame d'Aiglemont hatte, wie man
sich in der Gesellschaft erzählte, auf höchst tragische Weise eine
bildschöne Tochter verloren, deren Schicksal fast unbekannt geblieben
war, und einen kleinen Jungen, der im Alter von fünf Jahren verunglückt
war. Die Marquise erblickte ohne Zweifel einen Fingerzeig des Himmels
in der Güte, die das Schicksal der Tochter ihres Herzens zu erzeigen
schien, und bewahrte ihren vom launischen Tode schon hinweggerafften
Kindern nur ein schwaches Erinnern. Sie ruhten in ihrem Herzen, etwa wie
die Toten eines Schlachtfelds unter den flachen Hügeln, die die
wuchernden Blumen des Feldes schon fast ganz unsichtbar gemacht haben.

Die Welt hätte die Marquise wegen dieser Gleichgültigkeit und
Bevorzugung streng zur Rechenschaft ziehen können; aber die Welt von
Paris wird von einem solchen Strom von Ereignissen, Moden und neuen
Ideen hinweggerissen, daß das ganze Leben der Frau d'Aiglemont schon in
Vergessenheit geraten sein mußte. Niemand dachte daran, ihr ein kaltes
Benehmen, ein Vergessen zur Missetat anzurechnen, denn daran war niemand
etwas gelegen, während ihre große Zärtlichkeit gegen Moina sehr viele
Leute interessierte und alles das für sich hatte, was uns ein blindes
Vorurteil unantastbar macht.

Auch ging die Marquise wenig in Gesellschaft; den meisten Familien, die
sie kannten, galt sie für fromm, gut und nachsichtig. Um über diesen
äußern Schein hinaus, mit dem sich die Gesellschaft begnügt, in jemandes
Wesen einzudringen, muß ja schon eine ausnahmsweise lebhafte Teilnahme
vorhanden sein. Und was verzeiht man nicht alten Leuten, die nur noch
ein Schatten zu sein scheinen und nichts weiter sein wollen als eine
Erinnerung? Kurz, Frau d'Aiglemont war ein Vorbild, auf das die Kinder
wohlgefällig ihre Väter, die Schwiegersöhne ihre Schwiegermütter
hinwiesen. Sie hatte vor der Zeit schon Moina all ihren Besitz
abgetreten, ließ sich an dem Glück der jungen Komtesse genügen und lebte
nur für sie.

Wenn vorsichtige alte Leute oder griesgrämige Onkel dieses Verhalten mit
den Worten tadelten: »Madame d'Aiglemont wird es vielleicht eines Tages
noch bereuen, zugunsten ihrer Tochter ihr Vermögen weggegeben zu haben;
denn wenn sie auch das Herz der Frau de Saint-Héreen genau kennt, kann
sie auch auf die Anständigkeit ihres Schwiegersohns ebenso bestimmt
rechnen?« Dann erhob sich gegen diese Propheten ein allgemeiner
Aufstand, und von allen Seiten regnete es Lobreden auf Moina.

»Man muß es bei Madame Saint-Héreen anerkennen,« sagte eine junge Frau,
»sie sorgt dafür, daß die Mutter in der alten Umgebung und den alten
Gewohnheiten weiterlebt. Madame d'Aiglemont ist wunderbar eingerichtet,
hat einen Wagen, der ihr ganz allein zur Verfügung steht, und kann wie
zuvor überall hingehen.«

»Bloß nicht in die Italienische Oper,« antwortete leise ein alter
Schmarotzer, einer jener Menschen, die sich für befugt halten, ihren
Freunden unter dem Vorwande, sich als unabhängig hinzustellen, allerlei
Schmähreden über andere aufzutischen. »Die alte Dame schwärmt nur noch
für Musik und spielt ihrem verhätschelten Kinde schnurrige Sachen vor.
Sie war seinerzeit doch so hervorragend musikalisch. Aber da die Loge
der jungen Komtesse immer von jungen Schmetterlingen umgaukelt ist und
die Alte das kleine Dämchen stören würde, die man schon eine große
Kokette nennt, so geht die arme Mama nie mehr in die Italienische Oper.«

»Madame de Saint-Héreen,« sagte ein heiratsfähiges Mädchen,
»veranstaltet für ihre Mutter prachtvolle Soiréen und hält einen Salon,
wo ganz Paris verkehrt.«

»Und kein Mensch sich um die Marquise kümmert,« setzte der Parasit
hinzu.

»Tatsache ist, daß Madame d'Aiglemont nie allein ist,« bemerkte ein
Geck, um den jungen Damen das Wort zu reden.

»Am Morgen,« antwortete der alte Menschenkenner mit leiser Stimme,
»schläft die teure Moina. Um vier Uhr ist die teure Moina auf der
Ausfahrt. Am Abend geht die teure Moina zu Balle oder ins Theater. Aber
freilich, Madame d'Aiglemont kann die teure Moina sehen, wenn sie
Toilette macht, oder während des Diners, wenn die teure Moina zufällig
einmal mit ihrer Mutter speist. Vor etwa acht Tagen, mein Herr,« sagte
der alte Schmarotzer und nahm den Arm eines schüchternen Lehrers, eines
Neulings in dem Hause, wo man sich eben befand, »sah ich diese traurige,
einsame Mutter an ihrem Kamin. >Was haben Sie?< fragte ich sie. Die
Marquise sah mich lächelnd an, aber sie hatte sicherlich geweint.
>Ich dachte so bei mir,< sagte sie zu mir, >es sei doch recht seltsam,
daß ich nun so allein bin, nachdem ich fünf Kinder gehabt habe.
Doch das ist unser Los. Und ich bin ja auch glücklich, wenn ich nur weiß,
daß Moina sich vergnügt.< Sie konnte sich mir anvertrauen, denn ich habe
seinerzeit ihren Mann sehr gut gekannt. Das war ein armer Kerl, und es war
ein Glück für ihn, daß er sie zur Frau bekam, er hat ihr sicherlich seine
Pairswürde und seine Stellung am Hofe Karls X. verdankt.«

Aber in das Geschwätz der Welt schleichen sich so viele Irrtümer ein, es
entstehen leicht so tiefgehende Fehler, daß der Sittenchronist
verpflichtet ist, die sorglos von so vielen Sorglosen hingeworfenen
Behauptungen klug abzuwägen. Man darf es vielleicht nie aussprechen, wer
unrecht habe, das Kind oder die Mutter. Zwischen zwei solchen Herzen
gibt es nur einen Richter -- und dieser Richter ist Gott! Gott verlegt
oft seine Rache in den Schoß von Familien und bedient sich in Ewigkeit
der Kinder gegen die Mütter, der Väter gegen die Söhne, der Völker gegen
die Könige, der Fürsten gegen die Nationen -- kurz, er spielt alles
gegen alles aus, ersetzt in der geistigen Welt Gefühle durch Gefühle,
wie die jungen Blätter im Frühling an die Stelle der alten treten,
handelt nach einer unabänderlichen Ordnung und strebt in allem nur einem
ihm allein bekannten Ziele zu. Ohne Zweifel geht ein jedes Ding in
seinen Schoß oder, besser gesagt, kehrt dorthin zurück.

Diese religiösen Gedanken, den Herzen alter Leute so natürlich, zogen
vereinzelt durch Madame d'Aiglemonts Seele; sie lagen dort noch halb im
Schatten, bald tief auf dem Grunde, bald vollständig entfaltet, wie
Blumen, die während eines Sturmes an die Oberfläche des Wassers
gestiegen sind. Sie hatte sich hingesetzt, ermüdet, geschwächt von einem
langen Grübeln, einer jener Träumereien, die das ganze Leben noch einmal
heraufbeschwören und vor den Augen des von Todesahnung heimgesuchten
Menschen vorbeiziehen lassen.

Diese vor der Zeit gealterte Frau wäre für einen auf dem Boulevard
vorbeigehenden Dichter eine merkwürdige Erscheinung gewesen. Wenn man
sie im feinen Schatten einer Akazie sitzen sah -- in einem
Akazienschatten zur Mittagszeit -- so hätte alle Welt eins der tausend
Dinge lesen können, die auf diesem Gesicht geschrieben standen, das
selbst inmitten der warmen Sonnenstrahlen kalt und blaß blieb. Ihr
ausdrucksvolles Gesicht drückte noch etwas Schwereres und Herberes aus,
als nur das Bewußtsein zur Neige gehenden Lebens, noch etwas Tieferes,
als ein von Prüfungen ermattetes Gemüt. Sie war eine jener Typen, die
unter Tausenden von unbeachteten, weil charakterlosen Physiognomien uns
stutzig machen und nachdenklich stimmen, ebenso wie man zwischen den
tausend Gemälden eines Museums gewaltig gefesselt wird durch den
erhabenen Kopf, auf dem Murillo den Mutterschmerz gemalt hat, oder durch
das Gesicht der Beatrice Cenci, wo Guido über der Tiefe des
verbrecherischsten Gemüts die rührendste Unschuld darstellt, oder durch
das finstere Antlitz Philipps II., auf dem Velasquez für immer den
majestätischen und abschreckenden Ausdruck der königlichen Würde
festgehalten hat. Gewisse Menschengesichter sind despotische Bildnisse,
die zu uns sprechen, in uns dringen, auf unsere geheimsten Gedanken
antworten, ja zu vollkommenen Gedichten werden. Das eisige Antlitz der
Madame d'Aiglemont war eine jener furchtbaren Poesien, eins jener
Gesichter, die zu Tausenden in der »Divina Comedia« des Dante Alighieri
auftauchen.

Während der raschen Blütezeit der Frau, eignen sich die Züge ihrer
Schönheit wunderbar zu der Verstellung, die ihre natürliche Schwäche und
unsere sozialen Gesetze ihr aufnötigen. Unter dem reichen Kolorit ihres
frischen Gesichts, dem Feuer ihrer Augen, dem anmutigen Gewebe ihrer so
zarten Züge, so vielfältiger gerader oder gebogener, doch reiner Linien,
die ihr alle vollkommen zu Gebote stehen, können alle ihre Regungen
geheim bleiben. Wenn die Röte die an sich schon lebhafte Farbe erhöht,
so verrät sie dann noch gar nichts; alles innere Feuer mischt sich dann
noch so gut in den Glanz dieser lebensvoll strahlenden Augen, daß die
flüchtige Flamme eines Unglücks dort nur als ein Reiz mehr in
Erscheinung tritt.

Nichts ist so verschwiegen, wie ein junges Gesicht, weil nichts
unbeweglicher ist. Das Gesicht einer jungen Frau hat die Ruhe, die
Glätte, die Frische, die die Oberfläche eines Sees zeigt. Der
charakteristische Ausdruck fängt bei den Frauen erst mit dreißig Jahren
an. Bis dahin findet der Maler in ihren Gesichtern nur Rosa und Weiß,
das Lächeln und den Ausdruck, dem immer wieder ein und derselbe Gedanke
zugrunde liegt, ein allgemeiner Gedanke ohne Tiefe, nämlich das
Bewußtsein der Jugend und der Liebe. Aber im Alter hat alles bei der
Frau seine Rolle gespielt, die Leidenschaften haben sich auf ihrem
Gesicht eingeprägt, sie ist Liebende, Gattin, Mutter gewesen; die
heftigsten Ausdrücke der Freude und des Schmerzes haben ihre Züge
entstellt und tausend Furchen gegraben, die alle eine Sprache reden.
Dann wird ein Frauenkopf entweder erhaben in seiner Schreckhaftigkeit,
schön in seiner Schwermut oder großartig in seiner Ruhe. Wenn es erlaubt
ist, dieses sonderbare Gleichnis weiterzuspinnen, so könnte man sagen,
der ausgetrocknete See ließe dann die Spuren aller Bäche erkennen, die
ihn gebildet hatten. Ein Frauenkopf gehört dann weder der Gesellschaft,
die in ihrer Frivolität zurückschreckt vor dem Abbilde der vernichtenden
Wirkung, die die geliebten und gewöhnlichen Begriffe von Eleganz und
Lebensfreude dort ausgeübt haben, noch gehört er den Alltagskünstlern
an, die darin nichts entdecken -- er gehört den wahren Poeten, denn sie
allein würdigen und erkennen das Schöne unabhängig von dem Herkommen und
dem Vorurteil, welchem beiden allein gar vieles seinen Ruf des Schönen
und Künstlerischen verdankt.

Obwohl Madame d'Aiglemont einen modernen Hut trug, war doch leicht zu
erkennen, daß ihr einstmals schwarzes Haar infolge heftiger Aufregungen
weiß geworden war. Aber die Art, wie sie es scheitelte, verriet ihren
guten Geschmack, bekundete die anmutigen Gewohnheiten der vornehmen Dame
und umrahmte wirksam die welke, gefurchte Stirn, die noch immer Spuren
ihres ehemaligen Glanzes aufwies.

Der Gesichtsschnitt, die Regelmäßigkeit der Züge gaben noch heute einen
allerdings nur schwachen Begriff von der großen Schönheit, auf die sie
einmal hatte stolz sein dürfen; aber noch besser erkannte man daran, wie
tief und furchtbar die Schmerzen gewesen sein mußten, da sie dieses
Gesicht, diese Schläfen, diese Wangen hohl gemacht und die Augen ihrer
Wimpern beraubt hatten, die den Blick so anmutig machen.

An dieser Frau war alles Schweigen; ihr Gang und ihre Bewegungen hatten
die ernste, gefaßte Langsamkeit, die immer Ehrfurcht erweckt. Ihre
Bescheidenheit, fast zur Schüchternheit geworden, schien die Folge der
Gewohnheit, die sie seit einigen Jahren hatte: vor ihrer Tochter in den
Hintergrund zu treten. Sie sprach sehr selten und sehr sanft, wie alle
Leute, die viel nachdenken, sich sammeln und gezwungen sind, für sich
selbst zu leben.

Dieses Benehmen erweckte ein unerklärliches Gefühl, das weder Furcht
noch Mitleid war, in das sich aber geheimnisvoll alle Ideen mischten,
welche diese einander so entgegengesetzten Regungen auslösen. Die Natur
ihrer Furchen, die Art, wie ihr Gesicht sich in Falten gelegt hatte, die
Fahlheit ihres Blicks -- das alles zeugte dafür, daß sie jene Tränen
geweint hatte, die, vom Herzen aufgezehrt, nie zur Erde fallen. Ein
Unglücklicher, der gewöhnt war, zum Himmel hinaufzuschauen, um ihn in
den Unbilden seines Daseins anzurufen, hätte leicht in den Augen dieser
Mutter gelesen, daß ein grausames Los es ihr zur Gewohnheit gemacht
hatte, jede Stunde des Tages zu beten, hätte auch die geheimen Spuren
des seelischen Meltaus entdeckt, der alle Blüten des Gemüts, bis hinab
auf das Gefühl der Mutterschaft, vernichtet.

Maler haben wohl Farbe für solche Porträts; aber Gedanken und Worte sind
nicht imstande, sie getreu zu zeichnen. Es findet sich in den Tönen der
Haut und im ganzen Gepräge des Gesichts manches unerklärliche Phänomen,
das, vom Auge gesehen, sogleich zur Seele dringt; aber wenn der Dichter
eine so furchtbare Veränderung des Gesichtsausdrucks begreiflich machen
will, so steht ihm kein anderes Mittel zur Verfügung, als die Ereignisse
zu berichten, auf die sie zurückzuführen ist. Dieses Gesicht deutete auf
einen Sturm, der sich kalt und in aller Stille abgespielt hatte, auf
einen geheimen Kampf zwischen dem Heroismus des mütterlichen Schmerzes
und der Unbeständigkeit unserer Gefühle, die, wie wir selbst, ihr Ende
finden und nichts Endloses in sich tragen.

Diese unaufhörlich ins Innere der Seele zurückgedrängten Leiden hatten
auf die Dauer dieser Frau etwas seltsam Krankhaftes verliehen. Ohne
Zweifel hatten allzu heftige Erschütterungen das Mutterherz auch
körperlich beeinträchtigt, und eine Krankheit, vielleicht eine
Herzerweiterung, bedrohte langsam ihr Leben, ohne daß Julie sich dessen
bewußt war. Die wahren Schmerzen liegen anscheinend so ruhig in dem
tiefen Bett, das sie sich bereiten -- sie scheinen dort zu schlummern,
aber sie nagen noch immer an der Seele, gleich jener furchtbaren Säure,
die das Kristall zerfrißt.

In diesem Augenblick rannen zwei Tränen an den Wangen der Marquise
hinab, und sie erhob sich, als wenn ein Gedanke, schmerzlicher als alle
anderen, ihr plötzlich weh getan hätte. Sie hatte ohne Zweifel über
Moinas Zukunft nachgedacht. Und indem sie die Schmerzen voraussah, die
ihrer Tochter harrten, fiel ihr alles Unglück des eigenen Lebens wieder
schwer aufs Herz.

Die Lage dieser Mutter wird verständlich sein, sobald wir die ihrer
Tochter dargelegt haben.

Graf Saint-Héreen war vor einem halben Jahre abgereist, um eine
politische Mission zu erfüllen. Moina, die zu aller Eitelkeit der
geliebten Frau noch die Launen des verhätschelten Kindes hinzufügte,
hatte teils aus Leichtsinn, teils zur Befriedigung der tausend
weiblichen Koketterien, und vielleicht auch um deren Macht zu erproben,
während der Abwesenheit ihres Gatten ein Vergnügen daran gefunden, mit
der Leidenschaft eines gewandten, doch herzlosen Mannes zu spielen, denn
wenn dieser auch erklärte, vor Liebe toll zu sein, so war es doch eben
nur jene Liebe, die sich mit all dem kleinlichen gesellschaftlichen
Ehrgeiz des Gecken verträgt. Madame d'Aiglemont, die eine langjährige
Erfahrung gelehrt hatte, das Leben zu kennen, die Männer zu beurteilen,
die Gesellschaft zu fürchten, hatte die fortschreitende Entwickelung
dieser Liebelei beobachtet und ahnte nun den Untergang ihrer Tochter, da
sie sie in die Hände eines Mannes gefallen sah, dem nichts heilig war.

Mußte es nicht für sie das Entsetzlichste sein, einen Wüstling in dem
Manne zu erkennen, dem Moina mit Freuden zugehörte? Ihr geliebtes Kind
befand sich also am Rande eines Abgrunds. Das war für sie eine
fürchterliche Gewißheit, und doch wagte sie nicht, sie zu warnen; denn
sie fürchtete sich vor der Komtesse. Sie wußte im voraus, Moina würde
auf keinen der klugen Ratschläge hören, Julie hatte keine Gewalt über
diese Seele, die ihr gegenüber von Eisen, gegen alle andern aber von
Wachs war.

Ihre Mutterliebe wäre groß genug gewesen, der Tochter ihr Mitleid nicht
zu versagen, wenn eine durch die edlen Eigenschaften des Verführers
gerechtfertigte Leidenschaft ihre Tochter unglücklich gemacht hätte;
allein Moina folgte einer Regung der Gefallsucht, und die Marquise
verachtete den Grafen Alfred de Vandenesse, weil sie wußte, daß er der
Mann dazu war, seinen Kampf mit Moina wie eine Schachpartie zu
behandeln.

Obwohl Graf Alfred de Vandenesse dieser unglücklichen Mutter Abscheu
einflößte, war sie doch gezwungen, die letzten Gründe ihres Widerwillens
in den tiefsten Falten ihres Herzens zu begraben. Sie hatte in engen
Beziehungen zu dem Marquis de Vandenesse, Alfreds Vater, gestanden, und
diese in den Augen der Welt sehr respektable Freundschaft berechtigte
den jungen Mann, mit Madame de Saint-Héreen vertraulich zu verkehren, in
die er von Kind auf »verschossen« gewesen zu sein behauptete.

Auch wenn Frau d'Aiglemont sich entschlossen hätte, zwischen ihre
Tochter und Alfred de Vandenesse ein furchtbares Wort zu schleudern, das
sie hätte trennen können, so wäre es doch umsonst gewesen; sie war
überzeugt, daß es ihr nicht gelungen wäre, sie auseinanderzubringen,
trotz aller Gewalt dieses Wortes, mit dem sie sich außerdem in den Augen
ihrer Tochter entehrt haben würde.

Alfred war zu verderbt, Moina zu geistreich, um an eine solche
Enthüllung zu glauben, und die junge Komtesse würde sie als eine
mütterliche Kriegslist ausgelegt und sich darüber hinweggesetzt haben.
Frau d'Aiglemont hatte ihren Kerker mit eigenen Händen erbaut und sich
darin eingemauert -- nun mußte sie dort sterben und ruhig zuschauen, wie
das schöne Leben Moinas, das ihr Stolz, ihr Glück, ihr Trost geworden
war, ein Dasein, das ihr tausendmal teuerer war als das ihrige, zugrunde
ging. Ein schreckliches, unglaubliches Leiden, für das es keine Worte
gibt! Ein bodenloser Abgrund!

Sie wartete ungeduldig, daß ihre Tochter aufstände, und dennoch
fürchtete sie sich vor ihr, gleich dem Unglücklichen, der, zum Tode
verurteilt, gern mit dem Leben zu Ende sein möchte und doch fröstelt bei
dem Gedanken an den Henker. Die Marquise hatte beschlossen, einen
letzten Versuch zu machen; aber sie hatte wohl weniger Angst vor einem
Fehlschlag, als vielmehr davor, daß ihr Herz eine neue, schmerzliche
Wunde empfangen könnte, die ihr den letzten Rest von Mut rauben würde.

Mit ihrer Mutterliebe war es eben schon so weit gekommen: sie liebte
ihre Tochter und schreckte vor ihr zurück, wie man einen Dolchstoß
fürchtet und ihm dennoch entgegenrennt. Das mütterliche Gefühl ist in
liebenden Herzen so groß, daß eine Mutter, ehe sie zur Gleichgültigkeit
gelangt, sterben oder sich an eine große Kraft, die Religion oder die
Nächstenliebe, anlehnen muß.

Seit die Marquise aufgestanden war, hatte ihr unseliger Geist ihr einen
Teil von diesen Tatsachen vorgehalten, die so unbedeutend zu sein
scheinen, im geistigen Leben aber große Ereignisse bilden. In der Tat
ruft manchmal eine Gebärde ein ganzes Drama hervor, die Betonung eines
Wortes zerreißt ein ganzes Leben, die Gleichgültigkeit eines Blickes
tötet die glücklichste Liebe.

Die Marquise d'Aiglemont hatte leider schon zu viele solche Gebärden
gesehen, zu viele solche Worte gehört, zu viele solche Blicke erhalten,
alles Lieblosigkeiten, die ihre Seele tief schmerzten und bei deren
Erinnerung sie sich keinen Hoffnungen hingeben konnte. Alles das hatte
ihr bewiesen, daß Alfred ihr das Herz der Tochter geraubt hatte, daß das
Kind sich nicht mehr aus Freude daran, sondern nur noch aus Pflicht mit
der Mutter beschäftigte. Tausend ganz unbedeutende Dinge waren ihr ein
Zeugnis für das abscheuliche Verhalten, das die Komtesse sich ihr
gegenüber angewöhnte -- eine Undankbarkeit, die die Marquise vielleicht
als eine Strafe ansah. Um die Handlungsweise ihrer Tochter zu
entschuldigen, faßte sie sie sogar als Willen der Vorsehung auf. Sie
wollte eben noch die Hand anbeten können, die sie schlug.

An diesem Morgen dachte sie an alles, und alles bereitete ihr so tiefes
Herzweh, erfüllte sie mit so großem Kummer, daß der Becher überlaufen
mußte, wenn der geringste Schmerz hinzugefügt wurde. Ein kalter Blick
hätte jetzt der Marquise Tod sein können. Es ist schwer, diese
häuslichen Geschehnisse zu beschreiben, aber einige werden vielleicht
genügen, um alle anzudeuten und zu bezeichnen. So hatte die Marquise,
die etwas schwerhörig geworden war, Moina niemals dazu bewegen können,
lauter zu sprechen, wenn sie mit ihr redete; aber als sie sie mit der
Naivität der Leidenden einmal bat, einen Satz zu wiederholen, den sie
nicht verstanden hatte, so gehorchte die Komtesse wohl, doch mit so
unverhohlenem Unwillen, daß Frau d'Aiglemont ihre bescheidene Bitte nie
mehr wiederholte. Seit diesem Tage trug die Marquise Sorge, nahe an
ihre Tochter heranzurücken, wenn diese etwas erzählte oder plauderte;
aber oft schien die Komtesse sich über die Schwerhörigkeit der Mutter zu
ärgern und machte ihr gar leichtsinnigerweise deshalb Vorwürfe.

Folgendes unter Tausenden herausgerissene Beispiel konnte eben nur ein
Mutterherz merken, alle diese Dinge wären einem Zuschauer vielleicht gar
nicht aufgefallen; denn solche Feinheiten sind für andere Augen, als die
einer Mutter, unbemerkbar. Madame d'Aiglemont hatte eines Tages zu ihrer
Tochter gesagt, die Prinzessin de Cadignan hätte sie besucht, und Moina
rief bloß: »Wie? sie hat sich deinetwegen bemüht?« Die Miene, mit der
diese Worte gesprochen wurden, die besondere Betonung, die die Komtesse
ihnen gab, verrieten, wenn auch in kaum merklicher Form, eine
Verwunderung, eine vornehme Geringschätzung. Angesichts solcher
Gefühlshärte muß in der Tat ein allzeit junges, zartes Herz die Sitte
der Wilden, ihre Greise zu töten, wenn sie sich an den Zweigen eines
stark geschüttelten Baumes nicht mehr halten können, als
menschenfreundlichen Brauch empfinden.

Frau d'Aiglemont erhob sich, lächelte und ging hinaus, um im geheimen zu
weinen. Die wohlerzogenen Leute, und vor allem Frauen, verraten ihre
Gefühle nur durch unmerkliche Bewegungen, an denen aber jedes
mitfühlende Herz, zumal wenn es in seinem Leben ähnliches Unglück
erlitten hat, wie diese mürbe gemachte Mutter, die innere Erregung nicht
minder deutlich erkennen kann.

Niedergedrückt von ihren Erinnerungen, dachte Frau d'Aiglemont jetzt an
diese eine von all jenen winzigen, und doch so schmerzlichen, so
grausamen Kleinigkeiten, und in diesem Augenblick kam ihr die bittere,
unter einem Lächeln verborgene Verachtung stärker als je zum
Bewußtsein. Aber ihre Tränen versiegten, als sie die Jalousien des
Zimmers öffnen hörte, wo ihre Tochter ruhte. Sie eilte auf dem Pfade,
der an dem Gitter vorbeiführte, wo sie soeben noch gesessen hatte, den
Fenstern zu. Im Gehen fiel ihr noch auf, daß der Gärtner den Sand dieses
seit einiger Zeit sehr schlecht gehaltenen Weges mit ganz besonderer
Sorgfalt geharkt hatte. Als Frau d'Aiglemont unter den Fenstern ihrer
Tochter ankam, wurden die Jalousien rasch zugemacht.

»Moina!« rief sie.

Keine Antwort.

»Die Frau Komtesse ist im kleinen Salon,« sagte Moinas Kammermädchen,
als die Marquise ins Haus trat und fragte, ob ihre Tochter aufgestanden
sei.

Frau d'Aiglemonts Herz war zu voll, ihr Geist zu sehr von Gedanken
erfüllt, als daß sie in diesem Augenblick über so nebensächliche
Umstände nachgedacht hätte; sie ging sogleich in den kleinen Salon, wo
sie die Komtesse im Morgenkleid fand. Über das noch ungeordnete Haar
hatte sie ein Häubchen geworfen, die Füßchen steckten in Pantoffeln, im
Gürtel trug sie den Schlüssel ihres Schlafzimmers. Ihr Gesicht verriet
fast stürmische Gedanken und lebhafte Farben. Sie saß auf einem Diwan
und schien nachzudenken.

»Weshalb stört man mich?« sagte sie in hartem Tone. »Ah, Sie sind's,
meine Mutter,« setzte sie zerstreut hinzu, sich selbst unterbrechend.

»Ja, mein Kind, es ist deine Mutter ...«

Der Ton, in dem Frau d'Aiglemont diese Worte aussprach, verriet eine
Inbrunst, eine Rührung, aus deren Art man, um sie einigermaßen zu
kennzeichnen, das Wort Heiligkeit anwenden muß. Sie legte darein in der
Tat so deutlich den heiligen Charakter einer Mutter, daß die Tochter
betroffen war und sich zu ihr umwandte, mit einer Bewegung, die
Ehrfurcht, Unruhe und Reue ausdrückte. Die Marquise schloß die Tür des
Salons, zu dem doch niemand gelangen konnte, ohne in den davorliegenden
Zimmern Geräusch zu verursachen. Diese Abgelegenheit sicherte vor
unberufenen Zeugen.

»Meine Tochter,« sagte die Marquise, »es ist meine Pflicht, dich über
eine der wichtigsten Krisen in unserm Leben, im Frauenleben aufzuklären.
Du befindest dich jetzt in ihr, vielleicht ohne es zu ahnen, aber ich
werde dich nicht sowohl als Mutter wie als Freundin darauf aufmerksam
machen. Indem du dich verheiratet hast, erlangtest du die volle Freiheit
des Handelns, du bist darin nur deinem Gatten Rechenschaft schuldig;
aber ich habe dich so wenig die mütterliche Gewalt fühlen lassen -- und
das war vielleicht ein Unrecht -- daß ich mich im Recht glaube,
wenigstens einmal im Leben, in einer ernsten Lage, wo du des Rats
bedarfst, dir meine Meinung zu sagen. Denke daran, Moina, daß ich dich
mit einem Manne von hohem Range vermählt habe, auf den du stolz sein
kannst, den ...«

»Mutter,« rief Moina in widerspenstigem Tone, sie unterbrechend, »ich
weiß, was Sie mir sagen wollen -- Sie wollen mir eine Predigt über
Alfred halten ...«

»Du würdest es nicht so gut erraten, Moina,« fuhr die Marquise fort und
versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, »wenn du nicht fühltest ...«

»Was denn?« versetzte sie in fast hochmütigem Tone. »Aber, Mutter, ich
muß doch sagen --«

»Moina,« rief Madame d'Aiglemont mit großer Kraft, »du mußt unbedingt
aufmerksam anhören, was ich dir zu sagen habe ...«

»Ich höre,« sagte die Komtesse und kreuzte die Arme, halb im Trotz, halb
in Unterwürfigkeit. »Gestatten Sie jedoch, meine Mutter,« setzte sie mit
unglaublicher Kaltblütigkeit hinzu, »daß ich Pauline rufe. Sie soll
einen Gang besorgen.«

Sie klingelte.

»Mein liebes Kind, Pauline darf nicht hören --«

»Mama,« versetzte die Komtesse in ernsthaftem Tone, der der Mutter sehr
sonderbar vorkommen mußte, »ich habe --«

Sie hielt inne, denn das Kammermädchen erschien.

»Pauline, gehen Sie selbst zu Baudran und fragen Sie, warum ich meinen
Hut noch nicht habe.«

Sie setzte sich wieder und sah aufmerksam ihre Mutter an. Die Marquise,
deren Herz zu brechen drohte und deren Augen trocken waren, empfand in
diesem Augenblick ein Gefühl, dessen Schmerz nur von Müttern begriffen
werden kann. Sie nahm das Wort, um Moina über die Gefahr zu belehren, in
der diese schwebte. Aber ob nun die Komtesse sich verletzt fühlte durch
das Mißtrauen, das ihre Mutter gegen den Sohn des Marquis de Vandenesse
hegte, oder ob sie auf eine jener unbegreiflichen Torheiten verfiel, die
sich nur aus der Unerfahrenheit der Jugend erklären lassen, jedenfalls
benützte sie eine Pause, die ihre Mutter machte, um ihr mit einem
gezwungenen Lachen zuzurufen:

»Mama, ich habe nur Eifersucht auf den Vater in Ihnen gesucht ...«

Bei diesem Worte schloß Frau d'Aiglemont die Augen, senkte den Kopf und
stieß den leisesten aller Seufzer aus. Sie blickte nach oben, als
gehorche sie dem unüberwindlichen Gefühl, das uns in den großen Krisen
des Lebens veranlaßt, Gott anzurufen; dann heftete sie einen Blick
schrecklicher Majestät und doch auch tiefen Schmerzes auf ihre Tochter.

»Mein Kind,« sagte sie in verändertem Tone, »du bist jetzt
unbarmherziger gegen deine Mutter gewesen, als der Mann war, den sie
hintergangen hat, und als selbst vielleicht Gott sein wird.«

Frau d'Aiglemont erhob sich; aber als sie an der Tür stand, drehte sie
sich noch einmal um. Sie sah in den Augen ihrer Tochter nichts als
Befremdung und ging hinaus. Sie konnte noch bis zum Garten gehen; dort
verließen sie die Kräfte. Ihr Herz zog sich in heftigem Schmerz
zusammen, und sie sank auf eine Bank. Ihre über den Sand hinirrenden
Augen erkannten die frische Fußspur eines Mannes, dessen Stiefel sehr
deutliche Eindrücke zurückgelassen hatten. Es war kein Zweifel mehr,
ihre Tochter war verloren, und sie glaubte nun auch den Grund zu
erkennen, weshalb Moina Pauline weggeschickt hatte. Dieser grausame
Gedanke brachte eine Deutung mit sich, die noch häßlicher war, als alles
übrige. Sie vermutete, der Sohn des Marquis de Vandenesse hätte im
Herzen Moinas die Ehrfurcht vernichtet, die eine Tochter der Mutter
schuldig ist.

Der Herzkrampf nahm zu, sie sank in Ohnmacht, ohne es selbst zu spüren,
und saß wie eingeschlafen da.

Die junge Komtesse fand, ihre Mutter hätte sich zuviel herausgenommen
und ihr einen deutlichen »Rüffel« gegeben. Sie glaubte, am Abend würde
die alte Dame durch eine Liebkosung oder irgendwelche Aufmerksamkeit ihr
unpassendes Benehmen wieder gutmachen.

Als sie im Garten den Schrei einer Frau hörte, neigte sie sich
nachlässig hinaus, und im selben Augenblick rief Pauline, die noch nicht
fortgegangen war, um Hilfe und hielt die Marquise in den Armen.

»Erschrecken Sie doch meine Tochter nicht!« war das letzte Wort, das
diese Mutter aussprach.

Moina sah, wie ihre Mutter blaß, leblos, nur noch mit Mühe atmend,
hereingetragen wurde. Die Sterbende bewegte die Arme, als wenn sie sich
sträuben oder sprechen wollte. Entsetzt über diesen Anblick, lief Moina
hinter ihrer Mutter her und half schweigend ihr Bett zurechtzumachen und
sie auszukleiden. Sie erkannte nun, daß sie an diesem Ende schuld war,
und dieses Schuldbewußtsein drückte sie zu Boden.

In diesem letzten Augenblick erkannte sie, was im Herzen der Mutter
vorgegangen war, und konnte nun doch nichts mehr gutmachen. Sie wollte
allein mit ihr sein; und als niemand mehr im Zimmer war, als sie die
Hand, die für sie immer eine liebkosende Hand gewesen war, kalt werden
fühlte, da zerfloß sie in Tränen.

Über dieses Weinen erwachend, konnte die Marquise ihre Moina noch einmal
ansehen; und als sie das Schluchzen hörte, das den zarten, halb
entblößten Busen zerreißen zu wollen schien, betrachtete sie ihre
Tochter und lächelte. Dieses Lächeln bewies der jungen Muttermörderin,
daß das Herz einer Mutter ein Abgrund ist, in dessen Tiefe sich noch
immer ein Verzeihen findet.

Sobald man um den Zustand der Marquise wußte, wurden reitende Boten
abgesandt, um den Arzt, den Chirurgen und die Enkelkinder der Frau
d'Aiglemont zu holen. Die junge Marquise d'Aiglemont und ihre Kinder
trafen zu gleicher Zeit mit den Ärzten ein, und als sich noch die
Dienerschaft hinzugesellte, war es eine feierliche, schweigende,
schmerzlich gespannte Versammlung. Die junge Marquise, die vergebens auf
einen Laut gehorcht hatte, klopfte leise an die Tür des Zimmers. Bei
diesem Zeichen fuhr Moina aus ihrem Schmerz empor und stieß ungestüm die
beiden Flügel auf. Sie sah mit scheuen Blicken diese Familienversammlung
an und stand vor all den Leuten in einem Zustande, der in seiner
Unordnung und Wirrnis deutlicher redete, als Worte es vermocht hätten.

Angesichts so tiefer, eindringlicher Reue blieben alle stumm. Man konnte
die kalten, krampfhaft auf dem Totenbette ausgestreckten Füße der
Marquise sehen. Moina lehnte sich an die Tür, sah ihre Verwandten an und
sagte mit hohler Stimme:

»Ich habe meine Mutter verloren!«


Ende.




  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Ae, Oe und Ue wurden im gesamten Text durch Ä, Ö und Ü ersetzt.

    Die Originalschreibweise und kleinere Inkonsistenzen in der
    Formatierung wurden prinzipiell beibehalten.

    Gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert: _Text_
    Text in Antiqua (nicht in Fraktur) wurde mit + markiert: +Text+
    Römische Zahlen, die im Originaltext in Antiqua erscheinen, wurden
    nicht gekennzeichnet.

    Im folgenden werden alle am Originaltext vorgenommenen Änderungen
    aufgelistet:

    S.  11: Karussel --> Karussell
    S.  13: Julies --> Juliens
    S.  36: miteilte --> mitteilte
    S.  68: Helena --> Helene
    S.  74: Sérezy --> Sérizy
    S. 104: Helenes --> Helenens
    S. 149: Beistrich nach »mit dreißig Jahren kann eine Frau« entfernt
    S. 149: hervoruft --> hervorruft
    S. 172: Punkt nach »grüblerisch veranlagt« hinzugefügt
    S. 180: »schon eine ganze Stunde lang« (ein --> eine)
    S. 183: »sie macht Ihnen nur Freude« (Sie --> sie)
    S. 218: »das der Unbekannte sich anmaßte« (daß --> das)
    S. 220: »aber wenn Sie es wünschen« (sie --> Sie)
    S. 231: Anführungszeichen vor »Wir sind noch weiter« hinzugefügt
    S. 233: Mut und Verzweiflung --> Wut und Verzweiflung
    S. 251: »um Ihrer aller Glück« (ihrer --> Ihrer)
    S. 252: »in Brand gesteckte« (gesteckt --> gesteckte)
  ]





End of Project Gutenberg's Die Frau von dreißig Jahren, by Honoré de Balzac

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FRAU VON DREIßIG JAHREN ***

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work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     https://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.