Mutter! …

By Heinz Tovote

The Project Gutenberg eBook of Mutter! …
    
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Title: Mutter! …

Author: Heinz Tovote

Release date: June 14, 2025 [eBook #76290]

Language: German

Original publication: Berlin und Wien: Ullstein & Co, 1911

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MUTTER! … ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~


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                              Mutter!..




                           [Illustration:]


                           Ullstein-Bücher


                            Eine Sammlung
                           zeitgenössischer
                               Romane




                           [Illustration:]


                              Mutter!..

                              Roman von
                             Heinz Tovote

                            [Illustration]

                            Ullstein & Co
                             Berlin-Wien




                                  1.


In sonniger Morgenfrühe, zu dreien, waren sie vom Schwedischen
Pavillon aus auf den Wannsee hinausgerudert, hatten sich nach
halbstündiger Fahrt durch eine enge Schilfgasse und dann unter der
schmalen Brücke des Schwanenwerders hindurchgezwängt, wo das Boot
scharf über den flachen Kies knirschte.

Nun ließen sie sich mit eingezogenen Riemen auf der breiten Havel
treiben, bis sie an dem steilen Wiesenhange des Fichtenwaldes eine
Stelle entdeckten, die zum Landen günstig schien.

Zwischen den knisternden scharfen Schilfschwertern und den brechenden,
dunkelgrünen Binsen hindurch lief der Kahn auf das Land, und sie
sprangen alle drei aus, trieben einen Stock in den weichen Sumpfboden,
aus dem bei jedem Schritte das Wasser quoll, und befestigten den Kahn
daran.

Dann keuchten sie die steile, fast ungangbare Böschung hinauf, die
mit langwehenden Gräsern, dürr und breit wie Schilfgras, bewachsen
war, bis sie in den Wald gelangten, von wo man weit über die Bucht des
Großen Fensters hinausblicken konnte, deren Wasser im Sonnenlichte wie
im Schmelzkessel zitterndes Silber vibrierte.

Unter ein paar schlanken, weißstämmigen Birken suchten sie sich einen
schattigeren Platz zum Lagern und warfen sich ermattet vom Rudern auf
den Boden, dicht am Hange, so daß sie zugleich die breite Havel und
den Wannsee überblicken konnten.

Es war mittagsstill im Walde.

Nur zuweilen klang aus weiter Ferne der schwache, eintönige Ruf eines
Kuckucks. Sonst regte sich nichts.

Die Sonne flitterte durch die hochschlanken Stämme der Fichten, rötete
die braune abblätternde Rinde, daß die Bäume bis zu ihren dunklen
Nadelwipfeln zu erglühen schienen, und warf breite, verschwimmende
Flecke von Goldschein auf den dürren sandigen Boden, den nur hie und
da ein kümmerliches Grasfleckchen mit schmutzigem Grün unterbrach.

Der scharfe Duft der trocknen, den Boden bedeckenden Nadeln umzitterte
sie, ein prickelnder Harzgeruch, der einlud zum Schlafen und zum
Träumen. --

Fritz Lautner lag auf dem Rücken und hatte sich mit einem großen
gelbseidenen Taschentuche das Gesicht gegen die tanzenden Mücken
bedeckt.

Willy Braun lag auf dem Bauche und schlug regelmäßig mit den Absätzen
aneinander, während er an einem abgerissenen Grashalme sog und dabei
aufmerksam einer kleinen schwarzen Ameise zusah, die sich abmühte,
ein Krümchen fortzuschaffen. Die Last war vierfach so groß als
das Tierchen, dennoch bewältigte es jedes Hindernis und gelangte
bald zu der mächtigen Fichte, wo ein ganzes Heer in überhastiger
Geschäftigkeit auf und ab lief.

Der junge Mann stützte die Ellenbogen lässig auf die Erde und sah vor
sich hin, regungslos, nur mit den gen Himmel starrenden Füßen machte
er zuweilen eine halbausgeführte Bewegung.

»Sie .. Lautner!« rief Adolf Wurm mit seiner krähenden Stimme und fuhr
sich hastig aufgeregt durch seine wilde Künstlermähne.

»'is denn los? -- Laßt einen doch mal in Ruh. Ich möchte wirklich gern
ein bißchen schlafen.«

Dabei blieb er ruhig auf dem Rücken liegen, und seine Stimme klang
durch das sein Gesicht bedeckende Tuch hohler, wie von weither.

»Sie sollten sich nur mal das Bild ansehn. Das wäre so was für Sie.
Der Philosoph -- oder der Träumer, oder sonst was ... Sehn Sie doch
mal, wie Braun daliegt.«

»Ach was!«

»Sie sind ein undankbarer Mensch. Wenn man Ihnen die schönsten Stoffe
zu 'nem realistischen Bilde geben will ... o Undank ... o Jugend!«

»Ach was, Unsinn!«

Wurm seufzte pathetisch und pfiff dann leise vor sich hin. Da Lautner
sich nicht regte, betrachtete er seinerseits Willy Braun, wie er, die
Augen forschend auf den Boden geheftet, im Grase lag.

Mit seinem grauen, modischen Anzuge war Braun für einen Philosophen
eigentlich zu elegant. Es lag ein Widerspruch zwischen der Natur
und diesem jungen Manne mit seinem etwas blassen Gesichte und den
frauenhaft weißen Händen, die jetzt achtlos einen Grashalm nach dem
anderen abrupften.

Wurm kam sich ihm gegenüber beständig so verlegen linkisch vor mit
seiner zum Vagabondieren neigenden Natur, mit seiner unausrottbaren
Vorliebe für den langflatternden Schlips und den großen breitkrämpigen
Hut, der in ihm den Künstler zeigen sollte; wenn man auch wohl nicht
leicht auf einen Musiker raten konnte.

Und auch dieser Lautner ging immer so scheußlich elegant, so ohne jede
Spur von Romantik. Alles an ihm war prosaisch, von den kurzgeschorenen
Haaren bis zu seinen widerborstigen Gedanken, mit denen er sie zu
entsetzen pflegte, obgleich sie sich im Laufe der Zeit schon daran
gewöhnt hatten.

Er hatte heute ein Wort von einem ersten großen Bilde fallen lassen,
das er beginnen wollte, nachdem er sich bis jetzt nicht über Studien
hinausgewagt hatte, -- allein gegen seine Gewohnheit hüllte er sich
ihren neugierigen Fragen gegenüber noch in tiefes Stillschweigen.

Das mochte was Rechtes werden, dachte Wurm bei sich und fuhr sich
langsam selbstgefällig mit kühner Geste durch sein langes blondes
Haar. Dann zog er seine langen Beine, die ihm stets im Wege waren, an
sich und rutschte bedächtig ruckweise zurück, bis er mit dem Rücken an
einen Baumstamm lehnen und nun über den See blicken konnte, auf dem
kleine weiße Segelboote eilfertig hin- und herschossen, während die
mächtigen grauen Leinwandflächen der schweren Lastkähne sich breit
im Winde blähten -- und ganz in der Ferne, fast am anderen Ufer, ein
Schleppdampfer mit drei Sandzillen seine schwarze Rauchfahne flattern
ließ.

Die tiefe Stille ringsum ärgerte den Musiker, -- die anderen beiden
taten auch den Mund nicht auf, und so summte er vor sich hin, eigne
und fremde Melodien, wie sie ihm in den Sinn kamen.

Dann hob sich eine Weise voller heraus, eine Melodie, die ihm neulich
gekommen war, wie das zu geschehen pflegte, und die ihm gefiel mit
ihrer Eintönigkeit. Und indem er seinen Stock wie eine Gitarre in
den linken Arm legte, begleitete er sich mit karikiert tragischen
Bewegungen und summte dazu mit seiner spröden, ungelenken Stimme eine
monoton schwermütige Melodie, klagend, wie die eines Volksliedes, mehr
gesprochen als gesungen:

     Es hatte mal ein Knabe ein Mädchen lieb,
              tralla lan lan lar ..
              tralla lan lan la! ..
    Es hatte mal ein Knabe ein Mädchen lieb.
    Das Mädchen nur sein Spiel mit ihm trieb.

    Sie bat und sprach: Bring' mir zur Stund',
              tralla lan lan lar ..
              tralla lan lan la! ..
    Sie bat und sprach: Bring' mir zur Stund'
    Deiner Mutter Herz für meinen Hund!

    Er lief und erschlug sein lieb Mütterlein,
              tralla lan lan lar ..
              tralla lan lan la! ..
    Er lief und erschlug sein lieb Mütterlein,
    Und brachte ihr Herz der Liebsten sein.

    Doch er fiel, weil er so eilen wollt' --
              tralla lan lan lar ..
              tralla lan lan la! ..
    Doch er fiel, weil er so eilen wollt' --
    Und das zuckende Herz auf die Erde rollt.

    Und als das arme Herze im Staube lag --
              tralla lan lan lar ..
              tralla lan lan la! ..
    Und als das arme Herze im Staube lag --
    Da hörte er, wie es zu ihm sprach:

    Und das Mutterherz fragte unter Tränen lind:
              tralla lan lan lar ...
              tralla lan lan la! ...
    Und das Mutterherz fragte unter Tränen lind:
    Hast du dir auch nicht weh getan, mein Kind? ...

Es war wieder still geworden.

Die Luft hing dunstschwer, reglos zwischen den Fichten, Lautner hatte
sich halb aufgerichtet und auf die Hand gestützt. Willy Braun hatte
die schwarze Ameise längst aus dem Gesicht verloren, sah aber noch
immer vor sich hin, nach einer blaßroten Kuckucksnelke, während Wurm
langsam, klagend wiederholte:

    »Hast du dir auch nicht weh getan, mein Kind?«

Dann verklang die Melodie, deren Refrain Braun zuletzt leise
mitgesummt hatte, und alle drei schwiegen wieder.

»Sentimentaler Quatsch!« störte Lautner mit seiner härter als
gewöhnlich klingenden Stimme die tiefe Stille.

In demselben Augenblicke schwang sich von einer der nächststehenden
Fichten eine große Krähe und klatschte unter heiserem Krächzen schwer
nach dem See hin, wo sie über die helle Wasserfläche hintaumelte.

»Ein Kollege von Ihnen, Lautner!«

»Es brüllt um Rache das Gekrächz der Raben!« fügte Braun lachend
hinzu. »Kannst Du denn gar nicht anders sein, Fritz! -- Nicht einmal
draußen in der freien Natur?« ...

»'ne nette Natur das hier; nichts als Sand und Fichtennadeln -- und
Bäume wie Schwefelhölzer, die ein Kind in die Erde gesteckt hat. Und
das nennen diese Menschen Natur! -- Heiliger Brahma! -- Höchstens der
See, der könnte vielleicht ein Bild geben.«

Braun überhörte, was jener sagte, und wandte sich zu Wurm, der der
Krähe nachsah:

»Woher haben Sie das wieder, Würmchen? Ich meine natürlich den Text,
denn daß Sie selbst dazu die Musik verbrochen haben, rieche ich dem
Dinge ohne weiteres an.«

»Ich weiß nicht mehr. Irgendwoher gestohlen, in irgendeinem
französischen Schmöker gefunden.«

»Natürlich ein sentimentaler Franzose, das konnte man sich denken,«
knurrte der Maler. »Da verfängt so was immer. Was geht uns das nun
an? -- Es braucht nur ein Schauspieler ›+Oh, ma mère!+‹ zu
schluchzen, und ein ganzes Theater voll auf der Höhe der Zivilisation
stehen wollender Menschen ist zu Tränen gerührt.«

»Ist das Lied vielleicht nicht gut?«

»Gut! ach was, gut,« grollte Lautner.

»Und ist nicht die Mutterliebe eines der alleredelsten und
menschlichsten Gefühle?«

»Gott ja, das ist alles ganz schön und erbaulich mit der Mutterliebe
... aber zum Teufel noch mal, zum Beispiel das Mädchen, von dem in
diesem Liede die Rede ist, das wird doch auch mal Mutter, dieses
herzlose, gemeine Frauenzimmer, das für ihren Hund das Herz ihrer
Schwiegermutter verlangt, und dann? -- Na, wie ist die Geschichte dann
... he? -- Ihr ganz Gescheiten?«

Einen Augenblick waren die beiden verblüfft. Dann antwortete Braun:

»Du, das ist schrecklich einfach: dann ist sie ja eben eine Mutter! --
Das Mädchen ist gegen ihren Geliebten herzlos, gewiß; .. sie spielt
mit ihm, sie treibt ihn sogar zu einem Verbrechen. Für ihre Kinder
aber würde auch sie ohne Zaudern ihr Leben hingeben. Sie steht da eben
in einem ganz anderen Verhältnisse. Das hat nichts miteinander zu tun.«

»So? -- Hat es das nicht? -- Das hat nichts miteinander zu tun? -- Das
ist ja riesig nett. Und wenn nun einmal eins der Kinder erfährt, was
früher geschehen ist, was dann? .. Ihr Weisen aus dem Morgenlande? --
Nun, wie steht es dann?«

»Aber, Lautner, Du bist heute unbezahlbar. Das hat doch gar nichts
damit zu tun. Es ist auch so leicht nicht denkbar, daß ...«

»Also Vertuschung, nichts weiter! -- Es ist so leicht nicht denkbar!
-- Na ja, es ist mal gewesen; und nun wird nicht mehr davon
gesprochen, es erfährt niemand etwas. Die Vergangenheit ist begraben
-- und die holde Gegenwart baut sich auf einer Lüge auf. -- Nur immer
zu! -- Und wenn eines Tages das luftige Kartenhaus zusammenbricht --
he? -- Dann haben wir die Bescherung, Prostemahlzeit!«

Er brach ab und richtete sich auf, als ob er erwarte, daß einer von
ihnen das Thema aufnehmen würde, allein die beiden schwiegen, weil sie
wußten, es war das beste.

Das ärgerte ihn nun wieder. Weshalb widersprachen sie ihm nicht? Sie
schienen sich das fast zum Prinzip gemacht zu haben, ihn reden zu
lassen, ohne ihn zu widerlegen, als seien seine Worte es nicht wert. --

Er sprach doch nicht in den Wind, so wie der Kuckuck, der ihnen jetzt
näher gekommen war, in den leeren Wald hineinrief.

»Mutterliebe! -- Das lasse ich mir noch gefallen, meinetwegen ...
es ist so was Instinktives. Die Tiere haben sie ja auch. Aber die
Liebe des Kindes zu den Eltern -- das ist mehr oder weniger etwas
rein Konventionelles. -- Weshalb denn? -- Die Natur kennt sie nicht,
da gibt es keine Aufopferung der Jungen für die Alten. Das ist uns
nur anerzogen -- nichts als elende Sentimentalität. Und selbst die
Mutterliebe findet sich schließlich immer seltener in der Welt, und
nächstens ist sie ganz ausgestorben. Sie paßt auch gar nicht mehr in
unsere geschäftsmäßig praktische Zeit.«

»Na warten Sie, Lautner, wenn das wirklich geschieht, dann kommen Sie
nach Ihrem Tode gewiß ins Museum. Dafür sorge ich dann schon.«

»Und weshalb, liebes Würmchen?«

»Als letzter der Mohikaner, als eines der schönsten Beispiele der
Aufopferungsfähigkeit eines Sohnes für seine Mutter. Nun machen Sie
bitte nicht so ein Gesicht, oder ich erzähle Braun einfach alles. Und
jetzt reden Sie nicht länger Unsinn, sonst machen Sie mir Braun noch
wild. Sie wissen recht gut, Spötteleien auf diesem Gebiete gehen ihm
über den Spaß.«

»Na ja, schließlich ... es ist nicht jeder so glücklich, eine Mutter
zu haben, wie er.«

»Oder wie Sie, Lautner.«

»Ja, meinetwegen, oder wie ich.«

                  *       *       *       *       *

Willy Braun regte sich nicht, er spielte mit seinem Grashalme weiter,
den er zwischen den Fingern quirlen ließ.

Eine Wolke schob sich über die Sonne. Die Landschaft bekam dadurch ein
ganz anderes Aussehen.

Weit aus der Ferne klang das Rollen und Stampfen eines Eisenbahnzuges.

Wurm hatte sich zu Lautner gewandt und fragte leise, so daß er nur
allein es hören konnte:

»Was sollte das denn alles nur wieder?«

»Ach was! .. Laß mich!«

Damit stand er auf, nahm seinen im Grase liegenden Hut und ließ die
beiden Freunde allein.

»Was ist denn mit ihm?« fragte Willy, als er außer Hörweite war.

»Was er hat? 'ne verrückte Stimmung. Das kommt so zuweilen wie ein
aufsteigendes Gewitter über ihn. Nachher ist alles wieder gut.«

»Sonst weiß er doch seine eigne Mutter nicht genug zu loben.«

»Na gewiß.«

»Nicht wahr, er erhält sie völlig?«

»Gewiß, das tut er. Es gibt ja keinen Menschen, der unbedenklicher
sein letztes opfern würde. Er ist von einer Selbstlosigkeit, wie ich
sie nicht wieder kenne. Das alles sind alberne Schrullen. Was ihn nur
wieder auf diese dummen Gedanken gebracht hat?«

»Wieso, -- was ist denn mit ihm, Wurm?«

»Was ist? -- Ja so, wissen Sie denn nicht?«

»Ich wüßte nicht ...«

»Aber Sie stehen ihm doch hundertmal näher als ich. Sie duzen sich ja.«

»Allerdings; aber deshalb ...«

»Das ist doch kein Geheimnis. Ich glaubte sicherlich, er hätte schon
mit Ihnen darüber gesprochen, daß er ... na ja, daß seine Mutter nicht
verheiratet war.«

»Aber kein Wort!«

»Sehen Sie, -- und das nagt nun oft an ihm. Vielleicht am meisten,
weil er nicht weiß, wer sein Vater ist. Das hat sie ihm trotz all
seiner Bitten nicht gestehen wollen. Nun begreifen Sie auch wohl,
weshalb er zuweilen so schroff in seinem Urteil ist. Er kommt noch
immer nicht über den Zwiespalt hinweg, gerade weil er mit einer fast
schwärmerischen Liebe an seiner Mutter hängt, was man ihm bei seinem
scheinbar so kalten Wesen nicht zutrauen sollte. -- Er glaubt kein
Wort von dem, was er eben gesagt hat.«

Wurm schwieg, und sie sahen zu dem jungen Maler hinüber, der, den
Hut in der Hand, zwischen den geradlinig schlanken Fichtenstämmen
hinschlenderte, den Blick zu Boden gesenkt, als ob er etwas suche.

Willy Braun, den Lautners Redeweise eben noch auf das tiefste verletzt
und empört hatte, wäre jetzt am liebsten zu ihm geeilt, um ihm mit
einem Händedruck Abbitte zu leisten.

Wie hatte er das auch wissen können. Jetzt wurde ihm vieles
verständlich, was er bis dahin mit dem eigentlichen Wesen Lautners
nicht hatte in Einklang bringen können, und er fühlte, daß er ihm in
diesem Augenblicke näher gekommen war als jemals.

»Verkrümeln Sie sich nur nicht, Lautner,« rief Wurm dem im Walde
Verschwindenden nach, der auf den Ruf hin umkehrte und sich langsam
wieder zu ihnen gesellte.

Eine Weile blieben sie noch im Grase liegen, bis von dem Wasser her
eine erste frische Brise wehte, so daß sich alle Segel mit einem
Schlage stärker blähten und das Schilf ineinander rauschte und sie aus
ihren Träumereien erweckte.

»Wollen wir nicht endlich weiter?« ...

Die anderen nickten, und sie eilten halb laufend die grasbewachsene
Böschung hinunter, um zurückzufahren, dieses Mal mit Zuhilfenahme des
Segels.

Auf der ganzen Fahrt konnte Willy Braun, der am Steuer saß, es nicht
lassen, Lautner heimlich zu beobachten.

Es war, als habe er eine ganz neue Seite an dem Freunde entdeckt, als
sei ihm zum ersten Male der Blick in sein Innerstes eröffnet.

Das Segeln ward ihnen auf die Dauer zu langweilig, und sie holten ein,
um zu rudern.

Während das Boot durch die Wellen schoß, und die Ruder mit
gleichmäßigem Schlage in das ziehende Wasser tauchten, stimmten sie
einen munteren Gesang an, und die eigentümlich schwermütige Stimmung,
die sich Brauns bemächtigt hatte, wich allmählich dem Wohlgefühle,
so leicht, fast wie im Fluge, über den hohe Wellen werfenden See
hinzugleiten.




                                  2.


Die Morgensonne lag breit und ruhig auf dem Pariser Platze, auf dem
ein roter Sprengwagen langsam schläfrig seine nassen Kreise zog.

Vereinzelt zwängte sich eine Equipage oder eine Droschke durch die
grauen Riesenpfeiler des Brandenburger Tores.

Auf der schattigen Südseite der Linden einige spärliche Fußgänger. --

Fritz Lautner war mit Wurm, der sich für alles, was bildende Kunst
hieß, in helle Begeisterung redete, im Neubau des Reichstagsgebäudes
gewesen, wo einer ihrer Bekannten arbeitete.

Sie schlenderten jetzt langsam der Friedrichstraße zu.

Vor den Schaufenstern einer Kunsthandlung blieben sie stehen, um sich
die neuausgestellten Gemälde zu betrachten.

Lautner warf einige seiner boshaften Bemerkungen hin, als ihn Wurm
anstieß und sie sich beide umwandten, um Willy Braun zu grüßen, der
mit einer Dame aus der Wilhelmstraße kam.

Die Dame trug ein schlichtes graues Kleid von tadellosem Sitz.

Sie war schlank, fast zu zart gewachsen und reichte ihrem Begleiter
kaum bis zur Schulter.

Als sie die beiden jungen Leute bemerkte, nickte sie ihnen freundlich
zu, wobei Wurm ein schmales, etwas bleiches Gesicht zu sehen bekam, in
dem zwei große dunkle Kinderaugen zu brennen schienen.

Alles an ihr war zierlich, dennoch aber Haltung und Gang stolz und
kraftvoll. In der jugendlichen Toilette, dem enganschließenden
Kleide hatte sie etwas durchaus Mädchenhaftes, erst wenn man genauer
aufachtete, war es nicht schwer zu erkennen, daß sie älter sein mußte,
als sie aussah.

Wurm sah ihr unauffällig nach, wie sie leicht und sicher elegant
dahinschritt und jetzt am Ende der Häuserreihe den hellen Sonnenschirm
aufspannte.

»War das die Schwester von Braun?«

»Seine Schwester?« fragte Lautner erstaunt. »Ach so -- es ist zu
merkwürdig ... aber kein Mensch hält die Dame je für das, was sie
wirklich ist.«

»Für was denn?«

»Für Willys Mutter.«

»Seine ~Mutter~? ... Seine ~Stief~mutter?«

»Gott bewahre! Seine richtige Mutter. Sie sehen sich doch ähnlich wie
ein Ei dem andern.«

»Seine richtige Mutter? ...«

»Natürlich! -- Frau Doktor Braun ist jetzt -- warten Sie mal -- ja,
sieben- oder achtunddreißig. Jawohl, mein Verehrtester, sehen Sie mich
nur so an. Man sieht ihr das gewiß nicht an, aber es muß wohl so
sein.«

»Das hätte ich nicht geglaubt.«

»Und hätten diesen Unglauben mit vielen geteilt. Willy beträgt sich
ihr gegenüber auch kaum wie zu einer Mutter, fast wie verliebt.
Ich habe selten ein herzlicheres Verhältnis gesehen als zwischen
den beiden. Die machen meine neulich aufgestellten pessimistischen
Paradoxe völlig zuschanden.«

»Das kann ich mir denken.«

»Er vergöttert sie fast, und das ist gefährlich. Er wird mir allzusehr
zum Muttersöhnchen, immer an der Schürze, und vergibt seiner
Individualität zu viel. Er tut ja keinen Schritt, ehe sie ihm nicht
ihren Rat erteilt hat, -- und das gefällt mir nicht. Es wäre gut, wenn
er mal von Berlin fort käme, in andere Verhältnisse, und ihr nicht
immer auf dem Schoße hocken könnte.«

»Er ist doch noch so jung.«

»Ach was, jung! Man kann gar nicht früh genug flügge werden. Nehmen
Sie ~mich~ mal an: Ich habe solch eine Verzärtelung und
Verpäppelung nie gekannt, und ich denke, es ist mir vorzüglich
bekommen.«

»Sie sind gut bekannt bei Brauns, Lautner -- nicht?«

»O ja! -- Sie haben draußen in Charlottenburg 'ne riesig nette Villa.
Ich kenne die Familie eigentlich durch Professor Reinhold Petri. --
Das Haus liegt schräg gegenüber, und er geht bei ihnen ein und aus, --
ich lasse mich dreimal hängen, wenn sich nicht in all seinen Arbeiten
irgendein Zug findet, der an die schöne Frau Braun erinnert. Das
scheint ihm ganz in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.«

Sie waren bis zur Friedrichstraße gekommen und mußten wegen einer
Wagenstockung ein paar Augenblicke vor Kranzler stehen bleiben.

Nach einer Weile fragte der Musiker:

»Brauns haben eine chemische Fabrik, nicht?«

»Ja! Das heißt: gehabt! Vor kurzem wurde der ganze Krempel verkauft.
Mich wundert eigentlich, daß Willy Jurist geworden ist, statt die
Fabrik zu übernehmen. Er interessiert sich doch für solche Sachen
sehr. -- Ich würde mich keinen Augenblick bedenken, wenn ich vor der
Wahl stände. Ich glaube, die Frau Mama hat da mal wieder die zarte
Hand im Spiele gehabt. Er soll was werden, darauf gibt sie kolossal.
Und dann ist es auch verzeihlich, seit der Doktor das Unglück mit
'nem Experimente gehabt hat, das beinah ganz schief ausgegangen wäre.
Das ist sicher nicht ohne Einfluß geblieben. Uebrigens, wenn Sie das
so interessiert, können wir dieser Tage mal hinausgehen, wenn Braun
draußen ist, an irgend 'nem Sonn- oder Feiertage. Er hat Sie doch
schon lange eingeladen. Meinetwegen nächsten Sonntag, wenn es Ihnen
recht ist.«

»Aber gewiß, mit Vergnügen.«

»Sie gehen jetzt zur Bibliothek?«

»Ja, ich habe mir ein paar Sachen in den Lesesaal bestellt. Die
verfallen sonst heute.«

»Na, dann auf Wiedersehen! -- Also es bleibt dabei, nächsten Sonntag.«

»Schön! ... Auf Wiedersehen!«

                  *       *       *       *       *

Inzwischen war Willy mit seiner Mutter langsam die Ahornallee entlang
gegangen, um sie zur Tiergartenstraße zu begleiten, wo sie einer
Freundin einen Besuch machen wollte.

Die Begegnung mit den beiden Freunden hatte in ihm die Erinnerung an
ihre Fahrt auf dem Wannsee wachgerufen, und er grübelte aufs neue über
die fast beleidigend gleichgültigen Worte nach, die Lautner damals
hingeworfen hatte.

Schon am folgenden Tage, als er seiner Mutter gegenübertrat, hatte er
lächeln müssen -- das war nicht möglich, daß eine Frau zugleich eine
grausame Geliebte und eine zärtliche Mutter sein konnte. Und wenn es
auch solche Wesen geben mochte, was brauchte ~er~ sich darüber
den Kopf zu zerbrechen? --

Und über jene Bemerkung Lautners, die ihm Wurm voller Entrüstung
nachher mitgeteilt hatte: jede Mutter sei doch schließlich das Weib
ihres Mannes, ging er hinweg, weil er kein Verständnis dafür besaß.
Und so schritt er neben der Mutter hin, unter den Laubgängen des
Tiergartens, in dieser ruhigen Vormittagsstimmung, die hier träumte.

Wie zärtlich er auf sie niederblickte, -- während sie neben ihm
hinschritt und manch ein Blick ihnen folgte.

Sie mußte zu ihm aufsehen, denn er war um mehr als einen Kopf
größer als sie, und sie wunderte sich zuweilen, daß dieser große
breitschultrige Junge, dieser sehr ansehnliche Herr, vor dem alle Welt
einen ziemlichen Respekt hatte, ihr Kind sei, ... ihr Kind!

Wenn sie sich dagegen hielt mit ihrem zarten, schlanken Körper, den
feinen, gebrechlichen Gliedern, die sich trotz ihres Alters wie ein
Kind vorkam, -- dann mußte sie lächeln; aber es war ein Gefühl von
Stolz und unnennbarem Glücke, das sie erfüllte.

Er hatte nie vor ihr den gehörigen Respekt gehabt, vor seiner kleinen
Mama, die er schon als fünfzehnjähriger Junge durch den ganzen Garten
trug, und die er mit einer scherzenden Naivität, die er einmal, er
wußte selbst nicht, wie er dazu kam, mit ihrem Vornamen nannte: mein
kleines Annerl, oder auch Frau Doktorchen.

Sie hatten fast immer wie zwei Kinder miteinander gespielt, und als er
älter wurde, wurden sie wie zwei gute Freunde und Kameraden.

Sie hatte jung geheiratet, als sie kaum das Spielzeug aus der Hand
gelegt, und deshalb alberte sie mit dem kleinen Willy genau so wie
kurz zuvor noch mit ihren Puppen.

Was sollte sie auch sonst beginnen? -- Sie hatte so gar nichts zu
tun. Vom Hauswesen verstand sie nicht das geringste. Sie sollte
sich auch nicht darum kümmern, das wollte Braun nicht. Dazu hatte
man seine Leute. Und sie fühlte auch keine Neigung, sich in der
Küche aufzuhalten oder frische Wäsche einzuzählen. Der Geruch schon
verursachte ihr Kopfschmerzen.

Wenn sie nicht Besuche machte, was in den ersten Jahren ihrer Ehe
geradezu eine Leidenschaft von ihr war, so ging sie oft den ganzen
Vormittag langsam, ganz langsam im Garten spazieren, oder sie ließ
sich zwischen den Bäumen, ganz hinten, an einer recht schattigen
Stelle ihre englische Hängematte befestigen, und dort sich leise
wiegend verträumte sie die Stunden.

Meist war sie so träge, daß selbst der neueste und spannendste Roman
tagelang sich unaufgeschnitten umhertrieb, und das gelbe Buch, denn
meist war es ein Franzose, wiederholt draußen im langen Grase gefunden
wurde, manchmal von einem plötzlichen Regenschauer völlig wie in eine
Schmutzmasse verwandelt. --

Willy kannte seine Mutter nicht anders, als daß sie ihre Zeit
verträumte, und als er noch kleiner war, erzählte sie ihm ihre Träume;
aber sie waren immer so seltsam phantastisch, daß er sie nie recht
verstand, und immer, wenn sie eine Geschichte anfing, ward stets eine
ganz andere daraus, mit ganz anderen, fremden Personen.

Wenn er sie dann erstaunt ansah, nahm sie ihn in die Arme, und lachend
über sich selbst und seine fragenden Augen herzte und küßte sie ihn,
bis auch er anfing zu jubeln, und dann wirbelte sie ihn übermütig
durch das Zimmer, bis sie wieder müde geworden war.

Hie und da hatte sie wohl eine leichte Stickerei zur Hand genommen,
aber niemals hatte er gesehen, daß eine dieser Arbeiten fertig
geworden war.

Das dauerte oft Wochen und Monate, während deren sie sich in allen
Ecken und Winkeln umhertrieben, bis sie zu schmutzig waren, als daß
sie weiter daran arbeiten konnte.

Dann wurden sie fortgelegt oder beiseitegeworfen, und nach langer,
langer Zeit ward eine neue angefangen, der es nach geraumer Weile
nicht besser erging.

Willy hatte sich dermaßen daran gewöhnt, sie unbeschäftigt zu sehen,
daß, wenn sie anfing zu arbeiten, er ihr lachend die Stickerei aus den
Händen wand: sie sollte mit ihm plaudern und sich nicht ihre schönen,
weißen Finger zerstechen. --

Als er auf die Universität und damit in neue, ihnen beiden ganz fremde
Verhältnisse kam, fing er an, ihr alles zu erzählen, was sie nur
irgend interessieren konnte; und alles interessierte sie, selbst die
geringfügigste Kleinigkeit.

Er bemühte sich, ihr seine Bekannten, seine Lehrer zu schildern, und
gewöhnte sich dabei, ihre Schwächen stets etwas zu karikieren, bis sie
zu lachen anfing; dann erst war er zufrieden.

Er hörte sie so gern lachen; es klang so rein und hell, so kindlich
vergnügt, daß es ihm die schönste Aufgabe schien, sie zum Lachen zu
bringen.

Wo er ihr eine Freude bereiten konnte, tat er es.

Wenn er in diese lieben guten Augen sah, begriff er nicht, wie jemand
ein böses Wort über die Frauen sagen konnte.

Jedenfalls war sein Mütterchen die edelste, liebste und beste Frau,
die es auf der weiten Welt gab.

So leicht würde er Lautner nicht verzeihen, was er an jenem Tage
gesagt hatte. Bei Gelegenheit wollte er ihm seine Meinung gründlichst
sagen. --

Er war mit der Mutter in die Siegesallee eingebogen, und sie schritten
jetzt der Tiergartenstraße zu. Dann ging er noch eine kleine Strecke
mit den Tiergarten entlang und verließ sie vor der Gartentür einer
der kleinen, in dichtem Grün versteckten Villen. Und während er
zurückging, wandte er sich noch ein paarmal, bis daß sie durch den
Vorgarten schreitend in dem Häuschen verschwunden war.

Dann ging er schneller, aber mit ihm gingen die Gedanken an sein
Mütterchen, deren Bild ihn keinen Augenblick verließ; sein ganzes
Leben, das bis jetzt noch immer keinen rechten Zweck hatte, ging auf
in der Liebe zu diesem, für ihn edelsten und reinsten Wesen, das seine
Mutter war.




                                  3.


Lautner hatte sich von Wurm verabschiedet, und da er mit seiner Zeit
heute nichts anzufangen wußte, ging er langsam schlendernd und sinnend
wieder die Linden zurück dem Brandenburger Tore zu.

Sein angefangenes Bild beschäftigte ihn vollauf. Ob er die Kraft
hatte, es zu vollenden, -- ob er es annähernd so ausführen konnte, wie
er es lebendig vor sich sah?

Wenn es ihm gelang, dann war alles gewonnen. Dann brauchte er sich
nicht mehr mit dem Jahrmarktströdel der auf Bestellung gelieferten
Salonbilderchen abzugeben.

Am meisten jedoch dachte er daran, welch eine Freude er seiner alten
Mutter machen würde, und nur das eine wieder stimmte ihn trübe, daß
ihre Augen mit jedem Tage schwächer wurden, so daß sie kaum mehr
arbeiten konnte und ihr Sticken hatte ganz aufgeben müssen. Das und
vieles Weinen hatte ihre Augen verdorben. Es war so arg geworden,
daß er ihr am Morgen die Zeitung vorlesen mußte, weil ihr die Zeilen
ineinander liefen.

War es nicht eine bittere Ironie, daß, während er sich bemühte, die
leuchtendste Farbenpracht auf seine Leinewand zu bannen, die Mutter
immer weniger imstande war, seine Kunst zu genießen?

Das fraß an ihm, und er war doch machtlos.

Der Arzt hatte ihm erklärt, daß es Altersschwäche sei, gegen die es
kein Mittel gäbe. Er mußte sich also in das Unvermeidliche fügen. --

Die Hände in die Taschen des Jacketts versenkt, weil er niemals
Stock oder Schirm trug, ging er gemächlich dahin, aufmerksam rings
beobachtend.

So bemerkte er nicht, wie jemand eine Weile hinter ihm herging und ihn
dann endlich auf die Schulter klopfte.

Er drehte sich rasch um. Es war Professor Petri, der lachend vor ihm
stand und nun seinen Arm nahm.

»Kommen Sie mit, Lautner. Ich habe mich mit Willy verabredet zu
Gurlitt. Sie gehen doch mit? Wir essen nachher zusammen, wo Sie
wollen, wenn Sie sonst nichts vorhaben.«

»Nein! Das paßt mir ganz gut. Ich bin eine ziemliche Weile nicht
dagewesen.«

»Also gehen wir langsam hin.«

Reinhold Petri mochte etwa in den vierziger Jahren sein. Das dunkle,
kurzgelockte Haar war stark in Grau übergegangen, allein es sah aus,
als ob dies von Anfang an die Naturfarbe gewesen sei.

Ein starker Bart mit links und rechts tief herabhängendem Schnurrbart
bedeckte das Kinn und ließ nur manchmal die etwas zu breiten Lippen
sehen.

Die Augen waren stahlgrau und scharf durchdringend. Gewöhnlich etwas
kalt, fast stechend, von starken, fast borstigen Wimpern überschattet
und mit breiten energischen Brauen.

Das ganze Gesicht war durch Alter etwas hängend und leicht gedunsen,
allein die scharfe energische Nase verwischte diesen Eindruck wieder.

Der Kopf mit der hohen, beinah viereckigen Stirn wirkte beim ersten
Blick sympathisch gewinnend, und in den scharfen Zügen lag viel Geist.

Es war eins jener Gesichter, die so frappant sind, daß man sie nicht
wieder vergißt, deren Ausdruck sich voll mit der Persönlichkeit deckt;
aus denen man schwer etwas erraten kann, aber stets geneigt ist, in
ihnen alles zu finden, was man über den Betreffenden erfahren hat.

Es lag Zielbewußtsein in seinem Auftreten, in der straffen Haltung
seines mächtigen, breitschultrigen Körpers.

Das Seltsame dabei war, daß seine Arbeiten, so groß sie angelegt sein
mochten, stets an einem Zuge zur Zierlichkeit krankten und seine
kleineren Statuetten mehr Boudoirnippes glichen als selbständigen
Schöpfungen eines großen Bildhauers.

Es lag ein französisch leichtfertiger Zug in seinen Figuren, der nur
zu oft die einheitliche Wirkung störte. --

Lautner hatte eine Zeitlang unter ihm gearbeitet. Allein, nachdem er
in die Geheimnisse des Modellierens einigermaßen eingedrungen war,
ließ er davon ab und griff wieder zu Pinsel und Palette. Die Farbe
interessierte ihn doch mehr als die Form.

                  *       *       *       *       *

Als sie bei Gurlitt eintraten, fanden sie Willy Braun schon anwesend,
der vor einer norwegischen Landschaft stand, deren üppiger Goldton ihn
begeisterte.

Lautner zuckte nur die Achseln und suchte nach irgendeinem Bilde,
das seiner Geschmacksrichtung besser entsprach, aber er fand nichts
Gescheites.

Er war nicht einmal dazu aufgelegt, seine gewohnheitsmäßigen
ironischen Bemerkungen zu machen, zumal er wußte, daß Reinhold Petri
sie ihm oft genug verargte.

Nur im großen Saale versetzten ihn ein paar originell sein sollende
+Plein-air+-Bilder in wilden Zorn, weil sie so gar keinen Inhalt
hatten.

»Ich glaube, allmählich könnten wir gehen,« sagte er endlich, müde von
dem nutzlosen Herumstehen.

»Einen Augenblick noch. Dieser Bronzekopf interessiert mich zu sehr.«

»Kommst Du nachher mit zu mir, Lautner?« fragte Willy.

»Gewiß, gern. Ich habe nichts vor.«

»So, jetzt wäre ich fertig. Wenn ihr also mit zum Pschorr wollt, so
können wir dort essen.«

                  *       *       *       *       *

Nach Tisch ließ der Professor die beiden jungen Leute allein, die zu
Braun gingen, der seit einiger Zeit in der Mauerstraße seine Wohnung
hatte, um nicht beständig den Weg nach Charlottenburg machen zu müssen.

Sie sprachen über Reinhold Petri, der eben ein neues Werk vollendet
hatte, das sich noch im Atelier befand, aber in den nächsten Tagen
ausgestellt werden sollte.

Willy stand, trotzdem er über das Sie und das Herr nie hinausgekommen
war, mit ihm auf vertrautem Fuße. Oft, wenn ihn irgend etwas
bedrückte, wenn er in irgendeiner Angelegenheit einen Rat haben
wollte, wandte er sich, ehe er der Mutter die letzte Entscheidung
überließ, an Petri, zu dem er viel Vertrauen besaß.

Sie ließen es sich beide nach außen hin nicht anmerken, wie vertraut
sie im Grunde waren. Wenn Willy in Charlottenburg war, in den Ferien,
so machten sie gemeinsam die ausgedehntesten Spaziergänge.

In den letzten Tagen war der Professor nervös erregt gewesen, wie
jedesmal, wenn er mit einem neuen Werke an die Oeffentlichkeit trat.

Eine Ruhelosigkeit ohnegleichen marterte ihn; er konnte vor allem
keinen Augenblick allein sein.

Jetzt hatte er die beiden jungen Leute nur verlassen, weil er selbst
den Transport seiner Gruppe anordnen und überwachen wollte. --

Sie waren vor dem Hause der Mauerstraße angelangt und stiegen die
helle Treppe zu Brauns in der ersten Etage gelegenen, aus drei Zimmern
bestehenden Wohnung hinauf, über die sich Lautner jedesmal aufs neue
ärgerte, weil sie, wie er behauptete, mit geradezu geschmackloser
Protzigkeit eingerichtet war.

»Natürlich, die Martha!« sagte Lautner, als sie auf den Korridor
traten und in demselben Augenblicke eine Tür geöffnet wurde und ein
blonder Mädchenkopf sich zeigte.

»Du, das Mädel ist, glaub' ich, in Dich verliebt, Will. Sie muß immer
herausgucken. Na, deshalb brauchst Du nicht gleich rot zu werden.«

»Ich bitte Dich, Fritz.«

»Na laß doch. Du kannst ja nichts dazu, das weiß ich. Ich glaube, ehe
Du mal ein nettes Wort zu einem hübschen Kinde sagst, muß die Welt
untergehen. In der Beziehung bin ich nun gerade kein Unmensch.«

Er hatte es sich in einem Ledersessel bequem gemacht und betrachtete
eifrig die Titel der in den Repositorien stehenden Bücher. Es war
so behaglich in den hübsch ausgestatteten Räumen, daß er gern ein
Stündchen hier mit Braun verplauderte.

»Uebrigens, Will, Du hast mir immer mal versprochen, zu uns
heraufzukommen. Ich habe meiner Mutter so viel von Dir erzählt, daß
sie ganz neugierig geworden ist. Dafür mache ich Dir dann mit Würmchen
am nächsten Sonntag in Eurer Villa Gegenbesuch, wenn Dir die Zeit
paßt.«

»Aber sehr gern.«

»Weißt Du, so nett wie bei Dir findest Du es nun nicht bei uns.
Hinterhaus drei Treppen, wegen des Ateliers. Und das ist auch danach,
klein und scheußlich einfach, vier kahle Wände, das ist alles.«

Dann fuhr er mit wohltuender Wärme fort:

»Aber dafür ist eins darin, und das weißt Du ja zu würdigen: Du mußt
meine Mutter mal kennen lernen, 'ne einfache, alte Frau natürlich,
recht alt sogar, aber darauf siehst Du hoffentlich nicht so sehr.«

»Ich habe nichts mehr zu tun, wenn wir also ...«

»Aber mit dem größten Vergnügen, lieber Junge. Je unerwarteter, desto
besser.«

Sie brachen wieder auf und gingen nach Moabit hinaus. --

                  *       *       *       *       *

Ein großes graues Vorderhaus, dann ein völlig verwahrloster Garten und
hinten ein kleines, aber hohes Hintergebäude.

Die Treppen waren schmal und ausgetreten. An den Wänden blätterte der
Kalk ab, und Braun war froh, als sie endlich die Treppen hinauf waren
und nun in ein paar Stübchen kamen, mit gescheuerten schneeweißen
Fußböden. Alles so peinlich sauber. Der einfachste Hausrat von der
Welt; aber diese Einfachheit atmete eine wohltuende Gemütlichkeit, die
auch den verwöhnten Willy Braun bestach.

Die alte Frau Lautner kam aus der Küche herbei. Sie hatte sich schnell
eine saubere Schürze umgebunden. Es war alles an ihr so sicher und
ruhig; sie kam dem jungen Manne höflich, aber doch mit einer gewissen
überlegenen Herzlichkeit entgegen, daß er fast zwei Stunden mit
dieser einfachen Frau verplauderte, nachdem er anfangs nur mitgekommen
war, um dem Freunde gegenüber einer Anstandspflicht zu genügen.

Zum ersten Male erkannte er, wie weich Lautners Stimme klingen konnte,
wenn er »Mütterchen!« sagte; wie verändert er schien, der ihn sonst
mit seinen kalten Urteilen so oft erbittert hatte.

Er schien hier ein ganz anderer Mensch zu sein, und erst, als er ihn
dann in sein Atelier führte, eine Art Bodenkammer, abgeschrägt, aber
fast blendend hell, und als er ihm einige Farbenskizzen zeigte, hastig
hingeworfen, gleichsam dem Leben entrissen, da war er wieder der alte
Skeptiker, der sich selbst mit der schärfsten Ironie beurteilte, so
daß Braun fast drängte, fortzukommen, nur um sich den guten Eindruck
zu bewahren, den er heute von ihm durch sein Verhalten der Mutter
gegenüber empfangen hatte.




                                  4.


Ein schweres Abendgewitter war über Berlin niedergegangen. Die Blitze
hatten den dichten grauen Dunstschleier, der ewig drückend schwer über
der gewaltigen Häusermasse lagerte, zerrissen, bis die stürzende
Regenflut ihn völlig durchschlagen hatte.

Endlose Ströme stürzten prasselnd vom eintönig grauen Himmel und
überschwemmten alle Straßen, Plätze und Trottoirs. Im Augenblicke
waren die Fassaden der Häuser von dem feinen grauen Staube
reingewaschen, der sich in den letzten, übermäßig heißen und ganz
windstillen Tagen darauf gelagert hatte. Der Schmutz von den
Steinen, dem Asphalt und den Holzblöcken des Pflasters wurde in die
Straßenrinnen geschwemmt, wo er wie eine tintenartige Masse langsam
den gurgelnden und schluckenden Kanalöffnungen zutrieb, um in der Erde
zu verschwinden.

Als sei eine Wolkenmauer geborsten, so rauschten die Regengüsse
nieder. Der Wind trieb die dicken Tropfen gegen die Scheiben der
Fenster und jagte breite Wolken von Sprühregen wie Wellen über das
glatte Pflaster der menschenleeren Straßen.

Ueberfüllte Straßenbahnwagen fuhren in gleichmäßigen Pausen die unter
Wasser stehenden Schienen hin; einzelne hastende Droschken jagten in
eiligem Trabe unter dem Regen durch, der Kutscher mit vorgebeugtem
Nacken, den Wachstuchzylinder tief in die Stirn gedrückt und den
weiten Mantel fest um die Schultern ziehend.

Unter allen Torwegen und in jedem offenen Hausflur standen
Spaziergänger und unruhige Geschäftsleute, eng zusammengepfercht, mit
ihren tropfenden Schirmen und dampfenden Kleidern, -- und zogen sich
tiefer in den Hausflur zurück, wenn der heimtückische Wind plötzlich
seinen feinen durchdringenden Sprühregen in den Torbogen warf.

Die dicken klatschenden Tropfen, die fast silbern, wie zerplatzende
Hagelschlossen aussahen, fielen nicht mehr. Allmählich ging der
Wolkenbruch in einen gleichmäßig feinen Landregen über, der alles mit
seinen dunstigen Nebelschleiern umhüllte. --

Willy Braun hatte den dicken Band, in dem er geblättert, niedergelegt,
weil die Dunkelheit immer stärker ward, und blickte jetzt in den Regen
hinaus in die einsame Mauerstraße, wo kein menschliches Wesen zu
erblicken war.

Vor den beiden Fenstern des Wohnzimmers befand sich ein Balkon, und
von dem kleineren der zweiten Etage stürzte hier der Regen herab,
daß die Wasserfluten in das Zimmer einzudringen drohten, dies große,
elegant eingerichtete Gemach, das so gar keine Aehnlichkeit hatte mit
den bescheidenen Studentenbuden seiner Kommilitonen hoch im Norden
oder Nordwesten der Stadt, jenen bescheidenen, engen und meist kahlen
vier Wänden, in denen sie zu seinem Entsetzen hausen mußten.

Seit dem ersten Semester, das er an der Universität Jura studierte,
hatte er diese aus drei Zimmern bestehende Wohnung inne. --

Es klopfte an der Tür.

Er drehte sich um, und seine Wirtstochter fragte fast scheu, als ob
sie sich nicht traue, hereinzukommen:

»Soll ich auch die Lampe bringen, Herr Braun?«

Er warf einen Blick auf die Straße und dann einen auf die zierliche
Bouleuhr auf dem Kaminsims, die dreiviertel sieben zeigte -- dann erst
sagte er:

»Bringen Sie nur, Fräulein Martha, -- aber anzünden brauchen Sie sie
nicht gleich.«

Sie huschte hinaus, kam nach einer Weile mit der Lampe wieder und sah
sich ratlos im Zimmer um, denn der Tisch war ganz mit Büchern bedeckt.

»Nur auf den Schreibtisch, bitte.«

Er hatte sich wieder an das Fenster gestellt und sah, wie zuweilen ein
ferner Blitz über den jenseitigen Häusern aufzuckte und das Zimmer
leicht erhellte, dann herrschte wieder eintönige, farblose Dämmerung.

Am Himmel trieben einzelne Wolkenfetzen, und der Regen ließ sichtbar
nach; nur zuweilen verschlimmerte sich stoßweise dieser prickelnde
Sprühregen, der so fein rieselte, daß man glauben konnte, er habe ganz
aufgehört.

Willy bemerkte bei seinen Beobachtungen gar nicht, wie sich Martha
noch immer im Zimmer zu schaffen machte.

Er hatte in all der Zeit, daß er bei dem Registrator Kuhlemann wohnte,
kaum ein Auge gehabt für die hübsche achtzehnjährige Martha, mit ihren
reichen blonden Haaren und diesem bescheidenen Wesen, das so gar nicht
zu dem der anderen Mädchen paßte. Er hatte es nie bemerkt, daß sie
alles tat, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, daß sie stets
alles selbst besorgte, wenn er irgend etwas wünschte, so daß er das
Dienstmädchen, das die Familie hatte, kaum zu Gesicht bekam.

Er war freundlich gegen sie, aber nie sagte er ein Wort mehr als
nötig; nie machte er auch nur den Versuch, mit ihr, die so gern
schwatzte, zu plaudern.

Ein paarmal hatte sie ihn um ein Buch zum Lesen bitten wollen, das ihr
beim Aufräumen aufgefallen war, allein wenn sie den Entschluß noch
so fest vorhatte, traute sie sich im entscheidenden Augenblicke doch
nicht mehr, weil er immer so ernst und schweigsam war.

All das diente nur dazu, ihre Neigung mehr und mehr zu vertiefen, sie
aber auch im gleichen Maße geheim zu halten.

Sie rückte jetzt an einer Vase und ordnete das Bukett darin, dann
wischte sie über den Deckel des Pianos, warf noch einen Blick auf den
am Fenster stehenden jungen Mann, der ihr achtlos den Rücken kehrte,
und entschloß sich endlich, mit einem leisen »Guten Abend!« das Zimmer
zu verlassen.

Er hatte kaum mehr daran gedacht, daß sie noch da war, denn seine
Gedanken waren schon draußen in Charlottenburg, in der kleinen Villa
der Sophienstraße, wo heute seine Mama ihren achtunddreißigsten
Geburtstag feierte, seine junge, schöne Mama, wie er sie liebkosend
so gern nannte, die er fast vergötterte, und auf die er so stolz war,
wenn er an ihrer Seite ging oder mit ihr ausfuhr, und alle Welt sich
nach ihnen umsah.

Denn sie fiel auf mit ihrer Schönheit, die etwas mädchenhaft
Eigenartiges hatte.

Diese Feinheit ihres Profils hatte sich auch auf ihn übertragen; er
hatte dasselbe hellbraune Haar, dieselben dunklen Augen, und trotz
seines kräftigen Körperbaus etwas Weiches, fast Zartes, daß man
sofort erkannte, wie er von einer Frau, und ~nur~ von einer Frau
großgezogen war und von der Welt nichts wußte, nicht viel mehr als ein
verzärteltes Haustöchterchen.

Das zeigte sich auch in seinem Anzuge, eine Sauberkeit und Nettigkeit
wie die eines Pensionsfräuleins, das nicht das kleinste Fleckchen oder
Stäubchen an sich duldet. --

Er kannte nur seine Mutter. Eine seltsame Neigung zog ihn zu dem
spöttischen Maler und dem so überschwänglichen Wurm. Sonst hatte er
keinen Freund. Und auch Frauen kannte er nicht. Seine Mutter war die
einzige, die Bedeutung für ihn hatte, auf die er all seine Liebe
übertrug, eine blinde, rückhaltlose Verehrung wie für eine Heilige.

Heute in aller Frühe schon war er draußen gewesen, um ihr seine
Glückwünsche zu überbringen.

Er hatte sie in dem großen, immer so sorgfältig gepflegten Garten
getroffen, wo sie ihn erwartete; denn sie wußte, daß er kommen würde.

Im vorigen Jahre war er noch ganz zu Haus gewesen. Zum ersten Male
war er jetzt fern. Er wollte arbeiten, und dazu kam er daheim nicht.
Denn immer gab es etwas für die Mutter zu tun; gleich war er mit
einer Frage bei der Hand, ob er ihr nicht irgendwie behilflich sein
konnte oder auch nur ihr Gesellschaft leisten sollte, wenn der Vater
wieder einen seiner Schmerzensanfälle hatte und der sie nicht um sich
duldete, weil er wußte, wie peinlich es ihr war, weil sie dann wieder
für einige Tage an ihrer Nervosität zu leiden hatte. --

In ihrem lichten Morgenkleide hatte sie auf der kleinen, dicht an der
Gartenmauer gelegenen Anhöhe gestanden, von wo aus man die Straße ganz
hinuntersehen konnte.

Er war auf sie zugeeilt und hatte sie in seine starken Arme genommen,
als wollte er sie zerdrücken, daß sie ihm lachend wehren mußte.

Sie hatte die weißen Kamelien leidenschaftlich gern, und so hatte er
ihr auch schon heute früh ein großes Bukett gebracht, und für heute
abend war ein gleiches, noch schöneres bei Schmidt bestellt.

Er sah in Gedanken ihr liebes, freudiges Gesicht, und wie sie ihn
schelten würde, daß er ein Verschwender sei; und doch würde sie ihm
für seine Verschwendung so gut sein, daß er schon jetzt die Freude
durchkostete, ihr einen Wunsch erfüllen zu können. --

Es regnete noch immer, aber jetzt ganz fein. Das Gewitter hatte sich
verzogen, und er entschloß sich, fortzugehen.

Rasch vertauschte er die braune Joppe mit dem Gesellschaftsrocke, warf
den hellen Ueberzieher um die Schultern, steckte noch einen Brief an
einen auswärtigen Freund in die Brusttasche und verließ das jetzt ganz
dunkle Zimmer.

Als er die Korridortür öffnete, rief ihn Martha an, ob er heute
heimkommen oder draußen bleiben würde.

Nein, -- er kam nach Hause.

Regelmäßig hatte sie eine derartige Frage, wenn er fortging, und er
sah darin nichts anderes als eine liebenswürdige Vorsorglichkeit,
während es doch von ihr nichts war als das Bestreben, ihn auf sich
aufmerksam zu machen.

Er achtete nicht darauf; er dachte nicht im entferntesten an sie,
die ihm vom Fenster aus nachsah, bis er in dem Torbogen der kleinen
Mauerstraße verschwand, die er, ohne sich zu beeilen, durchschritt und
dann langsam in die Linden einbog.

Ein feiner Dämmerungsschleier lag über den schon herbstlich gelb
gefärbten Bäumen.

Der Fahrdamm war von Fuhrwerken aller Art belebt. Auf dem Trottoir nur
wenige Menschen, die mit aufgespannten Schirmen sich eilends an den
Häusern hindrückten.

Willy trat in den Blumenladen von Schmidt ein. Der bittere,
sinnverwirrende, schwüle Blütenduft, der hier hing, betäubte ihn fast,
während draußen die Luft vom Gewitter gereinigt war.

Er lächelte dem bleichsüchtigen Ladenmädchen zu, das ihm die Blumen
fürsorglich in buntgestreiftes Seidenpapier einschlug.

Dann nahm er das Bukett vorsichtig unter den Schirm und trat wieder
hinaus in den Regen, der mehr und mehr nachließ. --

Gleichmäßig plätscherten auf dem Pariser Platze im Regen die beiden
Fontänen.

Vor der Wache des Brandenburger Tores standen zwischen den Säulen
einige Soldaten und sahen gelangweilt vor sich hin. Unbeweglich stand
der Posten da, unbekümmert um den Regen, trotzdem seine weiße Hose
naß und grau geworden war und anklebte. Er wartete stoisch auf die
Ablösungsstunde.

Von den Bäumen des Tiergartens klatschten dichte Tropfen; zuweilen
schüttelten sich die nassen Zweige und ein Regenschauer prasselte
nieder, der heftig auf seinen aufgespannten Schirm trommelte, während
er, die Bahn erwartend, am Waldsaume auf und ab ging.

Der Wagen war ziemlich leer, und er setzte sich gegen alle Gewohnheit
in das Innere, wo eine drückende, dumpfe Luft herrschte, daß er das
Fenster hinter sich öffnen mußte.

Ein feuchtschwerer Duft wogte aus dem Walde her. Nebelhaft schien er
dem feuchten Boden zu entquillen.

Zuweilen hörte man, wie das Wasser unter den Rädern aufrauschte. Oder
der Nachregen stürzte von den Bäumen.

Manchmal flammte es in der Ferne auf, schwach und ersterbend.

Der Wagen schwankte und stieß, und Willy war froh, als er endlich
aus dem Tiergarten heraus war, unter dem Eisenbogen der Stadtbahn
durchfuhr, über den schmutzigen Spreekanal, -- dann links der breite
Sandsteinbau der Technischen Hochschule, und endlich war er am Ziele.

Er mußte mit seinem großen, ihn hindernden Bukett über ein paar breite
Pfützen springen, dann überschritt er die Allee und bog in die enge
Sophienstraße ein.

Die Fenster der kleinen Villa waren weit geöffnet; aus der ersten
Etage, durch die hin- und herflatternden Vorhänge strömte eine
drängende Lichtfülle.

An dem einen Fenster waren die Vorhänge weit zurückgeschlagen, und
als die Gittertür ins Schloß fiel, sah er, daß dort oben sich jemand
bewegte. Er erkannte die Gestalt.

Es war seine Mutter, seine geliebte, angebetete Mutter.

Sie grüßte und winkte, und er lächelte und winkte hinauf, und dann
stürmte er fast über den Kiesweg und die breite Steintreppe hinauf, zu
ihr ... seiner Mutter. --




                                  5.


Will hatte kaum den Fuß auf die unterste Stufe der hellerleuchteten
Treppe gesetzt, als sich droben eine Tür öffnete und die Mutter ihm
entgegenkam, lächelnd und freudestrahlend, und ihn in das kleine
Vorzimmer zum Salon zog. Ein schmaler, einfenstriger Raum, der zu
einer Art Toilettenzimmer umgewandelt war.

In der Mitte ein niederer Diwan mit buntgemustertem Teppich --
ein großer Toilettenspiegel an der einen Wand, an der andern
Garderobeständer, an denen schon einige Sachen hingen, zu denen auch
Will Hut und Mantel hing, ehe er das Bukett sorgsam aus seiner bunten
Seidenpapierhülle schälte.

Keine Blume war gebrochen, keine Spitze zerknittert.

Frau Anna hatte sich auf den Rand des Diwans gesetzt und ihm
zugeschaut, bis er ihr jetzt die weißen Blüten überreichte, in die sie
tief aufatmend ihr Gesicht versenkte.

»Du Verschwender!« schalt sie ihn voller Glück. »Wie schön die Blumen
sind, wie wunderbar schön!«

Er stand vor ihr und sah auf sie nieder, wie sie dasaß und jetzt nach
seiner Hand griff und ihn zu sich zog. Er beugte sich nieder, und voll
überströmender Zärtlichkeit griff sie nach seinem Kopfe und küßte ihn
auf die Stirn.

»Du leichtsinniger Verschwender! Ich glaube, Du wärest imstande, alles
hinzugeben, selbst Dein letztes, nur um ~mir~ eine Freude zu
bereiten, und wenn sie auch nur einen Augenblick währte.«

Er nickte beistimmend und sah sie lachend an.

»Dir käme es nicht darauf an, mir die ganze Welt zu Füßen zu legen,
wenn die andern dann auch gar nichts behielten.«

»Gewiß,« sagte er scherzend. »Die Welt und den Himmel, mit all seinen
Sternen auch.«

»O, Du Himmelsstürmer! Es ist nur gut, daß Du nicht so groß bist, um
bis zu den Wolken zu reichen. Die armen Sterne sonst!«

»Es wäre ja für Dich, meine liebe, kleine Mama.«

»Ich glaube, Du könntest alles für mich tun. Wenn ich wollte, am Ende
gar Mord und Totschlag.«

»Für ~Dich~ alles!«

Er sagte es halb lachend, aber seine Stimme klang fest und ruhig, und
in seinen dunklen Augen lag eine Entschlossenheit, die verriet, daß er
zu allem bereit sein konnte für sie.

»Du Närrchen,« sagte sie und fuhr liebkosend über sein leichtgelocktes
dunkles Haar.

Er schmiegte sich an sie, so daß er halb vor ihr kniete.

»Du Närrchen,« wiederholte sie, und ein unnennbares Gefühl des
Glückes, wie eine verhaltene Tränenflut durchbebte sie, während ihre
schlanken Finger mit seinen Haaren spielten.

»Wie schön Du heute wieder bist,« sagte er plötzlich und griff nach
ihren Händen. »Ich glaube, Du wirst immer jünger und schöner.«

Eine leichte Röte flog über ihre blassen Wangen, daß er sich diese
kindischen Schmeicheleien nicht abgewöhnte, und doch war sie darüber
so glücklich.

»Mußt Du denn immer schmeicheln? -- Du willst mich nur ausspotten. Ich
bin längst eine alte Frau.«

Er lachte und schüttelte den Kopf.

»Du bist viel jünger als all die andern.«

»Und habe dabei einen großen Herrn Sohn, der wie ein kleines Kind
schmeichelt und wie ein rechtes Baby süß tut.«

»Bist Du böse darüber, Ma?«

»Nein Will, nicht böse! Nur glücklich ... überglücklich.«

»Ma!«

»Wenn ich ~Dich~ nicht hätte, Will ...«

Sie seufzte leicht auf und umfaßte ihn.

»Aber Mütterchen, bist Du denn nicht glücklich? Fehlt Dir etwas? Was
redest Du nur so.«

»Du guter Junge! ...«

Sie blieben noch immer in diesem traulichen, engen Zimmer, ohne
rechte Lust, in den Salon zu gehen, von wo die Laute einer harten
aufdringlichen Stimme bis zu ihnen herübertönten.

Es war traumhaft still hier, und es lag etwas so geheimnisvoll
Berauschendes darin, eine Zeitlang noch schweigend ihr Beisammensein
voll zu genießen, so nahe beieinander sein zu können in dieser
behaglichen Stille, diesem unausgesprochenen Glücke.

Will sah sie an. Sie war heute schöner als je.

Die dunklen feinen Augen schimmerten in feuchtem Glanze, wie in
Sonnentränen, die schmalen Lippen waren wie von innerer Erregung
blutrot, und auch auf den sonst mattgelben blassen Wangen lag ein
frischer Hauch, ein weiches, schwaches Rot.

Das schwere dunkle Haar hatte sie einfach aufgenommen und wie eine
Krone um den Kopf gelegt, wie ein Diadem. Nur in die Stirn kräuselte
es sich leicht natürlich.

Sie litt keine künstliche Frisur, und sie wußte, wie gut bei dem
vollen Haar ihr diese einfache Tracht stand, die ihr durch das
Ungekünstelte den Reiz des Besonderen verlieh.

Eine breite, feingliedrige Silberkette war durch das dunkelbraune Haar
geschlungen. Eine gleiche Kette lag um den schlanken Hals, und ein
dazu passendes Armband umschloß das feine Gelenk der linken Hand.

Sie trug ein mattgraues Kleid mit breiten Cremespitzen. Sie wußte, wie
gut ihr das stand und wie gern Will diese Farben hatte. Weshalb sollte
sie sich aus gesellschaftlicher Rücksicht dunkel kleiden? -- Sie
liebte alles Helle und Frische, die leis abgetönten Farben, die weich
ineinander überflossen. Das halb Farblose war ihre Passion.

Eine süße, schwermütige Träumerei lag jetzt in ihren Augen, fast etwas
Schwärmerisches, als ob sie nichts von der Außenwelt um sich herum
sah, sondern andere Bilder, die einst an ihr vorübergezogen waren,
fröhliche und trübe; denn das Licht in ihren Augen wechselte, als ob
Wolkenschatten darüber hinglitten.

Die Stimmen im Nebenzimmer wurden lauter.

Es wurde dröhnend und wuchtig gelacht, ein Lachen, das sich allmählich
abstufte -- und dann ging plötzlich, ohne daß geklopft war, die Tür
auf; und eine blendende Flut von Licht prallte hervor, daß sie sich
wie erschreckt losließen; und im Rahmen der Tür zeigte sich ein etwa
sechzigjähriger Mann, breitschultrig, hünenhaft von Gestalt, mit
dichtem, grauem Haar, das tief in den Nacken fiel, und mit einem
verzottelt aussehenden grauen Barte, der breit die ganze Brust
bedeckte.

Und aus dieser Brust tönte ein sonores Lachen, tief und schütternd,
etwas aufdringlich, fast selbstbewußt.

»+Damn't!+ Da haben wir ja wieder das Liebespaar.«

Er rief es mit seinem dröhnenden Lachen, und auf der Schwelle stehen
bleibend, redete er in das Zimmer zurück.

»Wahrhaftig, Bruder, ich ließe mir das nicht gefallen. Ich an Deiner
Stelle wäre schon längst eifersüchtig geworden. Sieh Dir nur mal diese
Szene an. O Romeo, o Julia! Sieh nur ... ach so, Du kannst ja nicht.
Ja, ja, es ist ein angenehmes Gefühl, seine Knochen heil und gesund
beisammen zu haben.«

Und wieder brach er in sein übermütiges Lachen aus.

»Na, mein Sohn +filius+! Machen wir denn? -- +Hope, ye do well,
my boy!+

Er streckte Will gutmütig die Hand hin, die im Gegensatze zu diesem
robusten Körper schmal und sehnig war, mit langen, feinen Fingern, die
wie nervös aussahen.

Willy war bei seinen ersten Worten aufgesprungen, und auch Frau Anna
hatte sich langsam, unwillig über die Störung, erhoben.

»Aber Onkel, was soll denn ...«

»+Never mind, my dear+, ich weiß schon ... weiß schon. Ich tappe
nun einmal wie ein Bär in alles. Meine schöne Frau Schwägerin wird es
mir schon verzeihen, wenn sie auch jetzt die Stirn runzelt. Es ist ja
nichts weiter als blinde Eifersucht von Onkel Jack. Aber nun kommt
herein, damit wir auch was von Euch haben.«

Johannes Braun oder, wie er sich drüben geschrieben hatte, Jack Brown,
war sieben Jahre älter als Wills Vater Hermann.

Voller Abenteuerlust war er als junger Bursche nach den Staaten
ausgewandert, weil es ihm daheim nicht behagte, und hatte den Yankees
was vorgedudelt, wie er seine Kapellmeistertätigkeit benannte.

Er hatte sich jenseits des großen Sumpfes bald eine tüchtige Stellung
errungen; vom einfachen Geiger brachte er es binnen kurzem zum
Dirigenten; und als er so viel beisammen hatte, um ruhig leben zu
können, kehrte er in das geeinigte Deutsche Reich zurück, gerade zur
Zeit, als Hermann in seiner chemischen Fabrik mit einem Experimente
jenes Unglück gehabt hatte, das ihn derart zurichtete, daß er
monatelang liegen mußte und seitdem infolge einer Lähmung der rechten
Seite wie ein Kind gepflegt wurde.

Er saß hilflos und verlassen im Sessel und freute sich fast kindlich
über Will, der ihn begrüßte und ihm die Hand schüttelte, die linke,
weil er in der anderen kein rechtes Gefühl hatte.

Da saß er in sich zusammengefallen, mit dem grauen Krankengesichte,
dem spärlichen hellen Haar, über das er beständig mit zitternder Hand
fuhr, und dabei versuchte er, ein recht fröhliches Gesicht zu machen,
sobald Besuch da war.

Nur zwei Damen waren noch anwesend, denn seitdem Doktor Braun gelähmt
war, hatten sie allen gesellschaftlichen Verkehr abgebrochen, und jene
großen Feste, die früher ein Ereignis bildeten, hatten aufgehört. Frau
Anna selbst hatte es so gewollt. --

Will hatte kaum ein paar Worte mit seinem Vater gewechselt, als ihr
Gespräch durch Frau Emmy Dempwolf unterbrochen wurde, die sich für
einige Zeit bei ihrer Schwester Agnes von Ruschwedel aufhielt.

Emmy war die verkörperte Lebensfreude, hellblond, schlank und
schmiegsam, mit hellen, fast wasserblauen Augen, die munter in die
Welt schauten. Sie kokettierte für ihr Leben gern, allein auf dem
einsamen Gute Rintlach bot sich ihr keine Gelegenheit, und ihr Wolf
oder, wie sie ihren Gatten auch zu benennen pflegte, ihr Brummbär
hatte kein Verständnis dafür.

Ganz anders ihre Schwester, die Frau Hauptmann; hoch aufgeschossen,
ernst und streng bewahrte sie in allen Lebenslagen ihre Würde und
Hoheit. Beständig ging sie in Schwarz und trieb mit ihrem toten Gatten
einen überschwänglichen Kultus, so daß sie keine zehn Worte sprechen
konnte, ohne nicht dabei ihres seligen Franz zu gedenken.

Emmy Dempwolf nahm wenig Rücksicht auf den zur Schau getragenen Ernst
ihrer Schwester. Wie ein Wirbelwind tobte sie durchs Leben, und ihr
erstes war der Versuch gewesen, Willy in ihre Netze zu ziehen. Gerade,
weil dieser große, hübsche Junge so spröde und kalt tat, wollte sie
ihn aus seiner Fassung bringen. Allein bis jetzt hatte sie noch
keinerlei Erfolg aufzuweisen, und sie griff daher zu immer stärkeren
Mitteln.

Jetzt hatte sie wieder einen Gedanken.

»Liebster, bester Herr Doktor,« schmeichelte sie, »Sie müssen mir
einen großen, großen Gefallen tun.«

»Verzeih, Papa! .. Gnädige Frau wünschen?«

»Verschaffen Sie mir ein Pferd. Ein Königreich für ein Pferd. Ich muß
einmal wieder einen Gaul unter mir haben, oder ich komme um.«

»Ich werde versuchen, gnädige Frau ...«

»Ach, das ist himmlisch ... Das wird reizend. Natürlich begleiten Sie
mich. Sie können doch reiten?«

»Allerdings, aber ...«

»Ach was, ... kein Aber! Nein, wie ich mich freue! Wozu gibt es denn
den Tiergarten. Eigentlich hatte ich Wolf gebeten, -- aber mein
Brummbär grommelte: er habe seine Pferde nicht zum Eisenbahnfahren.
Was sagen Sie dazu? -- Also abgemacht: Sie sorgen für Pferde, aber
für mich ein recht wildes; Sie sollen sehen, wie gut ich damit fertig
werde. In aller Frühe natürlich, wenn die anderen noch in den Federn
liegen.«

Da Will lächelte, fuhr sie eifrig fort:

»Sie brauchen gar nicht so zu lächeln. Wann glauben Sie, daß ich sonst
aufstehe? -- Um vier oder um fünf Uhr, mein Herr ... Hier allerdings
müßte man ja sterben, wenn man vor acht Uhr herauskriecht. Aber dann
heißt es: mit den Hühnern auf! Wahrhaftig, ich glaube, ich komme hier
um, oder wenigstens auf die unsinnigsten Gedanken, wenn ich nichts
zu tun habe. -- Ich hatte mir das alles ganz anders gedacht, als ich
meinen Wolf allein sitzen ließ. Ich wollte mit Agnes nach Warnemünde
oder Heringsdorf, ganz gleich, wenn es auch schon ein wenig spät ist;
und nun sitze ich hier schon über vierzehn Tage in diesem Neste, weil
meine Frau Schwester mir den Willen nicht tun will. Amüsieren wir uns
also auf unsere Weise, hoch zu Roß. Ich freue mich schon jetzt wie ein
Kind. Also, abgemacht! ..«

Sie reichte ihm ihre kleine Hand, auf deren Zierlichkeit sie sich sehr
viel einbildete, und sie reichte sie ihm gleich so hoch hin, daß er
sie küssen sollte.

Der junge Mann jedoch machte keine Miene. Er schüttelte ihr ganz ruhig
die Hand.

Das herausfordernde Wesen der jungen hübschen Frau verletzte ihn, und
sie erreichte damit bei ihm genau das Gegenteil ihrer Absicht.

Wenn er seine Mama dagegen hielt, die jetzt neben Frau Hauptmann von
Ruschwedel saß, mit ihrem feinen Lächeln, diesen ruhigen, zierlichen
Bewegungen, während Frau Dempwolf mit ihrem hastigen Wesen oft
geradezu ungraziös wurde.

Sie hatte Willy am ersten Tage mit »Herr Doktor« angeredet, so daß er
ihr einmal bescheiden bemerkte, daß er das noch nicht sei. In ihrer
koketten Weise erwiderte sie ihm, wie verwundert:

»Ich kann Sie doch aber nicht wie die anderen kurzweg Will nennen! Das
geht doch nicht gut.«

Unmutig hatte er geschwiegen, worauf sie triumphierend sagte:

»Dann müssen wir es doch wohl vorläufig bei dem Doktor belassen. Es
tut hoffentlich nicht weh.«

Er hatte auch jetzt keine Antwort, aber jedesmal bei dieser Anrede
empfand er es unangenehm.

Ihr ganzes Wesen drängte ihn, beinah ungezogen gegen sie zu werden,
er, der sonst Frauen gegenüber von zurückhaltender Liebenswürdigkeit
war.

Es war ihm peinlich, daß er so sein mußte, und dieses Bewußtsein
machte ihn noch steifer.

Weshalb kokettierte sie so und verkehrte nicht lieber mit ihm auf
kameradschaftlichem Fuße, wie er es von der Mutter her gewöhnt war,
in jenem unbefangen sicheren Tone, den er jeder andern Frau gegenüber
besaß.

Er verstand diese junge Frau nicht, die ohne beständige Schmeicheleien
nicht leben konnte, die auch ihn zwingen wollte, ihr dergleichen zu
sagen.

Was konnte ihr zum Beispiel daran liegen, ob er ihr die Hand küßte
oder nicht? -- Sie bat ihn um eine Gefälligkeit, die er ihr gern
erfüllte. Das genügte doch.

Frau Anna ging an ihm vorüber und flüsterte ihm leise zu:

»Du mußt Frau Dempwolf zu Tisch führen.«

Er bot ihr ohne besondere Freude den Arm, und nun hatte er wieder das
unangenehme Gefühl, daß sie sich fester an ihn hing und anschmiegte,
als nötig war.

»Wo ist denn Herr Lautner?« fragte sie.

»Er war am Nachmittage hier und läßt sich vielmals entschuldigen. Es
ist ihm nicht möglich gewesen, heute abend zu kommen.«

»Ach wie schade, er ist so furchtbar interessant!«

Lautner behandelte sie immer mit einer gewissen Ueberlegenheit,
die ihr imponierte. Er gestattete sich die schärfsten Urteile und
Ansichten, über die ~sie~ sogar sich entsetzte. Allein er gefiel
ihr, mit seinem sicheren Gleichmute und seinem ironischen Spotte, den
er an allem übte.

Wenn sie beisammen waren, so gab es stets ein endloses Wortgefecht,
mit Spitzfindigkeiten, denen so leicht kein anderer folgen konnte.

Ihr Ausruf: Wie schade! war deshalb aufrichtig gemeint, und auch Willy
stimmte ihm bei. Dann hätte er doch für den Abend Ruhe gehabt. --

Frau Anna hatte so lange gezögert, weil noch ein Gast fehlte. Allein
Doktor Braun war ungeduldig geworden. Er war leicht erregt und nervös,
wie es Kranke zu sein pflegen, die durch ihre Schwäche zu eignem
Handeln unfähig sind.

Sie sah es, denn er fing an, unruhig mit den Fingern zu trommeln, und
ihm zuliebe wartete man nicht länger.

Vorher aber blickte Frau Anna nochmals aus dem Fenster, in die
kühlfeuchte Nacht hinaus; dann erst nahm sie ihren Platz an der Spitze
der Tafel ein. An der linken Seite saß ihr Gatte, der jetzt ganz still
geworden war, und neben ihm Frau von Ruschwedel mit Onkel Jack. An der
rechten Seite der Hausfrau blieb ein Stuhl frei, dann kam Emmy mit
Will.

»Liebste Freundin,« wandte sich Anna zu Frau Dempwolf, »ich muß Ihre
Nachsicht in Anspruch nehmen. Ich hatte bestimmt erwartet, daß der
Professor zur rechten Zeit erscheinen würde. Es war ihm die Ehre
zugedacht, Sie zu Tisch zu führen. Ich glaube, wir lassen den Platz
zwischen uns noch ein wenig frei, ich hoffe bestimmt, daß Sie bald zu
Ihrem Rechte kommen werden.«

»Aber ich bitte sehr. Ich bin mit der Gesellschaft von Herrn Willy
vollkommen zufrieden. Eigentlich fürchte ich mich nämlich etwas vor
Professor Petri, wenn er einen so durchdringend mit seinen scharfen
Augen ansieht. Ich denke dann immer, er hat was an mir auszusetzen,
als wolle er wie am Werke eines seiner Schüler kritisieren. Mich
sollte es gar nicht wundern, wenn er eines Tages mal sagte: Aber die
Nase ist ja viel zu stumpf! Was ist denn das für eine Arbeit, es
regnet ja hinein, -- und dann der Kopf, der reinste Puppenkopf. Das
ist nichts -- gar nichts -- elende Pfuscherei!« Sie karikierte Petri
ungemein drollig. »Eigentlich habe ich mir gedacht, er sollte nur
Giganten und Titanen aus mächtigen Felsblöcken hauen. -- Neulich, als
ich den Pergamonfries gesehen habe, mußte ich immer an ihn denken. Das
wäre so was für ihn. Was Niedliches und Zierliches kann er doch nicht
machen. Oder doch? ..«

»Ei gewiß, gerade. Dort drüben der Mädchenkopf ist von ihm.«

Sie war aufgesprungen, um sich das Werk in der Nähe zu betrachten,
ohne Rücksicht darauf, daß schon serviert ward.

»Ich habe nämlich eigentlich noch nie was von ihm gesehen. Er ist
mir zu groß, viel zu groß. Es ist, als ob er und Onkel Jack ein paar
Riesenbrüder sind. Sie sehen so schrecklich verwandt aus.«

»Was ist schon wieder mit mir,« fragte Onkel Jack, ungeniert lachend.
»He! was habe ich wieder getan? -- Natürlich, immer Onkel Jack.«

»Getan! -- getan haben Sie nichts,« rief Emmy mutwillig. »Ich habe nur
gesagt: Sie und der Professor müßten von Enak abstammen.«

»Enak? -- Ach so, die ollen Riesen, weiß schon. Na ja -- aber ganz
stimmt das doch nicht. Es könnte höchstens ein jüngerer Bruder sein.
Ja, ja, das Fiedelbogenstreichen ist 'ne gesunde Arbeit. Das gibt noch
bessere Muskeln, als an 'nem Marmorblock ein bißchen herumkloppen.«

Er lachte wieder, bis er sich fast verschluckte. Dann wandte er sich
an den Bruder, der in sich versunken im Sessel saß und sich von Anna
vorlegen ließ:

»Ja, Bruder, siehst Du, Du bist ein bißchen aus der Art geschlagen.
Warst schon als Junge ein Grübler. Immer Gedanken -- und wieder
Gedanken. Und wer viel denkt, wird nicht lang.«

Der Kranke lächelte resigniert und fuhr sich mit unsicherer,
abgezehrter Hand durch den spärlichen Vollbart, der sein blasses
eingefallenes Gesicht umrahmte.

Die wenigen Haare lagen ganz schlicht auf dem etwas länglichen Kopfe,
nur die Augen blickten klug träumerisch in die Welt, als ob hinter
ihren Spiegeln ein weites, seltsames Traumland liege, von dem die
anderen nichts wissen noch ahnen konnten.

So still war er immer. Selten nur klagte er. Allein so scheinbar
zufrieden war er erst im Laufe der letzten Jahre geworden.

Mehrmals hatten ihn die Aerzte völlig aufgegeben gehabt. Aber jedesmal
hatte die dem schwächlichen Körper innewohnende Energie ihn gerettet.

Er hatte die Fabrik verkauft, weil es nicht möglich war, sie vom
Krankenbette aus zu leiten, und seitdem lebten sie in der kleinen
Villa, in der er einst Anna hatte kennen und lieben gelernt.

Es war von seiner Seite keine blind leidenschaftliche Liebe gewesen;
und er wußte, daß auch Anna ihm nur eine liebevoll innige Freundschaft
entgegenbrachte.

Es war eine musterhafte Ehe, anfangs ohne sonderliche Leidenschaft und
daher ohne Unruhe.

Allmählich aber fing Hermann an, sich in seine Frau zu verlieben; er
war im Begriff, sich gehen zu lassen, als er herausfühlte, wie er sie
damit erschreckte, und nun sich langsam wieder vor ihr zurückzog.

Sie hatte kein Verständnis für ihn, und er hatte nicht den rechten
Mut, ihr dies Verständnis für sein Wesen zu eröffnen.

Und so lernte er sich beherrschen, er blieb so gleichmäßig ruhig wie
zuvor, um sie nicht zu verwirren. Er hoffte, daß es eines Tages auch
bei ihr durchbrechen würde. -- Aber der Tag kam nicht. --

Sie blieb sich immer gleich, leidenschaftslos kühl. Es lag in ihr
etwas stolz Abwehrendes, eine so sichere Unnahbarkeit, die er nicht zu
durchbrechen wagte, und sie schien nichts zu merken von seiner Unruhe,
von der nervösen Hast, die ihn manchmal überkam.

Und weil er ihr seine Liebe nicht mit Worten gestehen konnte, weil er
dieses feine Lächeln fürchtete, das zuweilen um ihre Lippen zittern
konnte, weil er im Banne vor dieser Ueberlegenheit stand, tat er ihr
jeden Wunsch, erfüllte er all ihre Launen, ohne Bedenken, und in
seiner Liebe zu ihr, vor der sie zurückbebte, verschloß er sein Herz,
damit sie ihn nicht ganz zurückstieß. --

Dann wurde das Kind geboren.

Er hatte gehofft, nun werde es anders. Aber er täuschte sich. Denn nun
galt er ihr ~gar nichts~ mehr.

Jetzt lebte sie nur für das Kind, hatte nur mehr Augen und Sinne für
ihren kleinen Willy, und so verlor er sie vollkommen.

Das Kind stand zwischen ihnen. Sie verließ es nicht einen Augenblick.
Es diente ihr als Schild.

Da gab er alle Hoffnung auf, denn er zweifelte daran, ob es überhaupt
in der Welt irgend etwas geben könnte, das imstande war, ihr Blut auch
nur um einen Pulsschlag zu beschleunigen.

Dieser apathische Gleichmut, diese vollkommene Leidenschaftslosigkeit
tröstete ihn andererseits wieder. Es gab so wenigstens keine
Möglichkeit, daß er je irgendwelchen eifersüchtigen Anwandlungen
unterlag.

Sie hatte freie Hand gehabt in all ihrem Tun und Lassen, vom ersten
Augenblicke ihrer Ehe an. Er hatte ein unerschütterlich festes
Vertrauen zu ihr.

Nie war auch nur das geringste Wort eines Vorwurfs gefallen. Ihr
Verhalten zueinander war tadellos. Wie sie sich vor der Welt betrugen,
er liebevoll, aufmerksam auf jede ihrer Bewegungen, so war er auch
daheim, kein Unterschied, keine Nüance mehr oder weniger.

Zuweilen hatten sie beide das Gefühl, als ob sie sich wie zwei Gegner
mit gekreuzten Klingen gegenüberständen; allein es mischte sich
zugleich ein Gefühl gegenseitiger Hochachtung ein, die es nie zu einem
Ausfall kommen ließ.

Wie ernst sie ihre Pflichten nahm, bewies sie zu jener Zeit, als man
ihn halbverbrannt aus der Fabrik heimtrug.

Sie hatte nicht aufgeschrien, kein unnützer Laut des Jammers war in
seiner Gegenwart über ihre Lippen gekommen.

Mit hingebendster Sorgfalt und unerschütterlicher Geduld hatte sie ihn
gepflegt.

Sie tat ihre Pflicht, peinlich genau, jedes Wort befolgend, das der
Arzt ihr sagte; sie tat ihr Aeußerstes, ruhig und still, ohne Murren,
aber auch ohne in ihrer Hingebung ganz aufzugehen, so wie eine
barmherzige Schwester, die ihr Leben für nichts achtet, die aber doch
keine innere Beziehung zu dem Kranken hat.

Alle ihre Gewohnheiten legte sie ab. Es wurden keine Besuche mehr
gemacht, ihre Freundinnen wies sie ab, und die allerneuesten Vorgänge
der Gesellschaft ließen sie so völlig kalt, daß ihre Bekannten nicht
wiederkamen, daß sie die Hoffnung eines ferneren Verkehrs aufgaben und
von ihr fast wie von einer Weltfremden sprachen.

So wurden sie vergessen, und als ihr Gatte wieder anfing, Hoffnung auf
Genesung zu geben, da hatte sie die Fühlung verloren, hatte auch das
Bedürfnis nicht mehr nach jenen lärmenden, rauschenden Festlichkeiten,
die ihr jetzt weniger zusagten als früher, wo sie ihr auch nur dazu
gedient hatten, sich zu betäuben.

In den einsamen Stunden am Krankenbette, wenn das Nachtlichtchen
seinen ersterbenden Schimmer hauchte, hatte sie Zeit gefunden
nachzudenken, ihr ganzes inhaltsloses Leben an sich vorüberziehen zu
lassen und Einkehr in sich selbst zu halten. --

Sie war aufgewachsen in der strengen Zucht ihrer Mutter, selbst
ganz das Gegenteil, ein lebenslustiges, übermütiges Geschöpf, das
gedankenlos in den Tag hineinlebte, dessen Sehnsucht darauf ausging,
sich recht bald und möglichst reich zu verheiraten, um frei zu werden,
um eine Rolle zu spielen. Und dann hatte sie eines Tages in kindischem
Trotz, eigentlich nur um jemand anderem wehe zu tun, den ersten besten
geheiratet. Und dieser erste beste war zufällig Hermann Braun gewesen,
der in all der Zeit in ihrem Hause verkehrte, bis er eines Tages um
ihre Hand anhielt, die sie im ersten Augenblicke ausschlug, um ein
paar Tage später doch Ja zu sagen.

Sie hatte sich das eigentlich alles ganz anders vorgestellt, damals
noch ganz befangen in romantischer Mädchenschwärmerei, -- und dieses
Mißverhältnis zwischen ihrer Empfindung, ihren heimlichen Wünschen und
der prosaischen Wirklichkeit brachte sie aus aller Fassung, stumpfte
sie vollkommen ab, bis sie jedes Gefühl verlor.

So war sie sein Weib geworden, mit der redlichen Absicht, ihre Pflicht
wie jede andere zu erfüllen.

Wenn der Kranke erregt wurde, wenn er mit seiner Nervosität sich
und andern lästig fiel, so nahm sie das geduldig, ohne ein Wort der
Klage hin. Sie behandelte ihn wie ein krankes Kind, das er war, und
darüber konnte er sich innerlich so empören, daß er zuweilen in
Tränen ausbrach. Aber er ließ es sie niemals ahnen; nur wenn er seine
Schmerzensanfälle hatte, duldete er nicht, daß sie um ihn war, und so
gewöhnte sie sich wieder mehr und mehr daran, ihn fremden Händen zu
überlassen.

Sie hatte ihren Gleichmut wieder gefunden und suchte jetzt wieder nach
Zerstreuung.

Dann saß er allein und las.

Im Hause lagen überall eine Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften
umher, englische, französische und deutsche. Wenn er aber lesen
wollte, so mußte er meist jemand haben, der ihm behilflich war, die
großen Blätter umzuschlagen, weil es Tage gab, wo er fast unfähig war,
ein Glied zu rühren. Und dann machte ihn die Gegenwart eines Dieners
wieder nervös. Allein er mußte sich hineinfügen.

Jede naturwissenschaftliche Entdeckung, jeder Bericht einer Reise, vor
allem die Vorgänge in Afrika, besonders aber alle Neuerungen auf dem
Gebiete der Chemie studierte er mit einem nie ermüdenden Eifer.

Wenn er allein war, grübelte er über neue Probleme nach.

So glaubte er einmal eine Lösung gefunden zu haben, um das
Schwefeleisen völlig vom Schwefel zu befreien, so daß es zu allen
Arbeiten verwendbar war, ohne die Gefahr, brüchig und spröde zu werden.

Aber er war an seinen Krankenstuhl gefesselt und konnte nichts
beginnen. Es handelte sich um ein paar komplizierte Experimente, und
die wollte er keinen andern für sich machen lassen. Ein anderer konnte
das auch gar nicht.

In derartigen Stimmungsaugenblicken war er unerträglich.

Am meisten ließ er dann an Willy seine Launen aus. -- Weshalb hatte er
Jura und nicht, wie er es wollte, Chemie studiert? -- Dann hätte er
die Fabrik übernehmen, dann hätte er sich leicht einen Namen machen
können.

So wurde ihm nun kein Wunsch erfüllt. Sie hatten sich alle gegen ihn
verschworen. Keiner kümmerte sich um ihn.

Am meisten gab sich noch Onkel Jack mit ihm ab, Jack, mit dem er
früher auf gespanntem Fuße gelebt, von dem er lange Jahre hindurch nie
ein Wort gehört hatte, bis er eines Tages unvermutet zurückkehrte und
ihn nun mit seinen drolligen Erzählungen unterhielt. --

Und auch heute abend unterhielt er die ganze Gesellschaft, bei der
es anfangs ziemlich still hergegangen war, weil Frau Anna alle
Augenblicke nach der Tür sah und bei jedem Geräusche aufmerkte,
nervöser als je.

Er erzählte von seinen Reiseabenteuern in Chili, wohin er unter
Leitung eines spitzbübischen Impresario einst mit seiner Kapelle eine
Tournee gewagt hatte.

Er spickte seine Erzählung mit so mancher Kraftäußerung, so mancher
echt amerikanischen Wendung und erzählte so humoristisch, daß ihm alle
aufmerksam zuhörten und er mit seinen Aufschneidereien immer mehr in
Fluß kam, bis der Diener ihn mit der Meldung unterbrach, daß Herr
Professor Petri soeben gekommen sei. --




                                  6.


Frau Anna hatte sich erhoben, um dem Eintretenden entgegenzugehen.

»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« stieß er etwas hastig hervor.
»Ich sehe, daß ich gestört habe. Gestatten Sie, gnädige Frau, daß
dies Bukett, die teilweise Ursache meiner unangenehmen Verspätung,
meine Bitte um Verzeihung unterstützt.«

Ein sanft vorwurfsvoller Blick aus ihren Augen traf ihn, dann nickte
sie ihm zu, während er ihre Hand ergriff und sie fast zärtlich an die
Lippen führte.

»Um dieser herrlichen Blumen willen soll Ihnen diesmal noch verziehen
werden,« sagte sie lächelnd, während sie den feinen Duft der blassen
Rosen einsog und den Strauß dann in eine Vase auf die Tafel stellen
ließ, in der bis jetzt ein bescheidenes Veilchenbukett sich befunden
hatte.

Der Professor begrüßte die Damen und schüttelte den Herren der Reihe
nach die Hand, worauf er seinen Platz zwischen der Hausherrin und Emmy
Dempwolf einnahm, die sein Kommen mit ihrem süßesten Lächeln begrüßt
hatte.

»Denken Sie nur, gnädigste Frau,« wandte er sich zu Anna, »als ich
das Bukett abholen will, haben die Menschen die dunkelsten Rosen von
der Welt genommen. Sie werden einsehen, daß das unmöglich war. Alle
Tradition wäre damit vernichtet worden.«

Er beugte sich zu ihr hinüber, und sie sprachen leise weiter, während
die übrigen sich wieder Onkel Jack zuwandten, der seine Geschichte zu
Ende bringen sollte, indes Emmy Dempwolf schon auf den Moment wartete,
um den Professor für sich zu gewinnen.

Allein vorläufig schien er sie gar nicht zu beachten, so sehr war er
mit Frau Anna im Gespräch. --

Um acht Jahre älter, hatte er sie von frühester Kindheit an gekannt;
wohnte er doch nur wenige Häuser tiefer in der Straße, in einem
niederen, schlicht grau gestrichenen Hause, hinter dem, von dichten
Büschen ganz versteckt, tiefer im Garten das Bildhaueratelier sich
befand.

Damals schon hatte Anna mit ihrer Mutter hier gewohnt, und sein
Vater, der Geheimrat von Petri, verkehrte intim in dem Hause, dessen
Besitzerin weitläufig mit ihm verwandt war und die er deshalb
beständig Frau Cousine nannte.

Reinhold Petri war dann nach Italien gegangen, hatte drei Jahre in
München und zwei in Paris gearbeitet, war inzwischen einige Male in
der Heimat gewesen und hatte sich jedesmal mit der wilden kleinen Anna
gezankt, wobei es ihm viel Spaß machte, sie zu ärgern, genau wie
in den Briefen, die sie hie und da wechselten; als er endlich ganz
heimkam, hatte sich seine Spielgefährtin, die er bis dahin geduzt
hatte, mit dem Doktor Braun verlobt.

Dann war sein Vater gestorben, und er stand ganz allein da. Anna hatte
sich bald verheiratet, und ihre kränkelnde Mutter war zu einem Bruder,
der im südlichen Oesterreich ein Landgut hatte, übergesiedelt, wo sie
nach ein paar Jahren auch dahingerafft wurde.

Zu jener Zeit, als er heimkam und Anna als die Braut eines andern
wiederfand, hatten sie sich fremd und kalt gegenüber gestanden.

Es war kein Wort gefallen. Er hatte ihr seinen offiziellen
Gratulationsbesuch gemacht, und so waren sie sich völlig entfremdet.

Allein Hermann Braun hatte zu dem Künstler eine freundschaftliche
Zuneigung gefaßt, wodurch er ihn zwang, ihnen allmählich wieder näher
zu treten. Bei jeder Gelegenheit suchte er Petri an sich zu fesseln,
und es dauerte nicht lange, so war das vertrauliche Du zwischen ihnen
eingeführt.

Seitdem verkehrte Reinhold Petri, der Junggeselle geblieben war,
ständig in der kleinen Villa. Seit Brauns Unfall kam er täglich,
meist am Nachmittag, um mit Hermann ein halbes Stündchen zu
verplaudern.

Zur Winterszeit stellte er sich mit Einbruch der Dämmerung ein, und
dann saßen sie zu dreien um den großen schwarzen Marmorkamin, in dem
die Holzscheite so lustig knatterten und prasselten; sie plauderten
und riefen alte gemeinsame Erinnerungen wach oder saßen im Schweigen
träumend beieinander.

Auch heute plauderten sie von alten Erinnerungen, von einer Reise,
die sie vor vielen Jahren durch die Schweiz gemacht hatten. Frau Anna
war noch jetzt entzückt von Lausanne, wo sie sich fast vierzehn Tage
aufgehalten hatten, und sie konnte nicht Worte genug finden, um die
Schönheit des Sees zu preisen.

»Ja ja, Lausanne,« sagte der Professor. »Mir ist es nicht mehr
unbekannt. Es ist ja kein Jahr hingegangen, daß ich nicht dort war.«

Frau Anna beugte sich etwas tiefer über ihren Teller, ganz
unwillkürlich, und zerschnitt dann langsam ihrem Gatten das Stück
Wildpret.

Niemand hatte die Bewegung gesehen, außer Petri, der ihr jetzt einen
fast bittenden Blick zuwarf, als ob er sie um Verzeihung bitten
müsse, daß er jetzt entschlossen fortfuhr:

»Und demnächst erhalte ich von dort längeren Besuch.«

»Ach!« sagte Frau Dempwolf und sah ihn an, als ob er ihr die
erstaunlichste Mitteilung von der Welt gemacht habe, ohne daß sie
ahnen konnte, um was es sich handelte.

»Jawohl, mein Mündel kehrt aus der Pension zurück.«

»Wie? -- Ihr Mündel?«

»Jawohl, gnädige Frau, mein Mündel. Es scheint Sie das in Erstaunen zu
setzen, daß ich im glücklichen Besitze eines Mündels bin. Vielleicht
bin ich Ihnen noch nicht alt genug dazu, um Vormund spielen zu dürfen?«

Emmy wurde auf diese lachend vorgebrachte Frage etwas verlegen, fuhr
aber gleich wieder fort:

»O, durchaus nicht! -- Darf man vielleicht etwas Näheres darüber
erfahren.«

»Aber gewiß, gnädige Frau. -- Die junge Dame also, denn das ist sie
jetzt -- zählt siebzehn Lenze und ist auf den schönen Namen Marie
getauft, wird aber nie anders als Mignon genannt. Es ist das Kind
eines meiner Freunde in Paris, und da ich selbst nicht die geringste
Neigung habe, mich zu verheiraten, finde ich wenigstens auf diese
Weise Gelegenheit, Vaterpflichten zu erfüllen.«

»Und weshalb wollen Sie nicht heiraten? .. Das verstehe ich nicht, das
müssen Sie mir erklären.«

»Ich könnte Ihnen hundert Gründe dafür oder vielmehr dagegen anführen.
Vielleicht genügt Ihnen der eine: Ich fühle keinen Beruf dazu.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich bedaure unendlich, gnädige Frau, aber es ist eine erweisliche
Tatsache. Keine Spur von Talent.«

»Das wäre sehr bedauerlich. Sie sollten unbedingt heiraten, Herr
Professor. Ich bitte Sie, in Ihrem Alter kann man das sehr gut, es ist
die beste Zeit. Glauben Sie zum Beispiel, daß, wenn ich nicht schon
meinen Wolf hätte, ich Nein sagen würde?«

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau.«

»Durchaus nicht, aber mir scheint, Sie sind mit Ihrem Spotte
abscheulich.«

»Abscheulich? -- Und dann soll ich heiraten? --«

»Das ist doch kein Hinderungsgrund.«

»Ich glaube beinah doch.«

»Also, um wieder in andere Bahnen zu lenken,« sagte Emmy und kniff die
Augen etwas zu, »Fräulein Mignon wird zurückkehren, und wir werden sie
zu sehen bekommen?«

»Ich hoffe es, -- schon in den nächsten Tagen.«

»Sie wird ganz bei Ihnen bleiben?«

»Gewiß, sie ist lang' genug fort gewesen, und ich denke, sie wird nun
gescheit genug sein. Wer kann wissen, wie bald das Vögelchen flügge
sein wird und mich alten Knaben völlig sitzen läßt. Und ich bin so
unbescheiden, etwas für meine Erziehungssorgen zu verlangen. Sie
soll mir in mein Junggesellenheim ein bißchen Freude und Lebenslust
bringen, und ich freue mich sehr darauf.«

»Ist sie hübsch?« fragte die junge Frau diskret.

»Wenn Sie sich überzeugen wollen!« erwiderte der Professor, und Messer
und Gabel niederlegend, griff er in die Brusttasche und nahm aus einer
schwarzen Ledermappe ein kleines Bild, das er seiner Nachbarin mit
verhaltenem Stolze überreichte.

Die Photographie stellte ein junges Mädchen dar, mit dunklem, bis auf
die Schulter fallendem leichtgelockten Haar. Die Stirn war völlig
verdeckt, so daß die Haarspitzen die schmalen und fein ausgezogenen
schwarzen Augenbrauen berührten.

Das ovale Gesichtchen mit dem ungemein kleinen Munde und den
scharfgeschwungenen vollen Lippen trug den Ausdruck seltsamer
Träumerei, einen fast schwärmerischen, aber doch energischen Zug.

Die Schultern waren voll und rund, nach dem Bilde zu urteilen; dabei
aber eine feine, fast zierliche Taille.

Emmy Dempwolf betrachtete das Bild lange sinnend, ehe sie sagte:

»Sie ist sehr schön, eigenartig schön. Eigentlich eine etwas wilde,
fast gefährliche Schönheit. Ich glaube, sie kann leicht sentimental
werden.«

Petri lachte:

»Ich weiß nicht; aber ich glaube, Sentimentalität besitzt Mignon so
gut wie gar nicht. ~Das~ aber weiß ich: daß es kein prächtigeres
Mädel gibt, so herzensgut und edel veranlagt.«

Damit reichte er das Bild Frau Anna hinüber, zögernd vorsichtig,
während er ihre Augen suchte.

Allein sie schlug sie nur einen Augenblick auf, dann vertiefte sie
sich in die Betrachtung des Bildes.

Er sah, wie ihre Finger leise zitterten, nur einen Moment, als sie die
Photographie nahm, -- dann beherrschte sie sich wieder vollkommen. Nun
gab sie das Bild ihrem Gatten, der es weiter reichte, so daß es die
Runde am Tisch machte.

»Sie hat sich wenig verändert,« bemerkte Doktor Braun. »Sie sieht noch
ebenso aus wie vor sechs Jahren, als sie hier war. Entsinnst Du Dich
nicht mehr, Willy? Es waren nur ein paar Tage -- allein ihr gerietet
gleich am ersten in den heftigsten Streit.«

»Aufrichtig gesagt, ich weiß kaum noch etwas davon. Nur ganz dunkel
kann ich mich erinnern.«

»Ist sie noch immer so leidenschaftlich wild und, ich möchte fast
sagen, jähzornig?« fragte Frau Anna leise.

»Durchaus nicht mehr. Sie ist jetzt ganz Dame, ehrlich gesagt, sie ist
mir sogar zu vornehm steif geworden, zu sehr Pensionsdämchen. Aber ich
hoffe, daß ihr diese kleinen Mucken hier bald vergehen. Ich möchte sie
gern allmählich in die Gesellschaft einführen. Es muß ja doch einmal
sein.«

»Die sieht ja beinah aus wie eine kleine mexikanische Wilde,« rief
Onkel Jack. »Nehmen Sie's mir nicht übel, bester Professor, es soll
nämlich ein Kompliment sein. Das Mädel gefällt mir. Es ist Rasse drin
... Hoffe, wir werden gute Freunde werden.«

Er reichte das Bild Willy hinüber, der es anfangs nach einem
flüchtigen Blicke, als geniere er sich, das hübsche Mädchengesicht
genauer zu betrachten, weitergeben wollte.

Allein Frau Dempwolf hatte sich ganz dem Professor zugewandt, und so
legte er es neben den Dessertteller und betrachtete es genauer.

Mignon trug ein dunkles, ausgeschnittenes Kleid mit einem
Schifferkragen, so daß der Hals frei war, um den sich ein schmales,
dunkles Band mit einem kleinen Medaillon schloß.

Je genauer er das Bild ansah, um so mehr Leben schien es zu gewinnen.
Es übte einen eigentümlichen, fast geheimnisvollen Reiz auf ihn aus.

Eigentlich schön fand er sie nicht, nur äußerst originell und
interessant.

Als Emmy Dempwolf sich zu ihm wandte und nochmals mit ihm gemeinsam
das Bild betrachtete, behielt er es noch eine ganze Weile in der Hand,
ehe er es dem Professor zurückgab.

Es war ein merkwürdiges Gesicht, am seltsamsten die Augen; eine
eigentümliche Mischung von Kind und Weib lag in ihrem Ausdrucke.

Es wirkte auf ihn wie ein scheinbar leicht faßliches Rätsel, dessen
Lösung man jeden Augenblick zu finden meint, ohne daß es einem
gelingen will.

Den ganzen Abend über verließ ihn die Erinnerung nicht. Er sah es vor
sich, fast greifbar, und vermochte es nicht aus seinen Gedanken zu
bannen. --

Die Tafel war aufgehoben und man hatte sich zwanglos drüben im Salon,
dessen Balkontüren trotz der frischen, feuchten Abendluft weit
aufstanden, den Kaffee erwartend, niedergelassen.

Willy trat auf den nassen Balkon und blickte in die Nacht hinaus.

In dem weit gegenüberliegenden Hause schimmerte, wie allabendlich,
in einem Fenster des ersten Stockes Licht, meist bis tief in die
Mitternacht hinein.

Der Schein zitterte durch die Blätterlücken der sich zuweilen leise
bewegenden Bäume. --

Wer mochte dort wohnen, hatte er sich schon oft gefragt, und bis in
die Nacht hinein arbeiten?

Während er sich diese Frage stellte, sah er schon wieder das
Mädchenantlitz, so daß er in den Salon zurücktrat und mit Frau
Dempwolf ein Gespräch anknüpfte, die in einem Sessel saß und mit ihren
langen schwedischen Handschuhen spielte, einsam und gelangweilt.

Die Herren zündeten sich ihre Zigarren an, mit Ausnahme von Willy, der
daheim nie rauchte.

Er wußte, daß es der Mutter, trotzdem sie das Gegenteil behauptete,
nicht recht angenehm war.

Emmy erklärte Willy, daß es eine Leidenschaft von ihr sei, sich
im geheimen eine Zigarette zu gestatten; Onkel Jack machte an dem
Likörkörbchen eingehendere Studien und hörte dabei zu, wie die Frau
Hauptmann von ihrem guten Ruschwedel erzählte, nachdem Onkel Jack sie
durch die Wiedergabe seiner Heldentaten als Offizier in den Staaten
auf dies Thema gebracht hatte.

Der Professor hatte sich zu Frau Anna gesetzt und sprach leise auf sie
ein, angelegentlich und fast erregt flüsternd, indem er den übrigen
halb den Rücken kehrte.

Es wurde Frau Dempwolf im Zimmer zu langweilig, und sie schlug Willy
vor, in den Garten hinabzugehen. So wenig angenehm es ihm war, mußte
er ihr doch Folge leisten.

Sie warf ein leichtes seidenes Tuch um die Schultern und hing sich
plaudernd an seinen Arm.

Von den dunklen Bäumen fielen noch einzelne Tropfen hie und da, wenn
der leichte Nachtwind die Zweige schüttelte.

Ein feuchter, erdfrischer Dunst lag über den Blumenbeeten und den
kurzgeschorenen Grasflächen.

Die Wege waren noch feucht, mit kleinen Seen am Rande, so daß sie Mühe
hatten, trockenen Fußes durchzukommen.

Allein Emmy ließ sich nicht abschrecken.

Sie fand das furchtbar romantisch. --

Willy wollte gleich anfangs umkehren, allein sie gab es nicht zu. Es
machte zu großen Spaß.

Wenn die Tropfen von den Bäumen raschelten, zog sie ihren Begleiter
eilends davon. Sie hätte ihn so gern aus seiner Ruhe gebracht, aber es
gelang ihr nicht. So gab sie es endlich auf. Und als sie hörte, daß
man droben zu musizieren anfing, sagte sie:

»Ach Gott, Agnes phantasiert. Da müssen wir schon wieder hinauf, sonst
wird sie böse.« --

Mitternacht war längst vorüber. Doktor Braun nickte alle Augenblick
ein, und man entschloß sich zum Aufbruch.

Der Professor sprach noch eine Weile mit der Hausfrau, intimer als
gewöhnlich, dann brachte Onkel Jack die beiden Damen fort, während
Will den Professor bis hinüber zu seinem Häuschen geleitete.

Am Gittertore blieben sie stehen. Petri faßte die Hand seines
Begleiters, und mit einer Stimme, die weicher und inniger klang als
gewöhnlich, bat er ihn:

»Nicht wahr, Will, wenn Mignon kommt, wirst Du mir helfen, daß es ihr
bei uns gefällt, willst Du? -- Ihr beide müßt gute Freunde werden. Ich
hoffe, daß es geschehen wird. Und nun: gute Nacht, mein Junge, und
komm gut heim ...«

Sie schüttelten sich die Hände, und während der Professor die
Gartentür öffnete, schritt Willy der Charlottenburger Chaussee zu. Er
wollte noch durch den Tiergarten zur Stadt zurück.

Der Wind war lebhafter geworden. Das Flackerlicht der Laternen tanzte
über die Pfützen auf den Wegen und warf seinen rötlichen Schimmer über
den feuchten, breiten Fahrdamm.

Der Sturm rauschte in den Zweigen und schüttelte mit dem Nachregen
ganze Schauer welkwerdender Blätter in den Schmutz. Es sauste und
brauste in den Wipfeln, anschwellend zu wildem Rauschen, um dann
langsam wieder zu verrascheln.

Die Aeste ächzten und knackten, und kleine Zweige stürzten brechend zu
Boden.

Und während Willy unter den zusammenschlagenden Bäumen dahinschritt
und einzelne kalte Tropfen ihm in das heiße Gesicht schlugen,
war ihm, als sähe er zwischen den breiten Stämmen ein liebliches
Mädchengesicht, ganz umrahmt von dunklen Haaren, bleich und
märchenhaft, das ihm gar eigen zulächelte.

Es schien zwischen den Büschen hinzuhuschen, plötzlich an irgendeiner
dunklen Stelle aufzutauchen und wieder zu verschwinden, wenn er
schärfer hinsah.

Erst als er an der Siegesallee die gewaltigen, grauen Quadern des
Tores und dann den einsamen, lichterfüllten Platz vor sich sah,
verschwand ihm das Bild des seltsamen Mädchenangesichtes, um in seinen
Träumen wiederzukehren, als wolle es ihn nicht mehr lassen.




                                  7.


Es war ein herbstlich sonnenheller Sonntagmorgen, als Willy Braun und
Adolf Wurm durch den Tiergarten nach Charlottenburg hinausgingen.

Sie schlenderten langsam, die Menschen beobachtend, die ihnen
entgegenkamen oder sie überholten, verloren sich in einen Seitenweg,
und sahen dem Spiel zweier Drosseln zu, die in den welk werdenden
Gebüschen sich jagten und umherflatterten.

Der Himmel war wolkenrein, die Luft weich, aber klar, wie bei
herannahendem Herbstfroste, so daß sich alle Gegenstände in der
Vormittagssonne scharf und farbenrein voneinander abhoben, als sei die
ganze Natur einer Wochenreinigung unterzogen.

Von den absterbenden Bäumen raschelten kreisend die gelben und
hellbraunen Blätter nieder und knitterten, wenn sie in das trockene
Laub fielen, das überall den Boden dicht bedeckte.

Willy trieb zuweilen mit seinem Stocke ein paar Blätter vor sich her,
und der Ton, den diese breiten, tiefgelben Ahorn- oder schmutzig-roten
Eichen- und Buchenblätter beim Aufeinanderfallen erzeugten, ein
fröstelnder, harter Laut, berührte ihn nicht unangenehm.

Als sie die Bellevue-Allee überschritten, mußte er an eine Szene
denken, die er vor kurzem hier mit Emmy Dempwolf gehabt hatte.

Er hatte ihr den Gefallen getan und war mit ihr ausgeritten, nachdem
ein Bekannter ihm mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit Pferde zur
Verfügung gestellt hatte.

Der Gaul war lammfromm, allein die übermütige junge Frau hatte ihn
durch fortwährende unsinnige Manöver derart verstört, daß er zu bocken
anfing und Willy alle Mühe hatte, ihn zu beruhigen und einen Unfall zu
verhüten.

Es schien, als wollte sie es darauf anlegen, ein Abenteuer
herbeizuführen; ihr ganzes Benehmen war so herausfordernd, daß er alle
Lust verlor, noch einmal mit ihr auszureiten.

Je höflicher und zurückhaltender er sich betrug, um so koketter wurde
sie gegen ihn, und so war er froh, als sie endlich abreiste; zumal es
ihm unangenehm war, daß er nicht mehr hinauskommen konnte, ohne sie
bei seiner Mutter zu treffen.

Es berührte ihn peinlich, seine Mama in dieser Gesellschaft zu sehen,
und eines Tages hatte er es ihr offen gesagt, aber sie hatte ihn
ausgelacht und ihn ein eifersüchtiges Närrchen geheißen. Was wollte er
denn? -- Es war eine junge, lebenslustige Frau, halb noch ein Kind,
die das ganze Jahr auf ihrem einsamen Gute saß und sich jetzt ein
bißchen austollte, trotz ihrer grämlichen Schwester, die von nichts
anderem reden konnte als von ihrem seligen Hauptmann.

Und hier hatte sie niemand als Onkel Jack, der ihr vielleicht ein
wenig den Hof machte, aber der war in seinen Beteuerungen nicht immer
so ganz salonfähig.

Professor Petri war nach Paris gereist, um dann auf dem Rückwege
Mignon abzuholen.

                  *       *       *       *       *

Drei Wochen waren seit Frau Annas Geburtstage verflossen. In
den letzten Tagen war dann auch Emmy Dempwolf zu ihrem Brummbär
zurückgekehrt, und es war wieder still geworden in der kleinen Villa.

Wenn Willy hinauskam, fuhren sie zu dreien spazieren, oder wenn der
Vater gut aufgelegt war, diskutierten sie miteinander. Allein Will
hatte dabei einen schweren Stand, weil Doktor Braun so gar kein
Verständnis für Schulphilosophie hatte. Alles, was über die Grenze
exakter Forschung hinausging, hatte für ihn weder Wert noch Zweck,
und immer hatte er bei derartigen Gesprächen bald einen Angriffspunkt
gefunden, den Willy nicht verteidigen konnte, weil es sich meist um
eine aus dem System herausgerissene Einzelheit handelte, die nur im
Zusammenhange Wert und Bedeutung hatte.

Willy hatte eine unbegrenzte Achtung vor dem Vater, vor dem
Umfange seines zwar mehr dilettantischen, aber im Laufe der Zeit
wohlgeordneten Wissens.

Deshalb diskutierte er gern mit ihm, aber er respektierte den Kranken
zu sehr und wagte es nicht, ihn mit gleichen Waffen zu bekämpfen.

Er war niemals zu ihm in ein wirklich herzliches Verhältnis
getreten, sie blieben sich fremd, und wenn es sich um eine wichtige
Angelegenheit handelte, so gab die Mutter den Ausschlag.

Auf sie hatte er all seine Liebe übertragen, während der Vater dagegen
zu kurz kam, der, an seinen Krankenstuhl gefesselt, zur Untätigkeit
verdammt war.

Willy unterhielt sich jetzt mit Wurm über den Vater. Der Musiker war
ein paarmal bei ihnen gewesen und hatte ihnen einige seiner Sachen
vorgespielt.

Aus all seinen Melodien klang eine versteckte Resignation, ein
schwermütiger, fast tragischer Zug, etwas wie gebrochener Wille.

Er arbeitete an einer großen Oper, von der er gern sprach, und zu der
er sich selbst den Text schrieb.

Er wollte heute zu Jack Braun hinaus, um ihm den ersten Akt
vorzuspielen; deshalb war er etwas erregt, denn bis dahin hatte noch
kein Mensch weder ein Wort noch eine Note davon zu Gehör bekommen.

Sie hatten sich wieder tiefer in den Tiergarten verloren, schlugen
aber jetzt die Richtung nach der Chaussee ein, wo leicht gebaute
Equipagen mit fröhlichen Insassen dahinjagten: Damen lässig in die
Kissen zurückgelehnt, jubelnde Kinder, wegen des graudrohenden
Herbstes in mehr winterliche Gewänder gekleidet, herumtollten.

Noch lag mit wärmenden Strahlen die Sonne auf dem dörrenden Geblatt
und färbte die noch grünen Blätter am Rande gelb, warf immer größer
werdende braune Tupfen und Flecke darauf und sog den Lebenssaft
langsam aus den schwachen Stengeln, bis ein Lüftchen kam und das Blatt
knickte, mit jenem leisen, sterbenden Laute, der wie ein kleiner
Sterbeseufzer klingt, oder bis es altersschwach von selbst träge vom
Aste brach.

Die Gärten an der Berliner Straße, in die sie inzwischen gelangt
waren, fingen an, zu veröden; die Blumen waren verschwunden, nur
spätblühende Geranien und dürre, hochstämmige Astern verliehen mit
ihren bunten Blütenköpfen der Einförmigkeit Farbe.

Das Gras hatte seine lebenssatte Färbung eingebüßt und ward schmutzig
graugrün. In den Wegen faulte das erste welke Laub, und die
Rosenstöcke streckten ihre blütenleeren Dornenzweige zum Himmel.

Der Herbst zog früher als gewöhnlich ins Land, nur am Tage konnte er
vor der Kraft der Sonne noch nicht aufkommen. Dafür setzte er dann in
der Nacht sein Zerstörungswerk um so eifriger fort.

Auch im Garten der Villa in der Sophienstraße sah es trübe aus.
Der Gärtner bemühte sich vergeblich, farbige Blumenrabatten
zusammenzustellen. Der Nachtfrost verdarb ihm alles, und mit den
eigentlichen Herbstblumen machte es sich gar so kahl. --

Wurm ging weiter zur Knesebeckstraße, wo Jack Braun wohnte, während
Willy die Mutter suchte, die er trotz des kühlen Morgens auf der
Terrasse sitzen fand.

Das fahlgelbe Weinlaub kletterte über die Brüstung und versuchte,
an den schlanken jonischen Säulen, die den Balkon trugen, sich
emporzuranken.

Eine breite Treppe von wenigen Stufen führte in den Garten hinab. Auf
den seitlichen Absätzen standen einige Oleanderkübel, die jetzt zur
Nachtzeit schon in das Gewächshaus gebracht werden mußten.

Frau Anna saß in einem niedrigen Gartenstuhle, über den ein graues
Elenfell gebreitet war.

Ein aufgeschlagenes Buch, zur Hälfte noch unaufgeschnitten, lag
gähnend auf dem kleinen Tische. Es mußte schon lange dort liegen,
denn die aufgeblätterten Seiten waren schmutzig geworden von dem
feinen Staube, der von den nahen Tonfabriken, der Chaussee und den
Abladeplätzen des Spreekanales in der Luft umherirrte ...

Ihre Gedanken mußten weit fort sein, denn sie hörte nicht, als Willy
die Terrasse betrat.

Er blieb in der Tür stehen und beobachtete sie.

Ein feiner, aber scharfer Zug von innerlichem Leid lag um die
Mundwinkel und zog sich von den Augen wie ein matter Strich die blasse
Wange herab.

Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und blickte in den Garten
hinaus, wo die Morgensonne mit vollem Scheine friedlich auf den
saubergeharkten, mit gelbem Sand bestreuten Wegen lag und in den
feinen Silberstrahlen des plätschernden Springbrunnens glitzerte.

Willy betrachtete die Träumende lange.

Wie schön sie noch immer war. Weshalb war er nicht Maler, um sie
malen zu können, wie sie dalag, in dem mattgelben Morgenkleide, von
dem die roten Bänder und Schleifen sich lebhaft abhoben, mit ihrem
durchsichtigen Elfenbeinteint und den dunkelbraunen, etwas wirren
Haaren, in denen wie versunken eine Teerose schwamm.

Er trat einen Schritt vor, auf die bunten Fliesen. Sie hob den Kopf,
und er sah deutlich, wie plötzlich in den wehmutstrunkenen Augen eine
lachende Freude aufleuchtete, -- wie in dem Gesichte, über dem eben
noch ein Schleier von Melancholie lag, eine Veränderung vorging, wie
mit einer Landschaft, über der die Wolkenschatten zerflattern.

Sie streckte ihm die Hand hin, und er küßte diese schlanken Finger mit
fast andächtiger Scheu, daß sie ihn zu sich herabzog und ihre Lippen
auf seine Augen preßte.

Und nun holte er einen kleinen Strauß von Dijonrosen hervor, mit ihren
weißen, zarten Knospen, die er ihr mitgebracht hatte.

Gleich einem Verliebten war es ihm zur Gewohnheit geworden, niemals
mit leeren Händen zu kommen.

Wenigstens eine Blume mußte er ihr mitbringen, um ihr zu zeigen, daß
er inzwischen an sie gedacht hatte.

Er verbarg dergleichen, vor allem vor dem zum Spott nur zu sehr
veranlagten Lautner, weil er sich sehr wohl bewußt war, daß er einen
übertriebenen Kultus mit seiner Mutter trieb. Sie wußten ja nicht,
~was~ sie ihm alles war. --

Er sah, wie sich seine Bekannten gedankenlos an das erste beste
Mädchen wegwarfen; er kannte jene alltäglichen Beziehungen, die oft
Wochen und Monate dauerten und sich dann ebenso gleichgültig wieder
lösten, ohne alle Romantik, ohne Liebe. Er sah, wie oft die Liebe
rings um ihn als Ware aufgefaßt wurde oder, was schlimmer schien, eine
Lüge war.

Er hatte das drängende Bedürfnis nach Liebe, er mußte jemanden haben,
dem er sein Herz ausschütten konnte. Er hielt es nicht aus, lange
allein zu sein; es trieb ihn stets zu anderen hin. So fühlte er sich
zu Lautner hingezogen, allein er fürchtete sich vor dessen klarer
Lebensauffassung, die keine Spur von Romantik aufkommen ließ, die
immer gleich prosaisch gesund und nüchtern aburteilte.

Mit Bangen sah er die Zeit kommen, da er fern von Haus sein mußte,
daß auch er, gleich den anderen, sich vielleicht endlich einen Ersatz
suchen würde, den er vor sich selbst nicht verteidigen konnte.

Er mußte jemand sein ganzes Innere offenbaren können, der ihn mit
Geduld anhörte, denn er war oft unruhig, unzufrieden mit sich und
seiner Arbeit.

Er war nervös geworden, von jener Nervosität, wie sie dem
Großstädter eigen ist, der sich in geistiger Arbeit aufreibt. Eine
Unbefriedigtheit, ein Hasten und Drängen nach immer Neuem beseelte
ihn; er wollte das, was noch dunkel vor ihm lag, möglichst bald
erreichen, um nicht im bangen Zweifel verharren zu müssen.

In solchen Augenblicken ließ er seine Bücher im Stich und kam
unerwartet zur Mutter, denn er wußte, daß er bei ihr seine Ruhe
wiederfand und alles mit einem Schlage wieder gut war.

Er war sentimental veranlagt, aber er konnte sich nicht ausgeben. Das
Gefühl schlummerte in ihm und häufte sich mehr und mehr, je größer die
Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit um ihn her zunahm.

Es schauderte ihn vor diesem Mangel an Seele, vor dem Bewußtsein,
daß auch ~er~ einmal so werden konnte wie die andern, die doch
gewesen sein mußten wie er; denn er sah es an seinen Freunden, wie sie
in dieser Atmosphäre der Apathie langsam untergingen.

Deshalb klammerte er sich an seine Liebe zur Mutter. So lange er
~sie~ hatte, konnte er sich nicht selbst verlieren; wenn er nur
ihre Stimme hörte, wich das Angstgefühl von ihm, wie Schatten und
Nebel vor der Sonne.

Er kam sich vor wie ein törichtes Kind, das hinter dem Mutterrocke
Schutz sucht vor eingebildeten Spukgestalten, und trotzdem hatte er
nicht den Mut, sich auf sich selbst zu besinnen. --

Er streichelte ihr die Hand, während sie den feinen Hauch der
Dijonrosen einsog.

Dann legte sie das Bukett auf den Tisch und sagte:

»Geh einmal hinauf zu Papa. Er hat schon den ganzen Morgen nach Dir
verlangt.«

»Du schickst mich schon wieder von Dir fort?« --

»Ja, und wenn Du wiederkommst, werde ich Dich noch einmal
fortschicken.«

»Ich soll Dich heute wohl gar nicht sehen,« lachte er, während er ihre
beiden Hände umschlossen hielt.

»Du mußt Dich heute den ~andern~ opfern, nicht mir. Nun geh
hinauf, und wenn Du wiederkommst, erfährst Du mehr ...«

Frau Anna blieb allein und tändelte mit den Rosen. Sie nahm ihre
Gedanken wieder auf, aber jetzt verwirrte sich alles, und sie fand die
Ruhe von vorhin nicht wieder.

Sie blickte hinaus, wie die Sonne auf die gerade abgestochenen
Gartenwege schien, sie hörte das leise, melodische Plätschern des
Springbrunnens, und dann glaubte sie die Stimme ihres Gatten und Wills
zu hören, hie und da ein abgerissener Laut. --

Zwei Sperlinge flatterten auf die Terrasse, jagten sich im Weinlaube,
balgten und zausten sich dann auf dem bunten Fliesenboden, bis sie
erschreckt plötzlich auseinanderflogen, als Frau Anna sich bewegte.

Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen, sie wollte an etwas
nicht denken, aber es war ihr nicht möglich. Sie besaß sonst die
beneidenswerte Fähigkeit der Frauen, rasch zu vergessen, im vollsten
Maße.

Alles, was hinter ihr lag, nahm für sie eine fast traumhafte Gestalt
an. Was hinderte sie, die Dinge anders zu denken, als sie gewesen
waren? ...

Zwei Verse Calderons hatten einmal Eindruck auf sie gemacht und waren
ihr im Gedächtnis geblieben:

    Denn nur ein Traum ist alles Leben,
    Und selbst die Träume sind ein Traum. --

Sie murmelte es leise vor sich hin: Und selbst die Träume sind ein
Traum ...

Die Vergangenheit kann nur Schatten beschwören.

Aber wenn die Vergangenheit Gestalt annahm, Fleisch und Blut gewann?

Sie schüttelte den Kopf. Sie sorgte sich da um Dinge, die sie im
Grunde nichts angingen. Was war ihr das jetzt noch? .. Nichts! -- gar
nichts.

Sie hörte die Stimme ihres Mannes jetzt deutlicher. Er sprach laut
und lachte. Und die Stimme klang kalt und klar, daß es sie fröstelte,
mitten im Sonnenschein.

Sie ärgerte sich darüber. Wenn das so fortging, machte es sie noch
ganz nervös.

Und all das um das Kind, das Reinhold Petri aus Lausanne mitbrachte,
und dessen Mutter sie einmal gehaßt hatte. Die Mutter lag schon lange
im Grabe, und das Kind trug keinerlei Schuld.

Wie lang' das her war? -- Und wie die Zeit verging, eilends; aber die
Zeit hinterließ ihre Spuren.

Sie verheimlichte es sich nicht mehr; sie wurde zusehends alt,
vielleicht weil sie so lange jung geschienen. Das Alter kam über Nacht.

Wenn sie genauer hinsah, so mehrten sich in den Augenecken die
Krähenfüße, und zwischen ihren Haaren fand sie immer mehr graue.

Sie kämpfte nicht mehr dagegen an, sie hatte ein Recht, alt zu werden;
wenn Willy es auch nicht zugeben wollte.

Er kam jetzt wieder herab, nachdem er ein halbes Stündchen mit dem
Vater geplaudert hatte.

»Schenkst Du mir nun noch ein Viertelstündchen? Nicht für mich.«

»Gewiß Mama!«

»Dann geh' hinüber zum Professor -- er ist gestern zurückgekommen --
und sag', er solle ja nicht versäumen, um zwei zu Tisch zu kommen.«

»Das ist alles?«

»Ja, doch halt. Darf man ein paar Rosen aus dem Bukett nehmen?«

»Soll ich die dem Professor bringen?«

Sie sah plötzlich auf, dann lächelte sie:

»Gewiß, wem denn sonst?«

»Ah, ich weiß, Fräulein Mignon ist angekommen.«

»Das weiß ich nicht, ob Fräulein Mignon angekommen ist, mein hoher
Herr.«

»Wem soll ich dann aber die Rosen geben?«

»Du hast es ja selbst gesagt, dem Professor. Geh' nur hinüber und
richte Deine Botschaft aus, und wenn Du jemand triffst, der Dir dieser
Rosen würdig scheint, so gib sie ihm. Das wird dann wohl der Professor
sein.«

»Nein, ich glaube, ich werde sie wieder mit heimbringen, um sie
~Dir~ zu geben.«

»So? Und deshalb schickt man Dich also fort? Nun mach' aber hurtig.«

»Du wirfst mich ja beinah hinaus. -- Aber das hilft Dir nichts, die
Rosen bekommst Du doch wieder.«

»Wir werden ja sehen ...«




                                  8.


Nach wenigen Schritten stand Willy vor dem Hause Petris.

Vor dem langgestreckten einfachen Gebäude zog sich ein schmaler,
wohlgepflegter Blumengarten hin, der durch ein hohes schmiedeeisernes
Gitter von der Straße getrennt war.

Willy trat in das Haus ein. Auf dem breiten, fliesenbelegten Hausflur
traf er die alte Haushälterin Petris, Fräulein Minna, eine stattliche
Dame, trotz ihrer fünfzig Jahre. Sie hatte noch ein Mädchen zur
Verfügung, mit dem gemeinsam sie den kleinen Hausstand versorgte.

Mit der großen, weißen Schürze und der weißen Rüschenhaube auf dem
grauen Haare sah man es ihr an, daß sie einmal hübsch gewesen sein
mußte, nur in den Augen lag etwas von Heimtücke und Bosheit.

Willy mochte sie nicht leiden, obgleich sie ihm stets aufs höflichste
entgegenkam.

Der Professor stand ganz unter ihrer Herrschaft und mußte sich ihr in
allen häuslichen Angelegenheiten unbedingt fügen.

Nur im Atelier hatte sie nichts zu sagen.

Auch betrat sie es aus dem Grunde nicht, weil ihr all die Figuren dort
ein Greuel waren. Hatte doch der Professor seine Not gehabt, bis er
es durchsetzte, daß eine ausgezeichnete Kopie der Mediceerin im Salon
aufgestellt wurde.

In blindem Eifer wütete sie gegen die Heidengötter mit den verrückten
Namen, bei denen sich kein ehrlicher Christenmensch etwas denken
konnte, und da sie katholisch war, gab sie sich erst zufrieden, als
die Sixtina gleichfalls im Salon aufgehängt ward, obgleich ihr diese
Nachbarschaft viel Kopfweh bereitete.

Mit dem Federwisch in der Hand lief sie eifrig im Hause umher, jedem
kleinsten Stäubchen den Krieg erklärend. Heute war sie ganz aus ihrer
Ruhe gebracht. Es ging heute alles drunter und drüber.

Wo der Professor war, wußte sie nicht, vielleicht im Garten oder
sonstwo; sie wußte rein gar nichts.

Sie fing an, mit dem Mädchen zu schelten, so daß es Willy noch bis in
den Garten hinein hören konnte.

Durch den Hinterflur, in dessen Nischen ein paar wunderliche
Allegorien, krause Einfälle einer barocken Künstlerlaune, standen,
trat er in den parkähnlichen Hintergarten mit den dichten Gebüschen,
in denen das Atelier versteckt lag, mit seinem hohen Glasdache, das
durch die Wipfel der erst jung angepflanzten Bäume hindurch schimmerte.

Tiefe Stille herrschte in dem weiten Garten, und frischer Morgenduft
lag über den in erster Frühe reichlich besprengten Grasflächen.

Ein Laubgang führte zum Atelier. Die Tür stand auf, und der den
inneren Eingang bedeckende Vorhang war halb zur Seite geschlagen.

Im Glauben, daß Petri anwesend sei, trat Willy vorsichtig die beiden
Stufen hinauf. Allein er hatte sich getäuscht, niemand war da, und nun
trat er völlig in den großen, von milchweißem Lichte durchfluteten
Raum.

Schlichte, weißgetünchte Wände, gegen die die Skulpturen eines
unvollendeten Frieses lehnten, ein paar Konsolen mit Gipsabgüssen,
Bossierschemel, ein paar niedere Modelltische und drüben die große
Drehscheibe eines neuen Werkes, eines mit nassen Tüchern verhängten
Tongefüges, das noch niemand zu sehen bekam.

An der Hinterwand ein paar Oleander und Palmen. Die Blätter
grau gepudert, darunter ein Diwan und zwei Fauteuils um einen
runden Tisch, wenn Besuch kam. Etwas seitwärts ein niedriger,
orientalisch buntgemusterter Diwan, auf dem sich ein rotseidener
Schlummerpuff herumtrieb. Daneben ein Rauchtischchen mit losen
ägyptischen Zigaretten, mit deren feinem grauen Rauch der Künstler
in träumerischen Stunden das hohe, lichte Atelier mit seinem
breitspannenden Glasdache erfüllen konnte, von der Arbeit ermattet,
faulbehaglich ausgestreckt.

In einer Nische auf einem Ebenholzsockel die Büste von Frau Anna,
deren Original sich im Arbeitszimmer Dr. Brauns befand.

Um die Büste, eine Arbeit aus der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft,
schlang sich noch ein verwelkter Kranz, dessen Blüten entblättert
am Fuß der Säule lagen. Seit Wochen hing der Kranz hier, seit dem
Geburtstage Frau Annas.

Eine ganze Weile betrachtete Willy diesen jugendschönen Kopf, und
schon war er im Begriff, die Blumen, die er in der Hand hielt, hier
niederzulegen, als er wieder zauderte, sie dem toten Kranze beizufügen.

Er warf noch einen Blick durch diesen einfachen, weiten Raum, wo auf
allen Gegenständen, auf jeder Fläche, in jeder Falte jener feine
weißgraue Staub lagerte, ein Staub, der sich ungestört tagelang
hier ansammelte, bis Fräulein Minna in einer Ruhepause einmal die
Erlaubnis erhielt, mit Besen und Staubtuch den Kampf gegen den Schmutz
aufzunehmen, wobei sie mit einem wahren Vergnügen rücksichtslos mit
dem Federwisch über die nackten Glieder der Statuen fuhr, einer
schönen Frauenbüste oder einem grinsenden Faun in gleicher Weise das
Gesicht bearbeitete und den Boden von den steinhart gewordenen grauen
Tonklümpchen wieder reinigte.

Jetzt war es hier still, wie in einem Tempel, ein weihevolles
Heiligtum des schöpferischen Menschengeistes.

Willy riß sich endlich los. -- Wie wohl das welkende Grün den Augen
tat, nach diesem blendenden aufdringlichen Lichte im Atelier.

Vielleicht war der Professor im Garten, in dem halbdunklen,
weinlaubumrankten Gange, der sich an der einen Seite der Grenzmauer
hinzog, wie geschaffen, hier nachdenklich auf und ab zu wandeln.

Aber auch dort fand er ihn nicht, und so wandte er sich dem kleinen
Pavillon zu, der etwas erhöht an der andern Seite lag; ein leichter,
aus gebrechlichem Holz errichteter chinesischer Turm, in den von allen
Seiten das Licht einfluten konnte, nur daß es die anwachsenden Bäume
mit jedem Jahre mehr wehrten.

Schon von fern sah Willy durch die Büsche ein helles Kleid schimmern.

Er beschleunigte seine Schritte und stand jetzt vor den drei Stufen,
die zum Pavillon hinaufführten.

Unter dem breiten schirmartigen Dache saß eine junge Dame, die sein
Kommen überhört haben mußte, denn sie las ruhig in einem Buche weiter,
das ihr im Schoße lag, und das sie nur leicht mit der linken Hand
hielt, während die rechte lässig herabhing.

Sie trug trotz der späten Jahreszeit ein leichtes helles Kleid, mit
weiten Aermeln, die nur bis zur Hälfte des Unterarmes reichten. An der
linken Seite floß von der Taille eine breite schwarze Schärpe herab,
und ein hellroter Sonnenschirm lag an dem Stuhle, so daß er scharf von
dem Kleide abstach.

Zu ihren Füßen, wie achtlos fallen gelassen, ein breitrandiger Hut
mit langen Bändern, neben dem sich ein kleiner Fuß im schwarzen
Promenadenschuh wie ungeduldig nervös hin und her bewegte.

Willys Blick glitt von den zierlichen Füßen hinauf bis zu dem
Gesichte, das sie noch immer abgewandt hielt.

Wenn er es auch nicht gewußt hätte, so mußte er sie sofort an den auf
die Schultern fallenden dunklen Haaren erkennen.

Die Mutter hatte ihn also nur necken wollen. --

Jetzt hob das junge Mädchen das Gesicht. Sie trug das Haar nicht mehr
so tief in die Stirn, dennoch war das leichtgebräunte Antlitz von den
dichten Haaren völlig umrahmt.

Als sie ihn erblickte, glitt ihr das Buch beinah aus der Hand, allein
sie ergriff es noch rechtzeitig, während sie sich langsam erhob.

Dann sahen sie sich beide an. --

Sie hatte nicht jene krankhafte Farbe der Städterinnen. Ein leichtes
Goldbraun lag auf ihren Wangen, die Lippen waren sehr rot, und die
Augen schienen ihm schwarz zu sein.

Sie war groß und schlank, und alles an ihr atmete Gesundheit und
Lebensfreude.

Er hatte bei ihrem Aufstehen den Hut abgenommen und gegrüßt, blieb
aber unten stehen, so daß er die drei Stufen zu ihr aufblicken
mußte, während sie sich leicht auf die Krücke ihres Sonnenschirmes
stützte und ihn erwartungsvoll ansah, bis er endlich mit einem etwas
verlegenen Lächeln sagte:

»Wenn ich nicht irre, Fräulein Mignon ...«

Sie verbeugte sich leicht, sehr kühl, sehr vornehm, eben nur den Kopf
neigend, und sah ihn ruhig dabei an.

Er stand noch immer und hielt den Hut in der Hand.

»Der Herr Professor ist nicht hier?«

»Nein, mein Vormund ist nicht hier.«

Es zuckte leise um ihre Mundwinkel, allein sie beherrschte sich sofort
wieder und machte das ernsthafteste Gesicht; ganz Dame.

Weshalb er nur da unten stehen blieb und sie so anstarrte? ... Sie
wiegte sich ganz leise in den Hüften.

»Wollen Sie nicht Ihren Hut aufsetzen,« sagte sie endlich sehr
langsam. »Die Sonne brennt etwas.«

Was für eine weiche, wohlklingende Stimme sie hatte, die sich in das
Ohr einschmeichelte. Er lauschte noch immer auf den Nachhall, ehe er
erwiderte:

»Jawohl, es ist sehr drückend.«

Eben hatte er noch gefunden, daß es ziemlich kühl war; für ein
leichtes Sommerkleid, wie sie es trug, gewiß zu kühl.

Er setzte den Hut auf, und dabei fielen ihm die Dijonröschen ein,
die er in der Hand hatte. Er sah auf die Blumen nieder, und auch sie
folgte seinem Blicke.

»Wollen Sie sich mir nicht bitte vorstellen? ...« sagte sie nach einer
Weile, sehr leise und bescheiden, mit einem Neigen des Kopfes, als
müsse sie ihm diskret zu Hilfe kommen.

Jetzt fing er an zu lachen.

»Ach ja -- ganz recht! Ich bitte um Verzeihung: Willy Braun!«

Sie lachte mit ihm und streckte ihm rasch die Hand entgegen, während
er endlich die Stufen heraufkam und ihre Hand ergriff, eine zierliche
Hand, die aber die seine fest umschloß, kameradschaftlich fest, daß er
einen ganz energischen Ruck verspürte.

»Ich wußte gleich, daß Sie Will seien, aber weil Sie so dastanden ...«

Sie lachte übermütig, und indem sie mit der linken Hand ihr Haar
zurückwarf, setzte sie sich wieder und wies ihm den andern Stuhl zu.

»Weshalb blieben Sie denn nur da unten stehen? Fürchteten Sie sich vor
mir?«

»O durchaus nicht,« versicherte er lebhaft.

»Es sah aber beinah so aus. Sie wollten zu +père+ ... ah so,
ich sage so schon immer; denn Vormund, das geht doch nicht, -- und
Onkel klingt auch so dumm. Vater oder Papa geht erst recht nicht ...
+père!+ -- gefällt Ihnen das?«

»Ungeheuer!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ach so,« sagte er. »Ich meine, es gefällt mir sehr gut. Ungeheuer --
das ist ein Studentenausdruck.«

Sie lachte.

»Ich habe immer gedacht, Ungeheuer sei ein großes Untier im Märchen,
mit dem man kleinen Kindern bange macht. Haben Sie noch mehr solch
drolliger Ausdrücke?«

»Wenn Sie wollen, einen ganzen alten Hut voll.«

Sie lachten beide, und der Bann der Verlegenheit war gebrochen.

»Wissen Sie, wie Sie dagestanden haben?« fragte sie und sah ihn
schelmisch an.

»Nun, wie denn?«

»Sehen Sie ... so!«

Sie ergriff ihren Hut, sprang die drei Stufen hinunter, stellte sich
dort, den Hut in der Hand haltend, hin und sah zu ihm auf, indem sie
die Augen verdrehte, bis daß sie genug gelacht hatten.

»Ich habe Sie gleich erkannt, im ersten Augenblicke,« sagte Mignon.
»+Père+ hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ich kenne alle
Bilder von Ihnen ... eins, da sind Sie erst ein Jahr alt, im kurzen
Kinderkleidchen, mit solchen Pausbacken. Ich finde, das ist ganz
reizend.«

»So?« fragte er, sehr verlegen im Gedanken an das Bild.

Sie errötete leicht und fuhr fort:

»Eigentlich weiß ich ~alles~ über Sie, und +père+ hat mich
ordentlich neugierig gemacht. Heute früh sind wir schon drüben bei
Ihnen gewesen. Ich habe Ihre schöne Mama schon ~sehr~ lieb. Ich
weiß ja gar nicht, was es heißt, eine Mutter haben, aber ich denke
mir, daß es sehr schön sein muß ... Sie haben Ihre Mama sehr lieb ...«

Er nickte nur -- und dann fielen ihm die Rosen ein.

»Sehen Sie, Mama hat auch gleich an Sie gedacht. Als ich fortging, gab
sie mir diese Rosen: ich sollte sie dem geben, der mir der Würdigste
scheine. -- Darf ich sie Ihnen geben? ...«

Sie schlug ihre großen, geheimnisvoll dunklen Augen zu ihm auf und
nahm die Blumen ohne Ziererei.

»Aber ich will sie Ihnen nicht alle nehmen. Warten Sie ... so! ..«

Sie nahm die schönste und gab sie ihm zurück.

»Die müssen Sie selbst behalten.«

Er versuchte die Rose im Knopfloch zu befestigen, allein es ging nicht
gut.

»Wollen Sie eine Stecknadel? ..«

Sie war im Begriff, ihm eine Nadel zu geben, als sie sich plötzlich
besann und sie mit rascher Bewegung hinter sich warf.

»Nein!« sagte sie zur Erklärung, als er sie erstaunt ansah, »ich
gebe Ihnen lieber keine. Ich glaube nicht daran, aber man sagt, es
zersteche die Freundschaft. Und wir wollen gute Freunde werden, nicht
wahr?«

Sie reichten sich fast gleichzeitig die Hände. Und indem er so vor ihr
stand und ihr treuherzig in die Augen blickte, sagte er:

»Ja, das wollen wir: gute Freunde werden!«

»Na, Kinder?« ließ sich eine frische, kräftige Stimme hören: »Ihr
scheint ja schon gute Bekanntschaft gemacht zu haben. Das ist recht
... Da brauche ich nicht erst viel dreinzureden.«

Der Professor stand vor ihnen und reichte ihnen die Hände hin, während
sich Mignon an ihn schmiegte und er ihr einen Kuß auf die Stirn
hauchte.

»Ja!« sagte Mignon. »Herr Braun hat mir gleich als erstes
Freundschaftszeichen diese Rosen mitgebracht.«

»Das ist recht. Aber hört mal, Kinder, eines gefällt mir nicht. Ich
bitte mir aus: nichts von Herr und Fräulein. Ich nenne Euch beide
Du, und da will ich von Förmlichkeiten nichts wissen. Also >Willy<
und >Mignon< und nicht: >mein Herr< und >gnädiges Fräulein