Die Kauzburg : Roman aus dem Tagebuch eines Freundes

By Hans Kaboth

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Title: Die Kauzburg
        Roman aus dem Tagebuch eines Freundes

Author: Hans Kaboth

Illustrator: Käte Vesper-Waentig

Release date: June 8, 2025 [eBook #76240]

Language: German

Original publication: Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925

Credits: Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KAUZBURG ***





  Anmerkungen zur Transkription

  Besondere Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der
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  gesperrt: ~Tilden~
  Antiqua: _Unterstriche_

  Typographische Fehler sind stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche
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  Original unverändert.




     [Illustration: Die bunte Reihe der Deutschen Buchwerkstätten]


                            [Illustration]


                             Die Kauzburg

         Roman aus dem Tagebuch eines Freundes von Hans Kaboth

                            [Illustration]

                    Verlag Deutsche Buchwerkstätten
                                Dresden


             ~Alle Rechte vorbehalten / Copyright 1925 by
               Verlag Deutsche Buchwerkstätten, Dresden~

                            [Illustration]

  Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co., Altenburg, Thür.
               ~Buchausstattung von Käte Vesper-Waentig~




[Illustration]

Da bin ich nun in meiner neuen Heimat. Was sag’ ich: Heimat? .... In
meiner neuen Fremde bin ich. Ein kleines Städtchen ist’s, an einem
Fluß gelegen, hoch wie ein Storchennest.

In meinem Forsthause sitze ich nun und schreibe. Zum erstenmal in
dieses Tagebuch, seit ich hier bin.

Es gab mit dem Einrichten so viel zu tun, daß ich nicht zum Schreiben
kam.

Dazu noch der neue Dienst — kurzum, es kam nicht dazu. Noch ist mir
alles so neu, so seltsam, daß ich mich an der Nasenspitze zupfen und
fragen möchte: ist’s ein Traum oder ist’s Wirklichkeit?

Ist’s Wirklichkeit, daß mein Forsthaus ein altes ritterliches
Ordenshaus, eine echte, aus dicken Steinmauern vor einigen hundert
Jahren erbaute Burg ist, oder träume ich nur?

Der Fluß rauscht tief unter den Mauern meiner ritterlichen Forstburg
vorbei und läßt die Fische springen, ein Käuzlein ruft sein Huhu und
streicht unhörbar wie ein Geist — vielleicht der Geist eines einstigen
Ritters oder Mönchs — ums Mauerwerk meiner Burg. Täuscht mich nicht
alles, so hör’ ich den Forstlehrling schnarchen in seinem Kämmerlein.
Der Hahn hat soeben gekräht. Mein Haushahn ist’s, ein echter
Italiener. Ein Hund hat gebellt. Der Nachtrat tutet die Mitternacht
ein und schlürft die Straßen des Städtleins hinab. Ein Duften, ganz
weich und linde, zieht in mein offenes Fenster; »’s ist Frühling«,
ruft es mir zu, die roten Mauerrosen ranken am steinernen Tor, an
der steinernen Mauer, die meinen Garten umschließt. O Waldkauz, ich
fühle dir nach, warum du des Nachts die Mäuslein fängst und den Tag
verschläfst! Es steckt Poesie in einer solchen Vollmondnacht! Poesie
steckt auch in meiner Forstburg, und das versöhnt mich mit dem alten
Gemäuer.

Mit Waldkauzgefühlen, Waldkauzaugen betrachte ich den alten Kasten,
betrachte ich die Mäuse, die ungeniert um meinen Schreibtisch tanzen.

Es ist Vollmondnacht, und unten, tief unten rauscht der Fluß vorbei.
Wenn seine Flut an die hohen Steinpfeiler der großen Brücke drängt,
dann rauscht diese Flut zürnend auf, dann wirft sie silbernen Brodel
und silbernes Geschäum, wie ein Roß, das in den Zügeln schäumt. Ich
kann’s von hier oben sehn. Ich kann den Spiegel des Flusses sehn, kann
sehn, wie er glänzt und gleißt unter den hellen, sanften Strahlen
des Vollmonds, der dort hoch oben im Nachthimmel hängt und langsam
weiterschwebt. Mit einem milden Lächeln. Er ist erhaben über das
kleine Weh der kleinen Mutter Erde. Er weint nicht mit, wenn Mutter
Erde weint, nicht mit, wenn ihre Kleinen weinen. Er lächelt ewig, ewig
sein gleiches Lächeln. Manchmal mit vollem Gesicht, manchmal nur mit
der linken oder rechten Backe. Auch das ist schon genug, um sich an
ihm zu erfreuen. Um ihm heraufzurufen: sei gegrüßt, Freund Mond, du
einsamer Kauz dort oben! Lächle herab auf dieses kleine Städtlein,
lächle herab auf meine Forstburg hier. Du gehörst zu solcher alten
Burg, zu solchem Garten mit tausendjährigen Bäumen, mit aufgetürmtem
und verwestem Laube, zu solcher Steinmauer und solchem Steintor, in
dessen Wölbung es hohl klingt, schreitet man hindurch.

Wie ward mir zumute, als ich das erstemal durch diese Steinwölbung
schritt.

Kalt wehte es mich an aus all dem Steinwerk längst vergangener Zeit.

Als sich der schwere eiserne Torflügel krachend hinter mir schloß, da
schien’s mir, als brächen sich tausend dumpfe Stimmen im dröhnenden,
dumpfen Widerhall. »Eingesargt, lebend begraben«, höhnten die Stimmen,
»laß alles hinter dir, was du liebst und haßt«, tönte es aus der
großen Halle des Hauses, »ich halte dich fest und gebe dich nicht mehr
heraus«, hauchte mich kalt der Atem des toten Ritters an, der zwischen
zwei Mauern dieses Hauses seit dreihundert Jahren stehen soll, selbst
zu Stein geworden. »Huhu, huhu«, schrien die beiden Käuzlein, die ich
aus ihrem Schlafe aufscheuchte — »verdammtes Gezücht!«, schimpfte ich
und schwang meinen Jägerhut von der feuchten Stirn, »Otterngezücht und
Raubgesindel, laßt mich zufrieden! Ein Jäger bin ich, ein Grünrock,
leben will ich noch hundert Jahre. Der Wald wird mich schützen, mein
grüner Rock wird meine Schutzhülle sein, auch hier in diesem alten
Steingemäuer, das nun mein Forsthaus werden soll!« Aber mein Herz
sprach anders als mein Mund. Auf mein Waldherz legten sich all die
schweren, großen Steine und Steinplatten dieses alten Ritterbaues.
»Mein Gott, das soll ein Forsthaus sein?« sprach des Jägers Herz und
zog sich zusammen, »rings um den Garten eine hohe Mauer aus Steinen,
die Titanen zusammengefügt zu haben scheinen?« Vor mir die Steinburg
selber, aus deren Halle mir’s wie dumpfe Grabluft entgegenwehte,
links neben der Burg ein Steinbau, hoch genug, daß man nicht darüber
äugen konnte, — er wölbte sich — wie die Städter behaupten — über dem
unterirdischen Gange, der von hier aus unter der Stadt hindurch, den
Abhang hinab bis ans Flußbett der Eder sich ziehen sollte, im Garten
der zugeschüttete, kreisrunde Brunnen, von dem der Steinring noch
stand. Hinter der Wohnburg der wildromantische Hauptgarten mit seinem
schier undurchdringlichen Gestrüpp und tausendjährigem Baumwuchs, und
hinter dem Garten, als Abschluß von aller Außenwelt, die unheimlich
hohe und wie ein Pfeil nach oben zugespitzte Seitenmauer des einstigen
Ritterschlosses. »Ein Mönch müßte ich sein, kein Grünrock, dann paßte
ich hierher«, seufzte ich auf und trat durchs hohe Hausportal in den
großen Flur.

Eine steinerne Treppe führte nach oben.

Ich stieg hinauf und stand nun oben in den leeren hohen Stuben.
Winzige Türen führten von einem Raume in den andern. Um so winziger
sahen die Türen aus, da sie fast sechs Meter hohe Stuben miteinander
verbanden.

Das erste lebende Wesen, das mir hier oben entgegensprang, war eine
Maus. Eine dicke, fette Maus. Neugierig sah sie mich mit ihren blanken
Augen an. Furchtlos blieb sie mitten in der Stube vor mir sitzen. Ich
war der Eindringling, sie die Bewohnerin. Meinen grünen Jagdhut zog
ich vom Kopf, wie sich’s gehört vor solcher Ordensmaus: »Verzeih’
die Störung, ahnenreiche, vornehm geborene Maus, ich bin der neue
Oberförster, der sein Forsthaus besichtigt, und morgen kommen die
Möbel«, sagte ich frischweg, um ihr gleich klarzumachen, worum es sich
handelt. Sie schwieg und sah mich neugierig mit blanken Mausaugen an.

»Du bist erstaunt, teure Maus«, fuhr ich fort, »ich sehe es deinen
Augen an, die mich neugierig mustern, wie man einen Weinreisenden
mustert, der zum ersten Male unser Haus betritt. So wisse denn, daß
ich nicht weniger erstaunt bin, dich hier zu sehen. Leer glaubte ich
dies Haus zu finden, nun finde ich’s bewohnt von unten bis oben. Unten
in der Halle glühten mich die Augen einiger Waldkäuze, die ich aus
ihrem Schlafe weckte, nicht gerade freundlich an, hier oben finde ich
dich mit deiner anscheinend recht zahlreichen Familie vor, denn wie
ich sehe, äugt aus jedem Mauerloch ein zierliches Mausköpflein nach
mir hin, und oben im Dachgeschoß sitzt ein Volk von Tauben, ich hörte
sie beim Hinaufsteigen gurren und locken und sah sie flattern und
fliegen.« — — —

»Teure Maus,« fuhr ich nach einigem Zögern fort, da sie noch immer
schwieg, »nimm von mir die Versicherung entgegen, daß ich die alten
Rechte der bisherigen Bewohner, soweit es geht, respektieren
werde. Euch, werte Mäuse: die Löcher, mir: der übrige Raum des
Hauses! So begrüße ich dich denn als die Vertreterin des mir teuren
Mausgeschlechtes, mit dem ich mich schon von meinen früheren
forstlichen Wanderungen her in alten Forstwirtshäusern, Förstereien
und Waldwärtereien, Jagdhütten und Jagdverstecken freundschaftliche
Beziehungen verknüpfen. Freundschaft wollen wir halten, solange ich
hier hausen werde, und daß von eurer Seite diese Freundschaft, die ich
euch entgegenbringe, nicht zu sehr ausgenutzt wird, dafür, teure Maus,
wird der Waldkauz sorgen, der mich besuchen kommt.« Das schien ihr
unangenehm zu sein; die Diele knarrte unter meinem Fuß: husch, husch,
waren alle Mäuse verschwunden.

[Illustration]

So nehme ich denn Besitz von diesem Hause. Ich, der Grünrock, von der
einstigen Ordensburg. »Kauzburg« will ich sie nennen. Bleibt ruhig
wohnen hier, ihr Käuze, Mäuse und Tauben. Schränkt euch ein wenig ein
in eurer Freiheit, so wird es gehn. Eine Katze will ich mir halten und
einen Hund. Seht zu, daß ihr ihnen entwischt. —

Seitdem sind Wochen vergangen. Kahl lag die Gartenmauer da, als ich
einzog; jetzt ranken die blühenden Kletterrosen in allen Ritzen.
Goldregengesträuch mit den gelben giftigen Blütentrauben steht in den
Ecken des Hofes vor dem Hause, der Flieder blüht weiß und rot und lila
und vergeudet üppig schwülen Duft, ein alter Rotdorn streckt seine
rote Blütenpracht bis ins Fenster zu mir hinein, die Haselsträucher
setzen Nüsse an, der alte Nußbaum wird wieder jung im jungen Frühling,
die Meisen zirpen, der Pirol lockt, die Finken schlagen, und der
Kuckuck ruft. Selbst Spechte, die scheuen Waldvögel, hab’ ich in
meinem Garten.

Und siehe da, die Steinmauern bekamen Leben. Überall grünte es aus
den Ritzen hervor. Selbst zwischen den altersgrauen Steinen, mit
denen der Burghof gepflastert ist, sproßt das Gras. Ist das das alte
Steingeröll, in dem ich hause? Vor dem mir grauste, als ich’s sah?
Dornröschens Märchenschloß bewohn’ ich jetzt. Nur das Dornröslein
fehlt mir noch. Oder wie? Bin ich nicht undankbar und ungerecht?
Schlürft nicht tagaus tagein meine Wirtin durch die hohen Räume des
Dornröschenschlosses? Sieht sie nicht schlafestrunken, verschlafen und
wie ein Dornröschen aus nach tausendjährigem Schlaf? Ach, allzuviel
von dem Dörnlein, und allzuwenig von dem Röslein hat meine Wirtin.

Laß gut sein, tapferes Junggesellen-Jägerherz, du bist ja nicht
verheiratet mit diesem Dornröschen. Leicht kannst du dies Röslein
gegen ein neues vertauschen. Es blühen so viele Röslein draußen, die
gerne in solche Forstburg ziehn.

Frühlingsmondnacht glänzt wie ein Schleiergewand aus gleißendem
Silberschein um meine Kauzburg. Ans stille Fenster bin ich getreten
und habe hinausgeblickt in diese stille Nacht. Nachtstimmen raunten an
mir vorüber. Die Blumen sprechen, und der Frühling singt ein Lied. Wie
ein Kosen lacht es verstohlen aus dem Mondglanz zu mir herein. Wie ein
Kosen huscht es von Blüte zu Blüte, wie ein Kosen tönt des Flüßchens
Rauschen zu mir hinauf.

Der fernen schlesischen Heimat muß ich gedenken. Hoch oben am
nächtlichen Himmel ziehn große Vögel hin. Aha, Wildgänse sind’s, ich
hör’ sie rufen. Wie wunderbar klingt doch ihr heiseres Krächzen in
dieser stillen Nacht. Wie wunderlich harmonisch klingt es in diesen
stillen Frühlingszauber hinein. Verspätete Wildgänse. War eines von
euch flügellahm geworden unterwegs? Und habt ihr getreulich ausgeharrt
bei eurem kranken Weggenossen? Dort, wo ihr herkommt, liegt ja
Schlesien! So bringt ihr Grüße der Heimat! Ihr schnellen Segler der
Nacht! Wie kleine Punkte seh’ ich euch nur noch schweben. Nachthimmel
nimmt euch auf. Der unendliche Raum, in dem ihr meinen spähenden Augen
entschwindet.

Gute Nacht, gute Nacht!

[Illustration]

Immer siegreicher kämpft der Frühling um meine Kauzburg. Wie ein König
ist er eingezogen in meinen großen ummauerten Burggarten.

Aus dem hoch angewehten, verwesenden Laube, das in dem Buschwerk
liegt, sproßt es in allen Farben. Maiglöckchenduft hängt am Gebüsch,
noch hab’ ich die Spender nicht entdeckt in diesem Chaos von wildem
Gerank, auch die Nachtigallen kann ich nicht erspähn in diesem
verschlungnen Gesträuch. Nur singen und pfeifen höre ich sie, nur
den Duft der Maiglöckchen spür’ ich. Wozu denn auch sehn, wer so
viel Schönes verschenkt? Freu’ dich der Schönheit, daß sie sich dir
schenkt, und spüre ihr nicht nach. Deine Feder, kleine schlesische
Nachtigall, habe ich heute hervorgekramt; mit deiner Feder will
ich heute schreiben. Während die Nachtigallen der Fremde, in der
mein Heim, das ich bewohne, liegt, um mich den Reigen ihrer holden
liebedurchglühten Sangeslust schlingen, während aus ihren Kehlen die
klangtiefen Töne schmelzend wie flüssiges Gold, das in dem heimlichen,
verborgenen Schachte tropft, mich umschmeicheln, will ich mit deiner
Feder schreiben. Oder tönt der liebliche Sang, den ich zu hören meine,
aus deinem Kiel zu meinem lauschenden Ohr? Bist du es, Sängerin der
fernen Heimat, die mir die schönen Lieder in der Fremde singt? Hätte
ich wirklich nicht nur aus deinem kleinen Vogelleibe diese Feder
gerupft? Hätt’ ich die liebe kleine Sängerseele am Ende selber mit
mir fortgenommen? Wie? Träume ich denn? Oder bist du es selbst, mein
graues Vöglein, aus Schlesiens dunklem Walde, das aus dem holden Kiele
schlüpfte und nun dicht vor mir sitzt auf meiner Schreibtischplatte?
So singe, so singe! Die Hände falte ich und höre dir zu. — — —

Ich höre dich singen, Marianne, ja, ich höre dich singen. Seit der
Stunde, da du in dieses Forsthaus, in meine Kauzburg, gekommen bist,
von dem Augenblicke an, wo deine leichten Füße über die breiten,
schweren Steinstufen gazellenleicht hinaufgeeilt sind, fast von dem
Augenblicke an hat dein fröhlicher Sang die hohen Räume dieses Hauses
belebt.

Wenn ich dich, kleine Marianne, mit meiner Wirtin zusammensehe, wenn
ich sehe, wie du ihr hilfst und das Feuerlein frühzeitig anbläst
mit deinen kirschroten Lippen, dann kommt es mir vor, als hätt’ ich
zu einem Uhu eine Nachtigall eingesperrt. Ich brauche gar keine
Nachtigall mehr, seitdem du in der Kauzburg bist.

Man sagte mir, du seiest ein Kind der Straße, als ich dich mietete.
Nun gut: dann hatte die Straße das schönste Kind, das je gezeugt war
auf dieser Erde.

Seit drei Wochen habe ich dieses Kind der Straße in meiner Forstburg.
Meine Wirtin klagte über zu viel Arbeit. Drum hielt ich Ausschau nach
einem Mädchen zur Aushilfe. So kam Marianne ins Haus. Ich erschrak,
als ich sie sah. So viel Schönheit von der Straße aufgelesen! Staub
hatte ich auf der Straße hier schon genug gesehn, daß solche Schönheit
im Straßenstaube blühn konnte, hätte ich nimmer gedacht. Rose bleibt
Rose im düsteren Straßenwinkel, hinter dem blindesten Kellerfenster.

Ich erschrak, als es an der Tür klopfte, auf mein »Herein« die
Tür sich auftat und nun das Mädchen, dieses Mädchen in die Stube
hereintrat. Ein dunkles Augenpaar, groß und tief und glänzend, sah
mich an, halb furchtsam und scheu, halb trotzig und bittend, halb
lachend und halb voll unbestimmter sehnsuchtsvoller Schwermut. Darüber
die weiße niedrige Stirn und über der das rote Haargewoge. War’s die
Sonne, die rote Flecke in ihr Haar warf? Aber das Rote blieb auch
im Schatten der Wand. Ein wunderbares Rot. Kein flammendes, grelles
Rot, nein, wie ein roter Goldhauch lag’s in dem Haar, in jeder
seidenweichen Strähne. »Wie heißen Sie?« fragte ich kurz. »Marianne«,
antwortete sie und schwieg. »Was sind Ihre Eltern?« — »Ich habe keine
Eltern.« »Wer waren Ihre Eltern?« — »Ich weiß nicht.«

Und nun ist Marianne, das Kind der Straße, schon drei Wochen in meiner
Burg.

Meine Wirtin mag sie nicht leiden, ich weiß es. Sie hat wiederholt
bei mir Versuche gemacht, das Mädchen los zu werden. Sie schimpft und
sucht sie schlecht zu machen bei mir.

Marianne ist ein wunderliches Menschlein. Sie ist nicht zuverlässig in
ihrer Arbeit und treibt sich lieber draußen im Frühling und lockenden
Sonnenschein herum.

Sie singt und stört die Ruhe der Kauzburg, ich weiß es. Himmel noch
eins! Ich weiß es! Ich weiß es!

Sie stört die Ruhe der Kauzburg, meine Ruhe stört sie mit ihrem Singen.

Mit ihrem roten Haar stört sie mich, ihre dunklen, tiefen Augen stören
mich.

Mädchen, Kind der Straße, du mußt fort, bald fort aus der Kauzburg,
fort aus meiner Nähe mußt du. Froh bin ich, wenn ich dein Singen höre,
seh’ ich dein rotes Haar, blicke ich in deine dunklen Augen. Wo darfst
du denn fort, du armes Kind der Straße, wo werde ich dich denn wie ein
wildes Tier auf die Straße werfen, nein, nein, in der Kauzburg bei
mir mußt du bleiben!

So hab’ ich also eine Nachtigall in meinem Hause.

Aber es ist kein graues unscheinbares Vöglein, nein, ein Paradiesvogel
an Schönheit ist diese Nachtigall.

[Illustration]




Krähen sitzen auf sonnenhellen Feldern. Krähen sitzen dort und
krächzen, fliegen mit schweren, schwarzen Flügeln auf die nächsten
Pappeln, wenn mein Wagen ihnen zu dicht auf den schwarzen Krähenleib
rückt, und fliegen — kaum bin ich vorbei — ebenso schwarz, ebenso
schwer, ebenso krächzend, ins Saatfeld hinab. Ich bin auf der Fahrt
in meinen Wald. Es war Spätnachmittag, als ich nach Hause fuhr. Einen
kleinen Umweg machte ich, um an meiner Forellenfischerei, die ich
gepachtet habe, entlang zu fahren.

Das ist ein schmales Gebirgswasser, das zwischen den Bergen zu Tale
fließt. Gern fahr oder gehe ich diesen Weg. Ich selbst hatte noch
nicht die Angel nach den rotpunktigen Fischlein im klaren Wasser
ausgeworfen. Nur mein Forstlehrling war einige Male draußen gewesen
und hatte ein paar Forellen gefangen. Heute wollte aber auch ich mein
Glück als Fischer versuchen. Das Angelzeug lag im Wagen. Als das
Flüßchen in Sicht kam, ließ ich halten und stieg aus.

»So, nun können Sie nach Hause fahren«, befahl ich dem Kutscher,
nachdem ich das Angelzeug herausgenommen hatte. Immer schwächer und
ferner ist das Rollen der Wagenräder zu hören. Nun ist’s verklungen,
und nur der kleine, zwischen den Erlen und Weiden eingebettete Fluß
rauscht zu mir herauf. Es will Abend werden. Mit rotgoldenen Streifen
flammt die Sonne in den Buchenwald, der auf den Höhen steht, hinein.

Die Fische werden springen, denk’ ich.

Mit dem Strome des Wassers gehe ich und werfe die Angel aus. Nicht
lange, so schnelle ich die erste Forelle heraus. Weiß Gott, es macht
Spaß. Ich hätte es nie gedacht. Um das große Erlengebüsch biege
ich, die Wiese schiebt sich bis an den kleinen Fluß heran, auf dem
grünen Wiesengras ziehen die rotgoldenen Streifen der Abendsonne,
Schmetterlinge gaukeln im warmen Frühlingsabend, Rehe treten aus dem
waldigen Hang und äugen scheu nach dem Wässerlein hinab — was sehe
ich! — dort vor mir am Ufer sitzt Marianne!

Ja, es ist Marianne. Das Kind der Straße ist es, das in mein Haus
gekommen ist, zum Leid, zur Freude der Bewohner. Wie Feuer sprühte
und gleißte ihr Haar in den goldenen Abendstrahlen einer versinkenden
Sonne. Hatte sie mich bemerkt? Ein wenig wandte sie ihren Kopf nach
mir hin, gleich aber wieder fort. Sie hielt die Angel in das Wasser.
»Was tun Sie denn hier, Marianne?« rief ich sie an. Wozu meine
törichte Frage? Ich wußte doch, was sie tat; ich sah es doch, ich
hatte es ihr doch erlaubt, angeln zu gehn, wenn die Arbeit im Hause
getan war. Warum klopfte mir denn das Herz so ungestüm? Bin ich ein
Räuber, der unschuldige Mädchen überfällt? Kann ich rotes Haar nicht
sehn? Frage ich so laut und töricht, weil mir das Blut in den Adern
schlägt? Bin ich zu rasch gegangen? Hat mich das Angeln so aufgeregt?
Ist es mir unangenehm, das Mädchen hier zu treffen? Ich bin der Herr,
sie dient in meinem Hause, also kann ich Antwort fordern auf meine
Frage: was tun Sie denn hier, Marianne? »Muß ich antworten?« sagte
sie, stand auf und kam an mich heran. Eigentümlich berührten mich
ihre Worte. Nein, ganz offen, ich schämte mich. Hätte sie in mich
hineingesehen, mich durch und durch gesehn mit ihren wunderbaren
Hexenaugen, so hätte sie mich mit diesen drei Worten nicht stärker
treffen können. — Pfui, Pfui, wie hatte ich häßlich und roh gedacht:
ich bin der Herr, sie dient in meinem Hause, also kann ich Antwort
fordern auf meine Frage. Das ist das Rechte! Das ist mein Mitleid mit
den Dienenden! Das mein Mitleid mit dem Kinde der Straße!

»Muß ich antworten?«

»Nein,« sagte ich, »nein, Marianne, Sie brauchen mir nicht zu
antworten. Ich sehe ja, Sie angeln, ich sehe sogar, daß Sie ... ei,
ei, eins, zwei, vier ... sechs Forellen gefangen haben und was für
schöne.«

»Ich habe hier gesessen, die Angel geworfen und gesungen, so hab’ ich
die Fische herbeigelockt, nun sind sie tot«, sagte sie und blickte auf
die im Wiesengras liegenden, vor kurzem noch in ihrem Wässerlein so
frohen Fische.

Ihre Augen blickten grausam.

Ach, es ist ja ein Unsinn! Wie können denn ihre Augen grausam blicken?
Töricht bin ich, ganz töricht.

»Ach, ihr armen Fische! Eben noch so gewandt und flink im kühlen,
sprudelnden Wasser, und nun so starr und unbeweglich«, meinte ich.

Marianne sah mich an.

»Was machen Sie denn für Augen, Marianne!« stieß ich heraus. Schon
blickte sie fort. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Worüber war ich erschrocken? Ein Tiger kann grausame, blutdürstende
Augen machen, aber doch nicht dieses Mädchen! Ja, hab’ ich denn
Fieber? Ist es das glühende Abendlicht der Sonne am Berghang oben,
wo sie versinken und uns den Abschied von ihrem rotsprühenden Feuer
schwer machen will, — ist es dieses dämonisch schöne Leuchten, das mir
aus Mariannens Augen entgegenglühte?

Ich warf noch ein paarmal meine Angel aus. Aber nichts fing ich. Stumm
folgte mir Marianne. Ich plauderte mit ihr. Aber schließlich merkte
ich, daß ja ~ich~ nur sprach. Hastig sprach. Und daß sie schwieg. Nur
einige Male lachte sie halblaut auf, wenn ich ihr etwas Scherzhaftes
erzählte. Ihr Lachen klingt so silbern und heimlich, wie das Lachen
des Flüßchens, das über die Steine springt, silbern und heimlich
klingt.

»Wo haben Sie nur Ihr prachtvolles rotes Haar her, Marianne?« scherzte
ich, als ich die Angelschnur aufrollte, und sie mir dabei half.

Sie sagte kein Wort, warf nur mit einer unnachahmlich anmutigen
Bewegung das ganze wogende Haar nach vorn, daß es mich streifte,
umfaßte, und mein Gesicht in dieses glühende, kosende, duftende
Seidengewebe einhüllte. Nur einige Sekunden lang, schon war ich frei.
Vor meinen Augen nur wogte es noch rotgolden, leise knisternd, ein
goldenes Funkenmeer. Ein paar Herzschläge lang stockte mein Atem. War
ich berauscht? War’s wilde Lust, wildes sehnendes Jauchzen, das den
Mann in des Weibes Arme treibt?

»Marianne«, stieß ich hervor. Hat meine Stimme gezittert? Dicht neben
mir stand dieses Kind der Straße, das ich zu Leid und Freud’ in meine
Kauzburg genommen habe, das ich bewahren will vor dem Verkommen im
Straßenstaube.

Eine Sekunde lang sah sie starr in meine Augen. Dann packte sie
gleichgültig das Angelzeug zusammen, bog ihre schlanke Gertengestalt,
hob den Rucksack mit den Forellen aus dem Wiesengras, warf ihn über
ihren Rücken und schnallte ihn fest.

»Der ist zu schwer für Sie, Marianne«, sagte ich und wollte ihn
ihr abnehmen. Sie wehrte sich dagegen. Meine Hände berührten ihre
Schultern, ihre atmende Brust, wie ein Feuerstrom schlug’s in mein
Gesicht. Ich trat zurück. »Nun, wenn Sie ihn durchaus behalten wollen,
so behalten Sie ihn. Wird’s Ihnen unterwegs zu schwer, so geben Sie
ihn mir.« Wie ein Knabe sieht sie aus! Wie ein schlanker Knabe! Sie
hat ihr Kleid gerafft, der Rucksack schnürt ein wenig ihre Schultern
zusammen, den Angelstock benutzt sie als Stock. Einen grünen Hut hat
sie auf ihr rotes Haar gestülpt, und es ist zu einem wildwirren Knoten
aufgestellt, so schreitet sie tapfer und biegsam vor mir her. Ich ließ
sie vorneweg gehen. Sie sollte den Schritt angeben. Ich wär’ am Ende
zu rasch gegangen, hinter mir her wär’ sie gekeucht und hätte nichts
gesagt. »Denn ich bin ja der Herr des Hauses und sie nur ein Kind der
Straße!«

Es dunkelte. Ein weicher Frühlingsabend hing in den duftenden
Blütenbüschen, hing in der Nachtluft über und um uns, wogte Feld
auf Feld ab, küßte das tauige Wiesengras, sprang auf den Wellen des
Flüßchens und kicherte unter den Erlen, schwebte hinauf, immer höher
hinauf und holte den Mond über den Saum des Berges hinüber. Kein
Staub der Straße drang bis hierher zu unserem Wiesenstege, rein war
die Luft wie Gold, nichts Unreines kennt die Natur.

Unreines entsteht erst dort, wo man die Natur zwingen will, nicht mehr
Natur zu sein.

Wir jetzigen Menschen kennen ja gar nicht die Natur. Von Kindheit
auf entfernt man uns von ihr. An solchen Abenden wie heute überfällt
mich die Sehnsucht, Natur zu sein in der Natur. Abzuwerfen, was Zwang
und Sitte fordern, eine Hütte zu haben im Walde weit draußen und
fern von Zwang und Sitte, zu leben dort wie das Getier des Waldes,
wie der Hirsch, der durch die Wälder zieht, wie das Reh, das auf
die Frühlingssaaten tritt, wie das Bienlein, das an jeder Blüte
nascht, wie der lustig singende Vogel hoch im Gezweig der Bäume, wie
der Waldkauz, der den Mond zum Gevatter bittet bei seiner stillen
Mäusejagd. Halt da! Ich ~habe~ ja mein Kauzgehäuse, ich ~bin~ ja schon
ein Kauz! Willst du die Käuzin sein, schlanker Bursch vor mir mit
deinem grünen Jägerhut im sprühenden Rothaar, was?

Ganz übermütig ward mir zumute!

Übermütig sprudelt das Flüßchen neben unserem versteckten Erlenweg,
übermütig scherzen die Rehe auf der Bergsaat links drüben unter dem
Buchenhang, übermütig bescheint der helle Vollmond mich und das
schlanke Bürschchen vor mir, übermütig quillt all das funkensprühende
Rothaar aus seinem wirren Knoten und schaukelt und weht wie ein
Stückchen goldnen Vließes, voll Übermut quiekt das Froschzeug im
feuchten Wiesenloch, voll Glück und Übermut singt in dem einen
einzigen Fliederstrauch, der an dem Mühltor blüht, die eine einzige
Nachtigall hier draußen am Flüßchen und Walde, voll Glück und Übermut,
und dabei klingt es sanft und flötend wie ein Lied der Trauer.

Ei, du mein Jägerbürschlein vor mir im hellen Mondschein, wie
schreitest du schlank und leicht dahin! Dein schlanker Mädchenleib
biegt sich wie eines Fischleins glattes Körperlein, bist etwa du
~selbst~ solch Fischlein und bist in Menschengestalt nur an Land
gestiegen aus kühler, heimlicher Wasserflut? Bist etwa du ~selbst~
solch Forellchen, das zwischen den Steinen des Flüßchens neugierig auf
Beute lauert? So schön, so schlank, so anmutig mit seinem rotpunktigen
Fischleib, und hinter all der Schönheit, Schlankheit und Anmut
verbirgt sich die schreckliche Raubgier?

Sag’ ~an~, Marianne, du Weggenosse im blassen Mondglanz des Frühlings,
was birgt sich hinter der weißen, von rotem Feuerhaar umsponnenen
Stirn bei dir? Verwandle dich, Bürschlein, verwandle dich flugs
zurück in den glänzenden Fischleib, aus dem du entsprangst, dann zieh
mich hinein zu dir in die Flut, in das singende Wasser. Dann presse
mich fest und ewig in deine weißen, wonnigen Arme, dann laß mich nie
los mehr und sauge mein Leben, mein Atmen, mein Ich tief, tief in dich
hinein!

[Illustration]

Die Welt ist weit und groß. Aber für jeden Menschen liegt in dieser
weiten und großen Welt eine enge Heimat. Die Enge der Heimat empfindet
man nicht. Licht und groß und weit erscheint die Heimat. Hörst du es,
meine Heimat? Du bist mir weit und groß und licht. Das Sehnen ins
Weite hört auf, wenn mich dein Arm umschlingt. O, lege deine ~beiden
Arme~ um mich, du Heimat meiner Kinderjahre, nimm mich hin, halte mich
fest, und laß mich nimmer los.

Ich hör’ die Glocken läuten in meinem Heimatdorfe, die Oder hör’ ich
rauschen, ich sehe den Eichwald, in dem ich als Knabe pürschte, am
Saum des Waldes den Bach, der sich ins Feld verliert, und dort im
Sonnenschein das Dörflein selbst. Grüß dich Gott, du liebes Dorf!

Und das alles hat ein Brief bewirkt! Meiner Mutter Brief. Ein paar
Kornblumen hat sie auf heimatlichem Feld gepflückt und in den Brief an
den fernen Sohn hineingelegt.

Ihr holden Blumen des Feldes, wie duftet ihr süß und frisch zu mir
herauf. Wie habt ihr den Duft mir bis in die Fremde zugetragen! Habt
Dank dafür.

Ein Friedensodem weht mich an und macht mich still und froh zugleich.
Und kindlich fromm. Und ruhig. Bin ich denn anders geworden?

»Mein lieber, guter Sohn.«

Vier Worte einer Mutter. Ja, Mutter, in deinem Herzen bleib ich gut
und lieb. Und will’s bleiben für dich. Du hast dich geängstigt, weil
ich so lange nicht schrieb? Hab’ ich denn lange nicht geschrieben?

O, ängstige dich nicht, meine Mutter. Ich käme mir ruchlos vor,
wolltest du dich um mich und meine Schuld ängstigen. Eine Schuld ist’s
für den Sohn, Ursache der Angst seiner Mutter zu sein.

Ja, ja, ich habe lange nicht geschrieben. Wirklich lange, lange nicht.
Seh’ ich’s doch draußen an der Natur. Der Frühling ist hin, längst ist
er hin. Kaum war er da, als ich zum letzten Male nach Hause schrieb.
— Nun wiegt sich das Korn in den Ähren. Ein grüngelbes wogendes Meer.
Das breitet sich jenseits des Flusses unter meinem Fenster bis an die
Waldhänge drüben aus.

Sommerwind geht und weht. In gleichmäßigen Wogen taucht auf, taucht
nieder das Korn in den Feldern. Auf und nieder — auf und nieder. Es
liegt Ruhe in diesem Auf und Nieder.

Als ich ein Knabe — der Dorfknabe — war, empfand ich nur helle Lust an
dem hohen schwankenden Kornfeld. Vor allem die Kornblumen taten’s mir
an. Die blauen Kornblumen waren mir lieber als der rote, wilde Mohn.
Weil die großen, roten Mohnblüten zu leicht zerfielen. Kaum riß man
sie ab, so löste sich ein rotes Blatt nach dem andern, und zuletzt
hatte man nur noch den leeren Strunk. Aber die Kornblume, das war eine
himmelsblaue Pracht!

So stell’ ich euch hier in das feingeschliffene Gläschen, ihr blauen
Kinder des sommerlichen Feldes daheim. Ein wenig seid ihr zerdrückt,
ein wenig welk auch. Die Reise war lang ... blüht auf! blüht wieder
auf, ihr weitgereisten Heimatgrüße!

Mit euch zugleich blüht irgend etwas Schönes in mir auf. Vergangene
Jahre sind’s.

Kinderjahre, Knabenjahre, Jünglingsjahre. —

Heisa, was seid ihr fortgesprungen wie wilde, russische Steppenpferde,
ihr jungen, mutigen Jahre!

Mutig mit euch, durch euch bin ich gewesen. Wild bin ich mit euch
gesprungen wie russische Pferdleins in weiter, wildfroher Steppe!

Die weite, wildfrohe Steppe, das war das Leben, die Zukunft. Was sag’
ich: ~Die Gegenwart~ ist’s gewesen, der Tag, die Stunde war’s, nichts
andres! Was Zukunft!? .... Unsinn! Die Jugend ~lebt~, nichts weiter! —

Ein Griesgram bin ich geworden, ein Waldkauz, ein Kauz. Der Jugend
gedenke ich heute, und ~euch~, ihr Kornblumen aus heimatlicher Erde,
verdanke ich dieses Gedenken. Nein ~dir~, du treueste aller Mütter!

So runzlich ist dein Gesicht, so grau dein Haar, und dennoch, dennoch:
schaust du mich ~an~, gleich bin ich der frohe Knabe von einst!

Weshalb nur, weshalb?

Still, still, ich weiß es: es sind dieselben Augen, die einst das
Kind, den Knaben betrauten, — dieselben Augen betrauen noch heute den
Mann. Sie möchten noch heute so gern in des Mannes Herz blicken, wie
sie ehmals in des Knaben Herz hineinschaun konnten.

Für die Mutter bleibt man der Knabe.

Schon gut, Mutter, schon gut. Komm’ ich zurück in die Heimat und zum
Besuch in dein trautes Heim: der ~Knabe~ will ich sein, solange ich
bei dir bin. Bist du nun zufrieden? Du fragst mich gar viel in deinem
Briefe. Und manches muß ich verschweigen.

Von allem und allem schreibe ich dir, Mutter, und ~hab’~ dir soeben
geschrieben, nur eins behalte ich zurück — wozu davon schreiben?
Ich mag nicht davon schreiben .... weshalb sollte ich von Marianne
schreiben? Ich wüßte nicht, warum.

[Illustration]

»Es geht um in der Nacht«, behauptet meine Wirtin. »Was Tausend, es
geht ~um~? In meiner Kauzburg sollten Geister hausen? Im nächtlichen
Reigentanz ihr Klappergebein und Totengerippe schwingen?«

Ganz ärgerlich wurde ich gegen sie. »Schlafen Sie lieber und horchen
Sie nicht auf Geisterstimmen und Geistergeräusche, mein Fräulein. In
meiner Kauzburg geht’s nicht um!«

Ich war aber doch betroffen.

Leise, schleichende Schritte wollte sie gehört haben, ein Klirren
des Fensters, ein unheimliches Lachen, .... darüber war sie wieder
eingeschlafen.

»Du Tor!« sagte ich zu mir. Weil Fräulein Bartel das gehört haben
will, fällt dir auf einmal ein, daß auch ~du~ es in einer Mondnacht
gehört haben willst? Schon lange war’s her. Da wachte ich in der Nacht
auf, halb noch im Schlaf: Es kam geschlichen, leise, ganz leise, es
klinkte die Tür auf, es klirrte schwach, ganz schwach, ein Lachen,
hatte ich wirklich ein Lachen gehört? Am nächsten Morgen erschien mir
alles als Traum. Vergessen hätte ich’s, nie wieder daran gedacht — bis
heute. Ich verbot Fräulein Bartel aufs strengste, zu den andern im
Hause von dem, was sie gehört haben wollte, zu sprechen. Wozu Marianne
ängstigen? Wozu erst solch Gerede aufkommen lassen? Übrigens hörte ich
ein paar Tage später ganz zufällig, daß die Kauzburg schon von jeher
in dem Rufe stand, »es gehe in ihr um«. Nun gut, mag es umgehn in
ihr! Ich fürchte mich nicht. Freuen würde ich mich, mit den Geistern
der früheren Bewohner in Verkehr zu kommen. Geister von Rittern und
Mönchen sind es — würde es nicht interessant sein, mit Rittern und
Mönchen früherer Jahrhunderte sich zu unterhalten?

[Illustration]




Noch einen neuen Bewohner soll meine Kauzburg bekommen.

Es war mit erst gar nicht recht.

Was soll man aber tun!

Es ist ein Unglück, daß ich Bitten gegenüber so wenig standhaft bin.

Fräulein Bartel hat mein Herz erweicht.

Meinetwegen, mag sie ihren Willen haben. Die Kauzburg ist groß; mich
wird der neue Bewohner nicht stören.

Für ein halbes Jahr soll’s nur sein. Der Vater verreist ins Ausland,
die Mutter starb im vorigen Jahr, wohin mit dem Mädchen! Da wandte
sich der Mann an Fräulein Bartel, die jahrelang bei ihm und seiner
Frau in Stellung gewesen war. »Nehmen Sie sich meiner Tochter an,
solange ich reisen muß«, bat er dringend. »In einem halben Jahre bin
ich zurück, dann ist die Erbschaft geregelt, bitte, bitte, nehmen Sie
sich meiner Tochter so lange an.«

Fräulein Bartel brachte mir diesen, ich möchte sagen »händeringenden«
Brief des Gutsbesitzers. Dieser Gutsbesitzer ist übrigens eine
interessante Persönlichkeit. Sein Gut, sein Heidhof liegt in der
Lüneburger Heide. Er selbst heißt der Heidkönig, weil sein Heidebesitz
die größte Ausdehnung hat. Wohl auch, weil sein Geschlecht so alt und
bieder ist. Also des Heidkönigs, — eines Königs Tochter — kommt in
meine Kauzburg! Bin neugierig auf diese Heidkönigtochter. »Ein Kind
der Heide« — — — ein Kind der ~Straße~ habe ich schon!

»Also meinetwegen, meinetwegen, nehmen Sie das Mädchen unter Ihre
Fittiche«, sagte ich schließlich, um sie los zu werden. Fräulein
Bartels Fittiche sind ja ehrwürdig, alt und genügend ausgemausert.

Aber nun hab’ ich meine Bedenken bekommen.

Was sagt Marianne dazu?

Ich rief sie. In der ihr eigenen anmutig-scheuen Weise trat sie in
meine Stube.

»Sie wissen es schon, daß wir im Herbst oder Winter einen neuen Gast
bekommen?« fragte ich.

»Ich weiß es«, antwortete sie.

»Na ... und ... Sie freuen sich doch, daß Sie nun in die einsame
Kauzburg etwas Gesellschaft kriegen ... nicht?« Sie gab keine Antwort,
hob nur langsam den Kopf. Ihr rotes Haar flimmerte, ihre roten Lippen
waren halb geöffnet und stachen seltsam gegen ihr blasses Gesicht ab,
in dem die blauen Adern wie kleine Schlangen zu sehn waren, die Leben
hatten und sich zu bewegen schienen; schwer lagen die Augenlider mit
den langen seidigen Wimpern noch über ihren Augen. Aber nun warf sie
mit plötzlicher, zuckender Bewegung den Kopf in den Nacken, daß die
rotgolden leuchtende Haarpracht wie ein Feuer, in welches ein Windstoß
fährt, aufwirbelte, und sah mich an. »Marianne«, stieß ich zitternd
hervor und umfaßte mit beiden Händen fest die eichene Kante meines
Schreibtisches.

Da verzog ein Lächeln ihr Gesicht. Ehe ich zur Besinnung kam, hatte
sie lautlos das Zimmer verlassen!

Ich aber warf mich erschöpft auf den nächstbesten Stuhl und bedeckte
meine heißen Augen, meine heiße Stirn mit meinen zwei heißen Händen.
»Wie soll das werden, wie soll das enden«, dachte ich immerfort.

Hast du recht gesehn, hast du dich nicht getäuscht? Sah sie dich
wirklich mit liebedurstigen, liebeglühenden, liebeverlangenden Augen
an? Hast du in diesem seltsamen rätselhaften Augenpaar auch noch einen
anderen Ausdruck gesehen? Den Ausdruck von Haß? Gegen das Mädchen, das
noch gar nicht hier ist? Das erst kommen soll?

Was ~sagten~ denn diese Augen? Warum bist du erschrocken vor ihnen?

Ein seltsam schauderndes Gefühl beschlich mich.

Und daneben die Gier nach diesem Mädchen, in dessen Augen ich soeben
geschaut hatte.

»Hüte dich, hüte dich vor ihr!« flüsterte die eine innere Stimme,
»Greif ~zu~, greif ~zu~«, stachelte mich die andere auf. —

Ich setzte mich an den Schreibtisch und nahm mir meine Arbeit vor.
Erst tanzten die Buchstaben vor meinen Augen. Dann wurde ich wieder
Herr über mich. Die Arbeit lenkte mich ab, gab mich der nüchternen
Wirklichkeit zurück. Zwei Förster ließen sich melden. Ich besprach
Dienstliches mit ihnen, ich sagte mich für morgen zur Reviertour bei
ihnen an, die Kulturen sollten besichtigt werden, Pflanzen waren
infolge der Sommerhitze vertrocknet, Gegenmittel mußten bedacht,
Ersatz mußte geschafft werden, ja du, mein Wald, du mein Bergwald
wirst mich heilen, wirst mir die Ruhe wiedergeben, die ich verlieren
will!

Geht’s denn ~wirklich~ um in der Kauzburg? Wollen mich die
abgeschiedenen Geister dieser hohen, geheimnisvoll dunklen und kühlen
Räume in ihren unheimlichen Bann nehmen?

Ich möchte das Mädchen mit dem Feuerhaar fortschicken.

Ja, ich werde sie fortschicken! ...

Nein! niemals! ... Von dem Staube der Straße habe ich sie aufgelesen,
nun muß ich sorgen, daß sie nicht verkommt im Straßenschmutz. Hatte
nicht der Domherr mir durch Fräulein Bartel sagen lassen, ich täte ein
gutes Werk, wenn ich dieses Mädchen behielte?

Ich muß mit dem Manne sprechen! Ja, ich will bald mit ihm sprechen.
Wer waren ihre Eltern? Wo war sie, bis sie zu mir kam? Zu mir in die
Kauzburg? Auf der Schwelle des katholischen Waisenhauses hat man
dich gefunden, armes Kind? Aber du bist doch nun ein großes Mädchen,
schon längst mußt du das schützende Dach des Waisenhauses verlassen
gehabt haben, bevor du zu mir kamst ... wo hast du gesteckt in der
Zwischenzeit? Ich will alles, alles von dir und über dich wissen,
Marianne, du verstoßenes Kind der Straße. Du verstoßenes Kind des
Lebens.

Was kannst du dafür, daß dich das Leben verstieß schon beim Eintritt
ins Leben? Daß es dich auf die Schwelle eines Waisenhauses legte? Dort
lagst du, armes, verlassenes Kind, dort lagst du und klagtest Gott im
Himmel an mit deinen großen, dunklen Kinderaugen. Armes Kind. Nun hast
du ein Dach über deinem rotgoldenen Haar!

Es ist nur das alte Dach meiner uralten Kauzburg, aber es ist doch ein
Dach.

Das schützt vor Staub und Regen.

Die Sonne läßt es freilich herein an der vermorschten Stelle
links, wo das Türmlein einst ragte, es ist die ~Sonne~ aber! Die
lachende, heitere, helle Sonne. Die Tauben gurren dort oben, wenn der
leuchtende Sonnenstrahl hineinblitzt in das dunkle Kauzgeschoß des
Kauzburgdaches, drum laß ich nichts dichten, nichts flicken. Ich habe
Angst, daß die Tauben dann nicht mehr dort gurren. Sie sind so wild,
meine Kauzburgtauben! Ganz heimlich muß man sie füttern, sonst sausen
sie fort in alle Winde und kommen erst heim, wenn alles still ist und
abendlich. Nur wenn Marianne sie füttert, bleiben sie sitzen, flattern
ihr nach und entgegen.

Aufs goldene Haar ist ihr kürzlich eine geflogen. Dort hat sie nach
Körnern gepickt. Hat sie geglaubt, dort goldene Weizenkörner zu
finden? —

Der Schalk von einem Mädchen!

Sie lachte, als ich sie fragte.

Sie hatte sich wirklich Körner ins goldene Haar gestreut. Die pickte
der Täuber auf. —

[Illustration]

Nun ist es da, das Gewitter!

War ~das~ ein Rumoren und Rollen den ganzen Nachmittag über am Himmel!

Erst zogen die dunklen Wetterwolken von Westen auf, dann ballte sich’s
drohend im Osten. Dann flammte es auf, mal hier, mal dort. Fahlgelb
das Leuchten, dumpfgrollend der Donner, schwül war die Luft und
totenstill zuletzt!

Kein Blatt am Baum bewegte sich.

Wie Bleiguß lag es totenstarr ringsum. Dann kam es näher und näher.

Kein Vogel zu sehn, kein Schmetterling. Es hatte sich alles
verkrochen. —

Hoch ragt die Kauzburg über die anderen Häuser empor. Ins Dunkle
hinauf, das über ihr so drohend murrt und zuckt.

Huhu, huhu, hör’ ich den Waldkauz kreischen. Nacht sei es, mag er
denken. So dunkel dräut das Gewitter.

Waldkauz, was schreist du so?

Huhu, nun ist es da, das Gewitter!

Wie es die Bäume packt und niederzwingt! Wie es flammt und züngelt,
zischt und leuchtet, grollt und rollt, schmettert und kracht, und
droht und beißt wie ein wilder Hund! Ist die Kette gesprengt, du
wütender Wolfshund? Wen willst du packen mit deinem Gebiß? Wen willst
du treffen, zerschmettern mit züngelndem Strahl, mit zermalmendem
Zischen, unter drohendem Toben der blitzzersprengten Wolken?

Tobe nur, Wetter! Ich lache deiner! Ich steh’ am Fenster der Kauzburg,
und ~die~ ist fest. Die hat schon manchem Gewitter getrotzt, schon
manchem Sturme standgehalten, schon mancher Blitzstrahl ist durchs
Gebälk gezischt, das alles hat sie überstanden. Zweimal schon hat das
Feuer geprasselt in ihren mächtigen Balken. Gegen die Steinmauern
war es machtlos und biß sich seinen Wolfszahn daran aus. Beiße nur,
Wolfshund! Ich ~lache~ deiner! Am Fenster stand ich und schaute hinaus
in die wilde hochbrandende Natur.

Da fuhr es prasselnd herab. Ein jäher, blendender Blitz. So blendend,
daß ich die Augen schloß. Gleich darauf ein knatternder Donnerschlag.
— Dann Stille, — dann wieder neues Toben.

Hat das der Kauzburg gegolten? Wolltest du beißen mit deinem
Wolfsgebiß, du wilder Wolfshund im stürmenden Wetter?

Du ~hast~ gebissen! — Pfui, schäm’ dich!

Den alten vielhundertjährigen Nußbaum hast du zerbissen. — Pfui,
~schäm’~ dich!

Da liegt seine Krone im Gartengestrüpp. Da fliegen angstvoll die Vögel
auf, die in den Ästen saßen. — Pfui, ~schäm’~ dich, ich sag’s dir das
drittemal!

Hol’ dir doch andere Opfer und laß die Kauzburg mit ihren Insassen
ungeschoren, du wüster, böser Gesell! —

Ich ging hinüber, wo Fräulein Bartel mit Marianne war. »Die werden
erschrocken sein«, dacht’ ich. Ich traf Fräulein Bartel in heller
Angst. Das Rosenkränzlein hielt sie in den zitternden Händen, und auf
dem Tische vor ihr stand ein hübsches, buntes Muttergottesbild.

»Das hat eingeschlagen, das hat gewiß bei uns eingeschlagen«, sagte
sie ängstlich.

»Dem Nußbaum hat es gegolten, Fräulein Bartel«, beruhigte ich sie.
»Draußen im Garten hat es eingeschlagen, nicht ins Forsthaus ......
Aber wo ist denn Marianne?« — — —

Ich sah mich um, sie war nicht da.

Nun sah sich Fräulein Bartel auch nach ihr um.

»Ich weiß nicht«, stotterte sie, denn eben fuhr wieder ein knatternder
Blitzstrahl unweit der Kauzburg ins Erdreich.

»Sie war vorhin noch hier.«

Ich hatte schon die Türklinke in der Hand.

Drüben bei mir in der Stube stülpte ich mir den Hut über, warf mir den
Lodenmantel um und eilte auch schon die Treppe hinab.

Es war so finster, daß ich die kleine Handlaterne gut gebrauchen
konnte.

Unten in der hohen, weiten Steinhalle schallten meine Tritte laut von
den Mauern wieder. »Marianne!« rief ich; keine Antwort. So eilte ich
denn durch den langen, gewölbten Flur nach der kleinen, ehemaligen
Mönchspforte, die am Ende dieses von der Halle nach dem Eingang zum
Keller führenden Ganges lag.

Schon stand ich an der niederen Pforte. Nur ein paar Schritte über den
Burghof hatte ich zu gehn, um an den Kellereingang zu gelangen.

Ich riß die uralte, schwere Eichentür auf. Kraft mußte ich anwenden,
so drückte der Gewittersturm von außen entgegen.

Nun schlug sie schallend zurück.

Ich trat hinaus in die furchtbare Sturmnacht.

Die große Linde im Burghof rauschte ächzend und bog sich fast zur Erde
mit ihrem hohen Wipfel. Über abgerissene Zweige stolperte ich.

Überall flammte und leuchtete es blutrot, fahlgelb und violett,
dauernd wurde das Stockdunkel durch Blitz und Wetterleuchten in
unheimlichem, jäh aufblitzendem, jäh ins Tintenschwarze wieder
vorübergehendem Glanz unterbrochen. Fast schmerzhaft den Augen.
Dumpfdrohend, gellkrachend, prasselnd, knatternd die Donner
dazwischen. Wütend kochte der Regen herab. Wie ein schäumender
Sturzbach fiel er herunter und hatte den Hof zu einem See verwandelt.

»Marianne, Marianne!« schrie ich in das Toben hinein. Antwort gab
mir allein die Linde. Sie fing ganz laut zu stöhnen an, in ihrem
Stamme begann ein ächzendes Geprassel, alle Äste von ihr erbebten und
zitterten und schlugen wirr ineinander. Mir war’s in dem blendenden
Wetterleuchten, als ob ich den ganzen hohen, gewaltigen Baum hätte
schwanken sehn, als ob er von seinem Platze, an dem er nun seit
Hunderten von Jahren stand, weitergeschritten wäre, mit wuchtigem,
schwerem, hallendem Schritt. Wie ein Riese tauchte er noch einmal
vor mir auf aus dem tiefen, tiefen, pechschwarzen Dunkel dieser
Teufelsnacht. Wie ein Riese stand er vor mir in dem jäh aufzüngelnden
Blitz, der die Abgrundtiefe dieses Gewitterhimmels zerschnitt, dann
begann das Sterben dieses Riesen.

Ein Krachen und Reißen entstand, das selbst die Stimme des Wetters
überklang. ~Auf~ rauschten wild die Blätter, Zweige schlugen mich ins
Gesicht, wie ein wütender, schriller Schrei tönte es plötzlich, — die
Herzwurzel war geborsten — dann stürzte der Baum zur Erde.

Der Sturm brauste wie ein Sieger über ihn hin.

»Marianne!« keuchte ich angstvoll.

Wo war das Kind der Straße bei diesem vernichtenden Unwetter?

Mit ein paar Sätzen war ich drüben am Tor des Kellers. Das Tor stand
auf. Schwarze Finsternis gähnte mir entgegen. Hoch hob ich die
Laterne, bückte mich und tappte die zehn steinernen Stufen, die unter
die Erde führten, hinunter. »Marianne!« rief ich da unten wieder.

Und siehe: Ein Lichtschein, kurz nur und spärlich, drang mir entgegen.

Sturm kam und warf hinter mir die Tür ins Schloß.

Abgesperrt von der Außenwelt stand ich, kaum konnte ich etwas sehn in
dem winzigen Blinken meiner Laterne.

Aber dort vor mir, dort aus der Tiefe der Lichtschein! Die Angst trieb
mich dorthin; die Angst hatte mich aus meiner Stube getrieben über den
Hof ins Unwetter hinaus, nun hier hinein in diesen dunklen Keller. Die
Angst? Um wen? Ja, um Marianne, das Kind der Straße. Ich mußte sie
sehn, mußte wissen, daß sie geborgen war, daß sie lebte ....

Und nun stand ich ihr gegenüber. Unweit von ihr stand ich. An diesem
seltsam schauerlichen Ort bei diesem seltsam schauerlichen Unwetter.

Bis hier hinein war das Toben und Tosen da draußen zu hören. Dumpf
drang es bis hier hinunter.

»Marianne!« rief ich sie leise an.

Sah sie mich denn? Hört sie mich?

Nach vorn gebeugt, spähend, mit gierig grübelndem Ausdruck in ihren
Augen stand sie im verschwimmenden Schein eines Lichtstumpfes, der
auf einem aus der Mauer hervorragenden Steinkopf aufgeklebt war, und
starrte auf die schwarzgrüne Steinmauer hin.

Ein mächtiger, mehrere Zentner schwerer Stein war dort aus der
Mauer gebrochen, herausgeschleudert worden wohl durch einen
herniedersausenden Blitz. Wie ein Felsblock lag er vor mir. Hinüber
klettern mußte ich, um an Mariannens Seite treten zu können: Jetzt
stand ich dicht neben ihr.

»Marianne, bei diesem Wetter sind Sie hier?« sagte ich voll Mitleid.

Sie wandte sich mir zu.

Ihre Augen brannten in einem triumphierenden Glanze, mit den Händen
zeigte sie nach einer gähnenden Öffnung in der Mauer. Ich folgte
dieser Bewegung und sah mit Erstaunen, fast mit einem Gefühl des
Grauens, in einen unterirdischen Gang hinein, in den der Lichtschimmer
unserer Kerzen zitternde Strahlen warf.

»Ein Gang, ein unterirdischer Gang?« rief ich erregt! »So ist’s kein
Märchen, was die Leute sagen? Ein Gang führt von diesem Keller ans
Ufer des Flusses unter der Stadt hindurch!«

Marianne faßte plötzlich meine linke Hand mit ihrer rechten und bog
sie herab, so daß meine Finger über die glatte Fläche der neben uns
liegenden, von der Gewalt des Blitzes herausgeschleuderten Steinplatte
fuhren, die diese Öffnung bisher vor den Augen der Burginsassen
verborgen hatte. Ich fühlte, daß in der Steinplatte etwas eingraviert
war.

Mit der Laterne beleuchtete ich die Platte. Was sah ich! Ganz deutlich
war die Figur einer Eule, eines Kauzes in den Stein geschnitten!

Marianne lachte vor sich hin.

»Eine Eule, ein Kauz,« rief ich, »ganz deutlich ein Kauz, ein Waldkauz
in diesen tausendjährigen Stein geschnitten! Ich nannte dich Kauzburg,
dich, mein Forsthaus, nun finde ich hier das Käuzchen in diesem Stein,
der älter ist, als Burg und Mönche und Ritter!

Und wie? .... Was sehe ich unter dir, du steinernes Käuzchen längst
verstorbener Zeit?

Eine Menschenfigur, einen Menschen in kniender Stellung, mit
aufgehobenen Armen, betend zu dir, mein steinernes Käuzlein, anbetend
dich als Gottheit! Ein heidnischer Stein, ein heidnisches Merkmal, ein
heidnischer Gott in meiner Kauzburg!

Was hab’ ich gesehn!

Kauzburg hab’ ich mein Forsthaus getauft! Dem Heidengott hab’ ich mein
Forsthaus wieder ausgeliefert mit meiner Taufe!

Oh, dreht euch nicht in euren Gräbern um, christliche Ordensritter und
mönchisches Kuttenvolk!

Vor euch hat hier der Heidengott, der Kauz des Waldes, der Nachtvogel
mit seinen großen, glühenden Augen gehaust! Ein Heidentempel ist vor
tausend Jahren dieses Ordenshaus gewesen; auf den verschütteten Ruinen
dieses Tempels haben ahnungslose Ritter diese Mauer errichtet.«

Ein Erdstoß ließ das Gewölbe erbeben, in dem ich mit Marianne stand.

»Kommen Sie, kommen Sie, Marianne,« drängte ich, »morgen, wenn
das böse Unwetter vorüber ist, morgen am Tage wollen wir den
unterirdischen Gang und die Steine hier untersuchen.«

»Nein, heute, jetzt«, sagte sie und wollte mich hineinziehn in den
schräg abwärts in die Tiefe führenden Gang.

»Torheit!« rief ich scharf.

»Kommen Sie, und seien Sie nicht wie ein törichtes Kind, Marianne!«

Da umklammerte sie mich plötzlich mit ihren Armen. Ich fühlte
ihre keuchende Brust an der meinen, ihr wogendes Haar spielte und
streichelte mein Gesicht, ihr schlanker Leib drängte sich an den
meinen, einen stechenden Schmerz empfand ich am Halse — schon ließ sie
mich los, schon griff ich ins Leere, als ich sie von mir fortstoßen,
nein, als ich sie an mich reißen wollte. Tiefe, stockdüstere,
sargtiefe Finsternis umgab mich. Mein Licht in der Laterne war
verlöscht. Ein leises Rascheln, ein Lachen vernahm ich, die Kellertür
flog auf, der Donner rollte, und die Blitze flammten, dann war’s um
mich wieder tintenschwarz und still. Dumpf nur hörte ich den Donner
über mir. Ich stand wie betäubt. Aber dann überfiel mich ein Grauen
vor diesem Ort. Ich tappte mich über den heidnischen Stein hinüber,
an der kalten Mauer entlang, bis an die Tür. Als ich sie geöffnet
hatte und die frische Nachtluft mir entgegenschlug, atmete ich tief
auf. Fern hörte man noch den Donner vergrollen, es wetterleuchtete und
flammte noch in den zerfetzten Wolken, aber durch ihre Lücken schien
mild und freundlich der Mond. Der Sturm hatte sich gelegt, der Regen
aufgehört, nur von den Zweigen der Bäume fielen noch einzelne, schwere
Tropfen herab.

Im Burghofe lag die Linde. Sie war vom Sturme geworfen, ich hatte es
nicht geträumt.

In ihren Blättern rieselten Wasserperlen und sickerten an der feuchten
Borke des Stammes, allmählich zu kleinen Wasserbächen sich sammelnd,
bis ins Erdreich, auf dem der Stamm nun lag.

Wie leid tat es mir, daß dieser Baum gefallen war. Und daß der Blitz
dem Nußbaum im Garten seinen Wipfel zerschmettert hatte. Dieses
Unwetter hatte mir die beiden liebsten Bäume geraubt.

»Dieses Unwetter hat mir auch endgültig meine Ruhe geraubt«, dachte
ich, als ich neben der gestürzten Linde stand. Ich wußte: es war nun
nicht mehr zu ändern, diesem Mädchen würde ich nicht länger widerstehn
können. Sie zog mich hinein in ihre goldenen Fesseln, die sie um meine
Schultern, über mein Gesicht geworfen hatte, sie hielt mich fest im
Banne ihrer dunklen, grausamen, nein liebeglühenden Augen.

Hatte ich sie zum Leid der Insassen in meine Kauzburg aufgenommen?
Zu meinem Leid? Zu meiner Wonne, meiner Lust? War’s Wonne, die ich
empfand? Oder war’s nur Gier, wilde Gier, die sie in mir entfacht
hatte?

Immer lichter wurde der Himmel. Immer zerfetzter die Wolken. Als ob
von einem zerrissenen Mantel die letzten Stücke über den Himmel gejagt
würden.

Wer hatte den Mantel zerteilt? Hatte man um ihn und seine Stücke
gewürfelt?

Ja, lächle nur wieder herab, Freund Mond! Scheinheilig und freundlich,
tückisch die Sünde erlaubend unter deinem unsicheren, sanft
einhüllenden Licht. Du buhlst mit der Sünde, du freuest dich, du
lachst, wenn unter dir gesündigt wird.

Eine wunderbare Ruhe war in die Natur getreten. Vor kurzem war alles
noch so wildbewegt, jetzt schien die Ruhe selbst ringsum zu atmen. Als
ich die breiten Steinstufen in meiner Kauzburg hinanstieg, klopfte
mein Herz wild und erregt. Draußen in der Natur war nach dem Unwetter
Ruhe geworden, der Sturm hatte sich austoben können, hatte sich
ausgerast.

Auf Sturm folgt Ruhe, auf Ruhe folgt Sturm. So will’s das große
Naturgefüge, das durch den Wechsel in seinen Lebensbedingungen lebt.

In mir war ein Sturm angefacht worden, ein wilder Sturm. Der wollte
ausbrechen, sich austoben. Drum konnte noch keine Ruhe sein.

Mit klopfenden Pulsen öffnete ich die Tür der Wohnstube, wo Fräulein
Bartel und Marianne sich für gewöhnlich aufhielten. Was würde ich
finden? Wie würde ich’s finden? War Marianne schon da? Hatte sie sich
verraten? Mich verraten?

Als ich eintrat, durchwärmte der trauliche Schein der Tischlampe den
Raum mit gemütlicher Ruhe. Am Tische saß Fräulein Bartel und strickte,
an der anderen Tischseite saß Marianne und las. Auf Fräulein Bartels
Gesicht lag wie eine Erlösung die stille Mondnacht von draußen.

Drum stand auch hübsch im Winkel das liebe, hübsche
Muttergottesbildnis.

Über Mariannens Augen lagen die zartweißen Lider mit ihrem seidigen,
rotgoldenen Wimpernbehang. Rotgolden lag’s auch wie ein Leuchten über
ihrem Köpflein. Der alte Feuerglanz, der alte Feuerzauber. »Ach,
Marianne ist schon lange hier, Herr Oberförster,« sagte Fräulein
Bartel, »sie war nur mal hinübergegangen vor die Tür, um das
Wetterleuchten besser sehen zu können.«

Ein feines, flüchtiges, nur mir verständliches Lächeln huschte über
Mariannens Gesicht.

»So, so«, meinte ich nur und sah auf dieses weiße Mädchengesicht,
diese fein durchaderte, weiße, über das Buch gebeugte Stirn.

Sah’s nicht aus, als ob dort eine junge, kindlich-fromme Heilige saß
und las?

»Herrgott, Sie bluten ja, Herr Oberförster!« schrie Fräulein Bartel
plötzlich und sprang auf.

»Ich blute?« fragte ich und griff unwillkürlich nach meinem Halse.

Hatte ich dort nicht einen stechenden Schmerz gefühlt? Vorhin, als
mich Marianne so heiß umschlungen hatte? Schon hatte Fräulein Bartel
einen Handtuchzipfel feucht gemacht und wischte mir das Blut von der
wunden Halsstelle ab.

»Ja, aber, was ist denn das? Das ist ja eine Bißwunde, man sieht ja
ganz deutlich die Zahnabdrücke, eins ... zwei ... drei ... vier ...,
mein Gott, Herr Oberförster, wer hat sie denn gebissen? Ein Marder?
Eine Katze?« Ich sah forschend nach Marianne hin, während das kleine,
alte Fräulein an mir herumwusch und -tupfte.

Ein grausames Lächeln, wirklich, ein unheimliches, wunderliches
Lächeln verzog Mariannens Mund. Unsinn! Ich bin erregt, bin einer
ruhigen Beobachtung nicht fähig. Sie lächelt ja gar nicht, ernst
blickt sie in das Buch!

»Eine wilde Katze ist’s gewesen, vielleicht ein Vampyr«, scherzte ich
und sah Marianne scharf dabei an.

»Nein, nein, Scherz beiseite, Fräulein Bartel,« sagte ich schnell,
als sie mit einem unbeschreiblich entsetzten und kindlich-hilflosen
Angstblick zu mir aufsah, »es ist eine Katze gewesen, die ich draußen
von mir abschüttelte, und die mich wütend ansprang, weiter nichts.«

»Weiter nichts, Herr Oberförster,« wiederholte sie ängstlich, »ein
Katzenbiß kann gefährlich werden. Marianne, geben Sie mir doch rasch
das Fläschchen, auf dem Karbol geschrieben steht, ja, ja, das ist
das richtige, so ... rasch ein paar Tropfen ins Wasser! ... aber
Sie müssen stillhalten, Herr Oberförster ... und nun das englische
Pflaster darüber ... nein, ich sag’ ja, was man nicht alles erleben
kann in solcher alten, häßlichen Burg.«

»Nun, nun, es ist ein ritterlich-christlicher Bau, mein liebes
Fräulein; denken Sie doch ... Ordensritter und Mönche!«

»Ja, freilich,« meinte sie erleichtert aufatmend, »fromme, gut
katholische Herren haben hier gelebt ...«

»Oh, wenn du wüßtest, was ich weiß!« dachte ich, »wenn du dabei
gewesen wärest, als ich das heidnische Steinkäuzlein entdeckte, als
mich da unten die rothaarige Wildkatze in meinen Hals biß!« Ist es
denn möglich? Ist denn dieses hier in der traulichen Stube dieselbe
Marianne?

Hat diese hier mich wirklich in solch rasender Gier umschlungen
gehalten? Hat diese Marianne, die ruhig und still Fräulein Bartel
hilft, als sei nichts gewesen, als hätte es kein Gewitter, keinen
Sturm, kein Kellergewölbe, keinen gähnenden, in die Tiefe gähnenden
Gang, kein steinernes Käuzlein gegeben, ... hat diese Marianne wie
eine Wildkatze mich in den Hals gebissen?

Sind das nicht Augen, so sanft wie Taubenaugen? Ist’s nicht ein
Lächeln, so sanft wie ein Lächeln der Heiligen? Rätselvoll sind diese
dunklen, fast nachtschwarzen Augen. Genau so rätselhaft wie der See
meiner Heimat im dunklen Walde. Der soll die Menschen, die sich in
seine schöne Flut zum Baden stürzen, in seine Mitte ziehn, sie nicht
mehr von sich lassen ... niemand mag mehr in seinem waldkühlen Wasser
baden, man sagt, daß schon vier Menschen ihr Leben in seiner Flut
haben lassen müssen ...

[Illustration]




Die Katholiken des Städtchens veranstalteten am heutigen Sonntag eine
Prozession.

Eine Bittprozession, daß nie wieder ein so furchtbares Unwetter wie
gestern das kleine Städtchen heimsuchen möge. Fräulein Bartel und
Marianne haben mich gebeten, daran teilnehmen zu dürfen.

Natürlich dürfen sie!

Wenn ich auch nicht glaube, daß es viel helfen wird, so mögen sie
immerhin gehen.

Auf den Berg drüben überm Flusse zur Kapelle hinauf soll
prozessioniert werden. Ganz friedlich, fromm und kirchlich. Mit
Fahnen, Thronhimmel und Gesang. Mit Kränzen, weißen Kleidern und
Jungfrauen vornweg.

Feierlich und schön wird’s werden, ein sehenswertes Schauspiel. Ich
kenne diese Prozessionen aus Schlesien. Schon als Knabe haben sie mir
gewaltig imponiert; stets sah ich voll ehrfürchtiger Spannung zu. —

Es liegt so viel kindlicher Glaube darin, daß sich eine das Weltall
leitende Gottheit durch ein solches Häuflein singender und betender
Menschen, durch ein paar bunte, von Menschenhand verfertigte Fahnen,
durch Thronhimmel und gestickte Gewänder, Weihrauch und Weihwasser
bestimmen lassen wird, gerade diesen Ort aus der Spannung der
Naturereignisse auszuscheiden.

Ich will hoffen: kindlicher Glaube. —

Jeder Glaube ist schön. Sobald er aus einem wirklich gläubigen Herzen
kommt, ist er erträglich. Bewußter Aberglaube ist unschön. Man soll
nicht glauben um irgendeines Vorteils willen, man soll nur dann
glauben, wenn man wirklich glaubt. So will ich mich denn auf die Mauer
stellen, dort, wo die Stufen in ihr Gestein gehauen sind.

Dort bergen mich die dichten Büsche des abgeblühten Flieders,
Goldregens und Ginsters. Von dort aus kann ich die Prozession von
weitem schon sehn, kann sie vorbeiziehn lassen dicht unter mir an der
Mauer, kann zusehn, ohne selbst gesehn zu werden. Über mir schlagen
die laubgefüllten Zweige eines Ahorns und einer Platane zusammen. Und
bilden ein schützendes Dach gegen die allzu sommerliche Sonne, den
allzu sommerlich heißen Tag.

Ihr armen Prozessionierenden! — schon höre ich Euren Gesang, schon die
sechs städtischen Musikanten mit ihren Trompeten, Pauken und Trommeln!
— — Bei dieser Hitze in langsamer Prozession! ... Im dicksten
Straßenstaube!

Das muß doch ein göttliches Herz erweichen.

Hinauf zum Himmel dringt mit dem Straßenstaube der Gesang, wie in
Wolken gehüllt wird er höher und höher getragen. Halt da! ... schon
biegen sie um die Ecke! Schon sehe ich die weißgekleideten Jungfern,
mit blühenden Kränzen im freigelösten braunen und blonden Haar,
sie streuen Blumen, ein anmutig Bild, und hinter ihnen die hellauf
singende Knabenschar in roten Chorröckchen mit brennenden Kerzen in
den reingewaschenen, sonst so schmutzigen Jungenhänden, ... nun der
goldbestickte, blausamtne Thronhimmel, an vier Säulen getragen von
vier ehrwürdig, von der Heiligkeit ihrer Handlung durchdrungenen
Männern, in langen, schwarzen Röcken, und unter dem Himmel der
Domherr mit der in seinen Händen hoch emporgehobenen, goldstrahlenden
Monstranz. Sie ist schwer, die Monstranz, drum werden seine Arme von
zwei jungen Pfarrern, die dicht neben ihm schreiten, gestützt.

Noch kenne ich den Domherrn nicht. Ich sehe ihn heute zum erstenmal.
Doch der Thronhimmel und die Monstranz verdecken sein Gesicht. Ich
sehe aber, daß ein rötlicher, mit Grau gemischter Haarkranz unter
seiner gestickten Bischofsmütze hervorquillt. Sonderbar, ist es die
Sonne, die seine Haare so rötlich erschimmern macht, just wie dieselbe
Sonne das Haar Mariannens so rötlich leuchten läßt?

Zwei Menschen mit solcher Haarfarbe in ein und demselben Städtchen?
Ei, Marianne, ich habe gedacht, daß deine Haarfarbe nicht zum
zweitenmal zu finden sei auf dieser schönen, im Sommerstaat prangenden
Erde.

Ein stolzer Mann, der Domherr. Wie schreitet er fürstlich fast unter
dem Himmel dahin. Wie schlank sieht er aus, wie vornehm in seiner
priesterlich-bischöflichen Pracht. Ja, ja, ~die~ Herren verstehn es
gar gut, auf ein harmlos gläubiges Menschenherz zu wirken.

Langsam schwankte die heilige Monstranz unter dem Thronhimmel an mir
vorüber.

Noch freute sich mein Auge an den in den blauen Samt gestickten
Goldsternen des Thronhimmels, dieses hübschen Himmelchens unter dem
großen Himmel, von dem die Sonne herablachte in ihrer goldflutenden,
ewigen Schönheit, da zuckte ich jählings zusammen.

— — Allein — dicht hinter dem Thronhimmel — ging Marianne. — — — Ein
weißes Kleid hatten sie ihr angetan, in das rotgolden leuchtende,
in langen Wellen über die Schultern wallende, seidige, köstliche
Haar hatten sie ihr einen blauen Vergißmeinnichtkranz gelegt, in
ihren Armen hielt sie, wie die Madonna, das Christuskind, ein aus
Wachs geformtes Engelskind, das mit weitoffenen, unveränderlich,
freundlich lächelnden Augen zu seiner Madonna, die es so sorgsam trug,
herauflächelte.

Und so schritt sie dahin! So schritt sie hinter dem bunten,
goldumstickten, hoch über allem schwankenden Thronhimmel, der das
Allerheiligste beschirmte, langsam, wie in holdem Traume träumend,
dahin.

Sie hielt das liebliche, weiße Gesicht gesenkt. Es sah so natürlich,
so selbstverständlich aus; die Mutter sah auf das lächelnde Kind in
ihrem Arme herab.

[Illustration]

Da hab’ ich nun das steinerne Heidenkäuzlein in meinem Hause, auf
heidnischer Stätte der grauen Vorzeit stehe ich, wollte ein Schauspiel
mir ansehn, nichts weiter: aber fromm ward mir im Herzen beim Zusehn
dieses Zuges der zu ihrem Gotte betenden, singenden Menschen, ganz
fromm ward mir ums Herz, als ich das weißgekleidete Mädchen erblickte
mit dem lichtweißen Gesicht, umflutet von dem feuergoldenen Rothaar,
in dem wie kleine Himmelssterne die tausend Vergißmeinnichtblüten
verstreut lagen.

Man greife ans ~Gemüt~ des Menschen, so wird er gläubig! Als Marianne
gerade unter meinem verborgnen Standpunkte auf der Mauer der Kauzburg
vorbeikam, hob sie ihr Gesicht. Ohne zu suchen, zu irren, trafen
mich wie zwei Pfeile die Strahlen ihrer Augen. Sie ~konnte~ mich
doch nicht sehn, aber sie sah mich. Ich fühlte es, daß sie mich sah.
Daß sie direkt in meine Augen sah. Ihre Augen schienen mich zwingen,
mich rufen zu wollen: »Komm von deiner Mauer herab, komm neben mich
und schließe dich diesem Betgang an!« Wende deine Augen von mir ab,
Verführerin! Wende sie fort, fort, fort! schrie ich ihr in ihre
Nachtaugen zurück. ~Wollte~ ich ihr hinabschreien, mitten hinein in
diese fromme Menschenmenge!

Mein Mund blieb stumm, nur ein Zittern in meiner in das Astzeug der
Büsche verkrampften Hand hätte sagen können von dem, was mein Herz
schrie, was mein Mund verschwieg. Ich folgte ihr mit meinen Blicken.
Ich sah ihr langwehendes Haar in den Strahlen der Sonne glühn und
gleißen, — ja, sahen denn die anderen nicht, daß in den roten Haaren
dieser demütig-frommen Heiligen, der man als Sinnbild das Engelskind
in den Arm gelegt hatte, — ja, ~sahen~ denn die andern nicht, daß
kleine Teufel in ihren roten Haaren herumsprangen und teuflische
Grimassen schnitten? — Viel Volk folgte noch nach. Ein schier endloser
Menschenzug. Jeder, selbst der ärmste hatte sein Haus verlassen, um
sich diesem Bittgang anzuschließen.

Der alte Bischofssitz von ehemals thront noch immer hier. — Nun
werdet ihr bald auf der Berghöh’ drüben sein, ihr frommen Sänger und
Bittgänger!

Vor der Kapelle, die dort oben zwischen den alten breitkronigen
Buchen und Eichen steht, werdet ihr singend auf die Knie fallen,
die geistlichen Herren werden vor den Altar treten und ihre
Beschwörungsformeln sagen, und lachen vom Himmel dazu wird die Sonne.

Sie lacht bis zu mir hinein in mein grünes Laubversteck, Goldblitze
tupft sie bald hier auf dieses dunkle Blatt, bald dort auf jene rote
Rosenblüte, bald blitzt zwischen den runden Kieseln zu meinen Füßen
ein Goldkorn auf, vom goldnen Sonnenstrahl getroffen, bald zieht sich
zitternd und flimmernd ein langer Goldstreif über den Gartenweg.
Ein goldner Himmel liegt um mich gebreitet. Ich möchte keinen
Zwischenhimmel haben. Durch nichts behindert, nichts entstellt, so
will ich ~meinen~ Himmel haben.

Seit Tausenden von Jahren geht nun das Suchen nach dem Himmel.

Menschen und Völker sind darüber zu Erde geworden, und andere haben
auf ihnen neue Tempel gebaut. Und jeder sprach: »Dies ist ~mein~
Tempel, ist ~mein~ Gott, und Nebengötter dulde ich nicht.«

Und all diese Himmel hat die Erde überdauert! Die Erde, aus der wir
kommen, in die wir gehn. Die schöne, frische, die lebenzeugende und
ewig junge Erde. Oh, Erde, wie lieb ich dich! In dir zu ruhn und
auszuruhn, muß köstlich sein nach Jahren des Lebens, nach Jahren
der Arbeit, nach Jahren der Freude und Trauer, nach Sonnentagen und
Regentagen, nach Sommertagen und Wintertagen, wenn grau das Haar
geworden ist und alt der Mensch. Wir suchen den Schlaf und freuen uns
seiner. Warum haben wir Furcht vor dem Schlaf in dir, Erde? Hatten
wir Furcht vor dem Schlafe, als wir noch schlummerten im Mutterschoß?
Hat uns das Leben feige gemacht? Wollen wir ewig leben? Wir kleinen,
winzigen Menschlein, wir? Wir würden die Ewigkeit stören, ihr ewiges
Weiterbauen und ewiges Neuerzeugen. — — — —

[Illustration]

Ich bin allein in meiner Kauzburg. Als einziger Mensch. Fräulein
Bartel und Marianne sind drüben auf jener schönen, waldverschlungenen
Bergeshöhe bei frommem Gesang und frommem Beten, benutzen will
ich das Alleinsein, hinuntersteigen will ich zu meinem steinernen
Heidenkäuzlein, eine Forschungsreise will ich in den unterirdischen
Gang unternehmen. Es ist Sonntag heute. Der Sonntag soll mich
schützen bei meiner heidnischen Fahrt in die Tiefe hinab! — —

Im spärlich lichtspendenden Schein meiner Laterne stand ich nun wieder
vor dem heidnischen Stein. Diesmal allein. Nicht wie gestern im Banne
von rotem, flutendem Haar. Genau forschte ich jetzt die Steinplatte
ab. Wirklich: unzweifelhaft blieb das Käuzchen im Stein und unter ihm
der betende Mensch. Ganz grob und ohne Kunst hineingeritzt in den
Stein. Aber deutlich erkennbar. Hier des Käuzleins große Rundaugen,
darüber mit zehn kurzen Strichen die gesträubten Federn des fauchenden
Vogels, an den Seiten die Federbüschel der Ohren, sodann die Flügel,
unten die Krallen der Füße, ein Eulenvogel war’s. Darunter der betende
Mensch! Die aufgehobenen Arme sind deutlich zu sehn. Hier dieser Kreis
mit den beiden Löchern übereinander, dem schrägen Strich zwischen
ihnen, dem wagerechten darüber und deutlich der Kopf. Die langen
Striche mit den fünf kurzen Ritzen an jedem Ende: Die Beine — kein
Zweifel: ein betender Mensch!

Hoch hob ich die Laterne und spähte in die Dunkelheit des Ganges
hinein. Er war so hoch gewölbt, daß ich fast aufrecht stehen konnte.
In schräger Steilheit führte er in die Erde hinein.

Nur Mut, ein Jäger kennt keine Furcht!

Langsam tappte ich vor. Schlüpfrig war der steinerne Boden.
Feuchtigkeit klebte an den Steinwänden, feuchtkalt und glitschrig
fühlte sich die Steindecke über mir an.

Holst du mich, Tiefe der Erde?

Willst du mir ein wenig lüften von deinem tiefen Geheimnis?

Was kennen wir denn von dir, du allgewaltiger großer Mutterschoß!

Die Schale von dir, die oberste, dünnste Schicht deiner Schale
durchfurchten wir mit unserer schwachen Kraft. Doch deine Tiefen
öffnest du nicht vor unserem Blick.

Flammendes Feuer, brandendes Brodeln, zischendes Kochen birgt tief
dein tiefstes Inneres. Und schickt ausstrahlende Kraft in den erdigen
Gürtel, damit er Leben hat und Leben hervorbringen kann.

Öffne dich, Erde! Öffne dich, ich dringe in dich hinein. Wie tief mag
ich sein? Kein Laut von außen. — Die tiefste Stille, die stillste Ruhe
um mich herum. Schwach leuchtet mein kleines Laternenlicht. Vorwärts,
Jäger! Ein Jäger kennt keine Furcht! — —

Es benahm mir den Atem.

Doch fühlte ich, daß ein leiser Luftstrom den Gang durchstrich. Also
mußte am unteren Ende eine Öffnung sein. Sonst hätte ich ersticken
müssen auf dieser unterirdischen Forschungsreise.

Immer weiter drang ich vor. Nur einmal hemmten Steine meinen Weg. Ich
räumte sie beiseite, kroch über sie hinweg und strebte vorwärts, nur
immer vorwärts. —

Halt? Hör’ ich nicht ein dumpfes Rauschen? Ist’s unter mir, ist’s über
mir?

Sag’ dein Geheimnis, Erde!

Siehe! Vor mir, weit vor mir in der Ferne malt sich ein schwacher
Lichtschein im finsteren Gange ab!

Das muß des Ganges Ende, das muß die Öffnung nach oben, zum Licht
der Erde sein! Steil ging es aufwärts — steil abwärts war’s bisher
gegangen.

Zum Licht empor, zum Leben jetzt!

Immer deutlicher wurde der erst so schwache Lichtschein. Wie ein
Schimmern drang es mir entgegen. Hoch über mir sah ich Felsenwände
aufwärts streben, sah grünendes Gezweig hoch aus den Steingeröllen
winken, — sei mir gegrüßt du schönes Sonnenlicht!

Ich kletterte dem Lichtspalte zu. Über Geröll und Steintrümmer hinweg
klomm ich aus der Erdtiefe empor.

Die Öffnung am Ende des unterirdischen Ganges, durch den ich wie
ein menschlicher Maulwurf gekrochen, war fast völlig mit Brombeer-
und wilden Himbeerranken zugewachsen. In reifer, schwarzer und roter
Fruchtfülle hingen die Zweige.

So viel als möglich schonte ich das Geranke. Es half aber nichts: mein
Weidmesser mußte mir freie Bahn schaffen. Zerkratzt kam ich endlich
durch die schmale Öffnung ans Tageslicht hervor.

Fast hätte ich einen Jubelruf ausgestoßen, so schön war, was ich sah.

Von allen Seiten strebten Berge in die Höhe; sie waren mit üppig in
hundert bunten Farben blühendem Gestrüpp und Buschwerk bewachsen.
Hängende Blütengärten schienen sie zu sein. Von allen Seiten
abgeschlossen und geschützt vor spähenden Augen lag dieses kleine
Tal. Ein in den Sonnenstrahlen spiegelnder Teich, in dessen klares
Wasser die Zweige der Buchen am Uferrande tauchten, lag verträumt und
still inmitten des Grüns der Wiese, die dem kleinen Tal als Boden
diente. Haselgesträuch mit reifenden Nüssen buschte hier und dort
und bildete lauschige Inseln im hellen Grün der Wiese. Weißstämmige
Birken mit ihrem lichten, zarten Blättergrün standen zu zwei’n oder
drei’n am Rande der Wiese, wo die Berge anfingen, und streckten ihre
jungfräulichen Wipfel ins dunkle Nadelgrün einer Fichtengruppe hinein.

Bunte Wiesenblumen unterbrachen das Grün der Wiesengräser mit
lebhaften Farben, Schmetterlinge umgaukelten die Blumen, Bienen
summten, Käfer blitzten mit ihren goldglänzenden Flügeldecken
im Sonnenlichte auf, Eichhörnchen hüpften fauchend in den
Haselnußsträuchern umher, ein rotbrustiges Finkenhähnchen schlug froh
und kecklich seinen hellen tönenden Finkenschlag, Goldammern huschten
im Grase, und Lerchen standen wirbelnd, und sich ins ferne Blau des
Himmels, der wie ein Auge in dieses heimliche Wiesental hineinsah,
höher schraubend, in der warmen, klaren Sommerluft.

Und dieses alles abgeschlossen und still verborgen vor der Außenwelt.
Man fühlte es: nie war die Außenwelt bis hier hinein gedrungen.

Große, behauene Steine fielen mir auf, die am westlichen Uferrande
des stillen Teiches lagen. Über die grüne, blumenbesäte Wiese ging
ich zu den Steinen heran und sah zu meinem Erstaunen, daß auch in
~sie~ wunderliche Figuren und Zeichen eingeritzt waren. Auch war
deutlich eine kreisrunde Anordnung der Steinplatten noch zu erkennen.
Unzweifelhaft stand ich hier an einer in grauer Vorzeit heidnischen
Opferstätte, an der zu den längst als unecht von uns neuen Menschen
abgesetzten Heidengöttern gebetet worden war. Vielleicht auch an einer
Stätte einstiger Menschenopferung.

So hatte ich hier einen sicher noch ganz unbekannten geheimnisvollen
Ort ehemaligen Heidentums entdeckt. Kein Mensch wußte etwas von diesem
allseitig abgeschlossenen kleinen, stillen Tal, das nun zu einem so
wunderschönen Fleckchen unberührter, köstlicher Natur geworden war.
Kein Mensch. Aber erschrocken fuhr ich zusammen.

Hatte es nicht geseufzt in meiner Nähe? Hatte ich nicht den
sehnsüchtig lockenden, leisen Ton einer menschlichen Stimme gehört?

Ich stand still und horchte. Aber mein lauschendes Ohr vernahm nur
den leichten Sommerhauch, der warm und wohlig durch die lichtgrünen
Birkenwipfel strich, nur den fröhlichen, hellen Finkenruf, nur
das Bienensummen, nur das plätschernde Hochschnellen der nach
den tanzenden Mücken schnappenden Fische. Doch nein! Dort klang
es deutlich zum zweiten Male! Dort, wo der Teich die bis unters
grüne Laubgebüsch sich hinziehende Bucht bildet! Geister der alten
Heidenzeit, seid ~ihr’s~, die ihr so sehnsüchtig, so liebeatmend
seufzt?

Seelen geopferter Menschen, seid ~ihr’s~, die ihr an diesem
sonnendurchstrahlten Sommersonntag ins Licht des Tages schwebt und nun
den Reigen Abgeschiedener an dieser stillen, so wonnig-schönen Stätte
tanzt?

Mensch, der du durch finsteren Erdgang in dieses zauberhaft
liebliche, von Sonnenlicht und Sommerwinden erwärmte Tal den Weg
gefunden hast, den keine anderen Menschen fanden, ist es dein
~eigenes~ Atmen, das du nur im Echo hörst? Nein, nein, mein eigenes
Atmen ist es ~nicht~! Ich muß ergründen, was an jener laubverhangenen
Bucht dort Leben atmet, Leben ausseufzt, sehnsuchtsvolles Leben. —

Ich schlich mich von Gebüsch zu Gebüsch. Schmetterlinge jagte ich auf,
die mit geschlossenen Flügeln an den Blütenkelchen der Wiesenblumen
gehangen hatten und, vom süßen Duft ermattet, eingeduselt waren, grüne
Heupferdchen hoppten, gestört aus ihrer Ruhe, im grünen, frischen
Wiesengras mit gewaltigem Satz empor, sobald mein Fuß die Grasrispen
erzittern ließ, Vögel flüchteten aus dem Haselnußgebüsch, an das
ich streifte, ein Eichhörnchen fauchte mich mürrisch an, wickelte
seinen Buschschwanz in die Höhe und wußte nicht recht, was es aus mir
Eindringling in diesem Versteck zwischen den Waldbergen machen sollte;
eine unschuldige Natter wand sich in das Wurzelwerk der Buche hinein,
hinter deren Stamm ich haltmachte, lauschte und spähte, — nichts
hörte ich mehr. Aber was erblickte ich, als ich die Zweige der Erlen
vor mir auseinanderbog? War es ein Spuk? Ein holder, teuflischer,
schöner, schrecklicher Spuk? Ein Spuk der Heidenwelt, in deren
erstorbene, längst vermoderte Vergangenheit ich eingedrungen war? War
etwa alles Spuk? Das kleine tiefe Tal? Der stille, spiegelnde, hier
so dunkeltiefe Waldteich? Die buntbeblumte Wiese? Die Bergeshänge
mit ihrem rankenden Gebüsch? Aus dem es blühte, duftete und Früchte
niederhangen ließ? O holder Spuk, o schreckensschöner Spuk!

Ich möchte fliehn, und fest gebannt steh’ ich und kann nicht fort!

Und ist’s ein Traum, dann halte noch ein wenig aus, du holdes
Traumgebild!

O Marianne, du hast mich ja bezaubert! Was hast du nur aus mir
gemacht! Ich seh’ dich ~vor~ mir, seh’ dein flutend rotes Haar! Bis
hier in dieses stille Tal folgt mir dein Bild. — Ja, Marianne! —

Dicht an dem Ufer des Waldsees lag sie lang ausgestreckt auf dem
Wiesengras.

Dort lag sie und schien im Schlaf. Sonnenschein sprang durch das
leichtbewegte Blattgerank der Erlen wie goldenes Blitzen über ihren
herrlichen, weißen Leib, der wie in Feuersglut getaucht erschien in
all der Fülle rotgoldenen Haares, das ihn umflutete und seine Blöße
verhüllte. Leicht über sie bis an den Busen hochgebreitet lag das
weiße Kleid, das man ihr vorhin beim heiligen Bittgang angetan hatte.
Blumen lagen darüber gestreut in allen Farben des glühenden, blühenden
Sommers. Auch an dem leuchtenden Rot der köstlichen, seidigen,
glänzenden Haarpracht hingen blaue Glockenblumen wie schwere, schöne
Himmelstränen.

Noch rieselten hier und da von ihrem weißen, sanft geschwellten Busen
kleine, glitzernde Wasserperlen ins Gras zu den Seiten herab, noch
lag’s wie ein feuchter Nebelreif über ihrem Haar. Sie mußte soeben
erst der klaren Flut des Waldsees entstiegen sein.

Wie bist du hierher gekommen? Woher, sag’ mir, woher kennst du dieses
stille, heimliche Tal? —

O wär’ ich geflohn in diesem Augenblick! Noch war es Zeit, noch Zeit
zur Flucht, zur Rettung!

Aber da hob sie das Köpfchen, die blendenden Arme, die weißen Hände,
da schob sie die wogende Haarflut zurück, da dreht sie langsam, ganz
langsam ihr holdes Gesicht mir zu, da wölbte ein Lächeln die roten
Lippen, da trafen — zwei sengende Strahlen — ihre Augen mitten hinein
in die meinen.

»Marianne!« schrie ich laut auf, dann leise, ganz leise, noch einmal:
»Marianne!«

Ich weiß es nicht, ob ich zu ihr hingestürzt bin, ob ich langsam, ganz
langsam über das Stückchen grüner Wiese, das mich von ihr trennte,
geschlichen bin. Vielleicht geschlichen wie ein Dieb, der stehlen
wollte. Weil man zum Stehlen ihn aufgefordert hatte. Ich weiß das
alles nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich vor ihr niederkniete, daß
ich ihre nackten Arme, die sich kalt und weiß wie Elfenbein mit
seinem fein getönten, fast nur geahnten Gelb in das rote Haargewoge
verschlungen hatten, an mich riß, daß sie sich selbst wie eine
aufbäumende Schlange gegen mich warf. O Marianne. — — — — — —

[Illustration]




Sonne, schöne Sommersonne, du versinkst hinter den hohen Domtürmen der
kleinen Stadt.

Die beiden Kreuze auf den Turmspitzen gleißen wie pures Gold.

Wohnt Gott in ihnen? Gott, der die Sünde bannt, von Sünde löst und
freispricht?

So sprich mich ~frei~ von meiner Sünde, Gott! — — —

Stilles, heimlich verborgenes Tal, dein Boden ist getränkt vom Blut
der Menschenopfer alter heidnischer Zeit.

Forderst du ein ~neues~ Opfer? — — —

In der Dämmerung schlich ich mich am Fluß entlang in das Städtchen
zurück.

Hatte ich nur geträumt? War’s Fieberwahnsinn, Fieberglut gewesen?

Hatte sich wirklich soeben erst lachend und keuchend mit flammenden
Augen und glühender Stirn ein zauberschönes Mädchen meinen Armen
entwunden? War fortgesprungen wie eine weißschimmernde Elfe mit
rotwallendem Mantel über das sanfte Grün der stillen Wiese im
Tal? Hatte grausam ihr Lachen geklungen? Und hart und spröde
und siegestrunken? Und sanft und girrend, lockend und drängend,
verführend, bezaubernd wie das Lachen der Zauberin Circe?

Neben mir klingt und singt der Fluß. Am Ufer drüben ragen im
Abendschein die Häuser, die Türme und Mauern der kleinen Stadt.

Ragt die Kauzburg hoch über die anderen Häuser hinweg. »Huhu, huhu«
schrien ein paar Käuzchen und flogen lautlos um die schlanken Pappeln,
die hier am Ufer stehen. Ganz still und unbewegt. So wie ich selbst
hier stehenblieb und stand, ganz still und unbewegt. Und in das
fließende, rinnende, immerfort fließende, immerfort rinnende Wasser
des Flusses starrte. Bis immer mehr der Abend niedersank und nur ein
letztes rotes Leuchten Kunde gab von einer Sonne, die verschwunden
war, um einer anderen Welt ihr Licht zu spenden.

Ein Glöcklein klang vom Dom. Das Abendglöcklein war’s. Dann fiel ein
zweites tieferes Glöcklein der evangelischen Kirche ein. Sie klangen
schön miteinander. Wie Schwester und Bruder. Aber die Menschen, die
ihnen zuhörten, waren nicht wie Schwestern und Brüder miteinander.
Sie befeindeten sich und bekriegten sich. — Schwestern und Brüder.
— Gestern war Marianne eine Schwester von mir gewesen und ich ihr
Bruder. Denn der christliche Glaube lehrt, daß wir Menschen alle
Schwestern und Brüder sind. —

Heute? Jetzt?

Wie kann man Bruder sein zu diesem Mädchen! Ich wußte es doch seit
Wochen, daß ich ihr nicht Bruder bleiben konnte. Warum hab’ ich sie
nicht von der Schwelle der Kauzburg verjagt? So hätte ich meine Ruhe
heute. So brauchte ich nicht so scheu wie ein Dieb in meine Kauzburg
zu schleichen. Ich fühle mich schuldig. Ich verfluchte das stille Tal,
den Waldsee, die sonnenfreudige grüne Wiese.

Und doch! .... Wenn ich zurückdachte ...... Marianne, ich bin ~dein~!
— — — — — — — —

Es war mir lieb, daß ich niemandem begegnete. Daß ich ungesehen in
meine Stube kam. —

Morgen werde ich ruhiger denken. — — — —

Um Mitternacht ging ich zu Bett.

Still lag die Landschaft im milden Mondschein um meine Kauzburg.

Eine sommerlich warme, ganz klare Nacht. Drüben in den Feldern zirpten
die Grillen. In weißen Gewändern hing der Nebel auf den Wiesen und
schwebte als weißseidenes Feintuch über den Fluß. Mir ward ruhig
zumute; wunderlich ruhig. Warum nicht immer so? Aber ist denn das Meer
zu jeder Stunde ruhig? Brandet es nicht zuzeiten in wildem Gischt an
den Strand? O Menschenherz, wie gleichst du dem Meer. Wie gleichst du
der Natur in ihrer sanften Schönheit, in ihrem wilden Sturm. —

Ihr fliegt um die Kauzburg, ihr beiden Käuzlein? Der Mond ist euer
Helfer und Freund bei eurer lautlosen Mausjagd. Auch mein schlesisches
Käuzlein mag nun im stillen, mondbeglänzten Wald auf seine Mäuslein
jagen. Und meine Mutter mag gerade die Hände falten und leise beten:
bleib brav und gut, du lieber Sohn. — O Mutter, Mutter! —

[Illustration]

Verstoßen könnte ich sie; fortstoßen mit den Füßen könnte ich sie!
Aber sie zieht mich in ihren Arm, ihr goldenes Rothaar schlingt sie
um meine Schultern, sie küßt mich voll Gier und voll Wonne, voll
trunkener Lust und seliger Wonne, sie trinkt mein Blut, und ihre
nachtschwarzen Augen sengen bis tief in mein Herz; ich reiße sie an
mich, ich zähle die Stunden, wo ich sie habe im stillen, kleinen Tal,
am dunklen Waldsee, im grünen Wiesengras, wo Schmetterlinge gaukeln,
wo das Finkenhähnchen seine Rufe schmettert, und wo es sonst so still
ist wie im Paradies.

Fortstoßen könnte ich sie; nein, niemals kann ich sie lassen; ~mein~
muß sie sein, ~mein~ muß sie bleiben. —

Merkt es denn niemand, niemand, daß ich ein anderer geworden bin?

Merkt es denn niemand, daß wir sündigen? Bin ich ein Doppelmensch?
Vor den andern der eine, vor mir der andere? — Aber die Sünde wird
zuletzt zur Gewohnheit. Das Gewissen schläft ein. Wozu es wecken! —

So gehen die Tage hin. Abwechselnd zwischen der Sünde und Pflicht. Die
Pflicht hält jener das Gegengewicht. Die Arbeit reißt mich wieder und
wieder empor, sie bringt mir die Ruhe und lenkt mich wohltuend ab.

Die Arbeit, die der Wald wie grünes Gezweig über mich ausschüttet. Daß
ich sein Jünger bin, sein Pfleger und Schirmer, ist meine Rettung.

O Wald, wie liebe ich dich!

Weißt du es, Bergwald draußen, was du mir bist? Daß ich mich an dich
anklammere, wie rankender Efeu am starken Eichenstamm es tut?

Mein lieber Bergwald, deine Luft macht rein und gesund. Gesund an
Seele und an Leib. Ja, bin ich denn krank?

Ach, trauter Wald, ich möcht’ es dir sagen. Ich möchte mich hinknien
auf hoher Berghöh’, wo ~du~ nur um mich bist mit deinem Rauschen, das
so kräftig klingt, so wunderschön, so stolz und ruhig, dort möcht’
ich zu dir sagen und reden von meinem tiefen Leid. Sieh’, keiner weiß
es, und keiner ahnt es. Wie mich umschlingt diese Zauberkraft, dieses
feuerglühende Haar, wie sie mich immer und immer in Fiebergluten
reißt, wie ich so machtlos bin im Banne ihrer grausigen Augen. Wie,
grausig sag’ ich und lache mich nicht selbst gleich aus? Sind’s Augen
nicht wie dunkle, schlummernde Tiefen des Sees? Des Waldsees, der den
Tag verträumt in stiller, kosender Ruhe? So sanft und weich, wie das
Wasser des Waldsees ist?

Kann denn ein Waldsee zum Tode locken?

Zur Tiefe, in der man ertrinkt mit ringendem Arm, mit verlöschender
Kraft, mit letztem Kampfe ums Leben?

Doch, doch! — — — Ein See hat Tiefen, die niemand kennt. Ich weiß von
einem, der lockt so weich, so kosend, doch was er an sich lockt, nie
wieder kehrt es ans Ufer zurück. Hab’ ich das Ufer verloren? — —

O, Bergwald, wie kühl und kraftvoll ist dein Atmen, dein Leben!

An dich, du starker Eichenstamm, hab’ ich mich angelehnt. Und
schaue hinab ins Tal zu meinen Füßen. Lau spielt der Sommerwind in
den Blättern der Eichen und Buchen. Wie grünes Flimmern im blauen
Himmelssommerglanz. Die Blätter sprechen, sie sprechen schön wie
Vogelsang und Vogelsingen. Zur Ruhe sprechen sie. Zum Frohsinn mahnt
ihr trauliches Rauschen und Klingen.

Zum Frohsinn in Ruhe. Das ist das Rechte! Ja, Frohsinn in Ruhe!

Das Leben lebt, und es lebt nur einmal, nie wieder. Weshalb denn
traurig sein?

Hab’ ich nicht ~dich~, mein Wald?

Durchspüle mich, rasch, durchspüle mich mit deiner kräftigen Waldluft!
Füll’ mir mein Herz damit, so widersteht es der Lockung, füll’ mir die
Brust, so werd’ ich sie dehnen und frischen Atem schöpfen, füll’ mir
die Kehle, so will ich singen dem Waldvogel gleich auf den wiegenden
Ästen der Buchen, füll’ meine Augen damit, so werden sie trunken ewig
schaun die Schönheit der Natur, der Wald- und Bergnatur, in der ich
Sünder stehe, erfülle mein ganzes Ich mit deiner reinen Würze, so bin
ich sündlos zur Stunde.

Und ~ist’s~ denn Sünde? Ist’s wirklich Sünde, wenn sich zwei Menschen
schrankenlos einander geben? Wozu denn Schranken? ~Frei~ will ich
sein von allen Schranken! Sind denn die Vögel in Ketten gelegt, in
Schranken? Ist denn der freie Hirsch, der durch die Waldgründe zieht,
gebunden? Muß denn das Füchslein erst bitten, wenn es die Hasen holt?
Der Wanderfalk, wenn er aufs Rebhuhn stößt? Frei, Frei! — — — Du bist
ein ~Mensch~, kein Falk, kein Hirsch! Bedenke es, du bist ein ~Mensch~.

O, teuer muß man erkaufen, ein Mensch zu sein. Denn Zucht und Sitte
binden. Und ~müssen~ binden, soll nicht die Allgemeinheit leiden.

Singt, singt, ihr Vögel in den grünen Zweigen! O singt, ihr seid ja
luftbeschwingte, freie Sänger!

Schreite stolz wie der Waldfürst durch die tiefen, atmenden Gründe,
du hochgeweihter Hirsch, du bist ja ein Hirsch, ein freier Hirsch des
herrlichen Waldes!

Schleiche, mein rotes Füchslein, schleiche hinaus ins Feld, durch das
wogende Meer der Halme, und greif dir das hoppelnde Häslein. Du bist
ja ein Waldfuchs, ein loser Gesell, brauchst keinen zu fragen: »Sag’,
~darf~ ich?«

Blauschimmernder Wanderfalk, Beherrscher der Luft, stoß herab, stoß
herab! An den Grabenrain hat sich das Rebhuhn gedrückt, kaum hebt es
sich ab im braunen Gefieder von brauner Erde. Doch deine pfeilscharfen
Augen sehen es ... Stoß zu, stoß zu! Wer sollte dich hindern? ...

Ich bin nur ein Mensch. Nichts weiter. Und hab’ mich an Menschengebot
zu halten. Und soll ihn gehn, den Tageslauf der Pflicht. Und ~wollt’~
ihn gehn und ~will~ ihn gehn. Wozu bist du, rothaarige Hexe,
dazwischen getreten in meine Pflicht und in den Tageslauf eines
Menschenseins?

Warum nur, warum?

Als Waisenkind, als Kind der Straße nahm ich dich in mein Haus.

~Bist~ du ein Kind der Straße?

Man hat dich auf der steinernen Schwelle des Klosters gefunden, in das
man barmherzig das elternlose, ausgesetzte Kind aufnahm. Doch niemand
weiß, woher du kamst.

Stammst du von Wesen ab aus einer anderen Welt, die wir nur ahnen,
niemals aber sehn?

Ich fand dich unter der Erde vor dem gähnenden Abgrund zur Tiefe,
neben dem Stein mit dem heidnischen Zeichen stehn, ~mein~ bist du
geworden im kleinen Tal, an heidnischer Opferstätte. Im heidnischen
Waldsee hattest du gebadet, noch perlten die Tropfen wie klare Tränen
von dem herrlichen Weiß deines Körpers, da riß ich dich, nein, ~du~
rissest mich in deine Arme, in all dein flutendes, sprühendes Haar — —
— wer bist du, wunderbares Zauberweib? Hast du die Macht, der Menschen
Seelen in dich einzusaugen? Hilf mir, Wald! Mach’ mich wieder frei von
ihr! Hilf deinem Grünrock, du schöner, grüner Wald! — — —

Im Mondschein ritt ich nach Hause. Über mondbelichtete Berge, durch
ein mondbelichtetes Tal.

An jedem Zweige hing wie ein Silberschein des Mondes Glanz, in seinem
Silberglanz gebadet schien das Tal.

So ritt ich der Kauzburg zu, und meines Reitpferdes Hufe tönten vom
Wurzelwerke, mit dem der Waldweg durchflochten war, dumpf zurück. Ein
unvergeßlich schöner Ritt.

Froh fühlte ich mich und frei.

Mit meinen Förstern, den ehrlichen, geraden Naturmenschen, war ich
zusammen gewesen, hatte die herbstlichen Schlagflächen mit ihnen
besucht, über die Pflanzen, die Saaten, über Wald und Wild, über den
Dienst und seine Forderungen hatten wir gesprochen, und fast unbewußt
hatte ich mein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.

Aber, je näher ich dem Städtchen und meinem Forsthause kam, desto mehr
wich die Ruhe von mir. Mein Gaul merkte es mit dem feinen Instinkt,
den Pferde und Hunde, unsere intimsten Hof- und Hausgenossen, für
unsere Stimmungen haben. Aufgeregt tanzte er unter meinen Schenkeln.
Und plötzlich stutzte er, sprang zurück, und stand zitternd still.
»Was hast du, Pascha?« sagte ich und klopfte ihm den Hals. Der
Mondschein lag hell über der Straße. Vor mir bauten sich klar und
scharf die Häuser des Städtchens auf. Ganz deutlich sah ich die
Kauzburg, jeden Schornstein konnte ich erkennen.

»So geh doch, Pascha, vorwärts!« Ich gab ihm etwas die Sporen. Da
schnaubte er und gehorchte. Aber als ich auf das mondhelle Feld
blickte, das unter dem alten Kirchhof, der dicht an der Gartenmauer
meiner Kauzburg liegt, sich hinzieht, fuhr ich im Sattel zusammen.
Eine weibliche, weiße Gestalt bewegte sich quer über das Feld auf mich
zu. Nicht schnell, nicht langsam, ganz monoton und traumhaft. Ich
erkannte sie sofort. Denn wie ein köstlich goldener, wie Feuerschein
lohender Mantel floß über das weiße Kleid das lange, gleitende Haar
und ließ sich bespiegeln von dem silbernen Schein des Vollmondes.

Es war Marianne.

Marianne, die mir die Ruhe geraubt hat, Marianne, meine Sünde.

Meine Sünde, mein Leid und meine wonnige Lust.

So kam sie über das mondbleiche Feld, so leuchtete ihr rotes Gluthaar
im Silberstrahl des Mondes. Ja, sah sie mich nicht? Ging sie im Schlaf?

Da fiel es mir jäh aufs Herz: sie leidet an der Mondsucht, mondsüchtig
ist sie und heute ist Vollmond.

»Marianne!« rief ich.

Da stand sie still und hob den Kopf. Und sah starr auf mich und mein
Pferd, und sprang wie ein schlankes Reh auf uns zu und hing an meinem
Halse, ich wußte nicht, wie.

Und hing vor mir im Sattel und herzte und küßte mich, und Pascha,
mein Gaul, ging ruhigen, stolzen Schrittes den schmalen Pfad, der zur
Kauzburg führt, hinan, und der volle Mond sah mit einem Lächeln auf
uns herab, und eine Wolke kam und hüllte des Mondes blasses Licht in
Dämmerung, und der Sommer blühte und koste in den Halmen, und ich,
ich hatte alles vergessen, was ich mir vorgenommen hatte, draußen im
frischen Wald, ich hatte dieses Mädchens Leib in meinem Arm, und so,
auf meinem Pferde, brachte ich sie heim zur Kauzburg, schlich mit ihr
heimlich wie ein Dieb in meine Stube ... Marianne, Marianne.

[Illustration]




Der Domherr ist heute bei mir gewesen, und machte mir seinen Besuch.
Lange war er verreist. In jedem Jahre macht er große Reisen.

Ich sah ihn vom Fenster aus ins steinerne Burgtor treten. Was tausend,
wie kann sich der Mann benehmen.

Gleich im Burghofe blieb er stehen und sah sich um. »Niemand da, mich
zu empfangen?« Jede Bewegung, sein ganzes Wesen sprach das aus.

Mein Forstlehrling kam aus dem Bureau, dummdreist wie immer. Je näher
er dem Domherrn kam, desto unterwürfiger wurde der Junge. Ich glaube
gar, er küßt ihm noch die Hand. Das fehlte gerade, er, der Sohn
evangelischer Eltern, der Lehrling eines evangelischen Oberförsters!
Ich hörte des Domherrn wohlklingendes Organ: »Ist der Herr Oberförster
zu Hause?« Ich sah, wie mein Lehrling bejahte und vor dem geistlichen
Herrn die Tür der Halle aufriß, ich hörte im Flur die Klingel, einen
Ausruf Fräulein Bartels, ich öffnete meine Stubentür und sah, wie
Fräulein Bartel ihrem Seelsorger die Hand küßte, sah seine segnende
Handbewegung, sah, wie Marianne fast auf die Knie sich vor ihm beugte,
sah, wie er auf ihr rotes Haar seine Hände legte und leise einen
Segen auf dies rote Haar — ach, dieses Haar, das mich verführte —
sprach, da richtete er seine hohe Gestalt auf, seine Augen trafen die
meinen ... ja, bin ich denn närrisch? Seh’ ich denn schon in allen
anderen Augen die Augen Mariannens? In jedes anderen Menschen Haar die
Haarpracht Mariannens? — — —

Der Mann vor mir ~hatte~ ihre Augen und ihr rotes Haar! —

Ich bat ihn, einzutreten. Er saß mir gegenüber. Sein kühnes, kluges
Gesicht hatte ich dicht vor mir. Er spricht gewandt, benimmt sich
wie ein Fürst, versteht es, sich angenehm zu machen durch flüchtig
hingeworfene Schmeicheleien, die sicherlich bei hundert Menschen
wirken werden — und doch — er ist mir unangenehm.

Warum?

Es ist eine solche Wahnsinnsidee! Ich muß krank sein, ja, ich ~bin~
krank. Marianne macht mich fieberkrank!

Ist’s nicht Wahnsinn, daß ich bei seinen Augen an Mariannens Augen
denke? Daß ich fortwährend die Farbe seines, um die Tonsur sich
wellenden, mit wenig Grau gemischten Haares mit Mariannens rotem Haar
vergleiche?

»Wie sind Sie mit dem Mädchen, das auf meine Empfehlung in Ihr Haus
kam, zufrieden, Herr Oberförster?« fragte er mich.

Sah er mich lauernd an? Hatte er nicht ein höhnisches Lächeln auf
seinem Munde? Hat er irgend etwas gemerkt? Weiß er ... mein Himmel,
weiß er etwa ... — Ich mußte wohl länger als schicklich geschwiegen
haben auf seine Frage, denn er fragte noch einmal und sah mich
verwundert an. Nur verwundert, natürlich, nur verwundert. Denn wo kann
er denn etwas wissen!

Ich wollte ihn doch über Mariannens Herkunft ausfragen! Und nun fragt
er ~mich~ nach ihr!

»Gut, ganz gut, Herr Domherr,« sagte ich und fuhr mir über die Stirn
— sei klug und sei wahr und verrate dich nicht, liebe Seele, redete
ich mir zu, »aber ich möchte Sie heute bitten, Herr Domherr, mir doch
etwas Näheres über des Mädchens Herkunft mitzuteilen, es interessiert
mich, da sie in meinem Hause ist und ich doch gerne wissen möchte, wen
ich im Hause habe, darum ...«

»Ich will Ihnen gerne sagen, was ich weiß«, unterbrach er mich ruhig,
und nur sekundenlang fühlte ich wie eines Messers scharfe Schneide
den Blick seiner Augen in den meinen: — »Dieses Mädchen wurde an der
Klosterschwelle als soeben geborenes Kind gefunden. Wir nahmen es in
unser Waisenhaus auf. In des Kindes Windeln fand sich ein Zettel mit
folgenden Worten: Nehmt dieses Mädchen im Namen Gottes, im Namen der
heiligen Mutter Gottes auf, so wird des Herrn und der Heiligen Segen
auf euch ruhen.«

»Und wie waren die Schriftzüge?« sagte ich, um etwas zu sagen, da er
schwieg und wie traumverloren zur Erde starrte.

Er fuhr auf.

»Wie? ... Was meinen Sie?« ... rief er.

Ich war ganz verblüfft über seine plötzliche Aufgeregtheit.

»Aber ich bitte Sie, Hochwürden«, sagte ich.

»Ach so, ... so, ... bitte, bitte ... Sie meinen die Schriftzüge?«
wiederholte er meine Frage und fuhr sich mit seiner schmalen Hand —
wo habe ich denn bloß solche Hand schon gesehen? durchfuhr’s mich —
über die Stirn. »Die Schriftzüge? ... Eines Weibes Handschrift war’s,
... wohl von der unbekannten Mutter dieses Mädchens ..., es ist lange
her ... man vergißt es ..., aber auch ~Sie~, mein Herr Oberförster,
tun ein gutes Werk, wenn Sie das elternlose Geschöpf in Ihrem Hause
behalten und ...«

»Ja, ja«, unterbrach ich ihn rasch, — ich hatte förmlich Angst, er
könnte sagen: »und es vor allem bewahren«.

Aber ~sie~ war es doch gewesen, ~sie~ hat jede Schranke durchbrochen,
~sie~ hat mich dazu gebracht! ~Ich~ habe mich gewehrt wie ein
Verzweifelter, immer, immer — gegen mich und mein eigenes Fleisch und
Blut habe ich mich gewehrt, übermenschlich, wie ein Ertrinkender sich
gegen die Wogen wehrt, bis er zuletzt doch ertrinkt, nein, trinkt,
trinkt, trinkt von dieser höchsten Lust und Wonne, aus dem Becher
dieses süßen, süßen Giftes!

»Ich wundere mich, Hochwürden, daß Sie Marianne in das Haus eines
evangelischen Hausherrn ziehen ließen«, sagte ich.

»Aber warum denn ~nicht~, Herr Oberförster, warum ~nicht~?« meinte
er lächelnd. »Ich wußte doch, daß Ihre Wirtin, Fräulein Bartel,
katholisch ist, daß Ihre Mutter selbst, mein Herr Oberförster,
Katholikin ist, ja, daß Sie selbst katholisch getauft sind, also
gehören Sie doch ~auch~ etwas ~uns~ an, sind ...«

»Ich bin ein Protestant, Hochwürden«, unterbrach ich ihn kurz und
scharf.

»Nun, nun, es war nicht schlimm gemeint«, sagte er mit derselben
Freundlichkeit. Bloß seine Augen sah ich einen Augenblick schillern.

Als er ging, wiederholte sich das Schauspiel des Handkusses und der
Segenspendung. Marianne kniete vor ihm nieder.

»Du warst lange nicht zur Beichte, Marianne«, sagte er, während er das
Zeichen des Kreuzes über sie machte.

Sie zuckte zusammen. Unmerklich. Aber er hatte es gesehen. Seine
tiefen, forschenden, dunklen Augen flammten auf.

»Du wirst zur Beichte kommen, mein Kind, nicht wahr?« Es klang sehr
ruhig, sehr gütig, aber es klang wie ein Befehl.

»Ja«, sagte Marianne gehorsam.

[Illustration]

»Dieser Mann hat große Gewalt über die Herzen der Menschen«, dachte
ich, als ich allein war. Wenn Marianne zur Beichte geht und ~alles~
beichtet, was wird sein?

Und dann rief ich mir die soeben mit ihm geführten Gespräche ins
Gedächtnis zurück.

Wie fein versteht er es, Schlingen zu legen. Er weiß natürlich ganz
genau, daß ich kein Kirchgänger bin. Daß ich im Walde immer am
besten die allwaltende Gottheit finde. Und nun sollte ich gar ein
ganz ansehnliches Häuflein von Heiligen und bestickten Fürsprechern
zwischen der Gottheit und mir haben? ... Ich mußte lachen. Nein, nein,
das wäre nun schon ~gar nichts~ für mich einfachen Sohn des Waldes!

Lieber sollt ~ihr~, meine lieben Bäume, Fürsprecher für mich sein!
Rauscht meine Gebete mit eurer grünen Blätterpracht dem lieben
Herrgott zu, erzählt ihm von dem Jägerlein, das an den Eichenstamm
sich lehnt mit aller seiner Sünde, all seiner Herzenseinfalt ~trotz~
aller Sünde, rauscht bittend dem lieben Gott ins Ohr: »Herr, geh’
nicht ins Gericht mit ihm, er ist ein ganz passabler Kerl und uns
viel lieber als mancher, der in der Kirche zu dir singt, schau ihn
dir an in seinem grünen Röcklein, lieber Gott, guck’ auch mal ~unter~
dieses grüne Röcklein, wo sein Herz sitzt, gönn’ ihm ein stilles
Plätzchen später mal zur ewigen Ruhe unter seinen Bäumen, dann wird er
schlafen dort gleich einem Dachs so schön und fest.« — Bin sonst nicht
neidisch: aber den Dachs beneide ich um seinen festen Winterschlaf.

Dächslein, komm in meine Kauzburg und bring’ mir deinen Schlaf mit.
Ich hab’ den ruhigen Schlaf verloren. Aber auch ~du~ würdest ihn
verlieren, sähest du dies rote fließende Goldhaar; oh, mein Dächslein,
mein liebes Dächslein, zu deinem Besten rate ich dir: bleib draußen im
Walde in deinem Bau! — — — —

Marianne kommt in die Stube und wischt Staub.

»Marianne,« sagte ich leise und trete an sie heran, »wirst du beichten
gehn? Wirst du ~alles~ beichten? Du ~kannst~ doch nicht alles
beichten, Marianne.«

»Hast du Furcht?« fragte sie und lacht, daß ihre Zähne blitzen. Und
umschlingt mich mit ihrem linken Arm und fährt mit dem rechten über
die Politur des Schränkchens. »Sieh, wie fein das nun blitzt und wie
sauber«, meinte sie, und drückte sich an mich wie eine Katze mit
weichem Katzenfell.

»Beichte, was du willst!« stoße ich hervor. »Aber bleib ~mein~!« — — —
— — — —

[Illustration]




Jetzt kenne ich den nächtlichen Spuk in meiner Kauzburg!

Daß ich nicht eher auf den so naheliegenden Gedanken kam! Seit
jenem Abend auf dem vollmondhellen Felde hinter dem Kirchhof an
der Gartenmauer meiner Kauzburg hätte ich wissen müssen, was zur
Vollmondzeit so ruhelos durch all die hohen Ordensräume dieses Hauses
schleicht. Armes Kind der Straße! Arme Marianne!

Ja, sie ist’s. Sie ist der ruhelose Geist der Kauzburg. Sie wird
von dem schlimmen Gesellen dort oben am nächtlichen Himmel mit
magnetischer Gewalt heraufgezogen, als wollte er damit sagen: »Seht,
sie ist nicht von eurem Fleisch und Bein, ihr Menschen habt sie
grausam ausgesetzt als kaum geborenes Wesen, nun will sie fort von
euch, nun sehnt sie traumverloren sich nach einer anderen Welt, nun
sucht sie ruhelos die andere Welt und kann sie nicht finden, und ich,
ich habe nicht so große Macht, um sie ganz an mich zu ziehen und aus
dem schweren Bannkreis eurer Erde sanft emporzuheben.«

Marianne, welch unendliches Mitleid krampfte mein Herz zusammen, als
ich dich langsam dahinschwebend am hohen Gesims der Kauzburg erblickte!

Ich hatte wach gelegen in dieser köstlich klaren, silberflüssigen
Vollmondnacht.

Zum Fenster schaute ich heraus und sah, wie’s silbern floß und strömte
um Baum und Strauch, um Feld und Wald, um Wiese und Rain.

Da kam es leise, ganz leise an der Tür vorbei, unhörbar fast, ich
ahnte es mehr, als daß ich etwas hörte. Wie ein seidenes, weiches,
ganz weiches Streifen und Rieseln, wie ein Seufzen, wie ein feines,
ganz feines und weiches Lachen. Es griff mir ans Herz, ich wußte nicht
warum, ich fühlte, wie meine Pulse klopften, wie sich’s schmerzhaft
zusammenzog in mir.

Von draußen zogen die Silberwellen des Vollmondlichtes durchs
offenstehende Fenster zu mir herein, auch fein und weich und leise.
Ein Fenster hörte ich klirren.

Da raffte ich mich auf und öffnete sachte die Tür nach der Halle.

Niemand zu sehn. Ich schlich den weiten, hohen Hallengang hinab, da
stand das Bogenfenster auf.

Ich beugte mich hinaus und schrak jäh und furchtbar zusammen.

»Marianne!« wollte ich schreien, aber gottlob erstickte ich noch den
Schrei.

Nur wie ein Ächzen kam’s über meine Lippen: »Marianne« ... Ja, da
schwebte ihre gertenhaft schlanke Pagengestalt hoch auf dem Rande
des Dachgesimses hin. Tief unter ihr, ganz tief und drohend ging’s
hinunter auf den felsgezackten Mauerrand. Ein einziger, kleiner
Fehltritt in ihrer grausigen Höh’, ein Stocken des Fußes, ein Zögern,
ein Nachlassen ihres Schlafzustandes, ein Aufwachen, ein Erwachen —
und zerschmettert lag sie da unten! Zerschmettert dieser herrliche
Mädchenleib, der für mich, ganz allein für mich in all seiner
berauschenden Schönheit blühte.

So ging sie sicher wie auf der breiten Straße unten im Tal auf ihrem
schwindelnden, schmalen Wege, ihr weißes Nachtgewand leuchtete wie ein
milchfarbenes Strahlenkleid, ihre Haarpracht schien Funken nach dem
silberglänzenden Licht, das sie in diese einsame Höhe emporgezogen
hatte, zu senden, und ich hier am Fenster, ich zitterte davor, daß sie
jemand anrufen und aus dem tiefen Geisterschlaf plötzlich aufwecken
könnte.

Wie kommt es, daß man in solchen Augenblicken zum alten Gott
zurückkehrt?

Daß man bei ihm und keinem anderen um Bewahrung, Schutz und Schirm
bittet?

Da schwöre ich nun auf mein Erdgeborensein, auf mein Erdenleben und
mein Erdensterben, da juble ich nun in den Wald hinaus: »Ich bin von
Erde und will wieder zu Erde werden, ich habe meinen Himmel auf der
Erde und sonst nirgendswo.«

Und heute, jetzt in dieser Nachtstunde, wo ich um jenes Leben
zittere, das wie gelöst von jedem irdischen Leben, umspült,
umschmeichelt von dem bleichen Mond, den Weg des Todes geht, heute
halte ich die Hände, wie’s der einstige Forstbub tat, und bete:
»Herrgott, der du über uns in Herrlichkeit und Macht und Güte thronst
.. Herrgott, himmlischer Vater, laß sie zurückkehren in meinen Arm von
ihrer furchtbaren Wanderung.«

Hatte mich Gott erhört? Gibt’s wirklich einen persönlichen Gott, der
auf Worte eines einzigen Wesens unter Millionen anderer Wesen hört?
Der milde und freundlich lächelnd wie ein guter Vater sich neigt und
spricht: »Dein Glaube hat dir geholfen?«

Denn siehe: Sie wandte sich um, sie drehte sich auf dem äußersten,
letzten Stein der Dachrinne, die über die Tiefe schwebte, um, sie hob
die Hände und schlang sie hinter dem feuersprühenden Haar zusammen
und schritt, das bleiche Gesicht wie in Sehnsucht gegen den Glanz des
Mondes erhoben, denselben Todesweg, den sie gegangen war, zurück.

Immer näher kam sie, immer näher. Oh, nur noch ein paar Schritte, nur
noch einen Schritt ... schon beugt sie sich in das Fenster hinein,
von dessen Öffnung ich zurückgetreten war, schon will sie durch die
Öffnung zurückschlüpfen in die sichere Halle, ... da wird drüben ein
Fenster aufgerissen, eine gellende Stimme ruft: »Marianne! Um Gottes
willen, Marianne ...!«

Sie zuckt zusammen, ihre Augen öffnen sich, ihr straff aufgerichteter,
schlanker Körper knickt ein, als ob die Macht, die ihn hielt, von ihr
genommen sei, aber schon bin ich vorgesprungen, schon hab’ ich sie
erfaßt, umschlungen, reiße sie in die Fensteröffnung hinein, reiße sie
~an~ mich, werfe mich zurück vor dem Sturz hinab auf die Steinmauer
tief unten, ... gerettet ... Gott, ich danke dir, gerettet!

Marianne lag ohnmächtig an meiner Brust. Fräulein Bartel kam den Gang
heraufgestürzt mit fliegenden Gewändern und wie wahnsinnig schreiend:
»Marianne, Marianne, Marianne!« »Ja, Marianne,« fuhr ich sie an,
»danken Sie Ihrem Herrgott, daß Sie nicht ihre Mörderin geworden sind,
Fräulein Bartel!«

»Ich? ... ihre Mörderin?« ... stotterte sie entsetzt.

»Ja, wissen Sie denn nicht, daß man Mondsüchtige nicht wecken, nicht
erschrecken darf?«

»Marianne? ... Mondsüchtig?«

Ganz fassungslos vor Schreck war sie. Und das versöhnte mich mit ihrer
Dummheit. —

Wir trugen Marianne auf ihr Zimmer und legten sie auf ihr Bett.
Sie erholte sich bald von ihrer Ohnmacht. Wußte sich auf nichts zu
besinnen.

Wir sagten ihr nichts.

In Vollmondnächten wird aber seitdem — ohne daß sie es weiß — ihre
Stubentür verschlossen. Vor ihrem Fenster ist ein Gitter.

Auch vor einigen der anderen Fenster. Dafür ist’s doch auch eine alte
Ordensburg.

[Illustration]

Tiefer Schnee deckt den Boden.

Dem Landmann ist’s lieb, daß die Schneedecke seine Saaten schützt,
und daß die Erde genügend Feuchtigkeit fürs Frühjahr durch die
Schneeschmelze erhält.

Noch ist das Frühjahr fern.

Noch denkt der Schnee nicht ans Schmelzen.

Noch sitzt er wie ein guter, mottenfreier Pelz auf der Erde. Auf
den Zweigen der Bäume liegt er wie eine hohe Schicht Streusel auf
schlesischem Streuselkuchen. Im Schlitten — ohne Schellengeläut —
fahre ich durch den Wald. Durch meinen Bergwald, den ich so liebe.
Über die Gebirgsbrücke hinüber. Aber der sonst so munter sprudelnde
kleine Fluß liegt im Dornröschenschlaf. Unterm Eise, vom Froste
eingeschläfert. Auf den holden Knaben, den Frühling, wartet das
Flüßchen. Der wird es mit rotknospendem Zweig berühren, mit Jauchzen
stromauf springen und überall sein holdes Antlitz zeigen, dann wird
mit Geknatter und Gekrach das Eis bersten, das Flüßchen wird anfangen
zu fließen, erst ganz verschämt und zagend, aber nicht lange wird’s
dauern, da haben wir das ganze muntere Plaudern und Plätschern wieder.

So schlafe denn wohl, du lieber Talfluß du!

Der Knabe Frühling wird dich wecken.

Am tiefsten still ist der Winterwald. Der hohe Schneeanhang am grünen
Nadelzweig, am trocknen vom Herbst her an den Ästen verbliebenen Laub,
— das hohe Schneepolster, das selbst auf kahlen Laubbaumzweigen liegt,
die weiche Schneedecke, die Waldwege, Waldstege wie eine Daunendecke
verhüllt, das alles macht stiller noch den sonst schon stillen Wald.

Auch die Singvögel singen nicht.

Sie weilen in wärmeren Landen und — blieben sie hier — so piepen sie
höchstens, wenn sie hungern, doch sie singen nicht.

Ich liebe den Winterwald. Fast mehr als den sommergrünen. Der
Winterwald spricht so deutlich von Ruhe. Von Ruhe und Schweigen. Und
Schlaf im Walde für ewig.

So rein sieht alles aus, so weiß, so grün darunter, wie frische Jugend
im Hermelinpelz. Hier scharrte ein Füchslein im Schnee, ich sehe seine
Spur. Dort ist ein Reh getrollt, hier hoppelte ein Hase, halt da ...
und ~hier~? Ein Wildschwein war’s, das ritterlichste Wild des Waldes.
Der Fährtenfinder Schnee verrät das alles. Er ist des Waldes Papier,
auf dessen Weiße alles schreibt, was durch den Wald schnürt, hoppelt
oder trollt.

Spät am Abend erst kam ich in die Kauzburg zurück. Es war so spät
geworden, daß ich mich wunderte, Fräulein Bartel noch aufzufinden. Ich
hatte ein für allemal angeordnet, daß sie mir mein Abendbrot in meine
Wohnstube hinstellen und zu Bett gehn sollte, wenn ich erst nach zehn
Uhr aus dem Walde heimkehrte.

Ich liebe es dann, den Abend allein für mich zu verbringen. Denn der
Waldfrieden, die Waldluft, des Waldes stille Schönheit hängen mir
an solchen Abenden noch in den Gliedern, es stört mich, wenn mir
dann irgendein Alltagsmensch Tagesklatsch und kleine Tagessorgen
vorplappert. Aber an solchen Abenden hatte Marianne immer am ehesten
Gewalt über mich. Sie, mit ihrer Waldnixenschönheit, mit ihrem weißen
Gesicht, aus denen wie zwei dürstende rote Brombeeren die Lippen
leuchten, mit ihren Rätselaugen, die geheimnisvoll sind wie das
nächtliche Walddunkel, mit ihrer roten, goldigen, sprühenden Haarflut,
ja, sie paßt zu dieser Stimmung, die ich an solchen Abenden mit heim
bringe. Oder sie löst vielmehr diese Stimmung in glühende Akkorde
auf. Was ich im tagtäglichen Leben nicht finde, glaube ich im Walde
und in der trunkenmachenden, liebeglühenden Schönheit Mariannens zu
finden. Eine Krankheit ist’s. Eine Krankheit der Seele. Ich glaubte
sie zu heilen, indem ich wie ein Kranker nach Betäubungsmitteln griff.

Es war mir daher direkt unangenehm, als mir heute am späten Abend
Fräulein Bartel oben in der Flurhalle entgegenkam. Verlegen, wie ich
sofort merkte. »Ach, gewiß irgendeine in ihren Augen große, in meinen
Augen kleine wirtschaftliche Sorge!« seufzte ich.

»Nun, Fräulein Bartel, noch auf?« fragte ich ziemlich unwirsch.

»Ach, Herr Oberförster, sie ist heute gekommen«, sagte sie und sah
mich ängstlich an.

»~Wer~ ist gekommen?« fragte ich.

»Nun, die Erika aus der Heide, Herr Oberförster.« Ich fing an, an
Fräulein Bartels Verstand zu zweifeln. »Erika aus der Heide, Fräulein
Bartel?« wiederholte ich maßlos verblüfft. »Ja, ich habe Herrn
Oberförster doch aber gesagt, und Herr Oberförster hatten doch nichts
dagegen«, meinte sie, ein wenig empfindlich.

»Nun tun Sie mir aber den einzigen Gefallen, mein liebes Fräulein
Bartel, und sagen Sie mir endlich klar und deutlich, wer gekommen
ist, was der Wer hier will, und zu welchem Wer ich meine Erlaubnis
gegeben habe.«

»Des Heidkönigs Tochter ist gekommen«, sagte sie.

»Ah!« ... nun fiel mir’s wie Schuppen von den Augen! Das hatte ich
längst, längst vergessen!

Ja, richtig, Fräulein Bartel hatte mich einmal gefragt, ob des
Heidkönigs — eines Lüneburgers Großgrundbesitzers — Tochter für einige
Zeit, solange der Vater im Auslande weilte, unter ihre Fittiche
kriechen dürfe.

Und nun war die Heidkönigstochter da. Wirklich da! ... Nun hatte
ich’s! Nun mußte ich mich drein finden. Drein finden, daß ein fremder
Mensch mir meine Hausruhe stören würde. Meine Hausruhe? ... Lieber
Gott im Himmel, Hausruhe hatte ich nicht mehr. Damals, ja damals, als
mich Fräulein Bartel fragte, hatte ich noch Hausruhe gehabt. Jetzt war
Leidenschaft und heimliche Sünde im Hause. Mein Herz war durchwühlt,
ein anderer war ich geworden.

Am liebsten würd’ ich die Heidkönigstochter gleich morgen wieder
einpacken und in ihre Heide zurückschicken ... Einen Beobachter im
Hause? Bis jetzt war nur Fräulein Bartel hier oben in meinen Räumen.
Die merkte und sah nichts von dem, was im geheimen hier geschah.

Merkte und sah es nicht, daß Marianne und mich die Sünde
zusammenhielt, daß Marianne wie ein schöner Dämon diese Räume und den
Herrn dieser Räume beherrschte.

Aber von jetzt ab dieses fremde Menschenkind.

»Wie ist sie denn?« fragte ich mechanisch, denn ich merkte, daß
Fräulein Bartel noch vor mir stand und mich ganz verwundert,
ordentlich erschrocken ansah.

»O, ein liebes, stilles Mädel ist’s, Herr Oberförster.«

»Ein liebes, stilles Mädel«, wiederholte ich ihre Worte. Weshalb
bewegten mich diese Worte so? War das nicht ein Traum, den ich immer
geträumt hatte? Ein liebes, stilles Mädel! ... Fort, fort ihr dummen
Forstbubengedanken! Vorbei, für alle Zeit vorbei ... »Ist gut,
Fräulein Bartel, gute Nacht«, sagte ich und fühlte mich auf einmal so
müde, ach, so müde.

»Wo ist denn Marianne? Was sagt ~sie~ denn dazu, ich meine, zu dem
neuen Bewohner, hm?« fragte ich noch nebenbei, und es war mir doch die
wichtigste Frage, die ich tat.

»Ach, Marianne, Herr Oberförster, aus ~der~ kann man nicht klug
werden. Sie war ja ganz freundlich zuerst, aber dann verschwand sie
gleich in ihrer Stube, ohne gut’ Nacht und so wie ein Geist.«

Lange blieb ich heute abend noch auf.

Also in meiner Kauzburg ist eine Königstochter.

Eine Heidkönigstochter. Gekommen aus einsamer, weiter Heide, wo die
Menschen weit voneinander entfernt wohnen in ihren in der weiten Heide
verstreut liegenden Gehöften.

Nun, es ist anzunehmen, daß dieses Heidkind wenig zu merken sein wird
und selbst ebensowenig wie Fräulein Bartel irgend etwas von dem merken
wird, was hier in meiner Kauzburg das Licht der Sonne scheuen muß. Die
Königstochter ist gekommen, ist da und wird wieder verschwinden. Ich
werde gar nicht wissen, daß sie wieder von der Bildfläche verschwunden
ist.

Aus ~meiner~ Bildfläche.

Was kümmern mich Königstöchter! Mögen sie Töchter wirklicher Könige
oder nur Töchter von Heidkönigen sein! Aber es ~gibt~ gar keine
Heidkönige, sondern nur diesen einen einzigen Heidkönig auf der ganzen
Erde. In seiner Art ist also der Mann ~mehr~ König als all die anderen
Könige.

Am nächsten Morgen begegnete ich der Heidkönigstochter in der
Flurhalle. Ich begrüßte sie freundlich und war gleich von ihrem
einfachen, schlichten Wesen sehr eingenommen.

Sie ist ein hübsches Mädchen, hat braunes Haar und braune Augen. Eine
Welt von Güte und Treue strahlt aus diesen Augen.

Sie würde zwischen anderen Mädchen sicher nicht auffallen. Aber allein
besticht sie durch eine eigenartige Lieblichkeit.

Sie ist wirklich eine Erika. Eine schlichte Heideblüte. Die erblüht
ist im einsamen Heidhof auf einsamer, weiter Heide. Nun, mein liebes
Heidekind, möchtest du, wenn du von hier wieder fortgehst, eine
freundliche Erinnerung an die Kauzburg mit hinausnehmen in deine
braune Heide!

[Illustration]




Du würdest Augen machen, glühende Kauzaugen, mein schlesisches
Waldkäuzlein, wenn du die beiden Mädchen in meiner Kauzburg sehn
würdest.

Marianne, dieses zauberschöne, schlanke, hochragende,
leidenschaftliche Geschöpf, mit seinen schwarzen Rätselaugen, mit
seinem feuerflammenden Gluthaar, und neben ihr Erika, die keusche,
treue, liebliche, schlichte Blume der Heide. Ich kann nicht recht
dahinterkommen, wie diese beiden Gegensätze miteinander stehen.

Man sagt ja, Gegensätze ziehen sich an. Nun, ~dann~ müßten die zwei
sich anziehen wie zwei Magnete, die im Weltall kreisen.

Wie sonderbar, ich komme mir vor wie der Forstbub im schlesischen
Wald. Und doch ist die schöne Forstbubenzeit im heimatlichen Wald
so lange schon vorbei. Aber Erika ist’s, das Heidekind! Das hat mir
gestern so viel erzählt vom stillen Wald in der Heide. Wie sie als
Kind sich dort verlaufen hat und Blumen pflückte, die gepflückten
fortwarf und wieder pflückte und gar nicht merkte, wie der Abend kam.
So recht nach Waldkinds Art. Und wie sie nirgends lieber hinlief
als in den Heidwald. Und wieder und wieder sich dort verlief, bis
die Hirten sie fanden. Die wurden aufmerksam durch das Geblök der
Heidschnucken, die sie durch den Waldbusch nach Hause trieben. Die
meldeten das Kind und blieben stehn, blökten und rupften die Blumen
aus ihren kleinen Händen.

Und nie ist dem Kinde im Heidwald etwas passiert. Der Heidwald schützt
die kleine, aufblühende Heidblume. Die nun in stiller Anmut erblüht
ist und unterm Dache meiner Kauzburg ist.

Zwei Blumen blühen in meiner Burg.

Eine rote, wilde Rose mit holdem und doch betäubendem Duft, mit Dornen
auch, die keiner Rose fehlen; eine Heidblume, Erika, eine liebliche,
stille Blume mit zartem Duft, eine Blume, die treu der einsamen Heide
bleibt und treu ausharrend ist in ihrem stillen Blühen. Nun ist sie
schon ein paar Wochen hier, wie doch die Zeit vergeht.

Wie ein Hauch des Friedens geht es durch die Kauzburg. Draußen liegt
tiefer Schnee, es ist Winter. In meiner Kauzburg ist’s sommerschön.

Marianne ist sehr wechselvoll in ihren Stimmungen. Viel ~mehr~ noch
als früher.

Ach, wie oft reißt sie den Frieden, in dem ich nun lebe, mit ihrer
Leidenschaft ein!

Und immer wieder unterliege ich ihrem Reiz und schlag’ mir den Frieden
um die Ohren.

Heute liegt sie zu Bett. Sie klagt über Kopfweh und Übelkeit. Ein
schrecklicher Gedanke kam mir. Um Gott, bloß ~das~ nicht. Das würde
mich unrettbar an sie ketten. Aber meine Angst ist grundlos; sie
lachte mich aus, als ich fragte, was ihr fehle. Sofort hat sie meine
Gedanken mir von der Stirn gelesen. Gott sei Dank, es ist nichts!
— Zum erstenmal saß ich des Abends mit Erika allein an dem großen
Tisch in meiner Stube; die Hängelampe warf ihren hellen Schein auf
die Tischplatte und ihr dämmeriges, dunkleres Licht ringsum auf
die gewaltigen Hirschgeweihe, die gut geperlten Rehkronen, den
Elchkopf mit seinen mächtigen Schaufeln, die beiden Wildschweinkämpfe
urgewaltiger Rassen, und das Heidekind, das seine Heide und sein
heimatliches, einsames Heidehaus verlassen hatte, erzählte mir von
seiner Heimat, der Heide.

Ich hörte staunend zu. Mir wurde bewußt, wie gerade die einfachsten
Landschaftsmotive Bilder von unvergleichlicher Kraft und Schönheit
geben können. Während dieses treue, schlichte Heidekind von seiner
geliebten Heimat in treuen, schlichten Worten sprach, aus denen man
wie eine zarte Blume die Herzenssehnsucht nach der Heide herausfühlte,
erstand vor mir die Heide, die weite blühende Heide.

Ich sah sie blühn in ihrem eigenartigen Braun und Lila der holden
Waldblume Erika, ich sah auf dieser einsam weiten braunvioletten
Heide die weiße Birke mit ihren hellgrünen zarten Blättern stehn,
jungfräulich in der jungfräulichen Heide, ich sah das dunkle Moor
mit seinem grauschwellenden Polster, mit seinen silbern schimmernden
Wollgrasbüscheln, die roten Doldentrauben der Eberesche, an denen die
Krammetsvögel picken und sich schon früh beim ersten Sonnenglühen dort
sammeln, ich sah dies schöne, ernste, wunderbare Sonnenglühen über die
Heide seine goldigrote feine Farbe legen, ich sah die Wasserflächen
einsamer Teiche unter dem goldigen, wärmenden Glanz der Morgensonne
aus ihrer Schwermut freundlich erschimmern, die hohen Wacholderbäume
wie hohe Lorbeerbäume von frohem Morgenglanz durchleuchtet, am
Horizont den dunklen Saum eines Waldgebüsches sich abheben, ich sah
die ganze ungeahnte Farbenglut wie Purpur aus dem Horizont sich heben,
immer weiter und weiter ihren roten Purpur verstrahlend, sah, wie die
Sonne stieg und stieg und nun dies verträumte Flimmern und Glänzen und
Zittern begann, das Nähe und Ferne in seine Märchenstimmung zieht und
allen Farben unsagbare Feinheit und Zartheit verleiht, und nun sah ich
den einsamen Hof, das einsame Heidehaus, das seine Heidblume Erika an
uns hier abgegeben hatte.

Ein Eichenwäldchen umgibt schützend und schirmend den einsamen Heidhof.

Von mächtiger Bauart ist das Herrenhaus mit seinem tiefhangenden
Strohdach, zwei Pferdeköpfe auf den Giebelseiten scheinen den
Fremdling begrüßen zu wollen mit lautem, tönendem Wiehern, über dem
Eingang ins Herrenhaus ein urgermanischer Spruch, er soll die bösen
Geister bannen und ihren Fluch abwehren; rings um das Herrenhaus
die holzgebauten Gehöfte, die Ställe, die Scheunen, der Speicher,
das Backhaus, unweit davon die Katen der Arbeiter, und als des
Hofes Wichtigstes der Steinbrunnen mit seinem gewaltigen, am nahen
Eichbaum hochgehangenen Brunnenschwengel. So ruht der Heidhof im
Flimmern stiller, träumender Mittagsonne; die Heidschnucken sind um
den Steinbrunnen gelagert, umschlossen das ganze Idyll von einem Wall
von Findlingssteinen im Osten und sonst von kunstvoll geflochtenem
Palisadenzaun.

»Fern von der Welt«, sagte ich, als sie schwieg.

»Ja, fern von der Welt«, wiederholte Erika träumerisch und mit einem
ungemein glücklichen, kindlichen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Mein Vater meinte, daß man fern von der Welt, auf dem einsamen
Heidhofe am glücklichsten lebe!«

»Recht hat Ihr Vater, und nun ist er ~doch~ in die Welt hinaus, sogar
in die weite Welt übers weite Meer!«

»Weil er ~mußte~«, sagte sie ernst, »es ist ihm bitter schwer
geworden, seinen Heidhof zu verlassen.«

»Seinen Heidhof, mehr noch seine Heidblume Erika«, sagte ich lächelnd.

»Ja, uns beide«, meinte sie ohne Ziererei, während ein freundliches
Lächeln ihr ernstes Gesicht erhellte.

»Der Heidkönig hat seine Tochter, die Heideprinzessin, unter den
Schutz meines Daches gegeben«, scherzte ich.

»Ach, wer hat das verraten?« fragte sie mit dem ihr eigentümlichen, so
wundervoll melodisch klingenden Lachen.

»Ja, es ist richtig, man nennt meinen Vater den Heidkönig und mich die
Heidkönigstochter; wohl weil von alters her unsere Eltern und Ureltern
auf diesem Binnenheidhof sitzen und wir den größten Eigenbesitz in der
Heide haben.«

»Ein kleines Fürstentum ... nun, wenigstens ein Grafentum, ja, ja!«
rief ich.

»Aber von dem Grafentum sind nur vierhundert Morgen unter dem Pfluge,«
sagte sie lachend, »alles übrige ist Wald, Heide, Moor und Bruchland.
Hei und Holt sin dem Buren sin Stolt!«

»Nun, Heide und Holz sind nicht nur des Bauern Stolz, Fräulein Erika.
Auch wir Grünröcke sind stolz auf unser Holz!«

»Haben Sie schönen Wald?« fragte sie.

»Morgen nehme ich Sie mit in den Wald, Fräulein Erika. Ich muß hinaus
in einige Holzschläge, und da sollen Sie den schönsten Bergwald, den
es gibt, in weißem Schneeglanz sehn.«

»Gerne fahre ich mit und freue mich sehr darauf. Werd’ ich auch Heide,
weite, weite Heide sehn?«

»Nein, weite Heide nicht. Nicht solche Heide, wie Ihre Heimatheide
ist, holde Heidkönigstochter. Die gibt es hier nicht; ich wünschte,
ich könnte sie Ihnen herzaubern.«

Einen Augenblick zog sich betrübt ihre Stirn zusammen und sie blickte
auf das vor ihr liegende Heidebild, das sie mitgebracht hatte, herab.
Gleich darauf schaute sie aber auf und blickte mir freundlich und
schelmisch in die Augen.

»So werde ich denken, daß hinter dem schönen Bergwald, in dem wir im
Schlitten fahren werden, die weite Heide liegt, und daß ich sie bloß
des Waldes wegen nicht sehen kann«, sagte sie.

»So ist es brav und hübsch von Ihnen, Heideprinzessin. Sie werden ja
wieder zurückkehren in Ihre einsame, schöne Heide, und ich muß hier
bleiben, wo ich bin.«

Ich weiß nicht, ob in meinem Ton, mit dem ich das sagte, etwas
Zerrissenes, Trübes lag. Denn sie sah mich einige Sekunden ernst und
prüfend an.

»Hier ist es doch ~auch~ schön und einsam. Wenigstens können Sie doch
so viel Einsamkeit haben, wie Sie wollen, nicht?« fragte sie dann.

»Ich möchte Einsamkeit und Ruhe haben, ja«, stieß ich unwillkürlich
hervor.

Ach, dieses unverdorbene Heidekind mit seinen unschuldigen Augen, die
schelmisch und träumerisch, lieb und gut blickten, ahnte ja nicht,
was in mir vorging! — Ahnte ja nichts von der Sünde, die durch dieses
Hauses Räume schlich, ahnte nichts von dem Zauberbann, unter dem ich
mich krümmte und wand, ahnte nichts von den roten Haarfesseln, die
mich umschlungen und fester hielten als Eisenketten.

»Erzählen Sie mir doch noch von Ihrer Heide, bitte, bitte, liebe
Heidkönigstochter, ich werde so ruhig und still dabei, wie der
Forstbub es wurde, wenn ihm die Mutter Märchen erzählte.«

Wieder traf mich ihr ruhig-ernster und prüfender Blick.

»Was sind denn zum Beispiel die Lieblingsgerichte der Heideleute,
hm?« fragte ich scherzend. Nun machte die Heidkönigstochter zwei
Schelmenaugen.

»To hungern brukt hi keen, so heißt es bei uns in der Heide!« sagte
sie fröhlich.

»Unsere Lieblingsgerichte wollen Sie wissen? Ei, so muß ich mit dem
Buchweizenpfannkuchen beginnen. Den ißt der Heidjer am liebsten. Auch
ich als Heidjerin. Aber auch Buchweizengrütze und Buchweizenklöße,
dann Erbsen und Kohl wie der Hase draußen, der sich sein Teil davon
zu holen weiß, Bratbirnen und Speck und Quetschkartoffeln mit
Buttermilch, ja, ja, to hungern brukt hi keen!«

»Weiß Gott!« rief ich laut lachend, so laut und froh wie seit langem
nicht, »to hungern brukt dort keen!« ... »Eins haben Sie noch
vergessen, Heidetochter, ... den Heidschnuckenbraten!«

»Schnuckenbraten gibt es nur am Sonntag«, meinte sie, »und wenn eine
Hochzeit gefeiert wird.«

»Haben Sie besondere Hochzeitsbräuche in der Heide«, fragte ich.

»O ja, noch den Brauch des Brautheischers«, erwiderte sie.

»Wie ist denn das, Fräulein Erika?«

»Nun, der Brautheischer tritt in die Diele des Brauthauses, schlägt
mit einem langen, mit Heideblüten bekränzten Stabe an den Dössel
des Tores und heischt feierlich dreimal die Braut, und ist sie ihm
überliefert, so zerbricht er den Stab und wirft die Stücke in das
flammende Feuer des Fletts.«

»Des Fletts?« fragte ich.

Sie sagte: »Das ist der ebenerdige Raum, in dessen Mitte die
Feuerstelle mit Feldsteinen ummauert sich befindet. Ein wichtiger
Platz, denn an ihm werden Knecht und Magd gedungen und gekündigt, von
ihm aus tritt die Heidetochter den Weg an in das Haus des auserwählten
Ehemannes.«

»Wie feierlich und ernst löst sich das Kind der Heide doch vom
Herdsitz seiner Väter!« sagte ich lächelnd.

Sie sah mich verwundert an.

»Es ~ist~ doch auch feierlich und ernst, wenn die Tochter den Hof der
Eltern verläßt, um dem Manne ihrer Wahl zu folgen und seine Hausfrau
zu werden.«

»Und wenn die Eltern dagegen sind? Nicht wollen, daß ihre Tochter
seine Hausfrau wird? Fliegt dann nicht das Töchterlein manchmal dem
Vöglein gleich heimlich ins Freie? Hinaus aus dem Herdsitz der Väter?
Hinüber zum Heidhof des Geliebten?« scherzte ich.

Ich vergaß, daß ein reines Heidekind mir gegenübersaß; vergaß, daß nie
der Saum ihres Kleides etwas Sündhaftes berührt hatte, vergaß, ach ich
vergaß, daß ich, ich nicht mehr den Saum ihres Kleides berühren durfte.

Sie gab keine Antwort. Nur wie in schmerzlicher Trauer und Scham
senkte sie den Kopf und blickte von mir fort, zum Fenster, durch das
der weiße Schnee unterm Mondglanz hineinblickte.

»Sei’n Sie mir nicht böse, ich ~bitte~ Sie, sei’n Sie mir nicht böse!«
sagte ich rasch und dringend. »Sie ~dürfen~ mir nicht böse sein,
Erika, Sie sind doch ein Schutz für mich, Sie sind doch der Frieden,
die Ruhe für mein Herz!« Ich wußte kaum, was ich sprach. Plötzlich
überfiel mich mit schrecklicher Wucht dieses unglückselige Verhältnis
zu Marianne! Diesem reinen Heidekind gegenüber kam es wie eine
förmliche Verzweiflung über mich. Immerfort schrie es in mir: »Könnte
ich ~dir~ doch ~so~ in deine Augen schauen, wie ~du mir~ mit deinen
reinen Heideaugen in meine Augen blickst! O könnte ich das, ach könnte
ich das!«

Da wandte sie ihren Kopf wieder zu mir hin. »Ich bin Ihnen nicht
böse«, sagte sie so warm und herzlich, wie eine Mutter zu ihrem Kinde
spricht. »Weshalb sind Sie denn so sehr, so furchtbar unglücklich?«
Und ihre Augen blickten mich hell und klar wie zwei Sonnen
durchdringend an.

»Ich unglücklich? Ach, Unsinn ... ich bin ja ganz vergnügt und
glücklich!« rief ich hastig. Sie schwieg eine Weile und schaute mich
ruhig dabei an.

»Nein«, sagte sie dann und schüttelte den Kopf, »Sie sind unglücklich
über etwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber sagen Sie’s mir doch, ich
möchte Ihnen so gerne helfen.«

Vielleicht wäre ich vor sie hingekniet nach diesen Worten, vielleicht
hätte ich meinen Kopf in ihren keuschen, unberührten Schoß gelegt,
vielleicht hätte ich dann den Mut gefunden, ihr alles zu sagen,
sie um Erlösung und Rettung gebeten, vielleicht hätte sie mit ihren
Händen dann leise und lind über meine brennende Stirn gestrichen, ach
vielleicht, vielleicht.

Da ging die Tür auf. Nicht heftig und laut. Leise und wie von selbst.
Und im Rahmen der Tür stand Marianne im langen, weißen Nachtgewand. So
leise war sie gekommen, daß Erika einen halblauten Schrei ausstieß und
erschrocken vom Stuhl aufsprang.

Aber ich erschrak nicht. Ich kannte ja Mariannens Wesen. Ich blieb
ruhig, ganz ruhig. Und hätte sie erwürgen können, daß sie gekommen
war. Daß sie diese eine friedvolle Stunde für mich abkürzte.

Aber als ich sie so stehn sah, als ich ihr lilienweißes Gesicht mit
den dunklen, nachtschwarzen, gierigen Augen, mit den blutroten,
vollen Lippen, als ich die Funken, die der Mondstrahl über ihr rotes
Haargewoge verstreute, schaute, da war ich wieder in ihrem Banne. Da
kam wieder diese Gier nach ihr langsam wie eine Schlange über mich
gekrochen. Sie stand noch immer schweigend in der Tür und sah mit
einem lauernden, gespannten Blick auf Erika.

Ohne ein Wort der Erwiderung drehte sie sich um und war ebenso leise
und lautlos, wie sie gekommen war, verschwunden.

Ich beruhigte zunächst das Heidekind und suchte ihr auszureden, daß
in Mariannens Wesen irgend etwas Besonderes gelegen hätte.

Erika ließ mich ruhig sprechen und sah still vor sich hin. Ob sie
gemerkt hat, daß ich mit Marianne anders stehe, als ich sollte?

Ich nahm mir vor, mit Marianne ernstlich zu sprechen. Erika ~darf~
nichts ahnen, nichts merken. Dieses unschuldige, treue, stille und
fröhliche Heidekind.

»Du willst sie mitnehmen in den Wald?« sagte Marianne, als sie am
nächsten Morgen zu mir in die Stube kam.

»Ja, ich will sie mitnehmen. Warum auch ~nicht~, Marianne? Diese
Heidkönigstochter bringt mir den freien Atem der Heide ins Haus, sie
bringt mir Ruhe, Frieden und Fröhlichkeit des Herzens, denn ihr ganzes
Wesen ist Ruhe, Frieden und Fröhlichkeit des Herzens.«

Spöttisch kräuselten sich ihre roten Lippen.

»Du willst frei sein? Wohl von ~mir~?« fragte sie langsam, während in
ihren dunklen Augen jenes rätselhafte, dämonische Funkeln trat, das
ich ... ja, das ich ... fürchtete.

»Frei sein? Von dir, Marianne?« wiederholte ich mechanisch.

Ich lachte bitter auf.

»Liebst du mich nicht mehr?« fragte sie.

»Ja, ja, ja, Marianne, ich liebe dich noch immer!« rief ich, »aber
deine Liebe ist das Gift meines Lebens.«

Ein merkwürdiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Gift«, wiederholte sie
leise, kaum hörbar.

»Gift tötet, nicht wahr?«

»Was fragst du sonderbar, Mädchen! Ja, Gift tötet!«

»So werde ich dich also töten, langsam töten, und du wirst niemals
jener anderen gehören, die in dein Haus gekommen ist, und die dich ...«

»Nun, Marianne, die mich ...?« fragte ich, als sie schwieg.

»Ach nichts!« fuhr sie auf. »Nimm sie nicht mit in den Wald, ich
duld’s nicht!«

»Und doch werde ich sie mitnehmen!« schrie ich sie an, »soll ich wie
ein Knecht dir gehorchen?«

»Es ist gut, nimm sie mit«, erwiderte sie ruhig. »Nein, nein!«
jammerte sie dann plötzlich auf, »mein sollst du bleiben, mein!«

Und sie warf sich an mich, umschlang mich fest, daß mir fast der Atem
verging, und brach in ein ungestümes Weinen aus.

»So beruhige dich doch, Marianne, denke doch, wenn jemand kommt.« Im
selben Augenblick war mir’s, als ob ich im Spiegel die Tür sich öffnen
und Erika in ihrem Rahmen stehn sähe.

Aber ich hatte mich wohl getäuscht. Sekundenschnell war diese
Täuschung gewesen. Mein Himmel, bin ich denn schon so weit, daß ich
Halluzinationen habe?

Marianne beruhigte sich schließlich.

Man merkte ihr nichts an, als Erika hereinkam, freundlich und gütig
und sanft wie immer.

Mir kam’s aber vor, als läge ein eigentümlich trauriger Ausdruck in
den lieben, stillen Zügen des Heidekindes.

»Adieu, Marianne«, sagte sie und reichte ihr die Hand. »Ich freue
mich, daß ich einmal in den Wald komme, ich bin doch ein Waldkind. Nur
dieses eine Mal möchte ich mitfahren, darf ich?«

Ganz leise sagte sie die beiden letzten Worte, aber ich hatte sie doch
verstanden.

Marianne stand und blickte sie an. Und als sich ihr Erika entgegenbog,
hielten sich die beiden Mädchen plötzlich umschlungen. Ich tat, als
hätte ich nichts gesehn. Was mögen sich diese vier Mädchenaugen dort
gesagt haben?

Marianne, Marianne, ich traue dir nicht. Meinst du’s ehrlich mit
der lieben Heidkönigstochter? In ihrer Seele liegen keine Abgründe,
keine Tiefen wie in deiner Seele. Das Kind der Heide ist treu und
gut und hat den Glauben an die Menschen. Soll ich sie warnen vor den
Menschen? In der einsamen Heide lernt man die Menschen nicht kennen.
Die Heidemenschen sind nicht gleich uns. Anders geartet sind sie. Sie
wohnen weit voneinander auf großer Fläche. Einer nimmt dem andern
nicht sein Brot, nichts nimmt er ihm von Luft und Sonnenschein.

Nichts von Liebe. Denn wenn das Heidekind liebt, dann liebt es
in Zucht und Ehren. Es liebt treu und innig, fest und still. Das
Heidekind weiß nichts von unzüchtiger Liebe und Leidenschaft, will
nichts davon wissen. Nichts ahnt es von dem Bösen, das in Menschen der
Leidenschaft und der unzüchtigen Liebe steckt.

Heidkönigstochter, ob ich dich warne vor der anderen? Du bist in
deiner Heide aufgewachsen wie Erika, die Heideblume selbst. In
Frieden und in Zucht des väterlichen Heidhofes, die Linden am Tore
haben dich als Kind beschirmt und dir die hold duftenden Lindenblüten
auf den Schoß geschüttet, aus der Heide kam zu dir der Duft der
Heideblumen, der Duft der gelben Lupine, in der die summenden Bienen
schwelgen, und wenn du vors Tor liefst auf die Heide hinaus, dann
sahen deine Kinderaugen nichts als Blumen, violette und gelbe, auch
rote dazwischen und weiße, sahen über dem Feld all der Blumen den
Himmel mit seinem flimmernden Glanz, die Sonne mit ihren goldigen
Strahlen, sonst einsam, einsam, einsam ringsum. Kein Laut sonst als
das Bienensummen, als der Wachtelschlag, Lerchengetriller und Zirpen
der Grillen.

Ja, liebes Heidekind, jetzt bist du unter die Menschen gekommen. Kaum
kamst du unter sie, so kroch die Sünde an den Saum deines Kleides,
deine reinen Heideaugen haben vielleicht heute, vorhin zum erstenmal
etwas von der Sünde gesehn.

Armes Kind der Heide.

Ich sagte früher »armes Kind der Straße«.

Mein Heidekind, ich glaube, das Straßenkind ist ärmer als du. —

Mein Heidekind, ich fühle mich schuldig. Aber ich bin nur ein Mensch.
Und wir Menschen sind schwach. Wirst du mir einst, wenn klar vor dir
die Sünde dieses Hauses stehn wird, verzeihn? Oder wirst du den Saum
deines Kleides an dich raffen und dich fortwenden von mir und von ihr?

Es ward heute eine stille Waldfahrt.

Im tiefen Schnee lag noch der Wald. Und doch ging es wie ein fernes
Frühlingsahnen durch die verschneiten Zweige. Eine wärmere Luft schien
schüchtern anzufragen: »Wann darf ich kommen, du kalter Schneemann,
sag’ ~an~?«

Diese Frage der wie ein Hauch uns umschmeichelnden Frühlingsluft
machte Erika und mich still. Fast den ganzen herrlich-schönen Weg
im Schlitten durch den im Schnee ruhenden, prächtigen Wald, den
neckend die leise fragende Frühlingsluft umspülte, saßen wir still
nebeneinander. Ich fühlte aber oft zwei heimlich und traurig mich
anblickende Augen. Erikas, des Heidekinds Augen.

Tat ich ihr leid? Ahnte sie vielleicht ein Stückchen von der ganzen
schweren Wahrheit? Hatte sich ein Zipfel des drückenden, wie schwerer
Nebel auf mir lastenden Tuches vor ihr gelüftet? — Unsinn! — Fräulein
Bartel ist von Anfang an, von dem Tage an, an dem mir das Schicksal,
dieses unergründliche, blindwaltend grausame Schicksal, Marianne ins
Haus brachte, in meiner Kauzburg gewesen und merkt noch heute nichts.
Niemand hat es gemerkt.

Und dieses harmlose Heidekind sollte nach kurzer Zeit etwas ahnen?
Unmöglich! Auch wenn sie wirklich Marianne vorhin weinend und neben
mir stehend gesehn hätte. Nur die Liebe macht scharfsehend und
vorausahnend. Ich fuhr zusammen.

»Tor!« lachte ich bitter in mich hinein, während ich das reine,
kindliche Profil der neben mir Sitzenden musterte. »Mich Erika
lieben!« Scheiden tut sich Rein und Unrein wie auf Messers Schneide.

Einen Mann könnte sie lieben, der gleich ihr in einsamer Heide vom
Kind zum Knaben, vom Knaben zum Manne erwuchs. Gleich ihr, unberührt
und keusch wie die Heide, fern von der argen Welt. Solchen Mann der
jungfräulichen Heide darf das jungfräuliche Weib der Heide fordern. Zu
solchem Manne fühlt sich solches Weib hingezogen. Ich krampfte meine
Hände in das harte, kalte Leder der Leinen, mit denen ich den Gaul
lenkte, zusammen.

War’s nicht lächerlich, war’s nicht wie ein Wahnwitz, daß ich mir
trotz allem oft so unschuldig vorkam wie solcher Knabe der Heide?
Als ob alles gar nicht wahr, gar nicht Wirklichkeit sei? Bloß wenn
die Leidenschaft kam in Gestalt jenes zauberschönen, glühenden,
rothaarigen Mädchens, brach alles zusammen, mein ganzer Traum von
einem unschuldigen Mann der Heide, der seine Hände ausstrecken darf
nach dem unschuldigen Mädchen der Heide.

»Weiche von mir! Weiche von mir! ... Nein, bleib, bleib, bleibe! Deine
Haare sprühen wie rote Feuersglut, dein weißer Leib macht trunken.
Der Seele Seligkeit geht verlustig, wer diesen Leib mit seinen Armen
umschlingt. Weiche von mir, weiche von mir! Nein: bleib, bleib, bleib.«

[Illustration]

Nun taute es wirklich und wollte Frühling werden.

In meiner Kauzburg ist’s wie Frühling. Ich habe ja den holdesten
Frühling im Hause. Ist nicht des Heidkönigs Tochter unter meinem
Dache? Ist des Heidkönigs Tochter nicht wie die Frühlingsbraut?
Strahlt aus ihren Augen nicht das freundliche Winken des Frühlings.
Dieses freundliche und doch so rührend keusche, fast schüchtern
fragende Winken?

Dieses freundliche, schüchterne und mit ein wenig versonnener, ernster
Schwermut fragende Winken? Die Versonnenheit der weiten Heide ist’s,
die innen wohnende, mit dem inneren Frohsinn gepaarte Schwermut all
der Kinder einer weiten, weiten, einsamen Heide.

Ja, Erika, ich kann es niederschreiben. Aus meinem Herzen heraus
könnte ich es dir sagen: du hast der Kauzburg den Sonnenschein
zurückgegeben.

Wenigstens dem Kauz in der Kauzburg. Und ich bin doch der Kauzherr der
Kauzburg.

Dein reines, keusches Wesen hat diesen Räumen ihre Reinheit und
Keuschheit eingehaucht. Ich bin durch dich gefeit gegen die wie
Sturmtoben über mich hereinbrechende Leidenschaft zu den roten,
wogenden wie Feuerschlangen mich umstrickenden Haaren der Hexe.

Nein, nein, nicht die Hexe. Sie bleibt für mich das arme Kind der
Straße. Ich will für sie sorgen und über sie wachen mein Leben lang.
Nur »lieben«, nur »sie verlangen« ... vorbei, vorbei! —

Ich bin ~frei~! Frei von den Banden, die mich umschlossen! Ich
widerstehe Mariannen! Ich ~kann~ ihr widerstehn! Mir ist, als sei ich
neu geboren. Sie ~war~ mein; jetzt soll sie mir fürderhin nur noch das
arme Kind der Straße sein und bleiben, für das ich immer sorgen werde.
Ich will sie schützen und will ihr treu sorgend zur Seite stehn. Wie
ein Bruder seiner Schwester.

Als ich ihr’s kürzlich sagte, sah sie mich lange durchdringend und
spöttisch an.

»Du liebst mich nicht mehr, ich weiß es«, sagte sie dann.
»Meinetwegen, du liebst das fremde Mädchen aus der Heide. Aber du bist
unfreier denn je.«

»Marianne!« rief ich.

»Still, lüge nicht, kein Wort sprich!« zischte sie mich an. Und ehe
ich etwas erwidern konnte, war sie zur Tür hinaus.

[Illustration]

Nun ist es schon seit Wochen so still. Fast ohne ein Wort zu sprechen,
schleicht Marianne im Hause umher. »Sie fühlt sich krank«, sagte
Fräulein Bartel zu mir, »am besten ist es, man läßt sie gewähren, so
findet sie sich am ehesten wieder zu sich selbst zurück.«

Sie ist allein in ihrer Stube, und wenn sie sich zeigt, ist sie stets
in ihren großen, weiten Mantel gehüllt; sie friert, und der Frühling
naht. —

Mit Erika spricht sie kein Wort. Und doch trägt ihr Erika das Essen
aufs Zimmer, wenn Marianne nicht aufstehn will, und doch ist sie stets
und immer so rührend freundlich zu ihr.

Das Kind der Heide ist zu jedermann gleichmäßig freundlich und gütig.
Auch zu mir. Aber ich merke es, ach ich fühle es, sie ist anders
zu mir, als sie früher war. Scheu hat sie vor mir. Gewiß, es ist
nicht anders: sie weiß um unser sündiges Verhältnis, das wir gehabt
haben, oder sie ahnt es. Sie hat Erbarmen mit Marianne, — ich fühl’s:
Erbarmen auch mit mir! Ich bin viel weniger an dieser Sünde schuld als
Marianne. Was nutzt das alles? Ich bin der Mann, und dem Manne rechnet
man’s stets viel mehr als Vergehen an. Er ist der stärkere Teil. Den
schwächeren Teil soll der Stärkere schonen.

Schonen! Schonen! Wenn das Weib lockt mit all seiner Zaubermacht, wenn
es sündigen ~will~ mit dem, der schonen soll! Ja, ja, der Frühling ist
da! Was war ich vor kurzem noch frühlingsfroh und frühlingsfreudig!

Fort, fort damit! Was soll mir der Frühling. Freut sich der Falke des
Frühlings, wenn er an seinen Fängen gefesselt ist?

[Illustration]

Ich sitze in meiner Stube und schreibe. Draußen ist wunderschöner
milder Frühlingsabend und Vollmondschein. Alle Zugvögel sind wieder
bei uns. Manche, zum Beispiel die Schnepfe, sind schon weiter nach
Norden gezogen. Es grünt und blüht schon mächtig um die Kauzburg.
Sie fängt an, das verzauberte Dornröschenschloß zu werden, wie im
vorigen Jahr. Und die Nachtigall singt. Weich, feucht, dunstig und
voller Duft ist die Luft. Ein schweres, weiches Atmen der neues
Leben hervorbringenden Natur. Die feuchte, weiche, schwere, duftende
Frühlingsluft zieht ins Fenster hinein. Zu mir in die Stube, an meinen
Schreibtisch, vor dem ich sitze. Sie legt sich feucht und weich und
schwer auf meine Brust, über meine Stirn und macht mich müde und
traurig.

Vollmond ist heute. Ich muß an Marianne denken. Welchen Einfluß hat
doch stets der Mond auf sie! Dadurch, daß wir heimlich ihre Tür
verschließen, haben wir ihr den Weg für die nächtlichen Wanderungen im
Schein des Vollmondes verlegt. Ist sie vielleicht deshalb krank? Wie
hell erstrahlt heute doch der Vollmond zur Erde herab! Mondwechsel!
Das letzte Strahlen ist stets das schönste und hellste.

Wie? Fräulein Bartel wird doch nicht vergessen haben, Mariannens Tür
zu verschließen? Ich hör’ doch ein Schleichen, ein leises, gieriges
Lachen? Ein tiefes, tiefes Aufseufzen?

Mein Gott ... da steht sie ja im Rahmen der Tür! Da ist sie ja, ... es
ist Marianne .... Zu mir herein tritt sie ... gespenstisch, und weiß
leuchtet ihre Gestalt ..., nur um die Hüfte hat sie ein schwarzes Tuch
geschlungen; ihr Haar ist zerwühlt, verwirrt, ihr schönes goldrotes
Haar. Sie spricht vor sich hin ... leise, ganz leise, und singend:

... »Mein Kind, mein Kind, komm, komm mit deiner Mutter hinauf in den
gleißenden Mondschein, dort tanzen wir, dort sind wir allein« ...

Um Gottes Willen, ist sie irre geworden, hat ihr armer Geist gelitten,
was singt sie denn für ein tolles, irres Zeug?

»Marianne!« sagte ich sanft zu ihr, um sie nicht zu erschrecken.

Und wie ich das sage, steht Erika neben ihr. Schlingt beide Arme um
die im Schlaf Wandelnde und wiederholte mit ihrer lieben, freundlichen
Stimme: »Marianne!«

Da wacht sie auf. Da schaut sie sich um, da sieht sie, wo sie ist.
Einen schrillen Schrei tut sie und stiert mich an. Stiert Erika an;
stößt sie von sich und lehnt sich dann aufstöhnend an den Türpfosten
an.

Aber auch mit Erika geht Wunderbares vor.

Eben erst hatte sie Mariannen umschlungen. Und nun steht sie neben
ihr, leichenblaß, zitternd, als hätte sie etwas Schreckliches,
Unglaubliches gefühlt, im Arme gehabt.

Ich will auf Marianne zueilen, sie stützen, sie zurückführen in ihr
Zimmer! Da wirft sich Erika dazwischen und sagt zu mir: »Bleiben Sie,
rühren Sie sie nicht an, ich will ihr helfen, nicht wahr, Marianne,
ich soll dir helfen, ich allein?«

Und nun schluchzt Marianne auf; wie im Traum läßt sie sich von
Erika fortführen, schwer stützt sie sich auf die zarte Gestalt des
Heidekindes. —

[Illustration]




Habe ich das alles gestern abend geträumt? Heute, wo die helle
Morgensonne freundlich über der Kauzburg liegt, glaube ich, daß ich
wirklich gestern um Mitternacht das alles geträumt habe. Geträumt,
daß Marianne plötzlich so geisterhaft vor mir im Vollmondschein
stand, daß Erika, das schlichte Heidekind, ebenso plötzlich neben
der Schlafwandlerin auftauchte, geträumt von dem irren Sprechen, dem
merkwürdigen Singen Mariannens, — was sprach sie doch so singend vor
sich hin? »Mein Kind, mein Kind, komm, komm mit deiner Mutter hinauf
in den gleißenden Mondschein dort tanzen wir, dort sind wir allein?«
... Geträumt von dem schrillen Schrei, von Erikas Entsetzen, ach, nur
geträumt von allem ...!

Aber noch sehe ich, jetzt im hellen Morgenlicht sehe ich es noch so
deutlich vor mir, wie sich Marianne so schwer, so schwer, als trüge
sie schwere, bitterschwere Last, auf Erika, das Heidekind stützte ...!

Ich danke dem Geschick, das mir dieses Heidekind ins Haus führte.

Ihre bloße Gegenwart, der Gedanke schon, daß sie unter einem Dache
mit mir ist, beruhigt mich. Unruhe, viel Unruhe berge ich in
meinem Innern. Die Reue ist’s, ja, es ist die quälende Reue, daß
ich Mariannens Lockungen nicht widerstanden habe. Oh, könnte ich
ungeschehen machen, was geschehen ist. All diese nächtlichen Stunden
wahnsinniger Leidenschaft. Nie wäre es geschehn, was geschah, wäre
diese liebe Heidblume schon gleich in mein Haus gekommen.

Und doch! ... Nein, nein ... ich will nicht feige sein! Ich will mich
nicht hinter Ausflüchten verstecken. Auch ~ich~ hatte Schuld. Ich
mußte widerstehn, ~mußte~ stark sein, stark bleiben. Und nun danke
ich dir, Gott, den ich überall in der Natur um mich sehe, ich danke
dir, daß aus der Sünde kein neues Leben entkeimte. Daß ich mich lösen
konnte von Marianne und sie nun Schwester nennen werde. Wie für eine
Schwester werde ich für sie sorgen fortan.

Es klopft? ... Wer wird es sein so früh? ... »Herein! ... Ach, Erika,
... wie geht es Mariannen?«

»Sie ist nicht hier?« sagte Erika und blickte sich suchend um.

»Nein, hier ist sie nicht. War’s denn gestern wirklich kein Traum,
Erika? Marianne gestern zur Nachtstunde dort, wo Sie stehn?«

»Lassen Sie, lassen Sie« ... unterbrach sie mich.

»Ich muß Mariannen suchen ... Gott im Himmel, sie schlief so fest,
drum ließ ich sie allein ... und nun suche ich sie schon überall und
finde sie nicht ... und ... und ... sie darf nicht fort ... sie ist
... ja, sie ist krank ...«

»Ich suche mit Ihnen, Erika!« Und schon war ich neben ihr im Flur
draußen.

»So beruhigen Sie sich doch, Erika,« rede ich auf sie ein, »wo soll
sie denn sein? Bei Fräulein Bartel vielleicht, oder unten im Garten
oder schon wieder in ihrer Stube ...«

»Nein, nein, nein!« jammert Erika auf und schlägt ihre Hände vors
Gesicht.

»O, warum ließ ich sie allein, warum ließ ich sie allein.«

[Illustration]

Es ist Abend. Wir haben sie nicht gefunden. Schwerer, ganz
dichter, schwerer Frühlingsregen fällt, und immer stärker wird der
Frühlingswind. Überall haben wir sie gesucht.

Im unterirdischen Gang bin ich mit Erika bis zu dem stillen,
heimlichen Tal gekrochen. Dort, auch dort war sie nicht. Als ich den
tiefen Waldteich sah, auf dessen stille Fläche der Frühlingsregen in
schweren Tropfen aufschlug, faßte ich Erika krampfhaft bei der Hand.
Sie las das Entsetzen, das in meinen Augen stand. Da sagte das liebe
Heidekind: »Nein, ~das~ hat sie nicht getan, ich weiß, daß sie das
nicht tut, ich weiß, ~warum~ sie das nicht tun wird ..., sie hat sich
~nicht~ das Leben genommen, glauben Sie’s mir und ... und ... fassen
Sie Mut ... Nicht dieses Entsetzen in den Augen.«

»Warum, Erika, sagen Sie, ~warum~ glauben Sie, daß sich Marianne nicht
das Leben genommen hat?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, flüsterte sie und sah zur Erde.

»Aber wir müssen sie finden, sie kann in ihrem Zustande ja nicht fort,
sie muß in Pflege kommen, bald, bald in treue Hut und Pflege ...«

»Ja, bald, bald, denn sie ist krank,« rief ich; »ach Marianne, hätten
wir dich erst wieder!«

[Illustration]

Der Frühlingssturm braust stärker und stärker.

Wie sich die Bäume biegen! Wie sie geschüttelt und gerüttelt werden!
Aber das junge Frühlingslaub hält fest. Es ist kein Laub des Herbstes.
Nein, nein, heut hast du keine Macht!

Das junge Leben kann dir widerstehn! Das junge Leben! Überall junges,
werdendes Leben in der Natur. Was weiß solches junges Leben von den
Stürmen des Herbstes! Was weiß junges Leben überhaupt vom Leben! Wie
schwer das Leben ist.

Es ist gut, daß junges Leben nichts weiß von der Schwernis des Lebens.

Des Lebens Schwernis kommt von selbst. Man braucht sie nicht zu rufen.

Herein tritt sie wie jemand, der ein Recht hat, einzutreten. Sie läßt
sich bei uns nieder und bleibt an unserem Tische. Sie schleicht sich
bis aufs Ruhelager und schläft mit uns und wacht mit uns wieder auf.

Ach, bei manchem jungen Leben steht diese Lebensschwernis schon am
Bett, kaum daß dies junge, neue Leben den ersten Lichtstrahl dieser
Erde in sich aufnahm.

Draußen treibt der Frühlingssturm, der Regen gießt wie in Schleusen
herab, — wo bist du, Marianne, um des Himmels willen, wo ~bist~ du!?

Ich sprang auf. Ich darf nicht hier sitzen und dem Sturmwind lauschen,
suchen muß ich sie wieder, suchen, bis ich sie gefunden habe!

Da stand plötzlich Erika vor mir. Sie war in einen Umhang gehüllt. Von
ihr tropfte des Regens Nässe. Ganz bleich stand sie vor mir. »Erika!«
rief ich und sprang auf.

»Kommen Sie, kommen Sie!« keuchte sie atemlos. »Sie müssen gleich,
gleich, gleich mit mir kommen ... zu Marianne!«

»Zu ~Marianne~? Sie haben sie gefunden? Sie wissen, wo sie ist?«

»Kommen Sie!« stieß sie hervor.

»Marianne will Sie sehn, Sie müssen Marianne sehn, ehe ... ehe ...«

Ein Schluchzen erschütterte sie.

»Marianne stirbt, nicht wahr, sie stirbt?« rief ich und taumelte nach
der Tür. —

Sie nickte bloß und schrie laut auf vor Schmerz. Schon stand ich
unten mit ihr in dem tobenden Frühlingssturm. Ach, der Regen strömte
in Güssen herab, aber alles ringsum atmete den Frühling aus. Die vom
Sturm bewegte Luft war weich und frühlingswarm.

»Kommen Sie!« sagte Erika und faßte mich an der Hand.

»Ich führe Sie, Sie gehn ja wie ein Trunkener, Sie armer Mensch.«

Ich stolperte hinter ihr her. Kein Mensch war auf den engen Gassen des
Städtchens. Der strömende Regen hatte die ganze kleine Krämerwelt in
die Stuben gebannt.

Wohin führte mich Erika? Endlich standen wir vor einer Pforte still.
Einer Pforte in einer hohen Mauer. Ich strich mir den Regen aus dem
Gesicht und blickte mich um.

»Das ist ja das katholische Kloster«, sagte ich wie im Traum.

Erika pochte dreimal an die Pforte. Ein Schlüssel knarrte, und die
Pforte wurde geöffnet. Eine Schwester stand vor uns. »Lebt sie?« stieß
Erika hervor. »Ja, sie lebt, kommen Sie, ich führe Sie hinauf.«

Wir gingen über den Klosterhof, bis zu dem hinein dieser heftige
Frühlingssturm nicht drang. Der Regen schlug klatschend auf den
steingepflasterten Hof; süße Düfte drangen vom Klostergarten hierher,
ganz fern hörte ich eine Nachtigall pfeifen. Sie wollte singen trotz
des Sturmes, weil’s doch Frühling war.

Ich hätte weinen können, so war mir zumute. Viele Treppen stiegen
wir hinan, durch die stillen, schmalen Klostergänge folgten wir
der Schwester. Ein paar Schwestern in ihrer schwarzen Nonnentracht
begegneten wir. Sie huschten an uns vorbei und sagten leise: »Gelobt
sei Jesus Christus!«

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte auch ich, ich, der ich im grünen
Walde draußen meinem Gott am nächsten stehe! Aber dieser tiefe Frieden
in diesen Klostermauern erschütterte mein Herz. Vor einer Tür blieben
wir stehn.

»Hier liegt sie, aber bitte, seien Sie ruhig, leise und gefaßt«, sagte
die Schwester bittend und drückte auf die Türklinke.

Ja, da lag sie in blütenweißen Linnen des Bettes. Über die Weiße des
Bettzeuges fluteten ihre rotgoldenen Haare, die mein Entzücken und
meine Pein gewesen waren.

Tief und groß und strahlend sahen mich ihre Augen an, sofort, als ich
ins Zimmer trat, nein, als ich noch in der Tür stand.

Wie? Das sollte eine Sterbende sein? Waren in ihrem lilienweißen
Gesicht die Wangen nicht von sanfter Rötung? Die Lippen, die sich
so oft in glühender, verzehrender Leidenschaft an die meinen
gepreßt hatten, nicht rot wie die Kirschen? Die Arme, die sie mir
entgegenstreckte, nicht von derselben köstlichen Rundung, wie einst,
da sie noch mein gewesen war?

»Du kommst, Du bist gekommen und hast mir verziehn«, sagte sie leise
zu mir, so leise, daß es kaum bis zu mir hindrang. Ja, an dieser
Stimme erkannte ich, daß sie krank, sterbenskrank war.

»Marianne«, sprach ich, trat neben das Bett und wollte mich auf die
Knie niederlassen zu ihr. Da erklang plötzlich in dem kleinen, matt
erhellten Raum ein Wimmern, ein Weinen. Ich fuhr zusammen und horchte.
Wie ein Entsetzen durchfuhr’s mich. »Was, was ist das?« fragte ich
fassungslos. »Ein Kind, ein eben geborenes Kind hier bei der Kranken?«

Erikas Hand legte sich ruhig, aber mit festem Druck auf meinen Arm.

»Fassung und Ruhe,« raunte sie mir zu, »vergessen Sie nicht, daß Sie
eine Sterbende vor sich haben.«

»Mein Kind,« flüsterte Marianne, während ein unendlich glücklicher und
trauriger Ausdruck ihre Züge überhauchte, »mein und dein Kind«, setzte
sie verzagt hinzu und sah mich ängstlich an.

»Marianne!« schrie ich, nein, wollte ich aufschreien, hätte ich
geschrien, wenn sich nicht rasch Erikas Hand auf meinen Mund gelegt
hätte.

»Fassung und Ruhe«, sagte sie ernst zu mir. Ich stürzte vor dem Bette
auf die Knie, Mariannens eine Hand streckte sich mir entgegen, die
andere Hand legte sie mir auf mein Haar, und ich, ich verbarg mein
Gesicht in ihrer Hand und stöhnte tief, tief auf.

Also ~das~ war’s! Das war ihre Flucht, ~das~ war ihr Verborgensein,
das war’s, was ihr das Leben nun nahm.

»Marianne, Marianne«, ich konnte nichts anderes, als immer nur ihren
Namen sagen. Und das Kindchen, ~mein~ Kind und ~ihr~ Kind, weinte
kläglich, wie ein Häslein, das der Fuchs gepackt hat. Erika beugte
sich zu der Wiege und nahm das Bündchen neues Leben in ihre Arme: Da
beruhigte sich das Geschöpflein und schlief ein.

»Die dort soll seine Mutter sein, sie hat es mir bei Gott geschworen,
sie wird ihr Wort doch halten?« sagte Marianne, auf Erika zeigend, zu
mir, und blickte mich forschend an.

»Ich schwöre es hier vor dir und vor dem Vater dieses Kindes noch
einmal, bei Gott im Himmel, der in das Herz von uns sieht: Ich will
diesem Kinde eine Mutter sein, eine treue Beschützerin, darüber
kannst du ruhig sein und ruhig schlafen, Marianne«, sagte Erika mit
erstickter und doch mit einer so treuen, klaren Stimme, daß ein
Schimmer des Glücks über Mariannens Gesicht glitt.

Und jetzt wandte die Sterbende den Kopf mir zu. Sie sagte nichts, aber
ihre tiefen, schönen Augen, in die der kommende Tröster Tod schon den
schönen Glanz ewiger Ruhe gedrückt hatte, taten stumm und doch so
sprechend eine Frage an mich.

Ich war so erschüttert, daß ich erst gar nicht sprechen konnte.
Erika legte mein Kind in meinen Arm. Ich küßte das liebe, schlafende
Gesichtlein und sagte, während die Tränen mir aus den Augen stürzten,
zu der mich forschend und mit dem Ernst des Todes anblickenden
Marianne: »Ich erkläre dieses Kind für mein Kind; und damit es in den
Augen der Menschen als ein ehrliches Kind gilt, und nie die Schmach
und den Fluch fühlt, die man außerehelich geborenen Kindern zur
Schande der ganzen Menschheit entgegenbringt, werde ich dieses Kind
adoptieren und ihm meinen Namen geben. Ich leiste darauf vor der
Mutter dieses Kindes, vor dir, Marianne, und vor Erika den Eid der
über uns waltenden unsichtbaren Gottheit.«

Tief atmete Marianne auf. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, und
ein unendlich glücklicher Ausdruck verklärte ihr Gesicht. »Sie will
schlafen«, sagte ich leise. Die Schwester war hereingekommen, beugte
sich über das Bett und betete halblaut. Und während sie mit ihrer
linken Hand der Schlafenden die Kissen ordnete, tauchte sie die Finger
der rechten Hand in das an der Wand hängende, mit Weihwasser gefüllte
kleine Becken, über dem der gekreuzigte Christus hing, und bespritzte
das Gesicht der Schlafenden mit dem geweihten Wasser.

»Daß sie sich nicht erschrickt und aufwacht«, bat ich leise.

Da richtete sich die Schwester auf, wandte sich mir zu und antwortete
mit ihrer sanften Stimme: »Sie schläft und wird erst aufwachen im
Himmel oben.«

Und nun sah ich Mariannens Gesicht. Ich sah, daß sie tot war. Sie
lächelte noch immer unendlich glücklich, aber das Lächeln war wie in
weißen Marmor gegraben.

Marianne, Marianne!

Man ließ mich neben ihr niederknien. Kein Wort wurde gesprochen.
Lange, lange sah ich mir ihr holdes Gesicht an. Wie sanft, wie
friedlich, wie von innerem Glück verklärt sah es aus. Nichts mehr von
der dämonischen Leidenschaft war in diesen engelsreinen, schönen Zügen.

O, Raffael Sanzio von Urbino, du gottbegnadeter Maler der holden
Madonna della Sedia und der von St. Sixto, lebtest du noch,
herbeirufen würde ich dich in diese Klosterkammer, und du fändest die
schönste Madonna, die du malen könntest zur ewigen Unsterblichkeit
auf Erden. Und du, edler Tiziano Vecellio aus dem kleinen verborgenen
Pieve di Cadore, der du in unerreichter Schöne das goldenbraun
gefärbte Haar der alten Römerinnen auf die Leinwand zaubern konntest,
hier würdest du goldleuchtendes, niemals von Farbe berührtes Haar
zu sehn bekommen, das dich, den Maler schönen Weiberhaares, in
begeisterndes Entzücken versetzte. »Wir wollen sie nun schlafen lassen
und sie nicht stören in ihrem ewigen Schlaf«, sagte die Nonne leise
und legte über das Gesicht der Toten ein weißes Tuch.

Schwer erhob ich mich. Verstört blickte ich mich um.

»Und das Kind?« brachte ich endlich heraus.

»Für das sorgen wir«, sagte die Schwester.

Ich trat zu der Wiege hin. »Es ist ein Mädchen?« fragte ich. Erika
nickte.

»Ach, du liebes Geschöpfchen, du wirst nie deine Mutter sehn. Um dir
das Leben zu geben, hat sie ihr Leben hingegeben. War’s nicht besser,
sie nahm dich mit in diese schöne, lächelnde Ruhe? Dich und auch mich
zugleich? Nun muß ich es tragen, daß mein Kind der Mutter meines
Kindes das Leben nahm. Und ich, ich bin an all dem schuld.«

»Kommen Sie«, bat Erika, die inzwischen alles leise mit den Schwestern
besprochen hatte.

Ich folgte ihr wieder durch die vielen Gänge des Klosters nach, bis
wir an die Pforte kamen. Lautlos trat eine Schwester vor und schloß
die Pforte auf, sagte: »Gelobt sei Jesus Christus!«, und draußen auf
der Straße stand ich mit Erika in der Frühlingsnacht.

Der vordem so starke Sturm hatte sich zu einem fast schwach zu
nennenden Winde gemildert.

Der Himmel hatte sich aufgeklärt, man sah die Sterne flimmern. Aus
jedem Garten, an dem wir vorüberkamen, klang der weiche, schöne Gesang
einer Nachtigall, drang der aromatische Duft von Flieder und Jasmin.

Fast betäubend in meinem Burggarten.

Wir hatten unterwegs kein Wort zusammen gesprochen. Hier in dem
Burggarten, wo ich schon so oft mit so viel Freude, mit so viel Leid
gewesen war, blieb ich stehn.

Der ganze Schmerz um Marianne faßte mich hart an. Die ganze
Verantwortung um das Kind stand mir vor Augen. Aber hätte jetzt
jemand zu mir gesagt: »Ich will dir dein Kind abnehmen, ich gebe dir
dein Kind nicht«, — wie ein Wolf hätte ich ihn angefallen und um das
Kind mit ihm gekämpft. So groß war meine Liebe für das liebe, arme
Geschöpflein, das ich kaum ein paar Minuten in meinen Armen gehalten
hatte. Aber es war ~mein~ Kind; es war ~Mariannens~ Kind. Wie nennen
doch die Menschen solche Kinder? Kinder der Sünde! O, ihr ruchlosen
Menschen, wie könnt ihr solche Geschöpflein Kinder der Sünde nennen!
Eure Zunge müßte im Gaumen verdorren, wenn ihr das aussprecht!
Schlimmer seid ihr, die ihr verächtlich auf solche Kinder herabseht,
schlimmer als die wildesten Bestien seid ihr! Die wildeste Bestie
kennt kein Kind der Sünde. Die wildeste Bestie kennt nur ihr Kind.
Nein, frei will ich mich zu dem Kinde bekennen. ~Mein~ Kind ist es!
Jeder soll es hören, der es hören will!

O, schon jetzt sah ich die Kleinkrämer des Städtchens höhnisch
lächelnd ihre Kleinkrämernasen rümpfen! Rümpft sie nur, ihr
Kleinkrämerpack! Über ~mich~ könnt ihr eure Nasen rümpfen, wehe
aber, wenn ihr Mariannen, die Mutter dieses Kindes, oder mein Kind
verunglimpft! »Erika,« wandte ich mich an das stumm neben mir
stehende Heidkönigstöchterlein, »Sie haben es Mariannen versprochen,
ihrem Kinde eine treue Mutter zu sein?«

»Ich habe es ihr versprochen und will mein Versprechen halten. Fragen
Sie nichts mehr«, bat sie plötzlich und hob ihre Hände bittend gegen
mich. Sie weinte. Weinte ganz still und leise, und ich sah, wie ihr
die Tränen aus den Augen strömten.

»Gut, Erika, Sie sollen keine weitere Frage von mir hören. Aber
dankbar werde ich Ihnen sein, wenn Sie sich meines Kindes annehmen
wollen.«

Oben stürzte uns Fräulein Bartel entgegen.

»Haben Sie Marianne gefunden?« rief sie. Sie war ~doch~ ein guter
Mensch, denn man hörte die Angst aus ihrer Stimme deutlich heraus.

»Ja, wir haben sie gefunden«, sagte ich. »Weiß sie das andere, ich
meine das mit dem Kinde, schon?« wandte ich mich an Erika. Die
schüttelte schluchzend ihren Kopf.

»Marianne ist tot, Fräulein Bartel ...«, sagte ich.

»Gott im Himmel!« schrie sie laut auf.

»Ja, Marianne ist tot, sie ist an der Geburt eines Kindes, eines
Mädchens, gestorben.«

Mit großen, geradezu entsetzten Augen sah sie mich an. Ich winkte ihr,
still zu sein. Allein wollte ich sein.

»Gute Nacht, Fräulein Bartel, und gute Nacht, liebe, liebe Erika.
Nicht wahr, Sie sehn morgen früh gleich nach dem Kinde?« Sie nickte
stumm. Sing’ dein Trauerlied zur stillen Frühlingsnacht, liebholde
Nachtigall!

Marianne ist tot.

Du kanntest sie ja. Oft ist sie, wenn du sangest, an deinem
Fliederstrauche stehn geblieben, die Blumen dufteten, es duftete ihr
goldrotes Haar, in dessen seidenen Wellen das weiße Mondlicht spielte.

Ja, singe ein Trauerlied. Ich stehe hier am Fenster und höre dir
zu und lasse die Vergangenheit an meinen Augen vorübergehn. Von
dem goldenen Haare aber behalte ich mir eine Strähne. Die wird
dann leuchten wie eitel Feuergold, wenn ich sie herauslege zur
Vollmondstunde im Mondessilberglanz.

Marianne: Leid und Lust bist du mir gewesen. Soll ich richten jetzt,
ob größer das Leid, ob größer die Lust?

Mit Wonne ist Leid verknüpft, nie ist es anders. Die Wonne allein ist
Menschen nicht beschieden.

Das Leid ist unser Gefährte. Nur wie ein toller Bub kommt gesprungen
und ist fort wie ein Bub des Augenblicks die Wonne. So also sieht die
Freiheit von den goldenen Fesseln aus? Lange wird es dauern, ehe ich
mich der Freiheit erfreuen werde.

Das rote Gold der Flechten war zu schön.

Zu schön der weiße Leib, den man so bald nun in die tiefe Erde senken
wird.

Aber wir sollen doch Erde werden. Wir ~sind~ doch von Erde und sollen
doch Erde bleiben.

O liebe Erde, den schönsten Menschenleib sollst du so bald erhalten.

Sei ihm ein treuer Mutterschoß und laß Veilchen nur aus jener Stätte
sprießen.

[Illustration]

Soeben kommt Erika aus dem Kloster zurück. Sie sagt mir, daß für das
Kind gesorgt sei.

»Ich will’s aber doch so bald als möglich in die Oberförsterei nehmen,
Erika.« Sie sieht zur Erde und sagt kein Wort. Dann spricht sie: »Auch
ich halte es für das beste.«

»Ach, Erika, was müssen auch ~Sie~ unter dem allen leiden. Sie, ein
unschuldiges Kind der Heide! Kaum setzen Sie den Fuß in die Welt
hinaus, so tritt der Welt Sünde an Sie heran«, sagte ich herzlich zu
ihr und faßte ihre Hände warm und fest mit den meinen.

»Der Welt Sünde, aber noch mehr der Welt Unglück, und im Unglück
müssen die Menschen doch einander beistehn so gut, als sie können.
Auch bindet mich das Versprechen, das ich der Toten gab.«

»Werden Sie bei mir bleiben?« fragte ich zaghaft.

»Ich weiß nicht, was ich tun darf; mein Vater wird bestimmen«,
erwiderte sie leise.

»Sie wollen alles Ihrem Vater sagen, Erika?«

»Ja, alles«, sagte sie ruhig. »Er kommt in den nächsten Tagen und will
mich abholen, in die Heide zurück.«

»Und ~wird~ Sie in seine keusche Heide mit sich nehmen, ich weiß es,
Erika. Ja, ich weiß es. Ihr Vater kann nicht anders handeln, und
töricht war meine Frage, ob Sie hier bei dem Kinde Mariannens bleiben
wollen. Ich muß ~allein~ sehn, wie ich es in Zukunft machen, wie ich
mein Kind mir erhalten soll. Allein, allein!«

»Ich will das Kind mit mir in die Heide nehmen, wenn Sie’s mir
anvertrauen«, sagte sie sanft. »Solange will ich’s behalten, bis Sie
es bei sich haben können.«

»Erika! ~Das~ wollen Sie tun! Wie soll, wie kann ich’s Ihnen danken!«

Wie ein Jubelschrei brach’s von meinen Lippen. Ja, in die Heide soll
mein Kind, in die Heide zur Heidkönigstochter! Die schwere Sorge
der nächsten Zeit um das mutterlose Geschöpf will mir Erika, das
Heidekind, abnehmen.

Ich hätte ihr die Hände küssen können.

Aber mein innerer Jubel galt nicht dem Kinde allein. Wenn mein Kind
bei ihr im Heidhofe ist, würde ich, mußte ich ja Erika wiedersehen.
Blieb mit ihr in steter Verbindung — ein Herz würde weiter für mich
schlagen, das zu verlieren die schreckliche Angst der letzten Stunden
für mich gewesen war.

[Illustration]

Die Stunde ist da, in der man Marianne ins Grab legt.

Ich ging mit Erika und Fräulein Bartel am frühen Morgen ins Kloster.

Weil ich noch einmal, zum letztenmal das Gesicht der Toten sehn wollte.

Die mir im Leben so nahe stand. Von deren Leibe und Seele ein Kind
mein eigen ist.

Nach der Beerdigung will ich das Kind gleich mitnehmen zu mir, um mich
als Vater zu ihm zu bekennen, eintragen zu lassen als Vater und die
Kleine zu adoptieren.

Ich sehe es an den Leuten, die uns begegnen, daß man schon etwas weiß
in der Stadt.

Man sieht mir nach, man kriecht in die Haustür zurück, man grüßt mich
ersichtlich verlegen und erstaunt. Aber mancher auch herzlich und
warm.

Im Kloster schleichen die Schwestern scheu an mir vorbei.

Verlegen, kaum hörbar klingt ihr Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus.«

Was sind mir die Grüße der Menschen!

Für anderes habe ich zu sorgen und zu denken. Früh sind wir gekommen,
gottlob, so haben wir die Tote noch für uns allein.

Mein Kind habe ich vorher gesehn. Es schrie so kläglich, als wüßte es,
daß seine Mutter jetzt tief in die Erde kommt.

Der Domherr wird, wie ich höre, die liebe Tote beerdigen. Das ist brav
von ihm. Ich hätte es nicht gedacht. Er selbst beerdigen und dieses
arme Straßenkind, diese uneheliche Mutter!

Und so stehe ich denn vor dir, Marianne, zum allerletztenmal.

Zum allerletzten Male sehe ich dein Gesicht.

Es ist noch unverändert, nur der kleine, bräunliche Fleck an der
Stirn, die im Leben weiß von Farbe wie die Gartenlilien gewesen, sagt
mir, daß die Erde anfängt, ihr Erdenkind wieder zurückzunehmen in sich
hinein.

Weshalb gab sie es her?

Ein so holdes Erdengeschöpf hat sie hilflos auf die Schwellen dieses
Hauses einst gelegt.

Hat doch ein jedes, selbst das kleinste der kleinen Vögel sein Nest
und seine Eltern, die den kleinen hilflos-nackten Vogel füttern. Doch
dir, du armes Straßenkind, haben Nest und Eltern gefehlt.

Aber ~deinem~ Kinde werden Nest und Eltern ~nicht~ fehlen. Das ist
das einzige, was den Schatten meiner Seele lichtet, was meine Reue in
stillen Schmerz verwandelt. Lebe wohl, Marianne. — —

Die Schwestern kamen. Der Sarg wurde geschlossen.

Zwei Chorknaben mit brennenden, efeuumrankten Kerzen stellten sich
neben den Sarg, ans Sargende zwei andere mit dem an silbernen Ketten
schwingenden Weihrauchgefäß mit Weihrauchschälchen und silberner
Schippe zum Nachfüllen des Gefäßes. Der Weihrauch erfüllte den kleinen
Raum mit betäubendem Duft, nun tönte ein fernes Glöckchen, dessen Töne
immer näher kamen, und der Domherr in seinem reichgestickten Gewand
trat ein. Ich fuhr zusammen. Wieder sah ich diese tiefen, dunklen
Augen eine Sekunde lang auf mir ruhen — dasselbe Flimmern, derselbe
Ausdruck, den Mariannens Augen in Leidenschaft und Zorn hatten,
dieselbe Farbe ihrer Haare hatte dieser Mann dort. Der wie ein Fürst
so stolz und hoch zu Häupten des Sarges stand und sofort nach seinem
Eintritt mit den Gebeten begann.

Ob ihm die Tote wohl ihr Geheimnis gelüftet hatte? Ob er jetzt in
diesem Augenblick schon den Vater ihres Kindes kannte?

Die Gebete waren beendet.

Noch einige Worte sprach er zum Nachruf der Toten.

O, dieser Mann! Wie ich ihn hasse!

Er sprach von dem kurzen, armselig kurzen und dunklen Leben der
Verstorbenen, er schilderte, wie sie, von der Schwelle dieses Klosters
aufgelesen, im Kloster eine Heimat fand, wie er selbst sich stets um
ihr Wohl gekümmert und über ihr gewacht habe, und wie es ihn schmerze,
daß sie nun doch das Opfer der Sünde, der Verführung geworden sei.
Lautlos still war alles an dem Sarg. Nur von draußen drang das
Zwitschern der Vögel bis hierher.

Starr sah ich dem Mann, der da sprach, ins Gesicht. Er blickte mich
an, aber sofort senkten sich seine Augen wieder auf das Gebetbuch
herab.

Ja, nun wußte ich: Er kannte den Vater des Kindes. Weshalb aber hielt
er meinen Blick nicht aus? Er, der Sündlose, den Blick eines Sünders
nicht?

Die Klosterschwestern trugen den Sarg auf den Klosterkirchhof. Der Weg
war kurz, der Sarg war leicht.

Über dem Grabe blüht der Flieder. Alte, uralte Fliedersträucher. Fast
Fliederbäume zu nennen. Drin nisten Nachtigallen immer wieder im
Frühling; ein schöner Platz. Es ist doch gleichgültig, wo man wieder
zu Erde wird. Aber die noch Lebenden finden eine Befriedigung darin,
daß der Platz ihres Toten schön ist. Sonderbar: auch ~ich~ möchte
lieber an solchem Platze wieder Erde werden, als in dem Staube der
Wüste zerstäuben. Ich stand mit Erika noch lange bei dem Grabe allein.

Nun aber hole ich mir mein Kind. — — — —

Ich wollte Erika fortschicken. Aber sie wollte bleiben.

»Sie werden mich brauchen«, sagte sie eigentümlich ernst.

»Mein Heidkind, gehn Sie, gehn Sie. Setzen Sie sich nicht den Reden,
den Augen der Menschen dieser Stadt aus, wenn ich mit meinem Kinde
durch die Straßen gehe und es in meine Kauzburg bringe.«

»Ich bleibe«, erwiderte sie.

»So kommen Sie, Erika.«

Wir gingen über den stillen Kirchhof nach dem Kloster hinüber.

Die Tür war verschlossen. Ich klingelte. Das Glöckchen tönte. Eine
Schwester öffnete einen Spalt breit die Tür.

»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte sie und sah mich fragend an.

»Ich will zu dem Kind der soeben zur Ruhe Gebetteten«, sagte ich.

»Zu dem Kinde Mariannens?« fragte sie.

»Ja, zu dem.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie herführt?« fragte sie.

»Ich sagte schon: Zu dem Kinde will ich. Ich will es zu mir nehmen.«

Ein Lächeln, — kein schönes Lächeln — huschte über das fromme
Schwesterngesicht.

»Ohne des hochwürdigen Domherrn Genehmigung darf ich niemand zu dem
Kinde lassen, es gehört von jetzt ab dem Kloster und wird im Kloster
bleiben«, sagte sie und sah mich lauernd an.

Ich stand noch vor der kaum ein Viertel offenen Tür mit Erika.

Nun stieß ich ruhig die Tür ganz auf und trat in den schmalen
Klostergang. Erika stand dicht bei mir.

»So sagen Sie dem hochwürdigen Herrn, daß ich ihn sprechen will.«

»Ich werde Ihre Bitte Seiner Hochwürden unterbreiten.«

»Sagen Sie ihm, ich ~wünsche~ ihn zu sprechen, und ich ~muß~ ihn
sprechen wegen dieses Kindes.«

Wieder huschte dieses höhnische Lächeln über das stille, heilige
Nonnengesicht der vor mir Stehenden.

Sie nickte stumm, schloß die Tür und ging lautlos davon.

Ich stand mit Erika im Flur.

Ich fühlte, wie der Zorn über den Domherrn in mir wuchs. Schon seine
Worte am Grabe! Und nun diese Art des Empfanges!

»Ich bitte Sie, seien Sie ruhig, bleiben Sie ruhig«, flüsterte Erika
mir zu.

»Ich will’s versuchen, solange es mir möglich sein wird, Erika.«

»Seine Hochwürden lassen bitten«, sagte die lautlos zurückkehrende
Schwester. Jetzt widerte mich dieses lautlose Schleichen an. Wozu?
Hier lagen keine Kranken. Drüben im untern Flügel.

~Das~ hier war domherrliche Privatwohnung. Fest und hart klangen meine
Schritte auf dem Steinpflaster des Klosterganges wider. Soll ich
~kriechen~ vor dieser Domherrlichkeit? Niemals!

Endlich waren wir vor der rechten Tür.

»Ich werde Seiner Hochwürden melden, daß Sie, Sie allein ihn sprechen
wollen.«

»Nicht nötig, liebe Schwester,« sagte ich kurz, »ich melde mich
selbst, und diese Dame wird bei der Unterredung zugegen sein.«

Laut klopfte ich an die geschnitzte Eichentür. Ja, hier oben sah es
anders aus als unten in den schlichten, einfachen Klosterräumen. Als
ich öffnete und in das, man kann ruhig sagen, prachtvoll ausgestattete
domherrliche Gemach eintrat, stand die hohe Gestalt des Domherrn
am Fenster. Auf den Kirchhof hatte man den Blick von hier oben.
Gerade auf Mariannens Grab sah man hinab. Erst zuckte es drohend über
sein Gesicht, es war nur ein Zucken, dieses Zucken in dem unleugbar
schönen, schmalen Gesicht, dieses Aufblitzen in den dunklen Augen, als
er mich mit Erika eintreten sah, dieses Aufblitzen, das mich stets und
stets sekundenlang an ein anderes Gesicht erinnerte, das nun nie mehr
zucken kann, nein, wie in marmorner Ruhe bleiben würde, bis die Erde
sagen wird: Werde wieder zu Erde. Eine einladende Handbewegung machte
er, indem er auf einige Sessel wies, die auf dem Teppich standen.

»Ich danke; aber ich komme nicht als Gast zu Ihnen«, sagte ich kalt
und abweisend. »Ich komme nur, um Sie zu fragen, ob ich die Schwester
unten recht verstanden habe?«

»Recht verstanden, womit?« fragte er mit gutgespieltem Erstaunen.

»Keine Worte weiter,« unterbrach ich ihn, denn ich fühlte, wie
verhaßt mir dieser Mann seit jenen Worten am Grabe war, »ich kam, um
Mariannens Kind in mein Haus zu holen, man wollte es nicht zugeben
ohne Ihre Einwilligung, ja, man sagte mir, das Kind sei Eigentum des
Klosters und würde es bleiben.«

Er spielte einige Augenblicke an dem goldenen Kreuz, das um seinen
Hals an goldener Kette hing.

»Die Schwester hat Sie recht berichtet,« sagte er; »bitte, bitte, mich
ausreden lassen,« fuhr er auf, als ich ihn unterbrechen wollte, ...
»es ist so. Wir kennen nur die ~Mutter~ des Kindes; diese Mutter, —
Marianne, — haben wir im Kloster erzogen, sie hat das Kind im Kloster
geboren, ist zu uns geflüchtet vor ihrer schweren Stunde, hat uns das
Kind noch ~vor~ der Geburt anvertraut, also ...«

»Sie kennen also ~wirklich~ den Vater des Kindes nicht?« schnitt ich
ihm das Wort ab. Seine Augen glühten.

»Ich ~will~ ihn gar nicht kennen«, sagte er rasch.

»Sie ~sollen~ ihn kennen! Er steht hier vor Ihnen!« rief ich. »Ich bin
der Vater des Kindes, und ich fordere mein Kind!«

Er sah aus, als wollte er sich auf mich stürzen. Wenigstens sagten
es mir seine Augen. Und seine Hände, die sich an die Stuhllehne
verkrampften.

»Was Sie mir hier sagen, betrachte ich als Beichtgeheimnis; niemand
wird es erfahren, sofern nicht ~Sie~, mein Fräulein, ...« wandte er
sich zu Erika. »Ich bedaure es übrigens schmerzlich, daß man Sie
gezwungen hat, dieser Verhandlung beizuwohnen, unschöne, sündige Dinge
kommen dabei zur Sprache ...«

»Ich wohne dieser Verhandlung nicht gezwungen bei, es war mein
Wunsch, ihr beizuwohnen«, unterbrach ihn Erika ruhig.

»So? Warum?« fragte er und sah sie forschend an.

Sie schwieg.

»Wir sind wohl fertig miteinander, Hochwürden,« sagte ich nun; »ich
werde also mein Kind jetzt mit mir nehmen.«

»Gemach, gemach,« stieß er hervor, »dieses Kind bleibt hier im Kloster
... für ~immer~!«

»Herr Domherr!!!« stieß ich heraus.

»Ich wiederhole,« fuhr er fort, »was Sie mir sagten, bleibt
Beichtgeheimnis ...«

»Ich weiß von keinem Beichtgeheimnis, ich bin Protestant«, unterbrach
ich ihn barsch.

Er drückte seine Augen zusammen. Dann trat er dicht an mich heran und
legte sanft seine bischofsringgeschmückte Hand auf meinen Arm.

»Ihre Mutter ist katholisch,« sprach er halblaut und beschwörend,
»Marianne war katholisch, ist im katholischen Glauben erzogen, als
fromme Katholikin gestorben, ihr Kind habe ich gestern getauft ...«

»Wie?« unterbrach ich ihn heftig, »getauft? Ohne mich zu
benachrichtigen?«

»... Aber ich bitte Sie,« sagte er beschwichtigend, »bleiben Sie ruhig
... wie sollte ich begründen, daß ich Sie benachrichtige davon? ...
Nein, nein, ich meine es gut mit Ihnen, herzlich gut mit Ihnen, mit
der lieben Toten und Ihrer beider Kind. Sie sollen das Kind haben ...
nur eins ... Sie selbst sind katholisch getauft ... kehren Sie zurück
in den Schoß unserer, Ihrer Kirche, werden Sie ...«

»Halt! Kein Wort mehr!« rief ich und streifte seine Hand fort von
meinem Arm. »Was fällt Euer Hochwürden ein? Wen glauben Sie vor sich
zu haben? Wie?«

Er wich zurück und wurde wachsbleich.

»Gut, so sind wir fertig miteinander«, sagte er.

»Und mein Kind nehme ich ~mit~«, rief ich, kaum noch meinen Zorn
bemeisternd.

»Nein, es bleibt ~hier~,« zischte er; »wer weiß etwas, wer glaubt
etwas von dem, was Sie mir hier sagten? Es bleibt ein Beichtgeheimnis
für mich.«

»Aber nicht für ~mich~, hochwürdiger Herr!«

»Wie?« sagte er maßlos erstaunt, »Sie wollten davon anderen erzählen?
Sie wollten den Leuten sagen, daß Sie, ... Sie ... dieses Mädchen ...«

»Ja, ja und ja!« schrie ich ihn an.

»Ich gehe von dieser Stube aus mit dem Kinde zum Standesamt, dort sage
ich vor Zeugen, daß ich sein Vater bin, daß ich dieses Kind als das
meine anerkenne, daß ich es adoptiere, ihm meinen Namen gebe ... nun,
Euer Hochwürden, ~jetzt~ werden Sie wohl davon überzeugt sein, daß
dieses Kind nicht im Kloster bleibt?«

Wie von einem Krampfe geschüttelt stand er ans Fenster gelehnt und
blickte hinab auf das noch offene Grab derjenigen, um deren Kind ein
Kampf gekämpft wurde.

»Nein,« sagte er nach einigen Minuten tiefer Stille, »nein, ich bin
~nicht~ davon überzeugt. Dieses uns von der Mutter übergebene Kind
verbleibt dem Kloster, ich gebe es ~nicht~ heraus, eher ...«

»Eher drehn Sie ihm den Hals um!« höhnte ich außer mir.

»Nun ist’s genug!« sagte er, und richtete sich hoch auf.

»Genug, übergenug!« Und seine Hand wollte auf den elektrischen Knopf
der Klingel drücken. »Ich wollte sagen, eher ...« Da wurde er wiederum
unterbrochen — durch Erika! Durch Erika, deren Gegenwart wir beide
ganz vergessen hatten in unserem heftigen Streiten.

»Ich weiß es, was Sie sagen wollen, Euer Hochwürden!« sprach die
sanfte, liebe Stimme der Heidkönigstochter, »ich weiß es, weil mir’s
Marianne gesagt hat.«

Der Domherr fuhr herum. Als ob ihn ein Pfeil träfe, so trafen ihn
diese sanft und schlicht gesprochenen Worte. Er starrte Erika an.

»Sie wollen sagen, eher verschwindet das Kind in einem anderen Kloster
... in Österreich drüben ... in dem Kloster, das hoch auf einem Felsen
steht, wo Marianne das Licht der Welt erblickt hat, ... ich sehe, Euer
Hochwürden wissen, welches Kloster ich meine ...«

In einen Sessel war der Kirchenfürst gesunken. Wie irre schauten seine
lodernden Augen auf das schlichte Heidekind. »Und ~weil~ ich das weiß,
und weil wir schon morgen das Kind vergeblich hier suchen würden,
darum müssen Sie Ihr Kind noch in dieser Stunde mitnehmen«, sagte das
liebe Mädchen zu mir gewandt.

Er bohrte drohend seine dunklen Augen in die Augen Erikas.

»Ich ~weiß~ nicht, welches Kloster Sie meinen, mein Fräulein,« stieß
er hervor. »Das Kind verbleibt dem Kloster! Mariannens Kind gebe ich
~niemals~ heraus. Eine Braut des Klosters soll ihr Kind werden, so ist
alles gesühnt.«

»Nein, gesühnt wird alles, wenn sich zu diesem Kinde der Vater bekennt
...!« rief ich in wilder Entgegnung und Angst.

»Still, still,« sagte da Erika, »diese Sühne meint Seine Hochwürden
~nicht~. Hier, nehmen Sie das und halten Sie es fest wie Ihr Leben«, —
und sie drückte mir ein zusammengeschnürtes und versiegeltes Päckchen
loser Briefblätter, das sie verborgen bei sich getragen hatte, in die
Hand. Nur ein Blättchen behielt sie und hielt es dem Domherrn hin.
»Nicht wahr, Euer Hochwürden, Sie meinen, dann ist ~dieses~ gesühnt?
~Dieses~, das hier auf diesen Blättern steht. Nein, nein, Hochwürden,
Marianne ist nicht das Opfer ~dieses~ Mannes hier« — und sie zeigte
auf mich — »wie Sie es heute am Grabe sagten! — — — Soll ich sagen,
~wessen~ Opfer Marianne ist?«

»Sag’ es erst, wenn sie ihm das Kind entreißen wollen,« hat mich
Marianne angefleht und mir diese Papiere gegeben; »aber zerreiße
ungelesen diese Blätter, ~wenn~ er mein Kind erst sicher hat«,
beschwor sie mich weiter. »Euer Hochwürden, hier, sofort müssen Sie
sich entscheiden: wollen Sie uns mit dem Kinde ruhig unserer Wege
gehen lassen, oder sollen diese Blätter gelesen werden? Nimmer Herr
Domherr, wird über meine Lippen kommen, was Marianne mir aus Angst um
ihr Kind anvertraut hat; ungelesen verbrannt werden diese Papiere,
sobald dieser um sein Kind besorgte Vater von seiner Sorge befreit
ist.«

»Erika«, stieß ich hervor.

Sie hob abwehrend ihre Hände.

Was für ein furchtbares Geheimnis mußten diese Blätter bergen! War
diese gebrochene Gestalt noch dieselbe stolze Gestalt des hohen
Kirchenherrschers?

Er hielt sich, ja, man sah es, er hielt sich am Fensterkreuz fest,
sonst wäre er zusammengebrochen.

»Diese Papiere«, keuchte er, »woher hat sie sie ... woher ... woher
...?«

Er schien ganz vergessen zu haben, daß wir noch im Zimmer waren.

»Ich ersuche Euer Hochwürden, den Befehl zu geben, daß wir das Kind
mit uns nehmen können, ... sofort ...« sagte Erika.

Ich staunte die Tochter der Heide an. Wie ernst, wie fest in sich
gehalten stand sie hier und forderte ruhig und unentwegt. »Werden ...
werden ... diese Papiere ...«, stammelte der Domherr.

»Euer Hochwürden, ich gab mein Wort. Ich gab ~Ihnen~ mein Wort, ich
gab der ~Toten~ mein Wort, daß diese Papiere verbrannt werden, sobald
der Vater sein Kind hat«, sagte Erika einfach.

Ja, als sie das sagte, mußte man ihr glauben. Jeder hätte ihr
geglaubt. Mehr geglaubt als tausend Eiden anderer.

»Und niemand, auch dieser nicht ...« und der Domherr zeigte auf mich
»... wird jemals erfahren ...«

»Niemand, Herr Domherr, ich verspreche es Ihnen bei Gott im Himmel«,
sagte Erika.

Der Domherr rüttelte sich auf und drückte auf den Klingelknopf. Eine
Schwester trat lautlos ein.

»Ich gebe das Kind seinem Vater heraus«, sprach er zu ihr. »Nichts
soll ihm in den Weg gelegt werden.« Dann sank er in dem Sessel
zusammen wie leblos. —

Wir folgten der Schwester.

Ich nahm mein Kind in meine Arme; Erika ging stumm neben mir her.

So gingen wir unerkannt durch die stillen Straßen des Städtchens.

Ach, unerkannt! Und wenn die Menschen an den Wegseiten wie Mauern
gestanden hätten, es hätte mich nicht gekümmert. Ich hatte mein Kind,
dieses kleine, arme Geschöpflein, ja in meinem Arm, dicht neben mir
ging die liebe, treue Heidkönigstochter, über uns blinkten die Sterne,
und ein holdes Duften strömte aus den Gärten zu uns.

Marianne, bist du zufrieden?

[Illustration]




Nun weiß es jeder in der Stadt, daß ich Vater eines unehelichen Kindes
bin. Daß ich dieses Kind adoptieren will.

Ein paar von den Herren, mit denen ich hier verkehrt habe, sind des
Abends zu mir gekommen und haben mir abgeredet.

»Sie werden sich doch so was nicht für Ihr ganzes Leben aufladen; es
ist eine Last, bedenken Sie’s doppelt, bevor Sie’s tun. Lassen Sie
sich versetzen, geben Sie das Jöhr irgendwohin in Pflege, kein Hahn
kräht dann danach«, sagte der eine.

Der Zweite meinte: »Es ist wirklich Pech für Sie, nun so’n Kind. Wenn
Sie wirklich die Vaterschaft nicht leugnen wollen — es wäre übrigens
gar nicht so schwer, wo die Mutter tot ist und niemand sonst nach ihr
fragt —, dann tun Sie’s wenigstens heimlich. Es braucht doch keiner zu
wissen davon.«

Der Dritte sagte lachend: »Wissen Sie, geben Sie das Ding fort, eine
Frau kriegen Sie deshalb immer noch.«

Ich hörte alle drei an.

Dann sagte ich ganz ruhig und freundlich: »Meine Herren, ich weiß,
Sie haben sich’s nicht überlegt, was Sie mir eben sagten. Denn ~wenn~
Sie sich’s überlegt ~hätten~, müßten Sie mich für einen Schweinehund
halten, und der bin ich nicht, rate auch keinem, mich dafür zu
halten. Prosit, meine Herren!« —

Da wurden sie höllisch verlegen, stießen eiligst mit mir an und
plauderten harmlos von anderen Dingen.

Als ich dann dem einen von den dreien im anderen Zimmer ein paar
Rehkronen zeigte, gab er mir die Hand und sagte ganz treuherzig: »Wenn
ich mir’s recht überlege, kriege ich alle Hochachtung vor Ihnen, weiß
Gott.«

»Erst jetzt?« rief ich lachend und klopfte ihm freundschaftlich auf
die Schulter.

Ähnlich ging mir’s mit dem zweiten und dritten. Mir war’s lieb. Denn
alle drei hatte ich gern, und es waren im Grunde brave Menschen.

[Illustration]

Erikas Vater hat geschrieben, daß er am Sonnabend kommt.

Sie fährt ihm ein paar Stationen entgegen.

Ich weiß, sie will ihm in Ruhe erzählen.

Erzählen von der Kauzburg, von Mariannen, von mir und dem Kind.

Also Sonnabend!

Noch eine kurze Woche! Mir klopft das Herz zum Zerspringen.

Gott, Gott, soll ich dieses Mädchen verlieren? Soll mein Kind diese
treue Mutter verlieren? ~Zeige~ nun, Gott, daß du wirklich Gott bist!
Zeige es, so will ich glauben! Laß sie mir. Laß den guten Geist des
Hauses in meinem Hause! Aber unmöglich ist’s, ich ~weiß~ doch, daß es
unmöglich ist!

Am Sonnabend also kommt der Heidkönig!

[Illustration]

Jedem Mädchen ist die Liebe zum Kinde tief eingepflanzt von Natur: die
Mutterliebe.

Wie soll man sich’s sonst erklären, wenn man Erika mit der kleinen
Marianne sieht.

»Sind Sie denn dem Kinde gut, Erika?« fragte ich sie heute. Da nahm
sie das hilflose Geschöpf und drückte es wortlos an sich.

»Noch ein paar Tage, dann kommt Ihr Vater, Erika, was wird ~dann~?«

Sie sagte nichts, aber ich sah, wie sie sich festklammerte an das
kleine Menschenkind in ihrem Arm.

[Illustration]

Tief unten rauscht der Fluß unter der hochbogigen Brücke, die
Wasserflut drängt an die Pfeiler.

Es hat geregnet, und rasch schwillt der aus den Bergen kommende Strom
an.

Doch seit gestern scheint die Sonne wieder freundlich vom Himmel.

In den Frühlingswald fahre ich heute hinaus. Ich will den Wald um mich
haben.

Meine Waldbäume will ich sehn.

Morgen ist Sonnabend. Heidkönig, komme! Ich bin gefeit gegen dich.
Erika liebt mein Kind; sie läßt es nimmer.

Will sie das Kind behalten für immer, so muß sie den Vater des Kindes
mit in den Kauf nehmen. Es geht nicht anders, Heidkönig, also mußt du
nachgeben!

Ich mache mir ganz umsonst so viel Sorgen. Frisch glänzen die Wiesen
vom letzten Regen. Frisch glänzt — fast scheint es — das Gefieder des
Störchleins, das in den Wiesen nach Fröschen herumstrolcht. — — —

Ich vermisse Erika. Gestern fuhr sie ihrem Vater entgegen. Noch mehr
wird sie von dem Kinde vermißt. Das schreit ganz kläglich.

»Heute, bald kommt sie wieder, kleine Marianne, eia popeia,
eiapopeia.« —

Und nun schreitet sie neben ihrem Vater über den Burghof. Also so
sieht er aus, der Heidkönig?

Nicht groß, nicht klein, eine Mittelfigur. Ernst ist sein vom braunen
Vollbart umrahmtes Gesicht, klar und treu und mit dem den Heidmenschen
eigentümlichen Ausdruck des Verträumtseins und eines tiefen
Innenlebens sind seine Augen. Auf dem Burghofe blieb er stehen und sah
sich um. Dann sprach er ein paar Worte zu Erika. Sie nickte. Gewiß
hat er zu ihr gesagt: »Es ist hübsch hier zwischen den grünumrankten
Mauern, zwischen den Fliedersträuchern und dem gelben, hängenden
Goldregen, hübsch hier in dem Burghofe, über den der Rotdorn seine
Äste ausbreitet.«

Ja, zur Frühlingszeit kann sich die Kauzburg sehen lassen. Ich
höre, wie der Heidkönig von Fräulein Bartel begrüßt wird. Natürlich
wortreich, mehr als wortreich. Und nun klopft es an meiner Tür.

»Herein!« rufe ich. Erst kommt Erika herein, sie hat das Kind draußen
schon jammern hören. »Grüß Gott!« sagt sie und gibt mir die Hand und
wendet sich gleich zur Wiege, in der das Mariandel liegt und schreit
und ruhig wird und lacht, als sie es aufnimmt und hin und her wiegt.
Und vor mir steht nun ihr Vater, der Heidkönig. Er prüft mich klar
und ernst mit seinen Augen. Wir geben uns die Hände. Ein kurzer
Händedruck. Warum werde ich denn verlegen und komme mir klein vor
diesem Manne gegenüber? Der hat ~nie~ gesündigt, der kann auf sein
ganzes Leben zurücksehn wie auf einen sauberen Tisch — das sind meine
Gedanken. Und diese Gedanken machen mich verlegen und klein vor ihm.

Ein großer, von Vater und Vaters Vater her ererbter Landsitz macht die
Menschen merkwürdig sicher und in sich selbst gefestigt. Man spricht
nicht umsonst von »Bauernstolz«. Bei diesem Manne hier machte sich ein
Selbstgefühl nicht unschön breit.

Aber Selbstgefühl und Stolz ... Stolz auf seinen großen, einsamen
Heidbesitz, auf seinen Namen und vor allem auf sein und seiner Väter
unberührtes Heidleben hatte er. Den hatte Erika auch. Und diese
Menschen durften ihn haben. Mit viel ~mehr~ Recht als mancher andere.

Aber was diesen Stolz — auch beim Heidkönig — so milderte und ihn
schön machte, das war die schlichte Treue, die volle Ehrlichkeit, die
selbstverständliche Pflichterfüllung, die reinste Offenheit ohne jedes
Körnchen Lug und Trug, Verstellung und Heucheln.

»Ich kenne nur einen Weg, den geraden«, sagte der Heidkönig, sobald
man ihn sah, ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte.

Wir plauderten zunächst über alltägliche Dinge. Ich fragte ihn nach
dem Erfolge seiner Reise, nach seinem Heidhofe, seiner Heide! Er
antwortete wortkarg. Fragte mich nach meinem Walde, nach dem Wild im
Walde, besah sich die Geweihe, Rehkronen und ausgestopften Wildköpfe,
dann aber sagte er nach einer Weile nachdenklichen Schweigens: »Ich
bitte Sie, mir zu sagen, was ich an Pensionsgeld für Erikas Aufenthalt
an Sie zu zahlen habe, da ich sie morgen wieder mit mir nehme.«

Die Worte trafen mich wie ein Schuß.

Und doch war nichts natürlicher, als daß er das sagte. »Da ich sie
morgen wieder mit mir nehme«, ... immerfort hörte ich das in meinen
Ohren klingen.

Er sah mich freundlich und doch auch ernst an. Zuletzt wiederholte er
seine Frage, da ich immer noch schwieg. »Unsinn ... davon kann keine
Rede sein«, stotterte ich. »Ihre Tochter hat doch im Hause geholfen
...«

»Das ist selbstverständlich, und müßig hier sein hätte sie nicht
gekonnt, das liegt nicht in ihr, und so habe ich sie mir auch nicht
erzogen. Aber daß ich den Aufenthalt meiner Tochter nicht als Geschenk
annehmen kann, werden Sie sich selbst sagen, also bitte überlegen Sie
es sich, und sagen Sie mir morgen Bescheid.«

Dann schwieg er wieder.

Nach einer Weile sagte er: »Ich danke Ihnen, daß Sie sich bereit
erklärten, meine Tochter so lange unter Fräulein Bartels Schutz bei
sich aufzunehmen. Freilich, wenn ich gewußt hätte, ... doch nein,
Erika hat mich gebeten, Ihnen nichts darüber zu sagen, also mag es
schon so bleiben, und so sage ich Ihnen nur meinen besten Dank.«

»Und Sie wollen Erika mitnehmen, und was soll aus ~mir~ werden und aus
dem Kinde?« rief ich aufspringend.

Ruhig und prüfend lag sein Blick auf mir. Der Mann hier war freilich
ein anderes Gegenüber als der Domherr mit seiner bösen Schuld.

Das Päckchen mit Papieren hatte ich Erika sofort nach unserer Heimkehr
mit dem Kinde in die Kauzburg zurückgeben müssen. Ich hatte sie
gebeten, nur einen Blick hinein tun zu dürfen. Vergeblich natürlich
gebeten! Das Kind war ja mein geworden, in meinem sicheren Besitz,
also — mußten die Papiere ungelesen vernichtet werden. Keine Macht
der Erde hätte an ihrem Versprechen, das sie Mariannen gegeben hatte,
etwas ändern können. Aber ich war überzeugt davon, daß der Domherr
schwere Schuld an Mariannen hatte. Ich war überzeugt, daß Marianne,
das arme, auf des Klosters Schwelle ausgesetzte Kind der Straße,
~sein~ Kind war. Was war ~meine~ Schuld dagegen? Ein Stäubchen nur
gegen einen Berg!

Der Mann der Heide aber stand wie ein wirklicher König vor mir, wenn
ein reines und vornehmes Innenleben den König macht, wie man so gerne
und so falsch oft glaubt.

»Wie meinen Sie Ihre Worte, ich verstehe Sie nicht? Was aus Ihnen
und dem Kinde werden soll, wenn ich Erika mit mir nehme?« sagte er
langsam. »Was hat meine Tochter damit zu tun?«

»Hat Ihnen Erika nicht gesagt, was sie der Mutter des Kindes
versprochen hat?« rief ich.

»Nein«, sagte er. »Was hat sie der Mutter des Kindes versprochen? ...
Ach, ... da kommt sie ja selbst, ... ist gut, daß du kommst, Erika ...
was hast du ihr versprochen? Hast du gehört, worum es sich handelt?«

»Ja, Vater«, sagte sie, nichts weiter.

Er sah sie fragend an. Dann mich.

»Bitte wollen Sie mir nun dieses Versprechen nennen, von dem meine
Tochter nichts gesagt hat?«

»Vater«, sagte Erika und trat zu ihm hin.

»Schweige jetzt, da du vorhin deinem Vater nicht geantwortet hast«,
wies er sie freundlich, aber entschieden ab.

»Sie hat der Sterbenden in ihre erkaltende Hand hinein versprochen,
ihrem armen Kinde eine treue Mutter zu sein«, sagte ich, und meine
Stimme bebte. Ich kämpfte ja um das Glück meines Lebens.

»So?« ... sprach er, und seine Stirn zog sich zusammen. Seine Augen
sahen auf die Tischplatte, und so stand er lange Zeit und sprach kein
Wort.

Es war lautlos still in der Stube.

Ein paarmal weinte das Kindchen im Schlafe, weinte sich aber immer
wieder schnell in sein ruhiges Schlummern zurück.

»So?« ... sagte er noch einmal.

»Wiederhole, was du der Toten in ihre Hand hinein versprochen hast,
Erika«, wandte er sich dann an sie.

Es war, als ob er Zeit, viel Zeit brauchte, um sich in das, was er
soeben gehört hatte, hineinzufinden.

»Ich habe der Sterbenden in die kalt werdende Hand hinein unter
Anrufung Gottes versprochen, diesem Kinde hier für alle Zeit eine
treue Mutter zu sein, mein Vater«, sprach sie, ohne zu stocken, mit
tiefer, leiser, treuer Stimme. Ihre Augen, mit denen sie ihren stumm
dastehenden Vater ansah, schimmerten feucht.

»So?« ... sagte der Heidkönig zum dritten Male und fuhr sich mit
seiner rechten Hand über die Stirn.

Eine Ewigkeit schien mir’s zu sein, ehe er weitersprach.

»Und wie gedenkst du dieses Versprechen einzulösen?« fragte er.

— Was wird sie antworten?

»Ich will das Kind mit mir nehmen auf den Heidhof, Vater«, sagte sie.

Er schwieg. Ein paar Schritte machte er auf den Wagen zu, in dem das
Kind schlief, und blickte auf das schlafende, lächelnde Gesichtchen
hinab.

»Das Versprechen, dieses Versprechen an deine Mutter ...« murmelte er
zu dem Kinde.

Als ob das Kind ahnte, daß es sich um Sein und Nichtsein handelte,
denn ein Nichtsein würde es wohl werden, wenn man diesem Geschöpfchen
Erika nehmen würde, — das Mariandel in seinem Korbwagen wachte auf,
rieb sich mit den Fäustchen die Augen und fing zu schreien an.

Es klang, als ob ein Junghäslein klagte. Da drehte sich der Heidkönig
um. Eine tiefe Röte lag auf seiner Stirn. Finster sahen seine Augen
aus; tief gefurcht seine Stirn.

»Es ist nicht anders,« hub er zu sprechen an, während Erika das Kind
hochnahm und beruhigte, »es ist nicht anders; jeder Mensch muß halten,
was er verspricht. Lebte dieses Kindes Mutter noch, so würde ich mich
an ihrem Sterbebett niederknien und sie bitten: lege ~nicht~ diese
bittere Schwernis auf die jungfräulichen Schultern meines Kindes und
nimm dieses Versprechen zurück. So aber bleibt es bestehn wie des
Petrus Fels. Erika, ich erlaube dir, dein Versprechen einzulösen. Du
darfst morgen dieses Kind mit in den Heidhof nehmen. Halt,« wehrte er
sie ab, »ich bin noch nicht zu Ende. Klar muß alles werden. Auch« —
wandte er sich an mich — »zwischen Ihnen und mir und ... der Erika.«

Er schwieg eine ganze Zeit, dann sprach er weiter, ruhig, ernst und
nachdenklich:

»Ich bin nur ein einfacher Mann, ich habe mein ganzes Leben in
einsamer Heide zugebracht, und so habe ich nichts von der Welt und
ihrem Tun und Treiben kennengelernt. ~Hätte~ ich’s, vielleicht dächte
ich so, wie viele denken mögen über die Unzucht und Unkeuschheit.
Ich kann aber nur so darüber denken, wie ich eben denke. Und so sage
ich Ihnen denn: nie wird meine Tochter meinen väterlichen Segen dazu
erlangen, daß sie einen Mann zum Ehemann nimmt, der so wie Sie der
Vater eines unehelichen Kindes ist. Ich sage ~Ihnen~ das und sage es
~dir~, Erika. Meine Augen sehen scharf wie des Wanderfalken Augen,
wenn es sich um meine Tochter, um mein einziges Kind handelt. Und
ich habe gesehn, daß Erika Ihnen zugetan ist und Sie der Erika. Laß
mich reden, Kind,« wehrte er seine Tochter wiederum ab, »was ich
hier sage, ~muß~ gesagt werden, damit alles für alle Zeit klipp und
klar ist. Wollen Sie leugnen,« sagte er zu mir gewandt, »daß Sie sie
liebgewonnen haben, nachdem Sie erkannt haben, daß es ein keusches,
braves unverdorbenes Heidekind ist?«

»Nein, ich leugne es nicht!« rief ich, »Erika ist der gute Geist
dieses Hauses, sie ist mein guter Geist geworden, ich weiß nicht, was
aus mir werden soll, wenn ich sie für immer verliere.«

»Sie sind ein ~Mann~«, sagte der Heidkönig, »~seien~ Sie ein Mann!
Ein Mann muß stets wissen, was werden soll, und hätten Sie das früher
gewußt und bedacht, so ständen Sie jetzt keusch und in allen Ehren vor
mir, und ich würde Ihnen meine Tochter nicht weigern. Aber Sie werden
und müssen einsehn, daß ich so handeln muß, wie ich jetzt handle, und
ich denke, daß Sie mir nichts in den Weg legen?«

Ich hörte die tief verborgene Besorgnis aus seiner Stimme? O, er
wußte, daß ich in Erikas Liebe zu dem Kinde und in ihrem Mitleide mit
mir, dem Vater dieses Kindes, starke, gefährliche Bundesgenossen hatte!

Sollte ich sie brauchen? Sollte ich mich hinwerfen vor ihr, ihre
Knie umfassen und immer wieder bitten: »Bleib, du guter Geist dieses
Hauses, ach, bleibe!?«

Da tönte wieder seine Stimme.

»Geben Sie sich keiner falschen Hoffnung hin,« sagte er, und mir war,
als habe er in meiner Seele gelesen, »Erika wird nie einem Manne
angehören wollen, der ein Kind sein eigen nennt, zu dem er sich erst
bekennen mußte, ehe es vor den Menschen sein Kind werden konnte.
Unsere Frauen und Mädchen in der einsamen Heide denken darüber streng.
Nicht wahr, Erika?«

Ich hielt den Atem an.

Sie schwieg.

Da vertiefte sich die Furche in der Stirn des Alten. »Wie, Erika,
du schweigst? Hab’ ich dich deshalb aus dem Heidhofe hierher gehen
lassen, damit der Schmutz deine reine Seele vergiftet?«

»Ich denke ~so~, wie du denkst, Vater«, sagte die Heidkönigstochter
und sah in Scham auf das Kind in ihrem Arm herab. »Ich habe aber einer
Sterbenden mein Wort gegeben, Vater. Und ...« Sie sah ihn nun bittend
an.

»Das sollst du halten, meine Tochter«, unterbrach sie der Heidkönig.

»Das Kind darfst du mit in den Heidhof nehmen, und zwar für ein Jahr.
Dann ist es aus dem gröbsten heraus, und wir können es seinem Vater
ohne Sorge wieder zurückgeben. So hast du dein Versprechen gelöst und
bleibst trotz allem mein reines Kind der Heide.«

»Sind Sie damit einverstanden?« wandte er sich an mich.

»Ich bin’s«, erwiderte ich, denn die Hoffnung zog wie ein Lichtstrahl
in mein Herz.

»Ja, ich bin’s und danke Ihnen, daß Sie das erlauben! Was sollte sonst
werden jetzt mit mir und dem Kinde?«

»Gut, so sind wir einig. Nur mache ich zur Bedingung, daß Sie vor
Ablauf dieses Jahres Ihren Fuß nicht über die Schwelle des Heidhofes
setzen.«

Ich blickte hinüber, wo Erika mit meinem Kinde stand. Ich sah, wie sie
erblaßte, wie ihre Augen angstvoll und in voller Frauenliebe auf mir
ruhten, ich sah aber auch, daß irgend etwas in diesen braunen Augen
stand, das mir zurief: »Gehe auf diese Bedingung ein, harre aus und
hoffe!«

»Darf ich wegen des Kindes ab und zu an Ihre Tochter schreiben?«
fragte ich.

Er dachte lange nach.

»Man kann einem Vater solche Bitte nicht abschlagen,« sagte er dann;
»darf er an dich schreiben, Erika, und willst du ihm antworten?«

»Ja, Vater«, erwiderte sie.

»Nun gut, so mag’s sein«, sprach er. »Und nun wissen wir voneinander,
was wir wissen mußten, bevor ich von hier wieder abreise«, sagte er zu
mir. »Ich halte Sie trotz der schweren Verfehlungen für einen braven
Mann. Sehn Sie zu, daß Sie sich in Ihrem Kinde eine brave Tochter
erziehn, so wird das Unrecht gesühnt, daß diesem Kinde das Leben gab.
Jetzt will ich’s Ihnen auch offen sagen: es hat mich gefreut, daß Sie
sich so offen zu dem Kinde bekannt haben. Hätten Sie’s nicht getan,
so hätte ich nicht den Dank über meinen Mund gebracht dafür, daß Sie
damals Fräulein Bartel erlaubten, Erika herzunehmen. — Bis morgen
also.«

[Illustration]

Bis morgen also!

Es ist spät am Abend. Die andern schlafen, ich aber bin noch wach und
wandere ruhelos in meiner Stube auf und ab. Bis morgen also!

O, wäre ewig diese Nacht! Gäbe es doch kein Morgen! So behielte ich
sie in diesem Hause, so hätte ich wenigstens das Gefühl: sie ist noch
hier.

Sie und mein Kind.

»Eine schwere Verfehlung«, hatte der Mann gesagt. Keiner hat mir so
ruhig, so schlicht und so wahr meine Sünde vorgehalten, als dieser
Mann!

Ach, Marianne, du bist nun tot, und nun geht auch deine Schuld auf
meine Rechnung über.

Nun muß ich alles auf mich nehmen und kann nicht sagen: »Mann, sie hat
doch ~auch~ schuld. Sie hatte doch ~mehr~ schuld als ich!« — Du bist
tot: Was würde er sagen, hätte ich so von einer Toten gesprochen!

Nein, Marianne, ich werde deine Ruhe nicht stören. Aber, so es
wirklich ein Jenseits gibt, an das du doch auch immer glaubtest, so
mache ~deinen~ Teil der Schuld gut, wirf dich hin vor Gottes Thron und
flehe ihn an, daß des Heidkönigs Tochter nicht nur für dieses eine
Jahr dem Kindchen eine treue Mutter sei, sondern fürs ganze Leben.
Flehe ihn an, daß sie mein Weib wird.

So wirst du gutmachen, was du an mir gesündigt hast in deiner
Leidenschaft und Liebe zu mir. Wenn zwei eine Sünde tun, so sind doch
~beide~ Sünder!

Ach, dieser schreckliche Begriff von Sünde!

Festgeschmiedet ist die Menschheit in unheilvolle Fesseln. Nein, nein,
nicht unheilvoll!

Gibt es etwas Heiligeres als die Fesseln von Staat und Kirche, die den
Mann an ein geliebtes Weib binden?

Sie werden nur unheilvoll durch das Verschulden der Gefesselten
~selbst~.

Fessel! Gefesselt! — — —

Fessellos! Frei! — — —

Freie Liebe! Freie Leidenschaft!

Ich höre mein Kind schreien! — Ach, du armes Häschen, du! Du Kind der
freien, fessellosen Leidenschaft!

Denk’, mein armes Häschen, wenn ich mich nicht zu dir bekannt hätte
als dein Vater.

Dann hätten sie dich zu einer Nonne gemacht. Nie wären die Freuden,
die unschuldvolle Lust des Kindes an dich herangetreten.

Immer hätte man dir als deine Schuld angerechnet, die andere getan
haben. Beten und büßen hättest du gemußt für die Sünden deiner
Mutter und deines Vaters. Nie hättest du Elternliebe, Mutterliebe
kennengelernt, immer hätte es geheißen: Du bist ein Kind der Sünde, du
kannst nur durch Gebet in den Himmel kommen.

O, du mein armes Häschen du! —

Freie Liebe! Freie Leidenschaft!

Tausendmal müßten es alle bedenken, bevor sie in freier Liebe, in
freier Leidenschaft alle Schranken durchbrechen! Und doch auch
wieder: Wie menschlich, wie jammervoll menschlich ist es! Wir
~haben~ doch unsere Leidenschaft, unsere Liebe! ~Warum~ haben wir
sie denn? Wenn sie Sünde ist und alles, was aus ihr zum Leben
kommt, das Kind der Sünde ist? Da gehst du nun, leuchtender Mond in
stiller Frühlingsnacht, deine hohe, ruhige, immer und immer gleiche
Himmelsbahn! Du wirst von so vielen als schönes, mild lächelndes Licht
gepriesen und besungen.

Was bist du denn in Wahrheit! Nichts als ein gefühllos kalter Stern
im großen Weltall. Du lächelst dasselbe Lächeln, wenn unter dir ein
Mord geschieht, du lächelst dasselbe Lächeln, wenn unter deinem
verbergenden bleichen Glanz zwei Menschen in Leidenschaft sich
befinden und diese Leidenschaft dann lebenslang ein armes Menschenwurm
büßen muß, du lächelst dasselbe Lächeln ~heute~ — und ~morgen~
verlassen die beiden mein Haus!

Man weiß, du bist nichts weiter als ein kalter Stern, und doch kann
man sich dir nicht entziehn.

Auch heute, wo ich mich aus dem Fenster lehne und in die
glanzumflossene, stille Silbernacht mit dem Schmerz der Trennung
schaue, bist ~du~ es, kalter nichtssagender Gesell dort oben, der in
mein Herz die Abgeklärtheit dieses Schmerzes senkt.

Morgen abend um diese Zeit!

Da ist sie schon im Heidhofe, fern von mir in der fernen Heide. Mein
Kind aber ist bei ihr. Und daß sie es hat, das spinnt Fäden, fein wie
von Spinnenfleiß gesponnene Fäden von der Heide bis hier in meine
Kauzburg hinein. Dann muß ich dich ~wieder~ bitten, dich, den kalten
Gesellen Mond, der so verträumten Glanz auf unsere Erde ausgießt, —
ich muß dich bitten, mit deinem Silberglanze diese Fäden zu erfüllen,
so werde ich sie sehen. Was unsichtbar von Seele zu Seele sich spinnt,
wird sichtbar werden im weichen Silberglanz des Mondes.

Und sorgen will ich, daß diese Fäden nicht zerreißen.

Schreiben in die Heide will ich ihr; schreiben, wie einsam ich wieder
bin und wie verlassen. Immer mehr will ich in ihre Seele das Mitleid
mit mir pflanzen. Immer mehr will ich ihre Liebe wecken für das Kind.
So wird das Gespinst der Fäden immer haltbarer, immer fester. Bis es
unzerreißbar sein wird. Dann klettere ich daran hoch, hinein bis ins
kleine Fensterlein ihres Heidhofstübchens. Heidkönig, ich nehme den
Kampf mit dir auf! Ich sage dir Krieg an bis aufs Messer um deine
Heidkönigstochter!

Ein Königstöchterlein gibt man nicht so leicht auf. Und ein
Heidkönigstöchterlein erst recht nicht! Aber ein Jahr, ein ganzes,
volles, langes Jahr! Ein Jahr, daß dreihundertundfünfundsechzig Tage
hat und ebenso viele einsame Nächte! Und Nächte sprechen lauter zu dem
einsamen Menschen als Tage.

Die Nächte sprechen durch ihre Stille so laut zur dürstenden
Menschenseele.

Wie wird meine Seele nach dir dürsten, du treues, liebes
Königstöchterlein!

Ein Königreich wirst du mir schenken, und dieses Königreich bist du.

In tiefen, abgrundtiefen Schlaf möchte ich mich ein Jahr lang
versetzen und aufwachen erst zur Stunde, da ich vor dir stehe und du
vor mir.

Und zwischen uns das Kind.

Doch nein, nein. Wir werden uns ja schreiben! Wach muß ich bleiben und
treu im Wachen! —

Morgen bist du in deiner Heide, Heidkönigstochter. Der Frühling
empfängt dich, blühn und duften wird es aus tausend, vielen tausend
Blumen, wenn du, die Königin der Heideblumen, heimkehrst zur Heide.

Die Bienen werden summen und gelben Pollenstaub an ihren Beinchen
verschleppen, von Blüte zu Blüte werden sie naschend und nippend
fliegen und heimgeleiten dich, du Königin aller Heideblüten.

Die Schmetterlinge werden ihre zarten Flügel spannen, im flimmernden
Sonnenschein ihr buntes Farbenspiel entfalten, und in dein braunes
Haar werden sie sich niederlassen, weil du die Königstochter der Heide
bist.

[Illustration]

Der Heidkönig wollte nicht, daß ich ihn und seine Tochter zur Bahn
brachte.

So blieb ich denn in der Kauzburg zurück.

Fräulein Bartel begleitet sie ein Stück Weges noch auf der Bahn und
kommt morgen früh zurück. Sie wollte mein kleines Mariannchen auf
ihren Arm nehmen, aber Erika ließ es nicht zu.

Sie nahm mein Kind in ihre Arme. Wie geborgen wird das kleine
Geschöpfchen sein. Viel geborgener, als ich es bin.

Kaum hatte sich das Tor der Kauzburg hinter ihnen geschlossen, da
riß ich meinen Gaul aus dem Stall. Gesattelt war er. Ich schwang
mich hinauf, und fort ging’s wie die wilde Jagd querfeldein an die
Bahngleise heran. Ein paar Minuten vor dem Zuge war ich an Ort und
Stelle. Draußen, gerade dort, wo der Wald anfängt, riß ich meinen Gaul
zusammen. Er stand wie eine Mauer dicht an den Bahnschienen.

Und da kam der Zug, ganz langsam, wie die Kleinbahnzüge es tun,
heran. Mein Waldhorn hatte ich schon am Munde. Klar klang sein
schwermütig-fröhlicher Ton dem Zuge entgegen. Kaum erklangen die
ersten Töne, so bog sich das Kind der Heide weit hinaus.

Sie kannte ja mein Waldhorn, und oft hatte ich des Abends Volkslieder
auf ihm geblasen.

Weit bog sie sich heraus. Ihr braunes Haar spielte im Winde. Aus ihren
Augen blinkten die Tränen, und mit einem Blick der Liebe sah sie mich
an wie nie zuvor.

»Lebe wohl, auf Wiedersehen!« rief sie mir zu, als sie so nahe an
mir vorbeifuhr, daß sie mich fast mit ihren Fingerspitzen erreichen
konnte, die wie ein Hauch über mein Gesicht glitten.

Schon war der Zug um die Waldbiegung verschwunden.

Ich aber blies weiter das alte Lied vom Scheiden und Meiden, und der
Wald trug lang und bang das Echo zurück.

Dann sprang ich jählings herunter vom Gaul. Ins Gras warf ich mich,
und über mir in den grünen Wipfeln der Bäume klangen die Blätter
aneinander und flüsterten leise, ganz leise: »Lebe wohl, auf
Wiedersehen!«

[Illustration]

Einen blühenden Erikazweig brachte mir Fräulein Bartel mit: »Von
Erika, das schickt sie Ihnen.«

[Illustration]




Liebe Erika!

Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief. Sie hätten mir sicher viel
eher geschrieben, wenn Sie gesehn hätten, wie ich Tag für Tag dem
Briefträger entgegeneilte, wenn er die kleine, steinüberwölbte Pforte,
durch die Sie so oft ein und aus gegangen sind, öffnete und seine
rotstreifige Mütze sich zeigte.

Die Vögel haben längst ihre Nester gebaut, schon hat abgeblüht der
Flieder, das Korn schießt schon in seine Halme. Der Sommer naht, ist
eigentlich schon da, und endlich, endlich heute der ersehnte Brief.

Dem Dürstenden eine Wasserspende. Ach, ich war gleich dem Dürstenden
in weiter, öder Wüste. Aber nun bin ich in der Oase. Die Palmen
rauschen über mir, die Quelle sprudelt, ringsum ist Wüste, doch ~ich~
bin geborgen.

Haben Sie Dank, Heidkönigstöchterlein, daß Sie aus Ihrem Brunnen mir
den Krug zum Trinken reichten.

Ein tiefer Brunnen ist’s, aus dem Sie Wasser schöpfen, und wie ein
reiner Bergquell ist sein Inhalt.

Die Heide muß den Bergen gleichen, denn auch in ihr herrschen
Einsamkeit und Reinheit.

Dreimal schon habe ich Ihren Brief gelesen, dreimal des tiefen
Brunnens silberklares Wasser ausgeschöpft, und nun ich wiederum ins
Lesen komme, wird mir der Trunk zum neuen Labsal wieder.

Also dem kleinen Mariannchen geht es gut? Wie könnte das anders sein,
wo das Kind in Ihnen eine so treue Mutter gefunden hat. Und Ihr
Vater, der Heidkönig, kann gar nicht mehr ohne das Kind sein? Das
sind zwei schöne Botschaften, die mir die Heide sendet. Die dritte
schöne, schönste Botschaft atme ich aus den Blumen ein, die das
Heidkönigstöchterlein zwischen die Seiten des Briefes legte. Frisch
sind die Blumen wieder aufgeblüht in der Vase mit Wasser, die neben
mir steht. Sie duften den frischen Heideduft mir zu. Er schwebt durchs
Zimmer, haftet sich an mein Gewand, von draußen flimmert sommerliche
Abendsonne durchs offene Fenster herein, die Meisen hör’ ich zirpen,
den Pirol locken und die Finken schlagen. Lieg’ ich in stiller Heide?
Kommt dort nicht durch das blühende, schöne Heidekraut die Tochter
der Heide gegangen? Neigt sie nicht den Kopf mir zu? Glänzt nicht aus
ihren Augen lautere Treue? Streift sie mit sanfter Hand nicht über
meine Stirn?

Ich bin einsam, Erika, unendlich einsam.

Seitdem die Heideblume nicht mehr in meiner Kauzburg blüht, seitdem
sie mit meinem Kinde, das nun an ihrem Herzen zur kleinen Heideblume
erblühn wird, fortzog in die Heide zurück, bin ich einsam.

Ich will keines Menschen Mitleid.

Ich verachte das Mitleid der Menschen.

Ein einziges Mitleid aber will ich mir erhalten, will es ausdehnen
so weit, daß die ganze Heide um den Heidhof davon träumt und in
stillen Träumereien davon erzählt, solange erzählt, bis Ihr Herz ganz
davon erfüllt wird. Das Mitleid in einem Mädchenherzen öffnet wie
ein Schlüssel die Pforte zur Kammer der Liebe. Und die Liebe vermag
den unübersteigbaren, winterharten Berg zum stillen, grünen Tale
umzuwandeln.

Wird für mich das stille Tal ergrünen?

Leben Sie wohl, Erika. Grüßen Sie mir mein Kind, es soll seine kleinen
Arme um Ihren Hals schlingen und soll wie ein kleiner Engel sein, der
zwei Herzen mit seinem silbernen Hammer fest zusammenschmiedet für
alle Ewigkeit. Grüßen Sie auch den Heidkönig. Er riß uns auseinander,
aber ich kann nicht anders: Ich will ihm grollen und zürnen und vermag
es nicht. Er hat ganz recht, dieser stolze, schlichte Mann: Erst die
Buße reinigt und erst das Fegefeuer öffnet uns den Weg zum Himmel.
Meine Buße habe ich und mein Himmel ist ein Königstöchterlein, das
wie eine Madonna mit dem Kinde durch die Blüten der braunen Heide
schreitet.

                                  Ihr

                                                       einsamer Freund.

_N. B._ Ich habe meine Versetzung nach Schlesien erbeten. Wenn es mir
doch glückte. Ich bin ein solcher Heimatmensch und hänge an der Heimat
wie eine Fledermaus tagsüber in der Räucherkammer hängt.

Mich stören hier auch die Erinnerungen und ... die Menschen. Kürzlich
rief ein Kuckuck statt Kuckuck immerfort: Erika, Erika, Erika. Ich
hab’s deutlich gehört. Und Sie werden lachen, wenn Sie das lesen. O,
Sie böses, süßes Heidekind, Sie!

[Illustration]

Daß du dich so riesig freust, liebe alte Mutter!

Feste der Freude willst du feiern über die Rückkehr des verlorenen
Sohnes? Liebe Mutter, du lächelst. Ich sehe in deinem lieben
Muttergesicht die kleinen Runzelchen und Fältchen, die dein Gesicht
so schön machen. So wunderschön, wenn aus ihnen tausend liebe
Mutterlächeln strahlen. Du schreibst mir: »Ich will Dich bei Deiner
Rückkehr ins liebe schlesische Heimatland feiern, wie man den
verlorenen Sohn bei seiner Heimkehr feiert; freilich warst Du mir
in einem ganz anderen Sinne ein ›verlorener Sohn‹: Nur weil Du fern
warst, viel zu fern von einer so alten Frau, als ich eine bin, nur
darum mir verloren, Du lieber Sohn.«

Ach, liebe Mutter, wenn du wüßtest, wie nahe daran ich war, der
biblische verlorene Sohn zu sein. Was wirst du sagen, wenn du alles
weißt? Und wissen mußt du es! Wie werden deine Augen ratlos in
Herzensangst blicken, wenn ich dir sagen werde: »Ich bin Vater eines
Kindes!« Wirst du dieses Kind als Enkelkind aufnehmen? Bei deinen
gläubig-strengen, durch die Tradition geheiligten Grundsätzen?

Wie leid tut es mir, dir diesen Kampf nicht ersparen zu können.

Bereite noch ~keine~ Feste vor für den »verlorenen Sohn«, liebe Mutter!

Erst wenn du weißt, daß es eine Zeit gab, wo er wirklich der verlorene
Sohn war, dann, ja dann nimm ihn ans mütterliche Herz und laß ihn dort
die Feste feiern, die deine Mutterliebe ihm bereiten wollte.

[Illustration]

Man verwächst mit einem Ort, an dem man längere Zeit geweilt hat, ohne
daß man es merkt.

Erst die Abschiedsstunde macht es uns bewußt. Als ich meinen Wunsch
erfüllt sah und nach Schlesien versetzt war, überkam’s mich im ersten
Augenblick fast wie ein Schreck. Auf einmal sah ich manches, was ich
bis jetzt nicht gesehn hatte.

Wie schön, wie selten schön ist doch dieser Blick über den alten
Kirchhof hinüber weit in das Flußtal hinein. Wie eigenartig doch die
Kauzburg selbst!

Wie traut mir diese hohen Räume, in denen ich mich erst so ungemütlich
fühlte!

Ob wohl in Schlesien Buntspechte im Forstgarten sein werden wie hier?
Ob dort wohl auch im Frühling die Nachtigall ihr einsam schönes
Nachtlied im Garten singen wird? —

Am Abend ging ich zum Grabe Mariannens. Auch hier ein Abschied. Von
vielem.

Als ich vom Grabe aufsah, erblickte ich den Domherrn am Fenster
stehend. Krank sah er aus, schwer leidend. Ich glaube, dies Grab, an
dem ich stehe, hat’s ihm angetan. Als meine Augen auf ihn fielen,
machte er eine Bewegung, als wollte er rasch ins Dunkle des Zimmers
zurücktreten. Dann aber blieb er stehen. Langsam, ganz langsam beugte
er sich hinaus. Und dann sagte er mit verschleierter Stimme zu mir:
»Ich werde über diesem Grabe wachen und es pflegen. Ist es nicht
schön gepflegt? Daneben ... daneben ...«

Da brach er ab, denn eine Nonne ging quer über den Kirchhof.

Ich grüßte hinauf, als ich ging.

Er grüßte zurück und sah mir nach, bis sich die Pforte hinter mir
schloß.

Also ~doch~ ein Herz unter dem gestickten Priesterkleid.

»Daneben ... daneben ...«

Ich wußte, was er meinte.

Neben Mariannens Grab wird bald ein anderes sein. Dann ist auch ~er~
tot. Mich wird’s nicht stören, komm’ ich im nächsten Jahre zu ihrem
Grab. Denn die Toten haben alles hinter sich; auch ihre Sünde. Die
Erde entsündigt. Sie gleicht aus, was ungleich war. Ein bißchen Erde
~mehr~, nichts anderes. Soll man einem Teilchen der Erde zürnen, die
für uns alle der gleiche Schoß ist?

[Illustration]

Auch das heidnische, steinerne Käuzchen nehme ich nicht mit nach
Schlesien. Ich traue diesem Käuzchen nicht! Wer weiß, ob nicht böse
Geister daran schafften. Und ich habe mir das Unglück ins Haus
getragen mit ihm.

Heruntergeschafft habe ich’s wieder und vor den Eingang des
unterirdischen Ganges gestellt. Dort mag es stehen und den Gang in das
stille Tal verschließen wie früher. —

[Illustration]

Ich benutzte den Nachtzug nach Schlesien. Fern flammte das Abendrot
über dem Himmel, als ich das Städtchen verließ. Mit was für Gedanken!
An Vergangenheit, an Zukunft. Was hat mir ~jene~ gebracht, was wird
mir ~diese~ bringen? Wie mit blinden Augen müssen wir kommenden Tagen
entgegengehn. Nie weiß man, was der nächste Tag uns bringt. Was sag’
ich, ... Tag! ... Die nächste Stunde, der nächste Augenblick. In
Kleinigkeiten können wir das blinde Schicksal meistern, in großen
Dingen nicht.

[Illustration]

So bin ich denn in meinem Schlesien wieder!

Daheim! In der alten Heimat!

Ihr Bäume habt meine Knabenjahre beschützt, ihr Bäume legtet ~mir~ den
Traum der Jugend in mein Herz. ~Dich~, du mein grüner, heimatlicher
Wald!

Dich selbst! Du warst mein Jugendtraum und bist es noch und wirst es
bleiben allezeit.

O rauscht nur, ihr alten Kiefern! Hinknien will ich mich an den
Waldbach, der aus dem hellen Felde zum dunklen Walde fließt, hinknien,
wo einst des Knaben Höslein ihre Löcher kriegten. Wo einst der
Knabe sprang und rutschte auf den Ästen, das Eichhorn jagte und die
Krähennester ausnahm, da will ich heute knien.

Und dankbar sein für meine Rückkehr in die Heimat.

Ach, Heimat, Heimat! Was alles birgt doch dieses eine einzige Wort!

Eine Welt für sich. Eine volle, ganze Welt. Umragt von hohen Mauern
gegen alles Fremde, gegen kalte, fremde Herzen, kalten, fremden
Händedruck.

Eine Welt voll Sonne, die das Herz erwärmt, voll Licht, das durch die
Adern strömt wie goldner Glanz und goldenklarer Strom, ach, eine Welt
auch von Erinnerungen, von Trauer auch um euch, ihr lieben Toten, die
ihr nicht mehr seid. — — Dort diese Kiefer kenne ich so gut!

Wie oft hab’ ich auf diesem starken Ast, der sich als stärkster aus
dem Wipfel in die Breite streckt, gesessen und aufgepaßt aufs Wild,
das in die Felder trat; des Abends. Der rote Sonnenball war immer im
Versinken, da trat der starke Rehbock aus der jungen Dickung und warf
mißtrauisch seinen gehörn-geschmückten Kopf hoch auf.

Links drüben ein paar Ricken mit einem jungen Böckchen. Kaum zeigte
sich’s, hui, war der Starke wie ein vom Bogen straffgeschnellter Pfeil
hinter ihm her! Die Eifersucht! Die liebe Eifersucht!

Hier hoppelte ein Häschen in das Feld. Vorsichtig, Männchen machend,
mit den Löffeln wackelnd, bald hierhin, dorthin schnuppernd, endlich
ganz beruhigt in seinem lieben Hasenherz, nun rasch mit ein paar
Sätzen hinüber in den Klee. Der schmeckt ihm wie uns ein Gläschen
guter Wein. —

Ein schlichtes Forsthaus unweit des Oderstromes ist meine schlesische
Oberförsterei.

Aus den Fenstern im Dachgiebel kann ich das Wasser des Stromes sehen.

Ruhig fließt er dahin. Wildenten schnattern im Schilfe. Und schwirren
pfeifenden Fluges hoch, umkreisen mein Forsthaus und lassen sich
brausend im Schilfe wieder ins Wasser hinab.

In meinem jetzigen Forsthause gibt’s keine hohen Räume, in denen
Ritter und Mönche hausten. Aber auch keinen unterirdischen Gang mit
Steinkäuzchen und heidnischen Denkmälern gibt’s. Klar wie die Sonne
am lichten Sonntag ist alles in meinem Haus.

Von Ruhe spricht alles hier, — fern von der Welt, der Wald ringsum,
der stille, hohe Wald, — ja, von Ruhe.

Nun hab’ ich, was ich stets ersehnte: ein Forsthaus in schlesischer
Heimat.

Nun ist die Heimat wieder mein.

Mein erster Brief aus der Heimat soll in den Heidhof eilen zu dir,
Heidkönigstochter.

                             Liebe Erika!

Mein erster Brief aus Schlesien, meiner Heimatprovinz, soll zur
Heidkönigtochter eilen! Eile, mein Brief, oh, eile! Bedenke, bald ist
der Sommer hin, bald flattert das Laub von den Bäumen, bald, bald
wird’s schneien, und dann kommt das Frühjahr! Im Frühjahr darf ich
doch ~selbst~ in die Heide! Meinst du, mein Brieflein, daß ich dann
~schreibe~?! O nein, dann eile ich selbst, so wie du heute eilen
sollst! Dann zieh’ ich dem Frühling entgegen, der in der Heide für
mich blüht ... Ja, dann ... Mein Königstöchterlein, dein König sendet
dir seinen ersten Heimatgruß! Ein großer Strom fließt in ruhiger
Majestät an meinem Forsthaus vorbei. Die großen Segelschiffe gleiten
auf und nieder.

Die Oder trägt sie alle. Und führt sie alle an ihr Ziel. Wie eine
Mutter die Schar der Kinder.

Im Mondschein stehe ich gerne am lieben Oderstrom. Wenn die Schiffe
lautlos herangleiten, die weißen Segel vom silbernen Mondglanz
umflossen, dann ist’s mir, als ob sie mir aus der stillen, fernen
Heide das Heidkind bringen sollten.

Erika, wie werde ich des Frühjahrs harren! Wie werde ich aufpassen,
wenn die erste Schwalbe am Giebelfenster zwitschern wird. Wie werde
ich auf den Kiebitz lauern, auf das Schnepflein am Waldrand drüben.

Wenn der Frühling im Lande sein, wenn sein strahlendes, holdes Antlitz
uns anlächeln wird, dann werde ich rüsten zur Fahrt in die Heide.
~Aus~ der Heimat werde ich ~in~ die Heimat fahren. So lockt mich die
Heide. Ich kam so froh hierher und bin so ernst und still, seitdem ich
hier bin.

Warum wohl, Heidekind, warum?

Ach, weil mir immer mehr und mehr die Heidkönigtochter fehlt! Weil
immer mehr mein Herz sich nach ihr sehnt. Doch still davon. Was man so
ganz im Herzen hat, das duldet keine Worte. Das liegt verschlossen wie
in einer Kammer. Wie Gold in einem goldenen Schrein.

Grüßen Sie mir mein Kind, liebe Erika. Mein Kindchen, bist Du Dir
denn auch bewußt, daß Du mein Fürbitter sein sollst?

[Illustration]

Als ich in die Fremde zog, sah ich, bevor ich um die Ecke bog, das
liebe, alte Muttergesicht am Erkerfenster. Ich sah, wie es sich an die
Scheiben preßte und dem Sohn nachsah. Die guten, alten Mutteraugen.
Die so treu wie es nur Mutteraugen können, auf das Kind herabsehn.
Und heute, als ich aus der Fremde wiederkam, zurückkehrte in die
alte Heimat, sah ich, wie damals, das liebe, alte Muttergesicht am
Erkerfenster. Wie ein Sonnenschein flog es über dieses liebe, alte
Gesicht, als ich um die Ecke bog. Und doch stand eine Wolke über der
Sonne oben am Himmel. Ach, eine Wolke stand auch über mir. Über dem
heimkehrenden Sohne.

Noch ahnst du nichts, liebe Mutter. Noch ist für dich der
heimkehrende Sohn derselbe Sohn, der er war, als er in die Fremde
ging. Wie ein verlorener Sohn wurde ich empfangen. »Du bist mir doch
wiedergeschenkt, richtig wiedergeschenkt, mein Junge, jetzt, wo Deine
Oberförsterei so nah von hier liegt«, meinte sie lächelnd, als sie
mich immer und immer wieder mit ihrer runzligen Hand streichelte.
Diese alte, zitternde Hand. Ich hatte ihr nun schon so viel erzählt
von meiner jetzigen Oberförsterei und der früheren. Kein Wort bis
jetzt von dem Schweren, das ich erlebt hatte, nichts bis jetzt von
Marianne, nichts von dem Kinde, nichts von Erika.

»Du verschweigst mir die ganze Zeit, seit du bei mir bist, etwas, mein
Junge. Darf es deine alte Mutter nicht wissen?« Ich erschrak, als sie
in ihrer mütterlich besorgten Weise diese Frage tat. Wie scharf sieht
doch eine Mutter ins Herz des Kindes!

»Ich verschweige dir etwas, Mutter?«

»Ja, du verschweigst mir etwas, Sohn. Dich bedrückt etwas, sage es mir
doch, vielleicht kann ich dir helfen.«

Da zog ich behutsam das Bild des kleinen Mariannchens, meines
Töchterleins, aus meiner Brusttasche.

Sie folgte aufmerksam meinen Bewegungen. »Was hast du denn da, lieber
Sohn?« fragte sie mit einer sie so gut kleidenden Neugierde. »Was ich
hier habe, Mutter? Ei, hier ist das, was ich dir verschwiegen habe.«

»Also hatte ich recht, ja, ja, eine alte Mutter fühlt es, wenn das
Kind, und wenn das Kind auch so ein großer Sohn ist, Kummer hat.«

»~Kummer~, Mutter?«

»Ja, Kummer, lieber Sohn«, sagte sie.

»Ich fühl’s, fühl’s ganz deutlich.«

»So sieh dir doch einmal dieses Bild an, Mutter«, bat ich.

»Ei, was für ein liebes, liebes Kindchen ist es! Wer ist denn das
Geschöpfchen? Und wie es lacht und seine Ärmchen vorstreckt, ach wie
allerliebst, gewiß das Kind von einem deiner Freunde, lieber Sohn!«
rief sie und sah voll Freude auf das Bild.

»Sieh’ es dir recht genau an, Mutter«, bat ich. Sie sah auf.

»Nanun, du tust ja ganz merkwürdig, Junge. Was machst du denn für ein
Gesicht? Ist wohl tot, gestorben, das herzige Kind?«

»Nein, Mutter, es lebt. Das Kind lebt, Mutter«, sagte ich leise.

Da blickte sie noch einmal scharf auf das Kindergesicht. »Es lebt, das
Kindchen«, sprach sie mir langsam nach und sah von dem Bilde wieder
auf mich.

»Mutter,« sagte ich, »ahnst du denn nicht, wem das Kind gehört?«

Wie eine große Angst kam’s in ihre Augen. Wie eine große, ratlose
Angst.

»Ja, wie soll ich denn das ahnen, lieber Sohn«, sprach sie, und ihre
Stimme zitterte.

»Sag’, Mutter, wenn dieses unschuldige Kind nun mir, deinem Sohn
gehörte?«

»Fritz!« rief sie und starrte mich an.

»Mutter, es ist ~mein~ Kind. Ich bin der Vater des kleinen,
herzigen Mariannchens, dessen Bild du in der Hand hältst«, sagte ich
ruhig. »Muß ich dich und dein Dasein, du armes Kind, denn sogar vor
meiner ~Mutter~ entschuldigen?« dachte ich bitter, als ich sah, wie
fassungslos, wie entgeistert die alte Frau dasaß.

Unwillig wandte ich mich fort.

Da hörte ich, wie sie leise in ihr Taschentuch hineinschluchzte.

»Mutter!«

Und ich kniete vor ihr, sie nahm die alten Hände, die mich vor vielen
Jahren getragen hatten, von ihren weinenden Augen und streichelte
immer und immer wieder mein Haar. »Du armer Sohn, du armer Sohn«,
sagte sie, nichts anderes. Da erhellte ein Licht meine Seele: »Diese
alte Frau fühlt in diesem Augenblick alles Leid nach, was ich heimlich
vor den Augen aller anderen nur mit mir selbst durchgekämpft habe,
bevor ich zu dieser Ruhe gekommen bin.« Und während ich vor ihr kniete
und sie abwechselnd auf das Bild der kleinen Marianne blickte und mir
das Haar aus der Stirn strich, erzählte ich ihr.

Erzählte ihr von der Mutter des Kindes, von ihrem goldenen,
schimmernden, schönen Haar, ihrem lilienweißen, feinen Gesicht und
ihrem sanften Sterben an diesem Kinde.

»Wo ist das Kind?« fragte sie, und es war rührend für mich, wie
schamhaft die alte Frau das fragte.

Da erzählte ich ihr von der anderen, die ich nun liebte. Anders
liebte, als ich die erste geliebt hatte. Und ~diese~ Liebe verstand
meine alte Mutter. Ich fühlte ordentlich, wie es immer mehr und mehr
von ihrer Seele wich. Diese Bergeslast um den Sohn. Den verlorenen
Sohn.

Ich erzählte ihr von Erika, dem Heidkönigstöchterlein, von der Heide
und dem einsamen Heidhofe in der Heide. Auch vom Heidkönig warf ich
nebenbei einiges dazwischen.

Aber, wer kann ein Mutterherz täuschen!

»Er will sie dir nicht geben und wird sie dir nicht geben, wegen
diesem hier«, sagte sie betrübt und zeigte auf das Bild der kleinen
Marianne.

»Nein, er gibt sie dir nicht. Und das wird schlimm sein für dich, mein
armer Sohn.«

»Ach, Mutter, ich denke, er wird nachgeben«, meinte ich und legte in
meine Worte viel Zuversicht.

»Nein, er gibt ~nicht~ nach«, sprach sie still vor sich hin. »Nach
allem, was du mir erzählt hast, gibt er seine Tochter nicht. Und ...
du darfst ihm deshalb nicht zürnen, lieber Sohn«, setzte sie zaghaft
hinzu.

»Sieh mal, es ist doch nun einmal eine große Sünde. Aber habe keine
Angst, ich werde dich losbeten, ja, das werde ich. Einer so alten
Mutter zuliebe wird dir der liebe Gott schon verzeihn.«

Ich lächelte vor mich hin.

»Lache ~nicht~ darüber, mein Junge. Ich weiß ja, Ihr jungen Männer von
heute seid nicht mehr so gottesfürchtig, wie ihr sein solltet. Da muß
halt die Mutter für den Sohn ~mit~beten.«

»Tu es, du liebe, alte Mutter«, sagte ich und gab ihr einen Kuß auf
die Stirn. »Es kann mir nur nützen, wenn du es tust.«

Und schon, als ich am selben Nachmittage von einigen Gängen in der
Stadt nach Hause kam, fand ich meine Mutter eifrig im Gebetbuche
betend am Fenster sitzen.

Sie hatte sich offenbar nun schon mit dem Gedanken vertrauter gemacht,
daß ihr Sohn der Vater der kleinen Marianne war, die so vergnügt aus
dem Bilderrahmen die betende Großmama anlächelte.

»Wie wirst du es denn nun machen mit der Erika und dem Kindchen?«
fragte sie.

»Hinfahren werde ich und mir beide holen«, sagte ich.

Sie seufzte.

»Du gibst dich so bestimmten Hoffnungen hin«, warnte sie ängstlich.

»Mutter, ~laß~ mir diese Hoffnungen! Die muß ich behalten, weil sie
mich aufrecht halten. Ich klammere mich an die Hoffnung, daß Erika
meine Frau werden wird, wie der Schiffbrüchige an die letzte Planke.«

»Und wenn sie ~nicht~ deine Frau wird und der Vater sie dir
verweigert? Würdest du’s verwinden?«

Ich schwieg lange, ehe ich antwortete. Erst voll ausdenken mußte ich
diesen Gedanken. »Verwinden nicht, aber ich habe ein Kind, und die
Sorge um dieses Kind legt mir die schwere Pflicht auf, weiter zu leben
und weiter zu arbeiten, Mutter.«

Da stand die alte Frau auf, langte nach dem Bildchen meiner kleinen
Marianne und sagte leise:

»Sei gesegnet, du liebes, du mein liebes Enkelkind, du.«

»So darf ich dir das Kind bringen, wenn ich es wieder habe, Mutter?«

»Ja, mein Sohn, bringe es der Großmutter.«

— — — — Mariannchen, seit heute hast du eine Großmutter! Eine
Großmutter hast du, mein kleines Mariannchen, und deine Großmutter
wird Strümpfe stricken für deine strampelnden Füße, und Jäckchen und
Kleidchen für dein kleines Menschenkörperlein.

[Illustration]




So fahre ich also in die Heide. Am Heidbahnhof erwartete mich ein
hochbeiniger, einfacher Heidewagen.

Zwei wohlgenährte Schimmel davor. Es dauerte gar nicht lange, so war
ich mitten drin in der weiten Heide.

Ringsum ein Blühen und Duften im Flimmerglanz der Abendsonne.

An stillen Teichen kam ich vorüber. An weißen Birken, deren zarte
Zweige mit ihrem hellgrünen Blattschmuck leise schaukelten.

An dunklen Wacholderstauden, die ernst wie Schildwachen standen. Und
weit in der Ferne sah ich den Schäfer auf der Heide und vor ihm die
Heidschnucken grasen.

Scharf hob sich seine Gestalt in dem langen, dunklen Rock vom Glanz
des Abendhimmels ab.

Süß duftete das Lupinenfeld, an dem mich der kleine Wagen im mahlenden
Sande langsam vorüber brachte, vorbei an der alten, zerzausten Kiefer
mit dem aufwuchernden Baumgezweig um ihren Stamm; so kam ich näher und
näher dem Heidhofe, wo meine Heideblume blüht. Immer purpurner wurde
das Abendrot, immer schöner der Blütenreichtum. Und hier, ganz dicht
am Wagen das Edelweiß der Heide, die liebliche Immortelle!

Also, das ist deine Heimat, Heidkönigstochter! Hier bist du als Kind
durch die Blüten gesprungen, hier hast du geträumt und gesonnen, hier
bist du zur Jungfrau geworden. Um dich allein die Keuschheit dieser
unendlichen Heide. Unberührt von dem Branden der Welt. Deine Welt, du
stille Tochter der Heide, ist das Haus, in dem du mit fleißigen Händen
waltest. Mit treuem Herzen, mit ewig gleichem Pflichtgefühl still und
fromm und mit der Fröhlichkeit im Busen, die sich nie laut verkündet,
die aber wärmt und reinen Glanz um sich verbreitet.

Wie diese Heide hier.

Von weitem sah ich inmitten der braunen Heide eine weiße Gestalt stehn.

Klar hob sie sich ab in dem vergoldenden Glanz der Abendsonne.

Wie Purpurglut lag es um sie und um das Kind auf ihrem Arm.

»Ich will aussteigen, halt, steht, ihr Rößlein des Heidkönigs!« — — — —

»So, nun fahrt zu, ich gehe zu Fuß bis zum Heidhof, dort den Fußweg
quer durch die Heide.« Und so ging ich ihr entgegen, nach der ich
mich heiß gesehnt hatte Tag und Nacht und wieder Nacht und Tag. Und
die Tage und Nächte dieses langen Jahres sind langsam geschlichen,
so unendlich langsam —. Sie kommt mir entgegen, bringt mein Kind
mir zu! Klopf’ nicht so heftig, mein Herz! — Wer weiß, ob sie dir
entgegengehen wollte. Ob es nicht ein bloßer Zufall ist, daß sie
diesen Fußsteg geht.

Ein Zufall? Ein bloßer Zufall? Törichter, furchtsamer Gesell, du weißt
es, und dein Herz weiß es, daß es kein Zufall ist!

Jetzt konnte ich fast ihr Gesicht erkennen. Ach, wie blüht die Heide
so seltsam schön, wie duften die vielen tausend Heideblüten so seltsam
süß an diesem Abend. Wie seltsam schön flimmert und glänzt es um mich
herum. Kein Wunder, wenn die Heidkönigstochter durch ihre Heide geht.

Immer näher kamen wir uns.

Kein Berg, kein Tal lag zwischen uns, nur die weitsichtbare, stille,
summende Heide.

Die Luft war so klar, und dicht über der Ebene lag es so voller
Flimmerglanz, daß wir uns schon ganz deutlich sahen, obwohl wir noch
weit voneinander gingen. Wir dachten, ganz nahe schon beieinander zu
sein, und waren noch weit entfernt.

»Erika!« sagte ich gar nicht laut, und hätte es auch gar nicht laut
rufen können in diesem Augenblick. Sie schritt unentwegt weiter, sie
hatte es nicht gehört und konnte es wegen der Entfernung, die uns
trennte, auch nicht hören.

Ich sah, wie sie das Kind hoch auf ihrem Arm mir entgegenschwenkte,
sah, wie das Kind jubelte und die kleinen Hände aneinanderpatschte,
hörte aber keinen Laut. Mir war, als hätte eine Traumwelt mich
eingesponnen. Wie ein Schlafwandler kam ich mir in dieser weiten Heide
vor.

»Erika!« rief ich nun, so laut ich konnte, und siehe es war
Wirklichkeit, was mir entgegenkam, kein Traum.

Deutlich hörte ich das Jubeln des Kindes. Da hätte ich hinknien können
in die blühende, seltsame Heide und ihr danken, daß sie wirklich
um mich herum blühte, daß ihre Blüten so schön waren, und daß die
Heidkönigstochter wirklich mir, mir ganz allein entgegenkam.

Und nun stand sie vor mir, und ich stand vor ihr. Keins sprach ein
Wort. Aber das Kind lachte und angelte nach mir. Nach seinem Vater,
den es doch gar nicht mehr kannte nach diesem langen Jahr.

Sie reichte mir das Kind, und als es an meinem Halse hing, umfaßte ich
auch sie und sagte leise: »Erika, nun bin ich bei dir in der Heide.«

Da schlang sie ihre Arme um mich, und ich bog mich herab und küßte
erst sie auf den noch unberührten Mädchenmund, und dann das Kind auf
sein rosiges, halboffenes Mündchen. So standen wir beide mit dem Kinde
auf unseren Armen im versinkenden Goldglanz der Sonne.

Und um uns blühte die Heide.

Weit, unendlich weit lag die Welt von uns ab. Wir brauchten keine
Welt. Wir selbst waren uns unsere Welt.

Meine ganze Welt waren nur diese beiden Menschen hier in der einsamen
Heide.

»Erika,« sagte ich zu ihr, die treu und still und voll Liebe zu mir
aufsah, »Erika, bist du nun mein?«

Da ging ein Zucken durch ihren Körper.

Sanft löste sie sich aus meinen Armen, trat etwas auf die Seite und
sah mich prüfend an.

»Ich kann deinen Blick aushalten, Erika,« sprach ich, »immer werde ich
deinem Blick standhalten können bis zum Tode, glaube es mir.«

»Ich sehe es, und ich weiß es und wußte es, ehe du kamst, Lieber,«
erwiderte sie; »aber du weißt, wie mein Vater darüber denkt.«

»Dein Vater? Der Heidkönig?« fragte ich erschrocken; »wird er denn
auch jetzt noch nicht seine Einwilligung geben zu unserer Vereinigung?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das hatte ich nicht gedacht und nicht erwartet«, sagte ich betrübt.

»Du kennst uns Heidleute nicht,« sprach sie ernst; »sieh, auch ich
hätte noch vor Jahresfrist für unmöglich gehalten, daß ich einst
einwilligen würde, wirklich deine Frau zu werden. Aber dies eine Jahr
der Trennung hat viel umgewandelt in mir. Das Jahr der Trennung und
das Kind hier. Immer mehr fühlte ich von Tag zu Tag, wie meine Liebe
zu dir wuchs, immer mehr fühlte ich, das ich nun gerade zu dir, dem
Einsamen, Unglücklichen — denn du bist nicht glücklich, Lieber, auch
wenn du’s dir nicht merken läßt — gehöre, immer kleiner erschien
mir deine Schuld, immer mehr sah ich nun, wie brav und ehrlich du
die Folgen deiner Verfehlung auf dich nahmst, und wie du dich über
alles Reden hinweg zu deinem Kinde bekanntest, und immer mehr wuchs
auch meine Liebe zu deinem mutterlosen, verlassenen Kinde. Und wenn
ich mit dem kleinen Mariannchen über die Heide ging und um mich der
Frieden und die Ruhe der Heide lagen, um mich die Bienen summten und
die Schmetterlinge flogen, nach denen dein Kind vergnügt mit den
Händchen haschte und glücklich dabei auf meinen Armen krähte, um mich
der Sonnenglanz strahlte, unter dem diese einsame Gotteswelt träumte,
da hielt ich Einkehr in mich, und diese Einkehr hier draußen in der
stillen Heide hat mir viel, recht viel gesagt. Sie sagte mir, daß
niemand, auch der beste Mensch nicht, vor einem Fehler sicher ist, ja,
sie sagte mir, daß gerade oft die besten Menschen einen Fehler tun und
ihn bereuen müssen. Denn bist du nicht der beste Mensch? Und hast du
nicht deinen Fehler bereut und nach bester Kraft gutgemacht?«

»Erika«, sagte ich erschüttert.

»Laß mich noch reden, Lieber, es ist nötig, daß ich alles sage, was
ich dir sagen wollte. Ich bin entschlossen, deine Frau zu werden. Gott
wird verhüten, daß ich ohne den Segen meines Vaters aus dem Heidhof
in das Haus des Mannes ziehen sollte, dem ich mich verpflichtet habe,
in Treuen sein Weib zu werden. Ich weiß, ich würde das nie verwinden
können, und in der Heide würde ich meine frohen Mädchenträume
zurücklassen. In dein Haus brächte ich eine tiefe Trauer des Herzens.
Darum, Lieber, bitte ich dich, überlege es dir ernst und prüfe alles,
bevor du ein Weib nimmst, dem des Vaters Segen fehlt. Ich ~muß~, wenn
du mir winkst, mit dir gehn. Meine Liebe zu dir, dem Manne, dem das
Weib folgen und alles andere verlassen soll, treibt mich dazu und mein
Wort, das ich Mariannen gab. Wie sollte ich denn anders diesem Kinde
eine treue Mutter sein? Und nun komm. Der Heidhof erwartet dich.«

»Wenn doch ein Wunder geschähe, daß deinem Vater seinen Sinn
wandelte«, sagte ich traurig und schritt mit schwerem Schritt neben
ihr.

»Eine tiefe Trauer des Herzens,« hatte sie gesagt; ja, durfte ich sie
denn gegen ihres Vaters Willen, ohne seinen Segen, gewaltsam lösen aus
dem Heidhofe? —

So standen wir bald vor der Tür des Heidhofes. Der Abendsonne letztes,
versprühendes Leuchten zitterte über dem Gehöft, ach, alles Schöne
vergeht und läßt uns nur ein letztes Leuchten zurück. Da tat sich die
Tür auf, und der Heidkönig stand auf der Schwelle.

Ich trat auf ihn zu und reichte ihm meine Hand. Ich konnte ihm noch
keinen Gruß sagen, so bewegt hatten mich Erikas Worte.

»Seien Sie willkommen!« sprach er nicht unfreundlich, und seine Augen,
diese treuen und doch so klugen, forschenden Augen bohrten sich auf
mein Gesicht.

~Der~ Mann sah in die Herzen!

Aber daß ich nicht bloß kam, um mein Kind mir nach Ablauf des Jahres
aus dem Heidhofe zu holen, sagte er sich wohl selbst.

Also galt sein forschender Blick ~mir~. Er wollte prüfen, was dieses
Jahr aus mir gemacht hatte. Nun, diese Prüfung mußte ihn zufrieden
stellen. Aber daß er diese Prüfung vornahm, legte ich mir günstig aus.
Wozu denn erst solche Prüfung, wenn er doch fest entschlossen war, mir
Erika nicht zu geben?!

Zum erstenmal trat ich über die Schwelle des Heidhofes. Des Hauses,
in dem Erika geboren und zur Jungfrau herangeblüht war. Ja, dieser
Heidhof! In solchem Hause, solchen Räumen, solcher Umgebung mußte ja
ganz von selbst ein Heidkönigstöchterlein heranblühen. An diesem Abend
sprachen wir nur Alltägliches und für mich doch auch wieder ~nicht~
Alltägliches zusammen.

Wie in stillschweigender Verabredung sprachen wir noch nichts von dem
Zweck meines Kommens.

Freundlich, doch mit Zurückhaltung behandelte mich der Heidkönig als
seinen Gast.

Er zeigte mir den ganzen Heidhof.

Diesen kleinen, in der Heide großen Fürstensitz, auf dem seit
fünfhundert Jahren dasselbe Geschlecht saß.

Zum alten Schäfer, der seine Heidschnucken schon hereingetrieben hatte
aus der Heide, führte er mich zuerst. Die Heidschnuckenherde stand
Tier an Tier, Wolle an Wolle um den uralten Steinbrunnen, der rechts
im Hofe neben der ebenso uralten Eiche tief in die Erde gebohrt war.

Ich fand alles so, wie’s mir Erika an dem einen Abend geschildert
hatte. Den mächtigen Brunnenschwengel hoch an dem Eichenast verhakt;
durch die Eichenblätter spülte von der Heide ein warmer Wind, der
süßen Duft führte; der Schäfer stand an den rissigen, mächtigen Stamm
gelehnt und strickte.

Ab und zu blökte eines der Schafe, oder ein anderes brachte eine
kleine Unruhe in die gesättigte Herde, indem es sich unartig zwischen
den anderen durchdrängeln wollte.

»Na, Peter?« sagte der Heidkönig.

»All gut«, erwiderte der Alte und strickte kopfnickend weiter. Mich
sah er kurz und scharf an. Ich merkte aber, nicht unfreundlich.
Vielleicht weil ich ihm gleich meine Hand hingestreckt hatte, die er,
einen Augenblick das Stricken unterbrechend, fest und derb mit der
seinen ergriff.

Dann flogen etwas schelmisch seine alten und doch scharfen Augen von
mir auf Erika, die uns nachgekommen war. Er nickte ihr zu. Das schien
sie zu freuen. Dann nickte sie ihm rasch wieder zu und zeigte mit
einem verschämten Lächeln auf mich, während uns gerade der Heidkönig
den Rücken zukehrte.

Befriedigt nickte er, der Erika auf den Armen getragen hatte und ihren
Vater hatte groß werden sehn.

Gott sei Dank! Der Alte war mir gewogen. Ich hatte nur zu gut bemerkt,
wie die Augen des Heidkönigs das Gesicht seines alten Schäfers
musterten.

Dem Alten gefiel nicht jeder. Erika hatte mir erzählt, daß er sein
Mißfallen an jemanden recht drastisch zum Ausdruck zu bringen pflegte.
Er ging dann mit bedächtigem Schritt auf die andere Seite der Eiche
und ließ den Fremden stehn. Aber heute blieb er und nickte befriedigt
vor sich hin. Ich hätte ihm um den Hals fallen können.

Von dem Brunnen aus gingen wir nach der langen, riesigen, ganz aus
Eichenbohlen erbauten Scheune mit der Wagenscheuer und von dort nach
dem Schafstalle.

Mittlerweile war es dunkel geworden.

Nur fern am Saume der Heide, die sich hinter dem Garten weit, weit
ausdehnte, glühte es noch rot. Ich trat an den Zaun heran. Erika
stellte sich neben mich und lehnte sich gleich mir an den Zaun.

Der Heidkönig hatte uns verlassen. Er wollte, wie er sagte, noch in
den Pferdestall gehn und dort zum Rechten sehen.

Erika lachte halblaut vor sich hin.

Ich sah sie fragend an.

»Das ist das einzige Mal, daß Vater lügt«, sagte sie lachend, und ein
fröhliches Lachen war’s, mit dem sie das sagte.

»Wieso?« fragte ich.

Da lehnte sie sich an mich, hob sich ein wenig und flüsterte mir ins
Ohr: »Zu deinem Kinde geht er, Lieber. Ja, wirklich, — freilich erst
geht er in den Pferdestall, aber nur einen Augenblick bleibt er darin,
dann geht der Heidkönig, verstohlen sich umschauend, Abend für Abend
hinauf in meine Stube, wo dein Kind, das Mariannchen schläft, und dort
sitzt er beim Schein der Lampe und guckt Abend für Abend sich das
Kindchen an. Einmal hab’ ich ihn dabei erwischt, er wurde verlegen,
und das hab’ ich ihm seitdem erspart und tue, als merkte ich’s nicht.
Ach, Lieber, wie wird der stolze, schweigsame Heidkönig die Trennung
von dem Kind überstehn! Ja, dieses Kind, dieses arme, liebe Kind wird
uns das Glück bringen.« —

Am nächsten Morgen saßen wir uns in der großen Wohnstube, die so
heimisch und traut aussah, gegenüber. Der Heidkönig und ich.

Er fing von selbst an.

»Sie wollen heute wieder fort?« fragte er.

»Ja«, sagte ich.

Er schwieg.

»Das Mariannchen ist tüchtig gewachsen und ein fröhliches Kind«,
meinte er dann.

»Ja, ich habe das Kind entbehrt, und nun will ich mir’s heim holen in
mein verwaistes Forsthaus.«

Wieder schwieg er.

»Aber nicht wegen des Kindes allein bin ich hergekommen. Ich bitte
Sie, daß Sie mir Erika zur Frau geben. Wir sind uns gut, Sie wissen
es.«

»Ich weiß es,« sagte er langsam, »und ich dachte mir, daß Sie diese
Bitte heute aussprechen würden. Aber ich kann Ihnen Erika nicht zur
Frau geben. Auch ~das~ habe ich Ihnen schon vor Jahresfrist gesagt.«

»Ja, Sie hatten es mir gesagt, offen und ehrlich,« rief ich und
stand auf; »aber man soll einem Menschen eines Fehlers wegen nicht
unversöhnlich bleiben, sondern zur Versöhnung geneigt sein ...«

»Ich stehe Ihnen nicht unversöhnlich gegenüber, nur meine Tochter kann
ich einem nicht zur Frau geben, der ... der ...«

»Der ein solches Kind sein eigen nennt«, sprach ich den Satz zu Ende,
als er zögerte, und schob ihm die kleine Marianne hin. Er beugte sich
herab, und das Kind legte seine Ärmchen um seinen Hals.

»Ich kann es nicht, nein, ich tue es trotzdem nicht, sie kann seine
Frau nicht werden«, sagte er zu dem Kinde und drückte es an sich. Und
dann legte er seine rechte Hand schwer und wuchtig zur Faust geballt
auf die Tischplatte. Das Mariannchen mochte glauben, daß er mit ihr
wie sonst spielen wollte. Denn es tatschte mit seinen Fingerchen
vergnügt auf dieser Faust herum und krähte laut und froh dabei.

»Ich kann es nicht«, wiederholte er noch einmal und hielt das Kind
fest an sich gepreßt.

Da trat Erika zu ihrem Vater hinter dem großen Tisch und legte ihre
linke Hand auf die silberbeschlagene Bibel, die auf dem Betstuhl am
Tische lag. Die rechte Hand legte sie ihrem Vater auf die noch immer
zusammengeballte Faust, die er eben schwer und wuchtig hatte auf die
Tischplatte fallen lassen, und sagte zu ihm: »Vater, sag’, liebst du
die Bibel und hältst du dich an alles, was in ihr geschrieben steht?«

»Törichtes Kind,« erwiderte er, »was soll die Frage? Hast du jemals
gesehn oder gehört, daß dein Vater auch nur ein einziges Bibelwort für
unwahr hält?«

Als er das gesagt hatte, schlug sie die Bibel auf und blätterte in
ihr. So eifrig, daß sich ihre Wangen röteten. Nun hatte sie wohl
gefunden, was sie suchte, denn sie nahm das schwere Buch und schob es
ihm unter die Augen. »Hier, lies Vater«, bat sie und hielt auf eine
Stelle des Blattes ihren Finger.

Er beugte sich herab. »Lies es laut«, sagte sie sanft.

Er las: »Und so wird es sein, daß das Weib ihren Vater und ihre
Mutter verlassen wird und tut dem folgen, den sie sich hat gewählt zu
ihrem Ehemanne, und tut wohl daran, daß sie ihm folgt, denn es steht
geschrieben: Dein Wille sei mein Wille, und dein Haus sei fürder mein
Haus.«

Laut auf stöhnte der Heidkönig, als er das gelesen hatte.

Er sank auf den Stuhl und schlug sich beide arbeitsfleißigen und
arbeitsrissigen Hände vors Gesicht. Das Mariannchen fing leise zu
weinen an. Er hielt das weinende Kind fest an seiner Brust.

So saß er lange Zeit. Dann nahm er die Hände vom Gesicht und richtete
sich auf. Aber zwei schwere Tränen rollten aus seinen Augen über die
Backen herab.

So hab’ ich einmal, ein einziges Mal den Heidkönig weinen gesehn.

»Ziehe mit ihm und werde sein, meine Tochter«, sprach er ernst. »Aber
nach Jahresfrist erst darfst du mit ihm ziehn und sein Weib werden.
Nach Jahresfrist erst darf er wieder in den Heidhof kommen, keinen
Tag eher. Das leg’ ich ihm auf; prüfen will ich und muß ich ihn, dem
ich mein unberührtes Heidkind geben soll. Still, still, Kind«, sagte
er, als Erika ihn am Arme faßte und zu ihm aufsehend bat: »Vater« —
»still, meine Tochter, anders geb’ ich mein Kind nicht. Also hören
Sie, Herr,« wandte er sich an mich, »Sie sollen heute über ein Jahr
wieder hierher kommen und meine Tochter zur Hausfrau haben. Ein Jahr
ist lang, und bis dahin ohne Sünde und brav und keusch leben, ist
schon etwas. Geben Sie mir die Hand, daß Sie brav und keusch leben
werden.«

Ich gab ihm die Hand und sah ihn gerade und ohne mit der Wimper zu
zucken an.

Ich wußte ja, daß es kein Weib außer Erika mehr für mich gab.

»Ist mir lieb, dieser Handdruck und dieser Blick«, sagte er
freundlicher.

»Noch eins,« unterbrach ich ihn, »es muß gesagt sein, was wird ...
was soll aus meinem Kinde werden bis dahin?« Ich hatte es ganz leise
gefragt. Ach, wer weiß, ob er nicht sagen würde; das müssen Sie
fortgeben, das darf nicht dort sein, wo meine Tochter als Hausfrau
schalten und walten wird? »Nie, nie,« schrie es in mir auf, »lasse ich
mein Kind! Ich habe es ins Leben gesetzt, so muß ich es auch bewahren
im Leben, solange es nötig ist.«

Wie wenig kannte ich doch noch immer diese Menschen der Heide!

»Ihr Kind?« sagte er, »nun das ist eine sonderbare Frage. Das Kind
bleibt hier, bis Sie Erika sich holen. Dann bringt sie das Kind mit.
Von dem Tage ab ist es ~ihr~ Kind, sie ist seine Mutter, und ich bin
sein Großvater.«

»Herr«, sagte ich tief ergriffen und drückte ihm seine harten, lieben
Hände fest, ganz fest.

»Aber was werden die Leute sagen, wenn das Kind hier bleibt, und wenn
es dann mit Erika kommt?« sagte ich zaghaft.

Da richtete er sich hoch auf.

Er sah ordentlich vornehm aus, dieser einfache Mann des Heidhofes.

»~Den~ möcht’ ich sehn, der es wagen würde, an des Heidkönigs Tochter
auch nur in Gedanken sich zu versündigen. Nein, nein, ich sehe,
wir Heidleute verstehn uns nicht mit euch Menschen, die ihr in den
Städten wohnt und die Welt anders kennt, als wir sie kennen. — Erika,
bedenke es wohl, ehe du dein väterliches Heidhaus mit dem Hause dessen
vertauschst, den du dir zum Ehegatten erwählen willst.«

»Ich ~habe~ es mir bedacht, Vater, ich habe ihm versprochen, seine
Hausfrau in Treuen zu werden und diesem Kinde hier eine treue Mutter,
auch der toten Mutter dieses Kindes habe ich’s versprochen, und du
weißt, mein Vater, daß ein Heidkind die Treue, die es versprochen hat,
hält«, antwortete sie, hob das Kind — mein Kind — aus der Wiege und
drückte das schlafende, kleine Geschöpf an ihre Brust.

Der Heidkönig sah prüfenden Auges auf dieses schöne Bild hin.

»Ja, ein Heidkind hält die Treue, möchte meinem Heidkinde auch allzeit
die Treue gehalten werden. Ich denke, er wird die Treue halten, seine
Hand drückte die meine fest und warm«, sagte er wie zu sich selbst
und nickte ernst mit dem Kopfe. »Nun hört Ihr beiden, die Ihr in
Jahresfrist, von heut ab gerechnet, Mann und Weib sein werdet und
untrennbar bis zur Todesstunde, hört jetzt meine ~zweite~ Bedingung.«

Erika sah fragend mit erschrockenen Augen zu ihm auf.

»Noch eine Bedingung nach dieser ersten, schweren?« fragte ich.

»Ja,« gab der Heidkönig ruhig zur Antwort, »noch eine.«

Er setzte sich in den hochlehnigen Stuhl.

»Setzt euch,« gebot er uns, »ich muß weit ausholen, damit es euch klar
wird, daß ich bei der Bedingung bleibe. Damit es Ihnen klar wird,«
wandte er sich an mich, »da Sie uns Heidleute noch nicht kennen, um
zu wissen, daß ein Heidbauer, und nichts anderes bin ich und will ich
sein, seinen vom Vater und Vaters Vater her und Urahn her ererbten
Heidhof so hoch hält wie sein eigen Kind. Der Heidhof ist ihm heilig
und nichts schmerzt den Heidhofbauern mehr, als wenn er stirbt
und er weiß, daß sein Heidhof dereinst in fremde Hände kommt. Wir
Heidhofleute sitzen hier auf diesem Hofe seit fünfhundert Jahren. Eine
hübsche Zeit, was?«

Ich nickte.

»Ja, seit fünfhundert Jahren. Und jeder, der den Heidhof übernahm,
ist hier groß geworden. Hat hier als Kind gespielt im Schatten der
Linden und Eichen, hat vom Vater gelernt, den Heidhof zu verstehn,
denn der Heidhof will verstanden werden. Drum hat es sich auch
fortgeerbt vom Urahn auf Ahn, vom Ahn auf Großvater, vom Großvater auf
Vater, vom Vater auf Sohn, daß der jeweilige Erbe des Heidhofs hier
erzogen wird.

Der Erbe des Heidhofes ist dein erster, dein ältester Sohn, Erika, den
du haben wirst. Darum verlange ich dein und deines Mannes Versprechen
jetzt, in dieser Stunde, daß ihr mir euren erstgeborenen Sohn
überbringt. Ich will ihn zum Heidhoferben erziehn, er soll, mach’ ich
die alten Augen zu, Heidkönig werden.«

Ich blickte heimlich zu Erika hinüber.

Wie? Vor ihm, dem Mädchen, verhandelte der Alte das? Was wird Erika
tun? In meiner Gegenwart vor ihren keuschen Ohren das? Ich erwartete,
daß sie blutrot werden und keine Antwort geben würde. Aber siehe:
ruhig nahm sie das Wort. Es war ja in »Zucht und Ehren«, was hier
besprochen wurde. Ja, ja, ihr Heidemädchen, auch ~euch~ muß man erst
ganz verstehn!

»Ich sehe ein, Vater, daß du recht hast, der Bube muß hier sein, um
den Heidhof liebzugewinnen, es geht nicht anders«, sagte sie.

Klar und ruhig fielen ihre Worte.

»Freut mich, daß du es einsiehst, Kind,« brummte er, »hab’s nicht
anders erwartet. Bis jetzt war der erste stets ein Bub, und es wird
wieder so sein, darauf hat der Hof des Heidkönigs ein Recht.«

Jetzt sah mich der Alte an. »Nun?« fragte er.

Ich zögerte mit der Antwort.

»Überlegen Sie sich’s in Ruhe, nachher sagen Sie mir Bescheid«, sagte
er freundlich und stand auf.

»Hier, meine Hand, mein erster Bub dem Heidkönig!« rief ich fröhlich
lachend. Wirklich, ich lachte ganz herzlich und vergnügt. Sollte ich
meinen ersten Buben um den schönen Heidhof bringen?

»Ich glaube, daß ich in einem Jahre beinahe ohne Sorge meine Erika
Ihnen geben werde«, sagte er.

»Also, unser erster Bub wird Heidkönig?« sagte ich dann scherzend zu
Erika. Da sah sie mich tief errötend und ängstlich an und wandte sich
ohne ein Wort der Erwiderung fort. Ich Tölpel! Werde ich denn nie
diese Heidleute kennenlernen?

»In Zucht und Ehren darf so etwas besprochen werden; das finden diese
Heidmenschen des vorherigen Besprechens wert und notwendig. Es wird
aber unnatürlich und frivol, sobald man darüber außerhalb des Rahmens
der notwendigen Besprechung und Vereinbarung scherzt.

Bei den Menschen der Heide herrscht noch unverfälschte, keusche Natur
und Herzenseinfalt. Und darum Hoheit und Treue und Ernst, sobald
Ernstes besprochen werden muß. So fest und stark wie ein starker,
fester Eichenstamm. Meine Hand würde ich jederzeit für die Treue
meiner Hausfrau Erika vom Wegbergshofe ins Feuer legen.

Ja, solche Frau macht die Ehe zu einem Heiligtum. Solche Frau atmet
den Räumen des Hauses, in dem sie waltet, die Reinheit und Treue ein,
die ihr ganzes Wesen erfüllt. Solche Frau ist ein sicherer Hafen nach
den Stürmen, die der Lebenskampf dem Manne bringt. Ist ein Hafen der
Ruhe für des Mannes eigenes, wildbewegtes Herz.

O, Erika, bist du erst meine Hausfrau, dann wird der goldene Frieden
in meinem Hause sein. Wenn ich dich sehen werde, werde ich die
einsame, unberührte Heide sehn, wenn meine Arme dich umfangen werden,
werde ich wie ein froher Forstbub an dem treuen Busen wie in der in
scheuer Schöne und holder Keuschheit blühenden Heide ruhn.

Du hast nicht Mariannens verzehrende Glut, die mich widerstandslos
gegen ihre flammende Schönheit machte, aber du hast dafür eine Welt
von einfacher Güte und hingebender Treue. Solche Güte, solche Treue
erhalten dem Manne die Kraft, im Leben felsenfest zu stehn und bis
zum Ende auszuharren in dem Kampfe, den Welt und Leben von selbst mit
sich bringen. Wie werde ich zu dir flüchten, bin ich zerzaust worden
draußen! Wie wird mich deine Ruhe, dein Frieden, dein ganzes liebes
Wesen aufrichten und wieder festigen. Wie eine Mutter wirst du mir
sein, in deren Schoß der Forstbub seinen Kopf legen darf zu jeder
Stunde.

Du wirst meiner alten Mutter eine Tochter nach ihrem Herzen sein. Weil
du so vieles mit der alten, treuen Frau, die ich Mutter nennen darf,
gemeinsam hast. Nie hätte sie Marianne verstanden. Aber nun werde ich
nur heimlich noch an Marianne denken dürfen. Ich ~will~ an sie denken,
trotzdem ich Erika gefunden habe. Denn Marianne ist doch die Mutter
meines kleinen, lieben, herzigen Mariandels! Aber Erika soll es nicht
merken, daß ich in stiller Stunde auch an Marianne denken will. Jedes
Jahr will ich heimlich einen Kranz auf ihr Grab legen. Es wird sich
schon machen lassen, daß Erika nichts davon merkt. Es müßte sie doch
verletzen.«

Unter der Linde vor dem Heidhof saß ich, als ich das mit mir besprach.
Da trat Erika mit meinem Mariandel auf dem Arm aus der Tür des
Heidhauses und kam zu mir hin.

Das kleine Mariandel krähte so lustig wie ein junges Hähnchen auf
den Armen seiner ... Mutter. »Armes Hähnchen, deine Mutter ist tot«,
dachte ich und sah sinnend zu meinem Kinde auf.

»Ich wollte dir noch etwas sagen, und ich soll es dir sagen, hat mein
Vater mir befohlen, bevor du fährst«, begann Erika, setzte sich neben
mich und gab mir das Mariandel auf die Knie.

»Wegen dieses Kindes muß ich noch mit dir sprechen, so will es mein
Vater, und so will ich’s.«

»Was denn, Erika?« fragte ich beklommen.

»Sieh Lieber,« sagte sie ruhig und freundlich »ich will diesem Kinde
eine treue Mutter sein, und ich habe es so lieb schon wie ein eigenes
Kind. Wir wollen es großziehn und zu einem guten Menschen machen. Aber
eines müssen wir noch miteinander besprechen. Ich glaube, es wäre
nicht gut, dem Mariandel, solange es ein unverständiges Kind ist, zu
sagen, daß ich nicht seine Mutter bin. Ist es groß und verständig,
dann halte ich’s für recht, daß wir’s ihm sagen. Daß wir ihm sagen:
›Hör’, deine rechte Mutter, die dich geboren hat, ist tot.‹ Und damit
es dann nicht davor erschrickt, so bitte ich dich heute, daß du mit
mir und dem Mariandel jedes Jahr an Mariannens Todestag zu ihrem Grabe
fährst. Dort wollen wir zusammen ihr Grab recht schön schmücken und
dem Kinde von ihr Liebes und Gutes erzählen; wir wollen ihrer immer
in Liebe, nur in Liebe gedenken. Denn ich weiß, sie hatte dich lieb,
und es war doch ~auch~ ein armes, verlassenes Kind der Straße. Du
darfst sie auch nie vergessen um dieses Kindes willen hier. Und das
läßt dir der Heidkönig durch mich sagen.«

»Erika!« schrie ich auf, kniete mich vor sie hin und umschlang sie und
das Kind mit meinen Armen.

»Erika!« sagte ich noch einmal leise und verbarg mein Gesicht in ihrem
Gewand.

»Was hast du denn, Lieber?« fragte sie in ihrer so unbeschreiblich
gütigen Art und fuhr mir sanft mit ihren Fingern übers Haar. Und
das Kind krähte vergnügt und zog mich so derb am Haar, daß ich
unwillkürlich »au« schreien mußte.

Da lachte sie und meinte: »Zupf’ ihn tüchtig, Mariandel, hörst du,
zupf’ ihn tüchtig, denn gleich muß er fort von uns, und dann können
wir ihn nicht mehr zupfen.«

»Erika, ihr Heidleute seid schwer zu verstehn, o du mein liebes,
treues Weib, wenn ich erst an deinem treuen Herzen werde ruhn können.«

Sie verbarg unter einem Lachen ihre Abschiedsstimmung.

»Laß gut sein, Lieber, dann halten wir beiden dich fest, nicht wahr,
Mariandel?«

Und während das Kind vor Lust und Freude krähte und Erika es mir zum
Kuß reichte, und ich sie und das Kind küßte, fuhr der bockbeinige,
steife Heidhofwagen, der einen durcheinanderschüttelt wie einen Sack
voll trockener Pflaumen, vor die Tür unter den alten Lindenbaum,
der Heidkönig trat zu uns und sagte: »Nun, es wird Zeit, und der
Zug wartet nicht«; ich gab dem alten, schlichten Manne die Hand,
stieg unter Lebensgefahr auf die hohe, federlose Kalesche, sagte:
»Adieu also, Herr Heidkönig und auf Wiedersehn übers Jahr!« Der alte,
verwitterte Knecht vorn auf dem Kutschbock ließ die Peitsche knallen
und rief: »Hüdjüß!«, die beiden wohlgenährten Heidkönigschimmel zogen
an, ich sah zurück, da stand Erika und hielt mein Kind an ihrem
Herzen, da stand sie und weinte still in des Kindchens Kleid hinein,
und mein und Mariannens Kind schlenkerte vergnügt mit den Ärmchen in
die Luft, als ob’s fliegen, mir nachfliegen wollte in mein fernes
Heimatland Schlesien hinein.

Wartet nur, ihr beiden, übers Jahr hol’ ich euch, und dann werden zwei
liebe Menschenkinder ~mehr~ im lieben Schlesien sein. —

[Illustration]




                           Die Märcheninsel

             Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen

                               von Capri

                                   *

                     Nach mündlichen Mitteilungen

                                  von

                           Heinrich Zschalig

                                   *

Es ist ein köstliches Buch, das hier dem deutschen Volke gegeben
wird. Der ganze Zauber des märchenhaften kleinen Mittelmeereilandes
entfaltet sich in dieser Sammlung, wie eine wundersame, duftgesättigte
Blüte. Der Volkscharakter der tanz- und sangesfrohen Capresen spiegelt
sich in diesen Märchen, Legenden und Liedern und macht das Werk zu
einer Quelle des Genusses, nicht nur für die Kenner der sagenumwobenen
Insel und den Wissenschaftler, sondern auch für alle Leser, die ihre
Freude an der üppigen Phantasie des Volkes haben.

Verlag Deutsche Buchwerkstätten, Dresden





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KAUZBURG ***


    

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