Das zerstörte Idyll: Novellen

By Hans Flesch-Brunningen

Project Gutenberg's Das zerstörte Idyll, by Hans von Flesch-Brunningen

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Title: Das zerstörte Idyll
       Novellen

Author: Hans von Flesch-Brunningen

Release Date: August 10, 2014 [EBook #46551]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ZERSTÖRTE IDYLL ***




Produced by Jens Sadowski








                         Das zerstörte Idyll
                               Novellen
                                 von
                      Hans von Flesch-Brunningen


                          Kurt Wolff Verlag
                               Leipzig

                Bücherei »Der jüngste Tag« Band 44/45
                 Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig

              Kurt Wolff Verlag, Leipzig, Copyright 1917




Inhalt


   Widmung für Karin                 5
   Der Satan                         7
   Das Lächeln des Geköpften        26
   Der Junitag                      35
   Die Kinder des Herrn Hauptmanns  51
   Idylle                           62




WIDMUNG FÜR KARIN


KARIN, ich widme dir dies Buch. Du weißt so gut wie ich, wie schwer es
jetzt ist, von Gefühlen zu sprechen. Oder gar sie mit Papier und
Druckerschwärze zu vermählen. Man muß sich akrobatenhaft auf jene zweite
Ebene hinaufarbeiten, auf der wieder die Worte herbeilaufen wie brave
Hunde und sich zu Füßen legen. Wo man ruhig »Liebe« und »Sommertag«
sagen kann, ohne in den schwärzesten Verdacht einer Lyrik zu kommen, die
gewandt zwischen Geld und Gott zu vermitteln sucht. Ich habe es
vermieden, in diesem Buche allzusehr an den Gefühlssträngen, die mit
Milch und Sonnenschein geschmiert sind, zu zerren. Ich will aber gern
arrogant sein und zugestehen, daß ich die zweite Ebene zum Heimatsort
gewählt. Wenn auch nur für die Sekunden, in denen ich das schreibe.

Und so darf ich sagen: du warst doch das Einzige, das mich verhindert,
mit Ludwig Hunner das Leben zu würgen und mit dem armen Erotomanen vor
Autos zu hüpfen. Denn trotz der Jugend, die mich in ihren leichtsinnigen
Armen schaukelt, hätte ich oft schon genug haben können.

Ich habe blasse Dummheit in der Schlankheit meiner Mädchen erkannt,
Intrige und Ungewaschenheit in den Blicken der Intelligenz, geschäftigen
Unsinn in Florenz und Amsterdam, Unnötigkeiten in der Montblanc-Gruppe
und Gestank in Venedig. Und wie nun die Worte vor mir stehn, ahne ich
auch den blonden Bart, wie er sich mir über die Schulter beugt und etwas
von »Blasiertheit« murmelt. Doch diese bezahlte Bürgerlichkeit findet
mich in Waffen. Nur Eines läßt mich wanken und weinen: Über allen Augen
die Lüge. Siehst du, mein Liebling, man sollte nicht lügen. Gott hat uns
schließlich -- gegenüber der tausend Nachteile -- _einen_ Vorteil vor
den Tieren geschenkt: wir dürfen reden. Doch das schöne Zueinander wird
hin, wenn wir die Instrumente mißbrauchen, die Mauer der verschiedenen
Stirnen reckt sich zwischen den Gehirnen auf, die Beweislosigkeit
schreckt vor den Überzeugungen zusammen: wir sind allein und dumm. Tiere
schmiegen sich -- wild oder beruhigt -- aneinander, wir müssen der
Unehrlichkeit an die Kehle fahren und aus dem Maul der geschändeten
Gottheit das Geständnis reißen, was wir für hilflose Hunde sind.

Vor diesem circulus vitiosus aller Menschlichkeiten, die sich in die
müden Schwänze beißen, ist es billig und noch immer das Einfachste, gar
nicht mitzutun.

Der Unhold der Hebamme hat mich hereingeschleudert, Dienerinnen haben
mich genährt, Schwäche mich umzwitschert, Schmöcke und Dirnen mein
Jugendlied mir vorgesummt: Da fand ich dich.

Liebe Karin, ich widme dir dies Buch.




DER SATAN


DER kleine Prinz war immer schon blaß, hemmungslos und manchmal direkt
verrückt gewesen. Er -- vielmehr seine hochgeborene Frau Mama -- hatte
ein recht stattliches Vermögen von rund vier Milliarden Dollar, als sie
herüberkamen mitgebracht. Die Kindheit sollte er wo in Florida verbracht
haben, als er aber knapp sechzehn war, da wäre es nicht mehr mit ihm
auszuhalten gewesen. Jede Woche schlug er mindestens einen Sklaven mit
seiner eigens konstruierten Peitsche zu Tode. Jede Woche brüllte er, er
wolle ein Land haben, er wolle herrschen, König sein. Er wolle Menschen
kneten, auf Städte seine Hand legen. Da hätte man sich gegen Europa
eingeschifft -- natürlich auf der eigenen Jacht -- und jetzt auf einmal
sauste ein scharlachrotes Auto durch die Straßen Kölns.

Also sprachen die bauchigen Stadtväter und manche munkelten noch
anderes: »Ja, gewiß, die ganze Überfahrt habe er Fieber gehabt -- er sei
überhaupt blind -- wie er in Antwerpen ans Land stieg -- er habe noch
nie den Namen Köln gehört -- habe er plötzlich geschrien >Köln! Köln!<
-- er sei allein vorausgejagt -- in 1½ Stunden bis Lüttich, dann mit dem
Aeroplan hierher -- die Mutter weint immer -- er hat das ganze Domhotel
nur für sich gemietet -- -- siebenmal war er schon beim Bürgermeister
gewesen -- --«. Die Uhrketten wackelten bedenklich und fast jeder strich
sich unruhig-blinzelnd über das Haar, bis sich ein behaglicher Schnalzer
im Munde formte: ». . . nun, und die kleine Schwester -- sie ist
vierzehn-einhalb -- na, dort im Süden -- ich bitte, man sagt . . .« Wie
jetzt Adjunkt Keppel dazutrat, machte man fast eine Gasse (Der Mann
konnte Two-step tanzen wie ein junger Gott): »Ich habe eben das
Scharlachene über die Rheinbrücke sausen gesehen . . .« »Oh, wohin,
glauben Herr Adjunkt . . .« Dieser strich sich den englischen
Schnurrbart -- es ist wahr, er war schon zweimal verheiratet, erst 30,
ein Verhältnis soll er auch haben -- der Kerl -- na, der Kerl sprach
jetzt: »Man redet von ganz eigenartigen Dingen. Ich mit meinen
Beziehungen zum Magistrat kann aber bestimmt sagen, er hat sich nach
Berlin direkt an S. M. gewandt. Deutschland braucht Geld wie ganz
Europa. Die Sozial- und Militärrevolution zehrt noch immer an unserm
Gebein. Nun man hat ja -- Gott sei Dank -- diesen blutigen Scherzen ein
entsprechendes Ende bereitet . . .«

(Finanzrat Müller, »der rote Müller«, räusperte sich scharf) . . . »aber
Sie wissen, unser Handel und Wandel liegen noch arg danieder. Also kurz
und gut, der kleine Prinz will unsere Stadt mit Gebiet bis zum
Siebengebirge und bis Elshausen samt Bonn und Gladbach als eigenes
Gebiet käuflich erwerben.«

Die Münder der Großstadtvertretung blieben weit offen, daß die
Rachenmandeln sichtbar wurden und nur ein kleines, scharf gepfauchtes
»Unmöglich« zur Luft konnte . . . . . . . .

Das scharlachene Auto sauste unterdessen quer durch das verwüstete
Deutschland mit 200 km Stundengeschwindigkeit. Der Prinz und Claire
schauten etwas höhnisch über die Schlachtfelder des alten Europa. Der
Prinz hatte seine mädchenhaften, dünnen Beine zu sich auf den Sitz
gezogen und die rechte Hand spielte mit dem Haar seiner wundervollen
Schwester, himmelblaue Augen brannten wie traurige Sterne aus dem
durchsichtigen Gesicht, hinter dem noch immer das Fieber wohnte, in die
Gegend, in der der Frieden mit dem Grausen rang. »Ich werde es bekommen
. . . Ich muß.«

»Bedenke, eine Großstadt . . . du bist krank . . . wie kamst du auf
Deutschland? Denke, Paris, London, dort ist Leben . . .«

»Ich habe dir doch oft von der Nacht erzählt, wo unsere Inga starb. Ich
bin nicht mehr der dumme Prinz . . . ich bin . . .« Sein Mund wurde
gelangweilt und er zog die Vorhänge herunter. »Noch eine Stunde bis zur
Haupt- und Residenzstadt.« Das Schwesterlein öffnete den Pelz, unter dem
sie nackt war, und gab ihrem Körper die hingebende Linie. Sie legte sich
sanft zu dem Bruder, dessen Augen für Momente unfiebrig und ein wenig
glücklich wurden. Eine Zwerg-Angorakatze, die sich schläfrig-schnurrend
erhob, vervollständigte die Familienszene . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .

Der Prinz überfuhr drei Personen, bevor er zum Hotel Adlon gelangte.
Nichtsdestoweniger wurden noch drei Leute im Gedränge »Unter den Linden«
erdrückt und die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die Ordnung
aufrecht zu erhalten. Die Aufregung in der ganzen Stadt stieg noch, als
man erfuhr, der Kaiser habe sich entschlossen, seine Hoheit den Prinzen
Alvio di Santa Rocco noch heute zu empfangen. Der Prinz selbst war heute
nichts weniger als erregt, er ging oben im Salon des Hotel Adlon, eine
Zigarette nach der andern rauchend, etwas träumerisch auf und ab,
streichelte bald Claire, die kandierte Früchte essend am Sofa lag, bald
das Katerchen, er pfiff den Gassenhauer der Saison und schüttelte mit
kindlicher Gebärde seine schwarzen Haare. Dann fuhr er fabelhaft elegant
und liebenswürdig durch die Menschenmenge zum königlichen Schloß. Hinter
ihm ritt ein livrierter Affe, der 10-Markstücke in das heulende Gedränge
warf. Im königlichen Schloß blieb Alvio nicht lange. Er war direkt in
die Privatgemächer geführt worden und niemand hatte gehört, was dort
verhandelt wurde. Nach zehn Minuten verließ er zu Fuß das Schloß. Der
Kammerdiener fand über dem Schreibtisch den alten Kaiser mit Tränen in
den Augen, noch die Feder in der Hand, verstört und doch wieder
begeistert wie von einem ganz unbegreiflichen Ding. Dies erfuhr aber
niemand. Ganz Berlin, ganz Deutschland, die ganze Welt wurden aber nach
einer halben Stunde von der Kunde in Erstaunen und Bestürzung versetzt,
daß die Stadt Köln samt Gebiet mit Bonn und Gladbach um eine Milliarde
Dollar in den Besitz und die Herrschaft des Prinzen Alvio di Santa Rocco
gelangt sei. Da hatte damals kein Parlament drein zu reden, denn das war
seit den Junikämpfen 1925 endgültig abgeschafft. Nur den Zeitungen
konnte man es nicht verbieten, über den Stammbaum der Santa Roccas zu
schreiben, ihre Beziehungen zu den europäischen Höfen. »Wie die Santa
Roccas zu ihrem Gelde kamen,« von Ignotus, »Alvio der einzige Erbe?«
usw. Und Rechtsgelehrte schossen vereint mit gewöhnlichen Historikern
wie Pilze aus der Erde, um die staatliche Stellung von »Libertia« von
vornherein festzunageln . . . . . . .

In Köln wollte man, als die ersten Nachrichten eintrafen, das Domhotel
anzünden. Die ganze Stadt drehte sich wie ein blödsinniger Gärungsstoff
um und um, strömte auf die Gassen. Die Studentenschaft von Bonn zog,
Fackeln in den Händen, vor das Bürgermeisteramt, Aufklärung heischend.
»Die Wacht am Rhein«, »Deutschland, Deutschland über alles« scholl aus
allen Straßenecken zum blutigen Abendhimmel, der Dom ließ seine Glocken
erklingen, von dem Gürzenichbalkon sprach ein roter Fleischhauer und
Patriot schnarrend auf den Rathausplatz hinunter. Nur das Militär und
die Polizei waren nirgends zu sehen. Es wurde langsam Nacht. Um zehn Uhr
versuchten fanatische Arbeiter, Studenten, Bürger, schwarz-rot-gold im
Herzen und Antlitz ins Domhotel einzudringen. Die Pforten waren
verschlossen, man begann dagegen zu rennen, die Fenster einzuhauen -- da
donnerte plötzlich eine Salve in die Reihen der Massen -- man wußte
nicht, woher -- niemand war zu sehen -- sie schien aus den Wänden des
schloßähnlichen Hotels zu kommen, die ganz eigentümlich porös aussahen.
Dann noch eine und wieder und wieder. Ein hundertstimmiges Gebrüll warf
sich über den Platz. Beine, Arme, Köpfe wirbelten sich zum Knäuel,
entballten sich in Blut und Geschrei und dann waren nur mehr Leichen am
Domplatz, darüber der Mond hinter gotischem Zierrat schwermütig und
deutsch aufstieg. Eine Arbeiterhand ballte sich, sank zurück, es ward so
still, daß man aus dem Hause ein Schluchzen hörte, das klang, als wäre
es nicht von dieser Welt. In den andern Stadtteilen wurde man noch
aufgeregter auf die Nachricht von dem Sturm und seiner eigenartigen
Abwehr. Man schrie nach Waffen, klopfte an Kasernen, die noch immer
verschlossen blieben. Es wurde elf, zwölf -- da, dreizehn Minuten nach
Mitternacht verstummte auf einmal das Gebrüll der Bürgerkehlen -- vor
dem Firmament, das ganz weiß wurde, erschien ein schwarzes Kreuz, das
bald verschwand. Die stahlglühende Weiße blieb und ließ vor den Augen
der angstgebärenden Mütter und schlotternden Männer einen großen Vogel
erscheinen, der sich als eine Etrich-Taube erwies und bis hundert Meter
über die Stadt hinabschwebte. Darin saß der Prinz mit Claire und spielte
mit den Scheinwerfern. Hierauf senkte sich ein Blütenregen von Gold,
Silber und Banknoten in die Taschen der Zugreifenden. Es ging noch
tiefer -- kein Schuß fiel -- kein Pfuiruf erscholl, als Alvio jetzt, nur
für die Nahstehenden vernehmbar zu reden begann. Die ihn aber hörten,
wurden ganz weich und gerührt. Sie gingen in ihre bürgerlichen Betten
und in ihren geschlossenen Reihen schritten mitten unter ihnen, lebendig
und nur etwas bleich, die am Domplatz gefallen waren . . . . . . . . . .

Vierzehn Tage hindurch blieb alles ruhig. Man sah den blassen Prinzen
mit seiner Schwester häufig auf der Gasse, in Hospitälern, in Kinos, wie
er zu den Leuten aus dem Volke redete, weich und mit fremden Akzent. Das
Domhotel war geräumt worden, sie lebten privat in einer schönen Wohnung
in der Kyffhäuserstraße. Die Gesellschaft riß sich um die beiden.
Einladungen wurden zwar angenommen, jedoch kam der Prinz zu einem Ball
oder zu einem Jour nur immer auf eine Viertelstunde, sprach wenig und
gemessen -- fast traurig. Nichts schien sich an der bestehenden Ordnung
geändert zu haben, deutsches Militär, deutsche Briefmarken. Am 15. Tage
lief durch die Zeitungen Europas ein Gerücht, man habe bei den
Scilly-Inseln in der Luft riesige Ballons von kastenartiger Gestalt in
großer Menge von Südwesten daherkommen gesehen. Bald meldeten London,
Ostende, Brüssel ähnliches. Am selben Tage wurde die gesamte Garnison
von Köln und Gebiet auf dem großen Exerzierplatz zusammengerufen. Um ½4
Uhr fuhr der kleine Prinz im scharlachroten Auto vor. Er nahm seinem
Diener ein kleines Sprachrohr aus der Hand, bestieg einen Schimmel und
ritt die Reihen ab. Er trug einen gewöhnlichen Reiteranzug und schaute
jedem ins Herz. Am Ende angelangt nahm er sein Sprachrohr aus der Tasche
und redete leise und weich hinein -- es hörte es aber jede brave,
niederdeutsche Soldatenseele -- »Soldaten, der Krieg ist Sünde. Mein
Reich ist ein Reich des Friedens und der Zufriedenheit. Geht zu euren
Frauen, die auf euch warten, und lebt euer Leben dem Glück, das auf euch
harrt. Lebt wohl. Und jeder bekommt für Säbel und Uniform, die er am
Gürzenich abgibt, 1000 Mark.« Wie Alvio »Frauen« sagte, wurde seine Hand
beweglich und fuhr zitternd durch die Luft, das Wort wurde in den Hirnen
der Uniformierten ganz lebendig und sie fühlten etwas Weiches, das ihnen
ums Herz ging. Dann stoben sie auseinander. Nur _einer_ holte sich die
1000 Mark nicht: Friedrich Bachmann, der fünfzigjährige, geschlechtslose
Feind dieser Welt. Am selben Abend gingen bei Deutz 800 Kastenballons
nieder, deren jedem 800 schwarze Männer entstiegen. Sie hatten riesige
Hände und kleine Köpfe. Der Prinz fuhr sofort zur Landungsstelle, Claire
war mit ihm. Er lachte über das ganze Gesicht, ließ sich von den 800
Führern Rechenschaftsberichte ablegen, die er zerknüllt zu Boden fallen
ließ, drückte jedem vertraulich und selbstverständlich die Hand. Am
Schalter aller Bahnhöfe von Köln und Umgebung wurden jedoch an diesem
Abend die letzten Fahrkarten nach dem »Auslande« ausgegeben. Denn am
nächsten Morgen prangte in handgroßen Lettern ein Manifest an allen
Straßenecken, jeder Mensch hielt es in Händen, lachte darob, weinte ein
wenig, schlug sich die Schenkel. In jedem Restaurant lag es auf jedem
Tisch, jedes Lebewesen wurde von einem erdrückenden Gemisch aus Geilheit
und Traurigkeit befallen, die zum Ausbruch drängten. Das Manifest
lautete also:

                »Bürger, Menschen, Männer und Frauen!

Ihr werdet leicht einsehen, daß die bisherige Staats- und Lebensform,
die diese Welt in ihrer Gänze beherrschte, der größte und schrecklichste
Irrtum war, den ein Teufel ersinnen konnte. Ihr werdet es um so leichter
können, da ihr ja in vorhergegangener Revolution, in Kriegsgreuel an
Blut, Mord und Unbehagen, die noch in euren Hirnen haften, Beispiele und
Belege, letzte Konsequenzen dieser Raison vor euch habt. Weniger leicht
werdet ihr wissen können, wie aus diesem Wust, dieser Maschine hinaus.
Nun, der Angelpunkt des Leidens ist die Unter- und Überordnung, die
Pflicht, das Muß. Ich sehe gar nicht ein, warum nicht jeder tun soll,
was er will. Ich stelle euch in meinen fast hirnlosen, aber gutmütigen
Sklaven die Arbeitsmaschine vor, die euch schneller und besser Luxus und
Lebensunterhalt verschaffen wird, als ihr es könnt. In eurem Herzen
werden aber Jahrtausende lang an das Rad gebundene Energien frei. Mein
Vermögen, mein Geld ist imstande, euch zu dem zu führen, das euch
dienenden, schwitzenden Menschen unerreichbar und darum Sünde schien:
zur Schrankenlosigkeit. Ihr habt Jahrtausende hindurch, seit ihr zu
eurem Schaden den Tierleib verlassen, an unerfüllten Wünschen laboriert.
Seht, ich bringe euch Erfüllung aller eurer Wünsche. Laßt euren Trieb
Gesetz werden, es wird euch nicht gereuen. Denn daß ihr nicht hungert,
dürstet oder friert, dafür sorge ich. Umarmt eure Frauen und die eurer
Nächsten, mordet, brennt, stehlt, zerstört -- aber bitte, nur nicht
diese jahrhundertalte Langeweile und Lüge. Ehrlichkeit ist die Tugend
der neuen Religion, die ich euch bringe. Sucht sie in Bibliotheken,
Betten, Gotteshäusern, Turnsälen, jeder als sein, aber nur sein Herr.
Ihr Frauen aber, denen die größte Lust zu schenken gegeben wurde, öffnet
weit eure Arme, denn eine ganze Welt will darin vergessen, wie dumm sie
war.« Dann kamen noch einige technische Anordnungen, daß man
folgerichtig sich von der andern Welt abtrennen müsse, daß jedem so und
so viel Arbeitsmaschinen zur Verfügung stünden, daß Alvio der Nachfolger
Christi sei. Am Schlusse hieß es dann: ». . . und jeder hat sich wie in
besserer Urzeit in gleicher Weise sein Leben selbst zu machen, Frauen
selbst zu holen und nur die Arbeitslosigkeit trennt ihn von Königen und
Göttern. Sie müssen herrschen und führen. Ihr sollt nur _leben_. Lebt!«

Da lief, wie gesagt, manche Brille an, manche Züge verfinsterten sich
unwillig: so ein Wahnsinn . . . Doch es bohrte sich auch bei Mann und
Frau hie und da die Hand fester in eine gepolsterte Fauteuillehne: ». .
. wenn, ja wenn -- --.«

Am selben Nachmittag -- es war Juni und schrecklich heiß -- stellten
sich die Arbeitsmaschinen -- Neger von dem Gute auf Florida -- bei arm
und reich in gleicher Weise ein -- am selben Nachmittag ging der Prinz
mit Claire durch die Straßen und forschte in den Herzen. Am nächsten
Tage starben in Köln und Umgebung dreitausend Personen am Schlagfluß. Zu
tief war in ihnen der Wurm der Pflicht gesessen und hatte das schöne
Gebäude benagen wollen, das ihnen der Satan gebaut.

Die ganze Welt blickte nun auf die Rheinlande -- ein Gemurmel der
Mißbilligung durchzog die Presse, man sprach von »Irrsinn«,
»Bubenstreichen«. Auf einmal konnte man sich nicht mehr in Verbindung
erhalten, da es hieß, der Verkehr mit dem Lande »Libertia« sei technisch
unmöglich. Viele Leute verlangten jetzt bewaffnete Intervention.

In der Stadt Köln ereignete sich aber in den nächsten 16 Tagen noch
immer nichts Erwähnenswertes. Allerdings auffallend erschien ein
gewisses zwangloseres Benehmen der Einwohner. Tanzunterhaltungen,
Sommerfeste, die gegen zwei Uhr in ein wüstes Getümmel verliefen, dem am
nächsten Tage Duellforderungen, Selbstmorde folgten, gehörten nicht mehr
zu den Seltenheiten. Dabei war die Laune der Bevölkerung eine übertolle
zu nennen, die Sterblichkeit ging zurück, die Neger funktionierten
tadellos. Es standen jetzt häufig Gewitter am Himmel, die sich oft in
Hagelschauer entluden, wobei rötlich-weiße Körner niedergingen. In der
Nacht dann, wenn die keuschen Sterne sich wieder verdutzt blicken
ließen, schlichen kleine Gestalten, wie Kaulquappen, an den Häusern hin,
hinauf die Treppen, schlüpften durch das Schlüsselloch, setzten sich in
die armen Hirne der Schläfer. Sie schienen dem Prinzen ganz ferne zu
stehen und auf eigene Faust zu operieren. Der war schon am 17. Juli mit
seinem Palaste bei Brühl fertig geworden. Er wurde bei allen Redouten
und Maskenfesten gesehen, als rosaroter Page verkleidet reizte er durch
sein sinnloses Trinken und Küssen die Gesellschaft zu einer ungewollten
Ausschweifung, die in der Gestalt von Alkoholvergiftungen in den besten
Familien unpassende Blüten trieb. Die Frucht schien reif. Vielleicht
durch den Widerspruch der Geistlichkeit, die noch immer gegen die
Arbeitslosigkeit wetterte, angeregt, erschien eines schönen Julisonntags
nach dem Hochamt im Dom Alvio auf der Kanzel und sprach zum Volk. Er
begann: »Jedem seine Meinung in Ehren . . .« Aber jetzt wäre es Zeit. Er
lüde sie alle zu sich aufs Schloß. Dann stieg er hinunter und ging
geradeswegs in der Menschenmenge auf Dr. Halb zu, den schönsten Mann der
ganzen Rheinprovinz. Der Prinz lächelte und klopfte dem gewesenen
Ministerialbeamten auf die Schulter. Die Leute wurden schon aufgeregt
und drängten sich warm und fest aneinander -- in ihren Mienen standen
Angst und Würdelosigkeit. Hände tasteten und griffen, Füße wollten
zueinander, durch den gewaltigen Raum schlich auf einmal nur mehr ein
dummes, armseliges »Dominus vobiscum . . .« -- dann sprangen die großen
Türflügel auf. Die Orgel begann einen Two-step zu spielen, die Priester
am Altar erstarrten, die Menge drängte gegen das Tor. Der Platz draußen
war rosengeschmückt und durch die Sonnenglut gingen zwei Herren im
Jackett auf ein bildschönes Mädchen zu, das ihrer augenscheinlich
harrte. Der eine Herr machte eine einladende Geste mit der rechten Hand.
Hierauf flammte in der schwarzen Masse der Gläubigen ein Schuß auf, der
ziemlich gewaltsam von den gotischen Hochsäulen zurückgeworfen wurde,
man sah, wie einer eine Frau aufhob und forttragen wollte, die Altäre
zitterten. Das Chaos der Gemeinsamkeiten brach los. Scham war tot und
die lebendigen Rosen waren Brautbett der Fürsten und Gemüsemädchen.
Inzwischen fuhr Claire mit dem schönen Dr. Halb in himmlischer Nacktheit
in das Schloß der Lüste. Der blasse Prinz ging aber am Domplatz auf und
ab, auf und ab und seine Haare hingen feucht in die Stirn. Er konnte das
Begattungsgebrüll nicht vertragen und hatte sich Wattestöpseln in die
Ohren gesteckt. Als die Gräfin Balthes auf ihn zurannte -- der Rock
zerrissen und um den Mund Blut -- ließ er sich in ihr Haus zerren. »Mich
hat noch keiner gehabt -- du -- du --.« Ihre Lenden boten sich ihm
schamlos dar. Er ging zum Erker und schaute zum Domplatz hinunter. Er
grinste: »Ich habe Fieber.« Und dann: »Liebst du mich?« Die Gräfin
sprang ihm an den Hals. Er wurde ganz sanft. Eine Wolke war vor die
Sonne gezogen. Aus dem Nebenzimmer -- oder war es über ihnen? -- klang
Gepolter umfallender Sessel, Klirren von Gläsern, Ächzen. Am Domplatz
floß Blut. Ein Haus in Deutz hatte zu brennen begonnen, und schwarze
Maschinen trugen Verwundete, Bewußtlose ins Spital. Der Himmel war gelb
vor Weh und Geilheit. Der drinnen streichelte höflich und erlöserhaft
der Gräfin Haar und beugte sich zu ihr. Er flüsterte ihr ins Ohr: ». . .
und hätten der Liebe nicht.« Er unterließ es auch nicht, sie dabei im
Nacken zu krauen. »Du -- weißt du, meine Schwester ist die Schlange.«
Worauf die Gräfin aufheulte und schwarz im Gesicht ward. Sie krümmte ein
wenig ihre aristokratischen Fingerspitzen und war tot . . . Der Prinz
bedeckte sie mit einem Tuch und fuhr mit seinem Auto nach Brühl. Dort
erschoß er den schönen Dr. Halb, wie er gerade aus Claires Schlafzimmer
kam. Er selbst legte sich zu ihren Füßen hin und schlief bald ein. Sie
aß kandierte Früchte und lächelte lieblich wie ein von Gott besoldeter
Engel . . . Alle Hirne hatten sich anders eingestellt, die Temperatur in
aller Adern stieg auf 39,6°. Das Banner der Zügellosigkeit flatterte
über die Dächer. Daß Handel und Industrie nicht lahmlagen, hatte man nur
den trefflich funktionierenden Negern zu verdanken, die stets an ihrem
Platz waren. Sie waren unentbehrlich. Fast wie Alvio, der mit dem
scharlachroten Lieblingsauto von Ort zu Ort, von Gasse zu Gasse fuhr. Er
stieg aus, sprach da und dort ein Wort, legte den Frauen die Hand auf
die Augen, daß sie weinten. »Also übermorgen«, sagte er jedem, »das
Fest. Ihr kommt doch?« Und die verwirrt schlagenden Herzen, die Hirne,
in denen der Wahnsinn saß, schnappten ein »Ja.« Denn der Bann, der von
ihm ausging, hielt sie alle. Manche -- besonders Professoren, ehemalige
Offiziere und andere Ehrenmänner -- begannen zu zittern, und aus allen
ihren Poren brach Schweiß. Die Geistlichkeit hatte sich scharf gegen ihn
gewehrt. Er aber versprach Messen, ließ goldene Kruzifixe, Meßgewänder
in die Pfarreien tragen, daß sie schwiegen. Im niedern Volke hatte die
Syphilis scharf um sich gegriffen. Der Prinz ging zu jedem Kranken hin
und siehe -- man wurde gesünder, fast gesund, wurde weiter gepeitscht.
Tag und Nacht. Haus und Gasse und Herd und Kirche und Bett waren eins.
Wo man müde war, schlief man ein. Das Pflaster war weich und gab nach,
die Luft zart und schwül. In der Nacht hing ein Gestirn am Himmel, hell
wie die Sonne, nur viel röter. Am 38. Juli fand unter Massenbeteiligung
das Hochamt der Lust im Kölner Dom statt. Claire vereinigte sich mit dem
Prinzen, die Erde dröhnte. Sonst schien der Kosmos keinen entsprechenden
Anteil zu nehmen. Da war das Ausland schon bedeutend lästiger, das
telegraphisch sich erkundigte, anklopfte an die Türen von »Libertia.«

»Wir wollen ihnen das Evangelium des Lebens bringen«, sagte der schlanke
Keppel, Privatsekretär des Prinzen und Two-steptänzer.

»Noch ist es nicht an der Zeit. Nach dem Fest.« »Wo willst du übrigens
so viel Tausende in diesem Schloß bewirten?« »Warte . . .«

Ja, im Schloß herrschte eine fieberhafte Erregung. Alles wurde mit
Blumen, Düften und Tieren geschmückt. Der blasse Prinz ging oft tagelang
nicht aus seinen Zimmern. Eines Tages hörte seine Mutter, die jetzt
heiterer geworden war, ihn seufzen. Sie selbst durfte nicht eindringen,
darum schickte sie Claire hinein. Claire -- ja, kennt ihr Claire? --
manchmal ist sie euch sicher schon begegnet, Claire, die Schlanke,
Claire mit den verschleierten Augen, Claire, die Schlange -- nun, Claire
bog sich, als sie bei der Tür stand, ein wenig rückwärts und der Prinz
lächelte wieder und nahm sie fröhlich hin. »Ach, wär' ich geblieben doch
in meinem Garten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .

In dem Lande der Wollust rüstete sich unterdessen alles zum großen Fest.
Kinder, die damals zur Welt kamen, wuchsen in Stunden so groß, wie sonst
in Jahren. Und nur einer ging seines Wegs: Bachmann, der die Welt haßte.
Vor dessen Haus fuhr aber zwölf Stunden vor Beginn des Gelages Prinz
Alvio vor und erwürgte ihn höchsteigenhändig . . . . . . . . . .

Der Palast war in drei Trakten erbaut. Die beiden Seitentrakte waren für
die Privatgemächer bestimmt, in der Mitte erhob sich das goldene Haus
des Festes. Sein Grundriß war ein Dreieck, aus sich verjüngenden,
viereckigen Sälen gebildet. Der Rest bestand aus unregelmäßigen Gängen
und Gemächern, die stets verschlossen blieben. Am Vorabend des großen
Tages erschien ein feuriges Transparent am Nachthimmel, auf dem stand:
»Alle, die ihr _gesund_ seid, kommt!« Am nächsten Tage startete man nach
Brühl hinaus. Im Aeroplan, im Auto, zu Fuß, im Marathonlauf. Die Frauen
von den Männern getragen, geführt, geschleppt. Ihre Lippen höhnisch und
siegessicher. Die Negermaschinen waren zurückgeblieben, um die Städte
und Kranken zu bewachen. Als man um ½6 vor Brühl anlangte, fuhr der
Menge schon Alvio und Claire entgegen. Der Palast würde erst um 2 Uhr
nachts geöffnet. Dann bekam man ein Fußballmatch zu sehen, die
siegreiche Mannschaft wurde bei 2:1 von der Menge zertrampelt. Um 8 Uhr
kam von einem der benachbarten Hügel Musik, vorher noch nie gehörte,
unfaßbare, den Begierden zu sanft -- man schrie, warum hat man uns
hierher gebracht? -- einen Rechnungsrat traf vor Ärger der Schlag. Doch
mußte man sich notgedrungen beruhigen, da um 9 Uhr alle, wo sie saßen
und lagen, friedlich einschliefen. Der Prinz -- im Frack, die Orchidee
im Knopfloch, -- stieg mit Claire zwischen den Körpern umher und
kitzelte dicke Beamtensgattinnen. Um 2 Uhr erwachte man, sah die Türen
offen und fühlte sich merkwürdig rein. Man betrat den Palast. Der erste
Saal war wie ein Garten -- große, gelbe Sonnenblumen, eine Märchenmusik
-- Katzen, Papageien, Löwen, Tiger und Schlangen, alles furchtbar
friedlich und harmlos. Ein kleines Mädchen, das erst vor sechs Stunden
zur Welt gekommen war, rief: »schau, wie das Paradies.« Die Menschen
benahmen sich auch etwas ungeschickt, zertraten Blumenbeete, flirteten
blöd herum und wollten schließlich tanzen. »Tanzen, ja, tanzen bitte!«
Die Mäderln drängten sich um den Arrangeur, der grün und zwerghaft war.
»Wo ist der Prinz?« »Der Prinz und seine Schwester warten auf Sie im
letzten Saal. Kommen Sie nur.« Der nächste war schon etwas salonhafter.
Einige waren allerdings zurückgeblieben und sprachen mit kindlichen
Zwergantilopen, aber die andern -- ich bitte, das war ein flottes
Gehüpfe. Es wurde da gleich etwas heißer. Der feurige Cymbalwalzer --
bald war die frühere Temperatur erreicht. Und dann weiter und weiter von
Saal zu Saal. Hinter den Vorwärtsstürmenden wurde es dunkel und ging der
blaßmachende Tod. Verwandlung auf Verwandlung um sie, in ihnen. Da waren
sie nackt und nur ein mattes Holzfeuer vom Kamin schien über stöhnende,
verschlungene Glieder, aus der Luft kamen flüsternde Stimmen. Dort
rasten sie zwischen überhellen Spiegeln dahin, fingen sich -- in
Tierfelle gehüllt -- Lichtkaskaden, schrille Schreie -- und dann sahen
sie sich plötzlich auf dem Parkett des letzten Saales.

Die Mauern waren von Muscheln, und es brannte ein einziger Luster voll
Kerzen. Sie sahen sich als Nonnen, und dort die Herren hatten einen
Frack an, statt der Blume aber eine riesige Kreuzspinne im Knopfloch.
Gemessen die Bewegungen und fast steif. Still. Still. Die Musik schwieg,
man starrte sich an. Still. Es waren hier nur mehr wenige.
Repräsentanten, schöne, kraftvolle Männer, süße, schlanke Frauen. Ein
aschblondes Mädchen rief: »Wo sind die andern?« Still. Ganz leise gingen
die Tore hinter ihnen auf. Alles lag hellblau in der Reihe der Säle da.
Still. Sie drehten sich wieder. Die Kreuzspinne begann zu kriechen und
kroch, wenn sie sich faßten, den Frauen unter das schwarze Nonnengewand.
Von oben tropfte Blut, das vom Himmel kam, denn das Dach war auf einmal
fort und alles war leer. Still. Der Prinz trat unter sie. Er hielt eine
kurze Ansprache. Um seinen Mund ringelte sich eine Schlange. Er war sehr
schrecklich anzuschauen, denn seine Augen waren nur weiße Lichter.
Hinter ihm kam es jetzt schwarz und unermeßlich durch die Säle des
Todes, mit großen Händen. Ein klirrendes Orchester aus Blech und
Furchtbarkeit wurde vernehmbar. Die Hände wollten zupacken, der Prinz
grinste. Der Schrecken trieb die Menschen durcheinander -- jagte sie
wieder zusammen. »Hier -- du --« Die Nonnengewänder flogen, die Spinnen
hatten sich auf die Frauenbrüste gesetzt und sogen Blut, die Köpfe
wuchsen ineinander. Die Neger warfen sich unter sie wie mähende Sicheln.
»Du -- nein -- ich will dich -- dich -- nimm mich -- trag mich fort --«
Die gelben Augen der Schwarzen waren schon nah. . . . da rief eine große
und traurige Stimme: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und . . .« Der Tod
trat in den Saal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .

Das Weltbewußtsein rüttelte sich nach einiger Zeit schweißbedeckt aus
seinem Fiebertraum und suchte den Satan weiter in Erdbeben,
Eisenbahnunglücken und Gehirnkrankheiten, nur nicht in der Liebe.




DAS LÄCHELN DES GEKÖPFTEN


IM Jahre des Heils 1914 schienen die Angelegenheiten dieser Welt zu
einem Punkte gediehen, der sie für den Henker reif machte. So ging es
nicht mehr weiter. Unbedingt nicht. Man glaube nicht, daß etwas
Besonderes geschehen sei. Nein, im Jahre des Heils 1914 war alles so,
wie es eben gewöhnlich war. _Hört_: Gesellschaften drehten sich im
Kreisel dummer Walzerhymnen, Flirt verwirrte sich tief in das Innerste
des Fleisches, dazwischen flogen Revolverkugeln der Revolutionäre und
Selbstmörder, Dirnen mit offenen Haaren. Über Apparaten und dicken
Büchern saß bärtige Wissenschaft, über jungfernweiße Bergrücken rodelten
Sport und rote Wangen, Wahnsinnige nagten an Stäben, Audienzen wurden
erteilt, in hohen Sälen flossen Orden hernieder und stiegen Reden.
Kaffeehäuser in Bukarest, Lissabon und San Francisco und allem, was
dazwischen liegt, rollten Billardkugeln gegeneinander, ließen Meinungen
in Zigarettenrauch verwehen, kuppelten Bürger und Boheme. Einer schrieb
Bücher, ein anderer stand mit fleischigen Armen vor der Backstube des
Lebens, im Kimono wurden galante Besuche erwartet. Akten und
Geschreibsel, dicke Bäuche und Brillen lenkten das Getriebe. Ein Genie
war besoffen, Tausende Arbeiter erstickten im Bergwerk. Kirchen,
Schulen, Bordelle, Institute, Gefängnisse, Ballokale, Haus und Wiese und
Wald und Feld: alles war überfüllt. Zu den Schaltern des Schicksals
drängten sich Milliarden, um den neuesten Film zu besehen. Doch auch die
Seelen aller waren voll wie Säcke, Ursache und Wirkung lösten sich in
dümmster Selbstverständlichkeit ab, was man nicht gleich erklären
konnte, wurde psychologisch ausgeschöpft, und je komplizierter die
Untiefen erschienen, desto lächerlicher war der Rätsel Lösung. In den
Herzen der Wesen, die zwischen längst aufgedeckten Nord- und Südpolen
herumkrochen, war jegliches Gefühl religiöser Scheu abgestorben, und der
Kampf ums Dasein war zum Geraufe zwischen Hemmungen und Frechheit
geworden. Bettler hatten ein Innenleben und dachten nach, Tiere und
Landschaften waren Ornamente einer Stimmung, Erotik auf Flaschen gezogen
und für Kunstwerke verwendet. Kurz, das Gefüge der Maschinen war so
kompliziert geworden, daß der Irrgarten der Geschehnisse im Wahnsinn der
verschlungenen Linien sich wieder zum höchst simpeln Kreis schloß, der
ohne Anfang und Ende war. Das Schmieröl roch stark, die Achsen knackten,
Gott, der Herr, beschloß, dem ewigen Treiben ein Ende zu bereiten.

Engelchöre sangen den abgedroschenen Schöpfungshymnus, in himmelblauen
Seligkeiten schwammen Düfte und gebrauchte Lustgefühle. Bei der
Himmelstür spielten die beiden wachthabenden Engel ihr Schach. Zu Petrus
aber sprach der Herr und strich sich über das glatt rasierte Kinn:
»Nein, so war dies nicht geplant. Als ich mit dem Chaos um die Zukunft
würfelte und gewann, da wollte ich doch nicht Übles durch Übleres
ersetzen. Unordnung, die sich als solche bekannte, durch Heuchelei, in
der alles doch verschmiert und planlos hingeht. Nein -- fort -- ein
anderes Bild.«

Schon hob sich die ringgeschmückte Hand des Schöpfers, um
abzuwinken. Riesige Männer mit Stangen waren in den Thronsaal
getreten und erwarteten den Befehl, einen kleinen, kosmischen
Zusammenstoß zu veranlassen. Im Erdbebenbüro und in der
Seuchenverschickungszentralstelle herrschte fiebrige Geschäftigkeit.
Architekt Baron Julius Stil, Baumeister der Erde des Mars, beeideter
Sachverständiger in Pflanzen-, Tier- und Menschenleibern, legte schon
neue Pläne vor, von achtzehnbeinigen Wesen mit durchwegs blauen Augen --
vielleicht probeweise 200-300 Stück -- gehirnlos, nicht? -- einen
enormen Geruchssinn für das Ganze als Ersatz? . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .

Ja, im Himmel ging alles schnell. Doch war es noch der Überredungskunst
des schlanken Petrus gelungen, Gott vor der endgültigen Entscheidung zu
bewegen, wieder einmal zuzusehen. Sie traten in das Beobachtungszimmer
(4. Himmel, 3117. Stiege, Tür 933) und begaben sich vor die sinnreichen
Apparate. Nichts aber schien hier geeignet, den Willen des Herrn
umzustimmen. Der bedienende Geist -- früher einmal Newton aus England,
Erde -- mußte oft die Platten wechseln, Schrauben drehen und immer neue
Projektionsflächen einschalten. Es war auch wirklich zu langweilig und
gewöhnlich, was man zu sehen bekam. Die Blicke konnten in Paläste,
Kaschemmen und Boudoirs aller Erdteile dringen, konnten Lebensläufe
zusammenfassend erschauen, wenn man die 344. Linse etwas mit
Natriumchlorür bestrich und die M-Strahlen entstanden, konnten
Gehirndeckel abheben, die Gedanken sich bilden und den Geist bei der
Arbeit sehn. Nichts entging dem Schöpfer. Nach Ingangtretung der
Menschheit hatte ihm zwar der Satan den Einfluß immer mehr und mehr
abgekauft. Doch konnte er nicht gehindert werden, »Ja« und »Schluß« zu
sagen. Oder mit Syphilis und Kriegsgreuel reinigend dreinzufahren und
sich schließlich sein Werk zu betrachten, als den hohlen Rasierspiegel
seiner Größe. Doch diesmal sah er nicht sich. Was er sah, war die
Banalitat der tausend Teufel, die ihrem Berufe nachkamen.

Siehe, dort wurde ein Kindlein geboren, wuchs auf, Gymnasium, Sport,
erste Frühlinge, Universität, Nachtleben, Ball, Verlobung, Dirnen,
Ehrgeiz, Reisen, Beziehungen, Zeitung, Bücher -- der liebe Gott ließ
sich eine andere Platte einstellen (das waren ich und du . . .)

»Vielleicht das wäre etwas? Ein kleines Verbrecherleben. So was hält
frisch und warm.« Da sah man einen Akrobaten Frauen vergiften.

»Ah so, Giftmörder Hopf. Den kenne ich schon aus Feuilletons. Danke.«

»Oder ein verlottertes Genie. Hungert. Ohne Namen. Niemand kennt ihn.
Und steht doch dir nahe. Du kennst ihn. Und dann . . .«

»Dann kommt alles, wie es kommen muß. Schau nur hin. Anerkennung auf dem
Totenbett. Er ist lungenkrank. Man bringt ihm Telegramme an das Lager.
Das Auge leuchtet. Der Freund sinkt ins Knie. Weiß schon . . . Nein, ich
möchte in meiner Allwissenheit einmal ein wenig erstaunt sein.«

»Vielleicht jenes Bild . . .«

***

Sonne schien stark auf eine penninische Alpenwiese. Viel Sonne kam über
die Gletscher her und wurde durch den harten Geruch der Gebirgsblumen
noch lebendiger. Dort wuchs bei Ziegen und Abgründen ein blonder Knabe.
Die Augen leuchtend wie die guter Tiere. Die Muskel und der Bau der
Knochen, der Schädel mit den langen, hellen Haaren an Riesen erinnernd.
Der hatte nicht Vater und Mutter, der konnte nicht schreiben und lesen,
der kannte nicht Mensch noch Gott, nur seine Sonne. Im Winter kroch er
in Dörfer und lebte bei seinen Zieheltern, Uhrmacher und Gattin, in
niedern Stuben. Im Sommer sprang er über Felsen. Sang mit gewaltiger
Stimme Lieder und schleuderte Blöcke gegeneinander. Holte aus Schründen
seine Zicklein. Als er zwanzig war und seine Hände erwachsen und
göttergleich, da gefielen ihm die glänzenden Deckel der Uhren und der
süße Leib seiner Stiefschwester. Um beides zu haben, erschlug er den
Alten, den er Vater genannt. Stand über dem Blut und erstarrte, als er
den Tod aus verdrehtem Auge springen sah. Abend war's. An die
Fensterscheiben drückten sich ängstliche Gesichter, das Dorf murrte und
Kinder liefen schreiend durch die Gassen. Drinnen ging einer auf und ab,
und begann zu begreifen. Gendarmen ritten durch die Nacht mit ihm fort.
Die Schwester weinte. Im Mondschein lagen Instrumente und Gläser und
Ketten umher und weißes Haar klagte an. Der Wind blies Wolken herab.

Der blonde Doré -- wie man ihn nannte -- wurde zum Tode verurteilt. Der
Gerichtshof von Marseille hatte nach den vielen Mordtaten, die in den
letzten Jahren die französischen Behörden beschäftigten, beschlossen,
ein Exempel zu statuieren. Ein Verbrechen, das so tierisch war, so
kalten Bluts ausgeführt und zugestanden, mußte die gehörige Bestrafung
finden. »Zum Tode durch das Beil verurteilt.« Die Worte des
Protokollführers blieben im überfüllten Raum in der Luft schweben und
lösten das aus, was man in Berichten so schön als »Bewegung« verzeichnet
findet. Der Kopf des Angeklagten, der während der Urteilsbegründung
neugierig und stolz zu den Männern im schwarzen Rock aufgeschaut, sank
schwer wie ein goldener Apfel auf die breite Brust nieder. Die Lippen
bewegten sich, doch den Gesichtsausdruck konnte niemand erkennen, da ein
schwerer Regenschauer Gassen, Höfe und Zimmer verdunkelte. Das Gaslicht
wurde aufgedreht und der Mörder in völlig apathischem Zustande von den
Soldaten der Justiz hinausgeleitet. Dem Verteidiger stand nur mehr die
Berufung offen. Denn der Geisteszustand war von den Gerichtsärzten zwar
als etwas unter dem Gewöhnlichen stehend, woran wohl die mangelhafte
Erziehung schuld sei, aber keineswegs als anormal bezeichnet worden.
Doch auch dem Gnadengesuch wurde nicht Folge geleistet. Am 25. August
sollte der blonde Bauer seinen Tod finden. Der war aus dem Zustand der
Apathie bald erwacht. Hatte in seiner Zelle zu toben und zu schrein
begonnen. Sein Hirn, das offene Weiden und Blicke in den Himmel gewohnt
gewesen, war durch die Untersuchungshaft betäubt worden und ermannte
sich jetzt erst zur Revolte des gesunden Fleisches. Der blonde Doré biß
in die Eisenstangen der vergitterten Luke, kratzte mit den Nägeln an den
steinernen Wänden, verweigerte die Nahrungsaufnahme. Ein dunkler Sinn
für die ewige Gerechtigkeit war in ihm aufgegangen. Immerfort rief eine
Stimme: »Wie, wenn es Unrecht war von mir, zu töten, was dürft ihr mich,
-- mich, den Starken, Starken, Starken in den Tod stoßen? Weil ihr mehr
seid? Oh . . .« Dann griff er mit den Händen in die Gitterstäbe, um das
ewige Gewölk fortzuschieben, das jetzt Regenmassen in grauer, ruhiger
Reihe niedertropfen ließ. Dort mußte seine Sonne sein. Dort vielleicht
Freiheit . . . . . . . . . . . . .

Der Priester wurde mißhandelt und hinausgestoßen. »Es gibt keinen Gott.
Ich kenne keinen Gott.« Hochaufgerichtet stand er da, das Hemd an der
Brust offen, die Arme wirbelnd in der Luft, ein heller Fleck in dunkler
Zelle das Haar: Ein Prophet des Nichts . . .

Am nächsten Morgen wurde er hinausgeführt. Es ging durch Gänge, über
Stiegen, vorn die graue Jacke des Aufsehers. Die Lippen Dorés waren mit
einem Ausdruck unbeschreiblicher Wut zusammengekniffen. Die Handfesseln
drückten tief ins Fleisch, das sich immer und immer wieder blutig stieß.
Auf einem der äußersten Höfe wurde Halt gemacht. Staatsanwälte und
andere Funktionäre standen feierlich umher, eine knarrende Stimme las
noch einmal das Urteil. Gebete flossen gemurmelt von fleischlosen
Mündern. Die Handlanger der Justiz traten auseinander, durch die Gasse,
die sie bildeten, kam der Scharfrichter, ein mittelgroßer Herr im Frack.
Er legte dem Verbrecher die Hand auf die Schulter. Die Geste war
einladend und gar nicht unliebenswürdig. Mit diesem war in den letzten
Sekunden eine Veränderung vor sich gegangen. Die Augen waren klar
aufgeschlagen, der geplante Fluch schien in die Brust zurückgesunken.
Der blonde Doré sah über die Menschen und die Maschine des Todes hinweg,
in eine Ecke des Hofes. Dort stand ein breitstirniger Schubkarren und
auf dem tanzte ein Sonnenkringel, der durch Mauerspalten
hereingeschlichen war, auf und ab. Denn die Wolken hatten sich verzogen
und über dem Haupte der Hinrichtung lag klares Firmament, über das
langsam und feurig die Sonne heraufrollte.

»Haben Sie noch etwas zu sagen? Nein?«

Schweigen. Die Pupillen des Mörders hatten sich weit gemacht, um eine
Welt in ihnen ertrinken zu lassen. Der Mund lächelte.

»Dann treten Sie dorthin.« Der mittelgroße Mann im Frack stieß ihn
vorwärts. »Pax tibi semper -- pax aeterna . . .« Ein Kreuz trat vor das
Gesicht, der Mund spitzte sich zum Kuß.

»Auf jenen Polster, ja . . .« »Ich danke Euch, Herr.«

Und schon fiel -- ritsch-ratsch -- das Fallbeil herab. Das Lächeln war
geblieben. Blutiger Stumpf starrte ins Gemäuer. Das herb vom Leib
geschiedene Haupt trug seinen Segenswunsch, die Sonne aber hatte sich in
dem blonden Haare verfangen und war mit in den schwarzen Sack gerutscht,
der den Abfall empfing. Im Hofe des Gerichtsgebäudes von Marseille war
Christus gestorben.

Die Welt ward dunkel wie das Antlitz von Pestkranken. Vom Zenit donnerte
eine schreckliche Stimme über die Städte und Felder der Erde: »Weil
einer von euch das Leben geliebt, aus wahrem Herzen und wie die Kinder,
und _der_ ein Mörder war, so sollt ihr fürder dies Getränk, den Leib und
seine Lüste nicht mehr freundlich schlürfen, sondern hassen . . .«

Die Wolke verzog sich. Am Himmel hing ein rötlich leuchtender Kopf und
gab Licht. Die Erde ließ Stachelkräuter wachsen, zackige Kakteen.
Selbstmörder bevölkerten die Metropolen, die Verbrecher waren Herren der
Scholle, Mörder, die gekreuzte Beile bläulich über der Stirn trugen. Die
Tiere sind ausgestorben, die Maschinen streiken. Blut floß und fließt in
riesigen Strömen, bis in letzter Barmherzigkeit ein Satan die Wagschale
zur Hölle stößt. Dort dürfen wir schmoren und wimmern und heulen mit
offenen, schwärenden Wunden in alle Ewigkeit. Amen.




DER JUNITAG


IN der Wohnung des Sektionschefs von Hornische standen die Möbel schwer
und altbraun herum und es roch nach Schmerzen. Die Doktoren sagten: »Man
hat alles getan -- man muß lindern«. Frau Alwine von Hornische zeigte
sich gefaßt. Sie linderte und ging herum wie eine böhmische
Krankenschwester. Oft richtete sich noch Sektionschef Otto von Hornische
mit dem Kaiserbart im Bett auf, fluchte laut und warf seine Spuckschale
mitten ins Zimmer und schrie und ward rot: »Die Alte hinaus . . . mein
Mädel . . .« und der Rest wurde von einem quälenden dumpfen
Schmerzenslaut unterdrückt. Dann hieß es »Das Mädel muß heraus --
Krankenatmosphäre -- Tante Frieda . . .«

Das Mädel war die siebzehnjährige Tochter. Sie hieß Gretel und hatte
Augen, grau, jungfräulich und zum Weinen unschuldig. Auch sonst war sie
hübsch und schlank. Es ist eigentlich von ihr nur zu sagen, daß sie
siebzehn Jahre und ein Mädchen war. Sie hatte noch nie geküßt.

***

In Tante Friedas Wohnung hatte der Dämon der Zeit die Makart-Buketts
mitzunehmen vergessen, und man ahnte von ferne Reifrockzeit und
Familienblätter. Gretel langweilte sich hier äußerst. Jeden Tag kam Mama
herüber und erzählte. Gretel wandte sich roh ab und dachte: »Wenn nur
der Alte schon . . .« Und Tante Frieda erzählte viel von Bismarcks Frau,
die sie einmal gekannt zu haben vorgab. Es war ihr alles zuzutrauen.
Gretel war ein Sportsmädel, wie es sie trotz versichernder Feuilletons
der Presse und trotz Semmeringtouren doch wirklich gibt. Sie riß die
Fenster auf und sah sich nach einer Tennispartie um. Tante Friedas Villa
lag in Hietzing . . . . . .

Es war ein gesegnetes warmes Frühjahr. Gretel fragte plötzlich: »Du
Tante, was für einem Herrn gehört denn die Villa dort drüben?«

»Hoflieferanten Schneider Striberny. Mein seliger Mann hat immer . . .«

»Ja und der sitzt immer am Fenster dort bei den Büchern . . .«

»Ah nein -- das -- das ist nur ein Gast von ihm. Ich glaube
Geschichtsprofessor -- -- krank gewesen -- eigentlich verwandt mit euch
-- -- -- wohnt sonst in Ottakring so -- Ja Gymnasialprofessor . . .«

Gretel lachte: »Sitzt immer bei die Bücher; bei so einem schönen
Wetter.« Der Mensch dort drüben schaute auf. Gretel nickte: »Ja Sie
mein' ich.« Dann spitzte sie den Mund und wollte pfeifen. Tante Frieda
verwies es ihr. -- -- -- -- -- -- Gretel war seit einiger Zeit müd,
abgespannt. Sie ging nicht mehr zu den Tennispartien. Beim Essen blickte
sie auf, und ein Knödel hing gedankenvoll an ihrer Gabel . . .

»Der erste Mai ist heute. Und schon so warm. Man sollte etwas anstellen
heute.« Sie streckte sich, daß man die weiche Biegung ihres Körpers sah.
»Ich werde wieder hinein zu den Eltern fahren . . .« Tante Frieda putzte
die schwere Brille. Sie murmelte etwas von: ». . . armer Vater . . .
ringt . . . sowieso nicht lange . . .« Plötzlich fragte Gretel: »Was ist
denn mit meinem interessanten Geschichtsprofessor?« »Wieder zu Hause
. . . Ottakringerstraße.« Dann kamen Wiener Tascherln herein und das
Obst. Gretel steckte sechs Kirschen auf einmal in den Mund und dachte
sich etwas . . . . . . .

Um halb Drei setzte sie ihren schicken Hut auf. »Ich geh spazieren
. . .« Draußen war alles grün in der Allee und Vögel sangen. »Warum
nicht?«, dachte das Mädchen und »es is a Hetz . . .« Von der
Hausmeisterin drüben bekam sie gewünschten Bescheid: »Ja, also jetzten,
gnä' Fräul'n, bei saner Familie, Ottakringerstraße 157 im vierten Stock«
. . . . . . . . . . . . .

Die feiertägliche Elektrische fuhr durch die staubige Vorstadt. Ihr
Läuten und das Pfeifen und das Tönen der Trompete und »ja, ja, steigens
nur ein, wir fahren nach Dornbach« -- alles schlängelte sich die nicht
angestrichene Wand des verklebten, blinzelnden Zinshauses hinauf. Denn
es war eine Haltestelle knapp vor dem Tore . . . Oft fluchte darüber
Ludwig Hunner und sah von seinen Pandekten in die Gulyasduft und Staub
tragende Viertestockluft. Die Knaben nannten ihn Hunzer. Er hatte ein
Gesicht wie ein lyrischer Lustmörder oder wie ein Revolutionär aus
Traurigkeit. Er war irgendwie mit reichen, mächtigen Leuten wie
Hornische und so verwandt. Der Reichtum war wie ein süßriechender Kelch
an ihm vorüber gegangen. Er war in seiner Jugend ein Aufwühler und etwas
verrückt und also am Wege liegen geblieben. Jetzt loderte sein
Fanatismus in Büchern aus Schweinsleder mit Bücherskorpionen und
zusammengebraunten Seiten auf. In seinem Hirn glühten und verfielen noch
immer Welten. Doch die Hand schrieb »nicht genügend« und über seine
gigantische Nase war das Gefängnis einer Brille gelegt. Die Augen waren
erloschen. Er hatte eine Gattin, welche nicht abließ, ihn »Luschi« zu
rufen und ihm Kinder zu gebären. Sie liebte ihn, und er hatte sie aus
Wut einmal gegen wen Andern geheiratet. Jetzt war ihr Leib reizlos, und
Ludwig Hunner ging an ihr bröckelnd und fluchend zugrunde. Siehe, auch
jetzt rief sie es wieder herein: den Schlachtruf ihres Lebens: »Luschi,
der Kaffee wird kalt.« Und inzwischen schoß der achtjährige Sohn Jonas
mit einer Luftpistole an die Wand. Ludwig Hunner aber exzerpierte gerade
mit seiner kleinen zerschmetterten Schrift etwas über den
dreißigjährigen Krieg und brüllte hinein wie zehn Löwen und seine Stimme
kam noch immer aus einem feurigen Krater: »Ich komme sofffort!« Da
läutete es draußen . . .

»Ja natürlich ist das eine unglaubliche Keckheit -- Aber ich hab mir
gedacht, wir sind eigentlich verwandt. Und wissen Sie -- ich langweil
mich sooo -- und ich hab Sie bei den Büchern sitzen gesehen und ich hab
mir gedacht, Sie langweilen sich auch. Nicht? . . .« Sie schwieg und
ihre Augen blieben an den waldigen Augenbrauen Ludwig Hunners haften.

Dieser brachte kein Wort hervor. Seine klobigen Hände zerknitterten
irgend ein Papier. Er war eigentlich in dem
»Dem-Herrn-Direktor-Vortrittlassen-ins-Konferenzzimmer« ein feiger
Philister geworden. Aus dem Nebenzimmer kam der Kaffee gekrochen;
eindringlich und braun.

»Wissen Sie . . . also man tut oft etwas Plötzliches mit siebzehn. So
ganz etwas Plötzliches.« Sie . . . stand auf und in ihrem Innern dachte
sie schon »So ein Blödsinn.«

»Ich könnte auch gehn.«

»Aber nein« -- er wurde lebhaft. Er nahm sie bei der Hand. »Eigentlich
ist das ein großes Glück . . . habe immer auf so etwas Plötzliches
gewartet als ich jung war.« Seine Stimme versank. Er führte Gretel ins
Speisezimmer. -- -- »Also, Emmy, das Fräulein war so lieb und hat sich
uns anvertraut. Sie ist ohne nähere Verwandte« -- er log aus Angst --
Gretel zuckte spöttisch mit den Mundwinkeln -- »ohne Verwandte und hat
sich gedacht, wir werden uns ihrer annehmen. Wir werden ihr in Zukunft
immer unser bescheidenes Heim zur Verfügung stellen.« Noch nie hatte er
so lang und so weltmännisch mit seiner Frau geredet. Diese zwinkerte
Gretel prüfend an, rief dann kreischend etwas von einer neuen Tasse in
die Küche, verwies der kleinen Inga das Nasenbohren und der Anfang war
gemacht . . . Ludwigs Glut war schon längst Zucht und Beherrschung
geworden. Er war dabei allerdings ein wenig um die Theatralik und das
Gepränge der gesprochenen und gehandelten Tat gekommen. Doch nun
entzündete er sich, wie er mit einem so fremden, andern, neugierigen und
selber angestaunten Individuum über den siebenjährigen Krieg sprach und
Alt-Ägypten und Napoleon. Er fuhr sich mit der Hand einige Male über die
Haare, die ungekämmt waren, und schob das kleine Mizzerl ganz aufgeregt
beiseite, als sie sich auf seinen Schoß setzte und voll starren Staunens
auf die weißen Mädchenhände Gretels blickte . . . Es war sieben Uhr
geworden. Die Bücherdeckel erglänzten im letzten Sonnenstrahl. Gretel
unterhielt sich geradezu. Sie dachte immer »Komisch -- sehr komisch
. . .« Es kam über das Staubmeer ein Duft. Dann zündete Emmy die
Petroleumlampe an. Gretel ging. Sie ging über die Stiege und lachte über
das ganze Gesicht. Sie dachte . . . »Komisch . . . sehr unterhaltend --
also Napoleon hätte nicht mit Metternich sprechen sollen in Dresden und
Amenhotep war der erste, der . . .« Sie lachte laut heraus und stieg
fast in einen H2-Wagen ein, der sie nie nach Hietzing gebracht hätte.
Oben trank Ludwig Hunner ein Glas Wasser in einem Zug aus, richtete
seine aus der Fassung gebrachte Krawatte und rief dann ins Nebenzimmer
»Emmy, unser Abendspaziergang!« Worauf er mit Kind, Kegel und Gattin in
irgend einen Dr. Karl Lueger-Jubiläumspark ging, der rhachitische Kinder
und staubige Reifen ahnen ließ -- -- -- -- -- --

Es gefiel Gretel von Hornische in der Ungewaschenheit und Stilwidrigkeit
des staubigen Kleinbürgertums herumzurühren. Sie ahnte auch irgendwo
einen Brand, etwas Außerordentliches unter diesen Abzahlungsmöbeln. Sie
kam öfter im Mai in die Ottakringerstraße. Sie sagte ganz offen zu Tante
Frieda: »Ich gehe zu armen Verwandten. Aber laß mich mit deiner blöden
Tennispartie aus.« Sie starrte die Hände Ludwig Hunners an, die die
Hände eines Bergarbeiters waren. Ihre Neugierde wuchs; sie drehte sich
im Nachmittagsschein vor dem Fenster und legte ihren Kopf auf die Hände.
Und es erwachte die kleine Bestie in ihr. Ludwig Hunner aber sprach laut
und deutlich. Er sprach jetzt von seinen Wünschen und Ambitionen. Gretel
blinzelte. In muffigen Ehegebührsumarmungen, bei Kind und Nachttopf und
hängenden Brüsten war in Ludwig jeglicher erotische Sinn abgestorben.
Nur manchmal nahm er ein Stück Monatsgehalt und lebte sich aus. Trotz
allem sah sein ästhetisches Auge, wie unglaublich gut diese Linie war,
wenn sie sich bog, und die Hüften waren schlank und aufreizend. Er mußte
auch lächeln; »Warum lachen Sie?« »Ich dachte, daß es eigentlich sehr
komisch und sehr nett von Ihnen ist.« »Was denn?« »Daß Sie zu uns
kommen.« Seine Stimme bebte. Später sah er ihr nach, gelehnt an seine
älteste Tochter Karla, die dreizehn Jahre war, und zittrige Haarsträhnen
krochen über ihr Gesicht. Gretel kehrte sich um und winkte herauf. Ihr
Kleid leuchtet wie roter Mohn. Ein Gewitter-Windstoß fuhr Ludwig in die
Haare, die er sich am nächsten Tage schneiden ließ . . . Er ließ sich
auch den Schnurrbart abnehmen . . . Vater von Hornische rang noch immer.
Tante Frieda meinte, die Besuche müßten aufhören. Gretel ging jetzt
justament hin und fast jeden Tag. Gretel kam einmal unvermutet gegen
Abend noch einmal. Sie hatte ihr Tascherl vergessen. Sie sah Ludwig
nicht am Arbeitstisch. Aber über seiner Schreibmappe thronten, unten
angeschwärzt und umgekehrt, zwei Röllchen. Dies wirkte furchtbar
komisch. Sie mußte auch sehr lachen. Als Ludwig hereinkam und die Szene
erkannte, bekam er einen guten Zorn, einen Bubenzorn, und warf die
Röllchen mitsamt den 40 Heller-Imitations-Knöpfen in die
Ottakringerstraße hinab und schrie ein ordinäres deutsches Schimpfwort.
Gretel staunte. Aber Emmy mußte vier Tage hindurch Manschetten annähen,
trotz ihrer Schwangerschaft -- -- -- -- -- -- -- -- --

In dem Hause und der Wohnung Ottakringerstraße 157 gab es viele Dinge
und es war eine bewegte, kreischende Symphonie des Mittelstandes und der
Arbeit. Es gab enge, verschrumpfte Drehstiegen mit unheimlichen, offenen
Gasflammen, die zischten und pfauchten. Und einen Hof, in dem plötzlich
in der Mittagsglut der Mehlspeisendüfte wandernde Sänger auftauchten und
ihr Lied aufsteigen ließen, das da gewöhnlich ging: »Hupf mein Mäderl!«
Vorn spielten Rotznäschen und schwarze Finger am Trottoir, das Risse
hatte, mit undefinierbaren Kugerln. Und Klopfbalkons und Gerüche
sämtlicher Kuchen Wiens. Da war eine Köchin mit stets aufgesprungenen,
roten Armen, die jeden Dienst bei Hunners verrichtete. Sie roch aus dem
Mund. Stühle waren vorhanden, die wackelten, und halbtrockene Windeln im
Gangerl und fünf Kinder und der Knabe war gewalttätig und schlug Lärm.
Ferner Nachttöpfe, die sehr begehrt waren, und ein Bett, das nie gemacht
war, und Flüche und Häuptelsalat, worin eine Raupe umherkroch, und
Mizzerl kreischte dann: »Schau, Máma, ein Vieeech!« und Zinnsoldaten am
Boden zerstreut und ein Kübel mitten im Zimmer und an den Wänden Stiche
aus der »Gartenlaube« und die gelbe, häßliche Uhr ging um eine
Viertelstunde zurück und Berge, Berge von Büchern und Scripten und
Heften, beklexten und halbvoll geschriebenen. Und »Pápa, darf ich heut
in den Zirkas gehn?« und »Emmy, heute ist Konferenz, gib den Schlußrock
heraus!« und der Ehrenteller bei Tisch war auch schon gesprungen und die
Lotti hat sich einen Schiefer eingezogen. Über allem aber thronte,
frisch und herrlich, Gretel von Hornische . . . . . . . . .

Mama spannte sie hie und da zu kleinen Dienstleistungen an. Trotzdem
lächelte sie und kam weiter hin. Sie gingen auch manchmal zusammen nach
Dornbach hinaus in den Wald -- -- -- Es war ein warmer Mai -- -- --
Einmal gingen Gretel und Ludwig mit der kleinen Marie. Plötzlich sagte
diese: »Geh, Vater, geht's voraus -- ich hab da so viel schöne Veigerln
gesehn!« Sie bückte sich und pflückte. Gretel lachte und sie gingen zu
zweit weiter. Ludwig fuhr sich am Hemdkragen herum und etwas sagte in
ihm: »Du bist verliebt.« Er aber erklärte, daß der Tag herrlich sei.
Gretel lachte und war neugierig. Da sagte er: »Das Kind ist gescheit«,
und küßte Gretel auf den Mund. Sie küßte ihn wieder und beide bluteten
dann ein wenig. Am Rückweg fragte Gretel, ob sie wirklich verwandt
seien, und sagte dann: »Da sind Sie ja mit Kinskys verwandt. Wir sind es
nämlich.« Sie freute sich, daß sie doch nicht nur die glutvollen Lippen
einer Feuerseele geküßt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .

Es war Juni. Es war bereits heiß. Wenn Gretel jetzt kam, ließ sie sich
die Hand so von innen küssen und den Nacken und sie sagte möglichst
kühl: »Gut, daß du rasiert bist!« Es war aber auch in ihr Juni . . .
Ludwig Hunners Philisterherz zerschmolz zu dem heißen Steinkern seiner
einstigen Jugendlichkeit. Wieder türmten sich die Gedanken und lauerten
auf die Tat. Seine Seele hielt die Zügel und den Atem an . . . . . . .
Arbeiter sangen, Elektrische und Automobile rasselten, es leuchtete
drüben über dem Wienerwald. Die Luft war schwer. Im Speisezimmer
flackerte das Petroleumlicht und der Aufschnitt stand auf dem Tisch.
Gretel war heute auch zum Abendessen da; weswegen Mizzis neues Barterl
vorhanden war und man es Jonas verbot Nägel zu beißen. Das ganz Kleine
weinte, weil es Angst vor Gewittern hatte. Emmy stand nun auf; sie war
gelb und, wie gesagt, wieder einmal in der Hoffnung. Ihr Leib war
gedunsen und sie sah wie ein Traumbild Goyas aus. Sie stand auf und
wankte hinein und man hörte sie erbrechen. Mizzerl lief ihr nach und die
andern Kinder bekamen Angst und rannten aus dem Zimmer. Ein Bierglas war
umgefallen und der Zylinder der Lampe knackte. Ludwig saß da, starr wie
ein Stier. Gretel aber rief, flötete, sang: »Küß mich!« Er sprang auf,
hob sie, trug sie aufs Sofa, riß ihr die Bluse auf und küßte sie auf die
kleinen, zarten Brüste und den Lilienhals. Sie biß ihn und flüsterte
sommerhaft und mädchenglutend: »Ich liebe dich!« Es weinte aber ein
kleines Kind nebenan. Ein Donner schreckte die beiden auf und Emmy rief:
»Also vorwärts, zu Tisch, Kinder!« Und man versetzte sich zurück in die
Gefilde der Bürgerlichkeit und Gretel erklärte, sie sei beim
Uhraufziehen an einem Nagel hängen geblieben und schade um die schöne
Bluse. Die alte Uhr ging aber wirklich plötzlich. Unten sang man: »Trink
ma no a Flascherl . . .« und Jonas gab fest und knabenhaft seiner
Meinung Ausdruck, er esse keine Dürre nicht. -- -- -- Obwohl es gegen
Schulschluß ging, war Ludwigs starre und strenge Observanz doch so
geschwunden, daß er sich um das Gymnasium gar nicht kümmerte. Er holte
jetzt Gretel in Hietzing oft ab, sie gingen in einen Wald hinter der
Einsiedelei. Es war vier Uhr und durch Blätter kam weiße Hitze und sie
küßten sich. Das siebzehnjährige Mädchen war älter und wieder frischer
als der Mann und ihre Leidenschaft sah Ziele. »Seltsam, daß ich mich in
dich verliebt hab« und »wenn mein Vater stirbt, läßt du dich scheiden,
wir heiraten. Oder ich ziehe in die große Wohnung und ich werfe Mutter
hinaus und du wirst mein Geliebter. Übrigens habe ich da jetzt eine sehr
nette Tennispartie gefunden, vielleicht lasse ich dich fallen . . .« Da
wurde dann sein Gesicht zerrissen und gewaltig und sie bekam Angst.
Manchmal dachte sie: »Ich liebe ihn wirklich, sicher, und es ist meine
erste Liebe und seine Küsse sind Glut-Küsse, ah . . . Aber ich bin eine
Jungfrau und muß klug sein.« Und: »Sollte ich nicht plötzlich
verreisen?« Denn oft war es ihr, als wüchse seine Schwerheit und Trauer
über sie hinaus, sie wollte sich verkriechen und, als er einmal brutal
wurde -- nur einmal -- und sie auf einem Spaziergang in ein
Stunden-Hotel zerren wollte, schrie sie so laut, daß Passanten stehen
blieben und er ohne Gruß fortstürzte . . . Denn sein Inneres war ohne
Weg und Form. Er torkelte zwischen Entschlüssen und Taten hin und her
wie ein Betrunkener. Er kaufte sich einen Revolver; er wollte sich in
die Donau werfen. Er wollte ganz schlicht und einfach eine Ehescheidung
einleiten. Er wollte Gretel nicht mehr sehen. Er wollte mit ihr fliehen.
Er wollte vieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .

Am Abend des 26. Juni sagte Gretel ihm an der Gartentür in Hietzing
adieu und, daß sie morgen wahrscheinlich nicht kommen könne, denn ihr
Vater liege in Agonie. Ludwig sagte: »Gute Nacht, mein Liebling!« und
war ganz weich. Wolken zogen über seinen Weg, als er heimging . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

(Seine Frau kränkte sich schon lange und hatte auch Szenen gemacht.
Ludwig sagte immer: »Aber laß doch!« und »gardez les enfants!« Tante
Frieda ihrerseits schüttelte nur den Kopf und in Hietzing lächelte man)
. . .

Da kam der 27. Juni. Es war schon am Morgen heiß und man ahnte, dies sei
ein Tag der Züchtigung und der Glut. Doktor Schwalbenschwanz hatte sich
um ½9 in der Ottakringerstraße eingestellt, hatte »Hm, hm« gesagt und
die gnädige Frau werde gegen Abend niederkommen und die Hebamm', ja, ja,
er werde schon alles ordnen. (Die Kinder waren schon seit drei Tagen bei
den Großeltern mütterlicherseits.) Ludwig ging mit großen, idiotischen
Schritten in seinem Zimmer auf und ab. Er schlug bald die Geschichte der
Kolonial-Entwicklung auf, bald die Chronika der Stadt Nürnberg. Dann
setzte er sich, strich sich über die Haare, lächelte befriedigt. Wurde
unruhig, zerspitzte einen roten Bleistift und band sich einen neuen
Schlips um. Zu Mittag warf er mit einem gewaltigen Aufbrüllen die
Köchin, die ihm einen »falschen Hasen« hereinbrachte, zur Türe hinaus
und aß überhaupt nur ein Stück Semmel und ein wenig Kirschen. Um ½3 Uhr
ging er dann zu seiner Frau hinein, streichelte sie und sagte, er sei
gleich wieder zurück, er müsse sich nur ein Buch besorgen. Hierauf ging
er zum Thermometer im Hof, konstatierte, daß es 26 Grad im Schatten
habe, nickte mit dem Kopf und nahm aus einer Lade den Browning. Dann
bestieg er die Tramway, nahm sich eine 20-Umsteigen und fuhr über den
Gürtel gegen den Parkring. Ja, ihr Vater war heute dort gestorben und er
mußte sie sehen, heute sehen, gerade heute. Er fuhr im hintern Beiwagen.
Neben ihm troff ein bläulicher Mann von Fusel und Schweiß. Die Fenster
waren offen. Man sah die grünen Kastanienbäume und das aufgerissene
Pflaster unserer Stadt. Die Blätter waren hie und da gegelbt von der
Hitze, und die Arbeiter hatten das Hemd offen und zeigten die zottige
Brust. Dort sprachen zwei mit Rackets von einem Tennistournier. Um die
Ecke der Märzstraße zog ein Knabenhort und die Trompete klang schrill.
Am Getreidemarkt hatte ein Roß gescheut. Leute liefen hin und her, Wache
war da. Ludwig richtete sich auf und, als er einen umgestürzten
Streifwagen sah, dachte er nur: »Ah, ja -- ganz klar.« Im Palais
Hornische sagte man ihm dann, da er sich für einen Abgesandten des
Tennisturniers ausgab -- er hatte etwas von Gretel gehört und benützte
diese unwahrscheinliche Ausrede -- »Ach, ja, gewiß« -- und der Portier
blickte von oben herab -- ja, der gnädige Herr sei gestorben -- das
gnädige Fräulein könne natürlich nicht zum Tennisspielen kommen -- sie
sei aber zu Verwandten nach Dornbach oder so, um ihnen die Nachricht
mitzuteilen. Ludwig lachte ihm ins Gesicht und klopfte ihm mit seiner
gewaltigen Hand auf die Schulter und floh dann fort. Rannte zur nächsten
Elektrischen und dachte -- »Ah -- ah -- sie mußte mich auch sehen -- nun
ja, 26 Grad -- morgen sind Wahlen.« Einer sprach von Schuhmeier und
Lueger selig . . . . . Gretel war vom Sterbebett -- es sah unordentlich
und gar nicht wie ein Paradetod aus -- es war zu sommerlich, um im Bett
zu sein -- sie war also unter irgend einem Vorwand weggestürzt. Sie
rannte zu Fuß über den Gürtel, sie wußte nicht, was sie wollte, sie
mußte ihm etwas sagen, sie zitterte, es flimmerte ihr vor den Augen. Nur
heraus aus dieser Dumpfheit, dieser Krebsluft. Sie wollte mit ihm einen
Ausflug nach Rodaun machen. »Das geht aber nicht, man darf sich nicht
kompromittieren.« Sie seufzte. Keine Wolke war am Himmel. Sie kaufte
sich Gefrorenes und verzehrte es trällernd. »Herrgott -- die Sonne ist
was Schönes!« Auf der Stiege trafen sie sich dann . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Warum packst du mich so roh an der Hand?« Er zog sie in sein Zimmer.
»Du -- ah -- du!« Die Rouleaux waren herabgelassen; es war bräunlich im
Zimmer. »Küß', ja, küß' mich!« Sie waren ans Bett getaumelt. Er zerrte
an ihrem Haar, an ihrem Kleid. In seinem Gesicht stand mit großen
Zeichen die Sommerwut der Hunde zu lesen. »Nein -- du laß -- schau -- es
geht doch nicht s« Jetzt war etwas Schwärzliches da. Sie schlug ihm den
Revolver aus der Hand. »Bist du wahnsinnig? -- aah -- mit Gewalt?!« Sie
rüttelte an der Türe, die versperrt war. »Du -- Du« Ihre beiden
Schultern bebten vor Erregung. Er stand breit da wie ein brunftendes
Tier. Sie sprang ihm mit den Händen ins Gesicht. »Du Prolet -- du
Kot-Mensch!« Sie kratzte. Er packte sie bei den zarten Handfesseln und
schleuderte sie zu Boden. Einen Augenblick wimmerte sie, dann ein Schrei
-- doch er sprang an ihre Gurgel und schleuderte sie hin und her. Jetzt
war nur mehr Lachen, ihr Lachen, ihr triumphierendes Lachen da. Es
sprang von den Büchern herab, von der Wand herab in sein Hirn . . . . .
. . . . . . . . . . . .

Da erwürgte er sie.




DIE KINDER DES HERRN HAUPTMANNS


WENN Josef Mittermüller ins Gymnasium ging, um bei den Professoren
Auskünfte über seinen vierzehnjährigen Sohn Max einzuholen, so sagte man
ihm gewöhnlich: »Ja, gewiß, ganz brav ist der Bub. Aber, aber, ich
glaube, er hat nicht viel Talente. Wissen Sie, lassen Sie ihn Offizier
werden.« Das war noch so in der guten, alten Zeit, da noch Bismarck
lebte und es noch keine Aeroplane gab. Josef Mittermüller folgte dem Rat
der Behörden und so wurde sein Sohn Offizier. Da nicht viel Geld
vorhanden war, wurde auch noch dazu die Infanterie ausgewählt, den
blonden Maxl in ihre Reihen aufzunehmen. Der machte seinen Weg geradeaus
und ohne viel Beschwerden und Neuigkeiten. Er war seine Jahre in
Galizien, er erbte, als sein Vater starb, ein kleines, aber immerhin
vorliegendes Kapital und blickte aus wasserblauen Augen noch immer nicht
sehr intelligent in eine Welt, die ihm bis jetzt wohl neue Oberste und
hie und da ein neues Dienstreglement, aber sonst nichts beschert. Sein
Kopf saß steif auf dem nicht sehr jugendlichen Nacken, um den Mund lag
jene Gutmütigkeit, die in den verzweifeltsten Situationen die
Mistviecher zum Mitleid reizt, und die Hände waren gut bürgerlich. Als
Max Mittermüller nach Innsbruck transferiert wurde, war er 27 Jahre und
ein wohlbeschriebener Oberleutnant. In der lieblichen Bergstadt lernte
er Margot Osten kennen. Sie lebte, abgeschnitten von jedem
gesellschaftlichen Verkehr, bei einer alten Tante. Maxl war nur durch
einen Zufall in das Haus gelangt. Margot Osten war damals noch sehr
jung. Sie hatte schweres goldenes Haar, einen sanften Mund und Augen,
die in gewissen Augenblicken ihre meergrüne Farbe zu nicht geahnten
Effekten steigern konnten. Außerdem fast gar kein Geld. Die
Achtzehnjährige las viel Bücher, gab italienische Stunden und war zu
ernst für ihr Alter. Sie hatte so jung ihre Eltern verloren, die alte
Tante hielt sie stramm und konnte gut schimpfen. Maxl Mittermüller war
fast der erste Mann, den sie kennen lernte. Es hatte da einmal -- -- wie
sie noch in Wien gelebt -- -- einen Cousin gegeben; sie war noch nicht
sechzehn gewesen; einen Cousin verbunden mit Waldspaziergängen und
Küssen. Max Mittermüller verliebte sich in die Schlanke mit der
Goldkrone. Nicht gerade mit einer Leidenschaft, wie sie oft stille
Seelen bis zum Irrsinn stachelt; aber doch immerhin, er war ziemlich aus
dem Geleise und in der Zeit der Unentschiedenheit schmeckte ihm sein
Morgenkaffee gar nicht. Die Unentschiedenheit konnte nicht lange dauern.
Margot sah jemanden vor sich, der ihr körperlich und geistig nicht
ekelhaft war, im Gegenteil, den sie sogar in Gespräch und Blick und
Lebensführung mehr als achten gelernt; jemanden, der ihr andere
Existenzmöglichkeiten bot. Die alte Tante mußte notgedrungen
einwilligen; erstens wußte sie wirklich nichts Besseres, als »ja« zu
sagen, und zweitens, _wenn_ Margot etwas wollte, dann vermochten ihre
Augen ihren Leib zu einem Trotz zu verhalten, ihm eine Linie des
Aufstands zu geben, vor der die bissigsten Worte in Rauch und Asche
zerfielen. An einem windigen Märztage also hatte sich Max die Zusage
geholt. Er saß jetzt zu Hause, in seiner Junggesellenwohnung --
hoffentlich nicht mehr lange! -- vergönnte sich eine Zigarette und
wiegte sich in Zukunftsträumen. »Ich liebe dich!« hatte sie sogar ganz
weich gestammelt und hatte die Arme um den Waffenrock geschlungen, was
jenem Braven alles sehr schön vorkam. Das war das Glück, jawohl. Das
Glück, das Gott den Menschen geschickt, damit sie schön brav das liebe
Leben loben. Und Kindlein würden aufwachsen, sie würden nützliche
Mitglieder der . . . wir wissen schon. Der Oberleutnant summte eine
Melodie und war ganz alltagserhoben. Er hätte fast ein Gedicht gemacht.
Im richtigen Augenblick erinnerte sich sein Hirn einer Wohnung, die er
jüngst draußen in Wilten -- sehr hübsch gelegen, 3 Zimmer, ich glaube,
ein kleines Haus ganz für sich, Garten -- angeschlagen gesehen hatte.
Und so ließ er die Reimerei und machte sich auf, eine Bestallung für die
Zukunft zu mieten . . .

Die Zeit der Verlobung dauerte nicht lange. Die Wohnung in Wilten war
eingerichtet worden und grüßte wirklich sehr nett aus dem kleinen
Garten, den Habicht und den Weg nach dem Süden. Margot hatte es sich
ausbedungen, außer ihren Büchern und den sehr bescheidenen
Mädchenzimmermöbeln auch noch die Dienerin Annina mitzunehmen. In
letzterem Falle wäre sie fast bei ihrem sonst sanften Bräutigam auf
Widerstand gestoßen. Ja, das war so eine Sache mit Annina. Sie war nicht
eigentlich eine Dienerin; es hieß, ihre Eltern wären mit Margots Eltern
gut bekannt gewesen, hätten ihnen einmal vor Jahren einen großen, sehr
großen Dienst erwiesen. Dafür sprach auch die Art und Weise, mit der sie
Margot behandelte. Sie sagte ihr »Du« wie einer Freundin und schien sie
fast zu lieben, sicherlich zu bewundern. Annina war erst siebzehn und
sehr schön. Obwohl man auf den ersten Blick nicht wußte, worin ihre
Schönheit lag. Sie ging auch immer so einfach; einfacher als alle
Dienstboten der Erde. Sie hatte einen Gang wie eine Katze und sprach
sehr wenig; und wenn, dann klangen in ihr Deutsch italienische Worte und
Betonung. Oberleutnant Mittermüller hatte sie vom ersten Tage an nicht
leiden können. Er war zwar nicht grob zu ihr; ignorierte sie aber
vollkommen und konnte das Benehmen -- sogar der alten Tante -- ihr
gegenüber nicht verstehn. Schließlich mußte er doch einwilligen, sie mit
seiner Frau ins Haus zu nehmen, da diese sehr böse wurde, als er fragte:
»Warum hängst du gerade an diesem Dienstmädel _so_?« . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Ehe Maxl Mittermüllers ließ sich anfangs sehr günstig an. Leute, die
an dem kleinen Hause vorbeigingen, sahen in den ersten Monaten die
Beiden entrückt und Hand in Hand in die untergehende Sonne schaun;
andere wieder fingen bei Jours und Sport und gemeinsamen Bergtouren
Blicke voll Liebe auf, die sogar einmal Hofratin Erzner zu dem Ausspruch
bewogen: »Wie nett, so junge, glückliche Eheleute!« Margot hatte es auch
wirklich gut; ein eigenes Heim, einen Mann, der sie vergötterte und
außerdem jetzt Verkehr mit den ärarischen und nicht ärarischen Familien
Innsbrucks.

Und doch entdeckte sie in sich Untiefen, für die niemand verantwortlich
schien, die aber auch ihr Mann nicht verschütten und unsichtbar machen
konnte. Ihre verzehrende Sinnlichkeit wuchs in um so abenteuerlichere
Dimensionen, je menschlich sanfter die Liebe des Gatten in Küssen
verebbte. Da glaubte sie auch ihrem Leibe nur die Gefährtin gewachsen.
Annina, deren Macht schon, als sie selbst noch Mädchen war, bis in ihr
tiefstes Blut gereicht, nahm sie für sich. Margot fand viel mehr
Gleiches und viel mehr, das in ihrer Sprache zu ihr kam, in dem Herzen
der Katze. Und wenn ihr Mann im schweren Bauernbett sie in den Armen
hielt und über dem Garten lagen mitten in Blumen die Sterne, da glaubte
sie ein Lachen ins Hirn rinnen zu spüren und wie ein weiches Tier legte
es sich ihr um die Schultern. In das Stöhnen der Wollust traten
Gesichte, die sie immer weiter lockten; das Zimmer ward voll
schlangensüßer Leiber, die sich bis zur Decke reckten und ihr Früchte
versprachen, goldene Äpfel, ungeheure, endlose Lust. Einmal auch war in
solcher Liebesstunde Maxl Mittermüller aufgefahren. Der Vorhang des
Bettes hatte sich bewegt, eine Maske, die von dort herstarrte,
verschwand, eine Türangel knirschte. »Was war das?« Das Herz des
Offiziers ging hart und hämmernd. »Nichts . . . du . . . nichts« Am
nächsten Morgen schlug es wieder den Trott der Gezeiten und war beruhigt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bis die Kinder kamen. Max Mittermüller war jetzt 37 und Hauptmann. Seine
Ehe dauerte schon fast zehn Jahre. Seine Frau hatte ihm fünf Kinder
geboren. Das jüngste war erst vier, das älteste neun. Alle waren Buben;
alle dem Vater vollkommen unähnlich. Sie waren von dem ersten Tage an
ungebändigt, wild, laut und hatten einen Zug um den Mund, der
Bösartigkeit verriet. Dabei waren sie alle sehr groß und stark für ihr
Alter, aufgeweckt und rechthaberisch. Alle schienen den Vater, der sie
nur mit einer bärenmäßigen Strenge kuranzen zu können glaubte, zu
übersehen. Sie waren um ihre Mutter, zupften sie an den Haaren, tollten
um sie, küßten sie ab. Doch waren sie nie zärtlich zu ihr. Zärtlich
waren sie nur zu Annina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .

Annina hätte einen Stationsvorstand aus Sterzing heiraten können. Sie
hatte gelacht. Und als dieser -- ein braver Mann und Bürger -- sie
sinnlos vor Leidenschaft verfolgt und belästigt hatte, war sie ihm bei
der Gartentür in Wilten ins Gesicht gesprungen, hatte ihn gekratzt,
hatte über die blutende Stirn des geilenden Männchens ihre schwarze
Mähne geschüttelt. Dann war sie hinaufgelaufen, im Speisezimmer Margot
um den Hals gefallen und hatte gerufen: »Ich bleibe bei dir, cara,
carissima!« -- -- -- Sie war auch die einzige, die durch ein Nicken die
Kinder an ihren Platz stellen konnte, die aber auch durch einen nicht
ausgesprochenen Gedanken sie die größten Dummheiten tun ließ. Max, der
nur den erzieherischen Einfluß Anninas bemerkte, mußte seiner Frau wohl
oder übel recht geben, wenn diese ihm auf seine Vorstellungen, die
italienische Bestie doch hinauszuhauen, immer nur antwortete: »Was
machst du dann mit den Kindern?« Ja, es war gräßlich, und jedem in der
Stadt fiel es auf, was für eine Wirtschaft die Mittermüllers zu Hause
hatten. Wenn man zusammen ausging, da fingen gewöhnlich die beiden
Ältesten, Karl und Moritz, auf kolossal raffinierte Weise einen der
vorbeikommenden, kleinen Hunde, rannten mit ihm weg und erschienen nach
einigen Minuten mit einer plattgedrückten Leiche, die sie mit Hilfe
eines Feldsteins oder einer elektrischen Straßenbahn hervorgebracht.
Hauptmann Mittermüller hatte schon manche Strafe zahlen müssen; aber es
half da wirklich nichts. Man konnte prügeln so viel man wollte, vierzehn
Tage waren die Kinder dann wie die Engerln, gaben bei der Ecke dem
armen, blinden Mann aus ihrem Taschengeld je einen Kreuzer, um ihm nach
weiteren acht Tagen den Hut beim Vorbeigehen mit allem, was drin war,
hämisch hinabzuschleudern. Max Mittermüller wollte für die ältesten eine
Korrektionsanstalt, ein sehr strenges Institut heranziehen. Margot
beschwor ihn davon abzustehn. Sie würden dort verdummen und ganz
schlecht werden. »Sie sind doch so hübsch und gescheit!« Die beiden
Eltern blickten in den Garten hinaus, der in summender Augustsonne
dalag. Hinter ihnen im Speisezimmer verstreute Ludwig, der Sechsjährige,
von dem noch nicht abgeräumten Esstisch sinnreich Kirschkerne über den
Boden. Die Eltern aber beobachteten unten beim Springbrunnen Fritz und
Robert, deren helle Lockenköpfe interessiert über ein Ding im Gras
gebeugt waren. Es war eine kleine Eidechse, die sie mit Hilfe eines
Brennglases in Brand versetzten. Margot meinte: »Fritz -- bitte, er ist
erst vier gewesen -- kann schon ganz gut buchstabieren! Es ist
unglaublich. Nicht, Liebling?« Hauptmann Max hatte sich umgedreht und
die Tätigkeit seines Sprößlings im Zimmer entdeckt. »Schau, um Gottes
willen, schau! Wie komme ich zu diesen Kindern?« Seine wasserblauen
Augen wollten sich mit Tränen füllen wie immer in solchen Momenten. Da
wurde dann aber Margot zornig. »Kümmere dich um sie! Du bist der Mann!«
Der Hauptmann begann zu prügeln . . . . . . . . . . . . .

Besonders gründlich wurden Haus und Garten hergerichtet, wenn der Vater
in der Kaserne war. Kein Mensch wollte mehr bei Mittermüllers verkehren.
Wie Horden wilder Tiere durchstürmte die Schar der fünf die Zimmer,
erfüllte sie mit Geschrei, warf Teller gegeneinander, riß Blumen aus,
ließ Stinkbomben platzen, schlug sich blutende Wunden. Im Garten wurde
ein Graben aufgeworfen, listige Fallen gelegt. Obwohl sie immer in Kampf
miteinander lebten, schlossen sie sich sofort gegen den Erwachsenen
solidarisch zusammen und nur vor Annina entbrannte Eifersucht. Wen sie
streichelte, der wurde halbtot gehauen. Da konnte die Mutter Margot
nicht konkurrieren, und je älter sie wurden, desto mehr haßten sie ihren
Vater. Im Hin- und Herstreiten um das Schicksal der Kinder war auch das
Einvernehmen der beiden Gatten sichtbar schlechter geworden. Streit,
Rauheit und dunkle Sünden hatten sich um das weinlaubumrankte Haus
gelegt und versuchten heimlich das Glück, das sich bereits zum
Mittagstisch gesetzt, zu fesseln und zu würgen . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .

***

Im Winter des zehnten Jahres der Ehe mußte Margot zu ihrer Tante reisen,
die schon lange nach München übersiedelt war. Während der Zeit ihrer
Abwesenheit kam Hauptmann Max einmal gegen 12 Uhr nachts angeheitert von
einer geselligen Zusammenkunft. Er dachte, daß er im Februar
transferiert werde. Die Nacht war ganz in Schnee und Schnee stieg bis
zum Himmel auf. Hauptmann Max stapfte durch die nicht gekehrten
Vorstadtstraßen und sein Hirn funktionierte weiter: »Da werde ich
wenigstens mit einer guten Ausrede diese -- diese Annina los!« Jene
Gedankenassoziation riß ihn plötzlich wach. In das dunkle Gefühl der
allgemeinen Rauschseligkeit sprang böse Lust. Das Bürgerliche wurde
pervers und erinnerte sich der festen Brüste des Mädchens, das ihm sonst
höchst zuwider war. Max Mittermüller sperrte das Haustor leise auf, um
die Kinder nicht zu wecken, die auf der rechten Seite des Vorzimmers in
zwei Räumen schliefen. Dann schlich er, nachdem er den Säbel abgelegt,
durch die Küche in das Dienstbotenzimmer und vergewaltigte die
Schlafende. Mit männlichster Faust hielt er ihr den schreienden Mund zu
und seine Betrunkenheit ließ ihn dann zu Bett taumeln, ohne den Blick
erkannt zu haben, der den Augen Anninas Wut und Qual entriß . . . .

Föhn sprang um das Dach. Eine Kerze schwankte im Vorzimmer hin und her.
Dort stand in einem weißen Mantel die Dienerin. Jetzt öffnete sie die
Türe in das Kinderzimmer, trat ein. Das war noch nie vorgekommen, daß
sie ihre Lieblinge zur Nacht besuchte; alle waren darum aus ihren Betten
aufgefahren, fiebrig-erregt im Nachtkleid zu ihren Füßen gehuscht. Die
Kerze tropfte in der zitternden Hand. »Was hast du? Du kommst zu uns?«
Annina beugte sich zum Ältesten und flüsterte. Das Flüstern ging weiter.
»Sie ist unser Vater?! Hast du das gewußt? Sie hat es gesagt! Der dort
drüben aber . . .« Die kleine Faust ballte sich. Die Diele knackte. Das
Flüstern erfüllte das Haus, stieg in den Kamin. Drüben schlief der
Hauptmann den Schlaf der Gerechten und Sünder. Die Kinder schlichen
durch den Gang; wie Tiere an sein Bett. Weiße Mäuse des Irrsinns. Dort
stand eine und hielt das Licht. Es fiel dem Hauptmann flackernd vor die
Stirn, doch der schlief fest. So fest, daß sein Ältester ihm mit dem
Rasiermesser die Kehle durchschneiden mußte, um ihn zu besserem Leben zu
erwecken. Der kleine Fritz, der schon lesen konnte, riß an des Vaters
Füßen, bis sie locker wurden und einer schnitt an der Nase herum. Der
Föhn sprang ums Dach. Annina hatte den Mantel fallen gelassen und war
nackt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .

Am grauen Morgen fuhr ein Einspänner vor dem Hause vor. Freudig bewegt
eilte Margot durch den Vorgartern auf die Türe zu. Sie hatte einen
früheren Zug benützt und war schon da. Der Jüngste kam ihr im Hemd
entgegengelaufen, trug ein Ding in der hohlen Hand und schrie: »Schau,
das A-uge, das A-uge!« Durch ein Fenster sprang Annina, schwang sich in
die Lüfte, hinter ihr die Kinder, jedes blutig und höhnisch. Im
winterlichen Land lagen die Trümmer eines explodierten Lebens verstreut.
Mitten im Zimmer ein großes, blutiges Herz. Im Garten die liebliche
Gattin.




IDYLLE


BAUER zenterte und Fischera konnte unhaltbar einsenden, eine halbe
Minute später pfiff der Schiedsrichter ab: der Länderwettkampf
Österreich-Ungarn war für ersteres 4:2 siegreich entschieden. Ein
ungeheures Gebrüll durchdrang die Maienlüfte, die Menge warf sich ins
Spielfeld, um ihre besonderen Fußballlieblinge auf den Schultern
hinauszutragen. Das Logenpublikum eilte zu seinen Autos. »Ja, Josef,
fahren Sie direkt nach Haus.« Frank Merten half seiner kleinen Frau in
den Wagen. Die beiden sprachen anfangs kein Wort. Frau Herma hatte ihre
rechte Hand über ihre müden Augen gelegt, die andere aber lag sehr
kindlich in der des großen, breitschultrigen Mannes, der ihre Finger
einzeln und sorgfältig liebkoste. Auf den Gassen weiter draußen gegen
Lainz und Mauer waren die obligaten roten Blusen, in denen die Mädchen
unserer Stadt steckten, und die Wiesen sah man voll Sonntags und
Papierln. Die Grünheit des Tiergartens schien freundlich herüber, Sonne
war da. Frank Merten sagte: »Weißt du, Liebling, wir haben heute viele
Menschen gesehen -- bei Renskys war es eigentlich ganz nett -- und jetzt
das Match.« Herma dehnte die vom Sitzen steifen Glieder: »Ja -- du --
vier Besuche . . . aber beim Ländermatch das Geschrei hab ich so gern.«
Er steckte ihr ein Schokoladebonbon in den Mund und sie machte die Augen
wieder zu. »Du, Hermelein, ich habe heute wieder den blödsinnigen
Liebes-Tag. Am Abend haben wir heute keinen Menschen draußen -- zwar,
die Randolfis warten schon lange auf eine Einladung -- --« Als sie dann
vor ihrer Rodauner Villa ausgestiegen waren und das Auto war
fortgeschickt -- sie gingen Hand in Hand zwischen Taxushecken dem Hause
zu -- lächelte sie ganz plötzlich und zeigte ihre Zähne: »Schick auch
die Diener weg außer dem Karl. Heute haben wir Mond. Wir wollen allein
sein im Garten, nicht Bubi?« Als sie in die Halle traten, kam der Diener
Karl schon auf sie zu. »Etwas Neues?« »Nichts, Euer Gnaden. Das heißt
ein Mann war da, ein Gartenbursche von Scaldonettis drüben, glaub' ich.
Er hat das gebracht.« Karl wies auf einige schmutzige Tücher, unter
denen die Pfoten eines Bullys hervorschauten. »Hat man ihn endlich
gefunden -- ja, aber so -- wer hat ihn denn?« Dr. Merten machte ganz
bestürzte Kinderaugen. »Die Lausbuben, die Pülcher, mit Schrot -- wann i
die derwisch.« Frau Herma war über die Fetzen gebeugt und sprach einige
Worte zu dem toten Hundekopf. Dann richtete sie sich auf: »Na, armes
Vieh . . . Erinnerst du dich, Tante Blanca hat es zu Ostern vor einem
Jahr -- -« Ihr Mann aber war schon ins Schlafzimmer vorausgegangen. Sie
sagte noch zum Karl: Ȇbrigens sagen Sie den Leuten, es kommt heute
niemand her. Sie können alle weggehen, auch die Fanny. Es ist doch
Kaltes da und Obst? -- ja, also decken Sie auf der Veranda auf.« »Ich
möcht schön bitten, Euer Gnaden, meine Tante hat heut ihren 60.
Hochzeitstag gefeiert und wir sind alle beim »Schneider« unten -- --«
»Gut, gehn Sie halt auch. Aber machen Sie alles nett. Ein paar Blumen zu
Tisch. Und wenn Sie weggehn, machen Sie beide Türen gut zu.«

Drinnen im Badezimmer hatte Frank schon das verschwitzte Hemd von sich
geschleudert, den Kopf unter die Brause getan und pustete gewaltig.
Herma fuhr auch recht schnell und gewandt aus ihrer Straßentoilette.
»Hast du die Lisie schon weggeschickt?« schrie er ins Schlafzimmer
hinein, »soll ich dir helfen?« Da flog auch schon die gnädige Frau mit
der Schnelligkeit ihrer zweiundzwanzigjährigen Beine ins Badezimmer und
küßte Frank oft und stürmisch ins nasse Gesicht. Sie lachte unausgesetzt
über ein Haar, das ihm von seinem Scheitel so komisch wegstand, wofür er
sie hinterrücks mit der Douche überraschte. Hierauf trockneten sie sich
zusammen in einem schneeweißen Badetuch ab. »Du, Nunnerl, ich zieh mir
den Smoking an. Du, geh, nimm auch dein hellblaues.« »So üppig? Aber du
mußt einen niedern Kragen haben, wo du wie ein Gymnasiast ausschaust.«
»Ich -- Gymnasiast?« Er straffte seinen Oberarmmuskel. »Schon gut.« Sie
fuhr ordnend über seine Augenbrauen . . . . . . . . . .

Beim »Hellblauen« mußte er allerdings hinten mithelfen, Sie sah hübsch
aus vor dem offenen Fenster -- weiter drüben war ein blühender
Kirschbaum in letzter direkt kitschiger Abendröte. »Ich glaube das mit
dem Bobby war der Aushilfskoch, der mit mir so -- war -- du warst auch
etwas roh.« »Ach was, so ein frecher Hund -- überhaupt brauchen wir
keine Riesen im Haus.«

»Euer Gnaden, es ist serviert.« »Also gut, gnädige Frau?« Frau Herma
hing sich förmlich in ihres Mannes Arm ein, sie gingen durch ein paar
Zimmer, die dunkel lagen, auf die Veranda. Der Tisch war voll Goldregen
und alles sehr appetitlich. Nachdem sie auch Karl entlassen, liefen sie
noch einmal zum Rosenbeet hinunter und Frank steckte der gnädigen Frau
zwei Rosen ins Haar, er selbst befestigte sich eine im Knopfloch. Dann
lächelten sie sich in die Augen und als von einer auf der Gasse
vorbeiziehenden Menschengruppe Ziehharmonikaklänge heraufkamen, tanzten
sie einen Walzer mitten im schönen Rasen. »Du, der Herr Rubek wird
schimpfen --« Er hob sie und trug sie freudig zu Tisch. Die
Abendschatten waren ganz lang geworden und eine Frühlingsnacht ließ
Schleier von den Bäumen flattern. »Weißt du, -- aber zum Essen muß man
etwas sehn.« Frank stellte eine rote Lampe auf den Tisch, in deren Licht
alles sehr freundlich zu ihrem Herzen kam. Dann aß man mit jugendlichem
Appetit: Hummer und Mayonnaise, kaltes Händel und Roastbeef. Der Bursche
hatte auch nicht den Champagner vergessen, ein Stöpsel flog in die Luft,
sie tranken aus gewechselten Gläsern und er sagte: »Nunnerl, ich hab
dich so lieb s« Er breitete die Arme weit. Bei den Erdbeeren wurde es
dann ganz schön. Der Mond kam rot und lieblich wie eine Blüte über die
Ebene, so daß sie die Lampe verlöschen und sich auf seinen Schoß setzen
mußte. Die Erdbeeren rochen fabelhaft nach Wald und den warmen
Lichtungen, auf denen sie gewachsen. Herma zerzupfte mit ihren Zähnen
die Knopflochrose und schaute in das starke Gesicht ihres Mannes. Sie
waren so nah -- sie küßten sich. Der Horizont mit Stadtlichtern und
einer geahnten Weite schien sich um sie in lieblichem Ringelreihen zu
schließen -- von dem Ginster dort sang die Nachtigall eines Dichters und
der Springbrunnen war der Friede. Der Mond stieg -- »Weißt du, Buberl,
damals, als ich --« Ihr Arm hatte sich zu seinem Herzen geschlichen und
hielt ihn ganz. Die Zigarette war ausgegangen. »Weißt du, daß wir
glücklich sind?« -- -- Der Kies war wie Elfenbein und jetzt war ein
Wind, der die Silberpappeln an der Einfahrt zittern machte, das Einzige,
das zu leben schien. Die beiden atmeten und träumten. »Weißt du, wir
sind im Himmel.« Eine Karaffe auf dem Tisch nickte ihren gleich
schauenden Augen zu, Goldregen kam zu ihnen. Der Mond stieg und ließ
Musik in ihr Herz. Ihre Körper wurden warm aneinander wie eine schöne
Flamme. Frank summte leise eine Melodie. »Schau, Hermelein, hole deine
Mandoline aus dem Herrenzimmer.« »Oh, was für eine gute Idee . . .« Sie
biß ihn in das Ohr und fort war sie wie eine Katze. Er ließ die Arme von
dem Fauteuil herabhängen und blies heitere Wolken von der neu
angezündeten En A' Ala dem Mond ins Gesicht. Drinnen warf scheinbar beim
Herunternehmen der Mandoline die gnädige Frau das Konsoltischerl um.
Pum. Pum. Nein, es war wieder still. »Wo das Mäderl nur bleibt?« Im
Ginster raschelte es. Frank erhob sich -- »sie hat wieder nicht Licht
gemacht --« und trat in die Türe. Er wollte das »Elektrische« anzünden,
das aber scheinbar nicht funktionierte und durchmaß deshalb im Dunkeln
den nicht allzu großen Raum. »Weißt du, Mäderl, wir werden --« Da sah
er, nachdem er die nächste Tür geöffnet, im süßen Mondschein eine weiße
Hand, weiter nichts mehr. Denn ein furchtbarer Schatten fiel wie der
eines Tieres von hinten über ihn, würgte ihn, ließ ihn nicht sich
umdrehen, zog ihn zu Boden. Seine Hände spreizten sich -- »Jetzt gilt's
-- Leben -- Herrgott --« -- ganz rohe pfauchende, laute Stimmen. Etwas
kollerte er von sich und dann kam eine Spitze durch die Smoking-Brust
und tat weh. Er schlug hart mit dem Kopf auf, hörte noch, wie Kasten
aufgerissen, zersprengt wurden, ein Wimmern, schwere Schritte. Dann
stürzte sein Himmel ein, rote Kugeln schossen vor seinen Augen hin,
seine Hand hob sich, sank zurück . . . . .

Die Raubmörder verließen das Haus, nachdem sie sämtliches Bargeld samt
Pretiosen im Gesamtwert von rund 300000 K an sich gebracht und das Licht
verlöscht hatten, über die hintere Mauer des Gartenkomplexes, bestiegen
ein Auto und fuhren nach Italien, um sich gegen Brasilien einzuschiffen
. . . . . . . . . . . . .

Dort drinnen schien aber der Mond noch immer auf einen frühlinglich
gedeckten Tisch und gepflückten Goldregen. Nur das Blut, das in die
Dielen sickerte und dann dick ward, war seinen heiteren Blicken neu. Und
als er auf die entstellten Leichen der Liebenden schaute, die durch ein
weites, verwüstetes Zimmer getrennt waren, zog er eine Wolke vor sich
und weinte . . . .





End of Project Gutenberg's Das zerstörte Idyll, by Hans von Flesch-Brunningen

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ZERSTÖRTE IDYLL ***

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