Venne Richerdes : Roman aus der Geschichte Goslars

By Hermann Kassebaum

The Project Gutenberg eBook of Venne Richerdes
    
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Title: Venne Richerdes
        Roman aus der Geschichte Goslars

Author: Hermann Kassebaum

Release date: February 22, 2025 [eBook #75443]

Language: German

Original publication: Berlin: Verlag von Martin Warneck, 1925

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENNE RICHERDES ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden. Eine Liste der vorgenommenen
Änderungen findet sich am Ende des Textes.

Worte in Antiqua sind +so gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~

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                            Venne Richerdes


                   Roman aus der Geschichte Goslars

                                  von

                           Hermann Kassebaum


                            [Illustration]


                              Berlin 1925
                       Verlag von Martin Warneck


                        Alle Rechte vorbehalten

              +Copyright 1925 by Martin Warneck, Berlin+


           Herrosé & Ziemsen GmbH., Wittenberg (Bez. Halle).




                       Meiner lieben Heimatstadt
                                Goslar




                              Erstes Buch




Die welschen Studenten nannten die beiden blonden Jünglinge insgemein
›+li gemini+‹, die Zwillinge. Halb war es Spott, halb Neid, der
aus diesem Beinamen erklang. Besser noch trafen es die Bologneser
Schönen, die den dritten, den braunlockigen Gottfried Kristaller, aus
dem Bistum Straßburg gebürtig, in ihren Scherz mit einschlossen und die
drei die ›Unzertrennlichen‹, ›+li inseparabili+‹, tauften. Hinter
dem vorgehaltenen Fächer, hinter dem wohlverwahrten Fenster klang
es immer wieder: ›+Li inseparabili+‹, wenn die drei Deutschen
auftauchten oder vorübergingen.

Seit geraumer Zeit schon weilten sie auf Bolognas Hoher Schule, um dem
Studium der Rechte obzuliegen, das hier nach wie vor seine vornehmste
Pflegestätte hatte. Der Älteste von ihnen, Johannes Hardt, war der
Semester vier hier, sein Vetter Heinrich Achtermann, gleich ihm in
der alten Kaiserstadt Goslar am Fuße des Harzes daheim, kam vor mehr
als Jahresfrist über die Alpen gezogen, und der dritte, Gottfried
Kristaller, hielt die Mitte zwischen ihnen, was die Zeit des Studiums
an der welschen Universität betraf.

Jetzt waren sie alle drei bereit, Bologna zu verlassen. Johannes
hatte sein Ziel erreicht, denn er war unlängst zum Doktor der Rechte
promoviert worden. Heinrich wollte mit ihm ziehen, weil es so geplant
war und weil ihm der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande erreicht zu
sein schien, nämlich sich in der Welt umzusehen und sich dabei ein wenn
auch bescheidenes Maß von juristischen Kenntnissen anzueignen, das ihm
für die Ratsherrnstelle in Goslar, die ihm nach Geburt und Herkommen
sicher war, nicht schaden würde und ihm auch für seine demnächstige
Beschäftigung in dem umfangreichen Handelsgeschäfte seines Vaters, des
Rats- und Kaufherrn Heinrich Achtermann, nur förderlich sein konnte.
Und Gottfried endlich schied, weil er es ohne die Gesellen in Bologna
fürder nicht glaubte aushalten zu können.

Die Abreise war beschlossen, der Tag dazu festgesetzt, der die
Unzertrennlichen scheiden würde. Die beiden Goslarer wollten den
kürzesten Weg in die Heimat einschlagen, den über den Brenner, während
Gottfried Kristaller die Reise über Mailand und den Gotthardt wählte,
um so gleichfalls möglichst schnell nach Straßburg zu gelangen.

Das bessere Teil fiel dabei Heinrich und Johannes zu, denn ihnen
erblühte mit dem in Aussicht genommenen Wege das Glück, in anmutiger
Gesellschaft bis in die Heimat zusammenreisen zu können. Es waren die
Damen von Walldorf, des Feldobristen von Walldorf zu Braunschweig
Ehegemahl und seine liebreizende und lebensfrische Tochter Richenza.

Man lernte die Damen in dem gastlichen Hause des Professors von
Wendelin kennen, der am +Collegium germanicum+ der welschen
Universität die Rechte lehrte. Bologna genoß, wie schon angedeutet,
dermalen noch den Ruf, die berühmteste Rechtsschule der Welt in seinen
Mauern zu beherbergen, und die meisten Nationen, so auch das Deutsche
Reich, unterhielten dort Akademien, die der Universität angeschlossen
waren.

Professor Hieronymus von Wendelin weilte seit fast 30 Jahren als
berühmter Lehrer in Bologna, und zu seinen Füßen hatte Johannes seit
mehr als zwei Jahren gesessen.

Auch die Freunde verdankten, was sie an geistiger Nahrung dort
genossen, in vornehmster Weise Wendelin. Viel war das freilich bei
Gottfried Kristaller nicht, und noch weniger hatte sich Heinrich
Achtermann mit der trockenen Rechtswissenschaft den Magen verdorben.
Er war Studierens halber in Italien, in Bologna seinetwegen, aber
das Studium beschränkte sich nach seiner Ansicht nicht darauf, den
spröden Stoff des römischen und kirchlichen Rechts zu zergliedern,
wie es Wendelin und andere gelehrte Herren versuchten, sondern für
ihn schloß es auch das Studieren von Land und Leuten in sich, und
unter diesen wieder nahmen die Frauen sein Hauptaugenmerk in Anspruch,
die ~schönen~, wie sich versteht. Und so beharrlich schaute er
den liebreizenden Bologneserinnen in die glänzenden Augen, bis die
Besitzerinnen, was freilich nicht oft geschah, verwirrt die dunklen
Wimpern über die leuchtenden Sterne herabsenkten oder er erforscht
zu haben glaubte, was auf ihrem tiefsten Grunde an Geheimnissen und
Seelenregungen geschrieben stand.

Gottfried Kristaller, der leichtlebige, bewegliche Alemanne, suchte
es ihm darin gleichzutun. Was er an Wissen mit sich nahm, drückte ihn
gewiß nicht nieder; aber er hoffte, die Lücken in seinen Kenntnissen
daheim, in der gleichförmigen Ruhe des Vaterhauses bald ausfüllen zu
können. So ergab es sich, daß er und Heinrich Achtermann in Wahrheit
die Unzertrennlichen waren. Gemeinsam durchtollten sie die Nächte,
gemeinsam verübten sie ihre losen Streiche, von denen dieser oder
jener sie in nicht unbedenkliche Händel zu verwickeln drohte. Aber ihr
unverwüstlicher Frohsinn half ihnen über alle Schwierigkeiten hinweg,
und vor dem Freimut, mit dem sie ihre Sünden bekannten, glättete sich
auch die düsterste Stirn.

Nur selten eilten Heinrichs Gedanken in die ferne Heimat. Und was vor
ihm alsdann auftauchte an altmodischer Tracht und Sitte im Vaterhause,
vermochte ihn nicht lange zu fesseln. Er kehrte immer wieder schnell
in die Wirklichkeit zurück, die ihn lachend und schmeichelnd umgab.
Daheim lebte ihm der würdige Vater, immer und allerorts bestrebt,
seiner Stellung als Ratsherr und Patrizier nichts zu vergeben, ihn,
den Sohn und Erben, schon jetzt immer ermahnend, auf seinen künftigen
Rang Rücksicht zu nehmen. Dort waltete die Mutter, die in ähnlicher
Fürsorge an ihm arbeitete. Dort war alles auf die Form, auf den Anstand
zugeschnitten, hier aber umgab ihn das lachende, sorglose Leben der
Italiener, die in heiterer Ungebundenheit jeder Regung des Herzens
unverhüllt und ungeschmält Ausdruck verleihen durften. Wäre es nach ihm
allein gegangen, er hätte das sonnige Land noch länger zu seiner Heimat
erwählt.

Auch eine Schwester war ihm beschieden, nur wenig jünger als er und im
Wesen ihm nicht unähnlich. Aber die beiderseitige Lebhaftigkeit trug
nur dazu bei, daß sie sich nach Geschwisterart ständig in den Haaren
lagen, ohne daß eigentlich ernstliche Zerwürfnisse zwischen ihnen
vorkamen. Doch Heinrichs Bedürfnis, zu necken und zu hänseln, erregte
immer wieder den hellen Zorn des Schwesterleins, namentlich, wenn er es
sich einfallen ließ, in ihr Zimmer zu kommen, während Freundinnen zu
Besuch da waren. Drang er alsdann unbefugterweise ein, so konnte man
darauf wetten, daß sein Abzug zuletzt ein unfreiwilliger war, der unter
Schelten der Mädchen vor sich ging. Ihn aber focht das nicht weiter an,
und noch heute gedachte er mit Schmunzeln der mancherlei Szenen, die es
dabei gegeben hatte. Am lebhaftesten stand ihm die letzte vor Augen,
die sich kurz vor seiner Abreise abspielte. Und auch die Gestalt der
Freundin, um die es sich dabei handelte, war ihm in aller Lebendigkeit
gewärtig.

Ein eigenartiges Mädchen, diese Venne Richerdes, wie sie ihm in der
Erinnerung vorschwebte, lang aufgeschossen und noch ohne jede Rundung
in den Formen. Weshalb gerade diese ihm besonders vor Augen stand,
hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht entwickelte sich
das junge Ding noch einmal zu einer annehmbaren Mädchengestalt. Vorab
aber fiel sie nur auf durch ihr sprödes, zurückhaltendes Wesen, das
nicht selten sich in schroffen Meinungsäußerungen gefiel, besonders
wenn sie mit seinesgleichen zusammengeriet.

Doch, eins hob sie aus dem Rahmen der übrigen hervor, das war die
unnachahmliche Haltung des Kopfes mit dem wundervollen Rund der Zöpfe,
die sich wie eine Krone um das Haupt legten, und dann das Spiel der
Augen. Diese Augen, in deren unergründlicher Tiefe jetzt verhaltene
Wehmut schlummerte, jetzt schalkhafte Teufelchen ihr Wesen zu treiben
schienen und die in Augenblicken der Erregung flimmernde Blitze zu
sprühen begannen. Ihm selbst war aus ihnen auch oft der Zornteufel
entgegengefahren, wenn er sich nach seiner Art mit irgendeiner ihrer
kleinen Eigenheiten beschäftigte. Selbst der Abschied von ihr verlief
als ein solches Gewitter. Ja, zum Abschiednehmen kam es eigentlich
gar nicht; denn als er sie am Tage vor seiner Abreise zufällig bei
der Schwester traf, trat die zornige Spannung in ihrem Gesicht von
Minute zu Minute deutlicher hervor. Die Schwester suchte ihn, wie so
oft schon, auf schickliche Weise, hinauszubugsieren; aber in seiner
behaglichen Dickfelligkeit pflanzte er sich nun erst recht breit in
einen Sessel. Als das Gespräch zwischen den beiden Mädchen einen
Augenblick stockte, suchte er es durch eine seiner gewöhnlichen
Neckereien wieder in Fluß zu bringen. Noch schwieg die kampfbereite
Venne, doch in ihren Augen wetterleuchtete es unheilverkündend, wie er
mit innerer Freude feststellte. Nun bedurfte es nur noch geringer Mühe:
hierhin einen kleinen Stich und dort einen Hieb, da war die Entladung
da. Noch ein Wort, und Venne sprang auf und eilte zur Tür, ohne ihn
eines Wortes zu würdigen; nur ein funkelnder Blick traf ihn dort noch,
vor dem er sich, wäre er weniger dickfellig gewesen, hätte verkriechen
sollen.

Der Erfolg verblüffte selbst ihn: Teufel auch, war das eine hitzige
Kröte! Und nun setzte noch das Schmälen und Schelten der Schwester ein,
daß er alle ihre Freundinnen weggraule. Es endigte zuletzt damit, daß
sie ihn wutentbrannt aus dem Zimmer jagte. Er ging in dem nicht sehr
behaglichen Gefühl, daß er vielleicht doch etwas zu weit gegangen sei,
und es tat ihm halbwegs leid, daß sein Abschied von diesem Mädchen, das
ihn durch ihre Eigenart immer wieder anzog, sich in so unfreundlicher
Weise vollzogen hatte und daß sie seiner vielleicht mit Groll gedenke;
denn Heinrich Achtermann war ein durchaus gutmütiger Gesell, dem es
nicht entfernt beikam, einem Menschen absichtlich Unrecht zuzufügen.

Heute freilich lächelte er in der Erinnerung an jene dramatische Szene:
Wetter noch einmal, hatte das Ding Temperament! -- Wie mochte sie sich
übrigens wohl inzwischen entwickelt haben? Ob sie seiner noch immer in
unauslöschlichem Groll gedachte! -- Da kehrten seine Gedanken in die
Umwelt zurück und fanden sogleich das Ziel seiner Sehnsucht und Wünsche
von heute, Richenza von Walldorf.

Ja, die wenigen Wochen ihres Aufenthaltes im Hause der Wendelins und
der rege Verkehr mit den Damen hatte genügt, um sein Herz lichterloh
für die schöne Tochter des Obristen brennen zu lassen. Vergessen waren
die liebreizenden Bologneserinnen, verdrängt von der lebensfrischen,
sprudelnden Nichte des Professors.

Sie war zur Zeit unbeschränkte Alleinherrscherin in seinem Herzen. Auch
die Freunde merkten seinen Gemütszustand und ließen es an harmlosen
Neckereien nicht fehlen. Daß die kluge Richenza allein die Verheerung
nicht erkannt hätte, die sie angerichtet, war kaum zu glauben. Sie
ließ sich die Huldigungen des stattlichen Jünglings gern gefallen.
Freilich besorgte sie nicht, daß er dauernd seinen Seelenfrieden an
sie verlieren werde; denn die gelegentlichen Äußerungen der Freunde
verrieten ihr, daß sie nicht die erste Rose sei, die er zu pflücken
begehre. Über ihre eigenen Gefühle war sie sich nicht ganz im klaren,
aber sie traute sich die Zurückhaltung zu, die gegebenenfalls, auch
während der engeren Berührung, wie sie die gemeinsame Heimreise
notwendig bringen mußte, eine Schranke festhalten würde, um ein allzu
ungestümes Werben zu verhindern. Jetzt sahen sie sich täglich, ja
die letzten Tage, seit die Studenten ihrer Verpflichtungen gegen
die Universität überhoben waren, mehrmals am Tage, nachmittags bei
gemeinsamen Spaziergängen, abends im Hause der Wendelins.

Ein besonderer Anlaß hatte die Walldorfschen Damen nach Italien
geführt. Daheim lag das Brüderlein an langem Siechtum darnieder.
Keine ärztliche Kunst konnte ihm Heilung bringen. Da riet der ihnen
befreundete Prior eines Klosters der frommen Mutter, sie solle eine
Wallfahrt nach Rom unternehmen, um den Segen des Papstes und die
mächtige Fürbitte der Heiligen zu gewinnen. Der Vater, der rauhe
Kriegsmann, murrte und sprach von pfäffischem Firlefanz, aber die
Mutter ließ sich nicht beirren und brach mit der Tochter auf.

Rom lag hinter ihnen, und ihre Herzen waren voll froher Hoffnung; denn
nicht nur hatten sie sich die Fürsprache im Himmel gesichert, sondern
sie brachten auch die Vorschriften eines berühmten Arztes mit, von
dessen Heilkunst sie in Rom erfuhren. Nach genauer Erkundigung über die
Art des Leidens gab er ihnen seinen ärztlichen Rat mit auf den Weg.

Angesichts der Beschwerden der Reise war es für die Damen eine große
Erleichterung, daß sie in den Wendelins Verwandte fanden, die ihnen
auf der Hin-, wie auf der Rückreise gern Gastfreundschaft erwiesen.
Dieser Aufenthalt bei dem berühmten Rechtsgelehrten, den sie, besonders
Richenza, bisher kaum mehr als dem Namen nach gekannt hatten, bot ihnen
nicht nur willkommene Rast, sondern zwischen der Tochter des Hauses,
der lieblichen Gisela, und Richenza war eine aufrichtige Freundschaft
und eine fast schwesterliche Liebe aufgeblüht.

Lag, als sie nach Rom wollten, noch die Sorge um den Sohn und
Bruder wie ein Druck auf ihnen, so gab sich Richenza jetzt mit der
ungebundenen Fröhlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war. In den
jungen Deutschen, die im Hause Wendelin ein und aus gingen, fand sie
das willkommene Gegenstück zu ihrem eigenen Frohsinn, und Heinrich
Achtermann wie Gottfried Kristaller waren immer bereit, auf ihre
tausend Neckereien und Scherze einzugehen, während Johannes mehr zu der
stilleren Gisela stand.

Die Aussicht, mit den beiden Goslarern die Heimreise antreten zu
können, erfüllte Richenza mit heller Freude; denn auf die Dauer war
von der frommen Mutter und dem bewährten Diener, den sie mitgebracht
hatten, nicht allzuviel Kurzweil zu erwarten. Man beredete alle
Einzelheiten der Fahrt, und der Tag der Abreise stand fest, da wurden
ihre Pläne noch im letzten Augenblick über den Haufen geworfen.

Heinrich und Johannes wohnten in einem Hause der Karmelitergasse.
Die Verbindung mit der Heimat war während ihres Aufenthaltes in der
Fremde nicht allzu eng gewesen, ein Schreiben hin und her im Jahre oder
deren zwei, das erschien beiden Teilen ausreichend, um sich von dem
gegenseitigen Wohlergehen unterrichtet zu halten. Um so größer daher
das Staunen, als Heinrich Achtermann kurz vor der Abreise noch einen
Brief des Vaters ausgehändigt erhielt, der den letzten Teil seines
Weges, von Trient ab, sogar mit besonderem Boten befördert worden
war, da der Wagenzug der Kaufleute, die bis dahin den freundwilligen
Beförderer abgegeben hatten, linksab, ins Val Sugano, einbog, um nach
Venedig zu gelangen. Heinrich erbrach das Siegel voller Erregung, denn
er ahnte, daß in dem Briefe Ungewöhnliches stehen werde. Kaum hatte er
ihn durchflogen, da eilte er auch schon zu Johannes und pochte ungestüm
an das noch verschlossene Zimmer.

»Auf, Langschläfer, mach' auf!« Und als der drinnen etwas von
»Ruhestörer« murrte, rief er noch dringlicher: »Eile Dich, wichtige
Nachricht von daheim!«

Da öffnete Johannes, der erst notdürftig bekleidet war, die Tür, und
schon sprudelte ihm Heinrich die Neuigkeit entgegen.

»So lies doch, Mensch, lies doch«, drängte er, fuchtelte dabei aber
mit dem Schreiben umher. Ruhig nahm es ihm Johannes aus der Hand und
schickte sich an zu lesen, doch schon unterbrach ihn der Freund
wieder: »Denk' doch, unser ganzer Reiseplan ist über den Haufen
geworfen; nach Mailand sollen wir, über den Gotthardt, mit dem Ernesti
ziehen!«

Etwas unwillig wehrte ihn Johannes ab: »Soll ich nun lesen, oder willst
Du erzählen?«

Da ließ jener von ihm ab, konnte sich aber nicht enthalten, über dem
Lesen immer wieder einen kleinen Fluch oder ein erregtes »Was sagst
Du dazu?« einzuschalten. Johannes ließ sich indes nicht beirren,
sondern las den Brief mit aller Gründlichkeit, und als er am Ende
war, begann er noch einmal. Aber wiederum vermochte er nichts anderes
herauszudeuten, als was er schon zum ersten Male gelesen.

Also schrieb aber der Vater und Ratsherr Heinrich Achtermann zu Goslar
an seinen Sohn Heinrich:

»... demnach wir darauff gefaßt seyn undt erwarten, daß Deine
Rückkehr, viellieber Sohn, sich noch umb mehreres verzögern werde,
wasmaßen wir wünschen müssen, daß Du, ohngeachtet der größeren
Strapazen undt Fatiguen, von Bologna den Weg uber Mediolanum, welches
man jetzo heyßet Maylant, undt weyter uber den Sankt Gotthardtsperg
wählen mögest, weyl Du in obgemeldeter Statt zum Anfang octobris den
wohledlen undt wohlachtbaren Herrn Henricus Ernesti würst treffen, als
welcher, nähmlich Herr Henricus Ernesti, dem hohen Rahte der Statt
Goslar günstige Bottschaft von der römischen Curia, auch des Papstes
Heyligkeyt zu erlangen beauftraget undt gewillt ist.

Obzwar nun vorbemeldeter Herr Henricus Ernesti unß solche Bottschaft
+in persona+ zu uberbringen bereyt, auch gehalten ist, er unß
aber bittet, ihn vors erste davon zu befreyen, sintemalen er noch in
denen hollandtschen Stätten zu weylen obligieret sey, haben wir unß
dahin resolvieret, daß Du, viellieber Sohn, die obgemeldete Bottschaft
uns, +sigillo+ wohl verwahret, unversehret uberbringen mögest,
undt seyn wir gewärtig, daß Du Dich der hohen Ehre, so Dir damit
widerfähret, würst wohl gewachsen zeygen. Tun Dir auch zu wissen, daß
es des Herrn Doctor Rudolpfus Hardt, als des Vaters Deynes Freundes
undt Gesellen Johannes Hardt, Wille undt Befehl ist, selbiger möge Dir
das Geleyt geben auf der Reyse gen Maylant zum Herrn Henricus Ernesti.
Auch verhoffen wir, daß Ihr alle Fährlichkeyten der Fahrt möget wohl
bestehen undt bey unß in Gesundtheyt werdet eyntreffen ...« Also
schrieb der Ratsherr Achtermann an seinen Sohn Heinrich unter dem 25.
Juni des Jahres 1515.

Johannes rieb sich die Stirn: Das warf ihre Reisepläne allerdings
gründlich über den Haufen! Ihm selbst machte es ja schließlich nicht
viel aus, ob er einige Monate früher oder später in Goslar eintraf, und
da ihm Gelegenheit geboten wurde, das mächtige Handelszentrum Mailand
zu sehen, wie die Schweiz und den Rhein, so sagte ihm die Änderung
von Minute zu Minute mehr zu. Aber er verstand den Groll Heinrichs
ebensosehr, kam dieser doch um die Möglichkeit, mit seiner neuen
Herzenskönigin, der schönen Richenza, noch länger zusammenzusein.

Natürlich mußte auch Gottfried Kristaller sogleich von der veränderten
Lage unterrichtet werden! Sie fanden ihn beim Frühstück. Er gewann der
Sache sofort die beste Seite ab. »Aber das ist ja herrlich, prächtig,
ihr Leute«, rief er begeistert. »Da reisen wir ja zusammen, und ich
kann Euch unser altes, liebes Straßburg zeigen.«

»Du hast gut reden«, murrte Heinrich. »Dir mag es gelegen kommen, aber
mir verdirbt es die ganze Rechnung.«

»Ach ja, ich verstehe,« schaltete Gottfried gutmütig lachend ein, »Du
meinst, nun geht Dir das trauliche Zusammensein mit Richenza Walldorf
verloren. Herzliches Beileid! Aber ich schaffe Dir Ersatz in unsern
schönen Straßburgerinnen.«

»Geh mir mit Deinen Dummheiten. Was gehen mich Deine Straßburger
Gänschen an!« grollte er. »Oho,« zürnte da Gottfried, dem der Schelm im
Nacken saß, »das laß nur mein Schwesterlein hören! Gerade ihr wollte
ich Dich präsentieren, von den noch schöneren Bäschen und Freundinnen
ganz zu schweigen. Doch wenn Du nicht willst, so habe ich noch ein
anderes Lockmittel: Unsern Wein wirst Du nicht verschmähen, und der
wird Deine Lebensgeister schon wieder heben. Erst wird gehörig Rast
im alten Straßburg gehalten, und dann mögt Ihr zu Euren Hyperboräern
heimziehen. Mich friert jetzt schon, denke ich nur an Eure Eiswüsten da
oben im Norden!«

Da mischte sich Johannes ins Wort. »Nun gebt einmal Ruhe, Ihr
Streithähne, und laßt uns überlegen, was zunächst zu tun ist. Ich
meine, vor allem müssen wir die Walldorfschen Damen von der Neuigkeit
unterrichten.« Und das geschah denn auch.

Man war natürlich im Hause Wendelin nicht weniger überrascht, und
besonders Richenza tat unzufrieden, daß die schönen Pläne ins Wasser
fielen. Aber es zeigte sich doch, daß die Wunde, die ihrem Herzen
geschlagen war, nicht allzu tief ging. Während die Mutter noch klagte,
daß sie nun der angenehmen Begleitung und des Schutzes verlustig
gingen, fand Richenza schon wieder ein munteres Wort. »Ei, so müssen
wir uns also des Wiedersehens daheim getrösten, in Goslar oder in
Braunschweig. Und nun wollen wir nicht länger Kopfhänger sein«, schloß
sie herzhaft. »Die Tage schwinden schnell dahin, die uns noch bleiben.
›+Carpe diem+‹, heißt's nicht so, Ihr gelehrten Herren? Ich
hörte es immer vom Oheim in Braunschweig, wenn ihm die Schaffnerin
noch heimlich eine Flasche des guten Weines holen mußte, ohne daß es
die Gattin sah. Also ans Werk, das heißt: Was wollen wir heute noch
unternehmen?«

Die Auswahl war nicht groß in Bologna. Die dumpfen, glutheißen Straßen
der Stadt boten kaum des Abends Erholung, und die Elemente, welche sie
alsdann belebten, waren, wie andererorts, kein Anreiz für Damen. Es
blieben nur die Uferwaldungen am nahen Reno übrig, dessen schattige
Gänge man also am Spätnachmittage aufsuchen wollte. Der Fluß selbst
war, wie die meisten Wasserläufe, die der Apennin speist, jetzt zu
einem dünnen Rinnsal zusammengeschrumpft.

Der Schicklichkeit halber begleitete Donna Wendelin, die Mutter
Giselas, die Ausflügler, obwohl diese lieber unter sich gewesen wären.
Dem guten Gottfried fiel die Ehre zu, die Dame zu führen. Er machte
zuerst ein etwas sauersüßes Gesicht, doch er fand sich bald mit Anstand
in seine Würde, zumal er wußte, daß er den Freunden, mindestens
Heinrich Achtermann, einen Gefallen erwies. Auch war Frau von Wendelin
noch eine sehr hübsche Frau zu nennen, der man die erwachsene Tochter
nicht ansah. Gottfried spielte seine Rolle als galanter Ritter so
anmutig und war so unerschöpflich in seinen drolligen Einfällen, daß
Frau von Wendelin aus dem Lachen nicht herauskam.

Die beiden anderen Paare gingen bald langsamer, bald schneller
und beredeten, was ihnen am Herzen lag. Heinrichs Ungestüm drängte
immer wieder zu einem entscheidenden Wort, aber Richenza hielt ihn
mit ebensoviel Anmut wie Geschicklichkeit in Schranken. Als er dann
doch von seiner Liebe zu reden begann, unterbrach sie ihn schelmisch
lächelnd, wie wohl auch ihr bei seinen Worten ums Herz war.

»Ich bitte Euch, sprecht nicht weiter. Wir wollen den Tag nicht durch
so ernste Dinge belasten. Ihr seid mir gut, das will ich glauben,
wenngleich ...« -- Heinrich wollte beteuern, da fuhr sie heiter fort:
»Um Gottes willen, nur nicht auch noch einen schweren Eid bei dieser
schrecklichen Hitze; ich will's Euch glauben, auch unbeschworen. Doch
im Ernst, wir wollen jetzt vernünftig sein. Laßt erst einmal die Reise
zwischen unserer jungen Freundschaft liegen, dann mag's sich erweisen.
Übrigens wird auch mein Herr Vater noch ein Wort mitreden wollen,
ein gar gestrenger Herr!« -- Die Schelmin wußte, daß sie den Vater
bisher immer noch dahin brachte, wohin sie ihn haben wollte, und sie
verschwieg auch, daß just in diesem Augenblick das hübsche Gesicht
eines Vetters von daheim vor ihr auftauchte, der ihr seine Neigung mit
noch heißeren Worten kundgetan hatte, ohne daß sie auch darüber gerade
ungehalten gewesen wäre.

Seufzend ergab sich Heinrich in sein Schicksal und machte ein so
betrübtes Gesicht, daß die muntere Richenza hellauf lachte. »Um Gott,
nicht diese Leichenbittermiene. Ich verschwöre es ja nicht, Euch
später anzuhören, nur Geduld sollt Ihr haben. Vielleicht sehen wir uns
demnächst in Braunschweig wieder, und vielleicht müßt ihr mich dort im
edlen Wettbewerb mit andern zu erringen suchen, die auch mich garstige
Person ins Auge gefaßt haben. Ich freue mich schon jetzt auf die Rolle
der minniglichen Richterin über euch.« Das war wieder ganz der Schelm
Richenza, und nun fand sich auch Heinrich wieder.

Währenddessen gingen Gisela und Johannes miteinander. Ihr Gespräch floß
nicht so leicht dahin wie das der Übrigen. Namentlich Gisela wollte
bisweilen, wie es schien, das Wort versagen.

Sie waren in der langen Zeit, seit Johannes in Bologna weilte, in ein
fast kameradschaftliches Verhältnis zueinander gekommen. Als der junge
Student vor nunmehr mehr als zwei Jahren ankam, brachte er die Grüße
und Empfehlungen seines Vaters mit, der, jetzt ein gesuchter Arzt
in Goslar, einst mit dem Professor von Wendelin in Leipzig zusammen
studiert und Freundschaft gehalten hatte. Diese alte Bekanntschaft
öffnete Johannes sogleich das Haus der Wendelins, und er ging dort bald
wie ein Sohn ein und aus.

Die Studenten des +Collegium germanicum+ hielten gleich denen der
andern Nationen eng zusammen, und die Professoren, zumeist Deutsche,
wie Herr von Wendelin, stützten diesen Zusammenschluß dadurch, daß sie
die jungen Leute an sich zogen, blieb ihnen doch selbst die Verbindung
mit der alten Heimat erhalten.

Nicht alle die wilden Gesellen jener Zeit der Scholaren und Vaganten
vermochten sich im Zaum zu halten. Aber die Gutgearteten unter ihnen
und die aus gesitteten Familien waren doch froh, daß sich ihnen hier im
fernen Welschland ein Haus auftat, in dem deutsche Laute erklangen und
deutsche Art gepflegt wurde. Auch die rohen Elemente vergaßen selten
eine Wohltat, die ihnen von den Professoren erwiesen wurde. Und Herr
von Wendelin hatte sich in dieser Hinsicht in mehr als einem Herzen
ein Denkmal der Dankbarkeit gesetzt.

Von all diesem sprach Johannes heute zu Gisela, und aus seinen Worten
erklang eine aufrichtige, ehrliche Dankbarkeit, daß es ihr warm ums
Herz wurde bei so viel Anerkennung ihres geliebten Vaters. Und dann kam
Johannes auf sie selbst zu sprechen und ihre Freundschaft, und er gab
ihr seinen heißen Dank zu erkennen, daß sie ihn dieser Freundschaft
gewürdigt habe. Einem Impulse folgend, ergriff er ihre Hände und
sprach, während er sich zu ihr neigte: »Habt Dank für alles, was Ihr
mir erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich die Trennung von Euch und Euren
lieben Eltern werde ertragen können. In meinem Herzen bleibt Ihr für
immer. Bewahrt auch mir ein freundliches Gedenken.«

Gisela war unter den Worten ihres Begleiters errötet und erblaßt. Sie
vermochte kein Wort zu sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da
kam ihrer Verwirrung Gottfried zu Hilfe, der sich gerade näherte. Sie
suchte sich zu fassen und zwang sich sogar ein Lächeln ab, als jener
eine launige Bemerkung fallen ließ. Dann schickte man sich zur Rückkehr
an.

                   *       *       *       *       *

Dies war nun der letzte Abend, den die jungen Deutschen in Bologna
verlebten. Er beschloß die schönen Tage, welche dem Abschiede
vorhergingen, und fand sie, wie begreiflich, im Hause der Wendelins.

Alle bemühten sich, den Scheidenden die Stunden so angenehm wie
möglich zu machen. Aber sie konnten es doch nicht verhindern, daß
ein Hauch leiser Wehmut über dem kleinen Kreise lag, je weiter die
Stunden vorrückten. Besonders Gisela zerdrückte mehr als einmal eine
stille Träne, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann glitt wohl
ein schneller, heimlicher Blick nach dem Platze, wo Johannes neben
der Mutter saß: Ach, er wußte ja nicht, wie ihm ihr junges Herz
entgegenschlug und wie schwer sie an dem Gedanken trug, ihn morgen
vielleicht für immer zu verlieren.

Die Mutter ahnte nicht, welche Verwirrung der junge Deutsche im Herzen
ihres Töchterchens angerichtet hatte. Sie unterhielt sich mit ihm über
die ferne Heimat ihres Gatten und sah sie durch den Mund des Freundes
neu, in begeisterter Schilderung vor sich erstehen. Aber immer mehr
senkten sich, von den Augenblicken angeregter Rede abgesehen, die
Schatten wehmutsvoller Trauer herab. Noch einmal suchte die fröhliche
Richenza die Stimmung zu retten mit einem Appell an die Jugend, wobei
sie ihre Freundin Gisela besonders ins Auge faßte.

»Euch ist wohl heute nachmittag der letzte Trost auf dem Reno
davongeschwommen, als wir an seinen Ufern uns ergingen. Laßt Euch
nicht an Seelenstärke von einem schwachen Mädchen, wie ich es bin,
übertreffen. Droht uns doch, meinem lieben Mütterlein, wie mir, in
gleicher Weise die Stunde des Abschieds von diesem gastlichsten aller
Häuser im Lande Italia. Ich aber habe mein Herz gewappnet gegen alle
Trübsal und helfe mir über die Wehmut des Augenblicks mit einem
herzhaften ›Auf Wiedersehen‹ hinweg.«

»Mach' es wie ich,« wandte sie sich nunmehr direkt an ihre Base, die
liebliche Gisela, deren Gesicht sich bei den Worten der Freundin noch
mehr mit Trauer überschattet hatte, »verhärte dein Herzlein, daß die
Herren nicht meinen, sie hätten uns bezwungen.«

Doch damit beschwor sie das Unheil erst recht herauf. Hatte sich
Gisela bis jetzt noch tapfer gehalten, so rannen ihr nunmehr die
Tränen unaufhörlich über die Wangen, und sie stürzte fluchtartig aus
dem Zimmer, um ihr Herzeleid den übrigen zu verbergen. Bestürzt sahen
diese ihr nach. Wohl hatten die Eltern bemerkt, daß eine Freundschaft
zwischen ihrem Töchterlein und dem jungen Deutschen sich entwickelte;
aber der unbefangene, fast kameradschaftliche Ton, in dem sie sich
äußerte, ließ sie nicht ahnen, daß die Herzensruhe ihres Lieblings
ernstlich gestört wurde. Nun schien dies dennoch der Fall.

Die Mutter wie Richenza eilten der Entflohenen nach. Der Vater blieb
allein zurück mit den jungen Freunden.

Auch die Männer blickten betroffen drein. Der Vater erkannte, daß sich
eben vor seinen Augen der Anfang eines Dramas abzuspielen begann,
dessen Ausgang im dunkeln lag. Aber bei der Gefühlstiefe, die er an
seinem Töchterchen als ein Erbteil seiner selbst zu jeder Zeit bezeugt
gesehen hatte, mußte er besorgen, daß ihr schwere Stunden bevorstanden.

Heinrich Achtermann und Gottfried Kristaller waren am meisten
überrascht. Daß die Tränen nicht ihnen galten, wußten sie genau. Ihre
eigenen Angelegenheiten hatten sie immer so sehr in Anspruch genommen,
daß sie auf Johannes und Gisela nicht sonderlich achtgaben. Nun zeigte
es sich, daß die arme Gisela, die ihnen um ihrer anspruchslosen
Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit willen ans Herz gewachsen
war, ein Kummer bedrückte, der sie nach ihrer Eigenart besonders
schwer treffen mußte. Sie schieden beide nur mit leichter Bürde auf
dem Herzen, wenn auch Heinrich im Augenblick meinte, ohne Richenza
nicht leben zu können. Doch ihm stand ja die Aussicht offen, sie in
Deutschland wiederzusehen, während für Gisela und Johannes morgen der
Abschied für immer bevorstand. Das tat ihm von Herzen leid.

Johannes durchzuckte ein Gefühl, halb des Schreckens, halb der Freude,
als Gisela davoneilte. Hatte er bisher eine Art schwesterlichen
Empfindens für sich bei ihr vorausgesetzt, so war er zuerst hieran
irre geworden, als sie vor einigen Tagen am Reno ihre Gedanken über
seine bevorstehende Abreise austauschten. Er sah ihre seltsame Erregung
und Verwirrung und war geneigt, sie als eine Äußerung nicht nur rein
freundschaftlicher Zuneigung zu deuten. Worüber er sich selbst nie
zuvor klar geworden, was er für sich nie zu erhoffen gewagt hätte,
das schien in ihrem Herzen Wurzel geschlagen zu haben. Damals schon
durchzuckte ihn der Gedanke, sie könne ihn lieben, sie wolle ihm
angehören, mit einem heißen Glücksgefühl. Jetzt fand er bestätigt, was
er nicht auszudenken gewagt hatte.

Dieses junge Menschenkind, über das eine gütige Fee alle Holdseligkeit
der Jugend ausgebreitet zu haben schien und das in seiner Brust
gleicherweise die edelsten Gefühle echter Weiblichkeit barg, war ihm
mehr als die Genossin frohseliger Jugendstunden, sie brachte ihm das
Geschenk einer ersten, keuschen, zarten Liebe dar. Aber zugleich
bestürmte ihn auch der Schmerz, daß er morgen schon verlieren sollte,
was er eben erst gewonnen hatte. Die Trauer griff ihm ans Herz, denn er
mußte sich bezwingen, um ihren Frieden nicht noch mehr zu stören, wie
er sich Zwang angetan hatte, seit er selbst erkannte, daß die Liebe zu
dem holdseligen Geschöpf seine Brust durchzittere.

Inzwischen waren die Mutter und Richenza um Gisela bemüht. Da sie
argwöhnte, daß der junge Deutsche ihre Tochter durch seine Schuld um
ihre Herzensruhe gebracht habe, wallte zuerst der Unmut gegen jenen in
ihr auf. Aber beim ersten Wort, welches sie in dieser Hinsicht fallen
ließ, warf sich Gisela sofort zum Verteidiger des heimlich Geliebten
auf.

»Er ist gewiß ganz unschuldig an der Sache, die Schuld habe ich dummes
Mädchen allein. Weshalb wußte ich meine Gefühle nicht besser zu
verbergen. Nun habe ich zu dem Schmerz auch noch den Spott, denn die
Freunde werden sich gewiß über mich einfältiges Ding lustig machen.«

»Das werden sie nicht tun,« fiel ihr Richenza ins Wort, »dazu sind sie
viel zu ehrlich und anständig. Und Dein Johannes im besonderen, so darf
ich ihn hier doch wohl nennen, denkt zuletzt daran; denn ich müßte eine
schlechte Beobachterin sein, wenn nicht auch ihm der Abschied von Dir
recht naheginge.«

Gisela wehrte unter Tränen lächelnd ab, doch die Freundin ließ sich
nicht beirren. »Ich weiß, was ich weiß. Übrigens kann ich ihn ja
erforschen, wenn Du es wünschest.« Erschrocken wehrte Gisela ab,
während tiefe Röte ihr Gesicht überflutete.

»Daß Du Dich nicht unterstehst! Ich müßte mich ja zu Tode schämen;
denn gewiß würde er glauben, Du handeltest in meinem Auftrage, um ihn
auszuforschen.«

Richenza versprach zu schweigen. »Nun aber auch wieder ein fröhliches
Gesicht aufgesteckt, daß die Herren sich nicht einbilden, Du habest um
sie Dein Tränenkrüglein gefüllt. Ich weiß zudem noch einen Trost für
Dein Leid. Es muß ja morgen nicht für immer geschieden sein. Wenn die
Eltern es erlauben, besuchst Du uns daheim in Braunschweig. Der Weg zu
uns ist nicht weiter als von uns zu Euch, und Du siehst, ich bin heil
hier angelangt und hoffe, auch unversehrt wieder im alten Braunschweig
einzutreffen. Von da nach Goslar ist's ein Katzensprung. Wollt Ihr
also, so gibt es im nächsten Jahr ein frohes Wiedersehn bei uns
daheim.«

Gisela lächelte schwermütig zu den Zukunftsplänen der Base. »Du glaubst
ja selbst nicht, daß der Plan gelingen wird.«

»Das tue ich allerdings; es hängt nur von Dir und Deinen Eltern ab,
ob und wann er in Erfüllung gehen soll. Ihr seht doch an mir und der
lieben Mutter, daß auch ein Frauenzimmer den Weg über die Alpen wagen
kann. Außerdem wirst Du immer reiche Gesellschaft finden, denn die
Straße über den Brenner ist so begangen, daß jede Gefahr ausgeschlossen
ist. Wenn Dich also nicht jedes Murmeltierchen schreckt, das ein
Steinchen zum Herabrollen bringt, so mach' Dich getrost auf die Reise.
An Kurzweil wird's Dir bei uns nicht fehlen. Nun aber laßt uns wieder
zu den Herren hineingehen, daß sie nicht auf falsche Gedanken geraten.«

Auch die Mutter trieb dazu. Ihr Herz war von mehr Sorge erfüllt, als
sie zu erkennen gab; denn sie kannte ihr Kind zu genau, um nicht zu
wissen, daß die Wunde zu tief ging, um ohne ernsten Schaden geheilt
werden zu können.

Im Zimmer ergriff Richenza sogleich wieder das Wort und suchte die
Situation zu klären.

»Das sind die dummen Schwächen, unter denen wir Frauenzimmer leiden.
Kaum freut man sich einmal wirklich, ist auch gleich so eine Migräne
da, die uns bis zu Tränen niederzwingt. Aber, Herr Oheim, wir haben
indes schon ein Plänchen ausgeheckt, das unsere Gisela heilen wird.
Sie muß einmal heraus aus eurer Tropenluft hierzulande. Erlaubt, daß
sie uns besuche daheim im lieben Braunschweig, wo ja auch Eure Wiege
stand. Dann mögen Euch ihre roten Wänglein bei der Rückkehr verraten,
daß wir gute Pflege gegeben haben; und was dabei noch für Euch, Herr
Oheim, abfällt an lebendigen Erinnerungen an Eure liebe Heimatstadt,
das nehmt als gern gegebene Draufgabe. Also entscheidet Euch kurzerhand
und gebt die Erlaubnis. Ist's nicht für sogleich, so schenkt uns die
Gisela für das kommende Jahr. Und wenn es die Herren Studiosi und
Doctores gelüstet, uns zu besuchen, so wissen die Herren, daß es von
Goslar nur ein Ritt von wenigen Stunden ist. Herr Kristaller muß sich
allerdings schon von seinem fernen Straßburg herbemühen, will er, daß
der lustige Kreis von Bologna in Braunschweig aufs neue erstehen soll.«

Der Vater war überrascht und suchte nach Einwendungen. Aber da er die
leuchtenden Augen seines Lieblings während der Worte Richenzas sah,
hielt er mit lauten Bedenken zurück und hoffte, daß die Zeit ihn der
Notwendigkeit überheben werde, die endgültige Zustimmung zu erteilen.
Doch nun legte sich auch Johannes für den Plan ins Zeug. Das war ja
die Erfüllung einer Hoffnung, die er selbst gar nicht zu hegen gewagt
hätte. Und den vereinten Anstrengungen gelang es, die endgültige Zusage
zu erhalten. Er ahnte nicht, daß die Ausführung unter viel trüberen
Umständen wirklich erfolgen sollte.

Die Stunde des Abschieds war gekommen. Als Johannes sich über die
Hand Giselas neigte, flüsterte er ihr zu: »Ich weiß, daß wir uns
wiedersehen; das macht mir den Abschied leichter. Bewahrt mir bis dahin
ein Plätzchen in Eurem Herzen.«

Ein lichtes Rot der Freude überflog das Gesichtchen Giselas, und eine
reizende Verwirrung ließ sie noch lieblicher erscheinen. Aufs neue
füllten Tränen ihre Augen, aber es waren Tränen seligen Glücks. Dann
schloß sich hinter den Freunden das Tor des alten Palazzo Faba, in dem
der Professor wohnte.




Als am andern Morgen die Glocken von San Giacomo Maggiore die Frühmette
einläuteten, traten Johannes und Heinrich, wie auch Gottfried, aus
ihrer Wohnung und bestiegen die schon bereitgehaltenen Pferde, denen
ihre Felleisen, das einzige Reisegepäck, welches sie persönlich mit
sich führten, sorgsam aufgeschnallt waren.

Das Tor wurde gerade von dem halbverschlafenen Wächter geöffnet, als
sie die Stadt auf dem Wege verließen, der als die uralte Via Aemilia
vor dem Apennin entlang führt und nur jeweils in den Städten, die
sie durchkreuzt, sich eine Abweichung von der schnurgeraden Richtung
gefallen lassen muß, in der sie als ein endloses, weißes Band sich
dahinzieht. Mit ihnen ging noch ein Mönchlein aus der Stadt, das dort
wohl übernachtet hatte und nun in sein Kloster zurückkehren wollte. Es
hielt indes nur kurze Zeit Schritt mit den rüstig ausgreifenden Rossen,
und sie waren allein. Noch lag der Schatten des frühen Morgens mit
seiner Kühle auf der Straße, und ein Frösteln überflog ihre Glieder.
Aber munter ging es weiter.

»Du sinnst wohl noch über den Abschied von der lieblichen Gisela nach?«
unterbrach Gottfried das Schweigen. Doch Johannes verspürte keine
Neigung auf den scherzhaften Ton einzugehen. »Laß die Geschichte; Du
tust mir weh mit dieser Art davon zu sprechen.« Da brach Gottfried das
Gespräch ab, und sie ritten schweigend fürbaß. Auch Heinrich Achtermann
zog wider seine sonstige Gewohnheit mürrisch und wortkarg dahin.

Noch war nichts Lebendes auf der Straße zu sehen. Doch jetzt blitzte
es im Morgennebel vor ihnen, und trapp, trapp, trapp kam es zu ihnen
heran. Es waren Speerreiter des Podesta von Bologna, die ein paar
armselige Lumpen mit sich führten. Auf einer nächtlichen Streife im
Banngebiet der Stadt auf frischer Tat ertappt, trabten sie jetzt
trübselig hinter den Pferden drein, an deren Schweif sie kurzerhand
gebunden waren. Auch andere Frühaufsteher tauchten bald auf der Straße
auf, Landleute, die ihr Geschäft in die Stadt führte, Bauern mit
Ochsenkarren, welche Getreide und sonstige Früchte den Kaufleuten in
Bologna bringen wollten, junge, rüstige Dirnen und alte Weiber, die
Melonen und andere Früchte heimischen Fleißes am selben Ziel in Geld
umzusetzen hofften.

Inzwischen war die Sonne hervorgebrochen und übergoß Land und Straße
mit ihren wärmenden Strahlen.

Langes Schweigen war wider die Natur des lebhaften Gottfried.

»Wißt ihr übrigens, daß wir in unserm Stumpfsinn auf
geschichtsschwangerem Boden dahinreiten? Hier erklang schon vor
anderthalbtausend Jahren der eherne Tritt römischer Legionen, die auf
Eroberung auszogen, und wieder um ein beträchtliches später zogen in
umgekehrter Richtung die Gewappneten der deutschen Kaiser sie entlang,
um in das Land Italia einzudringen?«

Die lachende Septembersonne verscheuchte auch die Grübeleien, in die
Johannes versunken war, und die jugendliche Hoffnungsfreudigkeit siegte
über die Zweifel, die sich ihm aufgedrängt hatten: Es würde doch alles
gut werden, wie er es selbst gestern Gisela gesagt hatte. Und er konnte
auf den fröhlichen Ton des Freundes eingehen.

»Da kennst Du unsern guten Magister Sutor schlecht -- den schlichten
›Schuster‹ vertrug seine Gelehrsamkeit schlecht, und wenn er uns einmal
aus Unachtsamkeit oder Bosheit über die Lippen glitt, saß uns der Bakel
schon auf dem Buckel. -- Er hat uns haarklein den Weg gezeigt, den der
große Cäsar mit seinen Heeren nahm, und die Tuben der Legionen des
Varus hörten wir schon erklingen, wenn sie noch diesseits der Alpen,
meinetwegen auf der alten Via Aemilia, ertönten, auf der wir jetzt
selbst dahintraben. Ich wollte nur, ich hätte gleich ihnen erst die
Alpen überschritten und zöge dem alten Goslar zu.«

Unterdes war die Sonne höher und höher gestiegen und sandte ihre
Strahlen mit einer Glut auf die Reisenden herab, daß ihr Gespräch
wieder versiegte. Auf den Feldern arbeiteten Bauern mit ihrem
Ochsengespann, vor ihnen lag das weiße, schattenlose Band der Straße,
auf der sich kaum ein Lebewesen zeigte, denn alles floh vor der
sengenden Hitze.

Die Freunde hatten sich als Ziel des Tages Parma gesetzt; aber als
sie Modena, etwa halbwegs zwischen Bologna und Parma, gegen Mittag
erreichten, fühlten sie doch, daß sie gut täten, den Pferden, wie
sich selbst nicht noch eine gleich große Wegstrecke zuzumuten, und
sie blieben dort bis zum nächsten Morgen. Nach zwei weiteren, gleich
ermüdenden Tagereisen trafen sie in Piacenza, der alten Brückenstadt am
Po, ein, wo ihre letzte Raststätte vor Mailand sein sollte.

In Piacenza erfuhren sie in der Herberge von deutschen Landsleuten, die
von Genua angekommen waren, daß der Kaufherr Ernesti tags zuvor hier
eingetroffen, aber schon nach Mailand vorausgeeilt sei, weil er dort
noch Geschäfte zu erledigen habe.

Unterwegs schon hatte Gottfried nach diesem Ernesti gefragt, aber
Heinrich wie Johannes vermochten ihm keinen Aufschluß über den
seltsamen Mann zu geben, der als einfacher Kaufmann mit den Mächtigsten
der Erde verhandelte, wie es sonst nur die Aufgabe kaiserlicher
Ambassaden war. Wohl hatten sie in Goslar den Namen des Mannes
aussprechen hören, doch nach Art der Jugend kümmerten sie sich wenig
um Dinge, die sie und ihre Jahre nicht berührten. Beide, besonders
Heinrich, fesselten viel mehr, da sie noch in der Münsterschule
zu Goslar saßen und unter dem Joch des gestrengen Magisters Sutor
seufzten, die Spiele mit den Altersgenossen und die Reigen mit den
hübschen Goslarer Bürgermädchen, besonders der Lange Tanz, ein Reigen
aus alter Zeit, welcher der Sage nach die immerwährenden Kämpfe
zwischen den einheimischen Sachsen und den zugewanderten fränkischen
Bergleuten beendet hatte. Alljährlich zur Fastnachtszeit fand er statt,
und selbst ein hochweiser und gestrenger Rat sah dem lustigen Treiben
wohlgefällig zu, das sich vor seinen Augen abspielte in dem anmutigen
Schreiten und Sichneigen und Hüpfen lieblicher Jungfräulein und
kühnstolzer Jünglinge, die jene geleiteten.

Man konnte also die Wißbegier des Freundes hinsichtlich Ernestis nicht
befriedigen. Auch das, was die mitreisenden Kaufleute nächsten Tages
auf der Reise von Piacenza nach Mailand über ihn zu sagen wußten,
ließ noch vieles an diesem Manne im dunklen. Daß er ein seltsamer
Mensch sei, erhellte zur Genüge aus ihren Worten, aber auch, daß er
weltbefahren und über das gewöhnliche Maß hinaus angesehen und mächtig
sein müsse, blieb demnach nicht zweifelhaft. Seine Beziehungen reichten
von Italien bis Frankreich, und er war in den Handelsplätzen der
Niederlande gleich bekannt wie in der berühmten Stadt Nowgorod am
Ilmensee im fernen Reiche der reußischen Zaren.

Daß Ernesti in besonders wichtiger Mission vom Rate der Stadt Goslar
zur Päpstlichen Kurie in Rom entsandt worden war, wußten sie aus dem
Briefe von daheim. Heinrich ließ darüber den Kaufleuten gegenüber
nichts verlauten, da er nicht wußte, ob das der Sache dienlich war, und
Johannes schwieg ebenso selbstverständlich. Die Kaufherren erzählten,
daß Ernesti als Heimweg von Rom nicht den Weg über die Abruzzen
gewählt habe, wiewohl dieser der kürzere war, sondern in einem kleinen
Küstenklipper nach Genua gefahren sei, um dort im Dogenpalast noch
etwas zu erledigen. -- Fürwahr, ein seltsamer, geheimnisvoller Mann,
dieser Ernesti, dachte auch Johannes, dessen Gedanken sich allmählich
mehr und mehr mit ihm beschäftigten, dem die Sache seiner Vaterstadt
anvertraut war und mit dem ihn das Leben wahrscheinlich auch künftig
noch mehr als einmal zusammenbringen würde, wenn er erst, wozu seine
Studien den Weg bereitet hatten und was sein Vater sehnlich wünschte,
im Rate der Stadt Goslar Sitz und Stimme hätte.

Der Wagenzug war durch ein Hindernis ins Stocken geraten. Während die
Knechte unter der Aufsicht der Kaufherren noch mit der Beseitigung des
Hindernisses beschäftigt waren, ritt Johannes mit den Freunden langsam
voraus. Noch klangen in seinen Ohren die Worte der Mitreisenden über
Ernesti wieder, aber seine Gedanken blieben an der alten, wehrhaften
Stadt am Harz haften, die jenen gesandt hatte und durch ihn selbst von
dem Ausfalle des Auftrages Kunde erhalten würde. Wie mochte es dort
aussehen, was die Freunde und Gespielinnen treiben, von denen er nun
schon manches Jahr fern weilte; denn auch vor den Jahren, die er in
Bologna verlebte, sah ihn die Heimat nur selten, wenn er in den Ferien
von der Universität Wittenberg zu Besuch kam. Die seltenen Briefe
der Eltern gaben nur unvollkommen Auskunft über das, was gerade ihn
interessierte.

                   *       *       *       *       *

Sollte Heinrich die Wahrheit sagen, so war er von Ernesti enttäuscht,
als er ihn zum ersten Male im »Leuen« zu Mailand sah, und Johannes
schien dieselben Empfindungen zu haben. Der Fremde entsprach in seinem
Äußern durchaus nicht der Gestalt, die der junge Goslarer sich von
ihm gebildet hatte. Ein Mann von der Bedeutung Ernestis müsse, so
glaubte jener, neben der ragenden, gebietenden Größe, dem kühnen,
entschlossenen Gesicht, auch in Wort und Ton die Macht zum Ausdruck
bringen, die ihm eigne. Und nun trat ihm ein Mensch entgegen, der von
alledem wenig oder gar nichts an sich trug. Schon am Abend der Ankunft
in Mailand bekamen sie ihn zu Gesicht. Ein etwas mürrischer, wie es
schien, sehr verschlossener Mann kam herein. Von Gestalt war er nicht
mehr als mittelgroß; in dem fast alltäglichen Gesichte verriet nur das
Spiel der beweglichen, ein wenig stechenden Augen den Reichtum der
Gedanken, die sich hinter der hohen, kahlen Stirn bergen und kreuzen
mochten.

Ernesti wandte sich alsbald mit einigen freundlichen, gleichgültigen
Worten an die jungen Leute. Auf den Hauptzweck ihres Zusammentreffens
hier ging er nur mit einer kurzen Bemerkung ein.

»Es tut mir leid, daß ihr die Beschwerden der Reise in höherem Maße
auf euch nehmen müßt, als ohne den euch gewordenen Auftrag nötig wäre.
Aber ich selbst kann die Botschaft an den Rat eurer Vaterstadt nicht
persönlich überbringen, und sie verlangt eine zuverlässige Hand. Ich
bin überzeugt, daß er keine besseren Boten hätte finden können, und ihr
werdet euch des Vertrauens würdig erzeigen, das der Hochmögende Rat
euch bei eurer Jugend bezeugt. In Köln werde ich euch das Schriftstück
aushändigen. Ich hoffe, daß man in Goslar mit dem Inhalte wohl
zufrieden sein wird. Von Köln ab habt ihr Gelegenheit, mit einem Zuge
flandrischer Kaufleute, die nach Goslar wollen, um euer berühmtes
Kupfer zu holen, die Weiterreise fortzusetzen.«

Das hieß mit anderen Worten, sie, Heinrich und Johannes, durften das
wichtige Schriftstück unter den Augen und dem Schutz anderer tragen,
von dem Inhalte erfuhren sie nichts. Einen Augenblick wollte etwas wie
Unmut in Heinrich aufsteigen, aber schnell überwand er die Anwandlung,
zumal in diesem Augenblick sein Freund Gottfried die Runde an seinem
Tische mit einem Scherze zu lustigem Gelächter verleitete.

Am frühen Morgen des nächsten Tages ging die Reise nordwärts bis an
das Südufer des Langen Sees, den man in einem der plumpen Schiffe
hinauffuhr. Hier trat den Reisenden zuerst wieder die Majestät der
Alpen vor Augen, namentlich im nördlichen Teil des Sees, wo die
Felsenberge in jähem Absturz den engen See fast erdrücken durch
ihre Wucht. Aus der Ferne dräute in ernstem Weiß der schimmernde
Monte Leone, der nach dieser Seite hin die Vorhut bildet der noch
gewaltigeren Monte-Rosa-Gruppe und all der anderen Riesen der Walliser
Berge. In Locarno herrschte noch die fast sommerliche Glut des
italienischen Frühherbstes. An der Straße ungeschützt die Palmen.
Aus den laubdunklen Weingehegen lockten die schwellenden Trauben:
»Nimm mich, nimm mich!« Doch die Reisenden hatten nicht Zeit, die
Herrlichkeiten zu genießen, die ihnen das lachende Seegestade darbot.
Noch einmal wurden die Warenballen auf plumpe Karren geladen.
Aber das immer enger werdende Tessintal, in welchem die Fahrzeuge
dahinrumpelten, setzte dieser Art von Beförderung bald ein Ende. Bis
Biasca mühten sich die Zugtiere noch ab, die Wagen auf der holperigen,
oft von tiefen Schründen durchsetzten Straße, die doch keine solche
war, dahinzuzerren. Dann mußte man endgültig zu den Saumtieren seine
Zuflucht nehmen.

Auch die menschlichen Siedlungen blieben immer mehr zurück und
verschwanden von der Wegseite. Hatten bis dahin die Augen an den auf
jähem Felsen wie ein Adlerhorst gebauten Schlössern und Burgen und den
einsamen Kirchlein, die in gleich trutziger Lage von dem frommen Sinn
des Erbauers zeugten, sich geweidet, so wurde nunmehr der Weg nur noch
von kahlen Felsen begleitet, die in grausigem Absturz das enge Tal zu
begraben drohten. Hier und da gab ein schmales Seitental den Einblick
in eine gleich furchtbare Einsamkeit frei. Nur einmal noch traf das
Auge der Reisenden auf menschliche Wesen, unweit Airolo, wo das wilde
Val Tremola, das ›Tal des Zitterns‹, den Weg freigibt zum Aufstieg auf
den St. Gotthardt. Es war ein Bild, das Johannes lange nicht vergessen
konnte: Unter dem lärmenden Zuruf der welschen Treiber kletterten die
Saumrosse das Tal empor. Da hockten am Wegesrande einige zerlumpte
Gestalten, unter ihnen ein Mädchen von madonnenhafter Schönheit. Die
Gesichter mehrerer von ihnen waren mit Lappen maskenartig verhüllt,
nur die schwarzen Augen funkelten durch Löcher, welche in jene Lappen
geschnitten waren. Von dem Rauschen des Gebirgsflusses halbverschlungen
klang ihr klägliches »+prego, prego+« Johannes entgegen, der ein
wenig der Karawane vorausritt. Doch schon eilten die welschen Treiber
mit drohend geschwungenen Knütteln herbei und verscheuchten die Ärmsten
in das nahe Seitental, aus dem sie gekommen sind und in dem sie, fernab
von allen anderen menschlichen Wesen, sich vor ihren Mitmenschen
bergen und einsam dem Tode entgegensiechen mochten. Ehe Johannes dazu
gekommen war, ihnen eine Gabe zuzuwerfen, waren sie schon ein Ende zur
Seite gewichen. »+Leprosi, Leprosi+«, heulten die Treiber noch
immer, als ob es gälte, wilde Bestien zu verscheuchen. Die Aussätzigen
hasteten weiter; aber Johannes fing noch einen Blick des schönen
Mädchens auf, so voller Schmerz und Verzweiflung, daß er den Gedanken
an das erschütternde Bild den ganzen Tag nicht los wurde. Er sah an
ihrer Stelle Gisela, verlassen, verfolgt, dem Elend preisgegeben, und
tiefstes Mitleid durchschnitt ihm das Herz.

Über die Paßhöhe, das Urserntal hinab auf der Nordseite, wo die junge
Reuß ihre Kinderstube hat und längs des Saumpfades gischtet und tobt,
und dann stetig ihr folgend, stieg man hinab bis dahin, wo in der
Talsohle das flammende Rot der Edelkastanien das große Sterben in der
Natur ankündete. Über den Vierwaldstätter See brachte sie eine der
großen, sturm- und wettererprobten Nauen gen Luzern, und weiter ging
die Fahrt bis an den grünen Rhein, den man bei der alten Handelsstadt
Basel zuerst zu Gesicht bekam, aber nicht überschritt; denn die Fahrt
ging ins Elsaß hinein, geradewegs auf das alte Straßburg zu.

Gottfried Kristaller hatte recht prophezeit, als er in Bologna verhieß,
Freund Heinrich werde über den schönen Augen der Straßburgerinnen den
alten Schmerz vergessen. Im lustigen Geplauder mit Gottfrieds Schwester
und ihren Freundinnen schwand der letzte Unmut aus seinem Herzen. Der
neue Tag fand ihn schon völlig eingebürgert in der neuen Umgebung, und
als man am Morgen des dritten Tages von dannen zog, war der Abschied
so warm und lebhaft, als ob eine alte Freundschaft ihre erste Trennung
erfahre. Johannes hielt die Hand Gottfrieds lange in der seinen. Er
war kein Mann überschwenglicher Gefühlsäußerungen, aber wer seine
Freundschaft erworben hatte, der konnte für immer auf ihn zählen, und
Gottfried war ihm ein Freund geworden in Bologna trotz aller äußeren
und inneren Verschiedenheiten.

Nun ging die Fahrt zu Schiff den Rhein hinab im breiten Graben der
Oberrheinischen Tiefebene mit seiner melancholischen Weite. Sie
bot wenig Kurzweil; denn die Reihen der Kaufleute war in Luzern
wie in Basel und Straßburg bedenklich gelichtet worden, und die
übriggebliebenen, die vom Niederrhein und aus Westfalen, hatten mit
ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie sich um die
beiden Goslarer wenig kümmerten. Um so mehr war es anzuerkennen, daß
Herr Ernesti sich ihnen mehr zuwandte als bisher. Er hatte die drei
Gesellen auf der Reise von Mailand her im Auge behalten und sie nach
ihrer Eigenart zu bewerten Gelegenheit gehabt. So war es ihm nicht
zweifelhaft, daß der Stetigere, Zuverlässigere Johannes Hardt sei. An
ihn waren daher auch im Anfang zumeist seine Worte gerichtet. Heinrich
Achtermann war darob nicht böse; denn der Gesprächsstoff nahm ihn, der
gewohnt war, in seiner Umwelt zu leben, nicht immer gefangen. So kam
es, daß sich zwischen dem berühmten Kaufherrn und Agenten und Johannes
ein Verhältnis anbahnte, das mit jedem Tage freundschaftlicher wurde.
Diesem gegenüber ließ Ernesti seine sonstige Zurückhaltung fallen und
sprach mit ihm über seine Reisen und Erfahrungen.

Auch den Mitreisenden fiel der enge Verkehr zwischen den beiden
auf, und sie gaben wohl gelegentlich ihrer Verwunderung Ausdruck.
»Euer Freund muß es ja dem Ernesti angetan haben, daß er so gegen
seine Gewohnheit redselig wird. Was besprechen denn die beiden nur
immer?« Heinrich bemerkte wohl, daß unbefriedigte Neugier aus ihren
Worten klang, und er gab nur eine allgemeine Antwort: »Das weiß ich
ebensowenig wie Ihr, denn Ihr seht ja, daß ich mich wenig daran
beteilige. Der Stoff ist mir zu langweilig.«

Aber das änderte sich doch, als sich das Gespräch mehr und mehr
Goslar zuwandte. Ernesti selbst regte diesen Gegenstand immer wieder
an, und so konnte sich Heinrich nicht enthalten, etwas neugierig und
ungeschickt zu fragen:

»Weshalb verfiel der Rat von Goslar gerade auf Euch mit der wichtigen
Sendung nach Rom? Ich sollte meinen, es hätte sich doch auch unter den
Bürgern der Stadt jemand finden lassen, der sich der Aufgabe unterzogen
hätte?«

»Daß er jemand gefunden hätte, bezweifle ich nicht«, erwiderte Ernesti
mit einem leichten Lächeln. »Ob er aber auch Erfolg gehabt hätte, ist
eine andere Sache. Euer Rat wird sicher gewußt haben, weshalb er mich
wählte und nicht einen anderen. In Rom ist es mit dem Reden nicht
allein getan. Man muß zugleich alle Sinne angespannt halten, um nicht
ins Hintertreffen zu geraten. Das unscheinbarste Wort will auf seinen
besonderen Wert hin gedeutet, die harmloseste Miene auf ihre versteckte
Bedeutung hin geprüft und beobachtet sein. Ich bin im Verkehr mit
den Großen der Erde, wie Euch die Schwätzer und Neider unter meinen
Gefährten gewiß schon zugeraunt haben, nicht gerade unbeholfen; aber
über jeden kleinsten Erfolg, den ich im Lateran davontrage, bin ich
doppelt froh, und erkenne ich nachher, daß er nicht zu teuer erkauft,
um ein Mehrfaches. Bei dem Auftrage, den ich für Goslar auszurichten
hatte, will mir das scheinen, und ich gestehe Euch, daß mich das
besonders freut.«

»So gestattet auch mir eine Frage, Herr Ernesti«, fügte Johannes hinzu.
»Weshalb nehmt Ihr an Goslar dieses besondere Interesse? Soviel ich
weiß, verbinden Euch doch nicht besondere Bande mit meiner
Heimatstadt!«

»Gewiß,« entgegnete Ernesti, »ich verstehe Eure Verwunderung.
Vielleicht raunte man Euch auch zu, ich täte es um des blanken Goldes
willen.« Johannes wehrte ab, doch jener fuhr unbeirrt fort: »Ihr
braucht weder Euch noch jene zu verteidigen; denn natürlich erhalte ich
von Eurem Rat eine angemessene Entschädigung, wenn auch in anderer Art,
als Euch vorschwebt. Derartige kostspielige und nicht ungefährliche
Aufträge übernimmt ein guter Kaufmann und Familienvater nicht um
bloßen Gotteslohn. Aber ich würde mich doch bedacht haben, nach Rom zu
reisen, wenn ich nicht für Goslar ein absonderliches Interesse hegte.
Ihr seid schon zu lange von Goslar fort und seitdem nicht oft wieder
dort gewesen, um über meine Beziehungen zu Goslar unterrichtet zu sein.
Ich bin in der Tat nicht selten dagewesen, auch als Ihr selbst noch
dort weiltet; aber die Größe der Stadt -- Ihr werdet Euch inzwischen
ja selbst überzeugt haben, daß Goslar zu den ganz großen gehört -- und
Eure jugendliche Unbefangenheit hat mich Euch wohl verborgen gehalten.

Ich komme gern nach Goslar und bedauere, daß es mir nicht vergönnt ist,
die römische Botschaft persönlich zu überbringen; es wäre mir eine
besondere Freude gewesen. Weshalb ich gern bei Euch weilte und weile?
-- Nun, einmal sind es verwandtschaftliche Beziehungen, die mich mit
Goslar verbinden. Meine Vorfahren lebten bis auf den Großvater in Eurer
Stadt. Das Geschlecht der von Ildehusen, das in der Geschichte Goslars
nicht unrühmlich bekannt ist, gab uns den Ursprung, und wir haben mehr
als einen Bürgermeister und Ratsmann gestellt, die am Aufbau Eurer
mächtigen Vaterstadt mithalfen. Den Großvater verschlug das Schicksal
nach der Stadt Soest am alten Hellweg. Übrigens haben wir noch heute
nicht alle Beziehungen zu Goslar verloren. Mir lebt dort ein Vetter
Richerdes, bei dem ich, weile ich im Harz, gern absteige.«

»Ist das etwa der ehemalige Ratsherr oder Sechsmanne Richerdes von
der Gundemannstraße?« fragte Heinrich lebhaft. »Ganz recht«, lautete
die Antwort. »Ei, so kennt Ihr ja auch die Venne Richerdes, meines
Schwesterleins liebste Gespielin.« -- »Und vielleicht auch Euch selbst
nicht zuwider«, fiel ihm Ernesti lächelnd ins Wort. »Freilich kenne
ich sie, ist's doch mein liebes Niftel, das ich selbst aus der Taufe
gehoben habe, und über dessen prächtiges Gedeihen ich mich freue, wann
immer ich sie sehe.«

»Da wundere ich mich nur um so mehr, daß ich Euch nie sah; freilich
Euer Name fiel wohl auch aus dem Munde der Venne, aber ich gab des
nicht acht.«

»Also liegt die Schuld immer wieder bei Euch; denn ich pflege nicht den
Unsichtbaren zu spielen, wenn ich in Goslar bin. Doch Ihr hattet wohl
Wichtigeres zu tun, als Euch um den fremden Mann zu kümmern. Und -- Ihr
seid mir noch die Antwort schuldig -- was haltet Ihr selbst von der
Venne?«

»Als ich Goslar verließ, verhieß sie, mit der Zeit vielleicht ein
schönes Mädchen zu werden. Ich habe sie oft bei uns gesehen, und als
Kinder haben wir auch bei ihnen, besonders in ihrem schönen Wallgarten,
unsere Spiele getrieben. Ich fürchte nur, daß ich bei ihr nicht in
dem Rufe unbedingter Ritterlichkeit stehe; denn wir Knaben waren arge
Rangen, und die Mädchen, auch Venne, haben unser Ungestüm oft zu büßen
gehabt. Von dem Abschied vollends wage ich gar nicht zu sprechen. Soll
also Eure Frage ergründen, ob ich bei ihr in besonderer Gunst stehe, so
kann ich das nur mit allem Vorbehalt zusagen.«

»Gut reserviert«, lobt der andere. »Ich sehe, Ihr habt Eure Studien
nicht umsonst erledigt und werdet dermaleinst es verstehen, knifflige
Fallen zu meiden. Auf jeden Fall darf ich Euch aber, da Ihr Goslar
eher erreichen werdet als ich, bitten, den Richerdes meine Grüße
auszurichten. Vielleicht nimmt Euch dann mein Niftel ob dieses
Liebesdienstes wieder ganz zu Gnaden an.«

Dann kehrte man wieder zu ernsteren Dingen zurück. »Ihr fragtet mich
nach dem Inhalt des Schreibens der römischen Kurie an den Rat zu
Goslar. Glaubt mir, Ihr jungen Freunde, es ist nicht Geheimniskrämerei,
die mir den Mund verschließt. Aber ich habe den Auftrag, Euch die
Botschaft verschlossen zu übergeben, und ich weiß, daß es zu Eurem
Besten ist, wenn Ihr ohne Kenntnis von dem Inhalte seid. Es sind
überall Späher, auch um uns herum, und ein unvorsichtiges Wort könnte
den ganzen Erfolg meiner Reise in Frage stellen; denn an der Auswirkung
ist nicht Goslar allein interessiert.

Ihr seid stolz auf die machtvolle Stellung eurer Stadt, mit Recht.
Doch so viel werdet Ihr trotz Eurer Jugend auch schon gehört und
gesehen haben, daß Goslars Glanz und Vormachtstellung mit dem Silber
und Kupfer des Rammelsberges steht und fällt und daß als zweite
unerläßliche Vorbedingung für ein weiteres Blühen Eures Gemeinwesens
der ungestörte Besitz und die Nutzung der gewaltigen Forsten, welche
Goslar umgeben, ist. Von dem ersteren, der Bedeutung des Bergwerks
werdet Ihr in Köln aufs neue einen Beweis erhalten, wenn Ihr mit den
flandrischen Kaufleuten zusammentrefft. Sie sind auf dem Wege zu Euch,
um das ›+keuvre de Gosselaire+‹, das goslarsche Kupfer, zu holen,
um es in den Kupferschlägereien zu Dinant und in den anderen Städten
Flanderns und der Niederlande zu verwenden. Und kämet Ihr nach London
oder gen Nowgorod im Reußenlande, so würdet Ihr dort den Namen ›Goslar‹
und ›goslarsches Silber oder Kupfer‹ mit derselben Geläufigkeit und
Häufigkeit nennen hören. Euer Reichtum und Eure Macht sind aller Welt
bekannt, es kennen ihn aber auch Eure Feinde und Neider, die Ihr zum
Teil nicht weit zu suchen habt.

Es muß Eurem Rat nachgerühmt werden, daß er schon frühzeitig die Lage
erkannt und danach zu handeln bestrebt gewesen ist. Schon unter König
Wenzel, vor mehr als hundert Jahren, verstand es Goslar, sich eine
Reihe von Gnadenbriefen zu verschaffen, welche der Stadt den Genuß
ihrer Rechte auf Berg und Forst sicherten. Indes, wie Ihr wissen
werdet, haben auch die Braunschweiger Herzöge verbriefte Rechte und
Privilegien auf Berghoheit und den Zehnten. Zur Zeit sind diese Rechte
nach dem Rate von Goslar verpfändet, und die ewige Geldnot der Herzöge
hinderte sie bis jetzt, den Pfandschilling zu erstatten, aber laßt
sie nur zu Atem kommen und den Appetit sich regen, dann wird sich's
bald ändern. Ich fürchte, ich fürchte, die Anzeichen dazu sind schon
wahrzunehmen.

Damals, als die Braunschweiger das Geld nahmen, wäre es ein leichtes
gewesen, ihnen ihre Rechte um ein billiges abzukaufen, statt sie
in Pfand zu nehmen; denn damals stand es schlecht um den Bergbau:
Wassereinbrüche, deren man nicht Herr werden konnte, leere Erzgänge
ließen das Ganze als wertlos erscheinen in den Augen Uneingeweihter.
Damals war es Zeit zum Zugriff, damals mußte Goslar das Ganze an sich
bringen, statt Pfandschillinge zu nehmen und eine Gewerkschaft zu
gründen mit Bürgern und fremden Herren. Nun rächt sich die Versäumnis
nach jeder Richtung hin.

Ihr habt einmal einen großen Mann gehabt, der die Aufgabe Eurer Stadt
richtig erkannte. Hermann Werenberg hieß er und war Stadtkanzler; Ihr
werdet seinen Namen gehört haben. Glaubt mir, er war einer der ganz
Großen in der Geschichte Eurer Stadt. Was Goslar heute ist, verdankt
es in erster Linie diesem Manne. Er bewies eine Staatskunst, die ihn
auch befähigt hätte, ein größeres Staatswesen, als es Eure kleine
Stadtrepublik ist, auf die Höhe irdischer Macht zu bringen und dort
zu erhalten. Daß er dabei, wieder nach Art der wirklich Großen, alle
Mittel nutzte, um die Gerechtsame auf Berg und Forst in den Besitz der
Stadt zu bringen, wird ihm nur der kleine Geist als Schuld anrechnen.

Die Bahn war frei, aber Werenbergs Leben ward ein Ziel gesetzt, ehe der
Erfolg im ganzen Umfange gesichert war. Er starb, und seine Nachfolger
verstanden nicht, das Erworbene festzuhalten und auszubauen. Sie
hätten die geldhungrigen Herzöge von Braunschweig abfinden, die
Gewerken, unter denen das Kloster Walkenried und das reiche Domstift
Simon und Juda in Goslar selbst zu nennen sind, aufkaufen sollen, ehe
das Bergwerk wieder das wurde, was es war und jetzt ist: eine ungeheure
Goldgrube für den, der es besitzt. Jetzt ist's zu spät, will mir
scheinen. Niemand wird noch seine Rechte an die Schatzkammer aufgeben
wollen, zu der er einen Schlüssel in der Hand hat, weder Kloster, noch
Fürst, noch Bürger; denn auch diese sitzen unter den Gewerken noch
heute. Es mag von geringem Sinn für das Wohl des Ganzen zeugen, daß sie
sich sperren, ihre Rechte in die Hand des Rates zu geben, aber es ist
so. Mein eigener Vetter, der Sechsmanne Richerdes, zählt ja auch zu
ihnen.

Es ist zu spät, sage ich; denn wenn schon die eigenen Bürger nicht von
Euch veranlaßt werden können, ihren Eigennutz hinter das gemeine Wohl
zu stellen, so habt Ihr von den Fürsten erst recht nichts Gutes zu
erwarten. Wenn mich die Anzeichen nicht trügen, rüstet man im Schlosse
zu Wolfenbüttel bereits zu entscheidenden Schritten. Den Pfandschilling
aufzubringen, wird ihnen nicht schwer fallen, denn es sitzen der
Geldgeber genug in deutschen Landen, die auf ein so gutes Unterpfand
hin gern helfen werden. Dann hat Goslars Schicksalsstunde geschlagen.«

Die Gesichter der Zuhörer verdüsterten sich unter den Worten Ernestis
sorgenvoll. So hatten sie allerdings das Geschick der Heimat nicht
gewertet, und so schien es auch niemand daheim einzuschätzen, alles war
auf Freude und Stolz an der Blüte eingestellt.

»Ich sehe,« fuhr der andere fort, »daß Ihr bekümmert seid; aber es
tut nicht gut, mit verbundenen Augen in das Leben einzutreten. Doch
ich will Euch auch nicht ohne Trost lassen. Wie sehr und weshalb ich
an Goslar hänge, ist Euch bekannt, und was ich tun kann, um das Unheil
abzuwenden, wird geschehen. Mein Einfluß reicht weit, wie Ihr selbst
schon gemerkt habt. Holte ich Hilfe aus Rom für Euch, so werde ich auch
in der Nähe nützen können. Der Himmel hat dafür gesorgt, daß auch der
Stolz der Herzöge nicht zu sehr ins Kraut schießt. Ihre liebe Stadt
Braunschweig macht ihnen viel zu schaffen und wird, faßt man es richtig
an, Euch von größtem Nutzen sein. Aber in einem könnt Ihr, das sage ich
noch einmal, Euch nur allein helfen, das sind die Zustände in Goslar
selbst.

Will man sich des Besitzes einer Sache ungestört erfreuen, so darf
sie nicht der Gegenstand des Neides anderer sein, wie ich Euch
schon sagte. Man muß sie im Urteil der Neidlustigen als minder
begehrenswert hinzustellen verstehen oder die Zeitläufte benutzen,
um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Beides haben die Goslarer
vormals nicht versäumt. Als die große Bewegung der Kreuzzüge die Massen
durchzitterte und aller Augen nach dem Morgenlande gerichtet waren,
hat Goslar seine Position Schritt um Schritt verstärkt. Als dann die
öffentliche Meinung vom Bergwerke als einer verlorenen Sache sprach,
brachten sie die Gerechtsame des Berges an sich. Sehr schön, aber die
Nachfahren haben nicht zu nutzen verstanden, was die Väter schufen.
Jetzt ist's umgekehrt wie ehedem: Der Nachbar sieht dem Nächsten auf
den Bissen, die Großen beneiden die Größten, und der Kleinen Begehr
steht nach dem, worauf die Großen überlaut und unvorsichtig als ihr
Eigen pochen.

Erst waren es die Gilden. Nachdem sich Gevatter Schneider und
Handschuhmacher durch das Aufblühen der Stadt den Beutel gefüllt
hatten, kam ihnen auch der Machtkitzel, und sie wollten mitregieren,
ob sie es auch nicht verstanden. Nun regieren sie mit, daß es Gott
erbarme. Und schon regt sich's abermalen machtlüstern und beutegierig.
Was dem Handwerker gelang, ließ auch die Masse des gemeinen Volkes
nicht ruhen. Kommt sie zur Macht, dann gnade Gott Euch Goslarern,
wie allen denen, wo die Plebs ihr Haupt siegreich erhebt. +Videant
consules!+ -- der Rat mag sehen, daß er Herr der Lage bleibt. Reicht
er der unvernünftigen Masse den kleinen Finger, so ist es um die ganze
Hand geschehen. Mit dem Volke ist es wie mit den Kindern: Was das Kind
hat, dünkt ihm nichts, sieht es in anderer Hand etwas, das es selbst
nicht besitzt. Man gebe ihm, worauf es vernünftigerweise ein Recht hat,
sonst ein hartes ›Nein‹. Euch fehlt ein Werenberg. Der würde wissen,
was den Kindern, will heißen der Masse, frommt und was man ihnen geben
darf, ohne daß sie sich den Magen überladen und das Gemeinwohl zu
Schaden kommt.«

Das Schiff bog in den Rheingau ein. In der Ferne tauchten die Kuppeln
und Türme des heiligen Mainz auf, übergossen von dem goldigen Glast der
Abendsonne. Johannes stand an die Verschanzung gelehnt und nahm das
glänzende Bild in sich auf, das mählich aus den Fluten des Rheins, wie
es schien, aufstieg. Bald legte das Fahrzeug an, und das geschäftige
Leben, das mit der Ankunft eines jeden Schiffes verbunden ist, riß die
Reisenden auseinander.

Wieder hatte sich die Zahl der Kaufleute gelichtet. Dafür fand sich
allerlei anderes Volk ein, Niedere wie Vornehme. Auch ein paar
Domherren waren darunter, die nach Köln wollten. Ernesti stand im
Gespräch mit ihnen.

»Ihr seht,« flüsterte einer der alten Bekannten Heinrich zu, »Euer
Gönner hält es allerorten und immer mit dem Krummstab. Möchte wohl
wissen, was er alles an geheimen Gängen hinter sich hat, die wenigen
Stunden, die wir in Mainz waren und während wir uns einen ehrlichen
Trunk gönnten.«

Eine Antwort wurde nicht erwartet, und Heinrich hätte sie auch nicht
gefunden, denn ein abfälliges Wort über den Mann zu sagen, der ihnen so
viel gegeben hatte, wäre ihm als schwarzer Undank vorgekommen. Übrigens
kam Ernesti in gewisser Weise selbst darauf zurück; er hatte wohl
gesehen, daß man über ihn sprach.

»Ich hatte mit der Erzbischöflichen Kurie zu tun, in nicht unwichtigen
Fragen, wie Ihr Euch denken mögt. Mancher meint vielleicht, es sei
mir bei den vielerlei politischen Dingen, die durch mich Erledigung
oder Förderung finden, um das blanke Gold zu tun; ich lasse ihn reden,
wie seine Mitschwätzer. Eins aber sei Euch beiden als Erinnerung an
Mainz mit auf den Weg gegeben, und das sei die dritte und letzte der
langatmigen Mahnungen, die ich Euch gab: Verderbt es in Goslar nicht
ernstlich mit der Kirche.

Wir leben in einer unruhvollen Zeit: Kampfstimmung überall, wohin Ihr
blickt, und nicht nur auf dem Gebiete weltlicher Machtkonflikte, auch
die Kirche, die Religion ist davon betroffen, und es sind dunkle Kräfte
am Werk, um ihre Grundpfeiler zu stürzen. Ich bin ein treuer Sohn der
Kirche. Das hindert mich nicht, die ernsten Schäden zu erkennen, die
ihr anhaften und wie böse Geschwüre an ihrer besten Kraft zehren. Das
Schisma, die Spaltung in der Nachfolge Petri, hat den Boden bereitet,
auf dem Blasphemie und Abtrünnigkeit ihre giftigen Blüten treiben
können; die Völlerei und Zuchtlosigkeit in den Klöstern und unter dem
Klerus haben gleicherweise dabei mitgeholfen. So finden die falschen
Apostel gläubige Ohren, wo immer sie ihr Unkraut unter die Menge
werfen. Auch in Niedersachsen blüht ihr Weizen, wie ich höre. Doch die
Kirche ist zu fest gegründet, als daß sie nicht der Widerwärtigkeiten
und Widerspenstigen Herr werden wird. Denn ihre Sache ist gut, und der
Brunnen nur verunreinigt, der die ewigen Heilswahrheiten birgt. Aber
nicht der Eifer des Zeloten und nicht der unreine Mund des Hetzers wird
die Gesundung bringen, sondern die stetige, von echter Frömmigkeit
und Liebe zur Mutter Kirche getragene Sorge, daß das Gefäß nicht
zertrümmert werde, das so kostbaren Inhalt birgt. Die Kirche wird über
alle Fährlichkeiten hinwegschreiten, weil sie siegen muß. Dann aber
wehe denen, durch die Ärgernis gekommen ist; wehe auch den Städten, die
als ungehorsame Töchter sich erwiesen, ihr Unglück ist besiegelt!

Auch bei Euch in Goslar werden die Schwarmgeister am Werke sein. Störet
ihre Arbeit, wo und wie Ihr könnt; es ist zum Frommen der Stadt. Ihr
habt der Feinde und Neider schon genug, ladet Euch nicht auch noch die
Abgunst der Kirche auf; Ihr würdet sie nicht tragen können.«

»Ich fürchte, daß Ihr nur zu recht habt mit allem, was Ihr betreffs
unserer Stadt sagtet«, antwortete Johannes dem Vielerfahrenen. »Sicher
trefft Ihr ins Schwarze mit der Vermutung, daß Goslar selbst zuletzt
den Schaden wird zu bezahlen haben. Die Klöster daheim, vornehmlich das
reiche und mächtige Domstift, sind der Stadt schon sehr gram, weil der
Rat manche ihrer Privilegien kürzte. Das Sankt-Jürgen-Kloster, wie die
Chorherren des Petersstiftes liegen dem Bischof von Hildesheim seit
langem in den Ohren ob angeblicher Mißachtung und Verletzung ihrer
Rechte und respektwidriger Verunglimpfung durch die Bürger. Der Bischof
selbst ist uns gram wegen unseres Verhaltens in der Stiftsfehde, die
Euch bekannt sein wird. Fänden alle diese Mißgünstigen sich zusammen,
diese offenen und geheimen Gegner, und einigten sie sich mit den
Herzögen, die uns jetzt schon zwicken und zwacken, wo sie können, so
wäre der Anfang vom Ende gekommen. Eure Mahnungen treffen also keine
tauben Ohren. Auch der Vater sprach wohl schon mit mir über diese
Dinge. Wir werden tun, was unsere Jugend zu leisten vermag, davon seid
überzeugt, wie auch von der Aufrichtigkeit unseres Dankes für Euren
freundlichen und weisen Rat.«

Kalte Oktoberstürme brausten das Tal des Rheins entlang und drängten
die Wellen zuhauf, als wollten sie umkehren von dem Wege, den der
ihnen innewohnende Drang nach dem Meere vorschrieb. Die Wälder an
den Berghängen wurden des letzten Blättchens beraubt, das ihnen noch
geblieben war von dem sommerlichen Festgewande; alles wies auf Tod
und Sterben und Ruhe in der Natur. Langsam glitt das Schiff zu Tal.
Man hoffte, vor Einbruch der Nacht noch in Köln zu sein; aber fast
schien es, als solle man noch eine Nacht auf dem unwirtlichen Flusse
verbringen. Da gab endlich eine letzte Biegung den Blick auf die alte
Stadt mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen frei. Sankt Severin, Sankt
Georg, Sankt Maria im Kapitol, Sankt Gereon, so tauchten sie aus dem
Grau des Abendhimmels auf, überragt von dem gewaltigen Bau des Doms,
der mit den ungefügen Stümpfen seiner Türme wie ein gefesselter Riese
die Hände gen Himmel hob.

Dann kam der Abschied von Ernesti. Wie hatte sich das Verhältnis zu dem
fremden Manne seit der Abreise von Straßburg geändert! -- Der ernste,
zurückhaltende Mann war ihnen nahegerückt, als sei es ein lieber
Verwandter. In schier väterlicher Weise hatte er die Jünglinge an die
Hand genommen und in die Tiefen des politischen Lebens blicken lassen,
die ihnen ohne diese Hilfe gewiß erst viel später und mit schmerzlichen
Erfahrungen sich erschlossen hätten. Sie bereuten es nicht, den Umweg
über den Gotthardt gemacht zu haben. Der Händedruck, der den Abschied
besiegelte, trennte Freunde. Sorglich vermittelte Ernesti noch die
Bekanntschaft mit dem Führer der flandrischen Händler, mit denen
Heinrich und Johannes in die Heimat reisen sollten.




  »+Bella gerant alii; tu, felix Austria, nube!+«
  Kriege laß die andern führen; du, glückliches Österreich, freie!


Ein gewaltiges Gebäude war durch die Heiratspolitik der Habsburger
im 15. Jahrhundert aufgeführt worden, das noch ungeheuerlicher wurde
durch die Entdeckung Amerikas. Die Krone von fünfzehn Ländern ließ der
alternde Kaiser Maximilian, der ›Letzte Ritter‹, für die Häupter seiner
Enkel Karl und Ferdinand zurück. Doch in diesem Hause wohnte nicht
Glück und Eintracht beieinander, sondern Unfriede und Haß wucherten
überall wie üppige Giftblumen. Die Kirche war auf dem besten Wege, den
Rest ihres Ansehens zu verlieren. Sie trug selbst die Schuld daran,
aber es kam damit einer der Grundpfeiler aller bestehenden Ordnung ins
Wanken. Daß durch diese Ordnung der Dinge sich alles in eine völlige
Unordnung verkehrt hatte, war nur zu einem kleinen Teile der Kirche
als Schuld beizumessen. Ein Teil der Deutschen fühlte sich bei diesem
Zustande durchaus wohl, die Masse aber war in Elend versunken und
suchte sich, dem Ertrinkenden gleich, durch gewaltsame Anstrengungen
das Leben zu erhalten.

Im Gegensatz zu Westeuropa war in Deutschland eine Vielzahl von
kleinen Machtzentren entstanden. Der Fürstentümer, Grafschaften und
Herrschaften war Legion, nicht zu rechnen die Freien Reichsstädte,
die hinter ihren trutzigen Mauern und festen Toren ungestört ihrem
Handel und Wandel nachgingen, Reichtum und Macht aufhäuften und sich
um Kaiser und Reich, um Fürsten und Große nur kümmerten, wenn es ihre
Belange forderten. Alle diese waren sich, die Großen wie die Kleinen,
in einem gleich: in dem Bestreben nämlich, die eigene Machtfülle zu
mehren, um die eigene Person mit Schimmer und Glanz zu umgeben.

In den Städten lag die Herrschaft mit der Sicherheit des Erbes in
der Hand weniger Familien. Der Handwerker, in zielstrebigen Gilden
vereinigt, hatte Zeit gehabt, Kisten und Kasten zu füllen. Nun waren
sie auf dem Wege, auch die Ratssessel einzunehmen, getrieben von
eigenem Ehrgeiz und vielleicht auch auf das Drängen des Ehegesponses
und der Töchter, die so der strengen Kleiderordnung entgehen zu können
hofften und demnächst ein Fältel mehr am Gewande, eine Pelzverbrämung
mehr am winterdichten Mantel dem Neide der Nachbarinnen preisgeben
durften.

Neben ihnen und unter ihnen, in den lichtlosen Hinterhäusern, in den
dumpfigen Hütten, die an die Stadtmauer sich schmiegten, wie die
Küchlein an die Henne, das städtische Proletariat, das von den Brosamen
seiner glücklichen Mitbürger lebte und die staunende, bewundernde
Masse abgeben durfte bei dem Gepränge des Rates, bei den Schauzügen
der Gilden. In ihr gor und glomm es, und es bedurfte nur des Funkens,
um die Flammen des Aufruhrs emporlodern zu lassen. Auf dem Lande aber,
unter der Botmäßigkeit des Herrn, ob Graf oder schlichter Edelmann,
seufzte der hörige Bauer in unerträglicher Frone, der geringsten
persönlichen Freiheit beraubt für sich, für Frau, Tochter und Sohn.
War der Herr vernünftig und zugänglich, so ließ er seinen Leibeigenen
wenigstens so viel vom sauer Erworbenen, daß die Arbeitslust und
Körperkraft nicht zu schnell sich abnutzte. Viele aber, sehr viele der
Gebieter sahen in ihren Bauern und deren Angehörigen nur das Material,
um ein bequemes Leben zu führen und der Wollust nach ihrem Belieben
bei ihren Töchtern die Zügel schießen zu lassen. Und allen endlich
lieferte er mit seinem Leibe das Rüstzeug, wenn es galt, Fehde und
Streitigkeiten mit anderen im Kampfe Mann gegen Mann auszutragen.

Der Druck war unerträglich, und der Gegendruck aus der Masse der
Unterdrückten machte sich immer mehr wahrnehmbar; es gor und brodelte
unter ihnen und schuf sich Luft nach oben in schrecklichen Taten der
Verzweiflung, die wie die Blasen aus dem trüben Schlamm des Morastes
aufstiegen und doch zuletzt wirkungslos zerplatzten. Der ›Arme Konrad‹,
der ›Bundschuh‹ sind die Namensprägungen, unter denen sich die Bauern
zusammenschlossen. Ihr verworrener Zorn griff die verrottete Kirche
an, er stürmte an gegen die Gewalthaber jeglicher Art, er traf die
Städter, wo er sie treffen konnte. Die Organisation der Bauern war
eine wirre, unklare. Neben der großen Masse zogen sie in zahllosen
Einzelhaufen durch das Land. Sie fanden sich zusammen, wie der Wolf
sich zum Wolf gesellt, um gemeinsam auf Beute auszuziehen. Wen sie
trafen, den schlugen sie nieder und bemächtigten sich seines Besitzes,
und wer es konnte, der schlug sie tot wie tolle Hunde. Die Sicherheit
im Lande, auf den Straßen war wieder einmal im deutschen Lande geringer
denn je, und sie wurde noch verringert durch die adligen Schnapphähne,
die bei der Aufteilung der Machtbelange unter ihre mächtigeren und
einflußreicheren Standesgenossen übergangen waren. Sie lebten von der
Hand in den Mund und hungerten und lungerten auf ihren zerfallenen
Raubnestern, bis der Turmwärtel oder Spione das Herannahen einer Beute
meldeten. Dann stiegen sie hinab, lauerten den Ankommenden auf, suchten
die Beute zu erhaschen, schlugen, erschlugen oder wurden erschlagen.

Das größte Risiko bei dieser Art adliger oder bäuerlicher Wegeaufsicht
trugen die Städter, wenn sie ihre festen Mauern verließen, um mit
gefüllter Geldkatze im Osten oder Süden, im Norden oder Westen
einzukaufen, oder wenn sie mit den erworbenen Warenballen oder
Gewürzsäcken heimkehrten. Wer nicht reisen mußte, hockte daheim hinter
dem Ofen; wen aber die Notwendigkeit veranlaßte, den Schutz der
Stadtmauer aufzugeben, der sah sich nach genügendem Schutz um, damit er
der Gefahr begegnen könne.

                   *       *       *       *       *

Auf dem Deutzer Ufer des Rheins lagerte und lungerte an einem der
letzten Oktobertage des Jahres 1515 ein bunter Haufen kriegerischer
Gestalten. Sie lagen und standen umher, wie es ihnen einfiel. Alle
blickten nach dem gegenüberliegenden Köln, da, wo das Frankentor gegen
den Strom zu den Austritt aus der Stadt freigab. Es waren deutsche
Knechte, die in Frankreich abgelohnt wurden, nachdem der Herzog von
Burgund mit dem jungen König Ludwig +XII.+ einen Vergleich
geschlossen hatte. Der Obrist konnte den rückständigen Sold nicht
zahlen, dieweil der Burgunder die Zahlung weigerte, nun er die fremden
Söldner nicht mehr gebrauchte. Die Truppe meuterte, der Hauptmann, der
zu vermitteln suchte, wurde erschlagen. Dann waren sie gegen Osten zu
gezogen, marodierend und schatzend, wo sie es konnten und wo sie es
wagen durften. In den Städten ließ man sie nicht ein; es waren zu wilde
Gäste, denen die eigenen Stadtsoldaten nicht gewachsen gewesen wären.
Auch das erzbischöfliche Köln hielt ihnen die Tore verschlossen. Sie
wurden unter geeigneter Bedeckung um die Stadt geleitet an den Rhein.
Dort überließ man sie sich, nachdem man unter gegenseitigem Grüßen, wie
»Pfaffenknecht« oder »Meuterer«, voneinander Abschied genommen hatte.
Von den Bastionen spähten die Stadtsoldaten mit brennender Lunte zu
ihnen herab, um einen Annäherungsversuch unfreundlich zurückzuweisen.
Der Fährmann mit seinen Knechten war seitens der Stadt gedungen, sie
unentgeltlich an das andere Ufer überzusetzen; so hoffte man, bald den
großen Strom zwischen der Stadt und den wilden Gesellen als schützenden
Wall zu haben.

Vielleicht aber hätten die fremden Gäste sich doch nicht so mit der
Überfahrt beeilt, wenn ihnen nicht ein besonderes Angebot die Sache
annehmbar gemacht hätte.

In Köln weilten zur Zeit die flandrischen und wallonischen Kaufherren
aus Gent, Antwerpen, Brügge, Dinant, und wo immer sonst das Kupfer
des alten Rammelsberges Verwendung finden mochte. Sie kamen mit
gespickten Geldkatzen und kostbaren Warenballen, um im Tausch für sie
das wertvolle Metall einzuhandeln oder die Erzeugnisse ihres eigenen
Gewerbfleißes zuvor in den Städten Westfalens und des Niedersächsischen
Kreises in Geld umzusetzen und dann mit dem Verdienten in Goslar das
Gewünschte zu erwerben. Ihre Gesichter wurden besorgter, je mehr sie
sich den Grenzen Deutschlands näherten; denn was sie über die Zustände
im Reiche hörten, mußte sie mit den größten Bedenken hinsichtlich
ihrer Person wie ihres Eigentums erfüllen. Sie zogen zwar unter dem
reisigen Geleit einer Anzahl Gewappneter dahin, aber diese boten
allenfalls Schutz gegen die landesübliche Unsicherheit einzelner Trupps
von Wegelagerern und adligen Strauchdieben. Im Kampfe mit großen Haufen
verzweifelter und verwilderter Bauern mußten sie erdrückt werden.

Da kam einer der Wagenknechte, der, vor der Stadt sich ergehend, den
seltsamen Zug der Landsknechte gesehen und von ihrem Wegziel gehört
hatte, auf den guten Gedanken, dem Herrn diese wagemutigen Gesellen
als Geleit für den Weg vorzuschlagen. Sein Vorschlag fand Anklang,
wenn auch mancher der Kaufleute abriet, sich der wilden Soldateska
anzuvertrauen. Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. So
wurde ein Unterhändler zu ihnen geschickt. Was er berichtete, klang
vertrauenerweckender, als man erwartet und gehofft hatte. Die meisten
Leute wollten nach Niedersachsen, woher sie stammten. Sie waren des
Kriegslebens müde und sehnten sich nach Ruhe, wenigstens zur Zeit.
Die Bewaffnung sei gut, der Webel, der die Führung habe, besitze
Gewalt über die Leute, und die Soldaten selbst machten keinen allzu
schlechten Eindruck. Gegen ein gutes Handgeld und entsprechende
Ablohnung nach Erfüllung des Auftrages seien sie bereit, den Schutz
des Zuges zu übernehmen, mit der Einschränkung allerdings, daß es dem
einzelnen freistehe, abzuschwenken, wenn die Heimat erreicht sei. Da
indes die meisten, wie erwähnt, aus den braunschweigischen Ländern und
noch darüber hinaus waren, so blieb bis in die Nähe von Goslar ein
wirkungsvolles Geleit gesichert. Das Handgeld war ausgezahlt, und die
Knechte warteten ihrer Schützlinge.

Unter ihnen waren auch einige Blessierte und Schwerverletzte. Im
Hintergrunde hielt der Wagen der Marketenderin, eines kräftigen
Frauenzimmers. Immecke Rosenhagen hieß sie und stammte aus Salzwedel.
Den Eltern war sie vor nunmehr manchem Jahre davongelaufen mit einem
Gesellen des Vaters, der aus dem Stolz des eingeborenen Gildemeisters
heraus sich dagegen sträubte, die einzige Tochter einem zugereisten
Fremden zur Frau zu geben. Der Geliebte griff zur Hellebarde, sie
bestieg das Wägelchen, in welchem sie allerlei Trink- und Eßbares für
das Fähnlein mitführte. Übrigens hatte die beiden ein schnellbereiter
Feldkaplan in christlicher Ehe zu Mann und Frau gemacht. Des
Mägdeleins, das ihrer Liebe entsprossen, konnte sich der Vater nicht
allzulange erfreuen; eine Stückkugel zerriß ihm vor den Wällen von
Maastricht die Brust.

Immecke und ihr Töchterlein Monika blieben dem Regiment treu und zogen
mit ihm von einem Kriegsschauplatz zum andern. Wo immer die Kartaunen
rasaunten und die Hakenbüchsen krachten, hielt ihr Wägelchen in der
Nähe. Manchen Verwundeten hatte sie gepflegt, manchem Sterbenden
die brechenden Augen zugedrückt. Und es war rührend, wie das rauhe
Soldatenvolk diese Treue vergalt. Wehe dem, der sich gegen Immecke oder
ihre Monika vergangen hätte. Die Mutter hatte zwar selbst einen allzeit
schlagfertigen Mund, um sich etwaiger Ungebührlichkeiten zu erwehren;
aber dazu wurde ihr kaum Gelegenheit gegeben; sie war Respektsperson im
ganzen Regiment und besonders des Fähnleins des Hauptmanns Hennecke,
unter dem ihr seliger Mann gedient hatte und dem sie sich infolgedessen
auch zugeschrieben erachtete. Selbst der Spitz, der unter dem Wagen
daherlief, war in diesen Schutz eingeschlossen.

Immecke Rosenhagen gab mehr als einmal die Schlichterin bei bösen
Händeln ab, wie sie Würfelspiel, Trunkenheit oder die Dirnen des
Trosses wohl hervorriefen. Hätte sich eins dieser losen Weiber einmal
unehrbietig gegen Immecke oder ihr Töchterlein benommen, es wäre
ihm teuer zu stehen gekommen. Die Meuterei, bei welcher der wackere
Hauptmann Hennecke das Leben eingebüßt hatte, verzieh sie ihren
Kindern, wie sie ihre Soldaten zu nennen pflegte, lange nicht. Zwar war
der tödliche Streich nicht von einem Angehörigen des eigenen Fähnleins
geführt worden. Indes die Leute auch des Hauptmanns Hennecke hatten
sich an dem Aufruhr beteiligt. Sie selbst war zur Zeit der Tat auf
Einkauf fortgewesen und hörte erst bei der Rückkehr von dem Tumult.
Die Tat war geschehen, und den guten Hennecke rief niemand mehr ins
Leben zurück. Aber den Knechten seines Fähnleins wurde von Immecke eine
Predigt darob gehalten, die sie lange nicht vergaßen.

»Ihr wollt ehrliche, deutsche Knechte sein? Eidbrüchige Schufte seid
Ihr, die mit Mordbuben gemeinsame Sache machen, wenn sie die paar ihnen
zustehenden Gulden nicht sogleich erhalten. Kann der Herr Obrist dafür,
wenn ihm der welsche Fürst das gegebene Versprechen nicht hält? Hat
der Hauptmann nicht allezeit wie ein rechter Vater für Euch gesorgt?
Nun liegt er erschlagen vor Euch, und daheim warten Frau und Kind
vergeblich auf die Wiederkehr. Pfui über Euch!«

Die Knechte krauten sich verlegen hinter dem Ohr und schlichen beschämt
zur Seite. Seit dem Tage hatte Immecke sie noch fester in der Hand.
Sie war die eigentliche Führerin auf dem Marsche in die Heimat, wenn
auch der Weibel die äußere Leitung beibehielt. Alle waren kriegsmüde,
die Soldaten wie die Marketenderin. Wo sie ihr Haupt niederlegen würde,
wußte Immecke noch nicht. Aber sie wollte ihrer Monika eine Heimat
geben.

Vor dem Wagen, auf dem sie hantierte, standen einige Knechte und
leerten den Becher mit Branntwein, der ihnen die Morgensuppe ersetzen
mußte.

»Nun geht's zur Mutter, Immecke«, rief ihr Klaus Bolte zu, der in
Osterode am Harz zu Hause war.

»Na, die wird sich recht freuen, wenn Du mit Deiner zerhackten Visage
vor ihr auftauchst. Sieh nur zu, daß wenigstens die Nase wieder etwas
ins Gerade gerückt wird, sonst läuft selbst der Kater mit Grauen
davon.«

»Schadet nichts, Mutter Immecke«, erwiderte Klaus ungerührt. »Freuen
wird sie sich doch, denn zuletzt ist doch noch manches an dem Kerl
geblieben, was sich sehen lassen kann. Wird für den verlorenen Sohn
kein Kalb geschlachtet, so doch hoffentlich ein tüchtiges Stück
Schinken aus dem Rauchfange geholt. Und der Vater soll's nicht zu arg
machen. Dem Stöcklein sind wir mit der Zeit entwachsen; könnte uns
ansonst gleich wieder die Klinke in die Hand drücken. Neugierig bin ich
nur, wie wohl das Schwesterchen ausschaut, das ich vor Jahren als ein
kleines Hutzelchen verließ. Muß etwa so alt sein wie Eure Monika. Ob
sie freilich auch so schier und blank dareinschaut wie diese, weiß ich
nicht.«

Da lief ein Schmunzeln über Immeckes Gesicht, und sie reichte Klaus
Bolte einen Becher Branntwein. »Da, nimm's und trink's auf ihr Wohl, so
verkühlst Du Dir den Magen nicht in diesem Schandwetter. Ansonst die
Mutter Dich mit Kamillentee zurechtpäppeln muß, statt des Schlegels
vom geschlachteten Kalbe.« Klaus lachte über das ganze Gesicht und
setzte den Becher an die ewig durstigen Lippen.

Währenddessen war die Tochter, von der die Rede war, um einen
Schwerblessierten beschäftigt, der mit noch zwei anderen auf einem
Beiwagen im Stroh lag. Ihm war bei dem letzten Treffen das linke
Bein zerschmettert, und die Säge des Feldschers hatte ihm nur einen
armseligen Stumpf davon übriggelassen.

»Nun, wie geht's mit der Wunde, habt Ihr noch arge Schmerzen?« fragte
das Mädchen mitleidig, während sie ihm das Strohkissen zurechtrückte,
daß er bequemer sitze.

»Wie soll's anders sein,« murrte der alte Doppelsöldner, »natürlich
zwickt's noch höllisch; aber das ist's nicht, was mich niederdrückt.
Die Aussicht, den Bettelmann künftig zu spielen, als Lump hinter einer
Hecke zu verrecken, das ist es, was einen ehrlichen Kriegsmann wurmt
und auffrißt! Man hätte mich verbluten lassen und mit dem, was von mir
da hinten bei Nanzig blieb, beiroden sollen!«

»Pfui doch, der garstigen Rede«, sagte Monika, während sie begütigend
über das struppige Haar strich. »Dankt vielmehr Eurem Gott, daß er Euch
das Leben ließ. Der wird auch weiter für Euch sorgen. Ihr habt doch
noch Leute zu Hause, die für Euch sorgen werden.«

Der alte Veteran blickte gerührt zu ihr auf. »Du bist doch unser
Engelein, Monika! Hast recht, so ganz verlassen bin ich nicht. Noch
lebt mir das alte Mütterlein daheim; die freut sich, bringt ihm der
Sohn auch statt güldener Ketten und anderer Schätze, die er auszog zu
erwerben, nur ein Stelzbein mit. Und der Bruder, der das väterliche
Anwesen erbte und bewirtschaftet, war auch keiner der Schlechtesten.
Ist die Frau, die er inzwischen heimführte, von ähnlicher Gesinnung, so
mag auch bei ihnen ein Plätzchen hinter dem Ofen für mich bereit sein,
und den Kindswärtel kann ich zur Not auch noch spielen. Sag's nur der
Mutter nicht, in welcher Laune Du mich getroffen, sonst setzt es noch
ein Donnerwetter von ihr. Du weißt ja, wie sie ist.«

Immecke war derweil mit einem andern ins Gespräch geraten, der eine
Binde über dem linken Auge trug.

»Wohl bekomm's, Erdwin Scheffer«, wünschte sie dem Einäugigen zugleich
mit dem Becher, den sie ihm reichte. »Nun, freust Du Dich, daß wir
glücklich über den Rhein sind? Jetzt geht's mit Macht der Heimat zu.
Die Eltern werden sich freuen, wenn sie Dich wiederhaben.«

Ein verbissenes Lachen war die Antwort.

»Natürlich, die werden alle Türen bekränzen, wenn der Hansdampf
in allen Gassen flügellahm wiederkehrt, der ihnen ausriß, weil es
ihm daheim zu wohl war und weil er ihren gutgemeinten Plänen nicht
gehorsamen wollte. Und die Freunde erst und die Jüngferlein, wie werden
die sich um mich reißen, den Krüppel.«

»Laß die Mutter aus dem Spiel bei Deinem gottlosen Reden«, widerriet
Immecke ernst und nachdrücklich. »Was weißt Du, was eine Mutter für ihr
Kind im Herzen trägt.«

Sie kam nicht weiter mit ihrer Ermahnung, denn in diesem Augenblick
begann am jenseitigen Ufer vor sich zu gehen, worauf alles schon
wartete. Das Frankentor öffnete sich und ließ die Karren und Wagen
der flandrischen Kaufleute heraus. Sie rumpelten nacheinander das
abgeflachte Steinufer zur Fähre herab, die sie übersetzen sollte.
Man sah, wie die Pferde unruhig aufstiegen, als sie das schwankende
Gerüst betreten sollten. Dann kam die erste Last über den Strom und
landete nach langer Zeit am Deutzer Ufer. Einmal nach dem andern fuhr
der Fährmann mit seinen Knechten herüber und zurück, denn der Zug war
lang, und die Fähre trug nicht mehr als zwei Gefährte zugleich. Es ging
schon auf den Nachmittag, als der letzte Wagen den Uferrand bei Deutz
heraufrollte.

Manches derbe Scherzwort fiel bei den Kriegsknechten über das Bild, das
sich vor ihnen abspielte.

»Was mögen wohl die Ballen und Kisten an Kostbarkeiten bergen?« meinte
neugierig lüstern Abel Wüstemann aus Zerbst. »Das kann Dir gleich
sein«, fiel ihm Immecke ins Wort. »Für Dich ist's jedenfalls nicht
bestimmt. Laß also Deine Gedanken und Finger davon, das rate ich Dir.«

»Nun, nun, man wird doch noch seinen Mund auftun dürfen«, brummte der
also Gemaßregelte.

»Besser ist's schon, Du befolgst meinen Rat und behältst Deine Gedanken
für Dich; wir kennen uns doch von Arras her, wo ich Dich durch ein
gutes Wort vor dem Profosen rettete, als Du ein wenig von des Nächsten
Gut an Dich gebracht hattest. Ein zweites Mal wird Dir meine Fürsprache
fehlen. Wir wollen als ehrliche Leute in die Heimat ziehen.« Da schlich
er beschämt zur Seite.

Verdrossen glitt der Blick Erdwin Scheffers über das Treiben am
Strande. Unschlüssig stand er da über seine Hellebarde gebeugt, in
seiner Lässigkeit doch die Kraft verratend, die in seiner schlanken,
sehnigen Gestalt gefesselt stak. Das hübsche Gesicht wurde nicht einmal
durch die schwarze Binde merklich entstellt. Die Hand glitt verloren
durch das Bärtchen, welches die Lippen zierte. Monikas Blick folgte dem
Abseitsstehenden. Sie wischte sich verstohlen die Augen, die ihr feucht
geworden waren im Gedanken an sein Unglück; was war aus dem lustigen
Gesellen geworden, der zu ständiger Kurzweil früher geneigt war. Ihr
selbst kaum bewußt, schlug ihm ihr junges, unschuldiges Herz entgegen.

Erdwins Gedanken weilten indes weitab von ihr und vom Rhein. Die Berge
des Harzes stiegen vor ihm auf und die Stadt mit den vielen Türmen,
aus der er in trotzigem Übermut und Groll entwichen war. Wie mochte
es jetzt daheim aussehen, was die Mutter sagen und der Vater denken,
dessen starrer Sinn ihn beim eigenen Handwerk festhalten wollte, um
ihn durch die Hand der Nachbarstochter noch unlöslicher mit der Heimat
zu verbinden? Denn er kannte den unruhigen Sinn des Sohnes, der in die
Ferne strebte und in unklarer jugendlicher Abenteurerlust jenseits der
Berge die blaue Blume zu pflücken hoffte, von der die Mär erzählte.
Erdwin hatte längst eingesehen, daß diese Blume im Lande Nirgendwo
blühe und daß der ehrsame, gestrenge Vater zuletzt doch das Richtige
mit ihm im Sinn hatte. Aber Trotz und Scham hielten ihn davon ab, als
reuiger Sohn zurückzukehren, und auch die Aussicht, doch noch das
Opfer der väterlichen Heiratspläne zu werden. Die breithüftige Maria
Hellvogt, die man ihm zugedacht hatte, mit den guten, blauen Augen im
rundlich-dummen Gesicht, konnte ihn auch heute noch nicht locken, zumal
wenn er sie mit der zierlichen Monika verglich, die ihm in den Jahren
der gemeinsamen Kriegsfahrt mehr als ein guter Kamerad geworden war.
Nun kehrte er als ein Schiffbrüchiger heim, und er mußte vorliebnehmen,
was ihm von der Eltern Gnade übrigblieb, wenn sie ihm nicht gar ganz
die Tür verschlossen.

Ingrimmig stampfte er mit der Waffe auf; da fiel sein Blick auf
einen der Männer, die ihre Rosse von der Fähre die Uferböschung
hinaufführten: Wenn's nicht gar so närrisch wäre, sollte man meinen,
das sei ein alter Bekannter von daheim. Noch einmal sah er hin und noch
einmal. Wahrhaftig, kein Zweifel, das war ja der Heinrich Achtermann,
des Ratsherrn Sohn, und der da neben ihm, war das nicht Johannes Hardt
von der Poppenbergstraße? Und schon klang es auch von seinen Lippen:
»Heinrich Achtermann, Johannes, Herr Johannes Hardt, bist Du es, seid
Ihr es wirklich?«

Hallo, wer rief hier, in der Fremde, ihren Namen? Heinrich blickte sich
erstaunt um.

Die Freude, einen Bekannten aus der alten Heimat, einen Jugendgespielen
unvermutet zu sehen, überwog bei Erdwin jedes andere Gefühl. Eilig trat
er näher. »Bei Gott, das nenn' ich eine Freude in all der Trübsal«,
sprudelte er hastig hervor. »Aber sagt, erkennt Ihr mich denn immer
noch nicht, den Erdwin Scheffer von Sankt Ägidien, mit dem Ihr so oft
in des Nachbars Garten auf Raub gezogen und der ebensooft vom Vater
den Buckel zerbleut bekam, weil er dem Stadtweibel eine Nase gedreht
oder die Zöpfe der dummen Mädel aneinander festgebunden hatte, daß sie
zeterten und schrien, als sei der Habicht unter die Hühner gestoßen?«

Nun erkannten auch sie den Jugendgespielen, und die Freude war nicht
minder groß. Das gab ein Fragen hin und her. Über die Heimat wußten sie
freilich beide wenig Neues; im Vordergrunde standen die Erlebnisse in
der Fremde.

»Was hast Du denn mit dem Auge?« fragte Johannes.

»Das ist das traurigste Kapitel aus meiner Irrfahrt. Es ist dahin, und
nicht einmal im ehrlichen Kampfe vor dem Feinde verloren, sondern
ein eidbrüchiger Schuft stieß mir sein Messer hinein, als ich einen
ehrlichen Mann, unsern Hauptmann, aus den Krallen der meuterischen
Knechte befreien wollte. Er hat zwar seine Tat mit dem Leben gebüßt,
denn die Kameraden schlugen ihm gleich danach den Schädel ein, aber ich
bin ein Krüppel fürs Leben und weiß noch nicht, wie ich es trage und
vor die Eltern treten soll, denen ich im aufgeblähten Stolz vor mehr
als fünf Jahren davonrannte.«

Man sprach ihm gut zu, und die düstere Falte auf der Stirn glättete
sich allmählich unter dem lebhaften Austausch von gemeinsamen
Erinnerungen und dem »Weißt Du noch?« »Besinnst Du Dich?« Niemand aber
war froher als das wackere Paar am Marketenderwagen, als sie sahen, daß
ihr Liebling wieder etwas frohmütiger dreinblickte, und Monika rechnete
es dem Heimatsgenossen als besonderes Verdienst an, daß ihm dies
gelungen war.




Der Zug der Kaufleute hatte das Bergische Land durchquert und war
in die Soester Börde hinabgestiegen, vorbei an mehr als einem der
Raubnester, die über den tiefen Taleinschnitt am Felsen klebten wie das
Nest der Mauerschwalbe. Manch begehrlicher Blick eilte ihnen von da
oben entgegen und geleitete sie im Vorbeiziehen, aber man wagte sich
nicht an die Fremden heran, die wie ein kleiner Heereszug stattlich und
sicher dahinzogen. Es waren der Kaufleute gar viele, die aus Flandern
und Frankreich solchergestalt ins Reich zogen, denn manche von ihnen
zogen noch über Goslar hinaus bis Leipzig, um dort auf den großen
Märkten, den Vorläufern der heutigen Messe, den Warenaustausch bis
nach dem fernen Osten hin zu vermitteln. Gemeinlich fand nur einmal im
Jahre ein solcher Zug aus dem Westen her statt. In Goslar hielt man
sich monatelang auf und handelte dort wie in Braunschweig und anderen
Städten der Nachbarschaft, bis die Ostgänger wieder zurück waren und
man nun mit dem begehrten Kupfer und anderen Schätzen die Rückreise
antreten konnte.

In Goslar pflegten die Fremden bei ihren Geschäftsfreunden abzusteigen,
während die Knechte und Handlungsgehilfen in den Herbergen Unterkunft
fanden. Manche engen Beziehungen waren so entstanden zwischen Goslarer
Familien und Häusern in Brabant oder Nordfrankreich. Fäden liefen hin
und her, die nicht leicht zerrissen. Der bedächtige Kaufmann vertraute
seine Sachen nicht gern fremden Händen an, und erst wenn das Alter zu
sehr drückte oder der Sohn und Nachfolger Gewähr bot, daß die Geschäfte
mit gleicher Gewissenhaftigkeit erledigt werden würden, trat der Alte
zurück und überließ der jungen Kraft die Beschwerden der Reise. So
kam es, daß Heinrich und Johannes Hardt auch Bekannte unter ihnen
antrafen. Da war der weißhaarige Herr Jan Uytersprot aus Brügge, der
beim Nachbar Borchardt abzusteigen pflegte und sich so gern mit den
Kindern beschäftigte. Noch heute rechnete es ihm Heinrich hoch an, daß
er sein Versprechen, ihm einen richtigen Bogen mit Köcher aus Brabant
mitzubringen, getreulich gehalten hatte. Und Herr Gérard Dietvorst aus
Dinant und Felix Vandepere aus Löwen und noch andere, sie alle tauchten
vor ihm mit bekannten Gesichtern auf. Er selbst mußte sich freilich
ihnen erst wieder in Erinnerung bringen, denn seit der Kindheit war
manches Jahr dahingerauscht, und den aufwachsenden und in die Fremde
ziehenden Jüngling hatten sie aus dem Gesicht verloren. Von seinem
Auftrage war natürlich nicht die Rede, und ihre Geschäfte nahmen sie
mehr in Anspruch als der Gedanke, wie die jungen Goslarer hier in ihren
Zug kamen.

In Soest fand Heinrich Achtermann Gelegenheit, die Grüße des Vaters im
Hause Ernestis zu bestellen und sich zu überzeugen, welches geschäftige
Leben in der alten Hansestadt pulsierte. Ernestis Wohnwesen stellte mit
seinen Höfen, Speichern und Stallungen eine Handelsburg für sich dar.
Der Mann mußte ein ganz Großer unter seinen Berufsgenossen sein!

An der Weser gab es unerwünschten Aufenthalt, denn die Brücke bei
Höxter war wieder einmal abgetragen oder davongeschwemmt. Argwöhnisch
schielte man sich von beiden Ufern an: hier die kurmainzischen Mönche
von Corvey mit den erzbischöflichen Knechten in der Stadt, drüben die
Mannen des braunschweigischen Vogts. Also galt es, noch einmal auf der
Fähre den Fluß zu überqueren.

In Köln hatte sich dem Zuge auch ein Händler Hans Römer aus Helmstedt
angeschlossen, der die günstige Gelegenheit zur Heimreise benutzen
wollte. Seine Gewandtheit und seine Kenntnis des Flämischen wie des
Französischen machte ihn zu einem willkommenen Begleiter für diesen
und jenen der Kaufleute, denen das Deutsch etwas polterig vom Munde
floß. Dabei war er am Rhein mit Land und Leuten ebenso vertraut wie in
Westfalen, und seine Beweglichkeit half manchen Zusammenstoß mit den
Landesbewohnern wie mit Behörden vermeiden. An Heinrich und Johannes
schien er einen besonderen Gefallen gefunden zu haben. Wo es nur
anging, hielt er sich in ihrer Nähe auf und verstand es auch meistens,
in derselben Herberge mit unterzuschlüpfen. Johannes vergalt diese
Freundlichkeit nicht mit gleichem Entgegenkommen. Es lag etwas im Wesen
des Mannes, was ihn abstieß; war es der unsichere Blick der ewig auf
der Wanderung befindlichen Augen oder die aufdringliche Zutraulichkeit;
er wußte es selbst nicht. Heinrich war weniger mißtrauisch. Seine
Vertrauensseligkeit hatte bisher noch keinen groben Stoß im Leben
erlitten. Einmal wurde allerdings auch sein Argwohn rege, als er
den Helmstedter im Morgengrauen, da alles noch schlief, bei seinen
Habseligkeiten fand. Römer war um eine Ausrede nicht verlegen, als
Heinrich ihn fragte, was er an seinen Sachen zu tun habe. Es lag
natürlich ein Versehen vor, das sich aus dem unsicheren Licht erklärte,
und tatsächlich befand sich das Bündel des Mannes dicht dabei, so daß
ein Irrtum möglich war.

Der Argwohn erhielt aber neue Nahrung durch eine Mitteilung Erdwin
Scheffers, dem es Monika Rosenhagen sagte. Sie hatte Römer mehrere Male
im geheimen Gespräch mit einigen Landsknechten gesehen und dabei auch
den Namen »Achtermann« deutlich vernommen. Da jener Wüstemann dabei
gewesen war, dem die Mutter eine unreine Hand nachsagte, so nahmen sie
an, daß irgendein Schelmenstück geplant werde. Man konnte aber zunächst
nichts weiter tun, als die Augen offen halten. Und das taten Monika mit
ihrer Mutter wie Erdwin Scheffer und Johannes Hardt seitdem noch mehr
als Heinrich selbst.

Die Zahl der Landsknechte verringerte sich inzwischen mählich, aber
stetig in dem Maße, wie die Heimat des einzelnen näher kam. Als man
sich dem Harz zuwandte, waren es nur noch ihrer dreißig. Man mußte
der wilden Schar nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe auf der langen
Reise redlich erfüllt hatte. Freilich hatten die Kaufleute tüchtig in
den Beutel greifen müssen, aber die Vorsicht lohnte sich doch, und
man konnte hoffen, die Mehrkosten wiedereinzubringen, sei es durch
vorteilhafte Einkäufe in Goslar oder durch Aufschlag auf die Waren
daheim. Ein Jauchzen rang sich von den Lippen Heinrichs, als die Berge
des Harzes jenseits Gandersheim in der Ferne aufblauten.

»Die Heimat, Kinder, die Heimat winkt uns«, rief er den Gesellen zu,
die in seiner Nähe gingen.

»Für Dich ja, aber für mich?« erwiderte Erdwin traurig. »Auch für Dich,
guter Erdwin«, redete Johannes ihm tröstend zu. »Auch für Dich wird
sich noch alles zum besten wenden. Jetzt freue dich mit uns, daß wir
dem alten, lieben Goslar näher kommen.«

Man kam durch Ildehausen, wo ehedem Ernestis Ahnen hausten. Vor ihnen
erhoben sich die Berge in immer machtvollerer Fülle, und dann zogen
sie in das kleine Städtchen Seesen ein, das die letzte Raststätte vor
Goslar sein sollte.

In Seesen verließen noch einige Landsknechte die Gesellschaft. Da man
aber dem Ziel nahe war und die unsicheren Gebiete hinter sich wußte,
glaubte man das Endstück der Reise unter dem Schutze der eigenen
Bewaffneten und des Restes der Soldaten wohl zurücklegen zu können.

In diesem Städtchen verschwand auch Römer, und man trauerte dem
unleidlichen Gesellen nicht nach. Erdwin Scheffer war noch immer nicht
ganz beruhigt. »Ich kann mir nicht denken, daß der Kerl irgendeinen
Plan hegte und nun ohne weiteres auf die Ausführung verzichtet, ohne
den ernstlichen Versuch zu seiner Ausführung unternommen zu haben.«
Aber Heinrich, wie jetzt auch Johannes, waren guten Mutes, und man
verließ anderen Morgens die kleine Stadt. Sie hofften, schon in den
frühen Stunden des Nachmittags in Goslar einzutreffen; doch ein
Radbruch beim Neuen Kruge gab unliebsamen Aufenthalt, und es sanken
schon die frühen Schatten des Novembertages herab, als man sich den
Goslarer Bergen näherte.

Der Vogt des festen Hauses in Langelsheim, das den Braunschweigern
gehörte, gab mürrischen Dank auf den Gruß, den man ihm bot.

»Wie seine Herren«, sagte Heinrich lachend, dessen frohe Ungeduld mit
jedem Schritt wuchs. Vor ihnen verließen ein paar Bewaffnete den Ort,
wahrscheinlich Knechte des Herzogs, die mit Botschaft nach Langelsheim
gekommen waren oder solche mit sich nahmen. Sie ritten, daß die Funken
stoben. »Die haben es eilig, daß sie unsere Gesellschaft meiden«, rief
Erdwin hinter ihnen her.

Als man in den hohlen Fahrweg einbog, der das letzte Stück des Weges
vor Goslar bildete und etwas westwärts vom Kloster Riechenberg begann,
war die Dunkelheit völlig hereingebrochen. Der Weg führte in der tiefen
Rinne dahin, die vom Wasser in der Hauptsache gegraben war und ihm auch
weiter als Abflußrinne diente. Die Wagenknechte suchten fluchend die
Laternen hervor und hieben auf die müden Gäule ein. Da durchschnitt
plötzlich ein schriller Pfiff die Luft. An der Spitze des Zuges
krachten Schüsse, und alles geriet ins Stocken. Von der Höhe sprangen
Bewaffnete herab und schleuderten Feuerbrände in den Wirrwarr auf der
Talsohle. Die Pferde scheuten und suchten durchzubrechen. Überall
Kampfeslärm und Waffengeklirr. Man dachte zunächst nichts anderes, als
daß man zuletzt doch noch das Opfer eines Überfalls von Strauchdieben
geworden sei.

Heinrich ritt mit Johannes ziemlich an der Spitze des Zuges; denn die
Ungeduld trieb sie voran. In ihrer Nähe war auch Erdwin Scheffer mit
noch anderen Knechten. Sie wollten umkehren, um die Wagen zu schützen;
aber da traten ihnen mehrere Bewaffnete entgegen. »Der da ist es«, rief
einer der Fremden mit einer Stimme, die Heinrich bekannt vorkam. Sie
warfen sich auf ihn und suchten ihn zu überwältigen. Heinrich wehrte
sich kräftig, doch die Überzahl war zu groß. Ihm schwanden die Sinne,
er merkte nur noch, daß ihm die Brusttasche entrissen wurde. Da kam
Hilfe von Erdwin und Johannes, die sich bis jetzt selbst ihrer Gegner
zu erwehren gehabt hatten. »Dachte ich's doch, daß der Schuft seine
Hand im Spiele habe.« Damit warf er sich auf die Angreifer und drang
bis zu Heinrich vor; denn er sah, daß der, den er meinte, es war der
Helmstedter, mit seiner Beute davonwollte. Da holte diesen ein Schlag
mit der Hellebarde herab. Mit gespaltenem Schädel sank er zu Boden.

Mit dem Falle des Anstifters schwand auch die Angriffslust der
übrigen. Sie suchten nur noch ihren Rückzug zu decken und klommen
kämpfend den steilen Hang hinan. Erdwin, in dem die alte Kampfeslust
erwachte, drängte hitzig nach. Hier und da krachte noch ein Schuß,
zersplitterte noch ein Lanzenschaft. Noch ein Feuerstrahl zuckte aus
einer Hakenbüchse auf, er galt und traf Erdwin Scheffer. Als letzter im
Kampfe sank er dahin. »Die Tasche!« flüsterte er noch dem Nächsten zu,
dann brach er zusammen. Man hörte den Galopp von fortjagenden Reitern,
dann blieb die Nacht allein mit den Überfallenen zurück. Man suchte zu
ordnen, so gut das bei dem Wirrwarr und der Dunkelheit ging. Johannes
war um Heinrich Achtermann bemüht, den er für schwerverletzt hielt;
Erdwin Scheffer blieb zunächst sich selbst überlassen.

Der nächtliche Kampf hatte leider nicht nur blutige Köpfe gekostet,
einige Knechte waren tot. Verwundete ächzten und riefen um Hilfe.
Herabgezerrte Warenballen sperrten den Weg. Angstvoll suchte Monika
im Hohlwege vorzudringen. Ihnen war nichts geschehen, der Angriff
hatte sich von vornherein auf die Stelle gerichtet, wo man Heinrich
Achtermann vermutete. Ihre Sorge galt Erdwin Scheffer, dem fröhlichen
Gesellen mancher kurzweiligen Stunde im Tumult des Krieges, dem
Geliebten ihres Herzens, wie sie in der Stunde der Gefahr mit
blendender Klarheit erkannte. Ihr Fuß strauchelte über Wurzeln, sie
versank in Rinnsale des Weges, aber sie ruhte nicht, bis sie ihn
gefunden hatte. Und als sie ihn vor sich liegen sah, mit wunder Brust,
aus dem der warme Strahl hervorsickerte, da sank sie mit einem
Aufschrei über ihn hin.

»Erdwin, mein Erdwin, bleibe bei mir, verlaß mich nicht, Einziger Du!«
Irre, hilfesuchend blickten ihre Augen umher im Dunkel der Nacht.
War denn niemand da, der helfen konnte? Da kam die Mutter heran, die
Vielerfahrene. »Laß ihn mir, Monika. Wenn ihm zu helfen ist, bringe ich
ihm Rettung.«




Die steile Höhe des Erzweges hinauf, der vom Granetal über das Joch
zwischen Hessenkopf und Thomas-Martinsberg ins Tal der Gose führt,
erklangen die Glöckchen der Grautiere, die ihrer Last ledig waren,
welche sie auf dem geduldigen Rücken von den Gruben des Rammelsberges
zu den Erzrösten im Granetal geschleppt hatten. Rüstiger schritten
sie aus, als die Höhe erreicht war. Auf dem Rückwege drückte nur
leichte Bürde ihren Rücken: Kupferbarren, Bleibrote, der Gewinn aus
der umständlichen und unvollständigen Art der Verhüttung, waren ihnen
anvertraut. Vergnüglich klang das »I--ah« des Leitesels in die kühle
Novemberluft, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über den warmen
Stall und die gutgefüllte Krippe, die seiner harrten.

Unten im Granetal verhallten die letzten Axtschläge der Holzfäller an
den Berghängen, die in den Waldungen der Silvanen, der Waldherren, das
Holz fällten, welches zum Rösten und Sintern des Erzes nötig war. Vom
Glockenbrunnen her, der das klare Wasser des Glockenberges dem Tage
wiedergibt, lagerten sich die dicken Schwaden schwefligen Rauches über
der Talsohle, wo die Rosthaufen des Erzes unter der Hut rußiger Wächter
schwelten.

Zwei Männer verließen die Stätte und wandten sich ebenfalls dem Erzwege
zu. Mager und langstelzig der eine, kurz und rundbäuchig der andere.

»Gemach, gemach, Nachbar Richerdes«, mahnte der kleine Dicke. »Wir
wollen kein Wettrennen veranstalten. Ihr kommt noch rechtzeitig in der
Bergstraße an, um Euch von der Eheliebsten den Abendtrunk kredenzen zu
lassen.«

Der Lange verhielt etwas im Schritt, bis der Begleiter ihn wieder
eingeholt hatte. »Wollte hoffen, es wäre so«, sprach der Hagere
grämlich. »Aber Ihr wißt doch, daß die Frau seit Monaten siecht. Zu
Hause sehe ich schon lange kein fröhliches Gesicht mehr.«

»Entschuldigt, Nachbar, es war nicht böse gemeint«, begütigte der
Waldherr Ludecke Bandelow. »Ihr habt aber doch wenigstens die Venne;
die muß Euch doch ein wahrer Augentrost sein in diesem Ungemach, Euch
und Eurer Frau.«

»Ich will es nicht leugnen und danke Gott, daß er sie uns schenkte
für diese Zeit der Trübsal, doch lange wird ihr jugendlicher Frohsinn
auch nicht mehr vorhalten, fürchte ich. Die Mutter aufheitern und den
grämlichen Vater beruhigen, das ist nicht Jugendarbeit auf die Dauer.
Ihr seht, ich male mich selbst nicht schöner, als ich bin. Aber der
Henker soll auch die gute Laune behalten bei all dem Ärger mit dem
Berge und dem Rat.«

»Wie steht Ihr denn jetzt mit ihm?« forschte Bandelow.

»Das könnt Ihr Euch leicht vorstellen, solange Karsten Balder
regierender Bürgermeister ist. Ihr wißt ja, wie er es, offen und
versteckt, gegen mich hat, er wie seine Freunde. Sein Gelüste kenne
ich, ihm steht der Sinn nach meiner Gerechtsamen; die Ursachen liegen
tiefer: mich trifft er, aber eine andere will er treffen.«

»Ich weiß, ich weiß, es gilt Eurer ...«

»Wozu die Namen?« unterbrach ihn Richerdes, »das ändert nichts an der
bestehenden Gegnerschaft. Die Hauptsache ist, daß man den Gegner als
solchen kennt.«

»Ja, das ist das schlimme, daß es möglich ist, ehrsamen und
pflichttreuen Bürgern das Leben schwer zu machen unter der Flagge
der Fürsorge für die Stadt. Eine nette Fürsorge das, die darauf
hinausläuft, einem das bißchen Eigentum zu nehmen. Das scheint ja
freilich im Zuge der Zeit zu liegen; denn wie man bestrebt ist, Euch
die Berg- und Grubengerechtsame abzujagen, so will man uns unsere
wohlerworbenen Anrechte auf die Forst abnehmen. Aber gebt nicht nach,
keinen Zoll breit. Mit uns hat es der wohlweise Rat ja ähnlich vor;
solange ich jedoch da bin, erhält er nichts.«

»Nun, ›abjagen‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort,« fiel Richerdes
ein, »Ihr wißt ja, daß er mich und andere auskaufen will. Daß der Preis
nicht zu hoch gehalten ist, dafür sorgt aber schon der Regierende. Es
sei im Interesse der Stadt, der Allgemeinheit, so bemänteln sie es
gar schön. Aber ich kann und will das nicht einsehen. Weshalb soll
denn jetzt auf einmal verkehrt sein, was man vor nicht gar zu langer
Zeit selbst betrieb. Damals, als es hieß, Geld zu finden, Gewerke
zusammenzubringen, war mein Vater gut genug zur Hergabe des Geldes. Ich
weiß von ihm selbst, wie er sich gesperrt und gesträubt hat, ehe er
den Beutel zog. Damals drängte und mahnte der Rat, es sei eine Tat für
das Gemeinwohl; jeder Bürger, der es könne, müsse einspringen. Jetzt
wollen sie es nicht recht haben, jetzt, wo die Sache nach den vielen
Scherereien und Opfern sich als ergiebig zeigt.«

»Das ist's, damit habt Ihr ins Schwarze getroffen: sie gönnen Euch den
Gewinn nicht, und da muß das Gemeinwohl herhalten. Bleibt nur fest wie
ich. Meinen Anteil an der Forst bekommen sie nicht, und wenn sie noch
so viel darum tun. Recht muß Recht bleiben.«

So tauschten die beiden wackeren Bürger ihre Meinungen aus über den
habgierigen Rat, wie sie sein Vorgehen deuteten, und stiegen von
der Höhe herab, vorbei an der Ratsschiefergrube, die schon von den
Werkleuten verlassen wurde; denn die Schatten des Abends sanken
immer mehr herab. An der Gose entlang klapperten der Wassermühlen
unermüdliche Räder.

An dem Stadtgraben trennten sie sich mit einem Handschlag, denn
Bandelow hoffte noch durch das Mauerpförtchen an der Frankenberger
Kirche Einlaß zu gewinnen, die ragend und dräuend von der Höhe durch
das Grau des Abends herabdämmerte. Richerdes aber folgte der Fahrstraße
zum Klaustor, die seiner Wohnung in der Bergstraße näher lag.

Das Haus in der unteren Bergstraße war schon versperrt. In der
Dunkelheit des Abends konnte man von ihm nicht mehr erkennen als die
gewaltigen Umrisse, die in der engen Straße doppelt stark wirkten.
Ein großer Torweg zu oberst war schon verschlossen, wie Richerdes
feststellte; also mußte er den Klopfer des Haustores in Bewegung
setzen, daß ihm Einlaß wurde. Die Hausglocke schnepperte noch eine
Weile in immer mehr verklingenden Tönen nach, als er über den mit
Steinplatten abgedeckten Hausflur schritt, um noch einen Blick auf den
Hof und in die Stallungen zu werfen.

»Ist Besonderes vorgekommen?« fragte er eine Magd, die ihm begegnete.
»Nein, nur die Frau hat des öfteren nach Euch gefragt.« Da gab er sein
Vorhaben auf und wandte sich sogleich der Wohnung zu, die um wenige
Stufen höher, zur Seite des Flures lag. In dem großen Wohnzimmer
sandten die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters ihre Strahlen umher.
Sie scheiterten indes bei dem Versuch, bis in die dunkeln Ecken des
Gemaches zu dringen. So dunkel war es nach der Rückwand zu, daß man
kaum die Tür bemerkte, welche dort in die Schlafkammer führte. Sie
öffnete sich in diesem Augenblick, und Venne, die Tochter, trat heraus,
um den Vater zu begrüßen, da sie die Hausglocke gehört hatte.

»Wie geht es der Mutter?« war die erste Frage.

»Sie ist etwas unruhig, seit Ihr fort seid. Ich war froh, daß in Eurer
Abwesenheit Schwester Jutta vom Kloster Mariengarten hier war. Ihr
wißt ja, daß sie auf Mutter immer einen wohltätigen Einfluß ausübt.
Auch heute legte sich unter ihrem gütigen Zuspruch die Gespanntheit
der Nerven. 's ist eine gute Frau, diese Jutta; wir schulden ihr einen
Gotteslohn. Ist es nicht gerade, als ob unter ihrer kühlen Hand und dem
gütigen Trostwort alles Ungemach davonfliege?«

»Ja, wir haben allen Anlaß, ihr dankbar zu sein in dieser schweren
Zeit«, antwortete der Vater. »Ich weiß nicht, wer durch diese treue
Freundschaft mehr geehrt wird, die Mutter, der die fromme Frau auch
unter dem Schleier noch die Zuneigung bewahrt, oder jene selbst, deren
edle Eigenschaften durch diese Pflege alter Beziehungen in ein um so
schöneres, helleres Licht gerückt werden. Aber jetzt geht es ihr doch
besser, der Armen, Leidgeprüften?« fragte er besorgt.

»Sie schläft. Ich mußte sie über Euer langes Ausbleiben beruhigen,
wolltet Ihr doch schon am Nachmittage zurück sein.«

»Wollte ich auch, und wäre ich auch, wenn ich nicht den Montanen, Herrn
Bandelow, getroffen hätte, mit dem es ein langes und breites über
Holzleistungen und -lieferungen zu besprechen gab, und auch sonst ist
noch manches zwischen uns beredet worden.«

»Dachte ich's mir doch, daß Ihr einem Schwätzer wie dem in die Hände
gefallen wäret. Laßt Euch mit dem nur nicht zu sehr ein; ich werde die
Sorge nicht los, daß Euch und uns durch seine Einmischung zuletzt noch
Übles widerfährt«, hielt Venne dem Vater entgegen.

In Richerdes' Augen war ein froher Glanz getreten, als er die Tochter
bei ihrem Eintritt ins Zimmer mit dem Blick umfaßte. Der ganze Mann
schien geändert, seitdem er das Zimmer betreten hatte; nichts mehr von
der düsteren, grämlichen Stimmung, die ihn im Gespräche mit Bandelow
beherrschte. Es war für ihn ein ungeschriebenes Gesetz, alles, was er
an Verärgerung draußen erlebte, nicht über die Schwelle des Hauses
dringen zu lassen. Nur über seine Gegensätze zu dem regierenden
Bürgermeister war die Tochter durch die Mutter unterrichtet. Darauf
bezogen sich auch wohl ihre besorgten Worte. So lautete auch die
Erwiderung auf Vennes letzte Worte mehr zärtlich freundlich als
abweisend:

»Du gibst es ja Deinem alten Vater tüchtig, kleiner Schulmeister; doch
sei unbesorgt, was ich mit Bandelow besprochen habe, brauchte nicht
das Licht zu scheuen. Daß er den Mund gern etwas voll nimmt, weiß
ich besser als Du und richte mich von vornherein darnach. Aber das
Geschäftliche muß schon mit ihm beredet werden; und Du weißt ja, daß
er mein hauptsächlicher Holzlieferant ist. Die Verhältnisse im Berge
liegen leider so, daß ich mehr auf ihn angewiesen bin, als mir lieb
ist. Doch nun genug vom Geschäft und seinem Ärger.«

Venne strich ihm zärtlich über das Haar. Es war ein großes, schlankes
Mädchen, das hier von dem gelben Lichte der Kerze übergossen wurde.

Wer die Venne Richerdes nach dem Bilde sich vorstellte, welches
Heinrich Achtermann von ihr mit in die Fremde nahm, würde sie kaum
wiedererkannt haben. Nur die stolze Haltung des Köpfchens und die
seelenvollen Augen, über die im Augenblick noch ein Schatten der Trauer
um die kranke Mutter gebreitet lag, erinnerte an die Venne von ehemals.
Aus der unscheinbaren Puppe hatte sich ein glänzender Schmetterling
entwickelt. Nichts mehr gemahnte bei Venne an das eckige, unbeholfene
Ding, das vor Heinrich Achtermann davongelaufen war.

Das lang herabwallende, faltige Hausgewand, das sich lose um die
königliche Gestalt schmiegte, ließ die edlen Formen des Körpers
erraten. Mit lässiger Anmut bewegte sie sich um den Vater, während sie
mit der klangvollen Stimme ihm Rede und Antwort stand auf seine Fragen.

»Soll ich uns den Abendtisch decken lassen?« fragte sie weiter. In
diesem Augenblick erklang durch die angezogene Tür des Schlafgemaches
die Stimme der Kranken, die nach dem Vater fragte. Statt der Antwort
trat dieser sogleich zu ihr herein. Behutsam beugte er sich zu ihr
nieder, und alle Zartheit und Liebe, die er für diese Frau empfand,
klang aus seiner Stimme. Sie mußte ehedem eine schöne Frau gewesen
sein; jetzt lagen die Schatten der langen Krankheit auf ihrem blassen
Gesicht. In Venne stand ihr verjüngtes Ebenbild vor ihr. Nur ein
leichter, kritischer Zug um den Mund unterschied diese von der Mutter.
An der Kranken war, von dem leidenden Zug abgesehen, der seine Runen
in ihr Antlitz gegraben hatte, alles Weichheit, Hingabe, während Venne
über eine nicht alltägliche Entschlossenheit gebot, die ihr, dem
jungen Mädchen, den Gehorsam des Hauspersonals sicherte, vom letzten
Eseltreiber bis zur alten Katharina in der Küche, ihrer Kindsmagd, mit
der sonst niemand anzubinden wagte und von der selbst der gestrenge
Hausherr ein Wort mehr annahm, als er sonst von irgend jemand gelten
ließ.

»Wie geht es Dir, Liebste? Ich höre von Venne, daß Du wieder besonders
mit Dir zu tun gehabt hast. Schwester Jutta hatte ja, wie so oft, ihr
Bestes an Dir getan, aber soll ich nicht doch noch den Doktor Henning
holen lassen?«

»Nein, nein, ich bitte Dich. Mir ist jetzt nach dem kurzen Schlaf sehr
wohl. Es war auch weniger das Leiden, das mir zusetzte, als eine innere
Unruhe, die wuchs, je länger Du ausbliebest. Es lag auf mir wie die
Vorahnung von einem Unheil.«

»Nun bekomme ich von Dir auch noch eine Strafpredigt,« scherzte
Richerdes gutlaunig. »Vorhin hat mich Venne schon ins Gebet genommen.
Wenn ich nun Besserung gelobe für die Zukunft, willst Du dann auch mein
braves Weib sein und Dich alsogleich völlig beruhigen?«

Ihm zärtlich von ihrer Lagerstätte zunickend, ließ sie den Blick an
seiner hohen Gestalt emporgleiten. Ein leiser Seufzer entrang sich
ihrer Brust. »Was hast Du noch?« fragte er aufs neue besorgt. »Nichts,
es ist nur der Kummer, daß ich Euch das Leben mit meinem Siechtum
belaste. Ihr könnt das gar nicht auf die Dauer ertragen.«

»Das ist mir das rechte Medikament«, rief der Gatte gutmütig polternd.
»Jetzt habe ich meine ganze ungeschlachte Liebenswürdigkeit an diese
eigensinnigste aller Frauen verschwendet, um nun zum Dank von ihr zu
hören, daß sie uns lästig falle. Nun sprich Du ein Machtwort, Venne;
vielleicht, daß Du Dir mehr Respekt verschaffst.«

Venne umschlang die geliebte Mutter zärtlich behutsam und barg ihr
Gesicht an der Wange. »Ach, böses, liebes Mütterlein, der Vater hat
nur zu recht. Wie sollten wir unsere Liebe zu Euch besser zum Ausdruck
bringen, als daß wir Euch umhegen und umgeben mit unserer Pflege. Ihr
sollt uns ja bald gesund sein und werdet uns gesunden; aber, daß ich's
sage, Gott verzeihe mir die Sünde: ich wünschte nicht, daß Ihr krank
gewesen wäret oder je wieder würdet; doch desungeachtet möchte ich,
und der Vater gewiß mit mir, nicht diese Zeit missen, wo wir Euch Eure
Liebe wenigstens zu einem kleinen Teile vergelten konnten. Nun fügt
Euch nur noch eine kurze Zeit unserer strengen Vormundschaft, und dann
wird eines Tages mein Mütterlein wieder rüstig und flink durchs Haus
trippeln, und wir werden uns auf die Bärenhaut legen; gelt, Vater?«

Gerührt blickte die Kranke auf ihr Mägdelein, und eine Träne rann über
die blasse Wange.

Ach, wenn es doch so käme, wie Venne es ihr prophezeite!

In diesem Augenblick wurden sie durch wirren Lärm von der Straße
aufgescheucht. Stimmen und Schreie erklangen durcheinander, und alsbald
erhob die Sturmglocke der benachbarten Marktkirche ihre wimmernde
Stimme. Angstvoll schrak die kranke Frau zusammen und griff nach dem
Herzen. Venne eilte ihr sogleich zu Hilfe. Auch ihr wie dem Vater war
sehr bange, denn man glaubte nicht anders, als im nächsten Augenblick
das gefürchtete »Feuerjo« draußen zu hören, welches verriet, daß der
schlimmste Feind der mittelalterlichen Städte sein rotes Banner auf
den Dächern der Stadt aufgepflanzt habe. Richerdes, der zu den Führern
der Feuerwehr gehörte, die pflichtmäßig alle nicht bresthaften Bürger
mit den ledernen Feuerlöscheimern zur sofortigen tätigen Hilfe bei
Ausbruch eines Brandes veranlaßte, stürzte nach einem kurzen, hastigen
Abschiedswort davon und ließ die Frauen in banger Spannung zurück.
Der Lärm draußen verlor sich bald, und auch das Gewimmer der Glocke
erstarb. Die Annahme, daß eine Feuersbrunst ausgebrochen war, schien
demnach irrig zu sein; wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen
Angriff oder Überfallversuch, wie die unruhigen Zeiten ihn nicht
selten brachten. In angstvoller Erwartung harrten die beiden Frauen
der Rückkehr des Vaters und Gatten. Endlich, viel zu spät für ihre
Ungeduld, ertönte der Klopfer, und Venne beeilte sich, zu öffnen, da
das Gesinde inzwischen zur Ruhe gegangen war. Der Überfall auf die
flandrischen Kaufleute bei Riechenberg hatte den Tumult veranlaßt.
Noch kannte man nicht alle Einzelheiten. Es sollte viele Tote und
Verwundete gegeben haben und Plünderung der Waren, wie das Gerücht
bei solchen Anlässen zu wüten pflegt. Die Kunde war von einem Knechte
überbracht worden, der auf schweißbedecktem Roß vor dem Sankt-Viti-Tor
in der Dunkelheit auftauchte und um eilige Hilfe und Schutz bat. Die
Stadtsoldaten unter ihrem Hauptmann und ein großer Haufen bewaffneter
Bürger waren sofort ausgezogen, und zur Stunde, so durfte man hoffen,
hatten die Bedrängten schon Hilfe gefunden, und sie selbst waren unter
sicherer Bedeckung im Anzuge gegen die Stadt.

Richerdes kehrte nur zurück, um die Frauen zu unterrichten und sie zu
beruhigen. Er verließ bald darauf wieder das Haus, um den Ausgang
und weitere Aufklärung des Falles zu erfahren. Auch bei ihm sprach
seit Jahren einer der Kaufleute vor, der auch dieses Mal dabeisein
mußte. Noch mehr Grund also, zur Stelle zu sein, wenn die Überfallenen
ankamen, um dem alten Geschäftsfreunde zugleich hilfreich zur Seite zu
stehen, wenn er die Stadt betrat.




Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme
Wärme über den Raum, in dem die Familie Richerdes am reichgedeckten
Frühstückstisch mit dem Gaste, Herrn Emile Delahaut aus Dinant, saß.
Das Gespräch drehte sich natürlich um den gestrigen Überfall. Er war
so weit geklärt, daß man wußte, das Stücklein ging, wie man gleich
vermutete, von dem berüchtigten Bandenführer Hermann Raßler aus,
der, wie jedermann bekannt war, im geheimen Dienste des Herzogs von
Braunschweig stand und die Goslarer schatzte, daß ihnen der Atem
auszugehen drohte. Zwei seiner Knechte, mit denen er den frechen
Überfall gewagt hatte, blieben verwundet in den Händen der Goslarer,
und aus ihrem Munde erfuhr man alle Einzelheiten. Demnach war der
eigentliche Urheber des verruchten Planes jener Händler aus Helmstedt,
der selbst bei der Tat seinen Lohn erhalten hatte. Er traf morgens in
aller Frühe in Riechenberg ein, wo man ihm den Schlupfwinkel Raßlers
anzeigte. Die Knechte, die beim Herannahen des Zuges in Langelsheim so
eilig Fersengeld gaben, waren Kundschafter, die melden sollten, wann
mit dem Eintreffen am Hohlwege zu rechnen sei. Es stellte sich nunmehr
als sicher heraus, daß der ganze Überfall nicht den Kaufleuten, sondern
Heinrich Achtermann gegolten hatte und jedenfalls dazu dienen sollte,
ihm das wichtige Dokument abzunehmen. Was unterwegs mit List nicht
gelungen, das wollte man zum Schluß mit Gewalt herbeiführen.

Damit war auch der Auftraggeber ohne weiteres erkannt: es konnte
nur der Braunschweiger sein, dem an der Vernichtung des päpstlichen
Schreibens allein lag. Durch seine Spione in der Stadt mußte er
irgendwie von dem Auftrage und dem Wege der Heimreise Heinrichs Kunde
erhalten haben und hatte danach seine Maßnahmen getroffen. Sein
unmittelbarer Vorfahre, Heinrich der Ältere, hatte den besonderen
Schutz der Stadt Goslar noch für 400 Gulden im Jahre 1497 auf zehn
Jahre übernommen. Die Herzöge Philipp und Erich ließen sich noch vom
Jahre 1500 ab zehn Jahre lang für die gleiche Leistung 1200 Gulden
im voraus geben. Heinrich der Jüngere trat in diesen Vertrag ein.
Das hinderte ihn aber nicht, im geheimen seine Blut- und Beutehunde
gegen die Stadt loszulassen. Der Streich war mißglückt, doch man
wußte, wessen man sich in Goslar von dieser Seite zu versehen hatte
trotz aller Schutzbriefe. Da der Angriff auf herzoglichem Gebiete
erfolgte, der Nachweis geführt war, daß Raßler der Anstifter gewesen
und offenbar bei den dem Herzoge befreundeten Mönchen von Riechenberg
Unterstützung genossen hatte, ging ein geharnischter Protest des Rates
nach Wolfenbüttel ab, wo der Herzog residierte. Der Erfolg war freilich
vorauszusehen. Der Herzog lehnte mit der für diesen Fall gebotenen
Entrüstung jede Mitwissenschaft und Teilnahme ab. Die wirklich
Leidtragenden waren die beiden Schelme, die man gefangen hatte; sie
baumelten bald darauf am Galgen, der sein Gerüst auf dem Georgenberge
drohend ins Land reckte.

Auch der Fremden wegen erhob man den Einspruch beim Herzoge, um ihnen
zu zeigen, daß man alles tue, um ihnen Genugtuung zu geben. Denn sie
führten natürlich auch ihrerseits, sei es auch nur, um ihr Geschäft
günstig zu beeinflussen, bewegliche Klage über die erlittene Unbill
und die Unsicherheit der Wege in unmittelbarer Nähe der Stadt; Schaden
an Eigentum war kaum erlitten, abgesehen von einigen Warenballen,
die von den Wagen gestürzt und etwas beschädigt waren. Dem Anschein
nach hatten die Raubgesellen, obwohl ihr Auftrag nur dahin ging, sich
des goslarschen Gesandten zu bemächtigen, doch ihrer oft bewiesenen
Beutelust nicht widerstehen können, zu nehmen, was sich ihnen bot. Der
steile Hang und der fluchtartige Rückzug hinderten sie dann aber an der
Mitnahme.

Über der Besprechung des gestrigen Ereignisses vergaß man nicht, den
guten Sachen Ehre anzutun, die der Tisch bot. Venne ging ab und zu, um
nach der Mutter zu sehen und den Mägden eine Anweisung zu geben. Im
hellen Licht des Tages sah man erst, welch vollendete Schönheit sie
war. Die Anmut ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme vereinigten
sich gleichermaßen, um den Fremden gefangenzunehmen.

»Wetter noch einmal,« warf er dem Gastfreunde zu, als Venne sich auf
einen Augenblick entfernt hatte, »ist das ein Mädel geworden, seit ich
sie zuletzt sah! Wie das den Kopf trägt und sich bewegt! Wahrhaftig,
wenn ich nicht schon ein alter Knabe wäre, könnte mich Eure Venne noch
zu Abenteuern verleiten. Verwahrt den Schlüssel zu ihrem Herzen gut,
sonst fliegt sie Euch über Nacht davon. Lange werdet Ihr sie sowieso
nicht mehr halten, sonst müßten Eure Jungen hier Fischblut in den Adern
haben.«

Richerdes lächelte behaglich zu dem Lobe der Tochter: »Vorläufig
scheint ihr selbst noch wenig an dem Ausfluge aus dem Elternhause zu
liegen, dazu hält sie die Pflege der kranken Mutter viel zu fest.
Findet sich aber einmal der Rechte, so werden wir sie nicht halten
wollen. Denn es ist der Eltern wie der Kinder Los, sich trennen zu
müssen, wenn sie des anderen Wert erkennen.«

Man kam noch einmal auf das gestrige Abenteuer zu sprechen und auf
die Goslarer, die dabei zu Schaden gekommen, Heinrich Achtermann und
Erdwin Scheffer. Dieser, der Sohn eines achtbaren Mitgliedes der
Schustergilde, war am übelsten davongekommen, und man wußte nicht, ob
er am Leben bleiben werde. Heinrich Achtermann dagegen hatte, wie es
hieß, keinen ernsten Schaden erlitten. Durch das Würgen der Angreifer
und den Sturz auf einen Stein verlor er die Besinnung. Als die Hilfe
aus der Stadt kam, war er schon wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt.

Nach dem Frühstück gingen die Herren zum Geschäftlichen über. Da
schlüpfte Venne aus dem Hause, um sich in der Stadt umzuhören und bei
den Achtermanns vorzusprechen, die mit ihrer Familie befreundet waren.
Sie wurde beim Eintritt ins Haus von der Schwester Heinrichs begrüßt.
Von ihr vernahm sie, daß es dem Bruder schon wieder leidlich gehe, und
sie konnte sich selbst davon überzeugen, denn sie traf ihn im Zimmer,
wo er mit den Eltern und dem flandrischen Gastfreunde zusammen saß.
Die überstandene Gefahr hatte keine Spur zurückgelassen, außer einer
leichten Blässe im Gesicht.

Als Venne ihn unvermutet vor sich sah, war sie einen Augenblick
befangen, denn die Stunde stand ihr vor Augen, als sie zuletzt die
Flucht vor ihm ergriff. Sogleich stieg auch der alte Trotz wieder in
ihr auf, und das herzliche Wort, das sie ihm zur Begrüßung gönnen
wollte, wurde zu einem kühlen Gruß. Heinrich glaubte seinen Augen
nicht trauen zu dürfen, als Venne eintrat, ja, er, der nie Verlegene,
starrte sie einen Augenblick wie entgeistert an: War denn dieses
Mädchen von vollendeter Schönheit das hagere, eckige Ding, das er
vor langem verlassen hatte? Und er wäre nicht der Mann mit dem für
Frauenschönheit empfänglichen Herzen gewesen, wenn nicht dieses holde
Menschenkind sogleich in ihm höchste Bewunderung mit der Regung jener
Sehnsucht gepaart hätte, die der Schönheit im eigenen Herzensschrein
einen Altar zu errichten gewillt ist. Er war bisher der Schmetterling,
der an allen Blüten naschte. Für die reizenden Bologneserinnen
schwärmte er, der lebensfrischen Richenza Walldorf flog sein Herz
entgegen, aber ihre Spur war verwischt, ausgelöscht vor dem wundersamen
Geschöpf, das da vor ihm stand. Wie ein Schlag durchzitterte es seine
Brust: Die hält Dein Schicksal in ihrer Hand, Venne Richerdes mußt Du
besitzen oder keine!

So standen beide sich einen Augenblick verwirrt gegenüber. Venne
sah seine Blicke auf sich gerichtet, aber sie ahnte nicht, welche
Gefühle ihn durchzitterten. Da fand Heinrich zuerst das Wort. Um seine
Befangenheit zu meistern, griff er zu dem alten Mittel tändelnden
Scherzes und war dabei in Gefahr, alles schon im ersten Augenblick zu
verderben.

»Euch trieb gewiß die Angst um mein Befinden hierher, aber Ihr seht ja,
Unkraut vergeht nicht.« Venne suchte sich sogleich mit ihrer ganzen
kühlen Unnahbarkeit zu wappnen. »Ihr irrt Euch; ich kam vor allem, um
Eure Schwester zu besuchen. Daß mich auch Sorge um Euch erfüllte, will
ich nicht leugnen; aber ich sehe ja, daß Ihr wohlauf seid, so will ich
Euch auch mit meiner Teilnahme nicht lästig fallen.«

»Gut gegeben, Jungfer Dornenhag«, antwortete Heinrich munter lachend.
»Aber um Euch zu versöhnen, will ich Euch auch etwas Angenehmes sagen.
Ratet nur, was!«

»Ich bin nicht allzu begierig darauf, denn ich versehe mich keiner
besonderen Schmeicheleien von Euren Lippen«, entgegnete Venne halb
ablehnend.

»Eine Schmeichelei ist's auch nicht, aber ein schöner, herzlicher
Gruß von Eurem Oheim Ernesti. Eigentlich sollte ich auch den
dazugehörigen Kuß mit überbringen,« log er hinzu, »aber das habe ich
als lebensgefährlich abgelehnt.« Venne achtete auf die letzten Worte
kaum noch. »Vom Oheim Ernesti und der Muhme wahrscheinlich? Oh, das
ist schön. Erzählt doch nur gleich, wo Ihr ihn trafet und wie Ihr sie
fandet.« Und Heinrich berichtete ausführlich über sein Zusammensein mit
dem Oheim und seine Aufnahme in Soest.

In diesem Augenblick trat Johannes Hardt ins Zimmer, der ebenfalls kam,
um sich nach dem Befinden des Freundes zu erkundigen. Der Ratsherr
forschte nach allen Einzelheiten der Reise und kam dann von Ernesti
und dem gestrigen Überfall auf die Zeitläufte zu sprechen. Da überließ
die Jugend die Alten ihren ernsten Gesprächen. Die Mädchen schlüpften
hinaus in das Zimmer der Schwester. Für heute erhielten auch Heinrich
und Johannes dort Zutritt, denn man war doch gar zu begierig, über ihre
Erlebnisse im Wunderlande Italien Einzelheiten zu erfahren. Und die
beiden Wanderer erzählten und erzählten, und ihre Zuhörerinnen wurden
nicht müde, ihnen zuzuhören.

»Aber eins fällt uns auf,« warf Venne, zu Johannes gewendet, schalkhaft
ein. »Von den schönen Bologneserinnen haben wir bis jetzt gar nichts
vernommen. Sind sie ausgestorben, oder habt Ihr ihnen dauernd Eure
Gunst vorenthalten? Das wäre ja ein gräßliches Verbrechen.« Einen
Augenblick wollte der junge Mann erröten, aber schon kam ihm Heinrich
zu Hilfe: »Es gibt ihrer noch genug,« antwortete er, »sogar recht
liebreizende, aber unsere Beziehungen zu ihnen werden wir Euch erst
enthüllen, wenn Ihr uns verratet, in welchen Herzen Ihr Vernichtung
angerichtet habt.«

»Da werde ich lange auf Eure Enthüllungen warten können, denn ich bin
mir nicht bewußt, irgendeinem Herzen Unglück zugefügt zu haben.«

»Na, na,« warf da die Schwester lächelnd ein, »glaubt ihr nicht so
ohne weiteres. Sie ist eine Heimliche. Ich möchte die Seufzer nicht
auf meinem Herzen tragen, die ihr nachgeklungen sind. Und sie ist
auch selbst nicht unversehrt geblieben, will mir scheinen. Ich müßte
sonst die mancherlei Fragen mißdeuten, die sie immer wieder über einen
gewissen abwesenden jungen Herrn stellte. Soll ich Namen nennen,
Venne?« fragte sie neckend.

»Daß Du Dich nicht unterstehst, du Garstige«, wehrte diese lachend ab,
während ein tiefes Rot über ihre Wangen flammte. Die Verwirrung erhöhte
noch ihre Lieblichkeit. »Zur Strafe für diese Verleumdung will ich
auch gleich aufbrechen.« Aber sie gab doch dem Widerspruch der anderen
nach; es hätte ja auch zu sehr nach einem Zugeständnis ausgesehen; und
man blieb noch eine kurze Zeit in traulichen Gesprächen beisammen.
Dann mußte sie Abschied nehmen, da die Mutter nicht lange ohne Wartung
bleiben durfte. Auch für Johannes war es an der Zeit, sich festlich
anzukleiden, denn er sollte mit Heinrich zusammen die besondere Ehre
genießen, dem Hohen Rat die Schrift des Papstes, die sie mit Gefahr
des Lebens verteidigt hatten, in der für die Mittagsstunde anberaumten
Sitzung überreichen zu dürfen.

Die Mitglieder des Goslarer Rates hatten in feierlicher Amtstracht sich
im Sitzungsraum versammelt, und nun warteten sie des päpstlichen Boten
mit der Antwort auf ihr Begehren.

Die Jünglinge wurden von dem Ratsboten hineingeführt, die Ratsherren
erhoben sich, und der regierende Bürgermeister, Karsten Balder,
begrüßte sie mit freundlichen Worten.

»Ihr seid Träger der Botschaft vom Heiligen Vater, die uns Herr
Henricus Ernesti freundwillig vermittelt hat. Wir hören,« wandte er
sich dann im besonderen an Heinrich Achtermann, »daß Euch zuletzt noch
arges Ungemach getroffen hat. Empfangt mit unserem Bedauern über die
erlittene Unbill zugleich unseren Dank für den wichtigen Dienst, den
Ihr Goslar geleistet habt.

Es geht um nichts Geringes in dem Schreiben, wie Ihr Euch denken könnt.
Ihr habt das Geheimnis treulich an Eurer Brust gewahrt und mit Eurem
Leibe verteidigt, so sollt Ihr und mit Euch Euer Freund auch der erste
sein, der außer uns von dem Inhalt Kenntnis erhält.«

Damit öffnete der Bürgermeister und gab den Inhalt der päpstlichen
Bulle preis.

Demnach versicherte Papst Leo X. seine fromme und getreue Stadt Goslar
mit seinem Segen zugleich seines Schutzes, bestätigte in Erneuerung der
Briefe des Königs Wenzel ihre ausschließlichen Vorrechte und Ansprüche
auf das Bergwerk und die Forsten, versprach ihr seinen Beistand und
drohte allen denen mit schweren Kirchenstrafen, welche sie im Genuß
dieser Rechte stören oder sie ihnen streitig zu machen versuchten.

Das war ein voller Erfolg. Befriedigt sahen sich die Ratsherren an:
Dieses Schriftstück lohnte den Eingriff in den Stadtsäckel, den man
getan hatte, um Henricus Ernesti in den Stand zu setzen, sein Anliegen
nachdrücklich zu unterstützen. Nun mochten die Braunschweiger kommen;
diese Stunde machte die letzte Nichtswürdigkeit wett, deren man den
Herzog hier im Rate offen zieh.

»Ihr habt Euch, Herr Heinrich Achtermann, und Ihr ingleichen, Herr
Dr. Johannes Hardt, als ehrenfeste, tapfere Männer gezeigt. Der
Stadt ist durch Eure Hilfe ein sehr wichtiger Dienst erwiesen, wie
Ihr soeben hörtet. Sie wird sich ihres Dankes gegen Euch geziemend
zu entledigen wissen. Ihr aber werdet, wie Euer Verhalten beweist,
treue, zuverlässige Bürger sein, auf die sie allezeit mit Zuversicht
zurückgreifen kann.«

Rot und stolz vor Freude verließen die Freunde das Rathaus und kehrten
zu den Ihrigen zurück.

An ihre Stelle trat bald darauf eine Abordnung der fremden Kaufleute,
um Beschwerde vorzubringen über den Unglimpf, der ihnen hart vor den
Mauern der Stadt widerfahren war. Der Rat wies nach, daß der Überfall
nicht auf Goslarer Gebiet vor sich gegangen sei, daß geharnischte
Beschwerde an den Herzog abgehen, die ergriffenen Übeltäter
hingerichtet werden würden und im übrigen er, der Rat, es als eine
selbstverständliche Pflicht übernehme, allen erlittenen Schaden zu
ersetzen. Daneben verhieß er tatkräftige Unterstützung bei dem Abschluß
ihrer Handelsgeschäfte, bei denen der Rat ja zu einem großen Teile
selbst in Frage kam. So zogen auch diese Männer befriedigt ab.

Am Nachmittage besuchte Heinrich den armen Erdwin Scheffer, der
inzwischen von seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht war, die, wie
anfangs zu befürchten schien, unmittelbar in den Tod überzuführen
drohte. Die Sonde des Arztes hatte das Geschoß gefunden und es mit
aller Sorgfalt entfernt. Unter den schmerzhaften Verrichtungen des
Arztes war er abermals in Ohnmacht gesunken; jetzt schlief er. Der
Doktor hatte zwar die Verwundung für sehr schwer erklärt, aber doch
nicht alle Hoffnung aufgegeben. Nun mußte es sich zeigen, ob der junge,
kräftige Körper dem Kranken zur Genesung verhelfen würde. Auch nach
Monika erkundigte er sich: der Vater war unwirsch über die Dirne,
die dem Sohne bis ins Haus nachlaufe. Sie sei schon am frühen Morgen
dagewesen und habe angstvoll nach dem Kranken gefragt. Auch die Mutter,
die in dem fremden Mädchen wenig mehr als eine fremde Landstreicherin
sah, war ihr ablehnend begegnet. Nur Maria, die Schwester, hatte sich
ihrer im Flur angenommen. Sie redete dem jungen Mädchen, das sich in
seiner Angst und Sorge keine Hilfe wußte, herzlich zu.

»Ich werde Euch auf dem laufenden halten über die Entwicklung der
Krankheit«, sagte sie, indem sie Monika an sich zog. »Will's Gott, so
wird doch noch alles gut.«

Bald darauf fand sich auch Gelegenheit, die gute Immecke aufzusuchen.
Sie hatte bei der Witwe eines ehrbaren Handwerksmeisters Wohnung
gefunden. Noch war sie sich nicht schlüssig, wohin sie ihre Schritte
lenken werde. Erst wollte sie abwarten, wie sich der Zustand Scheffers
gestaltete, denn Monika erklärte, daß sie nicht von Goslar weichen
werde, bis sie darüber im klaren sei. Die Wanderfahrt im Kriege hatte
der braven Marketenderin manchen Gulden eingebracht, und wenn sie den
Inhalt des Beutels wog, den sie wohlverwahrt hielt, war ihr um ihre und
der Tochter Zukunft nicht bange.

       *       *       *       *       *

Die Herren aus Flandern und Frankreich prüften die goslarsche Ware und
fanden wenig auszusetzen. Die Stapel der erworbenen Metallbarren wurden
immer größer, die Geldkatze immer magerer. Hier und da erfuhr sie eine
vorübergehende Auffüllung durch günstigen Absatz der mitgebrachten
flandrischen Waren: Teppiche, Gewebe, feine Tuchstoffe, die in den
benachbarten Städten wie in Goslar selbst willige Käufer fanden. Neben
dem Erwerb des kostbaren Metalls war indessen die Aufmerksamkeit der
fremden Kaufleute noch auf ein anderes gerichtet.

Als der Rat von Goslar zur Wiederbelebung des namentlich durch
Wassereinbrüche verunglückten Bergwerkes einen Zusammenschluß der
Berechtigungen in einer Form erstrebte und ins Werk setzte, die man
heute als Gewerkschaft bezeichnen würde, behielt er von vornherein
das Ziel im Auge, die Anteile später durch stillen Ankauf in seine
Hand zu bringen. Er wußte es daher mit Geschick zu erreichen, daß die
Mehrzahl der Anteile, soweit er sie nicht selbst besaß, in den Händen
von Bürgern blieb, von denen er sie später erwerben zu können hoffte.
Daß er dabei bei mehr als einem auf hartnäckigen Widerstand traf,
bewies der Montane Richerdes. Karsten Balder, derzeitiger regierender
Bürgermeister, war durchaus nicht von der Voreingenommenheit gegen
Richerdes beseelt, die dieser ihm unterschob. Zwar hatte er als
Jüngling der schönen Mathilde von Hagen, des Ratsherrn und Silvanen
von Hagen Tochter, gehuldigt, und sie als sein Eheweib heimzuführen,
war sein sehnlicher Wunsch gewesen. Aber er fand sich längst damit ab,
daß Richerdes ihm den Rang abgelaufen. Er lebte selbst in glücklicher,
mit Kindern gesegneter Ehe, und sein gerader, ehrliebender Charakter
hätte es nie zugelassen, seine Machtstellung in den Dienst der Willkür
zu stellen, um für vermeintlich oder wirklich erlittene Unbill
Vergeltung zu üben. Was er mit Richerdes wie mit anderen Berechtigten
verhandelte, was er von ihnen forderte, lag im wohlverstandenen
Interesse der Stadt. Er handelte schließlich nur als der Verwalter des
von Werenberg hinterlassenen Erbes, wenn er dessen Pläne zur Ausführung
zu bringen versuchte. Bei dem Argwohn, den ihm Richerdes von vornherein
entgegenzubringen sich bemühte und den er auch seinen Angehörigen
einzureden verstand, war es nicht zu verwundern, daß dieser in allem,
was von Balder ausging oder vom Rathause kam, eine Falle witterte und
daß der Verkehr mit dem Rate für ihn eine Quelle ständigen Ärgers war.

Damals, als der Bergbau im argen lag und der Rat mit großen Kosten
fremde Techniker heranzog, wie Meister Nikolaus von Ryden, um des
Wassers Herr zu werden, war auch der Ertrag des Bergbaus sehr gering,
und statt eines Gewinnes hatten die Gewerke dauernd Zubußen zu zahlen.
Das goslarsche Kupfer, das sich den Weltmarkt zu erobern im Begriff
gewesen war, verschwand mehr und mehr, und sein Name erklang weniger
in den Kreisen derer, die darauf angewiesen waren. Jetzt aber bildete
es eine der Lebensnotwendigkeiten für den gewerbfleißigen Westen. Die
Zahl der Käufer wuchs von Jahr zu Jahr. Was Wunder, wenn den Flamen
und Holländern der Wunsch kam, die Quellen selbst mit ausschöpfen zu
können, Mitbesitzer des Bergwerks durch die Erwerbung von Anteilen zu
werden. Beim Rate hatte sie, wie sie bald merkten, auf Erfolg nicht zu
rechnen, da er in zielbewußter Verfolgung seiner Politik im Gegenteil
darauf aus war, alle Anteile in seiner Hand zu vereinigen. Aber auch
bei den Bürgern stießen sie auf Widerstand. Vergeblich bewiesen sie
dem Besitzer des Anteils, daß die aus dem Kapital sich ergebende Rente
besser sei als das in seiner Ergiebigkeit unsichere Recht. Je eifriger
sie zuredeten, desto größer wurde der Widerstand.

Auch der Gast- und Geschäftsfreund des Bergherrn Richerdes, Herr Emile
Delahaut aus Dinant, suchte diesen zum Verkauf seiner Anteile oder
eines Teiles derselben zu bewegen, doch auch er wandte vergeblich seine
ganze Beredsamkeit auf. Richerdes wie die anderen Goslarer, deren
Ansprüche die Freunde erwerben wollten, wurden durch das eifrige Werben
nur um so mehr in ihrer Meinung von dem Werte ihrer Rechte bestärkt.
So gelang es den Ostgängern, die alljährlich nach Goslar kamen, kaum,
einen oder den anderen Anteil zu erwerben. Freilich waren Richerdes
wohl einmal leichte Zweifel an dem dauernden Werte seines Anrechtes
aufgestiegen, und letzthin hatten sie sich noch verstärkt. Wie er
Ludecke Bandelow auf dem Heimwege vom Granetal her klagte, befriedigte
der Erfolg seiner Grube seit längerer Zeit nur wenig; und einmal war er
wirklich einen Augenblick schwankend geworden, vor nicht langer Zeit
nämlich, als der Ratsherr Achtermann, ein Mann von großem Reichtum und
Ansehen, bei ihm vorsprach, um mit ihm noch einmal über den Verkauf
an die Stadt zu reden. Zunächst lehnte Richerdes, wie früher schon,
schroff ab, aber Achtermann, vor dessen Geschäftstüchtigkeit auch
jener große Achtung hatte, ließ sich nicht beirren.

»Ich will Eure verstockte Voreingenommenheit gegen Karsten Balder,
die ich wohl kenne, einmal außer acht lassen; versucht Ihr dasselbe.
Ihr könnt ja zuletzt doch tun und lassen, was Ihr wollt. Daß uns viel
an dem Besitz liegt, wißt Ihr; weshalb, ist Euch ebenfalls bekannt,
wie endlich auch, daß wir ihn nicht geschenkt haben wollen. Wir
wissen beide, daß es mit dem Gewinn aus Euren Gruben nicht zum besten
aussieht, im Augenblick wenigstens nicht«, warf er auf eine ablehnende
Bewegung von Richerdes ein. »Sie kann wieder ergiebiger werden, die
Erzader kann sich aber auch ganz erschöpfen oder als taub ausweisen.
Was dann? Dann seid Ihr ein armer Mann.

Damit Ihr seht, daß ich es wirklich ehrlich meine, will ich ganz offen
gegen Euch sein. Ihr habt eine hübsche Tochter, die Euch ans Herz
gewachsen, ich einen Sohn, dem sie, wie ich glaube, nicht gleichgültig
ist. Ich könnte mir vorstellen, daß hier etwas im Werden ist, das wir
durch entschlossenes Eingreifen stören, durch stilles Gewährenlassen
aber der Reife entgegenblühen sehen können. Ich will und werde mich
nicht in Liebesgeschichten meines Sohnes einmischen; handelt Ihr
ebenso, dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen. Eure Venne ist
mir lieb und wert und ich würde mich, ungeachtet der Unterschiede in
unseren Verhältnissen, nicht bedenken, sie als Schwieger willkommen
zu heißen. Ich werde aber nie einwilligen, daß mein Sohn die Tochter
eines Bettlers heimführte. Entschuldigt das harte Wort, indes es muß
gesprochen werden, denn Offenheit, zumal bei diesem heiklen Punkte,
liebe ich vor allem.«

Damit weckte aber Achtermann alles, was an Trotz und Widerspruchsgeist
in Richerdes schlummerte. »Ich dränge meine Tochter niemand auf,
jetzt nicht und niemals. Wenn Ihr also keine weiteren Gründe für Euer
Anliegen vorzubringen habt, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen
können.«

»Nichts für ungut«, erwiderte Achtermann, ungerührt durch die
Heftigkeit seines Gegenübers. »Ich sehe gern klare Verhältnisse
vor mir.« Dann lenkte er, sich zum Aufbruch anschickend, mit einer
teilnehmenden Frage nach dem Befinden der kranken Hausfrau auf ein
anderes Gebiet über.

»Ich hörte kürzlich in Braunschweig von einem neuen Mittel, das bei
Leiden der Art Wunder wirken soll. Ich habe es im Augenblick vergessen,
will mich aber, kann ich Euch damit einen Gefallen erweisen, gern
danach umtun. Im übrigen halte ich mich Eurer armen Frau Eheliebsten
bestens empfohlen, bitte, ihr auch von meiner Frau die besten Grüße mit
dem aufrichtigen Wunsch baldiger Genesung ausrichten zu wollen. Sie
hofft, bei guter Gelegenheit nächstens sich selbst nach ihr umsehen
zu können. Und nun,« damit schied der Einflußreiche und versetzte ihm
einen leichten Schlag auf die Schulter, »alter Murrkopf, einen schönen
Gruß auch dem Töchterlein!« Lächelnd schied er, und lächelnd gab ihm
Richerdes das Geleite. Dann kehrte er in die Stube zurück.

Die Worte Heinrich Achtermanns gingen ihm durch den Kopf, und die Sorge
wurde damit nicht geringer. Wenn die Befürchtungen des Ratsherren
eintrafen, stand es allerdings schlecht mit ihm und den Seinen, und
er selbst war dann, wenn kein Bettler, doch ein armer Mann, dessen
Tochter zu freien, mancher sich scheuen würde. Was Achtermann von den
Beziehungen zwischen den Kindern sagte, war ihm neu. Er beschloß, mit
der treuen Lebensgefährtin auch dieses zu besprechen. Sie, die ihm so
manches Mal schon guten Rat gewußt hatte, würde gewiß auch dieses Mal
das Rechte treffen. Das Glück ihrer Venne stand beiden am höchsten,
und diesem Glück sollte auch sein Eigensinn und sein Widerwillen gegen
Karsten Balder nicht entgegenstehen; das nahm er sich vor.




Der Tribut des Alters an die Zeit ist Verblassen und Verblühen, ist
Schwinden von Schönheit und Kraft. Was im Werden und Vergehen des
Menschen gilt, hat auch im Leben der Städte nur allzuoft eine traurige
Bestätigung gefunden. Von der Herrlichkeit einer alten großen Zeit
zeugen heute nur noch kärgliche Reste, hier und da ein brüchiger Turm
oder die ins Leere starrenden Zinken einer Turmruine, ein Stückchen
Stadtmauer, eine hochragende Kirche, welche die Armseligkeit der sie
umlagernden Häuserzeilen nur um so greller hervortreten läßt. Das ist
das Schicksal so mancher Stadt geworden, die einst wohlgegürtet hinter
Wall und Mauer ihre Rechte verteidigte und mit Herzögen und Königen auf
der Stufe des Gleichberechtigten verhandelte. Das schien auch Goslars
Los zu sein. Von der Höhe seiner mittelalterlichen Macht war es durch
schlimme Kriegsläufe und, damit zusammenhängend, durch das Versiegen
seiner Geldquellen, des Bergwerkes und der endlosen Forsten, Stufe um
Stufe herabgeglitten. Was um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts
übrigblieb, wies alle Anzeichen eines schnellen unaufhaltsamen
Verfalles auf. Die Zahl der Einwohner war erschreckend gesunken, in
den weiten Mauern wohnte ein armseliges, müdes Geschlecht, das in
seinem Elend mit dem Erbe einer großen Vergangenheit nichts Besseres
anzufangen wußte, als daß es sich aus dem alten Gewande neue Stücke
schnitt, um seine Blöße zu verbergen. Es ist die böse Zeit, wo
die Brüderkirche niedergelegt, wo der ehrwürdige Dom auf Abbruch
verkauft wurde. Die Domkapelle, die allein von dem alten Münster noch
Zeugnis ablegt, läßt uns ahnen, was in jenen Jahren unwiederbringlich
verlorenging. Gar manches Kapitäl oder Gesims, an verlorener Stelle in
eine Gartenmauer eingefügt oder einem Speicher als Eintrittsschwelle
dienend, erinnert an diese schlimme Zeit, wo das sterbende Goslar sich
seines Schmuckes zu entkleiden begann, um als Bettler ins Grab zu
steigen.

In dieser Zeit des Verfalles, und noch später, ist vieles dem
Unverstande wie der Not zum Opfer gefallen, auch von den ehemals
geschlossenen Festungsanlagen; aber vieles blieb doch auch erhalten
und legt noch heute Zeugnis ab von dem wehrhaften Sinn der Altvordern,
so die gewaltigen Tortürme, deren am Breiten Tore, die Stirn dem
Braunschweiger zugewandt, gleich ein ganzes Rudel auftritt. Sie ragen
noch heute ebenso trutzig wie zur Zeit ihrer Errichtung in die Lüfte.

Die stattlichsten unter ihnen, der große Turm am Breiten Tor, der Dicke
Zwinger in der Nähe der Kaiserpfalz, dessen 24 Fuß starke Mauern noch
heute das Staunen der Besucher erregen, der Papenzwinger, sie verdanken
ihren Ursprung der Zeit, da unsere Geschichte spielt. Die Goslarer
wollten ihre Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen. Sie hatten
Anlaß dazu; denn die Zahl ihrer Feinde und Neider wurde größer in dem
Maße, wie der Wohlstand und die Macht der Stadt wuchs. Ernesti hatte
Johannes Hardt die Lage richtig geschildert, aber auch der Rat war sich
der Gefahr wohl bewußt und suchte ihr durch geeignete Maßnahmen zu
begegnen.

Schon im Anfang des neuen Jahrhunderts war der Grundstein gelegt zu
einem weiteren, mächtigen Bollwerk. Um die Herstellung der Anlagen,
besonders der Zwinger, hatten sich jeweils einige Bürger verdient
gemacht; so war der Papenzwinger der Aufsicht des Worthalters der
Gemeinen, wie die Versammlung der Vertreter der Bürgerschaft hieß, Kips
anvertraut gewesen. Das neue Bauwerk, das am neuerbauten Rufzen- oder
Rosentor sich zu dessen Verstärkung erheben sollte, unterstand dem
Schutze des Ratsherrn Achtermann. Er war nicht nur um die Weiterführung
besorgt, sondern steuerte auch zu den Kosten einen erheblichen Teil
bei. Es entsprach daher nur einem Akt der Dankbarkeit, wenn man das
gewaltige Bauwerk ihm zu Ehren als ›Achtermann‹-Zwinger benannte. Es
ist der dicke, ungefüge Geselle, der dem Rosentor vorgelagert ist und
heute noch die Besucher Goslars beim Eintritt in die Stadt als erster
Zeuge seiner ehemaligen Wehrhaftigkeit begrüßt.

Mehrere Jahre hatte der Bau gedauert, einige Male mußte er unterbrochen
werden. Jetzt stand er da, riesig und gewaltig, und das Ereignis der
Beendigung sollte durch ein Fest besonders gefeiert werden. Die untere
Halle, ein gewaltiger Rundraum, war mit Tannengrün festlich geschmückt.
Kerzenglanz erhellte den düsteren Raum und ließ einen Abglanz auf den
freudig erregten Gesichtern der Festteilnehmer.

Ein üppiges Festmahl, ohne das in jener genußfreudigen Zeit ein Fest
schwer denkbar war, leitete die Feier ein. Der Wein floß in Strömen,
und die fremden Gäste, die flandrischen Kaufleute, die vertreten waren,
konnten sich von der Freigebigkeit ihrer Wirte überzeugen. Auch das
Volk draußen, welches den Turm umlagerte, erhielt seinen Anteil, und
nach der Stärke des Jubels und freudigen Lärms zu urteilen, mußte es
gleichfalls befriedigt sein. Der Rat saß zu oberst an besonderer Tafel.
Die Reden, welche gewechselt wurden, galten der Wichtigkeit des neuen
Bauwerks und dem Mann, dessen Tatkraft es in erster Linie zu verdanken
war.

Achtermann, der im Mittelpunkte der Feier stand, ließ die vielen
Lobeserhebungen mit einem gewissen freudigen Gleichmut über sich
ergehen; er wußte, was er geschaffen und weshalb er es geschaffen. Das
neue Bollwerk bildete einen Markstein in der Befestigungskunst seiner
Stadt, der Stadt, die er liebte, weil sie seine Heimat war und ihn zu
Ehren und Ansehen gebracht hatte. Mit ihrer Wehrhaftigkeit, des war er
sich in all dem Trubel sehr wohl bewußt, erhöhte er aber nicht nur ihre
Sicherheit, sondern auch den Schutz des eigenen Besitzes, des Erbes der
Väter, das er gut verwaltet und vermehrt hatte, so daß er es seinerzeit
mit Stolz den Kindern überlassen konnte.

Je länger die Feier dauerte, desto größer wurde die Ungeduld der
Jugend, die den langatmigen und gewichtigen Reden der Alten nur
wenig Geschmack abzugewinnen wußte. Hier und da hatten sie sich zu
Gruppen zusammengefunden, liebreizende, weißgekleidete Jungfrauen und
hübsche Jünglinge, denen das grüne oder schwarze Samtjäckchen mit
den Längspuffen und den lang herabwallenden Ärmelschlitzen trefflich
zu Gesicht stand, wie der Degen, auf dessen goldenen Knauf sie die
Linke stützten. Alte Bekannte hatten sich gefunden, Johannes Hardt,
der mit der Tochter des Bürgermeisters lebhaft plauderte und von
Heinrichs Schwester Maria geneckt wurde, Venne Richerdes, die wie eine
Lichtgestalt aus dem Schatten der Seitenwand mit Heinrich Achtermann
heraustrat, gleichfalls in ein angelegentliches Gespräch versunken.
Langsam schreitend kamen sie durch die Halle auf die anderen zu. In
Marias Augen blitzte es schalkhaft auf, während die Tochter Karsten
Balders verstimmt zur Seite blickte. Ihr Herz schlug dem schlanken
Jünglinge entgegen, der an Vennes Seite in anmutiger, jugendlicher
Kraft daherschritt. Bitter stieg es in ihr auf, als sie die beredten
Blicke sah, mit denen Heinrich Achtermann auf die blühende Gestalt an
seiner Seite blickte: Warum blieb ihr versagt, was jener mühelos, wie
es schien, zufiel? -- Oder spielte sie nur die Spröde, um ihn um so
sicherer an sich zu ketten?

»Nun, Ihr Unzertrennlichen,« redete Maria sie mit liebenswürdigem Spott
an, »wollt Ihr uns auch einmal die Ehre schenken?«

Auf Vennes Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes. »Maria«, sagte sie
nur vorwurfsvoll.

»Nun ja, nur nicht gleich so empfindlich, Närrin«, fiel Maria ein.
»Ist's denn eine Beleidigung von mir oder eine Sünde von Euch, wenn
ich Euch nachsage, daß Ihr die letzten Male, da wir uns trafen, oft
zusammenhocktet?«

»Von mir ging das ›Zusammenhocken‹ sicher nicht aus«, erwiderte Venne
empfindlich.

»Die Jungfer Venne hat recht«, mischte sich da Heinrich Achtermann
ein. »Ihr kann niemand nachsagen, daß sie sich aufdrängt. Ich will
also reumütig alle Schuld auf mich nehmen; auch für heut bekenne ich
mich schuldig. Übrigens ist es kein Geheimnis, was wir verhandelten.
Ich möchte sogar Eure Hilfe in Anspruch nehmen, um ein unparteiliches
Urteil herbeizuführen.«

»Wir geloben feierlich, unbestechlich zu sein, selbst wenn es auf
unsere, der Frauen, Kosten geht«, erklärte Maria übermütig, ehe noch
die anderen ein Wort sagen konnten.

»Das ist gut,« entgegnete Heinrich Achtermann, »denn um sie handelte
es sich tatsächlich. Wir waren nämlich dabei, die hochwichtige Frage
zu lösen, ob wohl die hiesigen Jungfrauen den neuen französischen
Reigen, von dem Herr Dehard so begeistert sprach, nicht ebenso zierlich
aufführen möchten wie die Pariserinnen. Jungfer Venne bestreitet es;
ich plädiere dafür, daß sie es können.«

»Natürlich können wir es«, rief Maria und andere junge Mädchen, die
noch zu dem Kreise getreten waren. »Gebt uns nur einen richtigen
Tanzmeister, dann werden wir es jenen schon gleichtun. Von Venne aber
ist's eine Ketzerei, uns so herabzusetzen.«

»Ich bekenne mich schuldig,« rief sie lachend, »aber ich dachte dabei
nur an meine Ungeschicklichkeit.«

»Ungeschicklichkeit, hört ihr's?« drohte Maria mit verstelltem Zorn,
»ungeschickt sie, die uns immer voranschreitet im Reigen. Aber sie
bekennet sich schuldig, und auf Schuld gehört Sühne. Wer nennt die
Buße?«

»Einen Kuß«, rief der Chor. »Wem?« fragte eine andere. »Uns allen«,
hieß es von anderer Seite. »Nein, mir«, begehrte Achtermann kühn. »Also
ihm,« entschied Maria, »denn er hat die Beleidigung gehört.«

»Laß die Scherze«, sagte Venne unmutig. Aber Maria, welche die beiden
zusammenbringen wollte, bestand darauf, auch daß die Buße heute abend
noch gezahlt werden müsse. Da legte sich Heinrich selbst ins Mittel.
»Ich schlage vor, daß wir den Ausgang abwarten. Zum Langen Tanz wird es
sich zeigen können. Dann aber bestehe ich auf meinen Schein.«

»Ich für meinen Teil erlasse Euch die Strafe schon jetzt«, entgegnete
Venne spöttisch.

Die Tafel war aufgehoben; die Jugend forderte nun ihr Recht. Die
Paare traten zum Reigen an. Zunächst erschienen auch die Alten mit
auf dem Plan. Wie die Ehre des Abends es gebot, führte den Reigen der
regierende Bürgermeister, Karsten Balder. Ihm zur Seite schritt, der
Auszeichnung sich wohl bewußt, die Frau des besonders zu Ehrenden, des
Ratsherrn Achtermann.

Das stattliche Paar fesselte nach Gestalt wie Gewandung die
Aufmerksamkeit aller. Der strengen Kleiderordnung entsprechend,
deren Übertretung durch eine Puffe oder eine Verbrämung man streng
ahndete, durften nur diese vornehmsten der Frauen an sich zeigen, was
die Kleiderkünstler an Glanz und Pracht für die Umrahmung weiblicher
Schönheit oder Schwäche ersonnen. Gar stolz schritt die Patrizierin
einher, zierlich geführt von dem hochmögenden Partner. Die Linke hielt
den Überwurf, der auf der Unterseite blau abgefüttert war, zugleich mit
dem gleichfarbigen bauschigen Kleide gerafft empor, um ein Schreiten zu
gestatten. Goldene Sterne über das Ganze gesät, hoben sich leuchtend
von dem Untergrunde ab.

Die Büste war durch ein goldenes Band wirkungsvoll abgegrenzt. Um den
weit ausladenden Halsausschnitt legte sich edles Geschmeide. Gleich
kostbare Ketten hingen von der weißen, mit Goldstreifen verzierten
Kappe herab, auf der ein goldener Bausch den stimmungsvollen Abschluß
bildete.

Der Bürgermeister war angetan mit einem schweren, dunkelverbrämten
Samtmantel, mit breitem, umgelegtem Kragen seltensten Pelzwerkes. Die
Linke hielt den weiten Mantel über der Brust verschränkt, indes die
Rechte, auf deren Zeigefinger ein gewaltiger Siegelring im Flimmer der
Kerze strahlte, die Dame zierlich geleitete.

Langsam und stattlich bewegten sie sich dahin im Reigen. In bedächtigen
Intervallen lud die Musik zum Schreiten, Sichneigen und Sichwenden,
langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Jugend, die in verbotenem
Übermut wohl das Kichern sich verbiß und sich heimlich stieß, in
abfälliger Kritik über dieses oder jenes Paar der Würdigen, deren
schlecht getragene Majestät der Bewegung ihre Lachlust reizte. Dann war
dem Brauch Genüge geschehen, und das Alter wie die Würde zogen sich
zurück zu der ihm besser anstehenden Art des Zuschauens. Die Herren
verschwanden auch wohl in einer Ecke, einen ungestörten Trunk zu tun
und in ernstem oder eifrigem Disput zu bereden, was ihnen am Herzen
lag; wieder andere hockten an herbeigeholten Tischen, auf denen das
Schachzabel aufgestellt wurde.

Die Reigen, welche die Jugend aufführte, waren die alten, schönen
Tänze unserer Altvordern, die der Persönlichkeit freien Spielraum
ließen, sich im Rhythmus auszugeben. Ein Sichneigen, Sichheben und
Drehen mit der Anmut und Geschmeidigkeit der Jugend, ein Sichfinden
und Sichmeiden, das die Gefühle der jungen Herzen in liebreizendster
Weise verkörperte. Die Stadtzinkenisten bliesen, die Geigen seufzten
und jubilierten in einem Atem, die Flöten tirilierten, als wollten sie
zerspringen vor Lust über so viel Jugend und Anmut, die sich zu ihren
Füßen im Saal im Rhythmus durcheinanderwand.

Immer höher stieg die Lust, immer kühner wurden die Blicke der
Jünglinge, hingebender die Bewegungen der Jungfräulein; Terpsichore
sank die Leier aus der Hand, Bacchus drohte die Herrschaft zu gewinnen,
da gab Karsten Balder das Zeichen zum Schluß des Festes. Ungestüm
bat und drängte die Jugend, man möge noch ein kleines verweilen; das
eigene Töchterchen Karsten Balders wurde zum Ansturm auf das väterliche
Herz vorgeschickt, aber der Angriff scheiterte an seinem Willen. Sein
unbeugsames »Nein« verhinderte, daß das schöne Fest wie so viele
seinesgleichen in jener Zeit wilden Genußlebens in eine Bacchanalie
ausartete.

Sittsam brach man auf; die kalte Nachtluft verscheuchte die losen
Geister, die im Saale die Vernunft zu unterjochen drohten. Die
Jungherren geleiteten ihre Damen, die unter züchtig gesenktem Blick
das Verlangen verbargen, das eben noch in ihnen aufgewallt war.
Ehrbar klangen die Worte, die Ohren der begleitenden Eltern von
der Wohlanständigkeit des Begleiters überzeugend. Ein geflüstertes
Wörtchen, ein leise gehauchter und verstohlen gewährter Wunsch entging
trotzdem ihrer Aufmerksamkeit.

Heinrich Achtermann schritt an der Seite Vennes. Der Vater war auf
eigenen Wunsch daheim geblieben bei der kranken Mutter, trotz des
Widerspruches Vennes. Sie sollte nicht um die Freuden der Jugend
betrogen werden, da sie schon mehr als ihre Freundinnen Entsagung üben
mußte durch die Pflege der geliebten Mutter.

An dem stillen Abend, den der Mann am Lager der Kranken verbrachte,
kam manches zur Sprache. Auch der Besuch des Ratsherrn Achtermann
wurde erörtert und sein Hinweis auf ein enges Band zwischen den beiden
Familien.

»Wir sollten dem Glück unserer Venne kein Hindernis in den Weg legen«,
meinte die Gattin. »Im Schoße des angesehenen Achtermanns ist sie
nach irdischer Voraussicht wohl aufgehoben, und wir können, wenn wir
abberufen werden, beruhigt die Augen schließen.«

Richerdes sah das wohl ein; auch gegen die Person des Bewerbers ließ
sich nichts Ernstliches einwenden, wäre nur nicht die Bedingung des
Ratsherrn gewesen. Auch hier riet die Frau zur Nachgiebigkeit. »Du
hast doch selbst in letzter Zeit nicht selten über die zunehmende
Unergiebigkeit der Grube geklagt. Wie nun, wenn zuletzt doch
Achtermann recht behielte mit einem gänzlichen Zusammenbruch unserer
Erwerbsquelle?«

»Aber Karsten Balder«, warf Richerdes ein.

»Ja, Karsten Balder ist der störende Flecken in dem Bilde«, gab sie
zu. »Aber sein Triumph, wenn er's so auffaßt, sollte uns doch nicht
blind machen gegen den eigenen Vorteil. Und wer weiß, ob wir ihm
nicht doch zuletzt unrecht tun. Ich habe in stillen Nächten wohl
darüber nachgesonnen. Wir können ihm keinen greifbaren Beweis seines
Übelwollens nachweisen, und der Argwohn ist zuletzt ein schlechter
Berater. Soll ich ehrlich sein, so weiß ich mich aus der früheren
Zeit keines Zuges zu entsinnen, der auf Arglist oder Hinterhältigkeit
hindeutet.«

»Daß er mich gern gemocht hat,« fügte sie mit einem errötenden
Lächeln hinzu, das ihr Gesicht seltsam verschönte, »ist doch keine
Todsünde, die ihm für immer vorbehalten bleiben müßte. Und über die
Enttäuschung wird ihm gewiß seine Stellung wie das Glück in der Familie
hinweggeholfen haben.«

»Nun gehst Du auch mit fliegender Fahne in des Feindes Lager über«,
klagte Richerdes mit einer scherzhaften Resignation. »Da werde ich mich
wohl auf eine ehrenvolle Kapitulation einrichten müssen. Nun wollen wir
aber das schwerwiegende Gespräch abbrechen, das dich gewiß erregt.
Ich will's beschlafen, Mathilde. Zuvor aber gib mir noch ein Weilchen
Urlaub für den Schreibtisch. Die stille Stunde gibt mir erwünschte
Muße, über Geschäftliches nachzusinnen. Bis dahin kehrt wohl auch Venne
zurück.«

Venne war in der Begleitung einer befreundeten Familie zu dem Fest
gegangen. Als man sich von ihr verabschiedet hatte, ging sie mit
Heinrich Achtermann allein auf der nachtstillen Straße dahin.

»Könnt Ihr mir nicht sagen, Jungfer Venne, was Ihr gegen mich habt?«
unterbrach Heinrich das anfängliche Schweigen. Dieses Mal war die Frage
in einem Tone gestellt, dem alle leichte Neckerei fernlag.

Venne hatte den ganzen Abend über auch unter den Wogen immer höher
gehender, jugendlicher Lust und Freude ihre herbe Sprödigkeit bewahrt,
trotz allen heißen Werbens von seiten Heinrich Achtermanns. Es war
ihre Natur, die Gefühle des Herzens in sich zu verschließen. Nur ein
flüchtiges Lächeln bei den Scherzen aus seinem oder fremdem Munde
huschte auch über ihre Züge. Hätte sie gewußt, wie entzückend dieses
Lächeln gerade ihr zu Gesicht stand und wäre sie eitel gewesen wie
manche ihrer Gefährtinnen, so hätte sie diesen freundlichen Schimmer
sich dauernd zu eigen gemacht.

Venne war nicht kühl im Inneren, wie man ihr nachsagte und Heinrich
Achtermann es den ganzen Abend empfunden hatte; sie verbarg nur unter
dem Mantel jungfräulicher, spröder Ablehnung das warme Gefühl, um
es vor fremden Blicken nicht zu entweihen. Auch in ihr pulste das
Blut der Jugend, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn ihr nicht
die offen zur Schau gestellte Huldigung des stattlichen, schönen
Ratsherrensohnes geschmeichelt hätte. Und noch mehr regte sich in ihrem
Herzen für den hübschen Gesellen, als sie sich jetzt noch selbst in
ihrem Herzen zugestehen mochte. Sie standen vor ihrer Haustür. Die
Frage Heinrichs zwang zu einer Antwort, und so wappnete sie sich mit
doppelt kühler Zurückhaltung gegen eine unvorsichtige Äußerung.

»Ihr fragt kühn und begehrt viel zu wissen, Junker Achtermann«,
suchte sie ihn zurückzuweisen. »Ließ ich mir irgendeine Unhöflichkeit
zuschulden kommen, so wäre mir's leid.«

»Nein, daß muß Euch der Neid lassen, Jungfer Venne, darin laßt Ihr es
nicht an Euch fehlen. Aber mir wäre es lieber, Ihr vergäßet Euch ein
wenig und legtet einmal für einen Augenblick diese stolze Höflichkeit
ab, wenigstens mir gegenüber.«

»Und weshalb soll ich gerade Euch gegenüber mich bezwingen und von
meiner Art lassen?« -- Kaum war die Frage dem Munde entflohen, als
sie ihre Worte auch gern zurückgenommen hätte, denn sie mußten den
Gefragten dazu bringen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

»Weshalb fragt Ihr? Weil Ihr in meinem Herzen wohnt als die Göttin, der
ich diene, die ich anbete. Ahnt Ihr nicht, wie es in mir aussieht, wie
mein erster und mein letzter Gedanke Euch gilt?«

Venne unterbrach ihn. Um nicht schwach zu werden, nahm sie zum Spott
ihre Zuflucht: »Die wievielte bin ich, der Ihr Eure Neigung gesteht?«

»Venne,« erwiderte er mit nachdrücklichem Ernst, den die Leidenschaft
durchzitterte, »höhnt mich nicht noch, wollt Ihr mich nicht zur
Verzweiflung treiben. Wahr ist es, ich tändelte hier und da und
tauschte zärtliche Worte ohne tieferes Gefühl. Ihr seht, ich mache
mich nicht besser, als ich bin. Aber laßt mir auch Gerechtigkeit
widerfahren; ich bin zuletzt nicht schlechter als meine Freunde
und Altersgenossen. Was ich bisher trieb, war jugendlicher
Gefühlsüberschwang, leichte Tändelei. Bei Euch aber ist es anderes.
Glaubt es mir, glaube mir, Venne Richerdes, Du hast es in der Hand,
mich selig zu machen für immer oder mich zu verderben. Trage die
Verantwortung dafür, wenn Du kannst, stelle mich auf die Probe, prüfe,
aber weise mich nicht für immer zurück.«

In Venne quoll es heiß empor unter der Glut seiner Worte; ein Gefühl
von Glückseligkeit durchschauerte sie. Es zog sie zu ihm. War das
die große, große Liebe, von der die Dichter sangen? Weich wurde ihr
Blick und senkte sich in seine Augen. Heinrich hatte ihre beiden Hände
ergriffen. Leidenschaftlich erregt beugte er sich vor. Venne schloß
die Augen, wie ein seliger Schwindel überflog es sie. Da ließ sich ein
Geräusch im Hause hören. Sie entzog ihm ihre Hände und bat ihn: »Geht,
daß man uns nicht sieht.«

Leise öffnete sie die Tür, mit einem traurigen Blick wandte sich
Heinrich Achtermann ab. Da traf ein Flüsterton sein Ohr: »Geht, ich
warte, daß Ihr die Probe besteht!« und mit einem leisen Kichern huschte
sie ins Haus.

Heinrich Achtermann zog beglückt von dannen. Um die Probe war ihm nicht
bang. Übers Jahr, so hoffte er, war Venne sein geliebtes Weib.




Im Schefferschen Hause am St.-Ägidien-Platz herrschte weiter drückende
Sorge über dem kleinen Kreise, denn noch vermochte auch der Arzt nicht
zu sagen, wie die schwere Verwundung Erdwins verlaufen würde. Die Lunge
war durch den Schuß gestreift, und die dicke Winterluft bereitete dem
schwer Atmenden große Pein. Langsam nur gewann er unter der liebevollen
Pflege von Mutter und Schwester die verlorenen Kräfte wieder. Tiefe
Blässe lag auf dem eingefallenen, einst so blühenden Gesicht.

Der alte Arzt war mit dem Erfolge seiner Kur nicht zufrieden und
behauptete, es müsse noch etwas anderes, Seelisches sein, das die
Heilung verzögere. Aber er erhielt auf seine Andeutung keine Antwort,
denn den alten, ehrenfesten Handwerker mutete es, mochte er auch auf
die Erfüllung seines Lieblingsplanes betreffs der Heirat mit der
Nachbarstochter verzichten, wie ein ihm persönlich angetaner Schimpf
an, daß im Herzen seines Sohnes ein hergelaufenes Mädchen, die Tochter
einer fahrenden Frau, sich eingenistet habe.

Die Mutter wurde unter einem inneren Zwiespalt hin und her gezerrt. Im
Herzen stand sie auf der Seite ihres Mannes; auch sie konnte sich von
dem übererbten Vorurteil nicht frei machen, obwohl Monikas bescheidenes
Wesen und der Liebreiz ihrer Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht
verfehlten. Auf der anderen Seite jammerte sie der Zustand des Sohnes,
der sich in Sehnsucht nach Monika verzehrte. Lange verbiß er den
Schmerz, aber zuletzt brach er sich doch in herben Worten Bahn.

Von der Schwester hatte er vernommen, daß die Geliebte schon am ersten
Tage dagewesen sei. Was die Schwester ihm nicht sagte, die Abweisung
durch die Eltern, verriet ihm die Verlegenheit der Mutter, so oft er
das Gespräch auf sie brachte, sowie des Vaters verschlossenes Gesicht.
Wo Monika mit der Mutter Immecke lebte und wie sie hausten, konnte
ihm wieder die Schwester berichten, die sie ohne Vorwissen der Eltern
in der Badeleber Straße besucht hatte. Sie brachte die Grüße der
Frauen mit und ihre herzlichen Wünsche, aber sie konnte den Anblick
der Geliebten nicht ersetzen. Immer tiefer fraß sich die Sehnsucht in
sein Herz, und größer wurde der Groll gegen die, welche ihm sein Glück
vorenthielten. Zuletzt brach's sich über die Lippen Bahn der Mutter
gegenüber.

»Eure Pflege ist zu nichts nutze. Laßt mich lieber schnell sterben,
als daß ich mich langsam zu Tode quäle. Ich liebe Monika und lasse
nicht von ihr. Glaubt doch nicht, daß Ihr mit Eurem Pfahlbürgerstolz
trennen könntet, was in jahrelanger, ehrlicher Freundschaft und Liebe
zusammengewachsen ist. Wollt Ihr sie weiter von mir getrennt halten, so
laßt mich lieber aus dem Hause schaffen zu mitleidigen Menschen, auch
auf die Gefahr hin, daß ich dabei mir den Tod hole. So ertrage ich's
nimmer lange.«

Da griff der Mutter die Angst ans Herz, und sie versprach, mit dem
Vater zu reden.

Der brave Meister Scheffer war höchst ungehalten über die Zumutung
seiner Lebensgefährtin, er solle die hergelaufene Dirne in seinem Hause
aufnehmen. Immer wieder wies er darauf hin, daß es Landstreichervolk
sei, dem sie die Tür öffnen wolle. Aber sie blieb fest, aus Angst um
das Leben des Sohnes, und sie erreichte endlich, daß er, wenn auch
ingrimmig und grollend, seine Zustimmung gab. »Aber mich laßt aus dem
Spiele«, entschied er unerbittlich. »Ich will mit der Narretei nichts
zu tun haben und gehe aus dem Hause, wenn das Mädchen kommt.«

Monika kam. Meister Scheffer sah unbeobachtet durch ein Guckfenster,
das auf der hofwärts gelegenen Werkstatt den Überblick über die
Vorgänge auf der Hausdiele gestattete. Das Mädchen war nicht
übel, sein Auftreten bescheiden, und ohne den Groll im Herzen und
die Voreingenommenheit hätte er zuletzt wohl die eigenen Wünsche
zurückgestellt; aber der Gedanke, was die in gleich strengen
Anschauungen aufgewachsenen Nachbarn und Gildebrüder dazu sagen würden,
verscheuchte die weiche Regung, und er verließ durch die Hoftür das
Haus.

Das Wiedersehen zwischen Monika und Erdwin gestaltete sich
erschütternd, obwohl die Schwester sie auf das Aussehen des Kranken
vorbereitet und sie dringend gebeten hatte, jeden Gefühlsausbruch zu
meiden. Als sie in das Zimmer trat und das bleiche Gesicht auf dem
Lager sah, das sich von den bunten Kissen doppelt gespenstig abhob,
sank sie mit einem Wehelaut am Lager des Geliebten nieder.

»Mein Erdwin, mein Einziger«, war alles, was sie unter verhaltenem
Schluchzen hervorbringen konnte. Ein glückliches Lächeln huschte über
das Gesicht des Kranken, und er reichte ihr die abgezehrte Hand, die
sie mit Küssen bedeckte. Auch der Schwester rannen die Zähren über die
Wange, und selbst die Mutter wischte sich mit einem Zipfel der Schürze
die feucht gewordenen Augen. Sie sprachen nur wenig miteinander, aber
die Blicke sagten den anderen, wie tief die Liebe im eigenen Herzen
wurzele.

Die Mutter trieb zuletzt zum Aufbruch, aus Sorge, die Aufregung möchte
dem Kranken schaden. Monika mußte versprechen, bald wiederzukommen.

»Gern,« sagte sie mit einem rührenden Lächeln, »wenn Deine Eltern es
gestatten.«

Die Mutter war schon halb gewonnen und wiederholte auch ihrerseits die
Einladung. Als der Vater heimkam, erzählte sie ihm von dem Wiedersehen
und riet ihm dringend zur Nachgiebigkeit, aber noch blieb er
halsstarrig und verstockt; es mußten noch andere Bundesgenossen kommen,
um ihn gefügig zu machen.

Es waren einmal Heinrich Achtermann und Johannes Hardt, die des
Fahrtgesellen nicht vergaßen.

Johannes fand Beschäftigung im Schreibzimmer des Oheims, der Pleban
an der St.-Jakobskirche und +Notarius publicus+ war. Er hoffte,
demnächst in die Kanzlei des Rates einzutreten. Die erfolgreichen
Studien wie der wichtige Dienst, den er der Stadt geleistet hatte,
waren eine Empfehlung, die ihm den Weg zu dem vom Vater gewünschten
Ziele bahnten. Er vergaß über den eigenen Plänen und Hoffnungen den
treuen Reisegefährten und Jugendfreund nicht. Wenn sich die Gelegenheit
bot, sprach er bei Scheffers vor und verbrachte ein Stündchen am Bette
des Verletzten. So war er über den Zwist wohl unterrichtet, und er, der
Monika selbst und ihre uneigennützige, selbstlose Liebe werten konnte,
half, wo er konnte, den Gegensatz auszugleichen.

Neben der Angst um die Wiederherstellung, dem Gram um die Verirrung,
wie Meister Scheffer die Liebe des Sohnes zur Tochter der Immecke
Rosenhagen immer noch nannte, war es auch die Sorge um seine Zukunft,
wenn er gesundet sei. Daß Erdwin für das Handwerk nicht in Frage
kam, stand zu befürchten. Aber was sollte werden? Sollte er wieder
hinaus in das wilde Leben, zu dem ihm nunmehr auch die körperlichen
Vorbedingungen fehlten?

Johannes suchte die Eltern über diesen Punkt zu beruhigen. Wozu seine
Bescheidenheit in eigener Sache nie ausgereicht hätte, das tat er
für den Freund gern und freimütig. Er war schon beim Rate vorstellig
geworden, man möge für den Verletzten, wenn er wiederhergestellt sei,
eine Verwendung im Dienste der Stadt vorsehen.

Heinrich Achtermann hatte schon am Tage nach dem Überfall bei den
Scheffers vorgesprochen und mit herzlicher Teilnahme von der Schwere
der Verletzung gehört. Sein Mitleid galt nicht nur dem unerschrockenen
Helfer in der Not, sondern es rang hier ein Menschenkind mit dem Tode,
das ihm als lieber Jugendgespiele und Genosse tausend lustiger Streiche
besonders ans Herz gewachsen war. Der gutmütige und weichherzige
Heinrich sah keinen Abstand zwischen dem Sohn des Schuhmachers und
sich, dem Abkömmling eines alten Patriziergeschlechtes. Er war daher
bedacht, dem Kranken alle Hilfe zu verschaffen, die der Reichtum der
Eltern gestattete, und immer wieder wanderten Körbe mit stärkenden
Mitteln in das Haus am Ägidienplatz. Als sich die ersten Anzeichen der
Genesung einstellten, lag er dem Vater in den Ohren, dieser möge darauf
bedacht sein, für die Zukunft Erdwin Scheffers zu sorgen.

Es hätte des lebhaften Mahnens gar nicht bedurft, denn auch der
Ratsherr war dem Burschen wohlgewogen, der seinem Einzigen so mannhaft
zur Seite gestanden hatte. So konnte es nicht fehlen, daß auch der
hochmögende Rat diesem Ansturm von verschiedenen Seiten ein geneigtes
Ohr lieh.

Der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, der überzeugt war, daß
man die Rettung des kostbaren Schriftstücks nicht zuletzt dem Mut
und der Umsicht Erdwin Scheffers verdanke, sprach selbst im Hause
des Meisters vor und teilte dem matt Aufhorchenden die Belobigung
und günstige Gesinnung des Rates mit. Aber trotz allem kam man nicht
weiter. Wohl hatte sich der Kranke inzwischen so weit erholt, daß er,
auf den Stock gestützt, vorsichtig im Hause umherwandeln konnte. Indes
das Rot der Gesundheit wollte noch immer nicht in die blassen Wangen
zurückkehren, und der alte Lebensmut fehlte nicht minder.

Monika litt noch mehr unter der gedrückten Stimmung. Trotz aller
liebevollen Zärtlichkeit der Schwester Erdwins, obwohl auch die Mutter
allmählich den Widerstand schwinden ließ und sie freundlich begrüßte,
wenn sie, was nur selten geschah, kam, trug sie dennoch schwer an dem
Gefühl, daß sie im Hause des Geliebten nur geduldet sei.

Die eigene Mutter litt mit ihr unter diesem schiefen Verhältnis, und
sie, die tatkräftige und entschlossene Frau, die durch einen langen und
ehrbaren Lebenswandel inmitten des rauhen und lockeren Kriegslebens
reichlich gesühnt hatte, was ihr etwa ihr eigenes Gewissen an
jugendlichem Leichtsinn vorwerfen konnte, trug doppelt schwer an der
Lage, die sie zur Rolle des untätig wartenden Zuschauers verurteilte.
Sie sah, daß das Gesichtchen Monikas täglich schmaler und blasser
wurde. Sie hörte nachts, wenn sie schlaflos auf ihrem Pfühle lag, die
Seufzer des geliebten Kindes. Das hielt sie nicht länger aus.

Immecke Rosenhagen hatte das Fähnlein des erschlagenen Hauptmanns über
den Rhein und weiter bis Goslar begleitet. Sie war des unruhvollen
Kriegslebens mit seinen Bildern wilden Blutvergießens und roher Sitten
müde. Sie wollte ihre Ruhe haben auf ihre alten Tage, vor allem aber
sollte ihre Monika eine Heimat haben. Daß dies Goslar sein müsse, kam
ihr zunächst nicht in den Sinn. Aber ausruhen wollte sie hier von der
Mühsal des Marsches. Wohin sie alsdann ihren Stab setzen würde, war ihr
selbst noch verschlossen. In die Heimat, nach Salzwedel, zog sie nichts
Besonderes. Die Eltern waren längst tot, nähere Verwandte lebten ihr
dort nicht. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie dieses
nicht zur Rückkehr dorthin verlocken können. Denn was ihr die Tage in
Goslar verleidete, würde sie dort in der Beschränktheit der kleinen
Stadt, wo man ihre etwas abenteuerliche Jugendgeschichte kannte,
doppelt treffen.

Immecke war entschlossen, Goslar zu verlassen, denn sie wollte
nicht länger untätig zuschauen, daß ihr Herzblatt sich abhärmte und
dahinschwand. Doch als sie Monika gegenüber eine Andeutung dieser Art
fallen ließ, traf sie auf einen so entschlossenen Widerstand, wie sie
ihn von der schüchternen Tochter nie erwartet hätte.

»Ich weiche keinen Schritt von hier, ehe Erdwin nicht gänzlich
hergestellt ist, und trifft ihn das Schlimmste, so soll sein Grab von
meinen Tränen genetzt werden.«

»Nun, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe«, antwortete die Mutter
ebenso entschlossen. »Ich gehe selbst zu dem verdrehten und in seinem
Bürgerstolz überspannten Scheffer und halte ihm seine Sünden vor.«
Monika erschrak und bat die Mutter, davon abzusehen, aber alle Einrede
war vergeblich.

Die Rosenhagens wohnten bei einer Witwe in der Badeleber Straße; von
dort machte sich Immecke an einem der nächsten Tage auf den Weg nach
St. Ägidien. Sie wollte zunächst im guten mit dem Scheffer reden, war
aber entschlossen, die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen, und dann
sollte, scheiterte ihr Versuch, sie kein längerer Einspruch Monikas vom
Aufbruch von Goslar fernhalten.

Es öffnete ihr die Schwester Erdwins, die sie von einem Besuch in
der Badeleber Straße her kannte. Die Mutter wurde gerufen und mit
ihr bekannt gemacht. Dann gingen sie zu Erdwin hinein. Es war das
erstemal, daß Immecke ihn seit dem Tage von Riechenberg wiedersah. Auch
sie erschrak, als sie ihn erblickte, obschon das Schlimmste längst
überstanden war.

»Armer Schelm, wie haben sie Dir mitgespielt, aber nun heißt es
schnellstens gesund werden, ich will das Meinige dazu beitragen und mit
dem Vater sprechen.«

Erdwin stimmte lebhaft zu, die Mutter widerriet ängstlich, doch Immecke
war entschlossen: »Ruft ihn also.« Aber die Mutter warnte, Erdwin der
Aufregung auszusetzen.

»Gut, so suchen wir den Löwen in seiner Höhle auf«, sagte sie resolut
und ließ sich von der Frau den Weg zur Werkstatt zeigen, wo Meister
Scheffer wütend auf das Leder losklopfte, als solle es für alle
Widerwärtigkeiten büßen, die ihm widerfuhren.

Sie klopfte, und ehe noch der Meister »Herein« gerufen hatte, stand sie
schon im Zimmer. »Guten Tag, Meister Scheffer.« Er tat sehr erstaunt,
aber sie hatte mit ihrem scharfen Auge wohl das Gesicht gesehen, das
sich vorhin bei ihrem Kommen an das Guckfenster preßte, und da die
Frau einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, durfte sie annehmen,
daß er den Besuch kenne.

»Wir kennen uns durch unsere Kinder,« ging sie auf die Sache los, »und
ihretwegen komme ich.«

Meister Scheffer fühlte sich höchst unbehaglich unter dem scharfen,
prüfenden Blick der Frau, die da so mir nichts, dir nichts bei ihm
eindrang. Er hüstelte verlegen und suchte an ihr vorbeizublicken, als
suche er nach einem Bundesgenossen. Aber Immecke Rosenhagen kannte ihre
Leute und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Meister Scheffer, ich bin zu Euch gekommen, um von Euch zu hören, was
Ihr gegen mich und mein Kind habt. Daß ich sie Euch nicht aufdrängen
will, brauche ich nicht zu sagen. Indes, ich will nicht länger zusehen,
wie zwei Menschenkinder, die mir beide lieb sind, an Eurem Starrsinn
zugrunde gehen. So oder so will ich Klarheit schaffen.«

»Ihr kommt einem arg grob«, meinte er ausweichend. »Was ich für Gründe
habe? Nun, es wären ihrer mehrere. Wir kennen uns zu wenig, und Ihr
seid nicht von hier.«

»Ist das alles, so ist das kein Grund, Eure Zustimmung zu versagen.
Oder ist es bei Euch verboten, durch frisches Blut von draußen Eure
Stockfischigkeit zu bessern? Mir scheint das sogar sehr vonnöten, wie
Ihr selbst beweist«, fuhr sie in ihrer derben Offenheit fort.

»Nun ja, das mag sein, aber es wäre da noch so manches ...«

»Und unter dem ›Manchen‹ ist eines für Euch die Hauptsache, gesteht
es nur ruhig zu. Wer nicht seßhaft, gilt in Euren Augen als fahrendes
Volk, und ich im besonderen bin Euch wohl gar verdächtig wegen der
Herkunft meines Kindes. Seid unbesorgt, sie ist im Ehebett geboren so
gut wie Eure eigenen. Und hegt Ihr Zweifel, so lest hier den Trauschein
des ehrenwerten Feldkaplans Carolus Wintinger.«

»Ja, ich sehe schon, da ist alles in Ordnung«, ächzte Meister Scheffer.
»Aber da wäre doch noch, ich meine, es gilt doch auch die eigene
Reputation; da sind zum Exempel die Nachbarn, was sollten sie, was
werden sie ...« Schneidend lachend fiel ihm Immecke ins Wort, indes die
Stirn sich vor Zorn rötete.

»Da wäre doch noch, da ist zum Exempel,« höhnte sie, »da ist das
Marketenderweib, das sich erdreistet, vor Euch zu treten und den
vermessenen Gedanken zu haben, als wäre sie, als könnte sie ... Pfui
Teufel der Wohlanständigkeit, die ihr Genüge darin findet, braven
Leuten die Ehre zu kürzen. Aber nun beruhigt Euch, jetzt will ich
nicht. Macht's mit Euch und Eurem Gott ab, wenn Euer Sohn darüber
zugrunde geht. Doch über eines will ich Euch noch beruhigen. Ihr hättet
Eurer Ehre nichts vergeben mit meiner Monika. Mir haben mehr vornehme
Herren die Hand gedrückt und dankbar geküßt, als Euch vielleicht zu
Gesicht gekommen sind.

Was wißt Ihr hier in Eurem satten Behagen von dem Leben und Nöten
draußen, den Nöten Eurer eigenen Kinder, die hinauslaufen, weil Ihr
ihnen die Enge hier zu unerträglich macht.

Euer eigener Sohn rannte so davon vor Euch, Meister Pechdraht, weil Ihr
bange waret, sein Horizont möchte den eigenen überschreiten, könnte
über die Sicht Eurer Türme hinausreichen. So lief er davon wie so
mancher gute, deutsche, ehrliche Knabe, der in die Fremde ging, um auf
welschem Schlachtfelde für welsche Fürsten sein Herzblut zu
verspritzen.

Ich habe sie gelehrt, daß es ein Vaterland gibt, ein Deutschland, dem
unsere Kraft gehören müsse, ich habe ihnen diese Sehnsucht in das Herz
gepflanzt. Ich habe sie in die Arme genommen, wenn das Heimweh sie
packte und schüttelte, ich habe ihre Wunden verbunden, die welsche
Waffen ihnen geschlagen; ich habe ihnen die Augen zugedrückt und sie in
welscher Erde betten helfen wie die Mutter ihr Kind, ich, die Deutsche
den Deutschen. Das ist die Marketenderin Immecke Rosenhagen vom
Regiment Holzendorf. Und nun lebt wohl, unsere Wege scheiden sich.«

Sie war draußen, ehe sich der gute Meister Scheffer von seiner
Bestürzung und Beschämung erholt hatte. Die Haustür flog zu, daß die
Glocke ängstlich wimmerte. Grimmig lächelnd schritt Immecke dahin, der
Badeleber Straße zu. Nun war es zu Ende, und nun hieß es, einen Strich
unter die letzte Vergangenheit machen, für sich und für Monika.

Als die Tochter sie ins Zimmer treten sah, wußte sie schon, wie
der Besuch verlaufen war. Sie brauchte gar nicht zu fragen, die
Mutter begann sogleich zu erzählen. Und sie schloß mit der barschen
Aufforderung: »So, nun ist's Schluß. Ich habe das Meinige getan. Nun
hat das Herz zu schweigen, und die Vernunft tritt an seine Stelle.«

Monika war so verschüchtert, daß sie vorab keine Silbe zu antworten
wagte. Aber in der Nacht brach der Kummer sich Bahn, erst in einem
stillen Schluchzen, daß die Schultern erbebten, und dann, als die
Mutter sie ansprach, in lautem Weinen, so daß Immecke ihr doch ein
gutes, tröstendes Wort sagen mußte. Auch am anderen Tage stand indes
ihr Entschluß noch fest, Goslar zu verlassen. Denn: ein rascher,
fester Schnitt ist besser als ein langsames Sich-dahin-quälen, dachte
sie. Einen Augenblick kam ihr auch wohl der Gedanke, das alte Handwerk
wiederaufzunehmen; aber davon ging sie bald wieder ab, wenn sie Monikas
sich erinnerte. Da wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend gemacht durch
Heinrich Achtermann, der bei Scheffers von Immeckes Besuch und ihrem
Mißerfolg gehört hatte. Er ging zu den Frauen und machte ihnen einen
Vorschlag, der sie in Goslar festhalten sollte.

»Ich habe gehört, daß der >Goldene Adler< an der Gudemannstraße
zum Verkauf stehe. Es ist eine gutgehende, achtbare Herberge, die
ihren Mann ernährt. Wie ich Euch kenne, wäret Ihr wohl imstande, ihr
vorzustehen. Ihr könnt Euch ja einen Schaffner halten. Wie Ihr es mit
der Anzahlung halten wollt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist da auch
manches zu machen durch Bürgschaft, die Euch von meinem Vater nicht
fehlen würde.«

»Da seid ohne Sorge,« entgegnete Immecke, »ich bin nicht mittellos. Ich
habe einen guten Spargroschen, ehrlich verdientes Geld, das anzunehmen
sich kein Goslarer Bürger zu bedenken braucht. Auf jeden Fall danke
ich Euch für Euren guten Willen. Ich will mir's überlegen und Euch
Nachricht geben.«

                   *       *       *       *       *

Die Einbürgerung ortsfremder Personen, für welche die neue Zeit aus
parteipolitischen Gründen heraus alle Schwierigkeiten zu beseitigen
bestrebt ist, konnte früher nur schwer erreicht werden, und Immecke
Rosenhagen hätte mit ihnen nicht weniger, ja, vielleicht sogar noch
mehr zu kämpfen gehabt, als sie sich entschloß, den Vorschlag Johannes
Hardts anzunehmen.

Wer das Bürgerrecht einer Stadt wie Goslar erhielt, gewann damit einen
Kranz von Rechten auch wirtschaftlicher Natur, die eine Auslese der
Zuwandernden als sehr berechtigt erscheinen lassen mußte, abgesehen
davon, daß man in jener unruhigen Zeit, die schon in der Masse der
eigenen Bürger Keime gärender Ungeduld und Mißstimmung auf vielen
Gebieten barg, sich hütete, noch fremde Schößlinge, deren Wesen nicht
genug zu erkennen war, in den eigenen Garten zu pflanzen. Der Nachweis
dieser »Würdigkeit« ist ein Erfordernis, das sich bis in unsere Tage
in der Stadt Goslar erhalten hat und beispielsweise heute noch von neu
anzustellenden Beamten verlangt wird.

Diese »Würdigkeit« hatte also auch Immecke Rosenhagen zu erbringen, und
sie konnte das in einer Weise, die sich für sie zu einer glänzenden
Genugtuung gestalten sollte. Als sie zum Rathaus beordert wurde, mußte
sie sich dort zunächst einem Verhör in der Kanzlei unterziehen, das
durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Der Schreiber behandelte sie
mit einer ausgesprochenen Nichtachtung, und als sie dann selbst auf
sich aufmerksam machte, versuchte man sie in ein förmliches Kreuzverhör
zu nehmen. Aber da kannten sie Immecke Rosenhagen!

»Euch Schreibersleute scheint die Neugier arg zu plagen, aber
befriedigt sie an einem anderen Objekt als bei mir. Ich habe Besseres
zu tun, als müßige Leute zu unterhalten. Ich will zum Bürgermeister
Karsten Balder, und wenn Ihr den Weg nicht wißt, suche ich ihn mir
selber.«

Das war eine im Rathause geradezu unerhörte Art des Auftretens, noch
dazu von einem Frauenzimmer. Aber sie hatte durchschlagende Wirkung;
man wies sie zum Regierenden. Dort brachte sie unwillig sogleich ihre
Ansicht über diese Art von Behandlung vor, so daß auch Karsten Balder
sie erstaunt anblickte.

»Ich soll also meine ›Würdigkeit‹ nachweisen,« hub sie dann an, »ich
denke, das soll heißen, ob ich nicht gestohlen oder betrogen oder sonst
eine Missetat auf dem Gewissen habe. Dieses hier wird Euch hoffentlich
darüber beruhigen.«

Damit überreichte sie ihm zwei Schreiben, eines von dem Feldobristen
von Walsrode im Regiment Holzendorf und das andere von dem
Generallieutenant und Befehlshaber der gesamten deutschen Knechte in
burgundischen Diensten, Herrn Friedrich von Uslar.

Beide bestätigten, daß Immecke Rosenhagen, Marketenderin im Regiment
Holzendorf, nicht nur ein braves, ehrliches und tapferes Frauenzimmer
sei, sondern sich auch besondere Verdienste um das Wohl und Wehe der
deutschen Knechte erworben und ihnen allzeit hilfreich zur Seite
gestanden habe. Sie verdiene höchste Achtung, und ihr Lebenswandel sei
ein untadeliger.

Karsten Balder durchlas die Schreiben, dann trat er auf Immecke zu und
reichte ihr die Hand:

»Immecke Rosenhagen, was die Herren hier von Euch schreiben, ehrt Euch
mehr, als viele Eures Geschlechtes von sich sagen können. Ihr seid
herzlich willkommen in Goslar. Ich wollte, wir hätten mehrere Eurer Art
in unseren Mauern. Mit diesem Handschlag begrüße ich Euch als Bürgerin
von Goslar. Nehmt es zugleich als einen Ausgleich für die kleine Unbill
von vorhin, für die Ihr ja aber selbst gleich Buße auferlegt habt«,
schloß er lächelnd.

Freimütig blickte ihm Immecke in die Augen. »Ich danke Euch, Herr
Bürgermeister Karsten Balder, und ich hoffe, Ihr werdet Euer Wohlwollen
nicht zu bereuen haben.«

So wurde die Marketenderin Immecke Rosenhagen Bürgerin der Freien
Reichsstadt Goslar und Besitzerin des ›Goldenen Adlers‹ in der
Gudemannstraße. Und es erweist sich noch, daß sie dem Bürgermeister
Karsten Balder nicht zuviel versprach.




Über die Berge des Harzes hielt der Winter noch seine eisenharte Faust
ausgestreckt, obwohl der Februar zu Ende war. Wohl brausten hin und
wieder die Stürme des herannahenden Frühlings durch den düsteren Tann
und nahmen den ragenden Waldbäumen die ungeduldig getragene Schneelast
ab, aber der nächste Tag verdarb, was sein Vorgänger gutzumachen
versuchte, und die gleichmäßige, weiße Kappe deckte wieder Wipfel und
Strauch. Im Dickicht lagerte das abgemagerte Wild, dem der Weg zu den
kärglichen Äsungsplätzen durch die hartgefrorene Eiskruste versperrt
war. Und manch edler Geweihte lag mitsamt den Gefährtinnen im Wundbett,
weil der nagende Hunger sie auf die Nahrungssuche getrieben und die
Läufe beim Durchschreiten der Schneekruste von dieser aufgerissen
waren.

Das Raubzeug fand an ihnen willkommene Beute. Und dennoch war auch bei
diesen Schmalhans Küchenmeister. Nicht einmal ein Mäuslein lief dem
leise durch den Wald schliefenden Fuchs in den Weg. Das Eichkätzchen
saß ihm unerreichbar im warmen Kobel, und der Häslein gab es auch in
guten Zeiten nur wenige im wilden, rauhen Gebirge.

Meister Reinekes größerer Bruder, der Wolf, stieg in die Ebene herab
und fiel an, was ihm in den Weg kam. Bis in die Landwehr drangen sie
vor, und, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen, einmal verirrte
sich sogar einer von diesen frechen Gesellen durch ein Mauerpförtchen,
das über Mittag ein Viertelstündchen offen gestanden hatte, in die
Stadt. Dort fielen die Hunde ihn wütend an, und er büßte sein Leben
unter ihren Bissen ein trotz wilder Gegenwehr. Er war ein lebendiges
Zeichen dafür, wie groß auch die Not unter dem Getier des Waldes sein
mußte.

Mit Sorgen sah der Jäger den Folgen dieses unbarmherzigen Winters
entgegen. Mit Sorgen blickte aber auch der Hausherr auf den ständig
sich mindernden Vorrat an Spaltholz, das der nimmersatte Kamin mit
gefräßiger Eile verlangte, wollte man nicht zähneklappernd im eigenen
Hause sich der Kälte überliefern. Schlimm für die Armen, die ansonst
auch im Winter ihren Bedarf an Leseholz sich im Walde sammeln konnten.
Schlimm für alle, welche ihr Beruf aus der Stadt heraustrieb, wie
die Erz- und Hüttenleute, welche im Granetal und anderen waldreichen
Flußtälern die Erzroste bedienten. Es gab keine Möglichkeit, in den
tiefverschneiten Forsten das nötige Holz zu fällen und zur Talsohle zu
schaffen. Sie alle froren unfreiwillig schon seit Monaten, und der
Hunger bleckte grimmig durch die kleinen Fensterscheiben ihrer Hütten.

Am Rammelsberge wurde der Grubenbetrieb notdürftig aufrechterhalten,
denn seitdem das Pulver aufgekommen war, kam man immer mehr von dem
uralten Brauch ab, das Erzgestein, welches abgebaut werden sollte,
durch Feuer zu rösten und mürbe zu machen für den Angriff mit Spitzhaue
und Brechstange. Aber das gewonnene Erz konnte nicht verhüttet werden
und lag als lohnzehrendes, totes Material in Halden vor dem Berge.

Nur ein Teil der Menschen, die unter dem harten Joche des Winters
litten, gewann ihm Freuden ab und wünschte, daß er noch länger sein
Regiment ausübe: die Kleinen. Wenn sie der strengen Zucht des Magisters
oder Schulmeisters entschlüpft waren, wenn sie der Aufsicht und den
Mahnungen der Mutter auf einen Augenblick entwischen konnten, ertönte
ihr Geschrei und Jubel auf der Straße. Wo immer ein Hang sich senkte,
wo eine gefrorene Pfütze blinkte, da sausten sie auf den flachkufigen
Bretterschlitten, auf umgekehrten Schemeln herab oder glitten auf des
Schusters Rappen über die blanke Fläche in endlosem Kreislauf, einer
den anderen anfeuernd und überschreiend. Mochte ein strenger und
wohlweiser Rat, dessen Verbote sonst immer Beachtung fanden, noch so
oft Erlasse gegen das Schlittern und Schlittenfahren in den Straßen
geben, die Stadtweibel ihnen nachspüren, die Rangen lachten ihrer aus
sicherer Entfernung und verschwanden nur um die Ecke, um an anderer
Stelle das gesetzwidrige Spiel wiederaufzunehmen.

In den Häusern der Bürger war man des hartnäckigen Gesellen gleichfalls
überdrüssig, nicht nur, weil der Holzvorrat zu Ende ging und die
Erwerbsquellen vor den Toren für manche versiegt waren, auch die Jugend
sehnte sein Ende herbei. Der Winter brachte zwar für das gesellige
Leben in der reichen Stadt manche Gelegenheit, einander zu sehen und
zu sprechen, neben dem Verkehr in den Familien, aber nachdem die
Hauptfeier, das Festmahl des neugewählten Bürgermeisters, der mit dem
andern im Amte verbleibenden für das nächste Jahr regieren sollte,
begangen war, hatte der Winter für die Jugend, die flügge gewordene,
seine Reize verloren, und sie harrte ungeduldig ~ihres~ Festes,
des ›Langen Tanzes‹.

Er ging in seinen Anfängen bis in den Anfang des vierzehnten
Jahrhunderts zurück und wurde um die Fastnacht gefeiert.

In gewöhnlichen Jahren war er der Vorbote des Lenzes, auch in Goslar.
Heuer freilich sah es trübe aus, da der alte Griesgram Winter immer
noch sein hartes Zepter schwang.

So gab er dieses Jahr auch nur ein klägliches Abbild der sonst dabei
herrschenden Lust und Freude, denn die Kälte war just an dem Tage,
auf den er fiel, grimmig. Die Jünglinge mochten ihr noch standhalten
in warmgefütterten Wämsen, die Mägdelein aber scheuten die Teilnahme;
denn welches Jungfräulein besitzt so viel Aufopferungsfreudigkeit, ein
blaugefrorenes Näslein der Spottlust der männlichen Jugend auszusetzen.
Gegen die Kälte konnte man sich auch schützen durch ein wärmendes
Kolett, das, um die Schultern gelegt, den zarten Hals und die Brust
schützte. Aber sollte man so das Geschmeide verdecken, das bestimmt
war, die Schönheit der Trägerin zu heben. Und die duftigen Gewänder,
die man sonst unter dem warmen Hauch der Frühlingssonne schon anzulegen
wagen durfte, sie schieden für dieses Mal gänzlich aus.

Nur das geringere Volk, das nicht so empfindlich gegen die Unbilden der
Witterung war, ließ sich sein Recht nicht nehmen. An der Spitze gingen
die jungen Bergleute. Mit Zithern, Geigen und anderen Instrumenten
zogen sie musizierend durch die Stadt, aber gar oft setzte einer der
Musikanten aus, um die klamm gewordenen Hände zu wärmen. Auch die
Lieder klangen dünn durch die harte Winterluft. Natürlich fehlte das
alte Spottlied nicht, das auf die von Kaiser Karl +IV.+ vollzogene
Verpfändung Goslars an Graf Günther von Schwarzburg Bezug hatte:

  »Kaiser Karolus hochgeboren,
  Der Goslar hät vom Rike einst verloren,
  Der Rammelsbereg hät einen silbernen Fot,
  Darummen tragen wir einen frischen Moht.
  Mit düssen hübschen Jünferlein
  Maken wir von Tannen ein Krenzelein
  Wents thaun andern Jahre,
  Sau tanzen wir mit twei Paare.
  Wie wilt woll darup denken,
  Wie wilt öhn dat wieder schenken.«

Da die Töchter und Söhne der vornehmen Bürger sich vom ›Langen Tanz‹
dieses Mal fernhielten, konnte auch der Streitfall zwischen Venne
Richerdes und Heinrich Achtermann nicht entschieden werden; aber man
hoffte, das Versäumte zum Maienfest nachzuholen.

                   *       *       *       *       *

Auch die Ostgänger aus Flandern waren dieses Mal durch den langen
Winter in Goslar festgehalten worden, sobald jedoch der erste
Lenzeshauch Wege und Stege von der winterlichen Sperre befreite, zogen
sie davon. Während aber in der Ebene schon die Boten des Frühlings
Einzug gehalten hatten, zeigten die Berge im Hintergrunde noch Reste
des winterlichen Schmuckes. Der Tann ragte düster starr gen Himmel,
der Frühlingswind wehte ungehemmt durch das kahle Geäst der Eichen im
Gosetal.

Doch mählich regte sich's auch hier im Harzwalde. Überall rieselten
die Bächlein des Schmelzwassers geschäftig zu Tal. Wo die Sonne
lockte, wagte wohl ein Hälmlein sein duftiges Grün zu zeigen, hob ein
Buschwindröschen das zierliche Glöckchen, um es zum Frühlingsgeläut zu
stimmen. Die Meise hüpfte geschäftig durch das Gezweige des einsamen
Tanns. Das Eichkätzchen verließ sein Winterquartier, fand, daß es recht
mager geworden sei durch das lange Fasten. Es rasselte muckernd vom
Stamm herab, um zu sehen, ob nicht ein Tannenzapfen übriggeblieben,
um den nagenden Hunger zu stillen. Und wieder über ein kleines, da
steckten die Tannen und Fichten grüne Spitzen auf und rote Kerzen zu
Tausenden: Nun war der Lenz auch hier zur Macht und Herrschaft
gekommen.

Maiengrün, Maienduft, welch unnennbarer Zauber umschließt das Wort.
In den Tälern zu Rudeln vereint, im düsteren Tannenforst einzeln sich
zum Lichte durchbrechend, grüßen die Birken von den Hängen mit ihrem
ersten duftenden, hellgrünen Laub. Lenzesboten, sie sind's auch heute
noch im winterharten Harz. Erst wenn die grünen Buschen und Bäume die
Straßen und Häuser schmückten, ist dem Harzer das Bewußtsein ins Herz
gepflanzt, daß der Frühling wirklich eingezogen ist.

In Goslar schickte man sich an, das Fest der Maienkönigin zu begehen.
Draußen vor dem Tore, aber im Schutze der Landwehr, erhoben sich
lustige Zelte, mit Maien geschmückt und mit Teppichen behängt; von
ihrer Spitze flatterten lustig die schwarzgelben Wimpel.

Am Nachmittage zog die Jugend aus, die Mägdelein im duftigen
Sommergewande. Die Jünglinge in prächtigen, enganliegenden Seidenwams,
das Federbarett kühnlich auf dem Haupte, boten zwar der strahlenden
Sonne ein willkommenes Objekt, aber kühn und zuversichtlich schritten
sie an der Seite ihrer Dame einher. Lustig ließen die Stadtmusikanten
ihre Weisen erklingen. Auf dem Plan vor dem Rufzentore sollte sich's
entscheiden, wem heuer die Krone der Anmut und Schönheit zuerkannt
werden würde.

Die Alten, die Väter namentlich, zogen sich auf dem Festplatze
alsogleich in die Zelte zurück, in das eigene, das des Nachbarn oder in
die, welche zur öffentlichen Bewirtung der Gäste harrten. Die Jugend
aber bewies, nach Geschlechtern getrennt und im bunten Durcheinander
der Jünglinge und Mägdelein, daß der lange Winter die Geschmeidigkeit
der Glieder und die Anmut der Bewegung nicht hatte ertöten können.

Die Reigen lösten einander ab, und auch der neue französische
Tanz wurde von einem kleinen auserlesenen Kreise vorgeführt. Ein
durchreisender Tanzmeister aus Paris war in Goslar angehalten worden
und hatte sein Bestes getan, um die Pariser Grazie auch im rauhen
Deutschland nicht ins Gegenteil verkehren zu lassen. Durfte man seinem
Urteil glauben, so tanzte die Goslarer Jugend dieses zierliche Menuett,
das, aus dem schönen Poitou stammend, in Paris eine veredelte Gestalt
erhalten hatte, trotz einem Pariser und einer Pariserin.

Heinrich Achtermann war der Partner Vennes. Voller Entzücken hingen
seine Augen an ihr, die die verkörperte Lieblichkeit und Grazie
schien. Bei den Reprisen fand sich auch wohl Gelegenheit, ihr ein Wort
zuzuflüstern. Noch hielt sie ihn in Schranken mit einem unmerklichen,
aber unwilligen Schütteln des Kopfes oder leicht gerunzelter Stirn;
aber je höher die Wogen der Freude und Lust gingen, desto wärmer wurde
auch ihr ums Herz, und ein schneller, froher Blick streifte ihrerseits
den Gesellen.

Als der Tanz zu Ende war, brach lauter Jubel los, und die umstehenden
Bürger beteiligten sich ebenfalls wacker an dem Beifall.

»Ein hübsches Paar, unsere Kinder,« flüsterte der Ratsherr Achtermann
dem Bergherrn Richerdes zu. »Wie geschaffen füreinander. Und zum
Sichfinden scheint es bei den beiden auch nicht mehr weit zu sein.
Sollen wir abwiegeln oder helfen, Nachbar?«

»Es schlüge den Tatsachen ins Gesicht, wollte ich Euch widersprechen,
Ratsherr, und dazu bin ich als Vater nicht bescheiden genug. Gewiß,
ein stattliches Paar, und was das andere anbetrifft, so wird unsere
Zustimmung den beiden sicher nicht ungelegen kommen. Aber da ist noch
manches zu reden.«

»Gewiß,« fiel ihm Achtermann in die Rede, »doch ich hoffe, daß sich's
ausgleichen läßt.«

»Nachbar,« sagte darauf Richerdes nicht ohne Ernst, »die Aufnahme
meiner Tochter in Eurem Hause ehrt mich. Aber auf eins laßt mich mit
allem Nachdruck hinweisen. Ihr seid reich, ich demgegenüber kaum
wohlhabend. Ich will nicht, daß meiner einzigen Tochter später aus
diesem Mißverhältnis Ärger erwächst. Könnt Ihr mir das versprechen, so
mag die Sache ihren Lauf haben.«

»Ihr sprecht wie ein Mann, Richerdes, das ehrt Euch. Aber Ihr schickt
Eure Tochter ja nicht mit leeren Händen. Wäre Venne arm, so würde
ich aus demselben Grunde der Heirat widerraten; denn ist es schon
bedenklich, wenn ein reiches Mädchen einen armen Schlucker freit, so
taugt es niemalen und nimmer, wenn die Braut als Jungfer Habenichts
einem reichen Mann die Hand reicht. Darüber seid also beruhigt. Könntet
Ihr mich nur auch in diesem Augenblick befriedigen betreffs Eurer
Gruben.«

»Ich habe mir auch die Sache inzwischen durch den Kopf gehen lassen«,
sagte Richerdes, »und finde, daß Ihr vielleicht nicht unrecht habt.
Doch da ist noch manches Beding zu erfüllen.«

»Das ist vortrefflich, Nachbar, das freut mich,« antwortete Achtermann,
»das Weitere überlaßt nur mir. Sind wir über die Hauptsache im reinen,
werden wir über Kleinigkeiten nicht stolpern. Nun aber kommt, hier ist
unsere Arbeit getan. Wir wollen dem einen wie dem anderen einen edlen
Trunk weihen. Seid mein Gast, Schwäher.«

Sie traten in das Zelt Achtermanns ein, und bald saßen sie hinter dem
Becher mit funkelndem Wein und pflegten freundschaftliche Zwiesprache.

Auf dem Platze gingen die Reigen zu Ende. Noch war die Königin des
Festes zu küren. Es gab kein langes Beraten unter den Richtern, wem sie
den Preis zuerkennen sollten.

»Venne Richerdes ist die Schönste, Venne Richerdes soll Maienkönigin
sein!«

Ein Jubel ohnegleichen erhob sich bei diesem Urteilsspruch. Freudig
umdrängten sie die Freundinnen. Nur wenige standen mit einer Regung
des Neides beiseite. Zu ihnen gehörte auch Alheid Karsten, die Tochter
des Bürgermeisters. Nicht neidete sie Venne, daß sie die Schönste sein
sollte; auch sie hätte ihr den Preis zuerkannt. Aber alles vereinte
sich, um jene begehrenswert zu machen in den Augen der Männer, und
dieses Lob heute trug noch mehr dazu bei, den von ihr heimlich
Geliebten, Heinrich Achtermann, an sie zu ketten.

In lieblicher Verwirrung hielt Venne dem Ansturm der Jünglinge und
Freundinnen stand. Heinrich Achtermann trat als letzter zu ihr heran.

»Nun, Königin, seid Ihr zufrieden? Die Herrscherin seid Ihr im Reiche
der Schönheit, die Gebieterin im Bereiche der Grazie und Anmut. Nun
werdet Ihr's glauben müssen, und nun begehre ich mein Recht.«

Venne tat überrascht. »Euer Recht? Wofür?«

»Muß ich Euch mahnen an den Abend im neuen Turm am Rosentore? Da wurde
es abgemacht und von Euch zugestanden; würde das Menuett von Euch
getanzt, gleich einer Pariserin, so sollte ich mir die Buße von Euren
Lippen holen.«

»Aber ich bin der Ansicht, daß der Richter irrte und falsch urteilte«,
widersprach sie errötend.

»Nicht auf Euch kommt es an, Venne, Euer Urteil ist befangen, Ihr seid
Partei; ich halte mich an den öffentlichen Spruch und begehre mein
Recht!« Er trat einen Schritt näher, als ob es ihm ankomme, schon jetzt
sich die Buße einzulösen. Erschrocken wehrte Venne ab. »Aber Ihr wollt
doch nicht hier vor allen Leuten ...«

»Nein, Venne, holde Venne«, flüsterte er ihr mit heißem Blick zu. »Wenn
ich Deinen süßen Mund küsse, soll kein neidischer Lauscher zugegen
sein. Heute aber, heute abend noch wird's geschehen!«

Erschauernd hörte Venne ihm zu. In seliger Ohnmacht ließ sie seine
Worte über sich ergehen. Ja, sie wußte es, heute abend würde sie die
Seine werden!

Immer höher gingen die Wogen der Freude. In den Zelten herrschte
Bacchus unumschränkt; seine Jünger hatten ihm geopfert, daß die Köpfe
zu zerspringen drohten. Auch die Jugend war in einen wilden Rausch des
Weines und der Freude gesunken. Die Besonnenen mahnten zum Aufbruch,
und als die Schatten des Abends herabsanken, zog der lange Zug in die
Stadt zurück in toller, ungebändigter Lust.

Venne ging versonnen und schweigsam neben Heinrich, die Brust
geschwellt von süßen Schauern. Es war schon dunkel, als die Trennung
von Freund und Freundin auf dem Marktplatz vor sich ging. Nun
schritten Venne und Heinrich still nebeneinander dahin. Kein Laut
störte die laue, wunderbare Nacht. Als sie aber das Dunkel der
Bulkengasse aufnahm, da riß Heinrich die Holde an sich und raubte ihr
hundertfältig, was ihm doch nur einmal zustand. Selig seufzend ergab
sich Venne dem Liebessturm.

»Venne, meine einzige Königin, meine holde geliebte Venne!«

Da durchbrach auch die Liebe bei ihr die lange gezogene und mühsam
gehaltene Schranke.

»Geliebter, mich dürstet nach Deinen Küssen!«

In einem süßen Taumel vergingen die Minuten. Endlich löste sich Venne
aus seinen Armen.

»Wir müssen scheiden«, flüsterte sie, aber Heinrich widersprach
ungestüm. »Habe ich so lange gedarbt, um Dich nach einem Augenblick
schon wieder zu verlieren!« Da warf sie sich ihm in die Arme:
»Heinrich, mein Einziger, ich liebe Dich, liebe Dich mehr, als Du
ahnst. Aber schwöre mir in dieser seligen Stunde, daß Du mich nie
verlassen willst; es bräche mir das Herz!« Ein heißer Kuß war die
Antwort. »Du siehst die Sterne da oben am Himmelszelt; eher werden sie
aus ihrer ewigen Bahn gerissen, als die Liebe zu Dir aus meiner Brust.«

Aber dann kam doch der Abschied. In einem langen Kuß trank ihre
Sehnsucht sich satt; Venne schlüpfte ins Haus. Zum ersten Male seit
langem eilte sie an der Kammer der Mutter vorbei, ohne ihr noch gute
Nacht zu wünschen; ihr Herz war zum Zerspringen voll von dem, was sie
erlebt. Geräuschlos gewann sie ihr Stübchen. Doch eine wachte noch wie
immer im Hause und kam, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Katharine war
es, die alte Magd, die sie als Kind schon gewartet hatte. Trotz des
Widerspruchs Vennes machte sie sich daran, die Bänder zu lösen und die
goldenen Schnallen der Schuhe zu öffnen. Versonnen lächelnd blickte
Venne in die Weite, die Hand auf das ungestüm pochende Herz gedrückt.

»Du bist so seltsam heute«, unterbrach die alte Vertraute die Stille.
»Darf Deine alte Katharine nicht wissen, was Dich bewegt?«

»Ach, Katharine, Du verstehst mich doch nicht, was soll ich Dir also
bekennen?«

Da entgegnete die Alte unwillig: »Ich soll Dich nicht verstehen, da ich
doch Deine Regungen und Gefühle von Deinem ersten Tage an in Dir habe
entstehen und sich regen sehen? Meinst Du, ich bin blind? Also, hat er
endlich gesprochen, der Herr Heinrich?«

Erschrocken blickte Venne sie an. »Aber woher weißt Du denn ...?« »Also
habe ich doch recht«, fuhr Katharine unbewegt fort. »Seine Wünsche
kenne ich von anderen, und was Du für ihn empfindest, war mir auch
längst bewußt. Aber er soll sich hüten,« fuhr sie fast drohend fort,
»sich Deiner unwert zu zeigen oder Dich zu kränken, dann komme ich über
ihn.« Lächelnd, voller Zuversicht wehrte Venne ab: »Wie kommst Du zu
solchem Argwohn, Katharine?«

»Ich hatte einen bösen Traum. Aber es steht bei ihm, daß der Traum sich
nicht erfülle.« Damit verließ sie die Glückliche.




                             Zweites Buch




Vor den offenen Arkaden des +Collegio di Spagna+ lösten sich die
Sänften und Karossen der Bologneser in ununterbrochener Folge ab und
entleerten sich ihres lebendigen Inhalts. Schöne Frauen schlüpften
heraus in kostbarsten, duftigen Gewändern, das liebliche Antlitz
den gaffenden Zuschauern unter einem leichten Schleier verbergend.
Würdenträger schritten die Stufen hinan in ihrer reichen Amtstracht.
Würdige Gelehrte, Geistliche im schlichten dunklen Gewande, kühn
blickende Jünglinge in der modischen Tracht der Zeit, sie alle hatten
dasselbe Ziel: die Festgemächer in dem spanischen Kollegium der
Universität, in denen heute, wie alljährlich, der neue Dekan seinen
Amtsantritt festlich beging.

Im Empfangssaale, dessen kristallene Kronleuchter das Gold der Decke
wie das Marmorgetäfel der Wände widerspiegelten, wartete der Hausherr
mit seiner Familie der Gäste und begrüßte sie, je nach Rang und Stand,
mit besonderer Höflichkeit oder freundlicher Herablassung, aber immer
mit der unnachahmlichen Zuvorkommenheit und Würde, die dem Spanier vor
anderen eignet.

Ein lebhaftes Stimmengewirr in vielen Sprachen durchzog bald den Raum,
gedämpft indes durch die Rücksicht, die man sich und den anderen
schuldete, um nicht als unhöflich aufzufallen.

Das Festmahl, das in einem herrlich geschmückten, großen Saale vor sich
ging, sah alles vertreten, was die alte Stadt an Anmut und Würde,
an Reichtum und Gelehrsamkeit in ihren Mauern barg. An der Tafel
wechselten die auserlesensten Gerichte, in den Kelchen funkelte edler
Wein.

Wo die Jugend saß, ging die Unterhaltung am lebhaftesten vor sich.
Perlend flossen die Neckereien vom Munde der schönen Damen, mit
witziger Anmut übten die Herren die Gegenwehr aus. Ernster floß
der Rede Strom, wo Gelehrte über Fragen der Zeit das Wort führten.
Hier schwärmte ein Jünger im Apoll seiner Dame von der Schönheit
Petrarkischer Sonette vor, dort bewies ein Kriegsmann in glänzendem
Gewande, daß sein Beruf der allein des strebenden Menschen würdige sei.

Gisela von Wendelin mit ihren Eltern zählte zu den Gästen. Ihr
Kavalier, der Sohn des Podesta, unterhielt sie lebhaft, aber sie
schenkte ihm nur zerstreut Gehör. Ihre Gedanken eilten über die Alpen
in die norddeutsche Stadt, wo der heimlich Geliebte, nie Vergessene nun
schon seit langem weilen mußte. Noch hatte sie kein Lebenszeichen von
ihm wieder erhalten. Und außerdem lastete es auf ihr wie ein Druck,
wie die Vorahnung kommenden Unheils, ohne daß sie sich Aufschluß über
ihre Gefühle zu geben vermochte. Ihre Blicke kreuzten sich mit dem des
Vaters, der ihr in einiger Entfernung gegenübersaß. Gütig lächelnd
nickte er ihr zu, da wuchs auch ihr wieder die Zuversicht.

Die Freude des Abends stieg mit der Dauer des Festes; sie schimmerte
wieder in den glänzenden Augen der Damen, sie erklang aus den frohen
angeregten Gesprächen der Männer. Da ging noch ein letzter, einsamer
Gast in das Haus. Unhörbaren Schrittes und ungesehen schritt er an der
Reihe der Diener vorüber, ungesehen betrat er den Saal.

Sein glühender Blick überflog die Gäste. Dann näherte er sich der
Festtafel. Hinter der schönsten der Damen hielt er an und beugte sich
zu ihr nieder. Sie erblich unter seinem Hauch, und der zarte Leib
erschauerte in Entsetzen. Und weiter ging der Gast. Dieses Mal war
ein würdiger Ritter sein Ziel. Der zuckte zusammen und griff nach dem
Herzen, aber er behielt sein Geheimnis für sich. Und weiter schritt der
Unheimliche und beugte sich hier und beugte sich da. Und wo immer sein
Hauch das Antlitz eines Gastes streifte, da erblichen die Wangen und
erlosch die Freude. Und dann ging der Fremde davon, wie er gekommen,
ungesehen und ungehört von den Dienern und nicht erkannt von der Menge
der Gaffer. Das Fest aber wurde abgebrochen, weil, unbegreiflich
und unerklärlich, ein Unwohlsein die Gäste befiel, die der Fremde
gezeichnet. Am nächsten Tage schon in der Frühe, da wisperte es in der
Stadt und raunte und ging in laute Wehklagen über: »Der Schwarze Tod
ist da, die Pest ist in der Stadt!«

Wir nüchternen und klugen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wissen,
wo diese Geißel des Menschengeschlechts ihre Heimat hat, wenn wir ihrer
auch noch nicht Herr geworden sind. Zwischen dem Tianschan-Gebirge
und dem Altai, im fernen Asien, im Osten auf das Sandmeer der Wüste
Gobi blickend, im Westen auf die Kirgisensteppe herabschauend, erhebt
sich der Tarbagatai, das Murmeltiergebirge, nach dem Tarbagan, dem
Murmeltier, benannt. Dieses Tierchen, das zu Millionen dort haust, ist
der Träger des Pestkeimes. Und wenn es selbst dieser Seuche erlegen,
wirkt noch sein kleiner Leichnam als Überträger an allem, was in seine
Nähe kommt, Tier und Mensch. Die Menschen fliehen aus ihren Siedlungen
und tragen den Krankheitsstoff zu ihren Nachbarn. Und alles muß der
Schrecklichen dienen, was Bewegung hat, Wind und Wasser, um ihre
Herrschaft auszubreiten.

Unsere Vorfahren standen dem furchtbaren Würger in ohmächtigem Grausen
und Entsetzen gegenüber; nichts anderes wußten sie ihr entgegenzusetzen
als dumpfe Verzweiflung, wildes Wehklagen, brünstige Frömmigkeit oder
tierische Lust. Wehe dem Ort, den diese Geißel überfallen, wehe der
Stadt, in deren enge Gassen und dumpfe Häuser sie Einkehr hielt.

Sie kam nicht ohne Vorzeichen, so wußte es das Volk: Geflügelte Rosse
am nächtlichen Himmel, mit seltsamen Reitern auf ihren Rücken, zogen
unter Horrido mit der Meute auf den Wolken dahin. Öffnete man einen
Rosenapfel, so entwich daraus wohl eine winzige Spinne. Dann war die
Pest nahe. Sie wurde von Teufeln und bösen Geistern in die Brunnen
gepflanzt; auch schlimme Menschen, Hirten, Hexen, Zigeuner und Juden
vergifteten das Wasser.

Man suchte sie abzuwehren durch verdoppelte Frömmigkeit, Fürbitten der
Heiligen und Wallfahrten. Aber eines guten Tages war der unheimliche
Gast da. Wer es konnte, floh von der Stätte, wo sie einbrach, doch er
war seines Lebens darum nicht viel sicherer; denn die anderen draußen
erschlugen ihn, wenn sie erfuhren, daß er aus einem verseuchten Orte
kam, um mit dem Träger die Krankheit am Vordringen zu hindern.

Wehe, dreimal wehe aber den Kranken selbst und den Häusern, in die der
Schwarze Tod Einzug gehalten! Sie wurden gezeichnet, versperrt, daß
niemand hinaus oder herein könne. Der Kranke mit seinen Angehörigen war
von aller Welt abgeschlossen, und sie konnten verhungern, wenn sich
nicht eine barmherzige Seele fand, die ihnen heimlich Nahrung zutrug.

In Bologna wütete die Seuche wie nie zuvor. Anfangs kündeten noch die
Glocken, daß wieder ein Bewohner der Stadt ihr zum Opfer gefallen sei;
aber dann schwiegen auch sie, denn ihr klagendes Gewimmer hätte sonst
den Tag und die Nacht durchgellt. Die Stadt war tot. Vermummte Träger
durchzogen mit Bahren und Karren die Straßen und lasen die Toten auf,
die aus den Fenstern gestürzt wurden. Es lag auch wohl einmal einer
unter ihnen, aus dem noch nicht alles Leben entflohen war: sie achteten
des nicht, wer auf den Bahren und Karren lag, wanderte auch in die
großen, mit Kalk gefüllten Gruben vor den Toren.

Die Pest, die wie ein hungriges Raubtier sich auf die unglückliche
Stadt gestürzt hatte, zog nach Monden wie ein satter Gläubiger davon,
der dem armen Schelm den Rest der Schuld stundet, bis es ihn gelüstet,
wiederzukehren, um sich auch das Letzte als verfallenes Pfand zu
holen. Verödet lagen die Häuser, verlassen die Straßen. Familien waren
ausgetilgt, Geschlechter erloschen. Noch wich der Nachbar dem Nachbarn
aus, wenn er ihn von fern sah. Aber leise, leise regte sich doch die
Hoffnung, daß der Würger gegangen, und langsam keimte die Freude, daß
der eigene Leib nicht von der Geißel geschlagen sei.

Giselas Vater war einer der ersten gewesen, welche dem grausigen Gaste
auf seinen Wink folgten. Wenn das Wort nicht trügt, daß die Ängstlichen
der Krankheit am ersten verfallen, so bewahrheitete es sich auch an der
Mutter. Scheu hielt sie sich von dem einst so sehr geliebten Gatten
fern, und laut ertönte ihr Jammern, als die ersten Anzeichen der Seuche
sich auch bei ihr zeigten.

»Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« so gellte ihr
klagender Ruf durch das Haus. Aber vergeblich erklang ihr Flehen und
Wimmern, auch sie trugen die schwarzen Männer nach einigen Tagen davon.

Nun war Gisela ganz allein in dem großen, leeren Hause. Sie hatte den
Vater gepflegt, und sein letzter, dankbarer und trauriger Blick galt
der treuen Tochter. Sie wich auch nicht vom Lager der Mutter, bis diese
die Augen schloß. Unheimlich war es in dem öden Hause. Die Diener
geflohen, die Mägde gestorben oder davongelaufen. Sie wäre verhungert,
hätte ihr nicht eine fromme Frau aus dem Kloster der Ursulinen,
erwiesener Guttaten eingedenk, heimlich Nahrung gebracht. Als die
Sperre von den Häusern genommen wurde, als die Tore sich öffneten, da
fand sie sich als eine einsame Waise unter Fremden; die Befreundeten
und Verwandten tot, die Bekannten, soweit sie lebten, an fernen Orten.
Hilflos, einsam wohnte sie im Hause der Eltern und hätte des Trostes
mitleidiger Menschen doch so sehr bedurft.

Was hielt sie noch in dieser Stadt, die ihr fremd geworden, wo die
gespenstig leeren Häuser und Straßen ständig an das Unglück gemahnten,
das sie betroffen? -- Da stieg die Sehnsucht in ihr auf nach dem fernen
Deutschland, nach der liebevollen Base und die Erinnerung an den Mann
im selben Lande, dem ihr Herz noch in gleicher Liebe entgegenschlug wie
einst. Und sie faßte den Plan, der Freundin zu schreiben, sie um Obdach
zu bitten, und so kam dieser Plan zur Ausführung.




Nachdem das Gebirge die Oker aus der engen Haft entlassen hat, in der
sie sich, vom Bruchberge herabhüpfend, zwischen steilen Bergen und jäh
abstürzenden Felswänden dahinwand, lacht bei dem rauchigen Hüttenort
Oker die Freiheit. Fröhlich eilt sie in die lockende Weite, und über
dem Staunen ob der neuen, fremden Welt, entgleitet ihr alles, was sie
tändelnd und spielend an sich hielt, glattrunde Kiesel und feinkörniger
Kies. Denn die Wasserfrauen haben ihr ins Ohr geraunt, da draußen,
unter den Menschen, müsse man sich ehrbar und gesittet benehmen, wolle
man Achtung genießen.

So wird aus dem wilden Gebirgskinde ein ruhig dahinziehendes Wasser.
Aber hat es die Wildheit abgetan, so ist ihm dafür die Eitelkeit in
die Glieder gefahren. Kokett sich drehend und windend, als wolle es
mit eigenen Augen die rückwegige Schönheit bewundern, durchmißt es das
Stück von Börßum bis nordwärts Braunschweig. So geht der Weg dahin
zwischen flachbordigen Talwangen, bis es weiter nordwärts in die Heide
kommt und nun sich vollends den Erwachsenen zurechnet. Unter dem
ernsten Heidevolke ist auch die Oker ein stilles, ernstes Gewässer
geworden.

Doch bevor sie das beschauliche Dasein eines besinnlich und bedächtig
seines Weges schreitenden Alten erreichte, hatte sie schon zu jener
Zeit nützliche Arbeit unter den Augen der Menschen zu leisten. Vor der
Festung Wolfenbüttel wurde sie in viele Arme zerteilt, die das Schloß
der braunschweigischen Herzöge, wie die Festung selbst mit einem
schützenden Wassergraben umzogen oder in der Stadt die Mühlen trieben.

Gleiche Dienste fielen ihr auch in der einige Wegstunden nordwärts
gelegenen Stadt Braunschweig zu. Suchte sich der Herzog gegen Angriffe
von seinesgleichen zu schützen, so trieb die Braunschweiger bei der
Sicherung ihrer Stadt, je länger, desto ausgesprochener, der Wille und
Wunsch, dem eigenen Landesherrn Trutz bieten zu können. Wenn der Welfe
auf die Höhe des Lechelnholzes ritt, eine halbe Stunde nordwärts seines
eigenen Schlosses, konnte er den Turm von St. Andreas in die Lüfte
ragen und die Stümpfe des Domes Sankt Blasius, wie das Heer der anderen
Kirchen sich erheben sehen. Dann wallte wohl in ihm der Groll auf über
die ungehorsame Tochter, die sich ihm verschloß und seine Gesandten
abschlägig beschied auf sein an den Rat gerichtetes Ansinnen oder sie
gar mit höhnischer Antwort heimschickte.

Und dabei mußte er seinen Zorn in sich hineinwürgen, denn es gab
kein Mittel, um die Widerspenstige zu zähmen oder zu überwinden, im
Gegenteil, die Erfüllung dieses Wunsches rückte in immer größere
Fernen, je mehr die Macht der Stadt stieg. Übel lohnte sie es den
Nachfolgern Heinrichs des Löwen, der ihr die erste Befestigung gegeben
und den prächtigen Dom errichtet hatte, so mochte der Nachfolger selbst
urteilen.

Aus der kleinen Siedlung, die der Herzog Bruno zur Zeit der
Karolinger gegründet haben sollte, war ein mächtiges und volkreiches
Menschenzentrum geworden. Die große Heerstraße, die nördlich des Harzes
und hart am Südrande der menschenleeren, unwirtlichen Lüneburger
Heide das Deutsche Reich von Westen nach Osten durchzog, wie die Wege
nordwärts zu den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee schrieben ihr die
Rolle vor, die sie zu spielen berufen war. Der Anschluß an die Hansa,
deren Quartierstadt im niedersächsischen Kreise sie bald wurde, hob ihr
Ansehen und ihre Schönheit.

Mit Goslar, zu dem es viele Handelsbeziehungen unterhielt, verbanden es
freundnachbarliche Bande, die um so enger wurden, je mehr der Ärger des
Herzogs auf sie selbst und sein Neid auf die reiche Stadt am Harz, ihr
Bergwerk und ihre Forsten offenbar wurde und gleiche Gefahr für beide
kündete.

Der Reichtum seiner Bürger war fast sprichwörtlich geworden, und sie
steuerten davon gern und willig nach den Schatzungen ihres Rates, um
die Selbständigkeit der Stadt zu sichern. Wohl ausgestattete Arsenale,
eine stattliche Zahl von Söldnern unter kriegserprobten Offizieren,
denen im Falle der Not die wehrhafte Bürgerschaft sich noch zugesellte,
hatte sie befähigt, den Herzögen auch im offenen Felde mehr als einmal
standzuhalten.

Groß war die Zahl seiner Einwohner, zu groß fast für die Enge der
Mauern und die Erwerbsmöglichkeit. Daher zogen viele seiner Söhne
hinaus in die Fremde, um als tapfere Landsknechte Beute und Reichtümer
zu erwerben. Ganze Fähnlein marschierten aus den Toren, unter
heimischen Hauptleuten. Viele gingen in den Wirren und Kämpfen auf den
Kriegsschauplätzen in aller Herren Länder zugrunde. Manche kehrten
zurück nach einem Leben der Wanderung und Mühsal, um in der Heimat,
fern dem Kampfeslärm, ihre Wunden zu heilen und der Ruhe zu pflegen;
wenige nur unter ihnen sahen ihre Träume erfüllt.

Von den Offizieren stieg mancher zu hohem Ansehen. Der Name
›Braunschweigischer Hauptmann‹ hatte draußen einen guten Klang. Mehr
als einer von ihnen führte ein Regiment oder war gar zum General
aufgerückt. Verschlang sie nicht der Krieg, so kehrten sie wohl zuletzt
auch in die Heimatstadt zurück, um in behaglicher Ruhe von erkämpften
Siegen und gewonnenem Ruhm zu träumen. Zu ihnen gehörte auch der Obrist
von Walldorf, dessen Damen in Bologna den neugebackenen Doktor juris
Johannes Hardt von dem Hause Wendelin Abschied nehmen sahen.

Die Walldorfs wohnten in einem behaglichen Patrizierhause an der
Echternstraße. Die Wallfahrt nach Rom hatte gute Dienste getan, und
Glück und Zufriedenheit herrschten in dem gastlichen Hause. Johannes
hatte einmal bei ihnen vorgesprochen. Er war schon seit Jahresfrist
in den Dienst seiner Stadt getreten, und der Rat schickte ihn, in
Erinnerung seiner bewiesenen Zuverlässigkeit, mit einem wichtigen
Schreiben an die Braunschweiger dorthin.

Wenn Johannes gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit etwas von Gisela zu
hören, so sah er sich in dieser Erwartung getäuscht, denn es war noch
kein Lebenszeichen von den Wendelins über die Alpen gekommen, seit die
Damen zurückkehrten.

Trauer bemächtigte sich seiner, wenn er sah, wie die Erfüllung seiner
Hoffnungen in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb, während
alle diejenigen daheim, denen er nahestand, dem Ziele ihrer Wünsche
nahegekommen oder es erreicht hatten. Venne Richerdes war dem Heinrich
Achtermann verlobt, und es schien nur noch eine Frage von kurzer Zeit,
daß die Hand des Priesters sie zusammengab. Erdwin Scheffer hatte seine
Monika heimgeführt und war wohlbestellter Weibel des Rates. Wenn
die Zeit es erlaubte und die Gäste im ›Goldenen Adler‹ sie nicht zu
sehr in Anspruch nahmen, schlüpfte Immecke Rosenhagen in die Wohnung
des jungen Paares, um sich des Glücks ihrer Kinder zu freuen und das
kleine Großtöchterchen auf ihren Armen zu wiegen, das das leibhafte
Ebenbild ihrer Monika zu werden versprach. Allen hatte das Glück
seine Tore geöffnet, nur ihm blieben sie verschlossen. Traurig und
niedergeschlagen kehrte Johannes nach Goslar zurück.

Wenige Wochen darauf traf in Braunschweig der Brief Giselas mit der
erschütternden Kunde des Todes ihrer Eltern ein. Die Antwort, daß sie
bei den Walldorfs herzlich willkommen sei, ging sogleich nach Bologna
ab, aber es verlief doch der Winter, ehe sie selbst ankam.

Richenza hielt es für selbstverständlich, an Johannes Hardt sogleich
Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Geliebten gelangen zu
lassen. Aber hieß es für ihn sich in Geduld fassen, bis der hoffentlich
nicht ferne Tag gekommen, wo er sie selbst von Angesicht zu Angesicht
schauen würde. Als dann der Ruf der Freundin kam, fand er ihn voller
Ungeduld. Dieses Mal wartete er keinen besonderen Auftrag des
Hochmögenden Rates ab, sondern er brach nach Braunschweig auf, sobald
es sich einrichten ließ. Bevor er abreiste, sprach er mit den Eltern
über seine Pläne und Wünsche.

Des Vaters Absichten gingen andere Wege. Er hätte es lieber gesehen,
daß der Sohn eine Einheimische freite, aus alter Familie, deren Einfluß
und Ansehen dem Sohn gewiß auch für seine weitere Laufbahn förderlich
gewesen wäre. Aber sein Zureden scheiterte an der Entschlossenheit des
Sohnes, der erklärte, daß er Gisela zum Weibe wolle oder gar keine.
Mit einem Seufzer gab jener zuletzt nach. Ob er einen besonderen Wunsch
dabei zu Grabe trug, blieb Johannes verborgen.

Noch war er freilich auch der Zusage Giselas selbst nicht sicher.
Wenn er aber des Abschieds in Bologna gedachte, schwanden alle
Zweifel. Zu offen hatte ihr Herz ihm damals entgegengeschlagen, und er
durfte hoffen, daß kein anderer inzwischen von ihm Besitz ergriffen
hatte, sonst hätte sie wohl kaum den Weg nach dem fernen Deutschland
eingeschlagen.

Die Brust geschwellt von seliger Erwartung und im Herzen tiefes Mitleid
mit der vom Schicksal so Schwergeprüften, brach er nach der alten Stadt
an der Oker auf.

Johannes war erschüttert, als er der Geliebten zuerst entgegentrat:
Was hatte die Zeit aus dem lebensfrohen, lieblichen Geschöpf gemacht,
das er vor einigen Jahren in Bologna verließ? Ein blasses Gesichtchen,
aus dem die dunkeln Augen von tiefen Schatten umlagert, Mitleid
heischend und hilfesuchend ihn anblickten, tauchte vor ihm auf. Als
sie den Langersehnten, immer Geliebten vor sich sah, den Zeugen ihrer
glücklichen Jugend im trauten Familienkreise, kamen ihr die Tränen aufs
neue. Ein stilles Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Johannes
trat zu ihr und ergriff stumm ihre Hände. Aber als sie allein waren, da
fanden sie Worte. Vor ihm entrollte sich das furchtbare Bild der Seuche
in Bologna, und er vernahm aus ihrem Munde, wie grausig das Ende ihrer
Eltern gewesen war. Da hielt er nicht länger an sich. Sanft zog er sie
an sein Herz und träufelte ihr süßen Trost in die schmerzerfüllte
Brust.

»Habe Vertrauen zu mir, Geliebte. Unter meinem Schutz wirst Du
vergessen lernen, und die Vergangenheit liegt bald wie ein böser
Traum hinter Dir. Mein Mütterchen wird Dich an ihr Herz schließen als
zweite Tochter, und in der Schwester gebe ich Dir eine Freundin, die
mir beistehen wird, den letzten Gram in Deiner Brust zu tilgen.« Da
lächelte sie ihn unter Tränen an. Doppelt liebreizend war sie in ihrer
rührenden Hilflosigkeit. Aber eine leise Röte der Zuversicht und Freude
stieg in die blassen Wangen.

»Oh, wie danke ich dem Himmel, daß er Dich mir schenkte. Ich weiß
nicht, wie ich die furchtbare Bürde allein weiter hätte tragen sollen.
Habe Dank mein einzig Geliebter, habe Dank!«

Innig drückte sie sich an ihn, und Johannes besiegelte seine Schwüre
mit einem heißen Kuß.

Diesmal war der Abschied für ihn nicht so schwer. Er ließ die Geliebte
in treuer Hut zurück. Es galt nur noch, das Nest zu bereiten für ihr
Glück. Bald, so hoffte er und vertraute sie, hatte auch für sie die
Zeit der Trennung ein Ende für immer.




Neben den Beziehungen freundschaftlicher und politischer Art, die
zwischen den Städten Braunschweig und Goslar bestanden, liefen Fäden
hin und her vom Schlosse des Welfenherzogs zu Wolfenbüttel nach der
alten Reichsstadt am Fuße des Rammelsberges, von denen der Rat nichts
wußte oder die doch so geheim gesponnen wurden, daß er sie nicht
zerschneiden konnte. Nach Wolfenbüttel und noch nach einer anderen
Stätte hin reichten sie, die wiederum nur dem Herzog und seinem
Vertrauten und einigen wenigen bekannt waren. Die aber hüteten sich
weislich, mit ihrer Kenntnis hervorzutreten; denn es wäre ihnen nicht
nur eine angenehm fließende Geldquelle dadurch verschüttet worden,
sondern sie hätten sich auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich Meister
Rotmantel ihrer annahm, der in jener Zeit, wie seine Berufsgenossen
andernorts, in Goslar sein gutgehendes Geschäft ausübte, darin
bestehend, daß er die Neugier eines wohlweisen Rates über ihre
Tätigkeit in Gegenwart von den Bevollmächtigten des Rats zu befriedigen
suchte, wobei er nur durch freundliches, aber dringendes Zureden zur
Antwort mahnte.

Es gab da allerhand Mittel und Mittelchen, um auch die Schweigsamsten
zum Reden zu bringen, von den Daumenschrauben bis zum Strecken des
Körpers, wobei die Glieder allerdings aus ihren Gelenken gerissen
wurden. Und half das noch nichts, so griff man noch zu gröberen
Mitteln, die wir auszuführen Bedenken tragen, um nicht die nächtlichen
Träume leicht erregbarer Leserinnen mit allerhand fragwürdigen
Gestalten zu erfüllen.

Im übrigen ging alles nach einer peinlich festgesetzten Ordnung, auch
das Bezahlen. Der Henker wußte genau, was er nach getaner Arbeit vom
Säckelmeister eines Hochmögendes Rates zu erwarten hatte oder was er,
nachdem das Erforderliche der Frau Eheliebsten abgeliefert war, in der
Herberge oder im Ratskeller aus dem angeketteten Becher sich zugute tun
durfte.

Zu solchen Personen, welche ihre Tätigkeit vor der Neugier des Rates
ängstlich verbargen, gehörte zum Beispiel die Gittermannsche aus der
Dröwekenstraße, wie ihr Vetter, der Schäfer Hennecke Rennenstich, der
»Up den Ymminghove« Wohnung und Beschäftigung fand.

                   *       *       *       *       *

Von dem Nordabhang des Lindthalskopfes, der seine steile Stirnseite
dem tiefen Graben des Innerstetales zukehrt, hüpft eilenden Laufes der
Steimkerbach herab. Die Sonne bekommt dieser muntere Geselle erst zu
sehen, wenn er den Gebirgswald verläßt; denn bis dahin überschatten
ernste Tannen und laubdunkle Buchen und Eschen sein schmales
Bett. Verträumt blinzelt er auf und eilt dann, im vollen Lichte
des Tagesgestirns und doch ungesehen, unter Lattich und hängenden
Weidenbüschen durch die Wiesen dahin, bis unfern des Dorfes Lutter am
Barenberge er sich der Neile vermählt.

Frei geboren und frei geblieben bis zu der Stelle, wo er seinen Lauf
beendet, darf das Wässerchen von sich rühmen; denn des Menschen Hand
hat ihm kein Joch auferlegt. Dasselbe gilt auch von dem Dolgerbach, der
in kurzem Lauf mit dem Kiefbach zusammen den Steimkerbach aufsucht.
Aber der Dolgerbach war nicht immer frei. Vor Jahrhunderten, als noch
das Dorf Dolgen stand, mußte er eine Mühle treiben, die unweit des
Dorfes gelegen war.

Damals war das Tal des Steimkerbaches noch düsterer und finsterer als
heute. Urwaldartig deckte der Wald die Hänge und die Talsohle, und den
Eingang am Waldessaum versperrte dichtes Gestrüpp. Nur der Hirsch,
der zur Tränke zog, und der Eber, der in seinem Sumpf suhlte, störten
die Stille, welche das Tal füllte. Menschen verirrten sich nicht
dorthin, und selbst der herzogliche Jäger, der im Dorf Dolgen hauste,
mied die Stätte, denn es war dort nach seinen eigenen Wahrnehmungen
nicht geheuer. Wer Mut besaß, die Geister zu bestehen, die dort ihren
Spuk treiben sollten, der fand an diesem Tal eine Stätte, in die ihm
keines Fremden Neugier folgte. Und es gab solche Männer, die einen
Unterschlupf fanden, wenn ihnen der Boden draußen in der Ebene zu heiß
wurde, wilde Gestalten, denen das Wasser ein Feind und der Bartscherer
eine unbekannte Größe waren.

       *       *       *       *       *

Man mußte wohl eine Stunde weit das Tal hinaufdringen und durfte ein
zerschundenes Gesicht nicht scheuen, wollte man an das seltsame Heim
dieser Menschen gelangen. Aber dann war man auch überrascht über das,
was die Wildnis bot. Unter einem überhängenden Felsen, etwas abgekehrt
vom Bache, erhob sich eine feste Hütte, aus Stämmen roh aufgeführt, die
Fugen mit Moos verstopft.

Kleine Öffnungen, die verschlossen werden konnten, ließen etwas
Helligkeit in das Innere, aber man war unabhängig davon: Fackeln
und Kerzen ersetzten das Tageslicht, und wenn man nicht allzu große
Ansprüche stellte, konnte man es sogar wohnlich drinnen finden. Die
Wände waren mit Teppichen verhängt; mit Teppichen verschloß man auch
die Fensteröffnungen im Winter, noch hinter den vorgelegten Läden, um
die kalte Luft abzuwehren. An den Seiten liefen Bänke entlang, vor
denen festgefügte Tische standen. Ebenso rohgezimmerte Holzschemel
vervollständigten die Inneneinrichtung, abgesehen von einem offenen
Herde, in dessen Nähe eisernes Kochgeschirr, Bratpfannen und irdene
Näpfe verrieten, daß man ihn zu benutzen verstehe.

Der Rauch suchte sich einen Ausweg nach oben, wo und wie es ihm
gefiel. Freiheit zu tun und zu lassen, was dem einzelnen beliebte,
war überhaupt oberster Grundsatz in dieser Behausung. Wer schlafen
wollte, erhob sich vom Tisch und suchte sein Lager auf Heu und Decken,
wo es ihm gefiel und wo ein Platz sich bot. Nur ein kleiner Verschlag
blieb davon ausgenommen, wo die Hausfrau ihr Lager aufschlug. Diesen
Raum wagte ohne besondere Erlaubnis keiner der Gesellen zu betreten,
denn die Eigentümerin war eine Respektsperson, selbst für diese wilden
Männer.

Ein seltsames Frauenzimmer, das mit ihnen hier in der Wildnis
wirtschaftete. Mit Schönheit war die Frau nicht überladen. Aus
verrunzeltem Gesicht blickten schwarze, scharfspähende Augen den
Besucher an. Die beiden gelben langen Eckzähne, die ihr von dem
einstmaligen Reichtum geblieben, trugen auch nicht gerade zur Erhöhung
ihrer äußeren Reize bei.

Hätte sie unter Menschen gelebt in einer Stadt, so wäre sie durch den
Leumund der lieben Nächsten gewiß schon der Hexerei geziehen und dem
hochnotpeinlichen Gericht wie dem Henker vorgeführt worden. Danach
trug sie aber kein Verlangen, denn sie war Meister Rotmantel schon
einmal überantwortet gewesen. Damals hatte man ihr allerlei Untugenden
vorgehalten, wie zum Exempel, daß sie es mit der Ehrbarkeit nicht allzu
genau nehme; sie war gestäupt und gebrannt worden, und man entließ sie
mit der ernstlichen Vermahnung, immer eine gewisse Entfernung zwischen
sich und der Stadt zu beobachten.

Diesen Rat befolgte Luke Meyse ehrlich, denn ihr lag wenig daran, sich
bei Meister Rotmantel und seinen Knechten noch einmal in Behandlung zu
geben.

Luke Meyse war wirklich einmal schön gewesen, sehr schön sogar, aber
die Schönheit wurde ihr zum Verderben. Sie stieg ihr so sehr zu Kopfe,
daß sie, ehrlicher, einfacher Leute Kind, meinte, sie sei zu etwas
Höherem geboren, als des Nachbars Sohn Tyle zu freien. Es kam auch
ein Höherer und nahm sich ihrer Schönheit an, ein richtiger Edelmann.
Aber als er sie genossen hatte, warf er sie beiseite. Nun war sie auch
Tyle nicht mehr schön genug, und sie ging mit ihrer Schande auf und
davon. Es fanden sich auch nachher noch Männer, denen die Reste ihrer
Schönheit zusagten, doch sie sank dabei immer mehr, bis der Henker ihr
das Mal aufbrannte.

Nun lebte sie schon seit vielen Jahren in dieser Wildnis, und ihre
Gesellschaft waren Gesellen, die vor einer Berührung mit den Behörden
oder mit Meister Rotmantel nicht minder bescheiden zurückwichen.
Ihre Zahl schwankte je nach der Jahreszeit und ihren »Geschäften«.
Nur selten erlitt sie auch eine plötzliche Einbuße, weil einem
ihrer Genossen bei seinen »Geschäften« ein Stück Blei zwischen die
Rippen gefahren war oder er seine Widerstandsfähigkeit gegen einen
Hieb mit Schwert oder Hellebarde überschätzt hatte. Dann blieb sein
Platz unbesetzt, oder ein anderer rückte an seine Stelle. Lange
Gedächtnisreden wurden nicht gehalten. Ein Fluch über das Mißgeschick,
und die Sache war abgetan. Kehrte einer oder der andere mit einer Wunde
zurück oder litt er sonst an einer Gebreste, so brachte ihn Luke wieder
zuwege.

Langeweile litt Luke Meyse nicht; denn einer oder der andere der
Gesellschaft war immer anwesend, mindestens der einarmige Brand
Cramer, dem sie bei einem Zusammentreffen mit Bauern dieses wertvolle
Körperglied zerschmettert hatten. Er war Schaffner des Hauses und
Stallmeister in einer Person. Denn auch Pferde fanden in einem an den
Felsen gelehnten Schuppen Unterkunft.

Und dann gab es da noch ein junges Ding, Ylsebe genannt. Wie sie sonst
noch hieß, wußte niemand. Man hatte sie an der Straße aufgelesen,
wo sie neben der erschlagenen Mutter jämmerlich schrie. Sie war der
Liebling Luke Meyses und der Verzug der ganzen Bande. Wild und lustig,
mit krausem Haar und schwarzfunkelnden Augen, bildete sie das belebende
Element der Hütte. Übergriffe gegen sie wußte Luke kurz und bündig
abzuweisen. Wurde es Ylsebe zu langweilig im Steimkerbachtale, dann
eilte sie wohl auf einen Sprung und einige Stunden nach der Dolgermühle
zu ihrer Freundin, der roten Aleke Swarte, des Müllers Tochter, die ihr
an Wesen gleichkam.

In der Dolgermühle traf sie sicher auch noch andere lustige
Gesellschaft, denn dort fand sich auch gemeinlich allerlei Volk
zusammen, ähnlich dem im Tale des Steimkerbaches. Die Mühle war
verwahrlost, die Bauern gingen mit ihrem Korn lieber zur entfernten
Pöbbeckenmühle, wo sie schneller und redlicher bedient wurden. Der
Müller zürnte ihnen deshalb nicht allzu sehr, denn an der Ausübung
seines Handwerks lag ihm wenig: Wozu sollte er die Mahlgänge bedienen,
nachts den Schlaf versäumen, wenn er auf andere Weise bequemer und
lustiger zu Gelde kam? Denn lustig ging es her bei ihm bei Essen und
Zechen und Würfeln. Die Besucher ließen sich nicht lumpen für die
schönen Sachen, die ihnen des Müllers Weib briet oder der Müller selbst
aus dem versteckten Keller hinter der Scheune vorsetzte. Aber das waren
nur die Nebeneinnahmen.

Den Hauptteil warfen die »Geschäfte« ab, die mit den Besuchern von
ihm als vollgültigem Partner abgeschlossen wurden. Bei ihm wurde
nämlich alles geplant, was heranreifte oder was sich zufällig bot.
Wenn irgendwo in der Umgebung ein Überfall vor sich ging, ein Haus
in Flammen aufloderte, ein reicher Bauer in seinem Bett erschlagen
aufgefunden wurde, wenn die Städter mit ihren Herden in Seesen und
Goslar geschatzt, ihre Wagenzüge angehalten und überfallen wurden, so
war der Plan dazu sicher in der Dolgermühle ausgeheckt worden.

Hin und wieder tauchte ein Mann auf, der ein besonderes Ansehen besaß.
Daß er unter den Gesellen eine bevorrechtete Stellung einnahm, ging
schon aus der Anrede hervor. Er wurde als »Herr Hermann«, auch »Herr
Raßler« angesprochen. Raßler war ein Mann von gedrungener Gestalt,
dem die wilde Entschlossenheit aus den Augen leuchtete. Das gebräunte
Gesicht wäre hübsch zu nennen gewesen ohne eine tiefe Narbe, welche
die Stirn fast wagerecht durchzog. Er besaß alle Eigenschaften eines
Führers: scharfes Urteil, schnelle Beobachtungsgabe und einen großen
Mut.

Als Sohn eines Arztes in Hildesheim hatte er das juristische Studium
ausüben sollen, wurde aber durch viele böse Streiche anfangs schon
aus dieser Bahn herausgeschleudert und relegiert; doch er war kein
Verbrecher von gewöhnlichem Schlag wie seine Leute. Er sah in sich
ein Rachewerkzeug gegen die menschliche, verderbte Ordnung. Auf den
Erwerb von Beute und Reichtum legte er nur insoweit Wert, als sie ihn
befähigten, seinen Weg zu gehen.

Deshalb, weil er nie einen besonderen Anteil beanspruchte und seine
Hilfsbereitschaft jederzeit sich äußerte, erkannten sie in ihm die
Führernatur, die ihnen Gewähr bot, daß die ausgeheckten Pläne meistens
ohne große Opfer durchgeführt werden konnten.

Hermann Raßler war kein Wegelagerer gewöhnlichen Schlages. Das erwies
sich aus der Kühnheit seiner Pläne, wie der Art ihrer Durchführung. Er
selbst trat nur bei den großen und wichtigen Sachen in Tätigkeit, die
Kleinigkeiten überließ er seinen zahlreichen Helfershelfern. Wo sein
eigentlicher Wohnsitz war, wußten nur wenige Vertraute. Er kam und
verschwand, und niemand fragte, wo er bleibe. Daß er zur rechten Stunde
zur Stelle sein werde, war ihnen Gewähr genug.

Die kleinen Untaten fielen nicht eigentlich auf sein Konto; er duldete
sie, weil er seine Leute bei Laune halten mußte. Meistens richteten
sie sich gegen Menschen, die sich durch Habsucht oder eine ähnliche
Untugend verhaßt gemacht hatten. Sie bedauerte er nicht; denn er gefiel
sich je länger desto mehr in der Rolle des Schicksalswalters, der
berufen war, über die Ungerechtigkeit der Welt zu Gericht zu sitzen.

Raßler war ein weithin gefürchteter Bandenführer, und der Ruf seiner
kühnen Streiche veranlaßte mehr als einen der Großen, sich seiner
Dienste zu bedienen, um einem Gegner im geheimen Abbruch zu tun an
seinem Eigentum. Kleine Städte und reiche Dörfer sollten ihm, so hieß
es, um sich seiner Huld zu versichern, Tribut zahlen.

Zu seinen »Kunden« zählte auch der Herzog von Braunschweig. Er bediente
sich seiner gegen die Stadt Braunschweig, namentlich aber gegen das
reiche Goslar, um die Bürger mürbe zu machen zur Annahme seines
fürstlichen Schutzes. Raßler übernahm diese Aufgabe besonders gern und
willig, denn mit dem Rate in Goslar hatte er ein Hühnchen zu rupfen.
Die Goslarer hatten ihm nicht nur, wie bei dem Treffen im Hohlwege bei
Riechenberg, wertvolle Leute erschlagen oder aufgeknüpft, sondern er
war ihnen besonders deshalb gram, weil bei einer dieser Gelegenheiten
auch sein einziger, wirklicher Freund, der gleich ihm aus der Bahn
geriet, in ihre Hände fiel und schimpflich gerichtet wurde.

Im Schlosse zu Wolfenbüttel war Raßler keine unbekannte Persönlichkeit,
wenn er dort auch unter anderem Namen aus- und einging. Durch des
Herzogs Spione in Goslar, die zum Teil recht angesehene Bürger waren,
wie auch aus eigenen Quellen wurde Raßler über die Vorgänge in der
Stadt immer im voraus gut unterrichtet. In seiner Kühnheit hatte er
sich auch mehrmals selbst in die Höhle des Löwen gewagt, um an Ort und
Stelle Erkundigungen einzuziehen. Allerlei geschickte Verkleidungen
ermöglichten es ihm, ungefährdet und unerkannt in die Stadt zu
gelangen und aus ihr wieder zu entweichen. Verrat von der Seite seiner
Spießgesellen in Goslar brauchte er nicht zu fürchten, denn im Falle
der Entdeckung war ihr eigener Kopf auch verwirkt.




Um Magda Richerdes, die Ehefrau des Bergherren, stand es nicht gut. Auf
eine geringfügige Besserung, kurz nach Vennes Verlobung, folgte bald
eine Verschlimmerung ihres Zustandes. Der Arzt war ratlos, die Familie
nicht weniger. Venne ging mit verweintem Gesicht einher; auch der
Zuspruch ihres Verlobten vermochte sie nicht über die Angst und Sorge
um das Leben der Mutter wegzubringen.

Die Kunst der Ärzte jener Zeit stand nicht hoch. Soweit sie sich über
den Rahmen bloßer Scharlatanerie erhob, reichte sie doch nicht im
geringsten aus, um durch eine von Sachkenntnis getragene Diagnose und
die danach anzusetzenden Mittel eine Krankheit zu bekämpfen, deren
Wesen nicht durch äußere Merkmale sich von selbst verriet.

Die Reinigung des Blutes durch Purganzen aller Art galt als Mittel zur
Verhütung von Krankheiten, wie zur Erhaltung der Gesundheit. Schlimm
wurde es erst, wenn der Aberglaube im Verein mit der Dummheit auf der
Seite der Kranken diese einem der dunklen Kurpfuscher in die Hände
gab, die mit albernen Beschwörungsformeln und Mitteln aus pflanzlichen
und anderen Stoffen heilen wollten, deren Wirkung auf den Körper des
Menschen durchaus nicht feststand.

Überall im Lande saßen die Männer und Frauen, die auf die
Unerfahrenheit und die Angst um die Erhaltung des Lebens ihrer
Nächsten spekulierten und ein Wissen ärztlicher Art vortäuschten, das
günstigstenfalls nichts nützte, oft aber die vielleicht noch heilbare
Krankheit in lebenslängliches Siechtum verwandelte oder gar den Tod
herbeiführte. Der Scharfrichter, die Schäfer, alte Weiber üblen Rufes,
denen man Umgang mit dem Bösen, auch übernatürliches Wissen nachsagte,
das waren die am meisten begehrten Berater der Kranken jener Zeit.

Auch in Goslar gab es solche »Wissende«, und zu ihnen zählte die
Gittermannsche in der Fröweckenstraße, wie auch der Schäfer Hennecke
Rennenstich auf dem Ymminghove. Ihre Kunst und ihr Wissen gründeten
sich auf überkommene Sprüche und Tränke aller Art, zu denen sie
die Kräuter selbst suchten oder sich zu verschaffen wußten. Ihre
Hauptberaterin und Lieferantin war Luke Meyse vom Steimkerbach, die
einstmals von Goslar einen wenig befriedigenden Abschied nehmen mußte.

Die Zeit hatte die Beziehungen zwischen ihr und der Gittermannschen
nie ganz zerstört, und die geheimen Boten, welche Goslar von Zeit zu
Zeit im Auftrage Hermann Raßlers aufsuchten, sorgten dafür, daß die
Fäden zwischen diesen beiden würdigen Frauenzimmern und Freundinnen
nicht zerrissen. Sie überbrachten auch jeweils Mittel, die von der
Gittermannschen bei ihren Gewaltkuren benutzt wurden.

Venne wie den Vater bedrückte es über die Maßen, daß der Mutter nicht
geholfen werden konnte, und als der Arzt seine Ohnmacht erklärte, waren
sie bereit, wenigstens Venne, auch andere Mittel zu nehmen, wenn es
hülfe. Zunächst wurde Immecke Rosenhagen zu Rate gezogen, von deren
heilkundiger Hand sie von den Hardts gehört hatten. Immecke kam, besah
sich die Kranke, gab auch einige schmerzlindernde Mittel an, gestand
aber im übrigen, daß sie des Leidens nicht Herr werden könne. Da
verfiel die alte Katharina, die nächst Venne ihrer Herrin über alles
zugetan war, auf den Plan, die Gittermannsche zu befragen, die ihr von
guten Bekannten empfohlen wurde.

Katharina mußte die Art der Krankheit genau beschreiben, doch erklärte
jene, es sei äußerst wichtig, daß sie die Kranke selbst sehe und
spreche. Da wurde die treue Alte vor dem eigenen Mut bange, denn sie
handelte ja ohne Ermächtigung ihrer Frauen. Doch die Liebe zu diesen
und der brennende Wunsch, der Kranken Heilung zu verschaffen, überwog
zuletzt die Bedenken. Was sie aber selbst noch an Mißtrauen gegen die
geheimnisvolle Frau hegte, verscheuchte sie durch die drohenden Worte:
»Das sage ich Euch, Gittermannsche, tut Ihr meiner Frau ein Leid an, so
habt Ihr es mit mir zu tun, und mit mir ist nicht zu spaßen.«

Jene antwortete nur mit einem überlegenen Lächeln, als ob ihre Kunst
für sie außer Zweifel stehe.

Venne schalt die alte Magd tüchtig, als sie von dem Besuche hörte, und
die Kranke weigerte sich, mit der Frau in Berührung gebracht zu werden,
die doch eine Hexe sei. Aber das Leiden wurde schlimmer, und Katharina
kam hartnäckig immer wieder auf die Sache zurück. Schließlich gaben die
beiden nach, und man einigte sich, daß zunächst Venne mit der Getreuen
-- im Dunkel des Abends natürlich -- die Gittermannsche aufsuchen
solle.

Die alte Vettel war von einer überraschenden Liebenswürdigkeit, denn
ihr lag viel daran, in dem angesehenen Hause Zutritt zu erhalten.
Auf Venne wirkte indes gerade diese Art widerlich und abstoßend,
aber sie bezwang ihren Abscheu, um der Mutter zu helfen. Mit großer
Zungenfertigkeit pries die Gittermannsche ihre Kunst und zählte
tausend Mittel und Sprüche auf, die unfehlbar, schnell oder langsam
helfen müßten.

Venne wirbelte der Kopf von all dem Gehörten, aber sie gewann doch
die Hoffnung, daß das Weib vielleicht die Heilung in der Hand habe.
Es wurde also verabredet, daß sie auf besondere Botschaft hin kommen
solle. Nun galt es noch, der Mutter endgültige Zustimmung zu erlangen.
Der Vater wurde nicht ins Vertrauen gezogen; man hoffte es so
einrichten zu können, daß er nichts von dem Besuche erfuhr. Später,
wenn, wie Venne hoffte, eine Besserung eingetreten war, sollte auch er
davon hören.

Als die Gittermannsche an dem verabredeten Abend vorkam, hätte Venne
ihre Zusage am liebsten zurückgenommen, denn sie sah hier in der
sauberen Wohnung fast noch unheimlicher und schmutziger aus als in
ihrer Behausung. Die Mutter tat ihr doppelt leid, die sich von diesem
Geschöpf behorchen und befühlen lassen mußte. Aber die ließ alles so
teilnahmslos über sich ergehen, daß sie die Einzelheiten gar nicht
wahrzunehmen schien.

Als die Megäre mit der Untersuchung fertig war, sann sie nach, wobei
sie den schmutzigbraunen Finger an die Nase legte. Venne sah ihr
angstvoll zu, als ob ihr eigenes Leben von dem Ausspruch abhänge. Dann
kramte jene ihre Weisheit aus.

»Der Fall liegt schwer; doch ich hoffe, das Übel mit der Wurzel zu
fassen. Habt Ihr, Frau, etwa böse Neider oder eine Feindin, die Euch
das Übel angetan hat? Denn ohne Zweifel seid Ihr versehen worden.«

Frau Richerdes antwortete, sie sei sich nicht bewußt, sich jemandes
Feindschaft zugezogen zu haben, auch wisse sie keinen Menschen, dem
sie so Böses zutrauen könnte. Da legte sich aber Katharina ins Wort.
»Ihr vergaßet das Zigeunermensch, das wir damals fortjagten, weil die
Frau, als sie, Euch wahrzusagen, sich in die Stube gedrängt hatte, es
verstand, sich ein seidenes Tuch anzueignen, das in ihrer Nähe lag. Ihr
waret gutmütig genug, sie straflos laufen zu lassen. Aber ich erinnere
mich noch genau des bösen Blickes, den sie auf Euch warf, und geheime
Worte murmelte sie auch im Weggehen.«

»Dacht' ich mir's doch,« sagte die Gittermannsche. »Die Zigeunerinnen
verstehen sich besonders auf die Kunst des bösen Blickes, und einen
Zauberspruch wird sie Euch auch noch auf den Hals geschickt haben,
ohne daß Ihr es merktet. Da werden wir es gleich mit kräftigen Mitteln
versuchen müssen, um der Sache Herr zu werden. Und es soll mit dem
Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt.«

Bei dem Worte ›Teufel‹ fuhren die Frauen zusammen, und die ängstliche
Katharina erklärte energisch: »Wir sind gute Christen und wollen mit
dem Gottseibeiuns nichts zu tun haben.«

»Ach, geht mir mit Euren Einwänden,« entgegnete die Gittermannsche.
»Meint Ihr, ~ich~ habe mit dem Teufel zu tun oder will Euch ihm
verschreiben? Aber was von ihm kommt, muß zu ihm zurück. Das werdet
Ihr doch auch wohl gelten lassen, oder wollt Ihr's für Euch behalten?
Ich werde Euch eine Brühe kochen, mit der Ihr Eure Schwelle besprengt.
Daneben reibt Ihr der Kranken die Herzgrube mit der Salbe, die Ihr
gleichfalls bekommen sollt. Die Salbe ist wunderlich zusammengesetzt,
und ihr Geheimnis behalte ich für mich. Die Brühe aber mögt Ihr selbst
kochen; also wisset, wie man's macht.

Kauft in Gottes Namen eine Muskatnuß, ohne um den Preis zu feilschen,
schneidet sie durch und zerstoßt sie mit Buchenasche, die im Sommer
gewonnen ist. Kocht das Ganze in einem Eimer fließenden Wassers und
gießet es an einem Donnerstag in Gottes Namen auf Eure Schwelle, indem
Ihr also sprecht:

›Dat et nu vorgae unde dem duvel nicht bestae. Im Namen des vaders
unde des sones unde des hilghen gheistes.‹ Handelt genau nach meiner
Vorschrift und wartet die Wirkung ab.«

Eine Belohnung wollte die Gittermannsche nicht nehmen, nein, es war ihr
nur um die christliche Barmherzigkeit zu tun, und sie freue sich, einer
so ansehnlichen Frau zu helfen. Katharina aber sorgte dafür, daß ihre
Schürze in der Küche mit allen möglichen nützlichen und schönen Sachen
gefüllt wurde.

So gewann die Gittermannsche Zutritt und Einfluß im Hause Richerdes.
Hätte die gute Katharina geahnt, welchem Unheil sie damit die Tür
öffnete, sie hätte jene nicht gerufen, selbst nicht um den Preis der
Wiederherstellung ihrer Frau.




Auf dem Vater Vennes lasteten noch mehr Sorgen als die Krankheit der
Frau. Was er damals dem Ratsherrn Achtermann zugesagt hatte, war in
Verhandlungen mit dem Rate der Stadt herangereift. Richerdes wollte
sein Grubenrecht um zweitausend Mark lötigen Silbers abtreten. Es
handelte sich noch darum, die genaue Abgrenzung seiner Gerechtsame im
Berge markscheiderisch festzulegen. Solange ging der Betrieb auf seine
Kosten weiter.

Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Ertrag immer geringer und
zweifelhafter wurde, und es fiel ihm schwerer und schwerer, die Löhne
und Gelder für Grubenholz aufzubringen. Der Silvane Bandelow, der ihm
so viel von Freundschaft und nachbarlicher Gesinnung vorgeredet hatte,
drohte mit der Einstellung der Holzlieferungen. Die Verhandlungen
mit dem Rat kamen ihm dabei als Ausrede sehr gelegen. »Er habe ja
abgeredet, zu verkaufen; ja, wenn Richerdes das Werk weiterbehalten
wolle, aber so ...« Es mußte also Geld beschafft werden. Die Bekannten
zeigten sich nicht geneigt, zu helfen; auch Achtermann gab unter
allerhand Ausreden nichts her. Da blieb kein anderer Weg offen, als
sich an die gewerbsmäßigen Herleiher zu wenden, wenn es auch vielleicht
unchristliche Zinsen kostete.

Der Zuzug der Juden nach Goslar wurde von dem Rat immer von Fall zu
Fall und mit zweckdienlicher Zurückhaltung geregelt. Er hatte sich
dabei bislang immer durchaus als ein guter Geschäftsmann gezeigt, der
eine Leistung nicht tut ohne Gegenleistung. Das bedeutet für die
vielgejagten und verfolgten Kinder Israels nichts anderes, als daß sie
zahlen und nochmals zahlen mußten, um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu
erlangen. Und da der Kaiser auch für seinen Schutz noch eine besondere
Steuer ihnen auferlegte, so ergab sich für diese Schutzjuden des
Rates und des Kaisers die Pflicht, zu zahlen und zu zahlen, um nur
ein Obdach zu haben. Was Wunder also, daß sie daraus für sich die
Erlaubnis ableiteten, zu nehmen, wo sich's ihnen bot, das heißt, ihren
christlichen Mitmenschen ihre Hilfe in Form von Darlehen um Zinsen zu
gewähren, bei denen jenen leicht der Atem ausgehen konnte.

Das Ghetto der goslarschen Juden war die Hokenstraße. Dort hausten
sie zusammen, so viele oder so wenige ihrer in der großen Reichsstadt
wohnten, gemieden von den Einwohnern, nur sich selbst lebend und ihren
Geschäften. Verirrte sich ein Christ in diese enge, dunkle Straße,
so geschah es sicher nur, um die Hilfe der Hebräer in Geldsachen in
Anspruch zu nehmen.

Es war dem ehrenfesten, angesehenen Bürger und Bergherrn Richerdes ein
hartes Angehen, den Weg zu dem Juden Asser anzutreten. Dieser wohnte
mit seinem Weibe Lusse in einem dunklen Hause nach dem Fleischscharren
zu.

Er trat dem ernsten Mann, der da in der Dämmerung ins Haus trat, mit
all der unterwürfigen Geschmeidigkeit entgegen, die den Leuten seines
Stammes eignet im Verkehr mit anderen, vor deren Stellung und Person
sie sich noch eine Förderung oder Schädigung ihrer Interessen versehen.

Auf dem Untergrunde seiner lebhaften, dunklen Augen glomm ein Schimmer
wilder Freude, daß wieder einer der Andersgläubigen den Weg zu ihm,
dem Verachteten, Geschmähten, fand in seiner Not und daß er auch in
dessen Schicksal werde eingreifen können, um, wenn die Stunde gekommen
war, den Anteil seiner Rache an dem verfluchten Christenvolk zu üben,
zu der die ein Leben lang getragene Schmach und der durch Jahrhunderte
vererbte Wunsch, den unauslöschlichen Haß zu löschen, trieben. Über die
mißliche Lage seines Gegenübers, den er mit vollendeter Höflichkeit auf
den Ehrenplatz nötigte, war er längst unterrichtet.

Asser -- die Juden hatten zu jener Zeit noch nicht das Recht, sich
andere Namen zuzulegen -- hörte den Bergherrn ruhig an. Nur das nicht
bezwungene Spiel seiner Augen verriet, daß er bei der Sache war.
Richerdes schloß fast barsch: »Also, Jude, willst Du mir Geld leihen
oder nicht? -- Daß es Dein Schade nicht sein wird, weißt Du selbst am
besten.«

Auf einmal war Asser ganz zurückhaltender, kühler Geschäftsmann, wenn
er auch in seinen Worten der geschmeidige, unterwürfige Jude blieb.

»Herr, es ist mir eine große Ehre, die Ihr mir Unwürdigem wollt antun;
aber ich fürchte, ich werde Euch müssen enttäuschen. Jahve hat meiner
Hände Arbeit gesegnet, das ist wahr. Aber was Euch erzählt haben andere
Menschen von meinem Reichtum, ist Fabel. Gott der Gerechte soll mich
strafen an meinem Samen, wenn ich habe in Besitz, was Ihr begehrt. Ihr
wißt, daß der Hohe Rat, daß der Herr Kaiser in Wien haben auferlegt den
armen Juden, große, schwere Lasten zu tragen, als wie will heißen, daß
wir müssen zahlen große Summen, nur daß wir dürfen wohnen an solchem
Ort wie Goslar. Wie soll ich da kommen zu Geld, um es zu geben Ew.
Edelgeboren!

Auch ist mir bekannt, wie ich habe gehört, daß Eure Sach' nicht stehet
zum besten, daß Euer Bergwerk nicht mehr lohnt die Kosten. Wie heißt
da Geschäft, wenn nichts ist da, als womit man kann sich assekurieren
gegen Verlust?«

Richerdes schwoll die Ader über dieses Wort, die seine
Zahlungsfähigkeit in Frage stellte.

»Glaubst Du, verfluchter Jude, ich wäre zu Dir gekommen, um Dich zu
betrügen?«

»Gott soll mich bewahren, daß ich sollte haben solch schwarzen
Gedanken,« antwortete der andere geschmeidig, »aber man wird doch
dürfen sprechen vom Für und Wider, wenn es sich handelt um ein
Geschäft. So muß handeln ein ehrlicher Jud, der ich bin gewesen all
mein Leben lang, und so wird sprechen jeder Kaufmann, der etwas
versteht vom Geschäft. Mag sein, daß man mir hat geschildert viel zu
schwarz Eure Lage, aber ich muß rechnen, was spricht dafür und was
spricht dagegen.

Doch ich will Euch helfen, beim Gotte Abrahams, was steht in meinen
Kräften. Wieviel wollt Ihr haben? Vielleicht, daß ich bringe zusammen
das Geld von Freunden unter unseren Leuten. Doch müßt Ihr Euch begnügen
mit weniger. Was wünschtet Ihr doch zu haben, günstiger Herr, daß ich's
noch mal höre?«

»Hundert Mark Silber«, entgegnete Richerdes kurz, doch etwas
besänftigt.

»Hundert Mark«, klagte der Jude. »Wo sollte ich hernehmen hundert Mark!
Sagen wir fünfzig, fünfzig Mark. Das ist eine ansehnliche, glatte
Summe, mit der Ihr werdet wirtschaften, bis daß es Euch geht besser
oder Ihr habt Euer Geld vom Hochweisen Rat.«

»Was weißt Du, Jude, von meinen Verhandlungen mit dem Rat?« fragte der
Bergherr unangenehm überrascht. »Nun nichts für ungut, Ew. Gnaden«,
wandte Asser demütig ein. »Aber man hört ja dies und jenes; es braucht
ja nicht immer zu sein wahr, aber man weiß doch gern, was geht vor
sich.«

»Also, dann her mit dem Geld«, begehrte Richerdes barsch.

»Gott der Gerechte,« jammerte da der Jude, »wie soll ich kommen zu so
grausam viel Geld, und wenn ich wollte kehren um mein Haus vom Dach
bis zum Keller. Ich muß es mühselig mir selbst borgen zusammen. Kommt
also morgen oder übermorgen, es abzuholen. Und, daß es nicht werde
vergessen, der Ordnung halber, bringt auch gleich mit das Geschriebene,
daß ich mag ruhig schlafen.«

»Es ist gut, Asser, ich werde morgen hier sein. Halte das Geld bereit,
der Pfandschein soll Dir nicht fehlen.«

                   *       *       *       *       *

Auch das Geld des Schutzjuden Asser vermochte den Lauf der Dinge nicht
aufzuhalten. Das Erzlager in der Richerdesschen Grube lief immer
spitzer zu, und es war der Tag abzusehen, wo sie gänzlich zum Erliegen
kommen würde.

Mit dem geliehenen Gelde konnte der Bergherr noch einige verzweifelte
Versuche machen, durch Seitenschläge eine andere Erzader zu
erschließen; doch auch diese Anstrengungen verliefen erfolglos. Nun
drängte Richerdes selbst darauf, daß der Rat den Ankauf vollziehe, aber
die Ratsherren waren auch über die Sachlage unterrichtet und trugen
Bedenken, ein so unvorteilhaftes Geschäft für die Stadt abzuschließen.
Vergeblich wies Richerdes darauf hin, daß der Verkauf ohne Vorbehalt
hätte abgeschlossen werden sollen; vergebens auch bemühte er sich,
darzutun, daß in vielen anderen Fällen schon neben einem sich
totlaufenden Lager eine neue Ader gefunden sei, daß mindestens Aussicht
bestehe, auf einer tieferen Sohle zu finden, was auf der jetzigen
abgebaut sei; die Herren blieben bei ihrer Ansicht bestehen, daß der
Vertrag noch nicht abgeschlossen sei und also die daraus für Richerdes
erwachsenden Vorteile nicht gewährt zu werden brauchten.

Was der Ratsherr Heinrich Achtermann ihm früher als drohendes Gespenst
vorgehalten hatte, um ihn zu einem Verkauf gefügig zu machen, das trat
jetzt trotz seiner Nachgiebigkeit ein: Richerdes, der angesehene Bürger
und Montane, war ruiniert, zahlungsunfähig.

Das lauteste Geschrei erhob der Schutzjude Asser, der sich um sein Geld
sorgte. Jetzt, wo er glaubte, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen
auf den einst angesehenen Bürger und Christen, zeigte sich der ganze
aufgespeicherte Haß seines Volkes. Er raufte sich das Haar, nannte sich
den unglücklichsten aller Söhne Abrahams und schimpfte seinen Schuldner
einen abgefeimten Spitzbuben und Betrüger. Diese Tonart wurde ihm
allerdings bald verleidet durch eine Buße von mehreren Mark Silber, die
der Rat über ihn verhängte wegen Kränkung eines Christen und bis dahin
unbescholtenen Bürgers.

Er erhielt auch sein Geld, und zwar zahlte ihn der Ratsherr Heinrich
Achtermann aus. Das geschah allerdings nicht aus christlicher
Barmherzigkeit; er tat es auch nicht der nahen verwandtschaftlichen
Beziehungen wegen, die durch das Verlöbnis nach der Anschauung jener
Zeit als damit bestehend angesehen wurden. Er zahlte, weil er nicht
wollte, daß der Vater der mit seinem Sohne verlobten Tochter in den
Schuldturm wandere. Über die weitere Entwicklung der Dinge war er sich
für seine Person völlig im klaren. Im übrigen sicherte er sich gegen
Verlust durch ein Pfand auf das Anwesen des Bergherren.

Richerdes war durch das Unglück völlig niedergebrochen. In diesen
Tagen, da das Unheil wie eine schwere Wolke über dem Hause in der
Bergstraße lastete, zeigte sich Venne als eine wahre Heldin. Sie suchte
den Vater aufzurichten, und sie pflegte die Mutter, deren Zustand sich
infolge der Aufregungen immer mehr verschlimmerte.

Venne hatte niemand, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten, als
die alte Vertraute ihrer Kindheit, die brave Katharina. Noch einmal
wurde die Gittermannsche zu Rate gezogen, noch einmal versuchte es
diese mit einer neuen Salbe, einem neuen kräftigen Spruch; aber das
Ende war nicht aufzuhalten. Als die Blätter im lustigen Todestanze zur
Erde wirbelten, schloß auch diese müde Erdenpilgerin die Augen für
immer. Und es war zu erkennen, daß der Vater, an dem die Schmach der
unschuldig erlittenen Verarmung und Erniedrigung zehrten, sie nicht
lange überleben würde.

Auch die tapfere Venne drohte dem ungleichen Kampfe mit dem widrigen
Schicksal, in dem sie allein auf dem Plan stand, zu unterliegen. Die
einzige Wohltat, die ihr in dieser Zeit widerfuhr, war die treue
Freundschaft, welche ihr von den Hardts entgegengebracht wurde.

Auch Immecke Rosenhagen bewies in diesen Tagen der Not, daß sie zur
Stelle sei, wenn man sie brauchen konnte. Sie hatte längst erkannt, daß
der Mutter nicht zu helfen war. Sie half mit einem stärkenden Trank,
mit einer schmerzstillenden Salbe. Was die Gittermannsche anpries,
war in ihren Augen und nach ihren Worten Schwindel. Sie redete den
Frauen auch ab, sich mit der Person einzulassen, da man daraus
Unannehmlichkeiten haben könne. Wenn Venne gegen ihren Rat handelte, so
geschah es aus dem heißen Wunsche heraus, das teure, schwindende Leben
so lange festzuhalten, wie sie konnte.

Und wo blieb Heinrich Achtermann, der Verlobte Vennes?

Seine Liebe war nicht geschwunden. Der Schmerz, der über dem süßen
Antlitz Vennes lagerte, je trostloser der Zustand der Mutter wurde,
machte sie ihm noch begehrenswerter. Doch die Pflege der Mutter nahm
sie so in Anspruch, daß sie nur selten Gelegenheit fand, ihn zu
sprechen. In heißem Mitleid schloß er sie dann in die Arme.

»Mein armes Herz, was kann ich nur tun, um Dir die Last tragen zu
helfen, die Dich erdrücken muß? Laß mir doch den mir gebührenden Anteil
an Deinem Leid. Du weißt, geteilter Schmerz ist halber Schmerz.«

Venne lächelte ihm dankbar unter Tränen zu. »Du kannst mir nicht
helfen, jetzt noch nicht. Wer weiß, ob es nicht noch schlimmer kommt.
Versprich mir nur das eine, daß Du mich nie verlassen wirst.«

»Deine Worte verdienen eigentlich Strafe,« zürnte Heinrich. »Hältst
Du mich für einen solchen Schurken, daß ich Dich im Unglück aufgeben
könnte?«

Beseligt nickte Venne ihm zu: Nein, sie war beruhigt, Heinrich
Achtermann war einer solchen Sünde wider göttliches und menschliches
Recht nicht fähig!

Der junge Achtermann, dem die Ratsherrnwürde in der Reichsstadt Goslar
so sicher zufallen mußte wie das Erbe seines Vaters, war von der
Aufrichtigkeit seiner Worte selbst völlig durchdrungen. Er liebte Venne
mit all der Innigkeit und Glut, mit der er zuerst die Holde an sein
Herz gezogen hatte. Wer ihm gesagt hätte, er werde die Braut verlassen,
den würde er als persönlichen Feind behandelt haben. Aber er konnte
nicht hindern, daß der Vermögensverfall des Vaters seiner Venne auch
ihn in seine Kreise zog. Es fanden sich gute Freunde, die ihm unter
dem Mantel teilnehmender Worte das Gift ihres Hohnes einträufelten.
Manche vermeintliche oder wirkliche Kränkung, die ihnen von Venne in
der harmlosen Sieghaftigkeit ihrer jugendlichen Anmut unbewußt zugefügt
war, manche Zurücksetzung, die ihretwegen neidische Freundinnen
erfahren hatten, fanden jetzt Gelegenheit zu unschöner Vergeltung.

Heinrich Achtermann widerstand tapfer; er wies alle Andeutungen, daß
er Venne aufgeben müsse, entrüstet zurück. Aber der Stachel blieb doch
sitzen, und die Überlegung in den stillen Stunden der Nacht konnte
jenen nicht unbedingt unrecht geben: Hatten sie nicht recht, war es
nicht eine sehr zweifelhafte Sache, die Tochter eines verarmten Mannes
zu freien, welcher der schimpflichen Schuldhaft nur durch die Hilfe
des Vaters entgangen war? Und würde es je gelingen, die Lästermäuler
zum Schweigen zu bringen? -- alles Gedanken, deren Gewicht er nicht
verkannte. Ein gewichtiger Helfer aber erwuchs denen, die aus Bosheit
oder Rachsucht das Band zwischen ihm und Venne Richerdes zu zerreißen
suchten, im Vater.

Der Ratsherr Heinrich Achtermann hatte selbst den Freiwerber für seinen
Sohn gemacht, so hätte ihm Richerdes entgegenhalten können. Er zeigte
sich der Vereinigung geneigt, denn die hübsche Venne tat es auch ihm
mit ihrem Liebreiz an. Zwar war der Bergherr kein reicher Mann, aber
das brauchte bei der eigenen Vermögenslage kein Hindernis zu sein. An
Ansehen standen ihm die Richerdes nicht nach; auch ihre Familie hatte
der Stadt mehr als einen Ratsherrn und Bürgermeister gegeben.

Das alles änderte sich indes, als der angehende Schwäher ein armer
Mann wurde mit all den unglückseligen Begleitumständen, die wir
kennen. Wandte er auch mit eigenem Gelde das Schlimmste von jenem ab,
so kam der Montane als Verwandter für ihn nicht mehr in Betracht.
Sein Patrizierstolz hätte es nie verwunden, daß man hinter der
Schwiegertochter, wenn auch im geheimen, herzischelte als der Tochter
eines fallit gewordenen Bürgers.

Achtermann hoffte, daß der Sohn selbst so viel Einsicht haben
werde, das Band zu lösen; er, der Vater, wäre dann wohl auch noch
zu besonderen Opfern bereit gewesen, um die Angelegenheit möglichst
geräuschlos zu regeln. Als er aber zum ersten Male mit Heinrich darüber
sprach, brauste dieser auf und erklärte, er werde nun und nimmer
die Braut im Stich lassen. Der Vater ließ ihn ruhig reden, in der
Überzeugung, daß der Überschwang seiner Gefühle sich unter dem Einfluß
der Zeit schon ausgleichen werde.

Es war dem Sohne, als ob die kühlen Worte des Vaters, der die Sache
wie ein Geschäft behandelte, Venne selbst in ihrer Abwesenheit
träfen, und er suchte noch am selben Abend Gelegenheit, die Geliebte
seiner unwandelbaren Treue zu versichern. Er fand sie nicht, denn
der Zustand des Vaters -- die Mutter hatte man wenige Wochen vorher
zu Grabe getragen -- erschien ihr gerade an diesem Abend besonders
besorgniserregend. Heinrich ging davon, etwas verstimmt, daß seine gute
Absicht nicht zur Ausführung kam.

Auch Venne selbst war die Sorge gekommen, ob die Vereinigung mit dem
Geliebten werde zustande kommen; denn auch ihr blieben natürlich die
Demütigungen nicht erspart und versteckte Anspielungen, es sei ihre
Pflicht, den Ratsherrnsohn freizugeben. Es tauchte ihr auch wohl selbst
der Gedanke auf, das Opfer nicht anzunehmen, und herber Trotz gegen
alle Welt, auch gegen den Geliebten, ließ sie mit dem Gedanken spielen,
Verzicht zu leisten. Aber dann quoll die Angst um so heißer in ihr auf
und die Sehnsucht nach dem Geliebten.

In diesem Widerspruch der Empfindungen traf sie eine Botschaft des
alten Achtermann ins Herz, der ihr zuraunen ließ, sie möge den Sohn
freigeben, er werde sich die Sorge um ihre Zukunft angelegen sein
lassen. Das wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf die stolze Venne. In
ungebändigtem Trotz ließ sie dem Ratsherrn sagen, sie werde sich dem
Sohn nicht an den Hals werfen; das Anerbieten aber, für sie sorgen zu
wollen, weise sie als eine besondere Kränkung zurück. Der Alte ließ
sich dadurch nicht beirren, »Mädchenüberschwang«, dachte er. »Das wird
sich schon zurechtgeben.«

Heinrich, der Sohn, wußte von dem Vorgehen des Vaters nichts. Er
versuchte mehrmals die Geliebte zu sprechen, erfuhr aber durch
Katharina jedesmal eine mehr oder weniger mürrische Abweisung. Da
setzte er es einmal doch durch, daß er vorgelassen wurde. Venne empfing
ihn mit verweinten Augen. Auf seine Frage, was ihr sei, hielt sie
zunächst zurück. Doch dann durchbrach das aufgehäufte Weh und der Zorn
über die Demütigung die Schranken, und sie klagte mit bitteren Worten
den Vater an. Heinrich war erschrocken und empört, und er bat Venne,
ihm zu vertrauen.

»Ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich von dieser
Niedertracht nichts weiß und nichts ahnte. Glaube mir doch, Geliebte,
ich stehe zu Dir, und wenn sich alles gegen Dich vereint.«

Mit heißen Küssen besiegelte er seine Schwüre, und in Venne stieg ein
Gefühl des Glückes auf, blieb ihr doch wenigstens dies Allerschwerste
erspart!

Zu Hause stellte Heinrich den Vater zur Rede. Der Ratsherr leugnete gar
nicht, daß er wirklich die Botschaft geschickt habe.

»Wenn die Kinder die Vernunft verlieren, müssen die Eltern für sie
denken und handeln.«

Heinrich begehrte auf und erklärte, daß er nie und nimmer von Venne
lassen werde, der Vater blieb ganz kühl und ruhig.

»Vorläufig ist es bei uns noch Sitte und Gesetz, daß die Eltern
bestimmen, was aus ihren Kindern werden soll, und ich lasse mir dieses
Recht nicht schmälern.«

»Und doch wirst Du mich nicht zwingen. Zuletzt steht mir der Weg in die
Welt offen, und ich werde mit Venne davongehen«, antwortete Heinrich um
so erregter. Da lachte der Vater spöttisch auf: »Das gäbe eine nette
Wandergesellschaft: Du ein Junker Habenichts und sie eine Jungfer
Bettlerin. Da werdet Ihr Euch allabendlich Euer Nest am Straßenrain
bereiten müssen. Aber wir wollen das Thema heute abbrechen, es führt im
Augenblick doch zu nichts.« -- Er wußte, daß die Zeit für ihn arbeiten
werde.




Das Leben des Bergherrn Richerdes war seit dem Hinscheiden seiner Frau
nur noch ein langsames Sich-zu-Tode-Quälen. Der schon in gesunden
Tagen hagere, große Mann war abgemagert zum Skelett. In gelblichen
Falten lagerte die Haut auf dem Gesicht, aus dem die spitze Nase
drohend hervorragte. Neuerdings litt er an Verfolgungsideen, in denen
der Jude Asser, Achtermann und Karsten Balder die Schreckgestalten
waren. Er weigerte sich, Nahrung zu nehmen, weil er seine Schulden
nicht vermehren wolle; dann wieder hielt ihn der Argwohn davon ab,
seine Feinde könnten Gift hineingetan haben. Die arme, tapfere Venne
durchlebte eine Zeit schlimmsten Martyriums. Endlich, ein halbes Jahr
fast nach dem Heimgange der Frau, glitt auch ihm der Pilgerstab aus den
müden Händen. In seinen letzten, lichten Augenblicken mahnte er noch
Venne, sie solle sein Recht dem Rat gegenüber nie vergessen. »Bedenke,
mein Kind, daß Du es meinem Andenken schuldig bist, dieses Recht zu
verfechten. Versprich es mir in die Hand, es nie aufzugeben, damit ich
ruhig sterben kann.«

Nun war Venne ganz allein in ihrer Trostlosigkeit und dem Bewußtsein,
daß sie aus dem Kreise aller derer ausscheide, bei denen sie bis zu dem
Unglück ihres Vaters ein gern gesehener und umworbener Gast gewesen.

Das alles hätte sie noch ertragen, wäre nicht die Angst und die
quälende, beschämende Sorge gewesen, daß auch Heinrich, der Verlobte,
ihr entgleite. Noch halten ihn seine Schwüre, noch kommt er, sie zu
sehen, noch ist er voller Liebe und Mitleid. Sie trinkt seine Küsse wie
eine Verdürstende, wenn er sie umschließt, und hängt an seinem Munde,
um von ihm immer wieder zu hören, daß er sie noch liebe. Begütigend,
tröstend, voll zarter Teilnahme streicht er über ihr Haar und
versichert sie seiner Treue. Und immer wieder drängt es sich aus ihrem
Munde: »Verlaß mich nicht, bleibe mir treu!«

Und er schwört ihr mit neuem, heiligem Schwur, daß nichts sie trennen
soll, nicht der Vater, nicht die hämische, neidige Welt. Dann seufzt
sie glücklich, wie aus tiefster Seele befreit, auf, und sie schwört ihm
und sich selbst zu, Vertrauen zu haben. Aber kamen dann die dunklen
Stunden der Nacht, lag sie schlaflos auf ihrem Lager, dann stürzten
sich die Zweifel wie gierige Wölfe auf sie und zermarterten ihr armes
Herz.

Seit dem Tode des Vaters hauste sie allein mit Katharina in dem großen,
leeren Hause. Die Mägde waren entlassen, die Knechte gegangen. Sie
fürchtete sich und hatte die alte Magd gebeten, bei ihr zu schlafen.
Katharina hörte, wie die von ihr über alles geliebte Herrin sich
ruhelos auf ihrem Lager wälzte, sie vernahm ihre Seufzer und ihr
stilles Schluchzen. Sie wäre für Venne in den Tod gegangen, hätte sie
ihr damit das Glück erkaufen können. Verzweifelt drängte sie in Venne,
ihr zu sagen, was sie bedrücke, Venne schwieg.

»Ist Heinrich Achtermann auch von Dir abgefallen?« fragte sie mit
verbissenem Grimm.

»Nein, nein, er ist mir treu und wird mich nicht verlassen, wenn man
ihn nicht dazu zwingt.«

»Wie soll man ihn zwingen, wenn er selbst nicht will? Oder meinst Du,
man könne ihm im geheimen Zwang antun?«

Venne antwortete nicht darauf, aber Katharina schloß daraus, daß diese
Befürchtung zutreffe.

»So wird man unsererseits darauf sehen müssen, daß er nicht von Dir
lassen kann«, murmelte sie für sich. Und es ward ihr zur fixen Idee,
daß sie alles daransetzen müßte, um Heinrich bei ihrer Venne zu
halten. Dieser durfte sie von ihren Plänen nichts sagen, Venne würde
es ihr verbieten; aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Klang ihr
nicht ein Wort der Gittermannschen in den Ohren: »Ich habe auch Mittel
anderer Art zu Gebote; gilt es zum Beispiel den ungetreuen Liebsten
zurückzubringen oder einen, den man begehrt, an sich zu fesseln, so ist
die Gittermannsche da mit ihrem Spruche.«

Damals belächelte Katharina diese Anpreisung ihrer Kunst, sie, wie
Venne: Wie sollte sich für diese je die Notwendigkeit bieten, von der
Gittermannschen dunkler Kunst Gebrauch zu machen, da doch Venne auf
dem Gipfel der Glückseligkeit zu stehen und ein Sturz von dieser Höhe
unmöglich schien.

Jetzt aber war es so weit, und sie suchte die verrufene Alte aufs neue
auf. Zunächst sperrte sie sich und redete von Undank und Gefahr, in die
man sie bringe, denn die alte Katharina hatte ihr, als ihre Mittel sich
bei Frau Richerdes doch nicht bewährten, mit drastischen Worten ihre
Meinung gesagt. Als sie indes vor den Augen der habgierigen Hexe ein
Stück Geld glänzen ließ, änderte sich Wort und Miene der Gekränkten.
Man verabredete die Einzelheiten.

Natürlich müsse sie den Namen desjenigen wissen, dem das Mittel gelte.
Ungern nannte Katharina den Namen Heinrich Achtermanns, aber die
Gittermannsche bestand darauf.

»Dachte ich's mir doch«, höhnte die Alte. »Solange das Täubchen im
Glück saß und sein Gefieder goldig schimmerte, war das Herrlein
begeistert; nun, da der Glanz erblichen ist, tritt er den Rückzug an.«

»Ihr tut ihm vielleicht unrecht«, warf Katharina ein. »Nach dem, was
meine Venne meint, ist es vielmehr der Vater, der sie trennen will.«

»Natürlich, der dickgeschwollene Protz fürchtet, daß sein Geldsack
eine Falte bekommt, wenn er dem armen Mädchen beisteht. Doch zum Glück
sind wir noch da, wir, die Gittermannsche, und wir wollen es ihm schon
zeigen. Also, die Sache ist so: was ich Euch geben werde, muß Eure
Venne dem Liebsten heimlich beibringen.«

»O nein, o nein,« wehrte Katharina ab, »das ist schon gefehlt. Die
Venne bringe ich nie dazu, daß sie Heinrich Achtermann etwas eingibt,
um ihn zu fesseln. Das verbietet ihr der Stolz und auch ihr Trotz.«

»Ei, ist die Schöne noch so wenig kirre?« höhnte das Weib. »Ja, da
wird wenig zu machen sein, wie ich's im Augenblick übersehe. Ich kenne
es bis jetzt nicht anders, als daß das Liebchen sich selbst der Sache
annimmt. Und ich begegnete auch bisher nie einem Widerstreben. Im
Gegenteil, keine hätte einem anderen anvertraut, was ihr selbst dienen
sollte.«

»Sie ist auch nicht ›keine andere‹, sondern meine stolze Venne,«
entgegnete Katharina, »und was auf andere zutrifft, paßt auf sie noch
lange nicht. Also besinnt Euch, ob es nicht einen anderen Weg gibt,
sonst muß ich auf Euren Dienst verzichten.« Damit ließ sie das Geld in
ihrer Tasche verschwinden.

Habgierig folgten die Augen der unholden Frau ihrer Bewegung. »Nun,
vielleicht geht's doch, laßt mir nur einen Augenblick Zeit zum
Nachdenken. -- Doch, so wird es sich machen lassen. Venne ist, so sagt
Ihr, dem Verlobten in heißer Liebe zugetan; ihre Gedanken bewegen
sich um ihn. Da kommt es darauf an, daß sie zu der Stunde, wo dem
Bräutigam mein Trank gegeben wird, all ihr Sinnen auf ihn richtet.
Vermögt Ihr das, indem Ihr selbst das Gespräch auf Heinrich Achtermann
bringt, so ist uns geholfen. Und dann bedarf es natürlich noch, was die
Hauptsache ist, einer zuverlässigen dritten Person, die jenem den Trank
verabreicht. Habt Ihr oder kennt Ihr jemand im Hause Achtermann, dem
wir das anvertrauen können?«

»Daran habe ich schon gedacht, als ich zu Euch kam. Eine alte Bekannte
von mir lebt als Magd im Hause der Achtermanns. Wie ich die kenne, so
hat sie den Heinrich großgewartet. Ihr darf ich mich anvertrauen, und
sie wird sich bereit finden, ihm den Trank zu reichen, vorausgesetzt,
daß er nichts die Gesundheit Schädigendes enthält. Dann würde übrigens
auch ich dazu die Hand nicht bieten«, antwortete Katharina.

»Meint Ihr, ich wolle mich selbst um den Hals bringen? Vielleicht setzt
es ein wenig Bauchgrimmen; aber auch das ist bei dem kräftigen Mann
nicht zu befürchten. Übrigens sollt Ihr, damit Ihr wißt, daß nichts
Giftiges hineinkommt, das Rezept erfahren, und Ihr mögt, wenn Ihr
wollt, den Trank selbst brauen. Also hört nun.«

»Nicht doch,« rief Katharina erschrocken, »des vermäße ich mich nicht.
Meine alten Augen möchten mich trügen oder die Hände zittern bei dem
Zumessen der Sachen. Macht ihn nur fertig, ich will das Weitere schon
besorgen.«

»Ach,« sagte die Gittermannsche, »stellt Euch nicht zimperlich an.
Wollt Ihr es nicht, so tue ich es. Sorgt dann aber, daß er auch von
dem Rechten genossen wird. Immerhin mögt Ihr wissen, was darinnen
sein wird.

Ihr holt in der ersten Nacht des abnehmenden Mondes einen Eimer
fließenden Wassers, das über Steine floß, und kocht es über drei
Steinen, aus demselben fließenden Wasser genommen. Von dem kochenden
Wasser mischt Ihr, wenn es wieder kalt geworden ist, in etwas Bier, tut
dazu einiges von der Blume Fatur, nehmt auch neun Fliegen, Erde von dem
Kirchhofe und ein Stückchen von der Haut einer Natter, -- ich kann sie
Euch verschaffen. Diesen Trank laßt Ihr dem Bräutigam reichen.

Da Eure Venne nicht selbst handelnd auftreten soll, so will ich den
Spruch so wählen, daß alles ohne ihr Zutun sich abspielen kann. In
der Nacht darauf, nachdem der Trank gekocht ist, soll ihn Heinrich
Achtermann vorgesetzt bekommen. Ihr aber geht in derselben Stunde unter
einen Ahornbaum und sprecht zugleich, während Ihr in einem von Euch
dort angemachten Feuer stochert, wobei Ihr an Heinrich Achtermann
denkt:

  ›Ahorn du blôte, ik bidde dik dorch dine sote,
  Dat ik moge affbreken unde heime dragen
  Sin barnede leve in Vennes Schragen.‹«

Mit einem leisen Grauen hörte Katharina der Frau zu, die mit dumpfer
Stimme den Spruch hersagte. »Ist es auch wirklich nichts Böses, was
ich da tun soll? Und schadet es den beiden nicht?« fragte sie
ängstlich.

Da fuhr sie jene zornig an: »Nun hört aber endlich auf mit Eurem
Gefasel von ›Schaden tun‹. Ich werde Euch den Trank geben, ob Ihr ihn
dann ausschüttet oder weitergebt, soll mir gleich sein, wenn ich nur
mein Geld bekomme.«




Venne Richerdes wußte nichts von dem, was die gute Katharina ersonnen,
um Heinrich Achtermann unauflöslich an sie zu ketten. Sie saß in ihren
Gram versenkt in dem düsteren Hause und nahm keinen Anteil an dem
Leben außerhalb desselben. Vom Vater hatte sie den verderblichen Hang
geerbt, im Unglück sich in sich zurückzuziehen, sich mit einer Regung
wollüstiger Gier in die Rolle des Märtyrers zu versenken, ohne ihn
wirklich spielen zu wollen. Sie vergaß, daß sie selbst es war, die
eine Mauer um sich aufbaute durch ihr herbes Sichabschließen gegen die
Nächsten.

Die Mitmenschen, die gutherzigen, sind wohl geneigt, uns mit ihrem
Trost beizustehen. Nur wenige von ihnen aber geben sich die Mühe,
hinter dem Wall verbitterten Stolzes das wunde Herz aufzusuchen, es in
die Hand zu nehmen und ihm in gütiger Geduld Heilung zu bringen. Sie
urteilen nach dem Schein: Sie will nichts von uns wissen, also mag sie
für sich bleiben!

Zum Glück für Venne Richerdes lebten ihr aber wahre Freunde in der
Stadt, die sich durch ihre Herbheit nicht abschrecken ließen, sondern
zu ihr durchdrangen und sie, je nach ihrer Gemütsart, durch ruhigen,
sanften Zuspruch oder durch herzhaftes Zugreifen aus ihrem Trübsinn
herauszureißen versuchten. Da war zum Beispiel die gute Immecke
Rosenhagen. Wem die einmal ihr Herz geöffnet hatte, der behielt seinen
Platz darinnen, und die Scheelsucht und Schmähsucht der Welt steigerte
höchstens noch ihre Zuneigung zu dem Mädchen, das es ihr mit seiner
Schönheit, vor allem aber mit seinem freimütigen, gar nicht stolzen
Wesen ihr gegenüber angetan hatte. Jetzt mußte sie ihre Zeit teilen
zwischen dem ›Goldenen Adler‹, wie den unbändigen Enkelkindern und der
einsamen Frau in der Bergstraße.

Ihr gutes Herz erkannte Venne den Löwenanteil zu. Jeden Tag hockte sie
in dem Hause, das jetzt so still dalag, und suchte Venne aufzuheitern
mit drastischem Zuspruch und weichem, lindem Trost. Merkwürdig, selbst
ihre barschen Worte, wenn sie einmal ungeduldig mahnte, jene solle
nun endlich das Kopfhängen lassen, erreichten mehr als vielleicht
die mitleidig klingende Äußerung eines anderen, der aber nach Vennes
Argwohn die innere Wahrheit fehlte.

Bei der alten Dienerin erkundigte sie sich nach vielen Einzelheiten, um
den Schlüssel zu der abgrundtiefen Verzweiflung zu finden, in die Venne
versunken war. Katharina verhehlte ihr nicht, daß ihr Verhältnis zu dem
Verlobten wohl der Hauptanlaß sei, und es entschlüpfte ihr auch wider
Willen eine Andeutung über ihr Vorhaben, zu dem die Gittermannsche
die Hand bot. Immecke war erschrocken und riet dringend ab: »Von der
Frau kommt nichts Gutes. Und was sie Euch vorredet von ihrer schwarzen
Kunst, ist eitel Geschwätz. Ihr nützt nichts, richtet aber vielleicht
großes Unheil an.«

Da wurde Katharina wieder schwankend, denn sie hielt von dem Urteil der
weitgereisten und weltklugen Immecke Rosenhagen viel. Als dann indes
die unheimliche Frau mit ihrem Trank kam, ließ sie sich doch überreden,
ihn ihrer guten Freundin im Hause Achtermann zu geben.

Aber Immecke war nicht die einzige, die sich der armen Venne annahm.
Auch das Haus Hardt bewies ihr in diesen Tagen, wessen wahre
Freundschaft fähig ist.

Seit Jahresfrist weilte auch Gisela von Wendelin in der Stadt am
Harz. Sie hatte liebevollste Aufnahme gefunden im Schoße der Familie
Hardt. Auch der Vater, der Arzt, erschloß ihr bald sein ganzes Herz,
nachdem er kurze Zeit die Fremde, die aus weiter Ferne her, gegen
das Herkommen, Einlaß in die goslarsche Gemeinschaft heischte, etwas
zurückhaltend beobachtet hatte. ›Heischte‹ hieß ihr übrigens unrecht
tun; denn sie kam, obwohl die Liebe ihres Johannes sie umhegte, wie ein
schüchternes, verscheuchtes Vöglein, das sein Nest verloren hat. Gerade
diese hilflose Schüchternheit, die sich der Anmut nicht bewußt war, in
die sie gekleidet, gewann ihr die Herzen im Fluge.

Als Gisela in Goslar eintraf, war im Hause Richerdes noch das Glück
zu Gaste. Zwar siechte die Mutter, aber selbst ihr Leiden wurde
verklärt durch die frohe Erwartung, die sich auf dem Antlitz Vennes
widerspiegelte. Auch der Vater war trotz manchen täglichen Ungemachs
gehobener Stimmung, bestand doch die Aussicht, daß mit dem Verkauf
an die Stadt die Quelle aller Widerwärtigkeiten gänzlich verstopft
werden würde. Dann brach das Unglück über sie herein. Die Bekannten
zogen sich zurück. Freunde, auf die man gerechnet hatte, erwiesen sich
als treulos. Da enthüllte sich die Lauterkeit Giselas am reinsten und
schönsten. War sie schon vorher mit Venne befreundet, so wurde sie ihr
jetzt eine starke Stütze. Sie kannte selbst die Schule des Leides; sie
hatte es an sich selbst erlebt, was es heißt, in der bittersten Not
einsam und verlassen zu sein. Unendliches Mitleid mit der Mitschwester
erfüllte ihr Herz und ließ sie alles versuchen, jene aufzurichten.

Ihr gegenüber sprach Venne auch von Heinrich Achtermann und ihren
Sorgen. Gisela hatte nur Worte zuversichtlicher Hoffnung. »Wenn er Dich
lieb hat, wie Du es sagst, und wenn er so ist, wie Du ihn schilderst,
verstehe ich Deine Bedenken nicht. Er wird Festigkeit genug in sich
fühlen, um auch den Widerstand des Vaters zu besiegen. Nimm aber
auch Du ihm nicht die Hoffnung, daß Du selbst nicht in dem Kampfe
unterliegen wirst. Mir will es scheinen, als ob Deine Zurückhaltung ihn
kränken, in ihm die Meinung hervorrufen muß, daß Deine eigene Liebe zu
erkalten drohe. Wecke diese Stimmung nicht in ihm, es könnte zuletzt
der Trotz in ihm erwachen und dem Vater ein wertvoller Bundesgenosse
werden.«

Venne versprach, ihrem Rate zu folgen, und als Heinrich wieder bei
ihr anklopfte, gab sie sich unter dem Eindruck der Zuversicht, welche
Gisela in ihr geweckt hatte. Heinrich, der unter dem Widerstand des
Vaters und der herben Zurückhaltung der Geliebten in einen Widerspruch
der Gefühle gekommen war, der ihn aufs tiefste bedrückte, atmete auf.
Sie verlebten eine Stunde ungetrübten, reinen Glücks. Und Heinrich
schied von ihr mit dem zuversichtlichen: »Du sollst sehen, meine
einzige Venne, auch uns lacht wieder die Sonne.« Da verdarb die gute
Katharina vollends, was sie ehrlich bemüht war, gutzumachen.




Zu Worms, wo Siegfried um die Burgundentochter gedient und gefreit, wo
Kriemhilde dem meuchlings Erschlagenen dreizehn Jahre nachgetrauert
hatte, ehe sie in ihrem brennenden Schmerze, zur Sättigung ihrer Rache,
sich dem Hunnen Etzel vermählte, zu Worms, der großen Kaiser- und
Reichsstadt, war alles Leben und Bewegung. Wie so oft seit den Tagen,
in denen sich die Rüstungen der reisigen Burgunder in den Fluten des
Rheins spiegelten, war die Stadt ein gewaltiges Heerlager. Aus allen
Gauen des gewaltigen Reiches kamen die Ritter und Herren, die Grafen
und Fürsten, die Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe mit ihrem Gefolge,
ihren Gewappneten und dem Troß ihrer Knechte. In der volkreichen Stadt
fanden längst nicht alle Unterkunft. Man schlug außerhalb ihrer Mauern
Zelte auf, um die Gäste unterzubringen. In den Herbergen und Gasthöfen
herrschte ein Leben, wie es selbst Worms kaum gesehen.

Reichstag! -- Reichstage waren in Worms keine Seltenheit seit
Jahrhunderten. Aber noch nie hatte einer die Welt derart in Spannung
gehalten wie der des Jahres 1521. Eine neue Welt stieg empor. Die alte
stand bereit, ihre Nebenbuhlerin zu bekämpfen und, war es möglich,
zu zertrümmern. Und die Machtmittel der alten waren trotz Verfalls
noch so gewaltig, schrecklich, daß Menschenmut und Menschenkraft
nicht auszureichen schienen, sie zu bezwingen. Woher nun nahm der
unscheinbare Dominikanermönch zu Wittenberg, von dessen Dasein vor
wenig Jahren noch weder Kaiser noch Päpste eine Ahnung gehabt hatten,
den abenteuerlichen Mut, gegen die größten Gewalten der Welt, seitdem
die Menschen sich Fürsten gesetzt und der Autorität einen Thron
errichtet hatten, anzugehen?

Luther betrat eine Bahn, die nur für ihn selbst neu war. Er wurde
in sie hineingestoßen nach schweren, inneren Kämpfen. Nicht
Effekthascherei, nicht die Sucht nach einem deklamatorischen
Theatererfolge führten ihn nach Worms, sondern die kindliche Gewißheit,
sich mit seinem Gott eins zu fühlen, von seinem Geist und Willen
Zeugnis ablegen zu müssen für das lautere Gotteswort, ließ ihn mit
schier fröhlicher Zuversicht den Weg in die Höhle des Löwen antreten.

»Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang!« -- Jeder, der
die Unbekümmertheit kannte, mit der die Gewalthaber der römischen
Kirche über Bedenken irdischer Art sich wegzusetzen gewohnt waren, wenn
es galt, das Erbe Petri zu schützen; wie vor ihrem Willen auch ein
kaiserliches Wort sich bog und gebrochen wurde, mochte die Worte des
wackeren Frundsberg verstehen, als er den armseligen Mönch in den Kreis
seiner Feinde treten sah.

Hätte er freilich die Millionen zu seinem Schutze um sich gehabt,
denen seine Lehre aus dem Herzen gesprochen war, ihm hätte trotz des
Machtaufgebots, das ihn in Worms waffenstarrend erwartete, nicht
bange zu sein brauchen. Nicht nur der gewaltige Kreis der Jünger, bei
denen sein Wort in wenigen Jahren wie eine Fackel gezündet, standen
bereit, sondern die Millionen in allen Ländern des Abendlandes, die
unter dem unerträglichen Joch ihrer Zeit seufzten. Es hatte sich bei
dem armen Bürgersmann wie bei dem Bauern seit Jahrhunderten ein Haß
aufgespeichert, gegen den selbst die sozialen Gegensätze unserer Tage
wie ein Kinderspiel anmuten mögen. Es war der Haß des städtischen wie
des ländlichen Proletariats gegen die Besitzenden, Bevorrechteten,
die Reichen in jeder Gestalt, vornehmlich aber die Geistlichen. Das
›Pfaffenstürmen‹ fand schon lange vor Luther hier und da begeisterte
Anhänger. Schaurig hallten die Verse der Bauern wider, welche durch die
Aufruhrpredigt des ›Pfeiffers von Niklashausen‹ in Bewegung gesetzt
waren:

  »Wir wollen Gott im Himmel klagen,
  Kyrie eleison,
  Daß wir die Pfaffen nit sollen zu Tode schlagen,
  Kyrie eleison.«

Die Kirche wankte indes darum noch nicht in ihren Grundfesten, es waren
Vorgänge von lokaler Bedeutung. Wehe aber, wenn sich der Mann fand,
der alle diese Kräfte auf ein Ziel hin in Bewegung zu setzen verstand!
Und wehe ihr, wenn er zu diesem Haufen verzweifelnder Existenzen auch
noch das Heer derer gesellte, die nicht um irdischer Vorteile willen,
sondern, um ihr Herz von dem inneren Widerstreit der Gefühle zu
befreien, auf den Rufer harrten, der sie anführe zum Kampf gegen die
verrottete Kirche.

Die Schäden hatte auch Ernesti, der kluge und weitgereiste Kaufmann,
erkannt und zugestanden; um den endgültigen Sieg der Kirche war
ihm nicht bange. Und doch erwies sich sein Urteil als kurzsichtig.
Das Klagelied von der Pfaffen Übermut und Üppigkeit, von ihrer
Unbildung und Verrohung, von der Priester wie der Mönche und Nonnen
Unflätigkeiten, dieses Lied, das auch die Päpste zu nennen sich nicht
scheute, erklang allüberall und wurde gern gehört und mitgesungen.

Vielleicht hatten den armen Bergmannssohn zu Eisleben diese Töne schon
umklungen, und sie waren in ihm nachgehallt, als er in brünstigem
Gebet sich in seiner Zelle zu Erfurt wand und um Erleuchtung flehte.
Die Erkenntnis von der Verderbtheit der Diener der Kirche kam ihm,
als er in Rom den Sündenpfuhl sah, in dem jene sich wälzten, und die
Erleuchtung über das, was seine Aufgabe sei, in Wittenberg angesichts
des schamlosen Treibens jenes Ablaßkrämers von Papstes Auftrag, und
durch sein ehrliches, frommes Streben, die Wahrheit zu ergründen. Er
fand sie in seinem Verkehr mit Gott und in dem Worte Gottes, wie es von
den Vätern aufgezeichnet stand. Und im schlichten Vertrauen auf die
Güte seiner Sache folgte er der kaiserlichen Ladung.

Im Januar schon war der Reichstag einberufen, im Frühjahr brach Luther
gen Worms auf. Überall unterwegs fand er die Spuren der Tätigkeit gegen
sich, die der Kaiser eigenhändig gegen ihn gezeigt hatte.

Noch dicht vor Worms warnte ihn sein Freund und Landesvater, der
Kurfürst, er solle umkehren, das Schicksal Hus' würde auch das seinige
sein. Aber: »Ich will hinein, und wenn so viel Teufel auf mich zielten,
als Ziegel auf den Dächern sind.«

Einer der größten Tage der Geschichte brach mit dem 18. April des
Jahres 1521 an, als Luther gegen Abend zum anderen Male, nachdem
er schon tags vorher vor die Reichsversammlung geführt war, in den
bischöflichen Palast geleitet wurde. Im Saale brannten die Fackeln, als
er hineintrat. Vor ihm saß die ganze Herrlichkeit des Reiches und der
Kirche. Der Kaiser mit seinem Bruder Ferdinand, sechs von den sieben
Kurfürsten, achtundzwanzig Herzöge, dreißig Prälaten, viele Fürsten,
Grafen und städtische Abgeordnete.

Am Tage vorher hatte sich an dem Mönche eine gewisse Befangenheit und
Unsicherheit kundgetan; heute, so glaubte man, werde er widerrufen.

Die Spannung war ungeheuer bei allen. Mochte auch der junge Kaiser
verächtlich zum Bruder sagen: »Der soll mich nicht zum Ketzer machen«,
er konnte sich, je länger Luther sprach, dem Eindruck nicht entziehen,
daß ein außergewöhnlicher Mensch da vor ihm stehe, ein Mensch
jedenfalls, der irdische Furcht nicht kannte.

»Der Mönch redet unerschrocken und kühn«, entschlüpfte es ihm während
der Verhandlung wider Willen.

Ja, wahrlich, der Mann hatte nicht Menschenfurcht in sich. Der
Offizial des Erzbischofs von Trier, Johannes Eck, benahm sich durchaus
gemessen und vornehm, als er Luther die formulierte Frage vorlegte.
Man hoffte, wenigstens einen teilweisen Widerruf zu erreichen. Aber
der Mönch dachte nicht an Widerruf. Mehr und mehr gewann seine Stimme
an Zuversicht, je länger der Disput dauerte. Man sah, hier half kein
Disputieren mehr, kein Zureden noch Freihalten eines Rückzugweges für
den Ketzer, hier mußte die Entscheidung klipp und klar gefordert und
gegeben werden. Und so verlangte denn Eck eine bestimmte, deutliche
Antwort. Und Luther gab sie: »Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät und
Ew. Gnaden eine schlichte Antwort verlangen, so will ich eine Antwort
ohne Hörner und Zähne geben ...«

Atemlose Spannung lag auf den Zügen der Versammlung, die meisten
standen, um sich kein Wort, keine Miene des Mannes da vor ihnen
entgehen zu lassen. Verklärte Freude die einen, verbissene Wut die
Gegner auf dem Gesicht, so lauschten sie, bis das Schlußwort kam, jenes
gewaltige, das sich wie ein brünstiges Gebet und Bekenntnis von seinen
Lippen rang: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.
Amen!«

Totenbleich war das Antlitz des kühnen Streiters, als er sich vor der
Versammlung verneigte und den Saal verließ, aber es war nicht die
Blässe der Furcht. Überirdisch leuchtete sein Auge: So blickte nur
einer drein, der nicht Menschenfurcht in seinem Herzen trägt, sondern
der weiß, daß Gott in ihm und um ihn ist.

Gewaltig war der Eindruck seiner Worte auf die Hörer. In vieler Augen
glühte die Begeisterung über den unerschrockenen Gotteskämpfer. In der
äußersten Ecke, wo die Vertreter der Stadt und einige andere Zuschauer
standen, lief ein gedämpftes Flüstern durch die Reihen. »Unglaublich,
dieser Mut«, »herrlich, herrlich«, so klang es aus ihrem Munde.

Unter den Zuschauern stand auch ein gedrungener Mann, an den sich eine
Frau lehnte, von deren Gesicht man wenig sehen konnte. Der Gestalt
nach war es ein junges Mädchen, das sich wohl auf den Vater stützte.
Unentwegt hatte der Mann dem Mönch ins Auge geblickt, solange er
redete; aufmerksam lauschte die Frau. Die Erregung teilte sich auch
ihnen mehr und mehr mit. Bei den letzten Worten durchlief ein Schauer
die Gestalt der Frau. Besorgt legte der Begleiter ihren Arm in den
seinigen. »Laß uns gehen,« schlug er vor, da schon ein Teil der
Zuschauer sich still entfernte, »es greift Dich an, wie ich sehe.«

»Ja, laßt uns gehen«, fiel sie eilig ein und drängte zum Ausgange.

Draußen umfächelte sie die Kühle des Aprilabends; beide atmeten in
tiefen Zügen die frische Luft ein.

Es waren Venne Richerdes aus Goslar und ihr Oheim Ernesti aus Soest,
die hier in Worms auf die Straße traten, um nach ihrer Herberge zu
gehen. »Das ist ein wahrhaft furchtbarer Mann«, unterbrach Ernesti das
Schweigen.

»Sagt das nicht, Ohm«, fiel ihm Venne ins Wort. »Wäre es nicht ein
Ketzer und Ketzerei, was er betreibt, so möchte ich rufen: Welch ein
herrlicher, großer Mann! Sahet Ihr nicht die glühende Begeisterung,
die sich auf seinem Gesicht ausprägte? Merktet Ihr nicht, daß ihm
jedes Wort aus dem tiefsten Herzen kam? -- So spricht kein Lügner und
abtrünniger Mönch, der sich seiner Gelübde um irdischer Vorteile willen
entzieht.«

»Um so schlimmer für ihn und für uns«, antwortete Ernesti fast
feierlich. »Weil er mit den Waffen deutscher Schlichtheit und
Einfachheit ficht, wirkt er um so ansteckender und verheerender. Einem
bloßen Worthelden würde bald der Atem ausgehen und die Gefolgschaft
aufgesagt werden. Wieviel Ärgernis ist durch diesen Mönch schon
über die Kirche gekommen! Das wird er vor dem höchsten Richter zu
verantworten haben, wenn er der irdischen Gerechtigkeit entgeht. --
Aber die Kirche wird doch zuletzt siegen, weil sie von Gott ist«,
schloß er mit fast demselben Wort, das er einst dem jungen Goslarer
gesagt hatte.

»Aber wenn er recht hat, müssen doch seine Gegner sich irren,« fuhr sie
zweifelnd fort, »und Ihr sagt doch selbst, daß seine Schlichtheit Euch
gepackt habe. Mir sollte es leid tun, wenn dieser edle Mönch in dem
Kampf zerbrochen würde.«

»Bist Du auch schon auf dem Wege zu ihm?« fragte er grollend. »Hüte
Dich, solche Gedanken laut werden zu lassen; sie möchten Dir teuer zu
stehen kommen. Denn Du weißt, wir sind aus anderen Ursachen hier, und
die Sache eines Abtrünnigen wird dem gut katholischen Kaiser nicht sehr
am Herzen liegen.«

»Seid nicht böse, Ohm,« lenkte Venne ein, »Ihr wißt, daß ich so gut wie
Ihr treu zur alten Lehre stehe. Aber ich kann doch nicht dafür, daß
dieser Mann aus Wittenberg einen solchen Eindruck auf mich macht. Ich
bin manchmal fast irre an mir selbst. Ich will bei dem Glauben bleiben,
dem ich mich als Kind gelobt habe, in dem Vater und Mutter gestorben
sind; doch sehe ich, wie alles um mich wankt. Denn auch in Goslar
hängen schon viele der neuen Lehre an. Die Masse des Volkes jubelt dem
Reformator zu. In vielen Häusern zerfällt die Familie in Zwiespalt,
weil die einen noch glauben, was die anderen schon ablehnen. Soll ich
da nicht auch schwankend werden. Zu den schweren Sorgen, die mich schon
bedrücken, ist jetzt noch diese Herzenspein hinzugekommen. Oh, rettet
mich doch aus dieser Not oder, wenn Ihr es könnt, befreit mich von
diesem schrecklichen Zwiespalt.«

Ernesti sah sie mitleidig an. »Du tust mir von Herzen leid, mein Kind,
helfen aber kannst Du Dir nur selbst. Mit Deinem Gott mußt Du allein
fertig werden. Nimm Dein Herz fest in Deine Hand, blicke nicht rechts
und nicht links; sage Dir immer wieder: Ich will meinem Glauben treu
bleiben! Und Du wirst die Palme erringen.«

In der Herberge gingen sie bald zur Ruhe, denn sie verspürten keine
Lust, noch an dem lebhaften Meinungsaustausch teilzunehmen, der über
den Mönch und sein Auftreten entbrannt war.




Vieles war in Goslar vor sich gegangen, seit wir zuletzt Gisela
Hardt und Immecke Rosenhagen bemüht sahen, Venne in ihrem Schmerz zu
trösten. Der Rat hatte neue Scherereien mit dem Herzog Heinrich dem
Jüngeren, der aus dem 1519 erneuerten Schutzvertrage die Verpflichtung
für die Stadt ableitete, ihm zur Vollziehung der über den Bischof von
Hildesheim vom Kaiser verhängten Acht Mannschaft und Geld zu liefern.
Sie mischten sich höchst ungern in diese Sache, denn der Rat hatte mit
der Unruhe in der Stadt genug zu tun.

Es gor unter dem gemeinen Volk; die Lehre von Wittenberg war auch
nach Goslar gedrungen, und wenn sie noch keine offenen Anhänger fand,
zeigte sich doch die Wirkung in dem Verhalten der Einwohner gegen die
Pfaffen und die Kirche. Bürger wie Proletarier spotteten laut über
die heiligen Reliquien, die zum Peter-Pauls-Tage feierlich gezeigt
wurden. Den Priestern tönten höhnende Worte in die Ohren, wenn sie
sich sehen ließen, und ein paar Nonnen wurde der Schleier abgerissen
und der Rosenkranz weggenommen, als sie in ihr Kloster zurückkehren
wollten. Der Rat ließ die Täter gefangensetzen, aber die Quelle der
Unruhe war damit nicht verstopft. Auch die Fahrt der Venne Richerdes,
die natürlich nicht verborgen blieb, erweckte Unbehagen. Denn, wenn man
sich auch im Rechte ihr gegenüber wußte, so blieb es doch unbequem, vor
dem Reichstage hingestellt zu werden als eine Stadt, die ihren Bürgern
Unbilliges zumute.

Aber ebenso tief wurzelte in Venne die Überzeugung von ihrem Recht.
Ihr Vater war sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen, dem niemand
nachsagen konnte, daß er fremdes Gut an sich gebracht habe. Auf dem
Sterbebette noch beteuerte er, daß der Rat ihm zu Unrecht die Kaufsumme
vorenthalte, und sie hörte seine Mahnung: »Vergiß nicht, Dir mein Recht
zu holen, daß ich ruhig sterben kann.« Sie hatte zunächst in Goslar
alles versucht, um zum Ziele zu kommen.

Die Rechtslage war zweifelhaft. Der Oheim der Hardts nahm sich ihrer
an und verfocht ihre Sache vor dem Rate, aber er erreichte nichts.
Johannes riet ihr ab, weitere Schritte zu unternehmen; seine Frau
Gisela schloß sich ihm an.

»Du gehst daran zugrunde, Liebste, laß den Streit. Komm zu uns, bis Du
Heinrich angehören darfst.«

Doch Venne blieb eigensinnig bei ihrer Absicht, alle Mittel zu
erschöpfen, um dem Vater ihr Wort zu halten.

Den unmittelbaren Anstoß zu dem Appell an die höchste Stelle im
Reich gab ihr eine jener Äußerungen, die Übelgesinnten so leicht und
schnell vom Munde gleiten. Mit scheinbarem Mitleid, unter dem sich
aber die Schadenfreude nur schlecht verbarg, fragte eine der ewig
lästersüchtigen Nachbarinnen Venne, nachdem sie schon jene über dieses
und jenes auszuforschen versucht hatte, wovon sie denn eigentlich
lebe und weshalb sie sich eine Dienerin halte. Venne, die schon über
die ganze Art der Fragestellerin ungehalten war, gab ihr eine kurze,
ablehnende Antwort. Darauf antwortete jene sehr spitz: »Nun, nur nicht
so hochmütig, Jungfer Obenhinaus, wir haben doch keinen Anlaß, so stolz
zu sein, als Tochter eines Bettlers, der noch dazu die Stadt Goslar um
viel Geld betrügen wollte.«

Venne ließ die Boshafte hochmütig stehen, aber als sie nach Hause
gekommen war, brach ihre mühsam bewahrte Haltung zusammen, und ein
wildes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben: So weit war es also
gekommen, daß man ihres Vaters Ehrlichkeit anzutasten wagte.

Nun gab es kein Besinnen mehr; sie wollte die höchste Stelle im Reich
um ihr Recht angehen. Wieder riet der Oheim Johannes', der Notar,
ab, und auch jener widersprach ihrer Absicht, doch dieses Mal blieb
sie unbeirrbar bei ihrem Vorhaben. Die Ehre ihres Vaters durfte sie
nicht antasten lassen. Die Freunde wußten sich keinen anderen Rat, als
Heinrich Achtermann ins Vertrauen zu ziehen. Er war in der letzten Zeit
mehrmals im Auftrage des Vaters verreist gewesen und hatte deshalb
Venne längere Zeit nicht gesehen. Heinrich zeigte sich sogleich bereit,
auf Venne einzureden, denn auch er lehnte innerlich den Plan ab.

Es war eine leichte Entfremdung zwischen den beiden eingetreten,
die der Verlobte auf die herbe Zurückhaltung Vennes zurückführte,
während diese, in ihrer Empfindlichkeit und in ihrem fast krankhaften
Argwohn, überall Geringschätzung und Ablehnung zu wittern, bei ihm
die ersten Anzeichen dafür zu merken glaubte, daß auch Heinrich den
Einflüsterungen Gehör schenke.

Heinrich gab sich alle Mühe, unbefangen und herzlich zu sein. Auch
Venne konnte sich seiner Aufrichtigkeit nicht entziehen und verlor
allmählich ihre Verstimmung. Als er aber dann auf den eigentlichen
Zweck seines heutigen Besuches zu sprechen kam, nahm sie sogleich
wieder eine kriegerische Haltung an. Was er auch gegen ihre Absicht
anführte, sie kehrte immer wieder zu dem eigensinnigen Einwande
zurück: »Ich habe es dem Vater versprochen und bin es seiner Ehre
schuldig.«

»Venne, tue es mir zuliebe«, bat er sie. »Du schaffst nur noch
Hindernisse für unsere Vereinigung. Der Vater, der im Rat ist und gewiß
an dem Spruch gegen Deinen Vater mitgewirkt hat, wird es sicher als
besondere Kränkung empfinden, wenn Du jenen verklagst. Ich bitte Dich
herzlich, laß ab von Deinem Vorhaben, dessen Erfolg zudem noch sehr
zweifelhaft ist, wie mir auch die Hardts gesagt haben.«

Aber sie blieb unerschütterlich. »Hat Dein Vater gegen uns geurteilt,
so muß er überzeugt werden, daß er unrecht tat. Wenn der Spruch,
wie ich hoffe, gegen die Stadt ausfällt, wird er als Ehrenmann doch
hoffentlich eingestehen, daß er irrte.«

Heinrich sah ein, daß nichts zu erreichen war. Ihm lag daran, mit ihr
noch etwas zu besprechen, was vielleicht sie bewegen konnte, doch von
ihrem Vorhaben abzustehen. Sein Vater hatte nur noch selten mit ihm
über sein Verhältnis zu Venne gesprochen, aber aus allem, was der
Ratsherr sagte, konnte der Sohn klar erkennen, daß derselbe an nichts
weniger dachte als ein Zurückziehen seines Widerspruches.

In der Tat war Achtermann der Ältere mehr denn je entschlossen, das
Verhältnis zu lösen. Einstweilen hoffte er noch, die Zeit werde ihm
zu Hilfe kommen; Heinrich wußte indes, daß der Vater zur Not auch vor
Gewalt nicht zurückschrecken werde. Die beste Hilfe versprach sich der
Ratsherr von einer längeren Trennung der beiden. Und es kam ihm der
Gedanke, Heinrich von Goslar zu entfernen. Seine Geschäfte reichten bis
London, und es war ihm ein leichtes, einen Grund zu finden, der die
Notwendigkeit des Aufenthaltes des Sohnes dort oder in einem anderen,
entfernten Ort auch diesem als berechtigt erscheinen lassen konnte.
Nun hatte er beiläufig mit Heinrich darüber gesprochen, und dieser, der
die wahre Absicht des Vaters durchschaute, stellte Venne vor, daß ihre
Anwesenheit ihm am Herzen liege, um dem Vater gegenüber die Festigkeit
zu bewahren.

Sie war erschrocken, aber ihr Trotz verbot ihr, nachzugeben. »Wenn
Du mich liebst, wie Du beteuerst, wirst Du auch ohne mich dem Vater
widerstehen. Vielleicht kommt Dir der Befehl des Vaters ganz gelegen«,
schloß sie in wieder erwachendem Argwohn.

Da wurde auch der Geliebte zornig. »Du sprichst wie ein ungezogenes
Kind, Venne. Ich habe Dir, denke ich, noch nie den geringsten Anlaß
zu Mißtrauen gegeben. Doch Du machst es mir schwer, unsere Sache zu
verteidigen. Statt bei Dir Unterstützung zu finden in dem Kampf gegen
den Starrsinn des Vaters, setzt auch Du Deinen Trotzkopf auf und
behandelst mich, als hätte ich nicht ein Fünkchen vertrauensvoller
Liebe verdient. Willst Du nicht auf mich hören, so trägst Du die Schuld
an allem, was folgt. Ich gehe jetzt, denn es hat keinen Zweck, gegen
Deine Unvernunft noch länger anzureden.«

Da brach Venne in haltloses Weinen aus, daß Heinrichs Zorn in Mitleid
zerschmolz. Zärtlich umarmte er sie und sprach ihr tröstend zu. »Ist es
denn so schwer, meine gute, süße Venne, das Trotzköpfchen zu beugen?«

»Ach, mein Einziger, sei mir doch nicht böse. Ich bin gewiß oft häßlich
und lieblos zu Dir, aber glaube nicht, daß meine Liebe sich gemindert
hat. Du kannst ja nicht in mein Inneres sehen und weißt nicht, wie ich
unter dieser elenden Lage leide. Laß mich noch diesen einzigen Versuch
machen; dann will ich gewiß nichts mehr von der Sache reden.«

Heinrich sah, daß er nachgeben mußte; so sagte er nur: »Gut, Liebste,
so wollen wir es gelten lassen. Du mußt jedoch damit rechnen, daß Du
mich nicht triffst, wenn Du zurückkehrst. Dann verliere nicht den Mut,
das mußt Du mir versprechen. Ich hoffe, daß wir den Widerstand des
Vaters eher besiegen, wenn ich ihm jetzt zu Willen bin. Sieht er, daß
auch die Trennung unserer Liebe keinen Abbruch tun konnte und bringst
Du vielleicht noch einen Dir günstigen Bescheid mit, so muß er zuletzt
nachgeben.« So endete der Abend mit einer vollen Versöhnung der beiden,
und sie nahmen von einander in alter Zärtlichkeit Abschied.

Venne traf alle Vorbereitungen zur Reise. Johannes Hardt, der
Rechtsgelehrte, hatte ihr gesagt, daß man gegen reichsunmittelbare
Stände, zu denen die Stadt Goslar als Reichsstadt gehörte, bei dem
Reichskammergericht Einspruch und Klage erheben könne. Er riet indes zu
dem schneller wirkenden Mittel, sich an den Kaiser selbst zu wenden,
was in besonderen Fällen anging.

Der Reichstag in Worms war für das Jahr 1521 angesetzt. Dort mußte
sich Gelegenheit bieten, ihre Sache vorzubringen, statt sie vor dem
sehr langsam arbeitenden Reichskammergericht zu Frankfurt am Main
entscheiden zu lassen.

»Habt Ihr einen Fürspruch an dem kaiserlichen Hofe,« sagte Johannes,
»so wird es Euch nicht fehlen, vor den Kaiser gelassen zu werden.«

Wer konnte da besser helfen als der Ohm Ernesti in Soest! Daher
beschloß Venne, den Umweg über Westfalen zu wählen, um jenen dort
aufzusuchen und ihn zu bitten, sie nach Worms zu begleiten.

Ernesti war vor geraumer Zeit in Goslar gewesen und hatte verlauten
lassen, daß er künftig weniger in der Welt umherreisen werde, da das
Alter auch ihn allmählich drücke. Sie durfte also hoffen, ihn zu Hause
zu treffen. Und sie zweifelte nicht, daß er ihretwegen sich noch einmal
der Mühe einer Reise unterziehen werde.

Venne Richerdes reiste ab. Bald nach ihr verließ auch ihr Bräutigam
Goslar. Vor seiner Abreise ereignete sich jedoch noch etwas, was alle
Zukunftspläne über den Haufen werfen sollte. Die alte Katharina hatte
zwischen dem Wunsch, ihrer Venne zu helfen, und dem Zweifel, ob sie
recht tue, der Gittermannschen zu folgen, ihr Vorhaben noch nicht
ausgeführt, obwohl die alte Vettel ihr immer wieder zuredete.

Als sie nun aber erfuhr, daß Heinrich eine große Reise antrete,
schwanden alle Bedenken. Wer wußte, welche Gefahren draußen auf ihn
lauerten, um seine Liebe zu ertöten! Daher besprach sie mit ihrer
Freundin im Achtermannschen Hause alles Erforderliche, und diese gab
dem jungen Herrn den Zaubertrunk. Doch die Wirkung war eine andere,
als Katharina erwartete. Heinrich erkrankte heftig, so daß man an eine
Vergiftung glaubte. Das war es wohl auch in der Tat.

Die alte Magd bei Achtermanns erschrak aufs tiefste, denn sie hing
an Heinrich nicht weniger als Katharina an ihrer Venne. Von Angst
getrieben, bekannte sie, was sie angerichtet habe. Der Vater war außer
sich vor Zorn. Er maß natürlich alle Schuld Venne bei.

»Da siehst Du, mit was für einer Person Du es noch hältst«, höhnte er.
»Wie eine Troßdirne buhlt sie um Deine Gunst. Sie schämt sich nicht des
Umganges mit Hexen und Dunkelmännern. Den Trunk hat ihr gar wohl der
Henker gebraut, zu dem ja alle feilen Dirnen in ihrer Brunst laufen.
Aber die soll mir wiederkommen und auf Deine Hand Anspruch erheben. Vor
das Peinliche Gericht bringe ich sie, den Prozeß lasse ich ihr machen!«
so tobte er.

Der Sohn versuchte, seine Braut zu verteidigen. »Vater, Du tust Venne
gewiß unrecht. Sie weiß, daß sie sich meiner Liebe nicht erst durch
Zauberei zu versichern braucht. Urteile nicht, bis sie selbst sich
verteidigen kann.«

Doch da kam er schlecht an. »Meinst Du, das Weibsbild werde ich noch
eines Wortes würdigen. Für mich ist die Sache erledigt, und wehe ihr,
wenn sie es wagt, an der Vergangenheit zu rühren.«

Heinrich sah ein, daß jetzt nichts zu hoffen war. Nun konnte auch er
allein von der Zeit eine Besserung erwarten. Er war von Vennes Unschuld
überzeugt, aber er grollte ihr doch, daß sie ihn in dieser Stunde, wo
ihr Glück in Scherben zu gehen drohte, allein gelassen hatte. Tief
bekümmert traf auch er seine Anstalten zur Abreise. Er sollte in der
Tat nach London fahren, um am Stahlhof die Achtermannschen Geschäfte
wahrzunehmen. Es galt, sich auf eine lange Abwesenheit einzurichten.
Aber er hoffte, daß bei seiner Wiederkehr die Wetterwolken verzogen
waren. Er würde jedenfalls, das nahm er sich vor, nicht von Venne
lassen.

                   *       *       *       *       *

Der Ohm war bereit, Venne zu begleiten. Auch er entschied sich für
Übergehung des Reichskammergerichtes. »Wenn wir die Sache dort anhängig
machen, ist Aussicht vorhanden, daß vielleicht Deine Enkel einmal
den Entscheid erhalten. Der Gerichtshof ist mit so vielen ungleich
wichtigeren Sachen überlastet, daß sich auf die Akten Deines Prozesses
der Staub von Jahrzehnten lagern würde. Wir wollen also versuchen, in
Worms vorgelassen zu werden. Ist uns das Glück hold, so gelingt es mir,
einen der fürstlichen Prokuratoren des Gerichts zu gewinnen, die ja
selbstverständlich auf dem Reichstage auch anwesend sein werden.«

Obwohl der Reichstag schon Ende Januar eröffnet worden war, kamen
sie doch noch zeitig genug. Zunächst sollten die weltlichen großen
Angelegenheiten erledigt werden. Da galt es zuerst eine Sache des
Herzogtums Württemberg zu behandeln, dessen Herzog Ulrich der
Schwäbische Bund vertrieben hatte; ferner tauchte zum soundsovielten
Male die italienische Frage wieder auf.

Zur Abwechselung hielt diesmal der Franzosenkönig Franz I., einer der
Mitbewerber Karls um die Kaiserkrone, das Reichslehen Mailand besetzt.
Das bedeutete eine Minderung des kaiserlichen Ansehens, die der junge
Kaiser nicht hinnehmen wollte. Gegen eine entsprechende Gegenleistung
bewilligten ihm die Kurfürsten zwanzigtausend Mann Fußvolk und
viertausend Reiter zu einem Römerzuge. Für den Kaiser aber stand im
Vordergrunde die religiöse Frage.

Karl V. stand zu dem Vorgehen Luthers anders als sein Vorgänger.
Maximilian I., der 1519 starb, hatte die Anfänge der Reformation
erlebt. Er fühlte eine gewisse Schadenfreude darüber, daß der römischen
Kurie, mit der er nicht besonders stand, durch den Mönchshader
eine große Verlegenheit erstand. Den Mönch Luther gegen den Papst
auszuspielen, das war die kaiserliche Politik.

Anders Karl. Er empfand den gewaltigen Zulauf, den der Wittenberger
überall fand, als persönliche Kränkung. Zudem darf nicht vergessen
werden, daß er, ehe er deutscher Kaiser wurde, König war des streng
katholischen Spaniens. Nun war der Mönch gehört worden, er hatte nicht
widerrufen. Leider mußte man ihn auf Grund des kaiserlichen Wortes
ziehen lassen. Aber schon am 8. Mai erfolgte durch das Wormser Edikt
seine Ächtung.

Während Luther auf dem Heimwege von Reisigen des Kurfürsten
aufgegriffen und auf die Wartburg entführt wurde, gingen in Worms
die Verhandlungen weiter. Noch immer kam Venne Richerdes nicht an
die Reihe. In ihrer Herberge wohnte auch der Geheimschreiber des
Bischofs von Hildesheim, ein Herr von Woltwiesche, der mit einigen
Domherren beim Kaiser wegen Aufhebung der kaiserlichen Acht vorstellig
werden sollte. Der Geheimschreiber war ein Mann von bestrickender
Liebenswürdigkeit und weltmännischer Gewandtheit.

Die schöne Goslarerin machte auf ihn vom ersten Augenblick an einen
tiefen Eindruck. Er hatte bald erfahren, was sie nach Worms führte, und
bot ihr seine Unterstützung an zur Förderung ihrer Sache. Insonderheit
erklärte er sich bereit, ein Gesuch an den Kaiser abzufassen für
den Fall, daß sie nicht Gelegenheit finde, ihre Sache persönlich
vorzutragen.

Ernesti sprach die bestimmte Erwartung aus, daß dies doch möglich
sein werde; immerhin konnte es nichts schaden, wenn der Fall auch
schriftlich geschickt behandelt wurde. Der Geheimschreiber beeilte sich
also, das Gesuch niederzuschreiben, und der Ohm gestand Venne, daß es
ein Meisterwerk in seiner Art sei. Venne nahm diese Dienste des Herrn
von Woltwiesche mit gemischten Gefühlen an. Ihr gefiel der Mann nicht
recht, trotz aller höflichen Zuvorkommenheit. Sie fing hin und wieder
einen Blick von ihm auf, der voll glühender Begier zu sein schien.
Freilich versuchte er immer sogleich mit einer harmlosen Wendung seine
Ungebühr zu bemänteln. Nie vergaß er bei einem Wort, das er an sie
selbst richtete, die Form peinlichster Höflichkeit und Ritterlichkeit.

Endlich kam der große Tag für Venne.

Sie war sehr befangen, als der Augenblick nahte, da sie vor den
mächtigsten Herrscher des Abendlandes treten sollte. Der Oheim sprach
ihr Mut zu, und auch Herr von Woltwiesche suchte sie zu beruhigen.

Der Kaiser hatte einen leidenden, gequälten Zug im Gesicht. »Was will
dieses Volk der Deutschen eigentlich alles von mir?« so konnte man
seinen müden Blick deuten. »Will es mich schon auf diesem einen und
ersten Reichstage, den ich abhalte, mit seinen Angelegenheiten zu Tode
quälen?« Immerhin bot die Sache eine Abwechselung, da zum erstenmal
eine Frau als Beschwerdeführerin auftrat.

Ein Prokurator unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der Beschwerde.
»Also soll sie reden!« ordnete er an. Aber zunächst ergriff Ernesti das
Wort. Der Kaiser blickte erstaunt auf: »Wer ist der Mann?« -- Ein neben
ihm Sitzender, es war der Kurfürst-Erzbischof von Mainz, flüsterte ihm
zu, es sei ein sehr einflußreicher Deutscher, der auch dem hochseligen
Herrn Maximilian wohlbekannt gewesen und ihm manche wichtige Dienste
geleistet habe. Geduldig hörte Karl ihn an. Dann erhielt Venne das
Wort.

Während der Rede ihres Oheims hatte sie Zeit gefunden, sich zu sammeln.
Aber noch jagten sich Erröten und tiefe Blässe auf ihrem Gesicht, als
sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.

Der Kaiser sah sie unverwandt an, und seine Ratgeber merkten, daß ihm
die schöne Frau offensichtlich gefiel. Frei blickte auch Venne dem
Mächtigen ins Gesicht. Mehr und mehr gewann ihre Stimme an Festigkeit.
Sie schilderte die Demütigungen, die ihr widerfahren, die Armut, der
sie durch das Verhalten des Rates von Goslar ausgeliefert sei. Zuletzt
schwoll ihre Stimme zu edler Entrüstung an.

»Also klage ich den Rat der Stadt Goslar und insonderheit den
Bürgermeister, Herrn Karsten Balder, an, daß sie mir und meinem Vater
gegenüber fleißig und absichtlich das Recht gebeugt haben, auch üble
Nachrede über meinen ehrenwerten Vater und mich ungehindert haben
verbreiten lassen.

Ich bitte Euch, Großmächtigster Herr Kaiser,« schloß sie endlich,
»Ihr wollet mir armen Waise Euren gnädigen Schutz nicht versagen
und dazustehen, daß mein Recht gewahrt und meines Vaters Ehre
wiederhergestellt werde.«

Mit einer tiefen Verneigung trat sie einige Schritte zurück. Der
Kaiser blickte ihr einige Augenblicke sinnend nach. Dann besprach
er sich kurz mit seinen Räten. Man sagte ihm, die Sache sei wohl
juristisch nicht ohne weiteres zugunsten der Bittstellerin zu
entscheiden; indes die Verdienste ihres Ohms und die Gutgläubigkeit
bei den Vertragsverhandlungen, bei denen der Vater jedenfalls ohne
Arglist vorgegangen war, wie auch endlich der Umstand, daß durch den
Kauf des Richerdesschen Bergwerksanteils die reiche Stadt Goslar
nicht wesentlich geschädigt werde, zumal man ja nicht wissen könne,
ob nicht trotz der augenblicklichen Lage doch noch bergbauliche Werte
darin enthalten seien, alles dieses lasse es mindestens zu, dem Rate
dringend zu empfehlen, die Sache erneut zu prüfen und in einer die
Erbin befriedigenden Weise zu Ende führe.

Karl war über diesen Vorschlag erfreut; es hätte ihm leid getan, die
kühne und schöne Bittstellerin abschlägig bescheiden zu müssen. Mit
leutseligen Worten eröffnete er ihr das Ergebnis, gleichzeitig mit dem
Bedeuten, daß sie die schriftliche Ausfertigung schon in aller Kürze
aus der kaiserlichen Kanzlei erhalten könne. Außerdem werde der Rat
noch durch ein besonderes Schreiben unterrichtet werden.

Voll innigen Dankes eilte Venne zum Kaiser vor, kniete vor ihm nieder
und küßte ihm die Hand mit dem großen Siegelring. Karl war überrascht,
doch lächelte er ihr huldvoll zu; die Beisitzer blickten ebenso
sprachlos drein: so etwas war angesichts der strengen Etikette bis
dahin unerhört. Aber auch sie fanden sich mit dem hübschen Zwischenfall
ab.

Aufatmend verließ Venne den Saal. Draußen fiel sie in überströmendem
Dank dem Oheim um den Hals. »Das habe ich Euch in erster Linie zu
verdanken, teurer Oheim!«

»Nun, nun, diese Form der Danksagung lass' ich mir schon gefallen;
doch ich glaube,« fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, »Dein
spitzbübisch hübsches Gesicht hat auch ein wenig Anteil an dem Siege.
Und dann vergiß auch hier den Herrn von Woltwiesche nicht, der uns
manch trefflichen Wink gab!« -- So reichte sie auch diesem die Hand.
Ehrerbietig neigte er sich darüber und flüsterte mit leiser, heißer
Stimme: »Wollte Gott, ich dürfte noch mehr für Euch tun. Mein Leben
sollte ein einziges Dienen um Eure Huld sein.« Da wandte sie sich
verletzt von ihm ab.




Venne trat die Rückreise mit wesentlich leichterem Herzen an, als
sie nach Worms gekommen war. Mit dem Spruche des Kaisers, so meinte
sie, war alles Unheil ausgetilgt. Nun mußte auch der stolze Patrizier
Achtermann seine Bedenken gegen eine Verbindung seines Sohnes mit ihr
aufgeben. Die Wolken, die so düster und unheilschwanger über ihrem
Haupte hingen, begannen sich zu zerteilen! Ihre Gedanken eilten zu
Heinrich: Wo mochte er wohl sein, wenn sie zurückkehrte? Sie gestand
sich ein, daß sie ihm doch wohl oft unrecht getan habe mit ihrer ewigen
Verärgertheit, und sie nahm sich vor, ihn durch verdoppelte Liebe zu
entschädigen.

Bis Frankfurt reiste sie zusammen mit dem Oheim. Dann nahm er Abschied
von ihr, um durch das Rheintal den nächsten Weg in die Heimat zu
suchen. »Jetzt herrscht hoffentlich bald wieder gut Wetter in Goslar«,
scherzte er. »Übers Jahr spätestens hoffe ich eine Einladung zu Deiner
Hochzeit zu erhalten.« Errötend nickte ihm Venne zu, er traf ja mit
seinen Worten nur ihre eigenen, innigsten Wünsche!

Vor der Abreise empfahl er seine Nichte dem Schutze ihrer
Reisegefährten, besonders dem des Hildesheimers. Woltwiesche beeilte
sich, zu versichern, daß er sein möglichstes tun wolle, um ihr die
Reise so bequem wie möglich zu machen. Er werde auch den kleinen Umweg
über Goslar nicht scheuen, um sich zu überzeugen, daß sie heil und
unversehrt zu Hause angelangt sei.

Die Reisegesellschaft war klein. Neben dem Bischöflichen bestand
sie aus einigen Kaufleuten und dem alten Ratsherrn Bertold Sachs
aus Magdeburg. Dieser würde den Weg mit ihr bis fast in die Heimat
zurücklegen. Das war Venne ein wahrer Trost.

Sie wollte dem Oheim nicht ins Wort fallen, als er den Geheimschreiber
im besonderen zu ihrem Ritter ernannte. Ohne sich im einzelnen über
das Gefühl ihrer Abneigung Aufschluß geben zu können, konnte sie doch
diese innere Ablehnung des ganzen Mannes nicht loswerden. War es sein
geschniegeltes, geziertes Wesen, stieß sie seine übergroße, fast devote
Höflichkeit ab? -- Sie wußte es nicht, aber sie war willens, sich ihm
so fern zu halten, wie es möglich sei. Deshalb schloß sie sich auch vom
ersten Tage an mehr dem Ratsherrn an, dessen väterlich gütiges Wesen
ihr Vertrauen weckte.

»Sahet Ihr auch den Wittenberger?« brachte er am ersten Tage das
Gespräch auf die Wormser Vorgänge. Venne bejahte und gab ihrer
Bewunderung für den unerschrockenen Mönch Ausdruck.

»Euch hat es vor allem, wie es scheint, sein Mut angetan. Der war auch
zum Verwundern groß; ich weiß freilich nicht, ob er sich der Gefahr
bewußt gewesen ist, in die er sich begab. Er soll ja, so hört man,
freies kaiserliches Geleit zugesichert erhalten haben; indes wundern
würde es mich nicht, wenn der Mann seine Heimat nicht wiedersieht.«

»So meint Ihr, daß der Kaiser ihm das Wort nicht hält?« fragte sie
erschrocken, denn ihrem Herzen gab es einen Stoß, daß derselbe Mann,
der sich ihr so gnädig und gütig erwiesen hatte, in diesem Falle gegen
seine Ehre handeln könne.

»Der Kaiser braucht es nicht zu sein,« fuhr der Magdeburger fort. »Es
gibt ihrer auch ohne den Kaiser genug, die ihm das Leben nicht gönnen
werden, ja sie sind seine Todfeinde. Und ehe sie ihre Macht durch
einen armseligen Mönch zertrümmern lassen, werden sie ihn selbst zu
beseitigen suchen. Den Kaiser braucht darob nicht einmal der geringste
Vorwurf zu treffen; denn wie soll er es verhüten, daß in seinem weiten
Reiche ein Menschlein verschwindet. Schade freilich wäre es um diesen
Mann.«

»So seid Ihr auch der Meinung, daß er eine gute Sache vertritt?«
forschte sie.

»›Auch‹, -- demnach hat er es Euch also angetan?« -- Venne errötete ein
wenig, aber der Ratsherr kam ihr zu Hilfe. »Ihr braucht Euch ob Eurer
Teilnahme nicht zu schämen, noch weniger bedarf sie der Erklärung. Wer
einer Wallung in seiner Brust fähig ist, dem mußte das Herz bewegt
werden bei so viel tapferem Freimut und glühender Begeisterung. Ob er
irrt, wer mag es wissen; aber heilige Überzeugung sprach aus jedem
seiner Worte, und seine Worte haben die Herzen derer gepackt, die ihn
hörten, es sei denn, daß sie sich mit Fleiß dagegen verhärteten.«

»Das trifft auch auf den Oheim Ernesti zu, wie ich merkte«, fügte Venne
schüchtern ein. »Er war ganz wild, als ich ihm zu erkennen gab, daß der
Luther mich erschüttert habe.« Und dann erzählte sie, wie jener ihre
Begeisterung für Luther aufgenommen habe.

»Das glaube ich,« erwiderte Sachs, »hätte es bei ihm, den ich auch
kenne, nicht anders erwartet. Er ist ja aber auch mit dem Papst und
seiner Sache besonders eng verbunden, wie ich weiß. Und den rechten
Starrkopf hat er obendrein.

Endlich aber ist er, das wollet nicht vergessen, einer von den Alten,
die so leicht nicht umlernen. Mir ist's ähnlich gegangen: Man wirft
nicht ohne weiteres über Bord, woran man ein langes Leben sein Herz
gehängt. Und vollends nun, wenn es das Beste, Heiligste ist, auf das
man in dieser irdischen Kümmerlichkeit seine Hoffnung setzte.

Ihr Jungen springt vielleicht mit Jauchzen in das neue Land, aber wir
Abgängigen zaudern, den einen Schritt zu tun, der uns Befreiung bringen
kann von aller Unwahrhaftigkeit und Seelennot, der uns aber auch trennt
von all dem, was uns an das alte Gestade kettet.

Mir ging ein treues Weib dahin, sie starb im alten Glauben. Wir
begruben gemeinsam drei prächtige Kinder. Es war der Trost meiner
Lebensgefährtin in ihrer Todesstunde, daß sie da oben ihre Lieblinge
wiederfinden würde. Sie wartet auf mich mit gleicher Zuversicht. Soll
ich sie, darf ich sie enttäuschen? Scheide ich mich für ewig von ihnen,
wenn ich den neuen Glauben annehme? Meine Seele drängt zu Luther, mein
Herz bebt zurück vor der möglichen Trennung. Wer löst mich von der
Pein?«

Wer löst mich von der Pein? -- Das war auch die Last, die ihr eigenes
Herz bedrückte: Der Vater, die Mutter, sie hatten nacheinander den
Pilgerstab aus der müden Hand gelegt und waren durch das dunkle Tor
gegangen, das ihnen, wie sie glaubten und hofften, das Wiedersehen
in einer lichten Welt schenken würde. Und sie, die Tochter, sollte
sie nicht zur Seite ihres Mütterleins stehen, nicht mit dem geliebten
Vater die seligen Freuden des Jenseits genießen dürfen? Und noch ein
irdisches Bangen hemmte ihren Entschluß: Der Geliebte. Die Achtermanns
hingen noch mit aller Zähigkeit am alten Glauben, und Heinrich? Ja,
Heinrich liebte sie, und sie hoffte, in Worms die Hindernisse aus dem
Wege geräumt zu haben, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellten.
Errichtete sie nicht eine neue, unübersteigbare Schranke, wenn sie der
Regung ihres Innern nachgab? Und dann auch wieder der Zweifel: War das
nun auch der rechte Weg? Freilich, gedachte sie der feurigen Worte des
Mönches, sah sie seinen weltentrückten Blick vor sich, so fühlte sie
sich als seine Jüngerin, und auch in ihr klang es wieder: »Ich kann
nicht anders, Gott helfe mir! Amen!«

Der Ratsherr sah die Kämpfe in ihrem Innern; das junge Weib dauerte
ihn, aber Hilfe konnte auch er ihr nicht bringen. »So ist es nun,«
murmelte er, »Licht will er uns bringen, Erlösung, der Feuerkopf, und
stürzt uns doch in das Dunkel der Herzenskämpfe!« Und er ritt, in
ernste Gedanken versunken, fürbaß.

Venne und ihre Begleiter waren eine geraume Zeit nach Luther von Worms
aufgebrochen. Er saß längst auf der Wartburg in sicherm Gewahrsam, als
man ihn im Reich noch frei wähnte.

In der Umgegend des Überfalls aber, der von Freunden zu seiner
Sicherheit ausgeführt wurde, lief das Gerücht um, der Mönch sei
aufgehoben und fortgeführt worden, von den Kaiserlichen natürlich, oder
Papisten, so wähnte man. Andere wieder mutmaßten, es sei eine Finte,
die von Freunden und Gesinnungsgenossen ins Werk gesetzt worden sei, um
die Feinde irrezuführen.

Auch die Reisenden erreichte das Gerücht, als sie sich der Grenze des
Hessenlandes näherten. Venne war tief niedergeschlagen. Sachs seufzte
auf.

»So haben sich meine Befürchtungen schneller erfüllt, als ich annahm.
Schade um den Mann! -- So schnell also erlosch das Licht, das uns in
der Finsternis aufging!«

Bei Venne brach sich der Zorn Bahn. »Das ist abscheulich vom Kaiser,
wenn er es veranlaßt hat. Nie hätte ich ihm diese Doppelzüngigkeit
zugetraut!«

»Es muß ja nicht der Kaiser gewesen sein«, begütigte der Ratsherr. »Ich
sagte Euch: die anderen, die Päpstlichen, sind ihm noch viel ärger
gram. Endlich bleibt noch die geringe Hoffnung, daß ~die~ recht
haben, die da meinen, nicht Feinde, sondern gute Freunde hätten ihn zu
seinem Besten den Streich gespielt. Möge es so sein,« schloß er, »sonst
ist der Menschheit ein großer Verlust widerfahren.«

»Möchte es so sein!« -- das wünschte auch Venne in ihrem Herzen, und
ihr Gebet am Abend schloß mit der innigen Bitte: »Lieber Gott, erhalte
uns den Mann und errette ihn vor seinen Widersachern!«

                   *       *       *       *       *

Während der ersten Tage war der bischöfliche Schreiber durchaus der
aufmerksame Reisemarschall, der sich bemühte, der ihm Anvertrauten das
Reisen so angenehm wie möglich zu machen. Aber als in Fulda einige
der Reisegefährten zurückblieben und sie nunmehr auf den alten Sachs
aus Magdeburg neben Woltwiesche angewiesen war, von dem Diener des
Ratsherrn abgesehen, änderte sich sein Benehmen. Daß er den ganzen Tag
über fast unausgesetzt an ihrer Seite zu bleiben suchte, konnte er mit
dem Auftrage des Oheims begründen, auf seine Nichte Obacht zu geben.
Doch er mißbrauchte jede Gelegenheit, um ihr seine Gefühle für sie
immer eindeutiger zu zeigen. Für eine andere hätte vielleicht diese
Art der Huldigung seitens des adligen Schreibers einen Reiz gehabt,
aber Venne, der auch der ganze Mann widerstand, empfand sie als eine
Belästigung. Als er ihr dann eines Tages unverblümt seine Neigung
gestand, ließ sie ihn sehr ungnädig ablaufen.

Ihre Ablehnung aber stachelte seine Glut noch mehr an. »Was habt
Ihr gegen mich?« fragte er. »Kann ich Euch nicht ein angenehmes
Leben bieten mit einer Stellung, welche die Eurige in Goslar weit
überragt? Und es muß Euch doch auch daran liegen, aus der leidigen
Stadt herauszukommen, wo Euch alles auf Schritt und Tritt an erlittene
Kränkungen erinnert. Folgt mir nach Hildesheim, Ihr werdet es nicht
bereuen.«

»Spart Eure Worte, Herr von Woltwiesche, sie sind vergebens gesprochen,
und sie beleidigen mein Ohr. Wollt Ihr aber den Hauptgrund meiner
Ablehnung wissen, so denkt an die Äußerung meines Oheims. Ihr wißt, ich
bin verlobt, und Ihr habt die Rechte eines Dritten zu achten.«

»Der Teufel hole diesen Dritten, der Euch mir vorweg stahl. Hat er sich
um Euch gekümmert, als Ihr in Worms um Euer Recht kämpftet? Ich stand
Euch zur Seite, ~er~ nicht!« antwortete er grollend.

»Es ist nicht vornehm von Euch gehandelt, mir Eure Dienste, die ich
zudem nicht beansprucht habe, so ins Gesicht zu rühmen. Aber meinem
Bräutigam tut Ihr unrecht. Hätte er gekonnt, so würde er gewiß dort
nicht gefehlt haben. Doch er ist zur Zeit außer Landes«, wies sie ihn
zurecht.

»Ha, ha, ha,« lachte der Schreiber höhnisch, »das ist mir der rechte
Liebhaber, der auf Reisen geht, während die Braut um ihr Leben kämpft!«

Zornig fiel ihm Venne ins Wort: »Was erfrecht Ihr Euch, Herr, so
über den Mann zu sprechen, dem ich verlobt bin! Was wißt Ihr von den
Gründen, die ihn fernhalten? Dankt Eurem Schöpfer, daß er nicht hier
ist, Eure Rede würde Euch schlecht zu stehen kommen.«

Da in diesem Augenblick der Ratsherr, der vorangeritten war, hielt,
um sich nach ihr umzusehen, brachen sie das Gespräch ab, der
Geheimschreiber voller Unwillen, über Venne wie über den Störenfried.
Sie hielt sich künftig, soweit das ging, noch mehr in der Nähe des
älteren Begleiters. Der Schreiber erkannte ihre Absicht und knirschte
mit den Zähnen, voller Wut, daß seine Absicht durchkreuzt wurde. Er
war durch die Worte Vennes nicht abgeschreckt, sondern wartete nur auf
einen günstigen Augenblick, um seine Pläne wiederaufzunehmen.

Diese Gelegenheit bot sich erst einige Tage später, als man schon in
die Nähe des Harzes gekommen war. Unversehens drängte er sein Pferd
an das ihrige, und als sie es, unwillig über die erneute Frechheit,
antrieb, fiel er ihr in den Zügel.

»Ihr müßt mich anhören, und Ihr werdet mich hören«, sprach er
entschlossen und mit wildglühendem Blick.

Venne war erschrocken über die lodernde Gier, die ihr aus seinem Auge
entgegenfunkelte; doch sie bezwang ihre Furcht und fragte spöttisch
lächelnd: »Habt Ihr an der Absage von neulich noch nicht genug? Ich
meine, Eure Würde als Edelmann sollte Euch abschrecken, eine neue
Demütigung zu erleiden.«

Aber unbeirrt fiel er ihr ins Wort: »Laßt den Hohn, Venne, Ihr wißt
nicht, welch gefährlich Spiel Ihr treibt. Ihr habt es mir angetan, daß
ich nicht von Euch lassen kann. Könntet Ihr in mein Herz sehen, so
würde Euch mein jämmerlicher Zustand allein schon Mitleid einflößen.
Stoßt mich nicht zurück, Venne, Ihr treibt mich sonst zum Äußersten.«

»Ich kann meinem Herzen nicht gebieten, daß es Euch gewogen sein soll«,
wehrte Venne ab. »Schämt Euch, daß Ihr Euch von einer flüchtigen Regung
des Augenblicks so knechten laßt, um darüber zu vergessen, was eines
Mannes und Ritters würdig ist.«

In ihrer Entrüstung erschien sie ihm nur noch schöner und
begehrenswerter. Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er verlor die
Besinnung über sich.

»Was schiert mich Rittertum, was Manneswürde, Dich will ich haben,
Du schönstes Weib!« Damit beugte er sich zu ihr herüber und riß sie
an sich. Venne fühlte seine Lippen auf ihrem Munde brennen. Aber im
nächsten Augenblick riß sie sich los. Zornbebend blitzte sie ihn an und
schlug ihn mit der Reitgerte ins Gesicht. »Schuft!« rief sie ihm zu,
dann sprengte sie davon zu den übrigen.

Einen Augenblick war der Gezüchtigte wie betäubt, dann aber brannte ihn
die Schmach, die er erlitten. »Das sollst Du mir büßen, Teufelsweib!
Verschmähst Du meine Liebe, so soll Dich meine Rache um so sicherer
treffen!«

Den Ratsherrn bat Venne, mit ihr künftig allein weiterzureisen, da der
Geheimschreiber sich ungebührlich gegen sie benommen habe. Sachs wollte
jenen zur Rede stellen, aber Venne hieß ihm, davon abzulassen. »Wir
wollen voranreiten, er wird uns nicht folgen.« So geschah es.




Bei ihren Freunden und besonders bei der alten Katharina herrschte
freudige Überraschung, als Venne in Goslar wieder eintraf. Kurz vor dem
Ende ihrer Reise erlebte sie noch ein Abenteuer, das sich böse anließ,
aber doch harmlos verlief. Sie hatte für den letzten Teil des Weges
Gesellschaft und Schutz an einer Anzahl von Reisenden gefunden, die
über Goslar weiter nach dem Osten wollten.

Jenseits des Städtchens Seesen, wo die Straße am Fuße der Harzberge
dahinzog, wurden sie plötzlich am hellen Tage von bewaffneten Reitern
angehalten. Da die Angegriffenen sich zur Wehr setzten, wäre es gewiß
zu einem Blutvergießen gekommen. Als die Männer noch in erregtem
Wortwechsel begriffen waren, trat plötzlich ein neuer Ankömmling
auf, der sich durch seine Kleidung von den Angreifern vorteilhaft
unterschied. Überrascht sah er auf die schöne Frau, die erblaßt
inmitten des Tumultes stand.

Er war der Anführer oder besaß jedenfalls das Ansehen eines solchen,
denn bei seinen ersten Worten gehorchten die wilden Männer sogleich.
»Hört auf«, befahl er. »Die Leute sollen ungestört weiterziehen.«

Als einer der Räuber nicht sogleich von seiner Beute abließ, fuhr er
ihn mit harten Worten an:

»Wirst Du Schuft gehorchen, oder willst Du meine Klinge spüren?«

Sofort stand der Mann von seinem Vorhaben ab. Die Wegelagerer sahen
sich erstaunt an: Was war denn in ~den~ gefahren? Das war ja das
erstemal, daß er ihnen einen schon gelungenen Fang entgehen ließ. Sie
murrten leise untereinander, aber, ihm gegenüber an blinden Gehorsam
gewöhnt, zogen sie ab.

Die Reisenden wollten für die unerwartete Hilfe danken, doch er wehrte
ihnen ab. Sein Auge hing immer noch an Venne: »Vergebt, schönes
Fräulein, so darf ich Euch doch nennen, daß Ihr die Belästigung
erleiden mußtet; haltet es dem Mangel an Umgang mit Damen zugute, wenn
sie sich ungeschliffen und tölpelhaft benahmen. Aber Ihr seht ja, es
sind im Grunde nur ungeleckte Bären.«

Nun die Gefahr vorüber war, gewann auch Venne ihre Fassung wieder. Die
Sache kam ihr beinahe belustigend vor, und sie antwortete mit einem
Lachen: »Ich möchte aber doch diesen Bären nicht begegnen, wenn ihr
Führer fehlt. Euch gebührt jedenfalls mein Dank, daß Ihr Euch zur
rechten Zeit einfandet, um sie tanzen zu lehren statt zu brummen. Doch
ist es nötig, daß ich meinen Dank an Herrn ›Niemand‹ richte, oder darf
man Euren Namen wissen, ohne neugierig zu sein?«

»Wollet gestatten, Fräulein, daß ich für Euch der Herr ›Niemand‹
bleibe. Was ist ein Name? Ich führe ihrer viele. Der eine aber, den ich
Euch nennen könnte, würde Euch wahrscheinlich schrecken. Also begnügt
Euch mit dem Bewußtsein, daß Ihr einem Abenteuer anheimfielet, bei dem
ein Unbekannter Euch geringe Dienste leisten konnte, ein Unbekannter,«
fuhr er leiser fort, »dem es Eure Schönheit auf den ersten Blick antat
und der vieles darum geben würde, könnte er Euch einmal in einer
wirklich großen Not beistehen. Ich will nicht hoffen, daß ein solcher
Augenblick eintritt. Aber habt Ihr einen Helfer nötig, so ruft mich,
und ich bin zur Stelle.«

Venne hörte dem Unbekannten mit einer gewissen Neugier zu. Merkwürdig,
die freimütige Art, in der er ihr huldigte, verletzte sie nicht
annähernd so, wie die zierlichen Redewendungen des Herrn von
Woltwiesche es von Anfang an getan hatten. Sein offener Blick schien
trotz des düsteren Handwerks, mit dem er in Verbindung stand, nichts
Falsches zu kennen. Als er geendet hatte, sagte sie, immer noch in
einem fröhlichen, freundlichen Ton: »Aber wo finde ich denn den Herrn
Unbekannt, wenn ich ihn nötig habe?«

Der Fremde neigte sich zu ihr: »Dann fragt nur bei den Brüdern im
Kloster zum Grauen Hofe nach; dort wird man Euch bescheiden können.
Ihr seht also,« schloß er scherzend, »ich bin nicht immer in so
verwahrloster Gesellschaft.«

Als Venne den Goslarer Freunden von ihrem Abenteuer berichtete, wobei
sie das Verhalten des Führers, oder was er gewesen, rühmend hervorhob,
sagte Johannes Hardt sogleich: »Das war Hermann Raßler. Der hat
gewiß geglaubt, uns wieder einen Tort antun zu können. Und Du darfst
froh sein, daß Du als Goslarerin so glimpflich davonkamest.« Venne
widersprach: »Ich glaube, daß er mich auch gleich ritterlich behandelt
haben würde, hätte er gewußt, wer ich bin.«

Die Freude über ihre glücklich erfolgte Heimkehr erlitt einen jähen
Stoß, als sie von dem Unfall hörte, der Heinrich Achtermann vor seiner
Abreise betroffen hatte. Und sie war vollends entsetzt, als sie die
Einzelheiten vernahm, die ihn herbeiführten. Tränen der Scham und
der Verzweiflung füllten ihre Augen. »Wie konntest Du mir das antun,
Katharina! Nun ist alles aus zwischen Heinrich Achtermann und mir. Was
wird er gedacht haben, daß ich ihn an mich kuppeln wollte, wie eine
feile Dirne sich ihren Liebhaber sichert!«

Katharina war untröstlich über den Schmerz, den sie, die es doch so
gut gemeint hatte, ihrer Herrin bereitete. »Aber ich habe ja längst
versucht, die Sache richtigzustellen und will gern mit dem Ratsherrn
selbst sprechen, wenn Du es verlangst«, wimmerte sie.

Doch Venne wehrte ab: »Laß um Gottes willen Deine Hände davon. Du
würdest nur noch mehr verderben, als schon geschehen ist. Was noch zu
tun ist, liegt mir selbst ob.«

Entrüstet und bekümmert erzählte sie den Hardts, was Katharina
angerichtet habe. Diese hatten davon noch nichts gehört. Achtermann
mußte also verboten haben, darüber zu sprechen. Johannes wollte darin
ein günstiges Zeichen sehen, doch Venne teilte diese Auffassung nicht.
»Ihr kennt den Mann nicht in seinem Starrsinn, der an Bosheit grenzt.
Wäre wenigstens Heinrich da, daß ich mich vor ihm rechtfertigen könnte,
dann möchte es sich vielleicht noch zurechtgeben. Aber aufgeklärt
werden muß die Sache, und da ich beschuldigt bin, werde auch ich selbst
diese Aufklärung herbeiführen.«

Daneben erhob sich die Frage, wie nun ihre Angelegenheit mit dem Rat
behandelt werden müsse. Johannes Hardt stellte sich ihr zur Verfügung,
riet aber, abzuwarten, bis das Schreiben des Kaisers eingetroffen sei.
Inzwischen führte Venne ihren Vorsatz aus und suchte den Ratsherrn
Achtermann auf. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um nicht im
letzten Augenblick umzukehren. Denn das Bewußtsein, daß sie dem Manne
gegenübertreten sollte, der für das Scheitern ihres Lebensglücks
verantwortlich zu machen war, lastete mit erdrückender Schwere auf
ihr. Sie hatte einige Zeit zu warten, bis der Gefürchtete und beinahe
Verhaßte durch eine kleine Seitentür ins Zimmer trat. Sein kühler,
abweisender Blick sagte ihr, daß sie nichts Gutes von ihm zu erwarten
habe.

»Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, Euch in meinem Hause zu
sehen?« fragte er mit schneidender Kälte. Venne schoß das Blut ins
Gesicht.

»Ihr habt kein Recht, mich in dieser verletzenden Art und Weise zu
empfangen, Herr Achtermann«, antwortete sie, sich mühsam beherrschend.
»Ohne triftigen Grund sähet Ihr mich freilich nicht hier. Aber ich
will mich gegen Verleumdungen verteidigen, die man über mich in meiner
Abwesenheit in Umlauf setzte und an denen auch Ihr, wie ich höre, nicht
unbeteiligt seid.«

»Ich bin gespannt auf diese Verteidigung, wenngleich sie vor mir wenig
angebracht ist«, sagte er mit unverändertem Hohn.

Venne beteuerte, daß sie von dem ganzen Vorhaben nichts gewußt und erst
jetzt davon gehört habe, zu ihrer großen Beschämung.

»Ihr müßt schon einen Dümmeren suchen, als Ihr in mir findet, der Euer
Märlein glaubt. Euch auf die Harmlose hinauszuspielen, steht Euch
schlecht an.«

Da verließ auch Venne die Ruhe: »Daß Ihr ein hartherziger Vater waret,
wußte ich. Daß ihr ein elender Verleumder und Ehrabschneider seid,
erfahre ich zur Stunde. Ich will nicht um Eure Gnade betteln. Sagt mir
nur noch eins auf Euer Gewissen: Teilt Euer Sohn Eure Meinung von mir?«

Dem Ratsherrn schwoll bei den kühnen und furchtlosen Worten des
Mädchens die Zornesader. »Hütet Euch, mich noch zu reizen, Jungfer
Richerdes; es möchte Euch teuer zu stehen kommen. Noch bewahre ich Eure
Tat bei mir. Gebt mir nicht Anlaß, sie der Öffentlichkeit preiszugeben;
es möchte Euch wenig frommen. Und was meinen Sohn anbetrifft, so könnt
Ihr Euch sein Urteil selbst ausmalen. Eins sollt Ihr wenigstens wissen:
Ehe Ihr in mein Haus als Schwieger einzieht, töte ich meinen Sohn mit
eigener Hand. Aber daß das nicht nötig ist, dafür laßt mich allein
sorgen.«

Venne war leichenblaß geworden. »Ich danke Euch trotz allem für Eure
Mitteilung. Nun sehe ich wenigstens klar, und Ihr mögt unbesorgt sein,
daß ich Euer Haus je wieder betrete; doch für Eure Kränkungen und
Beleidigungen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sollt Ihr mir
Rechenschaft geben, Herr Achtermann!«

»Versucht das lieber nicht«, antwortete er grollend. »Seid froh,
wenn ich Euch dazu nicht auffordere. Ich warne Euch vor unbedachten
Schritten; es geht dabei um mehr, als Ihr zu wissen scheint oder wissen
wollt.«

Zornbebend verließ Venne das Haus. Sie vermochte kaum die Tränen der
Wut und der Empörung zurückzuhalten. Zu Hause aber ließ sie ihrem
Schmerz und ihrer Verzweiflung freien Lauf. Es überfiel sie ein
Weinkrampf, und ihre klagende Stimme gellte durch das leere Haus. Die
gute Katharina wußte sich keinen Rat, und sie weinte aus Erbarmen
ebenfalls zum Herzzerbrechen.

Zufällig kam Gisela Hardt um diese Stunde. Sie war zunächst ratlos
gegenüber dieser wilden Verzweiflung, ihrem milden Trost und Zuspruch
gelang es doch zuletzt, Venne etwas zu beruhigen. Sie hielt die
Unglückliche in ihrem Arm und tröstete sie, wie man ein weinendes Kind
zur Ruhe bringt. Als sie schied, ging sie mit schwerem Herzen davon.
Denn hier versagte zuletzt wirklicher Trost, der auch das Mittel zur
Heilung anzugeben weiß.

Als die Botschaft aus Worms eingetroffen war, erhielt Venne eine
Vorladung vor den Rat. Sie fühlte sich durch den Vorgang im Hause des
Ratsherrn so zermürbt, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Aber
jetzt feuerte Johannes Hardt sie an, ihr Recht zu wahren. Er erbot
sich, ihr mit allen seinen Kräften zur Seite zu stehen, und er hielt
dieses Versprechen auch ehrlich bis zuletzt, auf die Gefahr hin, daß
sein mannhaftes Eintreten ihm für seine weitere Laufbahn schaden könne.

Das kaiserliche Schreiben an den Rat war maßvoll gehalten, und es
ließ die Verhandlung zwischen beiden Teilen zu. Man erwog das Für
und Wider, und schon schien es, als ob die Angelegenheit eine für
Venne befriedigende Lösung finden werde. Da machte Achtermann alle
Geneigtheit zunichte durch seinen rücksichtslosen Widerspruch. Er
bewies noch einmal, daß sich die rechtliche Grundlage nicht zugunsten
des Richerdesschen Anspruches geändert habe, und forderte unter
Hinweis auf die Folgen eines solchen Präzedenzfalles Zurückweisung des
Anspruches trotz des kaiserlichen Schreibens. Sein Einfluß siegte, und
Venne erhielt den Bescheid, daß man nicht gesonnen sei, zu zahlen.

Das Geld würde sie verschmerzt haben, wenngleich sie für die Zukunft
bitterer Armut ausgesetzt war. Daß es ihr jedoch nicht gelingen sollte,
die Ehre ihres Vaters rein zu waschen, das erfüllte sie mit namenlosem
Zorn. Sie hockte in ihrem Zimmer, allein mit ihrer Verzweiflung und
ihrem Grimm. Immer wieder stiegen ihr die Tränen auf in Erinnerung
an all die Schmach, die man ihr angetan, und das Unglück, das sie
unschuldig traf. Johannes Hardt wies sie zurück, und auch Gisela
vermochte mit ihrem sanften Trost nichts über sie. »Laßt mich, Ihr
könnt mir nicht helfen. Ich muß versuchen, allein durchzukommen.«

Sie berührte kein Essen, immer tiefer fraß sie sich in ihre verbissene
Wut. Von aller Welt kam sie sich verlassen vor, verhöhnt, gehetzt; es
war die richtige Stimmung, um den Menschen zu verzweifelten Schritten
zu verleiten.

In dieser Stimmung besann sie sich der Worte jenes Fremden, der Hermann
Raßler sein sollte. Er haßte gleich ihr den Rat von Goslar. Bei ihm
würde sie Verständnis für ihre Lage finden. So machte sie sich auf den
Weg zu dem in Waldeseinsamkeit gelegenen Kloster der Grauen Brüder, dem
heutigen Grauhof.

Man war dort über ihren Prozeß unterrichtet, und es schien, als ob auch
der Fremde schon von ihrer Lage gehört hatte, denn er hatte genaue
Anweisung für den Fall gegeben, daß Venne Richerdes nach ihm frage.

»Ihr trefft, den Ihr sucht, in Wolfenbüttel in der Herberge zum
›Anker‹. Fragt dort nach Herrn Starke, so wird Euch weitere Auskunft
werden.«

So trat Venne die Reise nach der herzoglichen Residenz an. Daheim und
den Freunden gegenüber verschwieg sie alles, was sie vorhatte.




Im Schlosse zu Wolfenbüttel residierte Herzog Heinrich der Jüngere,
wenn er nicht mit seinen Reisigen im Felde lag gegen den Hildesheimer
Bischof, gegen die Vettern seines eigenen Stammes im Kalenbergschen,
im Göttinger Lande oder wo immer Bellona einen Vorteil verhieß und die
Austragung alter Gegensätze erlaubte. Die Mauern und Wälle der guten
Stadt Wolfenbüttel dünkten ihm und seinen Vorfahren noch nicht Schutzes
genug gegen Gelüste, sich an seiner fürstlichen Person zu vergreifen.

Dem Rat von Braunschweig, wie jedem einzelnen Braunschweiger, traute
er ohne weiteres die Frechheit zu, daß sie, wenn sie es vermöchten,
ohne ehrerbietigen Gruß bei ihm eindringen und ihn als gute Prise mit
sich schleppen würden. So war das Schloß, das sich als ein gewaltiges
Gebäudegeviert um einen kleinen Binnenhof lagerte, noch wieder eine
Festung für sich, umspült von dem breiten Graben eines Okerarmes und
in sich geschützt durch mächtige Mauern und starke Türme, an denen
sich diejenigen, die dennoch die Stadt bezwungen hätten, erst noch
ihre Dickköpfe einrennen mochten, ehe sie vor ihm selbst mit ihren
unhöflichen Forderungen auftreten konnten.

Im Schlosse selbst lag eine starke Guardia, eine Leibwache,
einquartiert, unter dem Befehl eines Hauptmanns. An den zwei Toren,
die den Einlaß zum Hofe und zum inneren Schlosse freigaben, standen
Wachen, die jeden Ein- und Ausgehenden auf seine Zuverlässigkeit hin
musterten. Ohne genügenden Ausweis gelangte kein Fremder durch das Tor.

Der Ankömmling, der in diesem Augenblick die Wache unangehalten
passierte, mußte also allen wohlbekannt sein, denn weder machte er
Anstalt zu einer Legitimation, noch wagte einer der Wachleute ihn zu
befragen. Auf dem Kopfe trug er eine dunkle Lederkappe, die mit einem
Reiherstoß geschmückt war. An der Seite hing ihm in goldverziertem
Gehänge der Degen.

Die Wachen sahen ihm mit schlecht verhehltem Neide und Unwillen nach.
»Das spreizt sich, als ob er des Herzogs leibhaftiger Vetter wäre«,
murrte der Korporal Schünemann, der Wachthabende, zu dem Doppelsöldner
Karsten Süßkind. »Unsereiner ist Luft für den Herrn, als ob man nicht
mit Ehren seine Kampagnen hinter sich hätte.«

»Er ist ja auch mehr als Ihr und ich, Korporal«, höhnte Süßkind. »Wir
beide haben es noch nicht zum Hauptmann gebracht. Möchte freilich nicht
mit ihm tauschen, denn zum Räuberhauptmann ist sich meiner Mutter Sohn
doch zu schade.«

»Der Herr Herzog nimmt aber keinen Anstoß daran,« mischte sich ein
dritter ein, »ebensowenig wie der Herr Kriegsrat Tewes, der ja oft mit
ihm konferiert.«

»Herzog Heinrich wird schon seine Gründe haben, weshalb er den Raßler
so oft bei sich sieht,« verteidigte der Korporal seinen Herrn, »und er
wird mit dem Manne sich nicht weiter einlassen, als sein Interesse es
fordert.«

Der, von dem die Rede war, bog indes rechts ab in das Schloß und stieg
die Treppe hinauf. Er mußte genau Bescheid wissen, denn er fand sein
Ziel, ohne jemand zu fragen. An dem Zimmer, in welchem der Geheime
Kriegsrat Tewes über Akten und Plänen saß, klopfte er kurz an und trat
auf das »Herein« sofort mit energischem Schritt ein. Tewes blickte auf.
Er ging dem Ankömmling sogleich entgegen. »Sieh da, Herr Raßler,« sagte
er höflich, »das trifft sich gut. Wir hatten Sehnsucht nach Euch«,
setzte er scherzend hinzu.

Der Herr Kriegsrat galt als hochmütig, und es sprach für die
Wertschätzung, welche Herr Raßler in dem Schlosse genoß, wenn er ihm
das Prädikat »Herr« zuerkannte.

»Da treffen sich die Wünsche gegenseitig,« entgegnete Raßler, »denn
auch mich trieb es hierher.«

»Famos, famos,« hüstelte das vertrocknete Männchen, »da können wir
gleich ›in medias res‹, wie der Lateiner sagt, gehen.«

»Nicht doch, Herr Tewes,« unterbrach ihn Raßler kurz. »Dieses Mal
will ich zuvor mit dem Herzog sprechen. Nachher stehe ich Euch zur
Verfügung.«

Es gab dem Höfling einen Stich durch das Herz, daß der Unverschämte
den ihm gebührenden Titel einfach unterschlug; aber er wußte, was
der Mann beim Herzog galt, der ein für allemal angeordnet hatte, ihn
recht glimpflich zu behandeln. So zwang er seinen Unwillen nieder und
sagte höflich: »Der Herr Herzog sind im Augenblick sehr beschäftigt
und würden eine Störung unliebsam empfinden. Vielleicht kommt Ihr zu
gelegener Stunde morgen wieder.«

»Ich denke, Ihr habt Euch nach mir gesehnt, Herr Rat,« fragte Raßler
spöttisch, »da darf doch keine Minute verloren werden; und denkt Euch,
was ich auf dem Herzen habe, erlaubt auch keinen Aufschub.«

»So will ich versuchen, den Herrn zu melden«, fuhr Tewes gekränkt fort.

»Tut das, Herr Tewes, aber nehmt es nicht übel, wenn ich alsdann allein
mit dem Herzog zu sprechen wünsche.«

Raßler fand den Herzog mit einem Apparat beschäftigt, der sein ganzes
Interesse in Anspruch nahm.

»Sieh da, der Raßler«, sagte er mit kurzem Aufblicken. »Wartet ein
Weilchen; ich bin dabei, diese wunderbare Einrichtung zu studieren.
Wißt Ihr, was es darstellt« fragte er dann, während seine Hände noch
immer an Schrauben und Rädchen drehten und stellten.

»Es muß wohl mit den Sternen zu tun haben, wie ich sehe. Wohl eines
der neumodischen Dinger, von denen man jetzt so viel reden hört«,
antwortete Raßler.

»Ganz recht,« fiel ihm Heinrich ins Wort, »es ist ein Astrolabium, mit
dem man sich und anderen das Horoskop stellt, um das eigene oder fremde
Schicksal zu erkunden. Wäre es Abend, so könnte ich Euch ansagen, was
Eurer harrt.«

»Ich danke, Ew. Gnaden«, antwortete Raßler. »Gebt Euch die Mühe nicht.
Mich verlangt es nicht, im voraus zu wissen, was aus mir wird. Das
nimmt nur die Sicherheit und trübt den Blick.«

»Wie Ihr wollt, wie Ihr wollt«, sagte der Herzog etwas gekränkt, daß
der Besuch so wenig Gewicht auf seine Neuerwerbung legte. »Mir ist es
jedenfalls von hohem Wert, daß ich im voraus weiß, woran ich bin. Ich
finde mich leidlich mit dem Apparat zurecht. Lieber freilich wäre es
mir, ich hätte einen tüchtigen Astrologen, der würde mir alles noch
zuverlässiger deuten können.«

»Vielleicht bleibt mir einmal ein solches Menschenkind im Netz, dann
bringe ich ihn spornstreichs hierher.«

»Sehr gut,« erwiderte Heinrich, »und Ihr könnt unseres Dankes sicher
sein. Übrigens«, fuhr er fort, »kommt Ihr wie gerufen, wir hatten uns
schon nach Euch erkundigt, haben eilige Arbeit für Euch.

Da ist die Hildesheimer Sache. Die will nicht recht vom Fleck. Ihr
wißt ja, wir haben die Reichsacht auszuführen gegen den störrischen
Bischof. Sehr ehrenvoll, uns den Auftrag zu geben, aber die Mittel
zu finden, überließ man großmütig uns. So sitzt der Herr mit seinem
Krummstab ruhig in Hildesheim und lacht uns aus. Der vertrackte Rat von
Goslar leistet nur widerwillige und mangelhafte Hilfe. Werden uns der
Herren Pfeffersäcke wieder einmal etwas annehmen müssen, um sie kirre
zu machen. Inzwischen sollt Ihr uns helfen, sollt dem Bischof mit Euren
Leuten eine Laus in den Pelz setzen, daß er sich vor Jucken nicht zu
helfen weiß.«

»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr Herzog«, antwortete Raßler. »Ich habe
gerade einen tüchtigen Wurf entschlossener Männer zur Hand, mag sich
wohl rund auf ein Fähnlein belaufen. Doch ich habe dieses Mal auch
einen besonderen Wunsch an Eure Gnaden.«

Der Herzog, der fürchten mochte, daß er besonders zahlen solle, wehrte
ab.

»Ihr wißt, Raßler, daß bei dem Handel für uns nichts weiter als die
Ehre abfällt. Eure Leute mögen sich am Beutemachen schadlos halten.«

Aber Raßler entgegnete: »Ihr irrt, Herr Herzog. Mir selbst ist es
zeitlebens wenig um Schätze zu tun gewesen. Wo ich zuschlug, hatte es
andere Gründe. Doch ich bin es müde, wie ein Wegelagerer durch das Land
zu fahren. Ich habe mich immer als ein ehrlicher Kriegsmann gefühlt und
als solcher gehandelt. An meinen Händen klebt kein Blut, das nicht in
ehrlichem Kampfe Mann gegen Mann verspritzt wäre, und auch meine Leute
hielt ich an, so zu verfahren. Taten sie es nicht immer, so ist es
mir leid, und wo ich es erfuhr, bin ich übel dreingefahren, das dürft
Ihr mir glauben. Nun aber bin ich der Sache überdrüssig. Und ich will
fürderhin auch äußerlich sein, was ich innerlich immer gewesen bin.
Kurz, ich bitte Euch, Herr Herzog, leiht mir Euren Beistand dazu und
macht mich zu Eurem Hauptmann.«

Der Herzog war überrascht. Das zu hören, hatte er nicht erwartet. Aber
die Sache kam ihm sehr ungelegen. »Das wird doch seine Schwierigkeiten
haben. Seht, Raßler, wir haben doch Rücksichten zu nehmen. Ihr wißt
doch ...«

»Ich weiß, Herr Herzog.« fiel ihm jener ins Wort, »daß ich als
Räuberhauptmann gelte. Doch Ihr habt nie Bedenken gehabt, mit diesem
zu verhandeln, und ließet Euch seine Dienste gern gefallen. Kommt
es zuletzt auf den Namen an und erscheint Euch der Name ›Raßler‹ zu
abgenutzt, nun, Ihr habt Vollmacht und Namen genug, um einen solchen
auszuwählen, mit dem sich Euer neuer Hauptmann sehen lassen kann.«

»Aber das ist ja Unsinn, den Namen ändern, Hauptmann werden«, zürnte
der Herzog. »Plagt Euch denn der Ehrgeiz auf einmal, daß Ihr etwas
Besonderes prästieren wollet, oder hat es sonst einen Grund?«

»Einen Grund hat es schon,« antwortete der Gefragte, »aber Ehrgeiz ist
es nicht oder doch nur zu einem Teil.«

»Nun so wird er auch wieder vergehen«, meinte Heinrich. »Über ein
kurzes werdet Ihr selbst über Euren Unsinn lachen.«

»Seid überzeugt, Herr Herzog, daß ich das nicht tun werde. Und nun Eure
Antwort.«

»Und wenn ich ›Nein‹ sage?« forschte Heinrich.

»So müßt Ihr Euch zur Stunde einen anderen suchen, der Euch hilft. Ich
rühre keine Hand mehr für Euch.«

»Teufel,« fluchte der Fürst, »das nenne ich dreist. Ich kann Euch
zwingen und werde Euch zwingen, zu gehorchen.«

»Das glaubt Ihr selbst bei Hermann Raßler nicht, Herr Herzog«, fiel
jener spöttisch ein. »Also noch einmal, Eure Antwort! Erfüllt meine
Bitte, und Ihr sollt Eure Freude an mir haben. Der Herr Bischof soll
fluchen lernen, als ob er nie das Vaterunser gebetet habe, und Eure
Freunde in Goslar sollen sich ärgern, daß sie platzen. Mit ihnen habe
ich zwischendurch sogar noch ein besonderes Stücklein zu erledigen.
Aber erst Eure Antwort!«

»So schert Euch an die Arbeit. Ist sie getan, so werde ich Euren Wunsch
erfüllen.«

»Euer Wort?« versicherte sich Raßler.

»Auf mein Fürstenwort«, antwortete Heinrich. Da ging Hermann Raßler
vergnügt davon.

                   *       *       *       *       *

Im »Anker« erfuhr Raßler, daß ein Frauenzimmer nach ihm gefragt habe.
Das Fräulein, oder was es sei, habe den Anstand und das Auftreten einer
Dame. Er dachte sogleich an Venne, und sein Herz schlug freudig erregt,
daß er sie wiedersehen und ihr vielleicht Hilfe bringen sollte. Bald
darauf kehrte Venne zurück und wurde zu ihm gewiesen. Er begrüßte sie
mit ehrerbietiger Freude.

»Das nenne ich eine frohe Überraschung, Jungfer Venne Richerdes«, sagte
er mit glänzenden Augen.

»Ihr kennt meinen Namen?« fragte sie überrascht.

»Wie Ihr merkt«, antwortete er. »Seit ich Euch sah, bin ich nicht müßig
gewesen, zu erkunden, wer die schöne Unbekannte sei, der ich unweit
Seesen begegnete.«

»So wißt Ihr wohl auch schon, was mich zu Euch führt?« forschte sie
weiter.

»Ich glaube es zu wissen«, erwiderte er ernst. »Und Ihr mögt glauben,
daß ich Euch zur Verfügung stehe mit allem, was ich habe und kann.«

Dann erzählte Venne, wie übel man ihrem Vater und ihr mitgespielt habe.
Raßler unterbrach sie nicht, aber die Ader schwoll auf seiner Stirn,
und seine Fäuste ballten sich bei jeder Kränkung, die ihr widerfahren
war.

»Das ist abscheulich, das ist gemein gehandelt,« rief er, als sie
geendet, »und dieser Achtermann ist der größte Schuft, den ich je
gesehen. Aber gnade Gott ihm, wenn er mir unter die Fäuste gerät. Euch
wird Euer Recht werden, Jungfer Venne, glaubt es mir, und sollte ich es
vom Himmel herabholen!«

Hermann Raßler war indes nicht der Mann langer Gefühlsergüsse, wenn es
die Tat galt. Und so fand er sich von seinem Zornesausbruch sehr bald
wieder zum praktischen Leben zurück.

»Was soll nun geschehn? Habt Ihr schon einen Plan gefaßt?« fragte er
Venne.

»Nein,« antwortete sie bedrückt, »ich kam zu Euch, um mir Rat zu
holen.«

»Den sollt Ihr haben, und zwar kurz und bündig. Er lautet: Sagt der
verfluchten Stadt auf, werft ihr den Fehdehandschuh hin, und ich werde
das Werkzeug sein, sie Eure Rache fühlen zu lassen.«

Venne erschrak vor dem Vorschlag: sie sollte ihre Heimatstadt mit Krieg
und Kampf bedrohen? Der Gedanke kam ihr zu fürchterlich vor. Aber
Raßler verstand es, ihre Bedenken zu zerstreuen. Wieder und wieder
ließ er die Demütigung vor ihren Augen erstehen, deren Opfer sie
unschuldigerweise geworden war. Und außerdem beschwichtigte er sie über
das Blutvergießen, das bei dem Austrag der Fehde eintreten könnte.

»Nicht darauf kommt es an, daß Menschenleben verlorengehen, sondern
daß den reichen Protzen der Geldsack geschmälert wird. Laßt mich nur
machen. Wo ich sie fassen kann, sollen sie bluten. Ob es nun ihre
Herden sind oder ihre Waren. Nichts, nichts soll sich jetzt noch
ungestraft außerhalb ihrer Mauern sehen lassen. Und selbst in ihrem
Neste will ich ihnen einheizen, daß ihnen der Atem ausgeht.«

»Aber dann bin ich ja für allezeit von meiner Heimat ausgeschlossen«,
wandte Venne ein.

»Für längere Zeit ja, für immer aber braucht das nicht zu sein. Ihr
wäret nicht die erste, die einem Orte aufsagt und später doch wieder in
seinen Mauern wohnt. Doch ich sollte meinen, Euch wäre der Appetit auf
Goslar vergangen. Auf jeden Fall sehe ich keinen anderen Weg, Euch zu
Eurem Rechte zu verhelfen, als den der Gewalt.«

»Vergebt nur, Herr Raßler, wenn ich mich unvernünftig benehme, aber
ich kann nicht so schnell von meinen Gefühlen loskommen. In Goslar
ist alles, was sich für mich mit dem Begriff ›Leben‹ verbindet; dort
sind die Gräber meiner Eltern, dort leben mir auch jetzt noch wahre,
treue Freunde. Alles das soll ich aufgeben, um heimatlos in der Welt
zu stehen? Nein, das kann ich nicht, kann ich wenigstens im Augenblick
nicht. Ich muß, ehe das Schlimme vor sich geht, was Ihr vorschlagt,
alles geordnet haben, will auch noch versuchen, ob ich nicht wenigstens
eine Ehrenrettung des Vaters in irgendeiner Form erreichen kann.
Schlägt auch das fehl, so bin ich zum Äußersten bereit.«

»Ich kann Euch nicht halten, aber ich will Euch nicht verschweigen,«
entgegnete Raßler, »daß ich in Sorge um Euch bin, solange Ihr in Goslar
weilt. Was Ihr mir von Achtermann erzähltet, läßt mich noch Schlimmeres
befürchten, als es der Zwang ist, den sie Eurem Recht antaten. Auf
jeden Fall bleibt nur so lange dort, als es unerläßlich nötig ist. Ich
warte Eurer indessen. Und wenn Ihr die Stadt verlaßt, so begebt Euch
zum Kloster Riechenberg. Dort werdet Ihr einigermaßen sicher sein. Dort
findet Ihr auch mich selbst oder erfahrt den Ort, wo ich zu treffen
bin. Es wird in der Nähe sein.«

                   *       *       *       *       *

Venne Richerdes kam nicht dazu, aufs neue Verhandlungen anzuknüpfen mit
dem Rate oder der Stadt. Von Johannes Hardt erfuhr sie, daß inzwischen
ein Schreiben des Geheimschreibers vom Bischof von Hildesheim,
Woltwiesche, eingetroffen sei, in welchem er sie beschuldigte, den Rat
von Goslar, insonderheit den Bürgermeister Karsten Balder, vor dem
Kaiser in Worms gröblich verleumdet und beschuldigt zu haben.

»Der Schuft!« das war alles, was Venne zu dieser Niedertracht
sagte. Aber Johannes war in großer Sorge um sie. »Ihr müßt die Stadt
verlassen, denn ich fürchte, daß der Rat Euch verklagen und Euch den
Prozeß machen wird. Und das geistliche Gericht wird Euch vollends seine
Macht fühlen lassen!«

»Diese schlimmen Männer,« klagte Gisela, »wollen sie denn die arme
Venne gar nimmer in Ruhe lassen? Können wir sie nicht bei uns
verbergen?« meinte sie dann zu Johannes gewendet.

»Das würde ein schlechtes Versteck sein«, erwiderte ihr Gatte. »Bei uns
sucht man sie zuerst, wenn sie auf der Bergstraße nicht zu finden ist.
Ich fürchte, man wird sie noch anderer, schlimmerer Dinge bezichtigen.
Man will Venne in Wolfenbüttel gesehen haben und vermutet, daß sie mit
dem Herzog konspirierte. Auch murmelte Achtermann noch von besonderen
Sachen, die er vorzubringen habe. Wir mögen uns vorstellen, was er
meint. Und rücksichtslos und nachträglich, wie er ist, kann er allein
aus der Zaubertrankgeschichte Venne ein schlimmes Gebräu zurichten. Ich
rate also, Venne, verlaßt die Stadt, sobald Ihr könnt, am besten noch
heute, ehe man nach Euch fragt.«

Venne war erblaßt, aber aus ihren Augen blitzte düstere
Entschlossenheit. »Ich danke Euch, Johannes, und Dir, liebe Gisela,
für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt recht, Johannes, mir
bleibt nichts übrig, als zu fliehen. Was ich hier vernehme, erleichtert
mir allerdings den Entschluß, den ich zu fassen habe. Ich breche alle
Brücken hinter mir ab, und der Rat mag die Verantwortung für das
tragen, was kommt.«

»Was hast Du vor?« fragte Gisela ängstlich, und Johannes warnte:
»Venne, begeht keine Unbesonnenheit. Es handelt sich jetzt nur darum,
Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde Eure Sache vertreten und
hoffe, daß Ihr über ein kurzes wieder friedlich unter uns weilen
könnt.«

Venne lächelte düster zu den Worten Johannes'. »Was ich plane, Gisela,
muß ich für mich behalten. Ich fürchte, die Heimat verliere ich für
immer mit dem Augenblick, wo ich jetzt Goslar verlasse. Aber einmal muß
ich noch in die Bergstraße, um vom Vaterhause und der guten Katharina
Abschied zu nehmen. Ich sah sie noch nicht, seit ich zurückkehrte, und
sie soll wissen, daß ich hier war. Um sie tut es mir besonders leid.
Wollt Ihr mir einen letzten Dienst erweisen, so nehmt Euch der treuen
Seele an, wenn ich fort bin.«

Die gute Alte war außer sich, als sie hörte, Venne wolle von ihr fort.
»Und ich bin allein schuld an dem ganzen Unheil«, klagte sie sich mit
bitteren Tränen an.

»Meine gute Katharina,« beruhigte sie Venne, »Du bist nicht schuldig.
Schuld trägt die Bosheit und Schlechtigkeit unserer Feinde und
Widersacher. Soll ich mich denn wehrlos in deren Hände geben? Das
kannst Du nicht wollen, also gib Dich zufrieden und mache mir den
Abschied nicht zu schwer. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen.
Inzwischen halte hier gut haus. Und was Du auch über mich hören wirst,
Du weißt, Deine Venne tut nichts, was sie nicht glaubt vor ihrem
Gewissen verantworten zu können.«

Sie nahm die arme Alte fest in die Arme und streichelte die haltlos
Schluchzende. Dann verließ sie das Haus ihrer Väter. Um ganz
sicherzugehen, wartete sie die Dämmerung ab und schlüpfte dann durch
das Mauerpförtchen an der Frankenberger Kirche, wo sie die Frau des
Wärters ohne Arg hinausließ.

Ein kurzer Weg führte sie über die Landwehr nach dem Kloster
Riechenberg. Dort wartete ihrer beim Pförtner die Nachricht, daß Raßler
im Kloster sei. Er wurde geholt. In seinen Augen glomm die Freude über
ihre Ankunft.

»Ich hatte schon Sorge um Euch. Aber nun ist alles gut. Wir werden
noch eine Strecke heute abend zurücklegen müssen, da Euch als Frau der
Zutritt zum Kloster verwehrt ist. Im Amtshause zu Langelsheim, eine
Wegstunde von hier, finden wir Unterschlupf für die Nacht, und morgen
bringe ich Euch an einen Ort, wo wir in aller Sicherheit und Ruhe
erwägen können, welche Schritte zu unternehmen sind.«

So geschah es. Der herzogliche Vogt in Langelsheim zeigte sich
beflissen, alles nach den Wünschen Raßlers einzurichten. Man merkte,
auch hier galt dessen Wille fast ebensoviel wie das Wort des Herzogs
selbst.

Am nächsten Morgen brachen sie zu Pferde auf. Venne achtete nicht
darauf, daß einige Reiter nach ihnen ebenfalls aus dem Orte ritten.
Es war die Nachhut, die Raßler sich folgen ließ, um gegen jede
Überraschung gesichert zu sein. Bei dem Dorfe Dolgen verließen sie
die Landstraße und bogen rechts ab, einem kleinen Weiler zu, der in
Waldeinsamkeit träumte. Es war Rohde, eine Siedlung, die aus einigen
Häusern bestand. Auf dem einzigen Hofe kehrten sie ein. Wieder zeigte
sich die Fürsorge Raßlers, denn die Leute waren unterrichtet und hatten
ein Zimmer hergerichtet, in dem trotz aller Einfachheit das Behagen
wohnte.

Ermattet von dem Ritt in der Sonne, ließ sich Venne am Tische nieder.
Raßler empfahl sich: »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen
könnt. Wenn Ihr etwas nötig habt, ruft nur, die Wirtin wird Euch zur
Verfügung stehen. Mich selbst könnt Ihr zu jeder Stunde erreichen.
Beliebt es Euch, werde ich die Mahlzeit mit Euch einnehmen. Wollt Ihr
allein speisen, so sagt es ruhig. Mir liegt daran, daß Ihr wieder ins
Gleichgewicht kommt. Morgen sprechen wir über alles Weitere.«

Venne war ihm dankbar, daß er sie allein ließ. Müde streckte sie sich
auf das bereitete Lager nieder. Wild stürmten die Gedanken auf sie
ein, aber allmählich schlief sie infolge der Müdigkeit ein. Doch es
war kein erquickender Schlummer. Wilde Träume durchjagten ihr Gehirn,
und zuletzt wachte sie mit einem Schrei auf. Es hatte ihr geträumt,
sie solle gefoltert werden. Achtermann war der Henker und näherte sich
ihr mit glühender Zange, um sie zu brennen. Auf den Schrei trat die
Wirtin herein und fragte, ob ihr etwas fehle. Venne schämte sich ihrer
Schwäche und bat um das Abendbrot, da sich der Tag dem Ende neigte.
Es war ihr noch ganz unheimlich zumute von dem bösen Traum, und die
Einsamkeit und Stille lastete auf ihr wie ein Druck. Deshalb ließ sie
Raßler ersuchen, er möge mit ihr zusammen essen.

Raßler bewies, daß er über durchaus gute Manieren verfügte. Er fiel
weder durch eine ungeschickte Bewegung, noch durch ein Wort auf. Zwar
konnte er es nicht hindern, daß sein Blick immer wieder mit Bewunderung
auf ihr ruhte, aber diese Huldigung offenbarte sich so achtungsvoll,
daß sie nichts Verletzendes für Venne enthielt. Es kam bei ihr noch das
Gefühl des Dankes für den Mann hinzu, der sich ihrer in dieser Stunde
der höchsten Not uneigennützig annahm.

Am nächsten Tage legte er ihr einen Absagebrief an Goslar in aller
Form vor. Er lautete:

   »So sagen wir Euch denn, Stadt und Rat von Goslar, auf; erklären
   auch, Euch fleißig heimsuchen zu wollen, wo immer wir können. Auch
   beauftragen wir mit der Ausübung unserer Absage den Herrn Hermann
   Raßler, als welcher von heute ab, als dem Tage nach St. Antonius,
   in meinem Dienste zu stehen sich erkläret.

   Datum zu Rohde, am 10. Tage des Mondes Maji 1500 und im zwanzigsten
   und zweyten Jare,

                                                      Venne Richerdes.«

Dieser Fehdebrief haftete schon am nächsten Morgen am St.-Viti-Tore zu
Goslar und rief in der Stadt ungeheure Aufregung hervor. Man wußte,
wessen man sich von Raßler zu versehen hatte, und Fluchen und Klagen
erscholl überall. Im Rate vernahm man die Absage mit Wut und Grimm, und
Achtermann schwur, wenn man Venne Richerdes ergreife, sie dem Henker
als gemeine Hexe übergeben zu wollen. Wie ernst es dieser aber, wie
vor allem Raßler mit der Ausübung der Fehde war, zeigte sich schon am
Abend, als vor dem Breiten Tore zwei Feldscheunen in Flammen aufgingen.
Man schimpfte auf den Rat, man fluchte auf Venne Richerdes und Hermann
Raßler, aber man hatte sie nicht, um Vergeltung zu üben.

Venne erfuhr gar nicht, wie inzwischen ihr Beauftragter sein Amt
ausführe. Sie saß im stillen Rohde und ließ die Einsamkeit und Ruhe auf
sich wirken. Am Tage beschäftigte sie sich auch gern mit den Kindern
des Bauern, die, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatten, mit
stürmischer Zärtlichkeit an ihr hingen. Das Kleinste saß auf ihrem
Schoß und hielt die Ärmchen um sie geschlungen, als einmal Raßler
dazukam. Überrascht blickte er auf die liebliche Gruppe, dann aber
quoll es heiß in ihm auf: Das war das Bild, das ihm vorschwebte
für die Zukunft. Wenn er diese Frau gewönne, wäre alles ausgetilgt,
was ihm an Häßlichem und Niedrigem im Leben widerfuhr. Dieser Traum
war auch der Anlaß gewesen, weshalb er den Herzog bat, ihn zum
ehrlichen Kriegsmann zu machen. Alles Edle in ihm drängte zum Licht.
Er wollte heraus aus dem Schmutz, in dem er bis an die Knie gewatet
hatte, seitdem man ihn wegen der Jugendstreiche aus der Gesellschaft
ausgeschlossen.

»Venne, werde die Meine«, das war sein Sehnen. Aber er zwang das Wort
nieder, das sich ihm auf die Lippen drängte. Er wollte das Mädchen
nicht beunruhigen, das sich vertrauensvoll in seinen Schutz begeben
hatte. Erst für sie kämpfen, ihr Recht verschaffen, dann würde er vor
sie hintreten und sie um sein Urteil bitten, das ihn zum glücklichsten
Menschen machen oder der Verzweiflung für immer in die Arme treiben
mußte. Das alte Leben würde er nicht wieder aufnehmen, eine Kugel im
ehrlichen Kampfe sollte auch ihm dann die Erlösung bringen.




Vier Wochen schon weilte Venne in dem stillen Rohde. Kein Lärm störte
die Einsamkeit. Für die Sicherheit sorgten Posten, die in unauffälliger
Weise den Ort bewachten. Nichts gemahnte sie daran, daß sie im Kampf
lag mit ihrer Heimatstadt. Raßler kam, so oft er konnte. Auf ihre
Frage, wie es in Goslar stehe, antwortete er nur immer kurz.

»Es steht gut. Alles andere mag Euch nicht bekümmern. Ist es an der
Zeit, so sollt Ihr schon hören, was vor sich geht. Jetzt denkt nur
daran, Euch zu pflegen. Ihr seht mir immer noch etwas mitgenommen aus.«

Venne blickte ihn sinnend an: »Was seid Ihr nur für ein Mensch, daß Ihr
Euch für mich aufopfert. Und Euch sagt man so viel Schlechtes nach!
Könnte ich Euch doch meinen Dank abstatten. Aber ich werde immer in
Eurer Schuld bleiben.«

»Vielleicht mache ich einmal meine Forderung geltend. Hoffentlich
schreckt Ihr dann nicht vor der Größe derselben zurück!« antwortete
er. Dabei sah er ihr mit einem innigen Blick ins Auge. Venne errötete,
sagte aber nichts.

In Goslar war derweilen ihr Name und der Raßlers auf aller Lippen.
Fast keine Woche verging, in der man nicht über irgendeinen Schaden zu
klagen hatte. Da war ein Warenzug trotz reisiger Bedeckung überfallen
und weggenommen worden, dort ein Teil der Herde weggetrieben. Klagen
und Jammern, wohin man hörte; es wagte sich fast niemand mehr aus der
Stadt heraus. Johannes Hardt und sein Weib waren tief bekümmert über
die Vorgänge, denn Venne versperrte sich damit den Weg der Rückkehr
für alle Zeit. Und es erschütterte sie, daß jene sich in die Hand des
Räubers gegeben und so viel Unheil über ihre Vaterstadt gebracht hatte
und noch anrichtete.

»Das hätte sie nie und nimmer tun dürfen,« sagte Johannes. »Lieber
Unrecht leiden, denn Unrecht tun. Sie kann sich jetzt nicht mehr
beklagen, daß man ihr übel mitgespielt habe. Was sie der Stadt angetan
hat, wiegt den Schaden hundertfältig auf, den sie erlitt. Sie soll sich
nur hüten, sich noch einmal in die Hände des Rates zu geben; ihr kann
niemand mehr helfen.«

Auch Gisela war tieftraurig, daß die Freundin diesen Weg gegangen. Und
auch ihre selbstlose Liebe fand kaum noch eine Entschuldigung für
Venne.

Bei dieser selbst regte sich langsam die Sehnsucht nach der Heimat.

»Oh, könnte ich nur einmal noch die Türme meiner Heimat sehen; einmal
nur noch die trauten Räume des Vaterhauses betreten!« seufzte sie in
stillen Stunden. Noch zwang sie das Heimweh nieder, aber es pochte
immer gebieterischer an ihr Herz.

Als sie Raßler eine Andeutung machte, wehrte er erschrocken ab: »Ihr
ahnt nicht, welche Stimmung in Goslar gegen uns herrscht. Man würde
Euch steinigen, bekäme man Euch zu Gesichte.«

Da schwieg sie betrübt, doch die Sehnsucht war nicht verflogen.

Wieder verstrichen die Wochen, und immer tiefer wurden die Seufzer und
immer größer der Schmerz um die verlorene Heimat. Da sagte sie eines
Tages entschlossen zu Raßler: »Ich halte es nicht länger aus. Schafft,
daß ich nur einmal, und sei es nur auf eine Stunde, nach Goslar komme
und die alte Katharina sehe und spreche, dann will ich gern wieder
still sein.«

Raßler wehrte mit aller Entschiedenheit ab. »Um Gottes willen, Venne,
steht ab von Eurem Vorhaben. Es ist Euer Verderben. Die Goslarer sind
mehr denn je auf der Hut und werden Euch erkennen. Ich kann Euch
nicht Euren Feinden ausliefern, denn Euer Tod wäre auch der meinige.«
Verzweiflung klang aus seinem Wort, und die treueste Hingebung war auf
dem Grunde seiner Augen zu lesen.

»Und dennoch bitte ich Euch, laßt mich hin. Ich verspreche Euch, alles
zu tun, wie Ihr es für gut befindet, und mich der größten Vorsicht zu
befleißigen. Nur laßt mich hinein nach Goslar!«

»Hinein kommt Ihr schon, Venne Richerdes,« sprach er erschüttert,
»aber heraus findet Ihr nicht. Man wird Euch greifen, Euch töten, und
das, Venne, überlebe ich nicht. Venne, tut es mir zuliebe. Ihr ahnt
nicht, was ich in Euch verliere!« In wilder Angst fast wurden die Worte
ausgestoßen. Venne traten die Tränen in die Augen: »Hermann Raßler, es
schmerzt mich, daß ich Euch Kummer mache. Ihr habt es wahrlich nicht um
mich verdient, Ihr, der Ihr mir der treueste, uneigennützigste Freund
waret in dieser Zeit. Glaubt nicht, daß ich Euch das je vergesse.
Noch sind die Wunden frisch, die man mir geschlagen, aber es kommt
wohl einmal die Zeit, wo sie verharscht sind. Dann will ich auch Euch
Antwort geben auf Eure stumme Frage.«

»Venne«, jubelte er, doch dann bezwang er sich. »Ihr habt recht, noch
ist es nicht Zeit, Wünsche zu äußern. Aber laßt mir die Hoffnung, dann
will ich mich gern gedulden.

Ich werde Euch selbst nach Goslar begleiten und in die Stadt bringen.
Mir sind die Wege bekannt, wie man ungesehen hineingelangt.«

                   *       *       *       *       *

Das Käuzchen schrie in der sternlosen Septembernacht vor dem Thomaswall
am Dicken Zwinger. Einmal, zweimal, zehnmal wiederholte es seinen
klagenden Ruf, daß die guten Bürger hinter der Stadtmauer sich gruselnd
die Decken über die Ohren zogen, denn den Todesvogel hört niemand gern.
Aber bald öffnete sich leise und geräuschlos ein Mauerpförtchen, und
ein verschlafener Kopf lugte heraus. »Wer ist's, der Einlaß begehrt?«
war die leise Frage. »Gut Freund«, hieß es ebenso leise. Zwei Gestalten
schlüpften durch die Lücke und folgten dem Öffnenden in die warme
Stube. Dort traf das Licht der trübe brennenden Kerze die Gäste.
Erschrocken fuhr der Wärter zusammen. »Um Gott, Herr Raßler, Ihr hier?
Wißt Ihr nicht, was man Euch zugedacht hat? Und Eure Begleiterin?«
Damit leuchtete er der zweiten Gestalt unter die Kapuze. »Alle Teufel,
Ihr seid ein nettes Paar. Euch, Venne Richerdes, gilt es fast noch mehr
als diesem da. Macht nur eilends, daß Ihr wieder aus dem Loche kommt,
das ich Euch öffnete, sonst ist's um Euch geschehen.«

Raßler ließ sich ganz behaglich in dem gichtbrüchigen Sessel nieder.
»Vorerst denken wir nicht daran, die gute Stadt Goslar zu verlassen.
Wir fühlen uns bei Dir sicher wie in Abrahams Schoß.«

»Aber um Gottes willen, wenn man Euch bei mir findet,« wimmerte er
ängstlich, »dann geht es auch mir an den Kragen.«

»So sorge dafür, daß wir nicht gefunden werden, dann kannst Du Dein
edles Haupt weiter durch die Straßen von Goslar tragen«, fuhr Raßler
gemütlich fort. »Jetzt aber wollen wir ruhen, denn unsere Besorgungen
können wir doch erst morgen verrichten.« Der Wächter sah schon, hier
war nichts mehr zu ändern, daher bereitete er oben im Turm schnell ein
Lager.

Am nächsten Tage wurde er mit geheimer Botschaft zu Katharina
geschickt. Eilfertig und zitternd kam das alte Weiblein angetrippelt.
Der Bote hatte ihr wohl schon gesagt, wen sie treffen werde, denn mit
allen Zeichen der Aufregung und Angst trat sie in das Zimmer. »Venne,
meine Venne,« schluchzte sie, »wie konntest Du mir das antun!«

»Still,« herrschte Raßler, »wollt Ihr zum Verräter werden?« Da bezwang
sie ihre Erregung, aber noch lange zitterte ihr gebrechlicher Körper
unter verhaltenem Schluchzen. Dann begann das Fragen hin und her. Venne
wollte wissen, wie es Hardts gehe, wie der guten Immecke Rosenhagen und
ihren Kindern, und Katharina wieder forschte, wie und wo ihr Herzblatt
lebe. Darüber war die Zeit verflossen, und es schlug die Stunde des
Abschieds. Wieder konnte die gute Alte sich nicht fassen, bis Raßler
nachdrücklich zum Aufbruch mahnte. Noch eine letzte Umarmung, dann
schritt die Alte davon, gebeugt von ihrem Gram und das Weinen mühsam
bekämpfend.

War die Einladung Katharinas auch mit aller Vorsicht erfolgt, es
konnte doch nicht unbemerkt bleiben, daß die Magd der Richerdes in der
stillen Gasse auftauchte. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie in das
Haus des Wächters hastete, und neugierige Augen geleiteten sie, als
sie wieder fortging. Was hatte die hier zu tun, und was verursachte
ihre Tränen? Hatte sie Nachricht von ihrer Herrin, der verruchten
Venne, bekommen? Die Zungen ruhten nicht. Wußte der eine, daß sie die
Nachricht vom Tode der Richerdes erhalten habe, so fügte der zweite und
dritte schon hinzu, daß sie jene selbst gesprochen, und sie wußten doch
nicht, wie nahe sie der Wahrheit kamen!

Es dauerte nicht lange, und die Menschen versammelten sich vor dem
Hause, Stadtsoldaten marschierten auf, das Gebäude war von den freien
Seiten umzingelt.

Die beiden beabsichtigten, mit dem Anbruch der Dunkelheit wieder
zu verschwinden. Sie unterhielten sich noch mit dem Mann, der sie
eingelassen hatte, da traf Stimmgewirr ihr Ohr. Raßler warf einen Blick
durch das kleine Fensterchen und fuhr erschreckt zurück. »Wir sind
verraten«, flüsterte er. Venne erblaßte. An sich dachte sie zuletzt.
»Oh, nun habe ich Euch auf dem Gewissen«, klagte sie.

»Sorgt Euch nicht um mich,« wehrte er ab, »Euch gilt es zu retten, denn
ich fürchte, Ihr seid ihnen im Augenblick wichtiger als ich.«

Verzweifelt spähte er umher: Gab es denn gar keinen Ausweg aus der
Falle? Es war ausgeschlossen, denn auf der Rückseite, nach dem Walle
zu, lehnte sich das Häuschen an die Stadtmauer. Verflucht, so war
man den Pfeffersäcken ins Garn gegangen, ohne daß sie es ausgespannt
hatten! -- Fieberhaft arbeitete sein Gehirn: Sollte er versuchen,
durchzubrechen? Er allein würde sich nicht besonnen haben. Aber Venne.
Kein Ausweg, keine Rettung! Wieder irrte sein Blick über den Platz,
wieder überlegte er, doch es ging nicht, er mußte Venne für den
Augenblick aufgeben, nicht um sie den Goslarern zu überlassen, sondern
um sie bald, morgen, in wenigen Tagen zu befreien. Er teilte ihr seinen
Entschluß mit.

»Verzagt nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, wartet Euer die
Rettung.« Dann traf er die Anstalten zum Durchbruch.

Absichtlich zeigte er sich an einer Giebelöffnung, als ob er von dort
aus entkommen könne. Sofort erhoben sich die Stimmen: »Da ist er, dort
will er entfliehen!« In wenigen Sätzen stand er an der Tür, riß sie
auf und warf sich auf die überraschten Nächststehenden. Es war ihm ein
leichtes, sie zu überrennen. Ehe noch die Menge wußte, was geschehen,
rannte er davon und verschwand. Venne aber wurde ergriffen und im
Triumph in festes Gewahrsam geführt.




Luthers kräftige Stimme wider den Ablaßmißbrauch, die zuerst im Jahre
1517 ertönte, fand in Goslar vielstimmigen Widerhall. Denn auch hier
hatte man Tetzel reichlich gespendet, und ein in der St.-Jakobi-Kirche
stehender Armenkasten führte noch lange den Namen ›Tetzelkasten‹.
Aber noch bekannte man sich nicht offen zu der neuen Lehre. Der Rat
im besonderen hielt noch einmütig am alten Glauben fest. Als jedoch
im Sommer 1521 die heldenmütige Standhaftigkeit Luthers zu Worms vor
Kaiser und Reichstag bekannt wurde, da war auch in Goslar die Bewegung
nicht mehr einzudämmen. Es fanden die ersten Predigten in lutherischem
Geiste statt, und der Vikar Johann Klepp lieh ihm von der Kanzel der
St.-Jakobi-Kirche das Wort. Der Oheim Hardts, der Pleban an dieser
Kirche, setzte beim Rate durch, daß jenem das Predigen in dieser Kirche
verboten wurde. Da zog Klepp in die Kirche zum Heiligen Grabe, und
seine Anhänger mehrten sich von Tag zu Tag.

Zuletzt wurde ihm das Reden in allen Kirchen verboten, doch der Stein,
der ins Rollen gekommen war, konnte nicht mehr aufgehalten werden. An
Klepps Stelle traten andere, und was man in den Gotteshäusern nicht
mehr verkünden durfte, fand auf den öffentlichen Plätzen das Ohr einer
noch größeren Zuhörerschaft. Magister Schmiedecke predigte auf dem
Lindenplan, und seine Anhänger, ›die Lindenbrüder‹, gewannen ihm neue
Gefolgsleute. So groß war der Zulauf, daß die Kirchen und Kapellen bald
leer standen.

Die Stadt war voll innerer Unruhe; die Masse des niederen Volkes stand
gegen die Besitzenden, besonders den Rat, in ablehnender Kampfstimmung.
Der Funken glühte; wer ihn zu entfachen vermochte, konnte große
Verwirrung über die Stadt bringen.

Hermann Raßler war über diese Zustände wohlunterrichtet, und er baute
darauf seine Befreiungspläne. Seit einigen Tagen lebte er wieder
unerkannt in den Mauern der Stadt, und seine Agenten bearbeiteten
das Volk, um es für seine Ziele einzuspannen. In geschickter Weise
wurde die Stimmung aufgepeitscht durch die Verquickung der religiösen
Spannung mit dem wirtschaftlichen Elend. Raßlers Plan ging dahin, einen
Auflauf des Volkes zu verursachen und während dieser Zeit die Gefangene
zu befreien. Die Zusammenrottung fand planmäßig statt. Große Mengen
schreienden und brüllenden Volkes drängten sich auf dem Marktplatz
zusammen. »Fort mit den Pfaffen! Heraus mit dem Rat! Brot! Brot! Der
Bürgermeister soll kommen!« so tobte und schrie es durcheinander.
Nur Achtermann verlor die Ruhe nicht. »Laßt die Kartaunen abbrennen,
schickt ihnen Vollkugeln auf den Wanst, daß sie satt werden«, riet er
höhnisch.

Das Gesicht Karsten Balders war in ernste Falten gelegt. Er übersah
das Unwetter, das heraufzog, in seiner ganzen Schwere. Es handelte
sich nicht nur darum, die Ruhestörer vom Marktplatz zu verscheuchen,
einigen Dutzend Schreiern den Mund zu stopfen, sondern eine Bewegung zu
bekämpfen, die das gesamte Volk bis in seine Tiefen hinein erregte und
die, wenn sie Wurzel faßte, die Stadt in ausgesprochenen Gegensatz zu
Kaiser und Papst bringen und damit den katholischen Herzögen den Weg
frei machen mußte, um ihr Mütchen an ihr zu kühlen. Er entschloß sich,
auf den Altan zu treten und beruhigend zu der Menge zu reden.

Als er erschien, schrien einige: »Still, der Bürgermeister will zu uns
reden. Ruhe für Karsten Balder!«

»Soll das Maul halten!« brüllten andere. Es drohte zu einem Handgemenge
zwischen den beiden Parteien zu kommen.

Die Leute Raßlers, geschickt auf den Platz verteilt, hetzten die einen
gegen die anderen, und der Tumult schien sich in sich selbst verzehren
zu wollen. Der Bürgermeister, der ein paarmal vergeblich versuchte,
sich Gehör zu verschaffen, wollte wieder wegtreten.

Während des Lärmens und Tobens hatte Raßler selbst sich mit einigen
handfesten Leuten Eintritt von der Seite der Marktkirche ins Rathaus
verschafft, in dessen Keller Venne Richerdes schmachtete. Da er durch
seine Späher auch über die Örtlichkeit genau unterrichtet war und alles
vorgesehen hatte, um bis zu ihr vorzudringen, stand er bald in ihrem
Kerker. Sie war schon oft zum Verhör vorgeführt worden und glaubte, man
wolle sie wieder vernehmen. Da erklang es hastig: »Kommt, die Befreiung
naht.«

Venne erkannte Raßler und warf sich ihm aufschreiend in die Arme.
»Gott sei Dank, daß Ihr kommt. Ich glaubte schon, ich sei von allen
verlassen.«

Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen, und seine Arme umschlossen
die geliebte Gestalt; dann aber ermannte er sich. »Fort, keinen
Augenblick verlieren!«

Durch Gänge und Türen stolperte sie an seiner Hand bis auf den Hof
hinauf. Das Licht der Sonne, das sie seit Wochen nicht geschaut hatte,
blendete so, daß sie die Augen mit der Hand schützen mußte.

Noch hatte niemand die Flucht bemerkt, denn aller Aufmerksamkeit war
den Vorgängen auf dem Markt zugewandt, und sie wäre auch wohl weiter
zunächst unbeachtet geblieben, wenn nicht zufällig ein Ratsherr aus
der rückwärts mit Fenstern versehenen Stube gesehen hätte, wie das
Paar eilig aus dem Hofe hastete. Er schlug sofort Lärm, und der Ruf:
»Venne Richerdes ist entflohen!« ertönte weithin. Dieser Ruf, ins Volk
geworfen, bewirkte, was weder der Bürgermeister noch andere erreichen
konnten: Der ganze Haufe setzte sich nach dem Hohen Wege in Bewegung,
wohin das Paar gelaufen war.

Die beiden hatten einen ziemlichen Vorsprung, und es wäre Raßler bei
seiner Kenntnis aller Winkel und Ecken wohl gelungen, sie in dem Gewirr
der Gassen am Liebfrauenberge in Sicherheit zu bringen, wenn nicht
Venne von der langen Haft geschwächt gewesen und ihre Kleider ihr beim
Laufen hinderlich gewesen wären. Einige leichtfüßige Burschen hefteten
sich an ihre Fersen. Um sie abzuwehren, mußte Raßler sich wiederholt
umkehren. So verlor er kostbare Minuten. Der Haufe kam immer näher, die
Wut funkelte aus aller Augen, dumpfe Schreie tönten an ihr Ohr.

Einige Leute Raßlers, die in Erkenntnis der Gefahr mit der Menge
vorgestürzt waren, warfen sich ihr entgegen; auch Raßler selbst zog
sein Schwert. Aber ihre Tapferkeit zerschellte an der Wucht der Masse.
Ein klobiger Rademacher, der ein Stück Holz am Wege aufgegriffen hatte,
schmetterte es auf Raßlers Kopf hernieder, daß er zu Boden sank. Alles
war verloren; da wollten die Knechte wenigstens ihren Hauptmann retten.
»Laßt das Weib, der Hauptmann ist uns mehr wert.«

Während die einen noch kämpften, schleppten die anderen den todwunden
Mann davon. Venne blieb in den Händen ihrer Verfolger und wurde im
Triumph zum Rathaus zurückgebracht. So endete der Befreiungsversuch,
und der Rat trug fortan durch verdoppelte Wachsamkeit Sorge, daß man
nicht ohne seinen Willen wieder zu ihr gelangen konnte.

                   *       *       *       *       *

Johannes Hardt bewahrte seine Treue gegen Venne auch jetzt noch, obwohl
sie ihn durch ihre Verbindung mit Raßler schwer enttäuscht hatte. Er
übernahm die Verteidigung der Angeschuldigten, und er unterließ nichts
anzuführen, was zu ihrer Entlastung dienen konnte, verhehlte sich
indes nicht, daß keine Aussicht bestand, sie zu retten. Gisela, die
von tiefem Kummer über das Los der Freundin erfüllt war, beschwor ihn,
nichts unversucht zu lassen. Sie erwog sogar den Plan, Venne heimlich
freizulassen durch Bestechung der Wärter. Auch Immecke Rosenhagen und
Erdwin Scheffer waren dafür gewonnen, aber Johannes erhob nachdrücklich
Einspruch. Sein Pflichtgefühl litt es nicht, daß er, der im Solde der
Stadt stand, etwas duldete oder sogar förderte, was ihn mit seinem
geschworenen Eide in Konflikt brachte. Außerdem erkannte er, daß
der Plan doch zum Scheitern verurteilt war. »Ich habe nur noch eine
Hoffnung,« sagte er zu Gisela, »sie beruht auf Ernesti, an den ich
schon vor langer Zeit eilige Botschaft schickte. Er ist mächtig und
einflußreich; sein Wort gilt auch bei dem Rate viel. Gelingt es ihm
nicht, Venne frei zu bekommen, so weiß ich keinen Rat mehr.« Seufzend
ergab sich Gisela in das Unabänderliche.

Ernesti kam; Johannes besprach mit ihm alles, und auch jener erkannte
den furchtbaren Ernst der Lage. Doch er wollte nichts unversucht
lassen. Schon am nächsten Tage begab er sich auf das Rathaus und hatte
mit Karsten Balder eine ernste Besprechung.

»Herr Karsten Balder,« sagte er, »ich verstehe Euren Zorn gegen mein
Niftel; ich will auch zugestehen, daß sie sich schwer gegen die Stadt
vergangen hat. Aber laßt ihr auch Gerechtigkeit widerfahren. Bedenkt,
wie schwer sie gekränkt war, wie man sie und ihren Vater gehetzt hat,
bis sie so weit kam. Ihre Begriffe von Recht und Unrecht mußten sich
verwirren; die Hauptschuld trägt der Ratsherr Achtermann, wie Ihr nicht
bestreiten werdet. Ich will von dem Geschwätz absehen, das er über sie
ausstreute, sie sei eine Hexe. Ihr selbst als vernünftiger Mann werdet
das nicht glauben, denn Heinrich Achtermann war ihr in treuer Liebe
zugetan, und es steht fest, daß er bis zuletzt nie an ihr gezweifelt
hat. Wie sollte also dieses reine, keusche Mädchen dazu kommen, sich
solcher buhlerischen Mittel zu bedienen, um etwas zu gewinnen, was sie
schon besaß? Ein anderes ist es um den Schaden, den sie oder Raßler,
vielleicht ohne ihre Kenntnis und Einwilligung, Eurer Stadt zugefügt
hat. Er mag groß sein, aber er ist zu ersetzen, und ich bin reich
genug, um dafür einzustehen.«

Karsten Balder hatte ihn sprechen lassen; unbewegten Antlitzes hörte
er ihm zu. Dann nahm er mit ernster Stimme das Wort: »Ihr wißt, Herr
Ernesti, daß Venne Richerdes wie ihr Vater mir die Hauptschuld an dem
beimessen, was sie an Ungemach betraf. Sie taten mir bitter unrecht
damit, aber ich habe geschwiegen. Meine Hand ist rein von Schuld gegen
sie. Mein Mund hat nichts geredet, das ich nicht verantworten könnte.
Sie taten mir unrecht, aber es soll ihnen nicht vorbehalten bleiben.
Doch anders ist es mit dem, was der Stadt widerfuhr. Für diese tat ich,
was jene mir als persönlich gemeinte Kränkung auslegten; für diese muß
ich geschehen lassen, was jetzt über die Tochter kommt. Sie tut mir
leid, die Venne, ich will es Euch gestehen, und was der Achtermann ihr
antut, mag kleinlich, verächtlich, verabscheuungswürdig sein. Aber
es steht mir nicht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen. Hätte sie sich
früher an mich gewandt, so wäre vielleicht manches anders geworden;
jetzt ist es zu spät.«

»Herr Bürgermeister,« entgegnete Ernesti, der noch nicht alle Hoffnung
aufgeben wollte, »ich bin, wie Ihr wißt, ein Freund Eurer Stadt. Ihr
selbst nanntet mich so. Ich habe -- wiederum gebrauche ich Eure Worte
-- ihr Dienste geleistet, für die mir Dank zugesichert wurde. Wohlan,
jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen. Ich begehre nichts als
die Befreiung Venne Richerdes'. Sie soll Euch Urfehde schwören; ich
will sie mit mir nehmen, daß Ihr sie nie wieder zu Gesicht bekommt,
aber laßt sie gehen.

Ich habe Euch geholfen, ich werde Euch helfen. Ich sorge, Ihr werdet
diese Hilfe gut gebrauchen können. Gebt sie mir. Sie ist nur mein
Niftel, aber Ihr seid selbst Vater, habt eine blühende Tochter. Sagt,
wie täte es Euch, wenn man sie töten wollte. Würdet Ihr nicht Himmel
und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten?«

»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, Herr Ernesti, sicher. Wäre ich der
Bürgermeister Karsten Balder, nein! Ich stehe hier für die Stadt, der
ich geschworen habe. Ihr mahntet mich an die unruhige Zeit, in der wir
leben; wie sollte ich es verantworten, gäbe ich die Schuldige frei,
um vielleicht demnächst ein Dutzend armer Schelme dem Gericht zu
überantworten. Solange ich über Recht und Gerechtigkeit in der Stadt
Goslar zu wachen habe, wanke ich nicht. ›+Fiat justitia, pereat
mundus+!‹ Die Gerechtigkeit soll ihren Lauf haben auch in diesem
Falle.«

Bleich waren beide Männer, die sich jetzt gegenüberstanden.

»Ihr hattet meine Freundschaft, Karsten Balder,« sagte Ernesti mit
düsterer Stimme, »so nehmt meine Feindschaft. Daß ich einen Fehdebrief
schreibe, wollet nicht erwarten, aber die Absage sollt Ihr merken!«

»Ich muß es gelten lassen«, sagte Karsten Balder tiefernst; damit
schieden die beiden Männer.

Den Hardts berichtete er von seinem Mißerfolge. Venne wollte er nicht
mehr sehen. »Es geht über meine Kraft, vor sie zu treten«, sagte er,
»mit dem Bewußtsein, daß der Tod hinter ihr steht, und ihr leere
Trostworte zuzuraunen. Sagt ihr auch nicht, daß ich hier gewesen.«

Dann brach er auf. Von Goslar fuhr er geradeswegs nach Wolfenbüttel, um
mit dem Herzog zu verhandeln; darauf kehrte er in seine Heimat zurück.

Auch Herzog Heinrich versuchte noch einmal, zugunsten Vennes zu
vermitteln; es war vergebens. Mit fast ingrimmiger Festigkeit lehnte
der Bürgermeister die Einmischung des Welfen ab. So nahm der Prozeß
gegen Vene Richerdes seinen Lauf.




Auf dem Rosenberge, in einsamer Lage, wohnte der Henker der Stadt
Goslar, Meister Henning Voß, mit Weib und Kind und mit seinen
Knechten. In den Akten der Stadt führt er den harmlos klingenden Namen
»Suspensor«. Für den armen Delinquenten, der ihm überantwortet wurde,
war es indes gleich, ob der Rat Meister Henning seine sechzehn Groschen
lötigen Silbers als »Henker« oder als »Suspensor« zahle.

Die Amtseinnahmen des Henkers waren nicht immer glänzend. Zwar flossen
ihm neben den Einnahmen aus seinem blutigen Beruf auch sonst noch
manche Sporteln zu, die ihm für allerlei unsaubere Arbeit zustanden,
wie Reinigen der Gruben bei den Herren Ratsleuten, Abholen und
Vernichten der Kadaver gefallener Tiere; aber es wäre doch in manchem
Jahre Schmalhans Küchenmeister bei ihm gewesen, wenn sich ihm nicht
noch andere einträgliche Einnahmequellen erschlossen hätten. Er war
bekannt als Besitzer mancher dunklen Wissenschaft, geheime Tränke zu
brauen, krankes Vieh zu besprechen, Liebe zu sichern und zu stören
zwischen jungen Pärchen. Das alles fiel in den Bereich seiner Kunst.
An manchem dunklen Abend pochte es an das Tor des Gehöfts, und ein
zitternd Jüngferlein oder ein beherzterer Bursche holte sich Rat bei
Meister Voß.

Als bestellter Henker hatte er auch dem Peinlichen Gericht seine
Dienste zur Verfügung zu stellen. Und mancher, dem seine Rute den
Rücken gestrichen oder dem er das Schandmal aufgebrannt hatte, sandte
ihm im stillen und aus der Ferne seine Segenswünsche zu. Jetzt stand
wieder einmal eine große Sache an, bei der es etwas zu verdienen gab.
Daß es sich dabei um die Tochter eines Vornehmen handelte, erhöhte noch
den Reiz der Arbeit.

Das Peinliche Gericht tagte in der Stadtfronei, die zur Zeit unter
der Sankt-Ulrichs-Kapelle in der Kaiserpfalz untergebracht war. Dort
hingen an den Wänden all die Geräte, mit denen man schweigsame Leute
zum Reden brachte. Und dort bereitete jetzt auch Meister Voß und seine
Leute alles vor, um die Angeklagten gehörig behandeln zu können. Es
waren eingezogen außer Venne die alte Katharina und die Gittermannsche.
Die beiden letzteren traf der Vorwurf des Zauberns und der Beihilfe
zu diesem Verbrechen. Venne Richerdes hatte sich außerdem wegen
Hochverrats und Mordes, begangen an ehrsamen Bürgern, zu verantworten,
wie auch dafür, daß sie mit Hermann Raßler, der Stadt abgeschworenem
Feinde, gemeine Sache gemacht habe.

Noch war der Henker mit seinen Knechten allein in dem düsteren Raume.
Die Folterkammer entbehrte nicht des frommen Apparates, um auch keines
der Mittel unversucht zu lassen, die auf das schon über die Maßen
erregte Gemüt des peinlich zu Befragenden von Wirkung sein konnte.
Der Freitag, der Sterbetag des Heilandes, galt den Inquisitoren als
furchtbarster Erntetag. So wählte man ihn auch in Goslar. Das Gemach
war schwarz ausgeschlagen; ein riesengroßes Kruzifix an der Wand trug
nicht minder zur Erhöhung der düsteren Stimmung bei.

Meister Voß war ein frommer Mann, so ungereimt das auch manchem
vorkommen mag. Er hatte das Geschäft vom Vater überkommen, wie dieser
vom Großvater. Morgens sprach man in seinem Hause den Frühsegen,
und der Abend fand nicht sein Ende, ohne daß dem lieben Gott gedankt
wurde für das Gute, das er den Tag über beschert hatte, und war auch
etwas Ungemach dazwischen gewesen. Daß dem Herrn der Heerscharen seine
kleinen außerberuflichen Nebenbeschäftigungen vielleicht nicht ganz
genehm sein möchten, kam ihm in seiner christlichen Einfalt nicht in
den Sinn.

Lag ein besonderes Werk vor, so folgte dem Morgengebet noch ein
zweites, in dem er den Herrn um eine sichere Hand anflehte und den
Himmel bat, ihm die Tat nicht vorzubehalten, die er im Namen eines
wohlweisen Rates zu tun berufen war. So geschah es auch heute, obschon
es nur galt, die peinliche Frage zu tun, wenn die Angeklagten nicht
jetzt vor dem Gericht geständig waren. Er nahm die Kappe ab, die
Knechte taten ein gleiches, der eine ein wenig langsam und grinsend.
Da unterbrach Meister Voß für einen Augenblick die schon begonnene
Andacht, und seine Faust saß dem Säumigen im Nacken. »Willst Du Hund
unserem Herrgott nicht den nötigen Respekt erweisen?« Der Gemaßregelte
ließ sich willig belehren, und das Gebet verlief nach dem Fürspruch des
Meisters.

Während dieser Zeit tagte über ihnen noch in einem Gemach das
Gericht. Hinter einem schwarzbehangenen Tische, auf dem ein großer
Kruzifixus zwischen zwei Kerzen stand, saßen schweigsamen und düsteren
Antlitzes der Inquisitor und die Schöffen. An der Seite wartete
der Aktuarius mit sorgsam zugeschnittenem Federkiel darauf, die
Angaben niederzuschreiben. Es läutete dem Herkommen gemäß gerade die
Angelusglocke, als die Beschuldigten von dem Büttel hereingeführt
wurden. Das Malefizverfahren schrieb vor, daß die Tortur, die sich
etwa anschließen konnte, die Übeltäter mit nüchternem Magen antreffe.
So war es auch hier.

Als erste kam die Gittermannsche. Das häßliche Weib überfiel den
Gerichtshof sogleich mit einem Schwall von Beteuerungen ihrer Unschuld.
Die Magd habe ihr überhaupt nicht gesagt, daß der Trank für einen
Menschen sei; er gelte einem Hunde, so sei ihr gesagt worden. Der
Richter unterbrach sie strenge und ermahnte sie, zu schweigen und nur
auf die Fragen zu antworten. Da sie bei ihrer Behauptung blieb, brach
man das Verhör ab.

Katharina gestand unumwunden, daß sie zur Gittermannschen gegangen
sei, um sich einen Liebestrank für Heinrich Achtermann zu holen. Die
Gittermannsche, welche ihr empfohlen sei, habe durchaus gewußt, wem es
gelte. Sofort fiel diese mit einem Schwall von greulichen Flüchen und
Verwünschungen über sie her, so daß das Gericht ihr schon jetzt mit
Auspeitschen drohen mußte, wenn sie das Verhör noch weiter störe. Da
begnügte sie sich, den beiden anderen Frauen giftige Blicke zuzusenden.
Die alte Magd beteuerte bei allen Heiligen, daß ihre Herrin nichts von
der ganzen Sache gewußt habe.

Auch Venne erzählte den Vorgang so. Der Richter schüttelte den Kopf.
»Und Ihr behauptet allen Ernstes und mit Vorbedacht, daß Ihr von dem
ganzen bösen Handel nichts wußtet?«

Venne antwortete kurz und bestimmt: »Nein.«

»Bedenkt, es steht ein gewichtiger Zeuge gegen Euch, der Ratsherr
Achtermann. Er behauptet das gerade Gegenteil.«

»So spricht er die Unwahrheit«, beharrte Venne trotzig.

»Ich warne Euch«, drängte der Vorsitzende. »Euch kann allein ein
offenes Geständnis vor der peinlichen Frage bewahren.«

»Soll ich etwas gestehen, was ich nicht tat«, entgegnete sie mit
Tränen.

»Das ist Eure Sache«, antwortete der Richter geschäftsmäßig kühl. Da
drängte sich die alte Katharina vor. »Aber ich schwöre Euch, sie ist
unschuldig. Wie könnt Ihr glauben, daß Venne Richerdes dazu jemals ihre
Zustimmung gegeben haben würde!«

»Führt sie hinaus«, befahl der Unerbittliche streng. »Sie mag reden,
wenn sie wieder befragt wird. Und die andere, die Anstifterin, nehmt
auch mit.«

»Also, Ihr wollt nicht gestehen?« wandte er sich wieder an Venne. »Gut,
so brechen wir damit ab.«

»Man redet Euch auch nach, daß Ihr gegen den wahren Glauben unserer
Kirche gesprochen, Euch auch zu dem Apostaten, dem sündigen Mönch
Luther, bekannt habet. Wie steht es damit?«

»Das ist der schuftige Schreiber des Bischofs, der uns belauschte und
Halbgehörtes entstellte.«

»Ich nehme es für eine Absage,« entgegnete der Richter mit einem
stummen Lächeln. »Doch darüber wird Euch etwa noch ein anderer
vernehmen. Aber nun erklärt Euch zu Hermann Raßler«, fuhr er dann mit
erhobener Stimme fort. »Leugnet Ihr auch hier die Gemeinschaft?«

»Ich leugne nicht, was ich getan habe«, antwortete Venne ruhig. »Ich
nahm ihn mir zum Helfer, um mir mein Recht zu verschaffen, das der Rat
mir vorenthielt. Daß er Goslar und seinen Bürgern so zugesetzt, wußte
ich nicht, und es tut mir leid. Hätte ich es gewußt, ich würde meine
Zustimmung nimmer gegeben haben.«

»Und die Beleidigung des Rates und Bürgermeisters Karsten Balder vor
des Kaisers Majestät? Wie steht es damit? Leugnet Ihr oder gesteht
Ihr?«

»Ich leugne nicht, daß ich sie in Worms vor Kaiser und Reichstag der
Beugung des Rechts geziehen habe gegen mich und meinen Vater. Ist das
eine Sünde, so muß ich sie tragen. Aber sagt selbst, konnte ich anders,
da man mir hier in Goslar die Türen verschloß?«

»Auf meine Ansicht dabei kommt es nicht an«, wehrte der Inquisitor
kühl ab. »Also Ihr gesteht. Bleibt noch eins, nicht minder sündhaft.
Man sagt Euch nach, daß Ihr den Schädling Hermann Raßler durch listige
Überredung gewonnen, auch Euch ihm hingegeben und buhlerisch mit ihm
gehauset habt. Stimmt das?«

Flammende Röte schoß Venne ins Gesicht. »Das ist gemein, das ist so
niederträchtig, daß ich darauf nichts entgegnen will«, schloß sie mit
Zusammenraffen des letzten Stolzes, obschon alles in ihr zitterte.

»Also schreibt, Aktuarius«, fuhr der Grausame ungerührt und kalt fort.
»Die Angeklagte Gittermann gesteht ein, den Zaubertrunk bereitet,
leugnet aber, ihn für Menschen bestimmt zu haben. Die Angeklagte
Katharina, Magd der Venne Richerdes, hat den Trunk geholt, leugnet
aber, ihrer Herrin davon Kenntnis gegeben zu haben. Und Venne Richerdes
endlich will von dieser Angelegenheit nichts wissen, leugnet auch die
Buhlschaft mit Hermann Raßler, wie die beleidigenden Äußerungen vor des
Kaisers Majestät. Sie gesteht indes zu, mit selbigem Hermann Raßler der
Stadt Goslar aufgesagt und derselben fleißig Schaden zugefügt zu
haben.«

Venne wurde abgeführt; darauf beriet das Gericht, wie weiter zu
verfahren sei. Man kam sehr bald zu dem einstimmigen Urteil, daß die
drei über die bestrittenen Punkte peinlich zu befragen seien. Es wurde
die Reihenfolge festgesetzt, beginnend mit den leichteren Graden.

Wenn all der Scharfsinn, den man im dunklen Mittelalter darauf
verwendet hat, Werkzeuge zu ersinnen, welche die eigenen armen
Mitmenschen bewegen sollten, Schandtaten zu gestehen, die sie
doch niemals begangen haben konnten, wenn diese Tüfteleien darauf
eingestellt worden wären, der Menschheit nützliche Dinge zu ersinnen,
manche der Erfindungen, deren unsere aufgeklärte Zeit sich rühmt,
wären uns von jenen schon vorweggenommen. Die ›Daumenschrauben‹, der
›Spanische Stiefel‹, die ›Pommersche Mütze‹, der ›Halskragen‹, der
›Leibgürtel‹, ein mit Eisenstacheln besetztes Korsett, in welches die
Büste der Angeklagten hineingepreßt wurde, der ›Bock‹, ein in scharfer
Schneide auslaufender Holzbock, auf welchen die ›Hexe‹ rittlings
gesetzt wurde, stellen nur eine kleine Auslese der Marterinstrumente
dar, mit deren Anwendung man die Armen zum Geständnis zu bringen
suchte.

Man begann bei den Angeklagten mit dem Auspeitschen. Gräßlich
hallte das Geschrei der Gittermannschen durch den Raum. Unbeweglich
sahen der Richter und die Schöffen zu. Das Weib wand sich unter den
unbarmherzigen Streichen, die ihren Rücken zerfetzten. Sie schrie, sie
wolle gestehen, sie widerrief, und wieder sausten die Streiche herab.
Da brach ihr Widerstand endlich.

Venne kämpfte mit einer Ohnmacht während des gräßlichen Schauspiels,
und doch galt es bisher nur einer Fremden, einem widerwärtigen alten
Weibe, dem mit dieser grausamen Behandlung vielleicht eine gerechte
Buße auferlegt wurde für viele heimliche Sünden.

Als aber ihre alte Katharina, ihre treue Pflegerin und Behüterin seit
den Tagen der sonnigen Kindheit, an den Pfahl gebunden und ihr Rücken
sich unter den Streichen des Henkers blutig rötete, da war sie zu Ende
mit ihrem Widerstand.

»Haltet ein, haltet ein, sie ist unschuldig, ich will gestehen!«

Katharina hatte bis dahin alles ertragen, nur ein Ächzen rang sich
über die welken Lippen; jetzt aber, da die Herrin sich für sie opfern
wollte, schrie sie dazwischen: »Glaubt ihr nicht, sie sagt die
Unwahrheit; ich war's allein.«

Der Richter kehrte sich nicht an ihr Geschrei. Ihm lag vielmehr an dem
Geständnis der einen, der Hauptperson, die als ein ruchloses Scheusal
dem Volke vorgeführt werden mußte, sollte die Strafe allen als gerecht
erscheinen.

Ihre Freunde waren bei dem Prozeß zu der Rolle der ohnmächtigen
Zuschauer verurteilt. Immecke Rosenhagen saß voller Ingrimm im
›Goldenen Adler‹. Die Gäste litten unter ihrer Laune. In ihrer alten
Entschlossenheit suchte sie den Bürgermeister auf und bedeutete
ihm, er könne doch unmöglich an das hirnverbrannte Zeug glauben;
sie wies darauf hin, daß es nicht guttue, ein Mitglied einer alten
Patrizierfamilie in dieser Weise bloßzustellen, denn die gemeine Masse
ziehe daraus leicht ihre Schlüsse auf die Qualität der Vornehmen
überhaupt. -- Es war vergebens. Noch höher stieg ihr Groll, wenn sie
darauf kam, daß der Ratsherr Achtermann, der am meisten Schuldige,
triumphiere.

Erdwin Scheffer, der Stadtweibel, fraß seinen Grimm in sich hinein,
wenigstens draußen. Zu Hause mußten die Kinder seine Laune büßen, wenn
sie sich irgendwie laut machten.

Johannes Hardt war in seiner Rolle als Verteidiger sehr beschränkt. Bei
der vorgefaßten Meinung der Richter verhallten seine eindringlichen
Worte. Man wollte ein Opfer, und Venne sollte es sein!

Schon als die Folter bestimmt wurde für den Fall, daß sie nicht
gestehe, erwies sich die Voreingenommenheit. Nach der bestehenden
Gerichtsordnung konnten graduierte Personen, wie Doktoren, Lizentiaten,
Professoren, Advokaten, und Leute von Stand, wie aus vornehmen
Bürgergeschlechtern, die denen des Adels gleichzusetzen seien, von
der Folter befreit werden; man ließ die Vergünstigung für Venne nicht
zu. Als das Urteil gefällt war, das für die Gittermannsche auf den
Feuertod, für Katharina auf erneutes Auspeitschen und Verweisung aus
der Stadt und für Venne Richerdes endlich auf den Tod durch das Schwert
lautete, versuchte Johannes Hardt noch einmal, sie zu retten. In einer
Eingabe an den Rat wies er darauf hin, daß ein Appell an den Kaiser
Begnadigung erwirken könne. Man verweigerte es. Die Stadt habe das
Recht über Leben und Tod, also lasse sie sich von niemand dreinreden.
Mutlos kehrte Johannes zu den Seinen zurück. Unaufhörlich flossen die
Tränen Giselas; das harte Los Vennes konnte sie nicht ändern. Es wurde
von dem Rate als eine besondere Vergünstigung hingestellt, daß man sie
nicht wie eine gemeine Hexe verbrennen lasse, sondern sie durch das
Schwert aburteilen wolle.

                   *       *       *       *       *

Venne Richerdes saß in strenger Haft. Man suchte einen abermaligen
Befreiungsversuch durch geeignete Maßnahmen unmöglich zu machen.
Sie war jetzt in Wahrheit von aller Welt abgeschlossen und bekam
Menschen nur bei gelegentlichen Verhören noch zu sehen, die aber
immer von kurzer Dauer waren, da ihr Geständnis vor dem Inquisitor als
ausreichend angesehen wurde. Auch wollte man keinerlei Gelegenheit zu
einem Widerruf bieten.

Venne dachte allerdings gar nicht an einen solchen, denn er würde
das gräßliche Schauspiel erneuern, das ihr fast die Besinnung nahm.
Lieber wollte sie aber den Tod selbst erleiden, ehe sie ihre alte, gute
Katharina noch einmal den Henkersknechten auslieferte! Der Tod aber war
ihr gewiß, so viel wußte auch sie von der grausamen Rechtspflege ihrer
Zeit. Keine Rettung, nachdem Raßlers Versuch gescheitert war.

Der Keller des Goslarer Rathauses, der heute noch in seiner Urform zu
sehen ist, ist vor anderen Anlagen gleicher Art ausgezeichnet durch
seine ungewöhnlichen Höhenausmaße. Wie gewaltige Höhlen erstrecken sich
die Gewölbe unter dem alten Gebäude dahin. Das Auge sieht die Wölbungen
in unerreichbarer Höhe über sich, das Tageslicht dringt durch schmale,
fast ebenso hoch liegende Schlitze in geiziger Sparsamkeit hinein und
läßt das Dunkel des Raumes nur noch um so gespenstiger und grauenhafter
erscheinen.

In einem dieser schauerlichen Verließe saß Venne Richerdes und wartete
auf ihren Spruch. Kein Mensch nahte ihr als der Kerkermeister, der ihr
die Speisen brachte und grußlos und schweigsam kam und ging. Kein Laut
der Außenwelt drang zu ihr, sie war schon jetzt für ihre Mitmenschen
tot.

Auch Johannes Hardt erhielt nicht länger Zutritt zu ihr, aber einer
vergaß sie nicht, die Kirche. Sie, die sich von ihr als Abtrünnige
gekränkt glauben konnte, wollte doch versuchen, die irrende Seele
zu retten. So schickte sie ihren Boten, und bei der Auswahl erwies
sich's, daß sie die Seelenkunde als vornehmste Waffe gegen den
Unglauben zu verwenden verstand. Es kam nicht ein Eiferer, nicht ein
ungestümer Hitzkopf, der mit dem Donner seines Wortes die Arme zu
gewinnen suchte, sondern ein alter, würdiger Pater, ein Franziskaner,
bei dem sie, wie die Mutter, bisweilen gebeichtet hatte. Aus seinem
Wesen sprachen Güte und Nachsicht.

Mit einem freundlichen, milden Wort begrüßte er sie, als er ihr die
Hand reichte. Nichts von Vorwurf, nichts von Geringschätzung.

»Auf Dir lastet ein schweres Geschick, meine Tochter. Wie findest Du
Dich damit ab?« begann er teilnehmend.

»Wie man etwas Unverdientes hinnimmt, ehrwürdiger Vater. Man grollt
dagegen und kann es doch nicht ändern. Man möchte die ganze Welt
verderben und weiß doch, daß sie darob nur hohnlacht«, murrte sie
düster. Seine Hand glitt tröstend über ihr Haar. »Wer kennt Gottes
Wege, und wer weiß, wohin das zielt, was er uns schickt? -- Wir
meinen vor anderen zum Leiden ausersehen zu sein, wähnen uns zu
Besonderem bestimmt, ungerecht aus der Bahn gerissen, und sind doch nur
Staubkörnlein auf seinem Wege. Und eins, mein Kind, vergessen wir gar
zu gern ob der Klagen: die Selbstanklage.

Ich bin nicht gekommen, Dich anzuklagen, ich will Dich aufzurichten
suchen. Aber so Du auch gegen die anderen haderst, wie mir scheint,
prüfe auch, ob Du vor Dir selbst gerechtfertigt dastehst. Ich bin ein
alter Mann, der manches von der Welt gesehen hat. Vielerorts habe ich
die Ungerechtigkeit triumphieren sehen, ohne dagegen einschreiten zu
können. Auch in Deinem Falle liegt es, wie mir scheint, ähnlich.
Deine Widersacher haben sich gegen Dich verschworen. Was Du dabei zur
Gegenwehr gegen Deine Heimatstadt unternahmest, ist ebenso verwerflich,
aber es mag mit Deiner Verlassenheit und Hilflosigkeit zum Teil erklärt
und entschuldigt werden. Doch was Dir als schwere Schuld anzurechnen
bleibt, ist Deine Einstellung zu den Schwarmgeistern, als deren
schlimmster und ruchlosester jener wortbrüchige Mönch anzusehen ist,
den Du in Worms zu Deinem Verderben hörtest.«

»Ihr habt es von dem schuftigen Schreiber des Bischofs«, warf Venne mit
zuckenden Lippen, verächtlich lächelnd, ein. »Gegen solche Zeugen mag
ich mich nicht verteidigen.«

»So sagt, daß er lügt,« fiel ihr der Mönch ins Wort, »und auch ich will
ihn für einen Schuft erklären und aller Welt Eure Reinheit
verkündigen.«

»Das vermag ich nicht zu sagen«, bekannte sie freimütig. »Zwar hat
er nur halb aufgefangene Worte hämisch und tückisch weitergetragen,
aber in der Sache hat er nicht unrecht. Ich will bekennen, daß der
Wittenberger einen gewaltigen Eindruck auf mich machte. Und was Ihr
ihm nachsagt von Ruchlosigkeit und Schlimmerem, vermag ich nicht
zu glauben. Wenn Ihr den Mann gesehen hättet mit seiner lodernden
Begeisterung, seinen überzeugenden Worten, denen die Wahrheit auf der
Stirn geschrieben stand ...«

-- »Höre auf,« rief der Pater, »ich sehe, Du bist schon völlig in die
Netze dieses Apostaten verstrickt. Kehre um, solange es noch Zeit ist.
Ich beschwöre Dich bei Deiner Seligkeit. Oder ist es dazu schon zu
spät, hast Du Dich ihm mit Leib und Seele verschrieben?«

»Eure Sorge ist verfrüht«, entgegnete Venne. »Und«, fuhr sie bitter
fort, »hättet Ihr vor meiner Fahrt nach Worms nur einen Bruchteil
Eures Eifers um mich aufgebracht, so fändet Ihr mich wohl gar nicht
in dieser Stimmung und auch nicht in dieser Lage. Noch ist nicht
geschehen, was Ihr befürchtet; aber ich bin auf dem Wege zu ihm, dem
Wahrheitskündiger und Seelenarzt. Das sollt Ihr wissen.«

Der Mönch lenkte ein: »Du machst die Kirche und uns, ihre Diener, zu
Unrecht für das verantwortlich, für die Unbill, die Dir widerfuhr. Wir
mischen uns nicht in weltliche Händel, wie Du weißt.«

»Nun, so laßt mich diese weltlichen Händel auch austragen mit all dem,
was sie im Gefolge haben«, schloß sie bitter.

Aber der Pater wagte noch eine letzte Mahnung.

»Meine Tochter, vergiß, was man Dir zufügte, vergiß aber nicht, was
Deiner im Jenseits wartet! Höllenqual und ewige Verdammnis, und vergiß
nicht den Schmerz, den Du Deinen Eltern zufügst durch Deine Tat.
Sie warten Deiner in ihren lichten Höhen. Willst Du Dich von ihnen
scheiden?«

Sanft, mit zarter Güte war es gesprochen, und wie früher verfehlten
diese Worte ihren Eindruck nicht. Venne begann bitterlich zu weinen.

»Das ist ja das qualvolle, daß ich nicht ein noch aus weiß in meiner
Not. Wie oft habe ich schon daran gedacht, und doch zieht es mich immer
wieder nach jener Seite, wo der Wittenberger steht!«

Der Besucher sah, daß er dem armen Mädchen jetzt nicht weiter zusetzen
dürfe, deshalb schickte er sich zum Aufbruch an. »Du zweifelst noch,
meine Tochter, da ist nicht alles verloren. Ich will jetzt gehen und
Dich mit Gott und den Heiligen allein lassen. Mögen sie Dir das Herz
erleuchten und Dir zurückhelfen auf den rechten Weg. Und vergiß nicht:
Dem Reuigen behält die heilige Kirche seine Sünden nicht vor.«

Der Mönch ging. Venne war wieder allein in ihrer trostlosen Einsamkeit.
Und dann sank der Abend herab, und die Nacht drohte, die grauenvolle
Nacht ohne Schlaf. Venne sah es an dem Verblassen des Lichtstreifens,
der in ihren Kerker fiel.

Verzweiflungsvoll irrte sie in dem engen Gefängnis hin und her. Sie
wurde erneut ein Raub der widerstreitendsten Gefühle. Die Worte des
Mönches hatten alles in ihr aufgewühlt, was sie zur Ruhe gekommen
glaubte. Wie gierige Wölfe fielen die Gedanken sie an, ihre irdische
Not, die Trennung von dem Geliebten, der ihr auf immer entrissen war,
die ihr angetane Schmach; ihr ganzes verpfuschtes Dasein stieg vor ihr
auf. Und dann die grausige Vorstellung, daß sie dem Henker verfallen
sei. »Wehe, wehe, so jung und schon sterben müssen!« -- Und mit dem
Tode war es noch nicht zu Ende, selbst in das Jenseits hinein belastete
sie noch die Erdenschwere: »Was harrt Deiner dort?«

In namenlosem Jammer rang sie die Hände. »Herr mein Gott, erleuchte
mich! Vater, Mutter, gebt mir einen Wink, wo der rechte Weg ist!«

Keine Antwort in der erdrückenden Stille, schwarze Nacht ringsum! --
Doch da schleicht sich ein Schimmer in ihr Gefängnis und trifft ihr
ruhelos irrendes Auge. Ein Sternlein sendet sein bescheidenes Licht
durch den Fensterschlitz. Aus erdenweiter Ferne gleitet sein milder
Glanz herab in den Raum, wo irdische Unbill sie ummauert hält. Und ein
zweites steht ihm getreulich zur Seite, und ein drittes. In sanfter
Stetigkeit blicken die Augen des Himmels auf sie herab. Und Venne
klimmt mit ihrem leidgeprüften Herzen zu den Seligen empor, die da oben
in den himmlischen Sphären wandeln und leben. Vielleicht wohnt auf eben
dem Sternlein das Mütterlein und der Vater, und sie sehen herab auf
ihre Tochter, die in dieser furchtbaren Einsamkeit dem frühen, harten
Tode entgegenlebt.

»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner. Gib mir ein Zeichen, daß Du mir
nicht zürnst, daß ich nicht von Dir geschieden bleibe!« Und ihre Seele
sucht in brünstigem Gebet die Ferne, Selige.

Da fließt es wie ein linder Trost ihr ins Herz. Das verklärte Antlitz
der Mutter blickt auf sie hernieder, und sie spricht zu ihr: »Fürchte
Dich nicht, meine Venne, ich bin bei Dir jetzt, und ich umschwebe Dich
in Deiner letzten, großen Not. Du suchtest Gott, Du hast ihn gefunden;
bleibe ihm treu, höre nicht auf Menschenwort. Und alles, was das Herz
Dir bedrückt, das wirf auf ihn, den Eingeborenen, den er uns sandte,
uns zu heilen und zu lösen. Jesus Christus, Dein Stab! An ihn halte
Dich, mit ihm tritt die Wanderung an durch das dunkle Tal, das Dich zu
mir, zu uns führt!«

»Jesus Christus, Dein Heil, Deine Zuversicht!« -- wie milder, heilsamer
Balsam legte es sich auf ihre zweifeldurchwühlte Brust. »Jesus
Christus, Dein Stecken und Dein Stab!« -- mit einem Seufzer unendlichen
Glücksgefühls wandte sich ihr Blick von den schwindenden Sternen, die
ihre Bahn durch die Ewigkeit fortsetzten.

»Jesus Christus!« -- Der Name schwebte noch auf ihren Lippen, als die
Augen sich schlossen zum Schlummer auf hartem Lager.

Am nächsten Tage schon kehrte der Franziskaner wieder. Er fand Venne
in gelassener Ruhe. Der Friede in ihrer Stimme, der ihm bei seinem Gruß
entgegenklang, erfüllte ihn mit Unruhe und Sorge.

»Hast Du Dich zurückgefunden, meine Tochter?« fragte er mit milder
Stimme.

»Wie Ihr es versteht,« entgegnete Venne, »zurückgefunden oder
zurechtgefunden zu meinem Gott und Erlöser; von ihm soll mich nichts
mehr scheiden.«

»Wie soll ich das verstehen?« forschte er. »Dachtest Du auch an das,
was ich Dir von den Eltern und dem Jenseits sagte?«

»Seid gewiß,« erwiderte sie zuversichtlich, »ich fand sie und hörte
ihren Rat, der aber weist mich zu Jesum. Ihm will ich folgen und nur
ihm.«

»Und die Kirche und die lieben Heiligen, baust Du nicht auf ihre
gnadenbringende Fürsprache?«

»Ich habe meinen Heiland, habe Jesum Christum, was brauche ich sie!«

»So bist Du verloren für die Zeit und Ewigkeit!« Grollend erklangen
seine Worte.

»Zürnet nicht, ehrwürdiger Vater«, bat Venne mit sanfter Stimme. »Es
schmerzt mich, daß ich Euch kränken muß, der mir nur Gutes erwies. Aber
Gottes Gebot geht vor Menschenwunsch. Und Gott befiehlt mir durch mein
Mütterlein: ›Bleibe getreu und halte Dich an Jesum Christum!‹«

Da schied der Mönch zum andern Male von ihr, und er ging mit wehem
Herzen, daß er die verirrte Seele nicht zurückgewinnen solle. Traurig
war sein Blick, und Trauer durchzitterte seine Stimme, als er murmelte:

»So leb' denn wohl für diese Zeit und für die Ewigkeit!«




Während in Goslar Venne Richerdes der Prozeß gemacht wurde, lag ihr
Bewunderer und Helfer todwund in Rohde, wohin er gebracht war, sobald
sein Zustand das zuließ. Lange hielt ihn das Fieber im Bann, und es
schien, als ob der willensstarke Mann seinen Meister gefunden habe.
Immer wieder gellte der Name »Venne« durch seine Fieberträume, und
oft fuhr er auf mit dem Rufe: »Laßt mich zu ihr, ich habe ihr Hilfe
versprochen, ich darf nicht wortbrüchig an ihr werden.« Aber dann sank
er wimmernd zusammen.

Von den Vorgängen in Goslar wurde er dauernd unterrichtet durch seine
Spione. Er hörte von dem Fortgang des Prozesses und erfuhr, daß Venne
zum Tode verurteilt sei. Da gab es für ihn kein Besinnen mehr. Ein
Befehl rief alle seine Männer zusammen. Es galt einen Überfall auf
Goslar, der in allen Einzelheiten sorgsam durchdacht war. Während
ein Teil einen Angriff von der Westseite her unternehmen sollte, der
die Aufmerksamkeit der Goslarer fesselte, würden die anderen von
Südosten her, von wo man am wenigsten Feindseligkeiten erwartete, in
die Stadt einzudringen suchen. Hermann Raßler war noch immer nicht
wiederhergestellt, aber es galt ihm als selbstverständlich, daß er bei
diesem Zuge, der ihm die Erfüllung seines höchsten Sehnens bringen
sollte, zugegen sein mußte.

Der Tag der Hinrichtung Vennes stand fest und damit auch die Stunde,
die zur Befreiung zu führen bestimmt war. Am Abend vorher näherten
sich die Mannen Raßlers der Stadt. Jedes Geräusch wurde vermieden,
die Landwehr an Stellen überschritten, die abseits der Wege lagen.
Mitgeführte Leitern wurden an die Mauer gelegt; die Ersten gelangten
über sie hinweg und überwältigten die Wache im Torturm. Dann brach der
Haufe in die Stadt ein.

Schon war durch den Lärm, der sich bei der Erzwingung des Eingangs
nicht vermeiden ließ, dieser und jener Bürgersmann geweckt. Verschlafen
rieb er sich die Augen, dann aber besann er sich auf seine Pflicht, die
ihn zu jeder Stunde zum Schutze der Stadt aufrufen konnte. Inzwischen
drang der Haufe der Bewaffneten bis zum Marktplatz vor, wo im Rathaus
Venne befreit werden sollte. Die Türen wurden mit Gewalt erbrochen, mit
fliegender Eile stürmte Raßler zu dem Verlies, in dem er die Geliebte
wußte.

»Venne, die Befreiung ist nahe! Venne!« rief er noch einmal, -- niemand
antwortete. Eine Fackel tauchte auf, sie wurde dem Träger entrissen,
und Raßler leuchtete in den Raum: leer! -- -- Er wußte nicht, daß man
vor wenigen Stunden die Gefangene in die Stadtfronei gebracht hatte,
um sie bei der Hinrichtung nicht weit führen zu müssen. »Vergebens,
verloren!« stöhnte er. Tränen der Wut traten ihm ins Auge, und dann
brüllte er auf wie ein Tier, dem man seine Beute entrissen hat.

»Venne, Venne!« schrie er einmal über das andere. Aber schon drängten
die Genossen zum Rückzug. In der Stadt heulte die Sturmglocke,
die Bürger sammelten sich in Haufen und drangen gegen das Rathaus
vor. »Feind in der Stadt! Raßler ist da!« schrie und brüllte es
durcheinander. Der Wilde stürzte sich auf sie: »Wo habt Ihr Venne
Richerdes? Gebt sie heraus!« tobte er. Aber sie höhnten ihn in ihrer
Übermacht. »Seht da, der Räuberhauptmann will sich sein Liebchen holen,
um mit ihm auf dem Blocksberge Hochzeit zu halten. Auf ihn, der uns so
sehr geschädigt hat, greift ihn, den Lump!«

»Auf sie!« brüllte auch Hermann Raßler mit blutunterlaufenen Augen.
Wuchtig sausten seine Hiebe auf die Angreifer herab, und mehr als
einer wälzte sich in seinem Blut. Aber immer größer wurde die Zahl der
Verteidiger, und Schritt um Schritt wichen die Raßlerschen zurück.
Dem Führer lag nichts an seinem Leben, immer und immer wieder stürmte
er vor. Zuletzt rissen ihn die eigenen Leute zurück und führten
den Widerstrebenden davon, während andere den Rückzug deckten. Das
Schicksal Vennes war besiegelt.

                   *       *       *       *       *

Ein strahlend schöner Herbsttag brach nach der unheimlichen Nacht
über die alte Reichsstadt herein. Leise, ganz leise kündigte sich das
Sterben in der Natur an. Hier ein rotes Blättchen, das vom wilden Wein
der Laube langsam zur Erde sich senkte, dort ein roter Schein über
einen alten Ahorn oder eine Linde gehaucht, dazwischen dunkles Gold und
lichtes Gelb, all die wunderbaren Farbentöne, mit denen der Meister der
Schöpfung sein Werk noch einmal verklärt, ehe er ihm den Schmuck des
Lenzes und Sommers nimmt und sie mit dem starren Gewande des Winters
umkleidet. In den Büschen und Bäumen noch das lustige Gezwitscher der
kleinen Sänger, die sich um das Morgen nicht kümmern, bis die Stimme in
ihnen mahnt, daß es an der Zeit sei, sich zur Wanderung anzuschicken.

Auf den Straßen jubelten die Kinder bei ihren Spielen, unbekümmert um
das Unheimliche, das geschehen war, und das Gräßliche, das bevorstand.
Sie hatten von den Erwachsenen einen Vers übernommen, den sie zu ihren
Ringelreihen lustig zwitscherten:

  »Venne Richerdes und Raßler der Böse,
  Von beiden der Himmel uns balde erlöse!«

Vor der Pfalz, die von ihrer einsamen Höhe auf das Häusergewirr
herabblickte, erhob sich das Schafott, auf dem Venne Richerdes büßen
sollte. Eine ungeheure Volksmenge umlagerte den Platz. Selbst die
Firste der näher liegenden Häuser waren mit Neugierigen bekränzt, die
sich keine Einzelheit des schrecklichen Schauspiels entgehen lassen
wollten.

Es ist der Ämter edelstes und opferwilligstes, das der Diener Gottes,
dem Menschen in seiner letzten Not zur Seite zu stehen, wenn alle ihn
verlassen müssen in seiner Qual. Bis dahin hielt ihn die Sorge um die
Erhaltung des irdischen Lebens gefangen, jetzt lastet die furchtbare
Seelennot auf ihm: Was wird aus mir im Jenseits?

Venne Richerdes stand außerhalb dieser Fürsorge, denn von der alten
Gemeinschaft hatte sie sich losgesagt; die neue aber, die lutherische
Familie, war, in Goslar zum wenigsten, noch ohne Heimat. Ihre Kinder
und Jünger lebten der Obrigkeit zum Ärgernis und wurden von ihr nicht
geduldet. So hätte sie allein den dunklen Weg gehen müssen. Aber der
gute, alte Pater Franziskaner brachte es nicht über das Herz, sein
Beichtkind ohne Tröstung den letzten Gang antreten zu lassen. Vor
seinen Oberen beschönigte er sein Vorhaben mit dem Hinweise, daß Venne
doch zuletzt noch widerrufen möchte, und auch im innersten Winkel
seines Herzens lebte diese Hoffnung.

Als die Stunde gekommen war, trat er bei ihr ein.

»Ich bin gekommen, mit Dir zu beten«, sprach er mit ernster, milder
Stimme. »Bist Du bußfertig, bereust Du Deine Sünden?«

»Ich bereue alles, was ich gesündigt, und bitte Gott, er wolle es mir
nicht ansehen um Jesu Christi willen«, antwortete sie leise.

»Willst Du nicht zu uns zurückkehren?«

»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, laßt mich, wo ich bin. Ich habe
den Grund gefunden, auf den ich baue, Jesum Christum. In ihm will ich
sterben!«

»So möge Gott Dir gnaden!« murmelte der Mönch betrübt.

Das Armsünderglöcklein setzte ein mit seinem wimmernden Stimmchen.
Aus der Fronei trat die todblasse Venne Richerdes, ihr zur Seite der
Pater. Er murmelte die Sterbegebete; Vennes Lippen bewegten sich, ohne
Worte formen zu können. Mit wankenden Schritten näherte sie sich der
Richtstätte. Der Prokurator verlas das Urteil und brach den Stab über
die Verurteilte, Venne Richerdes gehörte dem Henker.

Noch eine letzte, leise Bitte wagte der Mönch: »Widerrufe!«

Statt der Antwort nahm ihm Venne das Kruzifix aus der Hand. Ihr Auge
suchte das Antlitz des Gekreuzigten. »Jesus Christus, mein Erlöser!«
Ihre Lippen hauchten einen Kuß auf das Kreuz, dann ließ sie es in die
Hände des Paters zurückgleiten.

Noch einmal umfaßte ihr Blick die Heimat mit den Türmen und Giebeln
und den ragenden Bergen. Dann kniete sie nieder und empfing den
tödlichen Streich.

                   *       *       *       *       *

Venne Richerdes hatte geendet, nicht erloschen war das Rachegefühl in
der Brust Hermann Raßlers. Als die Nacht hereingebrochen, näherten
sich wieder Gestalten der Stadt und gewannen heimlich Einlaß. Der
Wächter rief die Mitternachtsstunde, da flammte es an allen Enden
Goslars zugleich blutigrot auf. Der rote Hahn spreizte seine feurigen
Flügel. Die Bürger schreckten aus dem Schlafe auf durch das gefürchtete
»Feuerjo! Feuerjo!« Prasselnd stiegen die Flammen in den dunklen
Himmel, die Nachbarschaft weithin mit grellem Schein übergießend;
dahinter gähnte die Nacht nur um so schwärzer und unheimlicher. Hermann
Raßler brachte Venne Richerdes sein Totenopfer!

Er selbst, der Wilde, Rachedürstende, war daran nicht beteiligt, er
hatte ein anderes, letztes Werk in Goslar zu vollbringen: noch lebte
der, von dem all das Unheil ausging, das über die unglückliche Venne
hereingebrochen war, der Ratsherr Heinrich Achtermann.

Der Rächer nahm niemand mit auf seinem Wege. Was er vorhatte, war sein
eigenstes Werk, kein Unberufener sollte ihn dabei stören, was er mit
seinem Todfeinde zu erledigen hatte.

Das Haustor war bald geöffnet, er drang zu dem Zimmer vor, in dem
der Gehaßte weilte. Eine Magd, die ihm mit einer Kerze entgegentrat,
verscheuchte er mit barschem Befehl. Da trat ihm der Gesuchte entgegen,
notdürftig gekleidet. Entsetzen ergriff ihn, als er den Gefürchteten
vor sich auftauchen sah. Das Licht zitterte in seiner Hand.

»Zurück in Euer Zimmer!« herrschte Raßler. Mechanisch wich Achtermann
zurück. Jener folgte ihm auf dem Fuße.

Achtermann wußte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe.
Hilfesuchend glitt sein Blick zum Fenster. Raßler sprach düster: »Gebt
Euch keiner Hoffnung hin, für Euch gibt es keine Rettung! Bereitet
Euch zum Sterben vor. Aber zuvor noch eine Frage: Was tat Euch Venne
Richerdes, diese Edle, Reine? Habt Ihr auch nur einen einzigen
triftigen Grund, so mögt Ihr Euer elendes Leben weiterschleppen. Euch
bleiben noch genug der Gewissensbisse, daß Ihr darunter zusammenbrechen
müßt.«

Der Ratsherr brachte nur lallende Laute hervor. »Sprecht!« heischte der
Unerbittliche, aber kein Wort entrang sich den blassen Lippen. Stieren
Auges blickte er auf den Peiniger.

»Willst Du nicht, so fahre ohne Bekenntnis zur Hölle!« schrie er. »Doch
daß ~ich~ es an christlicher Gesinnung selbst Dir gegenüber nicht
fehlen lasse, so sei Dir noch ein letztes Gebet gegönnt. Nieder auf
die Erde!« brüllte er, als Achtermann noch immer schwieg, und damit
riß er ihn auf den Boden. Da entrang sich den Lippen seines Opfers
ein furchtbarer, wilder Schrei. Mit eiserner Faust hielt Raßler ihn
nieder, während die Rechte den Dolch zum Stoß bereithielt. Wimmernd,
mit verglasten Augen lallte der Alte einige Worte. Es wurde laut im
Hause. Durch das Geschrei der Magd und den Angstruf des Ratsherrn waren
Nachbarn aufmerksam gemacht worden und drangen ins Haus.

»Stirb, Du Hund«, zischte Raßler und hob die Rechte zum Stoß. Da flog
die Tür auf, und die Helfer drangen ein. Ehe noch der Dolch sein Ziel
erreicht hatte, sank Hermann Raßler unter dem Streiche eines Bürgers.
Seinem Leben ward ein Ende gesetzt an dem Tage, da Venne, die er zu
gewinnen hoffte, unter des Henkers Schwert starb.

Heinrich Achtermann hatte das Bewußtsein verloren; als er wieder zur
Besinnung gebracht war, schlug ein blöder Greis die Augen auf. Die
schreckliche Stunde hatte ihm die Sinne verwirrt.




Durch die hochgehenden Wogen der Nordsee pflügte sich eine hansische
Kogge mühsam ihren Weg. Oft war sie verschwunden zwischen den
grünen Wellenbergen, dann schwebte sie auf der Höhe des nächsten
Wasserschwalles. Der weiße Gischt flutete über das niedrige Verdeck,
alles mit seiner salzigen Flut übergießend. Aufmerksam standen Kapitän
und Steuermann auf ihrem Posten; keinen Blick verloren sie von dem
Wege, den der Kompaß vorschrieb.

Das Schiff hatte eine schwere Fahrt hinter sich, seitdem es von der
Mole in London losmachte. Wild jagte der Novembersturm hinter ihm drein
und heulte brüllend durch die gerefften Segel und Stengen. Aber wacker
stampfte es dahin, unentwegt dem fernen Ziele zu. Die Kogge war in
Hamburg beheimatet, und dorthin ging ihre Reise.

Ungeduldig blickte einer der Schiffsgäste auf Schiff und See, deren
Wogen, wie es schien, unter dem Fahrzeug eilig davonglitten dem Ziel
zu, das sie selbst erstrebten. Ja, er war voller Ungeduld, Heinrich
Achtermann, der mit der guten hansischen Kogge die Heimfahrt von London
antrat, nachdem dort die geschäftlichen Angelegenheiten zu seiner und,
wie er hoffen durfte, auch zu seines Vaters Zufriedenheit geregelt
waren. Aus der Heimat hatte ihn in dem knappen Jahre, das er von Goslar
fern weilte, Nachricht nicht erreicht außer einem Schreiben des Vaters,
das geschäftlichen Inhaltes war und die Dinge, die ihn interessierten,
nicht berührte. Venne selbst wußte er in Worms; wie lange ihr
Aufenthalt dort dauern würde, war ihm unbekannt. Zwischen ihm und ihr
war also in dieser Zeit der Faden gänzlich abgerissen.

Er freute sich von Herzen auf das Wiedersehen, denn die Aufregung der
letzten Tage in Goslar mit dem unleidlichen Zwischenfall hatte sich
gewiß gelegt, und er durfte hoffen, daß auch bei dem Vater eine mildere
Stimmung eingezogen sei. Seine Gefühle für die Geliebte waren durch
die lange Trennung geklärt, sie hatten an Innigkeit nicht verloren,
sondern waren gefestigt worden durch die Vergleiche, die er zwischen
fremden Frauen und der keuschen, züchtigen Geliebten ziehen konnte. Er
war entschlossen, sein Glück festzuhalten und sich durch nichts darum
betrügen zu lassen.

Viel zu langsam für seine Ungeduld setzte das Schiff seine Fahrt
durch die schwere See fort. Heinrichs Gedanken eilten ihm voraus
und übersprangen den Weg von Hamburg nach Goslar. Er sah sich zur
Bergstraße eilen und die Geliebte an sein Herz sinken. Das Gefühl
des großen Glückes, das seiner wartete, drohte ihm die Brust zu
zersprengen. Endlich lief die Kogge in die Elbe ein und legte im Hafen
von Hamburg an. Es hielt ihn dort keinen Tag länger, unverweilt brach
er nach Goslar auf. Noch hieß es sich Tage gedulden, aber süßer Lohn
winkte ihm daheim und brachte ihm Entschädigung für die lange Zeit der
Sehnsucht!

Armer Heinrich, Du ahnst das Schreckliche nicht, das Deiner wartet!

Von Braunschweig ab fand er Gesellschaft in einem Reisegenossen, einem
Kaufmann, der in Goslar Station machen und dann weiter nach Halberstadt
wollte. Von dem Gespräch über die Zeitläufte kam man auch auf die
Geschehnisse in der Heimat. Da der Reisende hörte, daß Heinrich lange
abwesend gewesen sei, berichtete er über vieles, das ihm in den Sinn
kam.

»Dann wißt Ihr wohl auch nichts von dem großen Hexenprozeß, der vor
wenigen Monden alle Gemüter in Eurer Heimat in Spannung hielt?«
Heinrich verneinte.

»Nun, da werdet Ihr staunen. Es war nämlich keine gewöhnliche Hexe,
sondern ein vornehmes Fräulein.«

Heinrich schnürte ein unerklärliches Angstgefühl die Kehle zu. »Wie
hieß die Frau?« fragte er mit halberstickter Stimme.

»Ja, wie war doch der Name? Laßt sehen. Venne, Venne Richard oder so
ähnlich.«

»Venne, Venne? Doch nicht Richerdes?« fragte er heiser. »Doch, das
ist der Name.« »Ihr lügt«, schrie der Gepeinigte, daß der Fremde
erschrocken zusammenfuhr. »Ihr lügt«, wiederholte er noch einmal.

»Nun, ich kann mich ja irren, aber ich meine, so hätte der Name
geklungen; doch nichts für ungut. Was erregt Euch denn so bei dem
Namen?«

Was ihn erregte! Er hätte dem Mann ins Gesicht schreien können: »Meine
Braut ist es!« aber er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Nur kurze
Zeit ritt er noch mit dem Weggenossen, dann entschuldigte er sich:
»Nehmt es nicht übel, aber mich zwingt die Unruhe vorwärts.« Damit gab
er seinem Pferde die Sporen.

In Goslar ritt er durch das Breite Tor ein. Qualvolle Ungewißheit
erfüllte sein Herz. Es schien ihm, als blickten ihn alle Leute mit
neugierigen, mitleidigen Augen an. Bekannte begegneten ihm nicht. Ehe
er noch das väterliche Haus aufsuchte, ging er zur Bergstraße, um
von der schrecklichen Pein erlöst zu werden. Das Haus der Richerdes
war verschlossen, niemand rührte sich drinnen. Es öffnete sich ein
Nachbarfenster: »Aber was wollt Ihr denn da? Wißt Ihr nicht, daß die
Hexe ...?« Da jagte er davon wie von Furien gehetzt.

Im Vaterhause alles still. Die Magd blickte ihn an, als ob sie ein
Gespenst sehe. »Herr Heinrich«, schrie sie dann laut auf. Auf den Ruf
trat die Mutter aus dem Zimmer. Aber ... war denn das seine Mutter?
Eine rüstige, stattliche Frau, so hatte sie ihm den Abschiedskuß auf
die Stirn gedrückt, und jetzt eine gebeugte, zitternde Greisin?

»Mutter,« schrie er, »Mutter, ist es wahr, was man mir erzählt? Venne
...?«

Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, als drohten ihr die Kräfte zu
versagen. »Ja, mein Sohn, mein armer Junge, es ist wahr.«

Da schrie er auf wie ein zu Tode getroffenes Wild. »Venne!« und noch
einmal »Venne!«

»Und wer hat sie mir geraubt« rief er heiser vor Wut. »Hat etwa der
Vater daran Anteil?«

Die Mutter schwieg. Das Schweigen war ihm Antwort genug.

»So hat der Unhold in seiner Rachsucht alles zerstört, was mir teuer
war. Alles, alles«, fuhr er mit versagender Stimme fort. »Aber wo ist
er?« schrie er erneut auf. »Wo ist er, daß ich ihn zur Rechenschaft
ziehe?«

Die Mutter schluchzte still vor sich hin. »Wo ist er?« fragte der Sohn
wiederum drohend.

»Du wirst ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, weil Du es nicht kannst,
armer Junge«, sagte sie leise.

»Weshalb nicht? Ist er tot? Ist alles tot und verhext hier bei Euch?«

»Er ist nicht tot,« antwortete sie mit bitteren Tränen, »er ist
schlimmer als tot, er ist wahnsinnig.«

»Ha, ha, ha«, lachte Heinrich in grellem Hohn. »So ist's recht, die
Braut getötet, der Täter ein Narr!«

»Du sprichst vom Vater!« mahnte die Mutter verzweifelt.

»Ich fluche ihm,« schrie der Sohn, »ich fluche allen, die an der
grausigen Tat mitschuldig. Ich erwürge sie alle«, schäumte er.

»Fasse Dich, mein Sohn,« mahnte sie, »lästere nicht wider Gottes Gebot,
das Dich heißt, den Eltern Ehrfurcht zollen.«

Wieder lachte er schrill auf. »Ehrfurcht zollen diesem blöden
Mordbuben! Nein, nein, ich ziehe ihn dennoch zur Rechenschaft; er soll
mir büßen.« Er trat einen Schritt auf das Zimmer zu, in dem er den
Vater mutmaßte. Da stellte sich ihm die schwergeprüfte Mutter entgegen.
»Willst Du nicht Gottes Gebot achten gegen Deinen Vater, so achte mich
oder schreite über mich weg, wenn Du es vermagst.«

Da brach der Zorn des Sohnes zusammen. Er sank auf einen Sitz und
schluchzte in haltloser, wilder Verzweiflung. Leise legte sich die
Hand der Mutter auf seinen Scheitel: »Gott hat Dir und mir die Prüfung
geschickt, laß sie uns gemeinsam tragen, daß nicht der einzelne ihr
erliegt.«

                   *       *       *       *       *

So nahm Heinrich Achtermann sein Joch auf sich. Oft meinte er, darunter
zusammenzubrechen. Wenn er den Vater sah, quoll die wilde Verzweiflung
aufs neue in ihm empor. Er ballte die Fäuste in der Tasche, um sich
nicht an dem wehrlosen Narren zu vergreifen.

Der stolze Ratsherr Achtermann war zum Kinde geworden, zum blöden
Kinde, das vor sich hinlallte und greinte und lachte, wie die Eindrücke
von außen, der Hunger, die Kälte, Tag und Nacht ihn trafen. Geduldig
pflegte die Mutter das große Kind. Mit einem Gefühl der Bewunderung
blickte der Sohn auf diese Frau, die in stiller, selbstloser Liebe dem
Gatten die Treue hielt, auch jetzt, wo er für die Welt zum gemiedenen,
verachteten Geschöpf geworden war: Das war die Liebe, die echte, große
Liebe, die, von Gott in der Menschen Herz gesenkt, nicht erlosch und
sich am Erbarmen mit dem Geschlagenen stärkte und immer reiner und
verklärter ihre Äußerung fand.

Mählich, ganz mählich zog auch Mitleid in sein Herz. Der Vater selbst
hatte alles vergessen, was zwischen einst und dem schrecklichen Tage
lag, da durch seine Schuld die edle Venne dahinsank.

In ihm lebte sie, so oft seine Gedanken sich zu ihr zurückfanden, als
die schöne, liebliche und geliebte Schwieger. Er fragte nach ihr,
er greinte, daß sie nicht komme, und dann führte ihn sein schwacher
Geist wieder in das Kinderland zurück, das dem Greise noch einmal sich
aufgetan hatte.

Heinrich gewann es allmählich über sich, den Mann zu ertragen, der
ihm so Schweres zugefügt hatte; nur wenn der Schwachsinnige in seiner
kindischen Sehnsucht ihren Namen nannte, wenn er sie als Tochter grüßte
und rief, brannte das Weh in alter Schärfe.

Noch einmal wurde der Ratsherr Achtermann Herr seines Verstandes. Das
war in der Stunde, da der Tod schon zu seinen Häupten stand. Da büßte
er alles, was er gesündigt hatte. »Vergib mir, mein Sohn, was ich Dir
tat. Vergib mir, Venne, geliebte Tochter, in Deiner lichten Höhe. Ich
komme und will den Saum Deines Gewandes küssen. Herr, Herr, behalte mir
die Sünde nicht vor.«

Erschüttert stand der Sohn daneben. Sein Groll schmolz dahin. Er legte
die Hände des Sterbenden zusammen und betete mit ihm: »Herr, vergib uns
unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.«

Es starb der Vater, es starb ihm die Mutter. Nun lebte er ganz
allein. Es war ein stiller, einsamer Mann, der zu der Stelle an der
Kirchhofsmauer wallfahrtete, wo sie Venne Richerdes gebettet hatten.
Lieblicher als Menschenhand schmückte Mutter Natur die Ruhestätte, die
von den Menschen gemieden wurde.

Man lockte ihn mit hübschen, schönen Jungfrauen, die bereit waren, an
der Seite des Einsamen durch das Leben zu pilgern; er achtete ihrer
nicht. Früh bleichte sein Haar. Man schalt ihn einen Menschenfeind und
Sonderling; er hörte es nicht. Nur dem kleinen Kreise derer, die Venne
Richerdes bis zum Tode die Treue gewahrt hatten, blieb er ein Freund.
Im Hause der Hardts fand auch sein Mund wieder Worte. Man gedachte der
ihm Entrissenen.

Mit wehmütiger Freude traf der Blick Heinrichs das junge, blühende
Geschlecht, das dort in der Unschuld seiner Kindheit heranreifte. Seine
Hand glitt wie segnend über den Scheitel des Töchterchens, das sich
vertrauensvoll an ihn schmiegte. Seine Gedanken suchten das Dunkel zu
durchdringen, das ihre Zukunft verhüllte: Was wird ihrer harren hier
auf Erden?

Und er fand die Antwort, wie sie lauten mußte: Liebe und Kampf und
Kampf und Liebe in der ewigen Wiederholung des Menschenschicksals!




Anmerkungen zur Transkription:

Die erste Zeile entspricht dem Original, die zweite Zeile enthält die
Korrektur.

S. 132

Sie alle feierten
Sie alle froren





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VENNE RICHERDES ***


    

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