Der Golem

By Gustav Meyrink

The Project Gutenberg EBook of Der Golem, by Gustav Meyrink

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Title: Der Golem

Author: Gustav Meyrink

Release Date: March 16, 2016 [EBook #51476]

Language: German


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                            Gustav Meyrink

                           Gesammelte Werke

                             Erster Band

                          Kurt Wolff Verlag
                               Leipzig

                            Gustav Meyrink




                              Der Golem


                              Ein Roman

                          Kurt Wolff Verlag
                               Leipzig

                        Einhundertzwanzigstes
                  bis einhundertfünfzigstes Tausend

              Copyright Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1915
                   Druck von G. Kreysing in Leipzig




                          Kapitelverzeichnis


   Schlaf                  1
   Tag                     5
   I                      17
   Prag                   26
   Punsch                 45
   Nacht                  67
   Wach                   85
   Schnee                 96
   Spuk                  110
   Licht                 132
   Not                   143
   Angst                 177
   Trieb                 188
   Weib                  204
   List                  239
   Qual                  260
   Mai                   275
   Mond                  296
   Frei                  323
   Schluß                337




                                Schlaf


Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein
großer, heller, flacher Stein.

Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine
linke Seite fängt an zu verfallen, -- wie ein Gesicht, das dem Alter
entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, -- dann
bemächtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trübe, qualvolle
Unruhe.

Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in
meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehörtem, wie Ströme von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenfließen.

Ich hatte über das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von
vorne beginnend durch meinen Sinn:

»Eine Krähe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stück Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krähe
dort nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Krähe, die
sich dem Stein genähert, so verlassen wir -- wir, die Versucher, -- den
Aszeten Gotama, da wir den Gefallen an ihm verloren haben.«

Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stück Fett, wächst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:

Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Flußbett und hebe glatte Kiesel
auf.

Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, über die ich nachgrüble
und nachgrüble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiß, -- dann
schwarze mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche
eines Kindes, plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.

Und ich will sie weit von mir werfen diese Kiesel, doch immer fallen sie
mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht
bannen.

Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen
auf rings um mich her.

Manche quälen sich schwerfällig ab, sich aus dem Sande ans Licht
emporzuarbeiten -- wie große schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die
Flut zurückkommt, -- und als wollten sie alles daran setzen, meine
Blicke auf sich zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu
sagen.

Andere -- erschöpft -- fallen kraftlos zurück in ihre Löcher und geben
es auf, je zu Worte zu kommen.

Zuweilen fahre ich empor aus dem Dämmer dieser halben Träume und sehe
für einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fußende
meiner Decke liegen wie einen großen, hellen, flachen Stein, um blind
von neuem hinter meinem schwindenden Bewußtsein herzutappen, ruhelos
nach jenem Stein suchend, der mich quält, -- der irgendwo verborgen im
Schutte meiner Erinnerung liegen muß und aussieht wie ein Stück Fett.

Eine Regenröhre muß einst neben ihm auf der Erde gemündet haben, male
ich mir aus -- stumpfwinklig abgebogen, die Ränder von Rost zerfressen,
-- und trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um
meine aufgescheuchten Gedanken zu belügen und in Schlaf zu lullen.

Es gelingt mir nicht.

Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet eine
eigensinnige Stimme in meinem Innern -- unermüdlich wie ein
Fensterladen, den der Wind in regelmäßigen Zwischenräumen an die Mauer
schlagen läßt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der
wie Fett aussehe.

Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.

Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensächlich, so
schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder
auf und beginnt hartnäckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber
doch nicht der Stein, der wie ein Stück Fett aussieht. --

Langsam beginnt sich meiner ein unerträgliches Gefühl von Hilflosigkeit
zu bemächtigen.

Wie es weiter gekommen ist, weiß ich nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich überwältigt und geknebelt,
meine Gedanken?

Ich weiß nur, mein Körper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. --

Wer ist jetzt »ich«, will ich plötzlich fragen, da besinne ich mich, daß
ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen könnte;
dann fürchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem
das endlose Verhör über den Stein und das Fett beginnen.

Und so wende ich mich ab.




                                 Tag


Da stand ich plötzlich in einem düsteren Hofe und sah durch einen
rötlichen Torbogen gegenüber -- jenseits der engen, schmutzigen Straße
-- einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den
Mauerrändern mit altem Eisengerümpel, zerbrochenen Werkzeugen,
verrosteten Steigbügeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen
abgestorbenen Sachen behangen war.

Und dieses Bild trug das quälend Eintönige an sich, das alle jene
Eindrücke kennzeichnet, die tagtäglich so und so oft wie Hausierer die
Schwelle unserer Wahrnehmung überschreiten, und rief in mir weder
Neugierde noch Überraschung hervor.

Ich wurde mir bewußt, daß ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.

Auch diese Empfindung hinterließ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem, was
ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. -- --

Ich muß einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem Stück Fett gehört oder gelesen haben, drängte sich mir plötzlich
der Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer
emporstieg und mir über das speckige Aussehen der Steinschwellen
flüchtige Gedanken machte.

Da hörte ich Schritte die oberen Treppen über mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner Tür kam, sah ich, daß es die vierzehnjährige, rothaarige
Rosina des Trödlers Aaron Wassertrum gewesen war.

Ich mußte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem Rücken gegen das
Stiegengeländer und bog sich lüstern zurück.

Ihre schmutzigen Hände hatte sie um die Eisenstange gelegt, -- zum Halt
-- und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trüben
Halbdunkel hervorleuchteten.

Ich wich ihren Blicken aus.

Mich ekelte vor ihrem zudringlichen Lächeln und diesem wächsernen
Schaukelpferdgesicht.

Sie muß schwammiges, weißes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich
vorhin im Salamanderkäfig bei dem Vogelhändler gesehen habe, fühlte ich.

Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwärtig wie die eines Kaninchens.

Und ich sperrte auf und schlug rasch die Türe hinter mir zu. -- --

Von meinem Fenster aus konnte ich den Trödler Aaron Wassertrum vor
seinem Gewölbe stehen sehen.

Er lehnte am Eingang der dunklen Wölbung und zwickte mit einer Beißzange
an seinen Fingernägeln herum.

War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte
keine Ähnlichkeit mit ihr.

Unter den Judengesichtern, die ich Tag für Tag in der Hahnpaßgasse
auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stämme unterscheiden,
die sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen
verwischen lassen, wie sich Öl mit Wasser vermengen wird. Da darf man
nicht sagen: die dort sind Brüder oder Vater und Sohn.

Der gehört zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles, was
sich aus den Gesichtszügen lesen läßt.

Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trödler ähnlich sähe!

Diese Stämme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, -- aber
sie verstehen ihn geheimzuhalten vor der Außenwelt, wie man ein
gefährliches Geheimnis hütet.

Kein einziger läßt ihn durchblicken, und in dieser Übereinstimmung
gleichen sie haßerfüllten Blinden, die sich an ein schmutzgetränktes
Seil klammern: der eine mit beiden Fäusten, ein anderer nur widerwillig
mit einem Finger, alle aber von abergläubischer Furcht besessen, daß sie
dem Untergang verfallen müssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben
und sich von den übrigen trennen.

Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoßender
ist, als der der andern. Dessen Männer engbrüstig sind und lange
Hühnerhälse haben mit vorstehendem Adamsapfel.

Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie
unter brünstigen Qualen, diese Männer, -- und kämpfen heimlich gegen
ihre Gelüste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von
immerwährender widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.

Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina überhaupt in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trödler Wassertrum bringen
konnte.

Nie habe ich sie doch in der Nähe des Alten gesehen, oder bemerkt, daß
sie jemals einander etwas zugerufen hätten.

Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drückte sich in den dunkeln
Winkeln und Gängen unseres Hauses umher.

Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner für eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trödlers, und doch bin ich überzeugt,
daß kein einziger einen Grund für solche Vermutungen anzugeben
vermöchte.

Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreißen und sah von dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpaßgasse.

Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefühlt, wandte er plötzlich sein
Gesicht zu mir empor.

Sein starres, gräßliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.

Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Berührung
ihres Netzes spürt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.

Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?

Ich wußte es nicht.

An den Mauerrändern seines Gewölbes hängen unverändert Tag für Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.

Mit geschlossenen Augen hätte ich sie hinzeichnen können: hier die
verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier
gemalt, mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine
Girlande verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes
halb vermodertes Gerümpel.

Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so daß niemand
die Schwelle des Gewölbes überschreiten kann, eine Reihe runder eiserner
Herdplatten. --

Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vorübergehender stehen und fragte nach dem Preis des
einen oder anderen, geriet der Trödler in heftige Erregung.

In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippe mit der Hasenscharte
empor und sprudelte gereizt irgend etwas Unverständliches in einem
gurgelnden, stolpernden Baß hervor, daß dem Käufer die Lust weiter zu
fragen verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.

Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen
abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen
Mauern, die vom Nebenhause an mein Fenster stoßen.

Was konnte er dort nur sehen?

Das Haus steht doch mit dem Rücken gegen die Hahnpaßgasse und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Straße gekehrt.

Zufällig schienen die Räume, die nebenan in derselben Stockhöhe wie die
meinigen liegen -- ich glaube, sie gehören zu einem winkligen Atelier --
in diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hörte
ich plötzlich eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander
reden.

Unmöglich konnte das aber der Trödler von unten aus wahrgenommen haben!
-- --

Vor meiner Tür bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina, die draußen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, daß ich sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.

Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige,
halbwüchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die Tür
öffnen werde, und ich spüre förmlich den Hauch seines Hasses und seine
schäumende Eifersucht bis herauf zu mir.

Er fürchtet sich, näher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er
weiß sich von ihr abhängig wie ein hungriger Wolf von seinem Wärter und
möchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die
Zügel schießen lassen! -- -- --

Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und
Stichel hervor.

Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.

Das trübe, düstere Leben, das an diesem Hause hängt, läßt mein Gemüt
nicht still werden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.

Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr älter als
Rosina.

An ihren Vater, der Hostienbäcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt für sie, glaube ich, ein altes Weib.

Ich wußte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Kröten in ihrem Schlupfwinkel.

Sie sorgt für die beiden Jungen, das heißt: sie gewährt ihnen
Unterkunft; dafür müssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen
oder erbetteln. --

Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken,
denn erst spät abends kommt die Alte heim.

Leichenwäscherin soll sie sein.

Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.

Die Zeit aber ist lang vorbei.

Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenmädel her.

Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden
kann, dann schleicht er sich vor meine Türe und wartet mit verzerrtem
Gesicht, daß sie heimlich hierher komme.

Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste draußen in
dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick
horchend vorgebeugt.

Manchmal bricht dann durch die Stille plötzlich ein wilder Lärm.

Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfüllt, irrt wie ein
wildes Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell,
das er, vor Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstößt, klingt so
schauerlich, daß einem das Blut in den Adern stockt.

Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet -- irgendwo in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt -- in blinder
Raserei, immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen
sein zu müssen, daß nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.

Und gerade diese unaufhörliche Qual des Krüppels ist, ahnte ich, das
Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern
einzulassen.

Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwächer, so ersinnt Loisa
immer wieder besondere Scheußlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu
entfachen.

Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtückisch hinter sich her in dunkle Gänge, wo
sie aus rostigen Faßreifen, die in die Höhe schnellen, wenn man auf sie
tritt, und eisernen Rechen -- mit den Spitzen nach oben gekehrt --
bösartige Fallen errichtet haben, in die er stürzen muß und sich blutig
fällt.

Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs äußerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Höllisches aus.

Dann ändert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fände sie plötzlich Gefallen an ihm.

Mit ihrer ewig lächelnden Miene teilt sie dem Krüppel hastig Dinge mit,
die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich
dazu eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverständliche Zeichensprache
ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von
Ungewißheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muß. --

Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, daß ich
glaubte, jeden Augenblick würde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.

Der Schweiß lief ihm übers Gesicht vor übermenschlicher Anstrengung, den
Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilung zu erfassen.

Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf
den finstern Stiegen eines andern halb versunkenen Hauses, das in der
Fortsetzung der engen, schmutzigen Hahnpaßgasse liegt, -- bis er die
Zeit versäumt hatte, sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.

Und als er spät abends halb tot vor Hunger und Aufregung heim wollte,
hatte ihn die Pflegemutter längst ausgesperrt.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ein fröhliches Frauenlachen drang aus dem anstoßenden Atelier durch die
Mauern herüber zu mir.

Ein Lachen? -- In diesen Häusern ein fröhliches Lachen? Im ganzen Ghetto
wohnt niemand, der fröhlich lachen könnte.

Da fiel mir ein, daß mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler
Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hätte ihm das Atelier
teuer abgemietet -- offenbar, um mit der Erwählten seines Herzens
unbelauscht zusammenkommen zu können.

Nach und nach, jede Nacht, müßten nun, damit niemand im Hause etwas
merke, die kostbaren Möbel des neuen Mieters heimlich Stück für Stück
hinaufgeschafft werden.

Der gutmütige Alte hatte sich vor Vergnügen die Hände gerieben, als er
es mir erzählte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt
angefangen habe: keiner der Mitbewohner könne auch nur eine Ahnung von
dem romantischen Liebespaar haben.

Und von drei Häusern aus sei es möglich, unauffällig in das Atelier zu
gelangen. -- Sogar durch eine Falltüre gäbe es einen Zugang!

Ja, wenn man die eiserne Tür des Bodenraumes aufklinke, -- und das sei
von drüben aus sehr leicht, -- könne man an meiner Kammer vorbei zu den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benützen ...

Wieder klingt das fröhliche Lachen herüber und läßt in mir die
undeutliche Erinnerung an eine luxuriöse Wohnung und an eine adlige
Familie auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren
Altertümern kleine Ausbesserungen vorzunehmen. --

Plötzlich höre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche
erschreckt.

Die eiserne Bodentür klirrt heftig und im nächsten Augenblick stürzt
eine Dame in mein Zimmer.

Mit aufgelöstem Haar, weiß wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff über
die bloßen Schultern geworfen.

»Meister Pernath, verbergen Sie mich, -- um Gottes Christi willen! --
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!«

Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tür abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. --

Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des Trödlers Aaron Wassertrum wie
eine scheußliche Maske hereingegrinst. --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Scheine des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das Fußende meines Bettes.

Noch liegt der Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der
Name Pernath steht in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.

Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? -- Athanasius Pernath? --

Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, daß er mir so
genau passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe.

Und ich sah in den fremden Hut hinein -- damals und -- -- ja, ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weißen Futter:

                         ATHANASIUS PERNATH.

Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefürchtet, ich wußte nicht
warum.

Da fährt plötzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe,
auf mich los gleich einem Pfeil.

Schnell male ich mir das scharfe, süßlich grinsende Profil der roten
Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise dem Pfeil auszuweichen,
der sich sogleich in der Finsternis verliert.

Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stärker als die
stumpfsinnig plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in
meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse geborgen sein werde, kann ich ganz
ruhig sein.




                                  I


Wenn ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in
einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe
heraufkommt in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt ungefähr
auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.

Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine
Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur
des oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.

Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er,
mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen.

Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.

Da öffnete sich die Türe, und er trat ein.

Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der Begrüßung.

So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fühlte ich, und ich fand es
ganz selbstverständlich, daß er so und nicht anders handelte.

Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.

Dann blätterte er lange darin herum.

Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form von
Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefüllt.

Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete darauf.

Das Kapitel hieß »Ibbur«, »die Seelenschwängerung«, entzifferte ich.

Das große, in Gold und Rot ausgeführte Initial »I« nahm fast die Hälfte
der ganzen Seite ein, die ich unwillkürlich überflog, und war am Rande
verletzt.

Ich sollte es ausbessern.

Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in
alten Büchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dünnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelötet waren und mit den Enden um
die Ränder des Pergaments griffen.

Also mußte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten
sein?

Wenn das der Fall war, mußte auf der nächsten Seite das »I« verkehrt
stehen?

Ich blätterte um und fand meine Annahme bestätigt.

Unwillkürlich las ich auch diese Seite durch und die gegenüberliegende.

Und ich las weiter und weiter.

Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel
deutlicher. Und es rührte mein Herz an wie eine Frage.

Worte strömten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie bunt
gekleidete Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie
schillernder Dunst in der Luft und gaben der nächsten Raum. Jede hoffte
eine kleine Weile, daß ich sie erwählen würde und auf den Anblick der
Kommenden verzichten.

Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in
schimmernden Gewändern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.

Manche wie Königinnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider
gefärbt, -- mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit
häßlicher Schminke verdeckt.

Ich sah an ihnen vorbei und nach den Kommenden, und mein Blick glitt
über lange Züge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewöhnlich und
ausdrucksarm, daß es unmöglich schien, sie dem Gedächtnis einzuprägen.

Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und
riesenhaft wie ein Erzkoloß.

Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu
mir.

Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer Körper, und sie deutete stumm
auf den Puls ihrer linken Hand.

Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fühlte, es war das Leben einer
ganzen Welt in ihr.

Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.

Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer näher brauste der Zug.

Jetzt hörte ich den hallenden Gesang der Verzückten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.

Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und saß, halb
männlich, halb weiblich, -- ein Hermaphrodit -- auf einem Throne von
Perlmutter.

Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstörung geheimnisvolle Runen genagt.

In einer Staubwolke kam eilig hinterdrein getrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem
Gefolge führte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.

Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde
strömten, etliche, die kamen aus Gräbern, -- Tücher vor dem Gesicht.

Und blieben sie vor mir stehen, ließen sie plötzlich ihre Hüllen fallen
und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, daß ein eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurückstaute wie ein Strom,
in den Felsblöcke vom Himmel herniedergefallen sind -- plötzlich und
mitten in sein Bette. --

Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus fließenden Tränen. --

Maskenzüge tanzten vorüber, lachten und kümmerten sich nicht um mich.

Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurück.
Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es
ein Spiegel.

Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zögernd, bald blitzschnell, daß sich meiner ein gespenstiger Trieb
bemächtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern wie er, mit den
Achseln zu zucken und die Mundwinkel zu verziehen.

Da stoßen ihn ungeduldig nachdrängende Gestalten zur Seite, die alle vor
meine Blicke wollen.

Doch keines der Wesen hat Bestand.

Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Töne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Munde entströmen.

Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich
mich auch abmühte. Die mich quälte mit brennenden, unverständlichen
Fragen.

Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.

Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos, wie
jegliches Ding einen großen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese Stimme hatte keine Echos mehr, -- lange, lange schon sind sie wohl
verweht und verklungen. -- -- --

Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den
Händen, da war mir, als hätte ich suchend in meinem Gehirn geblättert
und nicht in einem Buche! -- --

Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir
getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich blickte auf.

Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?

Fortgegangen!?

Wird er es holen, wenn es fertig ist?

Oder sollte ich es ihm bringen?

Aber ich konnte mich nicht erinnern, daß er gesagt hätte, wo er wohne.

Ich wollte mir seine Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, doch es
mißlang.

Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? -- Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?

Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. -- Alle Bilder, die
ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste
zusammenzusetzen vermocht.

Ich schloß die Augen und preßte die Hand auf die Lider, um einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.

Nichts, nichts.

Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tür, wie
ich es getan -- vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt
biegt er um die Ecke, jetzt schreitet er über den Ziegelsteinboden,
liest jetzt draußen mein Türschild »Athanasius Pernath« und jetzt tritt
er herein.

Vergebens.

Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.

Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wünschte mir im Geiste die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.

Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblößt gewesen,
ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmückt oder nicht, konnte ich mich
entsinnen.

Da kam mir ein seltsamer Einfall.

Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.

Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurück in mein
Zimmer.

Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und wie ich die
Tür öffnete, da sah ich, daß meine Kammer voll Dämmerung lag. War es
denn nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?

Wie lange mußte ich da gegrübelt haben, daß ich nicht bemerkte, wie spät
es ist!

Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. --

Wie sollte es mir auch glücken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.

Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.

Meine Haut, meine Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne
es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht
wünschte, und nicht beabsichtigte.

Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehörten!

Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, wie ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.

Das ist der Gang eines Menschen, der beständig im Begriffe ist, vornüber
zu fallen, sagte ich mir.

Ja, ja, ja, so war sein Gang!

Ganz deutlich wußte ich: so ist er.

Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrägstehenden Augen.

Ich fühlte es und konnte mich doch nicht sehen.

Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in
die Tasche und holte ein Buch hervor.

Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. --

Da plötzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.

Athanasius Pernath.

Grausen und Entsetzen schüttelten mich, mein Herz raste zum Zerspringen,
und ich fühlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem Gehirn
umhergetastet, haben von mir abgelassen.

Noch spürte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berührung. --

Nun wußte ich, wie der Fremde war, und ich hätte ihn wieder in mir
fühlen können -- jeden Augenblick --, wenn ich nur gewollt hätte; aber
sein Bild mir vorstellen, daß ich es vor mir _sehen_ würde Auge in Auge
-- das vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie können.

Er ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann -- in die ich selber hineinschlüpfen muß,
wenn ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewußt
werden will -- --

In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; -- in diese
wollte ich das Buch sperren und erst, bis der Zustand der geistigen
Krankheit von mir gewichen sein würde, wollte ich es wieder hervorholen
und an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen »I« gehen.

Und ich nahm das Buch vom Tisch.

Da war mir, als hätte ich es gar nicht angefaßt; ich griff die Kassette
an: dasselbe Gefühl. Als müßte das Tastempfinden eine lange, lange
Strecke voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewußtsein
mündete, als seien die Dinge durch eine jahresgroße Zeitschicht von mir
entfernt und gehörten einer Vergangenheit an, die längst an mir
vorübergezogen!

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu quälen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich
nicht gesehen. Und ich weiß, daß sie aus dem Reiche des Schlafes stammt.
Aber was ich erlebt, das war wirkliches Leben, -- darum konnte sie mich
nicht sehen und sucht vergeblich nach mir, fühle ich.




                                 Prag


Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dünnen,
fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie ihm vor
Kälte die Zähne aufeinanderschlugen.

Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Wohnung zu
kommen.

Er aber lehnte ab.

»Ich danke Ihnen, Meister Pernath,« murmelte er fröstelnd, »leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit übrig; -- ich muß eilends in die Stadt. --
Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gasse
treten wollten -- schon nach wenigen Schritten! -- -- Der Platzregen
will nicht schwächer werden!«

Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den
Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom.

Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im vierten
Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen überrieselt, aussah, als seien
seine Scheiben aufgeweicht, -- undurchsichtig und höckerig geworden wie
Hausenblase.

Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab, und der Torbogen füllte
sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten
wollten.

»Dort schwimmt ein Brautbukett,« sagte plötzlich Charousek und deutete
auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser
vorbeigetrieben kam.

Darüber lachte jemand hinter uns laut auf.

Als ich mich umdrehte, sah ich, daß es ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen, krötenartigen Gesicht
gewesen war.

Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte etwas
vor sich hin.

Unangenehmes ging von dem Alten aus; -- ich wandte meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen
wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.

Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!

Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden
dringt.

An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest
eines früheren, langgestreckten Gebäudes hat man sie angelehnt -- vor
zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die
übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurückspringender Stirn; -- ein andres daneben: vorstehend wie ein
Eckzahn.

Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man
spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von
ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt
und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.

In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden
des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt
eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da
ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt,
Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder,
-- und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer
Ursache zu forschen.

Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens
entäußern und es wieder an sich ziehen können, -- es tagsüber den
Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit
Wucherzinsen wieder zurückzufordern.

Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen -- nicht von Müttern geboren, -- die in ihrem Denken und Tun
wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir
vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche
Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch
wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.

Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Ghetto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die Zähne schob.

Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in
der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
müßten auch, dünkt mich, alle diese _Menschen_ entseelt in einem
Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem
einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich
Unbestimmtes, Haltloses -- in ihrem Hirn aus.

Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen
Geschöpfen!

Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem
Atem, -- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.

Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihr
Bereich, irgend ein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann
fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre
Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.

Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemächtigen.

»Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist,« sagte Charousek zögernd und sah mich an. --

Wie konnte er wissen, woran ich dachte? --

So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende Funken,
fühlte ich.

»-- -- -- wovon sie nur leben mögen?« fragte ich nach einer Weile.

»Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Millionär!«

Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!

Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.

Für einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen gestockt
und man hörte bloß das Zischen des Regens.

Was er nur damit sagen will: »Mancher unter ihnen ist ein Millionär!?«

Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten.

Er wies nach dem Trödlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des
Eisengerümpels in fließenden, braunroten Pfützen vorbeispülte.

»Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist Millionär, -- fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr
Pernath?!«

Mir blieb förmlich der Atem im Mund stecken. »Aaron Wassertrum! Der
Trödler Aaron Wassertrum Millionär?!«

»Oh, ich kenne ihn genau«, fuhr Charousek verbissen fort, und als hätte
er nur darauf gewartet, daß ich ihn frage. »Ich kannte auch seinen Sohn,
den Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehört? Von Dr. Wassory, dem --
berühmten -- Augenarzt? -- Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt
begeistert von ihm gesprochen, -- von dem großen -- -- Gelehrten.
Niemand wußte damals, daß er seinen Namen abgelegt und früher Wassertrum
geheißen hat. -- Er spielte sich gerne auf den weltabgewandten Mann der
Wissenschaft, und wenn einmal auf Herkunft die Rede kam, warf er
bescheiden und tiefbewegt so mit halben Worten hin, daß sein Vater noch
aus dem Ghetto stamme, -- sich aus den niedrigsten Anfängen heraus unter
Kummer aller Art und unsäglichen Sorgen empor ans Licht habe arbeiten
müssen.

Ja! Unter Kummer und Sorgen!

Unter _wessen_ Kummer und unsäglichen Sorgen aber und mit welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!

Ich aber weiß, was es mit dem Ghetto für eine Bewandtnis hat!« Charousek
faßte meinen Arm und schüttelte ihn heftig.

»Meister Pernath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr begreife;
ich muß halb nackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin
doch Student der Medizin, -- bin doch ein gebildeter Mensch!«

Er riß seinen Überzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daß er
weder Hemd noch Rock an hatte und den Mantel über der nackten Haut trug.

»Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmächtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, -- und noch heute ahnt keiner,
daß ich, ich der eigentliche Urheber war.

Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord
getrieben hat. -- Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug! sage ich
Ihnen. Ich allein habe den Plan erdacht und das Material
zusammengetragen, habe die Beweise geliefert und leise und unmerklich
Stein um Stein in dem Gebäude Dr. Wassorys gelockert, bis der Zustand
erreicht war, wo kein Geld der Erde, keine List des Ghetto mehr vermocht
hätten, den Zusammenbruch, zu dem es nur noch eines unmerklichen
Anstoßes bedurfte, abzuwenden.

Wissen Sie, so -- so wie man Schach spielt.

Gerade so wie man Schach spielt.

Und niemand weiß, daß ich es war!

Den Trödler Aaron Wassertrum, den läßt wohl manchmal eine furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daß einer, den er nicht kennt, der immer in
seiner Nähe ist und den er doch nicht fassen kann, -- ein anderer als
Dr. Savioli -- die Hand im Spiele gehabt haben müsse.

Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu
schauen vermögen, so faßt er es doch nicht, daß es Gehirne gibt, die
auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren,
vergifteten Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold
und Edelsteinen vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen.«

Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.

»Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!

Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. --
Diesmal wird es ein Königsläufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen
Zug bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche
Entgegnung wüßte.

Wer sich mit mir in ein solches Königsläufergambit einläßt, der hängt in
der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen Fäden,
-- an Fäden, die ich zupfe, -- hören Sie wohl, die ich zupfe, und mit
dessen freiem Willen ist's dahin.«

Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.

»Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, daß Sie so voll
Haß sind?«

Charousek wehrte heftig ab:

»Lassen wir das -- fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! -- Oder wünschen Sie, daß wir ein andres Mal darüber sprechen? --
Der Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?«

Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plötzlich ganz ruhig wird. Ich
schüttelte den Kopf.

»Haben Sie jemals gehört, wie man heutzutage den grünen Star heilt? --
Nicht? -- So muß ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau
verstehen, Meister Pernath!

Hören Sie zu: Der >grüne Star< also ist eine bösartige Erkrankung des
Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem
Fortschreiten des Übels Einhalt zu tun, nämlich die sogenannte
Iridektomie, die darin besteht, daß man aus der Regenbogenhaut des Auges
ein keilförmiges Stückchen herauszwickt.

Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche
Blendungserscheinungen, die fürs ganze Leben bleiben; der Prozeß des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.

Mit der Diagnose des grünen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.

Es gibt nämlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die
deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurücktreten, und in solchen Fällen
darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch
niemals mit Bestimmtheit sagen, daß sein Vorgänger, der andrer Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben müsse.

Hat aber einmal die erwähnte Iridektomie, die sich natürlich genau so an
einem gesunden Auge wie an einem kranken ausführen läßt, stattgefunden,
so kann man unmöglich mehr feststellen, ob früher wirklich grüner Star
vorgelegen hat oder nicht.

Und auf diese und noch andere Umstände hatte Dr. Wassory einen
scheußlichen Plan aufgebaut.

Unzählige Male -- besonders an Frauen -- konstatierte er grünen Star, wo
harmlose Sehstörungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die
ihm keine Mühe machte und viel Geld eintrug.

Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehörte zum
Ausplündern auch keine Spur von Mut mehr!

Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene
Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft sein Opfer
zerfleischen konnte.

Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! -- Begreifen Sie?! Ohne das geringste
wagen zu müssen!

Durch eine Menge fauler Veröffentlichungen in Fachblättern hatte sich
Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen
verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anständig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewußt.

Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die
natürliche Folge.

Kam nun jemand mit geringfügigen Sehstörungen zu ihm und ließ sich
untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tückischer Planmäßigkeit zu
Werke.

Zuerst stellte er das übliche Krankenverhör an, notierte aber geschickt
immer nur, um für alle Fälle später gedeckt zu sein, jene Antworten, die
eine Deutung auf grünen Star zuließen.

Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frühere Diagnose
vorläge.

Gesprächsweise ließ er einfließen, daß ein dringender Ruf aus dem
Auslande behufs wichtiger, wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn ergangen
sei und er daher schon morgen verreisen müsse. --

Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie
möglich.

Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!

Wenn das Verhör vorüber und die übliche bange Frage des Patienten, ob
Grund zur Befürchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen
ersten Schachzug.

Er setzte sich dem Kranken gegenüber, ließ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:

»Erblindung beider Augen ist bereits in der allernächsten Zeit wohl
unvermeidlich!«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Die Szene, die naturgemäß folgte, war entsetzlich. Oft fielen die Leute
in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich in wilder Verzweiflung
zu Boden.

Das Augenlicht verlieren, heißt alles verlieren.

Und wenn der wiederum übliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die Knie
Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar
keine Hilfe mehr gäbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und
verwandelte sich selbst in jenen -- Gott, der helfen konnte!

Alles, alles in der Welt, ist wie ein Schachspiel, Meister Pernath! --

Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das
einzige, was vielleicht Rettung bringen könne, und mit einer wilden,
gierigen Eitelkeit, die plötzlich über ihn kam, erging er sich mit einem
Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die
alle mit dem vorliegenden eine ungemein große Ähnlichkeit gehabt hätten,
-- wie unzählige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts
verdankten, und dergleichen mehr.

Er schwelgte förmlich in dem Gefühl, für eine Art höheren Wesens
gehalten zu werden, in dessen Hände das Wohl und Wehe seines Mitmenschen
gelegt ist.

Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, Angstschweiß auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die
Rede zu fallen, aus Furcht: ihn -- den einzigen, der noch Hilfe bringen
konnte -- zu erzürnen.

Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten könne, wenn er von seiner Reise wieder zurück sei, schloß Dr.
Wassory seine Rede.

Hoffentlich, -- man solle in solchen Fällen immer das Beste hoffen --
sei es da nicht zu spät, sagte er.

Natürlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erklärten, daß sie
unter gar keinen Umständen auch nur einen Tag länger warten wollten, und
baten flehentlich um Rat, wer von den andern Augenärzten in der Stadt
sonst wohl als Operateur in Betracht käme.

Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden Schlag
führte.

Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten des
Grams und lispelte schließlich bekümmert, ein Eingriff seitens eines
_andern_ Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges
mit elektrischem Licht, und das müsse -- der Patient wisse ja selbst,
wie schmerzhaft es sei -- wegen der blendenden Strahlen geradezu
verhängnisvoll wirken.

Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, daß so manchem von ihnen
gerade in der Iridektomie die nötige Übung fehle -- dürfe, eben weil er
wiederum von neuem untersuchen müsse, gar nicht vor Ablauf längerer
Zeit, bis sich die Sehnerven wieder erholt hätten, zu einem
chirurgischen Eingriff schreiten.«

Charousek ballte die Fäuste.

»Das nennen wir in der Schachsprache >Zugzwang<, lieber Meister Pernath!
-- -- Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, -- ein erzwungener Zug
nach dem andern.

Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr.
Wassory, er möge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise
verschieben und die Operation selber vornehmen. -- Es handle sich doch
um mehr noch als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst,
jeden Augenblick erblinden zu müssen, sei ja das Schrecklichste, was es
geben könne.

Und je mehr das Scheusal sich sträubte und jammerte: ein Aufschub seiner
Reise könne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto höhere Summen boten
freiwillig die Kranken.

Schien schließlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und
fügte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken
konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren
Schaden zu, jenes immerwährende Gefühl des Geblendetseins, das das Leben
zu stetiger Qual gestalten mußte, die Spuren des Schurkenstreiches aber
ein für allemal verwischte.

Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, -- es
befriedigte gleichzeitig seine maßlose Geldgier und fröhnte seiner
Eitelkeit, wenn die ahnungslosen, an Körper und Vermögen geschädigten
Opfer zu ihm wie zu einem Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.

Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Ghetto und seinen zahllosen,
unscheinbaren, jedoch unüberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von
Kindheit an gelernt hat auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der
jeden Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine
Beziehungen und Vermögensverhältnisse erriet und durchschaute, -- nur
ein solcher -- »Halbhellsehender« möchte man es beinahe nennen, --
konnte jahrelang derartige Scheußlichkeiten verüben.

Und wäre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch,
würde es bis ins hohe Alter weiter betrieben haben, um schließlich als
ehrwürdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren,
künftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu
genießen, bis -- bis endlich auch über ihn das große Verrecken
hinweggezogen wäre.

Ich aber wuchs ebenfalls im Ghetto auf, und auch mein Blut ist mit jener
Atmosphäre höllischer List gesättigt, und so vermochte ich ihn zu Fall
zu bringen, -- so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen,
-- wie aus heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.

Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der
Entlarvung, -- ihn schob ich vor und häufte Beweis auf Beweis, bis der
Tag anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory
ausstreckte.

Da beging die Bestie Selbstmord! -- Gesegnet sei die Stunde!

Als hätte mein Doppelgänger neben ihm gestanden und ihm die Hand
geführt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich
absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte stehen
lassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche
Diagnose des grünen Stars zu stellen, -- absichtlich und mit dem
glühenden Wunsche, daß es dieses Amylnitrit sein möchte, das ihm den
letzten Stoß geben sollte.

Der Gehirnschlag hätte ihn getroffen, hieß es in der Stadt.

Amylnitrit tötet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das
Gerücht nicht aufrecht erhalten werden.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Charousek starrte plötzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein
tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel
nach der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trödlerladen lag.

»Jetzt ist er allein,« murmelte er, »ganz allein mit seiner Gier und --
und -- und mit der Wachspuppe!«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Mir schlug das Herz bis zum Hals.

Ich sah Charousek voll Entsetzen an.

War er wahnsinnig? Es mußten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden ließen.

Gewiß, gewiß! Er hat alles erfunden, geträumt!

Es kann nicht wahr sein, was er da über den Augenarzt Grauenhaftes
erzählt hat. Er ist schwindsüchtig, und die Fieber des Todes kreisen in
seinem Hirn.

Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.

Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in
mein Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene Tür
hereingeschaut hatte.

Dr. Savioli! Dr. Savioli! -- ja, ja, so war auch der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flüsternd
anvertraut als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier
gemietet hatte.

Dr. Savioli! -- Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine
Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstürmten.

Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzählen, was
ich damals erlebt, da sah ich, daß ein heftiger Hustenanfall sich seiner
bemächtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden,
wie er sich mühsam mit den Händen an der Mauer stützend in den Regen
hinaustappte und mir einen flüchtigen Gruß zunickte.

Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, -- fühlte ich, -- das
unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen
schleicht Tag und Nacht und sich zu verkörpern sucht.

Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es sich
nieder in einer Menschenseele, -- wir ahnen es nicht, -- da, dort, und
ehe wir es fassen können, ist es gestaltlos geworden und alles längst
vorüber.

Und nur noch dunkle Worte über irgendein entsetzliches Geschehnis kommen
an uns heran.

Mit einem Schlage begriff ich diese rätselhaften Geschöpfe, die rings um
mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs
Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt -- -- so, wie
vorhin das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorüberschwamm.

Mir war, als starrten die Häuser alle mit tückischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herüber, -- die Tore: aufgerissene schwarze
Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, -- Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend und
haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte.

Was hatte zum Schluß noch der Student über den Trödler gesagt? -- Ich
flüsterte mir seine Worte vor: -- Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit
seiner Gier und -- -- seiner Wachspuppe.

Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?

Es muß ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, -- eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu überfallen pflegt,
die man nicht versteht, und die einen, wenn sie später unerwartet
sichtbarlich werden, so tief erschrecken können wie Dinge von
ungewohnter Form, auf die plötzlich ein greller Lichtstreif fällt.

Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks Erzählung verursacht hatte, abzuschütteln.

Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten:
Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich
gelacht hatte.

Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenüber.

Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Zügen zuckte vor
Erregung.

Unwillkürlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, daß sie wie
gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drüben jenseits der Gasse
stand, ihr immerwährendes Lächeln um die Lippen.

Der Alte war bemüht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daß sie es wohl
wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht.

Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete auf den Fußspitzen
hinüber und hüpfte mit lächerlicher Elastizität wie ein großer,
schwarzer Gummiball über die Pfützen.

Man schien ihn zu kennen, denn ich hörte allerhand Glossen fallen, die
darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch
um den Hals, mit blauer Militärmütze, die Virginia hinter dem Ohr,
machte mit grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.

Ich begriff nur, daß sie den Alten in der Judenstadt den »Freimaurer«
nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen
wollten, der sich an halbwüchsigen Mädchen zu vergehen pflegt, aber
durch intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. -- --
--

Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drüben im Dunkel des
Hausflures verschwunden.




                                Punsch


Wir hatten das Fenster geöffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen
Zimmer strömen zu lassen.

Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen Mäntel, die
an der Türe hingen, daß sie leise hin und her schwankten.

»Prokops würdige Haupteszierde möchte am liebsten davonfliegen«, sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers großen Schlapphut, der die breite
Krempe bewegte wie schwarze Flügel.

Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.

»Er will,« sagte er, »er will wahrscheinlich -- -- --«

»Er will zum >Loisitschek< zur Tanzmusik«, nahm ihm Vrieslander das Wort
vorweg.

Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den Klängen, die die
dünne Winterluft her über die Dächer trug.

Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als
zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:

   »An Bein-del von Ei-sen
      recht alt
   »An Stran-zen net gar
      a so kalt
   »Messinung, a' Räucherl
      und Rohn
   »und immerrr nurr putz-en -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Wie großartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!« und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:

   »Und stok-en sich Aufzug
      und Pfiff
   »Und schmallern an eisernes
      G'süff.
   »Juch, --
   »Und Handschuhkren, Harom net san -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim >Loisitschek< der
meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grünen Augenschirm, und ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und gröhlt den Text dazu«,
erklärte mir Zwakh. »Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke
gehen, Meister Pernath. Später vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu
Ende sind, -- was meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?«

»Ja, ja kommen Sie nachher mit uns,« sagte Prokop und klinkte das
Fenster zu, -- »man muß so etwas gesehen haben.«

Dann tranken wir den heißen Punsch und hingen unseren Gedanken nach.

Vrieslander schnitzte an einer Marionette.

»Sie haben uns förmlich von der Außenwelt abgeschnitten, Josua,«
unterbrach Zwakh die Stille, »seit Sie das Fenster geschlossen haben,
hat niemand mehr ein Wort gesprochen.«

»Ich dachte nur darüber nach, als vorhin die Mäntel so flogen, wie
seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt,« antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: »Es sieht
gar so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu flattern anheben,
die sonst immer tot daliegen. Nicht? -- Ich sah einmal auf einem
menschenleeren Platz zu, wie große Papierfetzen, -- ohne daß ich vom
Winde etwas spürte, denn ich stand durch ein Haus gedeckt, -- in toller
Wut im Kreise herumjagten und einander verfolgten, als hätten sie sich
den Tod geschworen. Einen Augenblick später schienen sie sich beruhigt
zu haben, aber plötzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung über
sie und in sinnlosem Grimm rasten sie umher, drängten sich in einen
Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben und
schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden.

Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem
Pflaster liegen und klappte haßerfüllt auf und zu, als sei ihr der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.

Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir
Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären wie solche Papierfetzen? -- Ob
nicht vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher »Wind« auch uns hin
und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, während wir in unserer
Einfalt glauben unter eigenem, freiem Willen zu stehen?

Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre als ein rätselhafter
Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: weißt du von wannen er
kommt und wohin er geht? -- -- -- Träumen wir nicht auch zuweilen, wir
griffen in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes
ist geschehen, als daß ein kalter Luftzug unsere Hände traf?«

»Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?« sagte
Zwakh und sah den Musiker mißtrauisch an.

»Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzählt wurde, -- schade, daß
Sie so spät kamen und sie nicht mit anhörten, -- hat ihn so nachdenklich
gestimmt«, meinte Vrieslander.

»Eine Geschichte von einem Buche?«

»Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam aussah.
-- Pernath weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt, was er wollte, und
trotzdem sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich
doch nicht recht schildern.«

Zwakh horchte auf.

»Das ist sehr merkwürdig,« sagte er nach einer Pause, »war der Fremde
vielleicht bartlos und hatte er schrägstehende Augen?«

»Ich glaube,« antwortete ich, »das heißt, ich -- ich -- weiß es ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?«

Der Marionettenspieler schüttelte den Kopf: »Er erinnert mich nur an den
>Golem<.«

Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken:

»Golem? -- Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas
über den Golem, Zwakh?«

»Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas _wisse_?«, antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. »Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich
eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich
wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und
die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und
aufgebauscht, daß sie schließlich an der eigenen Unglaubwürdigkeit
zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte
Jahrhundert zurück, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der
Kabbala soll ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen -- den
sogenannten Golem -- verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe die
Glocken in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.

Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das
nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm
hinter den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls
herabzog.

Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht
verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte
zerschlagen, was ihm in den Weg kam.

Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.

Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm
übrig, als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der
Altneusynagoge gezeigt wird.«

»Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen
worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht
haben,« warf Prokop ein, »moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu
einer ^Laterna magica^ bedient.«

»Jawohl, keine Erklärung ist abgeschmackt genug, daß sie bei den
Heutigen nicht Beifall fände,« fuhr Zwakh unbeirrt fort. -- »Eine
^Laterna magica^!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen
Dingen nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick
hätte durchschauen müssen!

Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen
läßt, daß aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem
Stadtviertel sein Wesen treibt und damit zusammenhängt, dessen bin ich
sicher. Von Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt,
und niemand kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das
periodische Auftauchen des Golem zurückblicken, als gerade ich!«

Zwakh hatte plötzlich aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten.

Wie er, den Kopf aufgestützt, dort am Tische saß und beim Scheine der
Lampe seine roten, jugendlichen Bäckchen fremdartig von dem weißen Haar
abstachen, verglich ich unwillkürlich im Geiste seine Züge mit den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.

Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!

Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!

Manche Dinge der Erde können nicht loskommen voneinander, fühlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüberziehen ließ, da
schien es mir mit einem Mal gespenstisch und ungeheuerlich, daß ein
Mensch wie er, obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren
genossen hatte und Schauspieler hätte werden sollen, plötzlich wieder zu
dem schäbigen Marionettenkasten zurückkehren konnte, um nun abermals auf
die Jahrmärkte zu ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner Vorväter
kümmerliches Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken
Verbeugungen machen und schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen.

Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben
mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich
in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und
ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hält er sie jetzt so
liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter.

»Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?« forderte Prokop den Alten
auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen
Wunsches seien.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,« meinte der Alte zögernd, »die
Geschichte mit dem Golem läßt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin
sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch
könne er ihn nicht schildern. Ungefähr alle dreiunddreißig Jahre
wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders
Aufregendes an sich trägt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, für das
weder eine Erklärung noch eine Rechtfertigung ausreicht:

Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus aus der
Richtung der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider
gehüllt, gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges, so, als
wolle er jeden Augenblick vornüber fallen, durch die Judenstadt
schreitet und plötzlich -- unsichtbar wird.

Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.

Ein andermal heißt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und sei zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem er ausgegangen: einem
uralten Hause in der Nähe der Synagoge.

Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hätten ihn um eine Ecke auf
sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt
sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und --
schließlich ganz verschwunden.

Vor sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich -- ich war noch ein
ganz kleiner Junge --, daß man das Gebäude in der Altschulgasse damals
von oben bis unten durchsuchte.

Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenstern vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.

Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die
Spur gekommen.

Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in
die Nähe des Fensters gelangt, da riß das Seil, und der Unglückliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel. Und als später der
Versuch nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten über die
Lage des Fensters derart auseinander, daß man davon abstand.

Ich selber begegnete dem >Golem< das erste Mal in meinem Leben vor
ungefähr dreiunddreißig Jahren.

Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten fast
aneinander.

Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muß. Man trägt doch um Gotteswillen nicht immerwährend, tagaus, tagein
die Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.

In jenem Augenblick aber, bestimmt -- ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und
im selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor,
und jener Unbekannte ging an mir vorüber. Eine Sekunde später drang eine
Flut bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen
bestürmten, ob ich ihn gesehen hätte.

Und als ich antwortete, da fühlte ich, daß sich meine Zunge wie aus
einem Krampfe löste, von dem ich vorher nichts gespürt hatte.

Ich war förmlich überrascht, daß ich mich bewegen konnte, und deutlich
kam mir zum Bewußtsein, daß ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines
Herzschlages lang -- in einer Art Starrkrampf befunden haben mußte.

Über all das habe ich oft und lang nachgedacht, und mich dünkt, ich
komme der Wahrheit am nächsten, wenn ich sage: immer einmal in der Zeit
eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die
Judenstadt, befällt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der
uns verhüllt bleibt, und läßt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines
charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vor Jahrhunderten
hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung dürstet.

Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde für Stunde, und wir nehmen es
nicht wahr. Hören wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berührt und es mitschwingen macht.

Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne
innewohnendes Bewußtsein, -- ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein
Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen
herauswächst.

Wer weiß das?

Wie in schwülen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur
Unerträglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, könnte es da
nicht sein, daß auch auf die stetige Anhäufung jener niemals wechselnden
Gedanken, die hier im Ghetto die Luft vergiften, eine plötzliche,
ruckweise Entladung folgen muß? -- eine seelische Explosion, die unser
Traumbewußtsein ans Tageslicht peitscht, um -- dort den Blitz der Natur
-- hier ein Gespenst zu schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in
allem und jedem das Symbol der Massenseele unfehlbar offenbaren müßte,
wenn man die geheime Sprache der Formen nur richtig zu deuten verstünde?

Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankünden,
so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abblätternde Bewurf
einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich die Züge starrer
Gesichter. Der Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und
drängt dem argwöhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare
Intelligenz, die sich lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab und übe
sich in heimlichen Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen.
-- Ruht das Auge auf eintönigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut,
bemächtigt sich unser die unerfreuliche Gabe, überall mahnende,
bedeutsame Formen zu sehen, die in unsern Träumen ins Riesengroße
auswachsen. Und immer zieht sich durch solche schemenhafte Versuche der
angesammelten Gedankenherden, die Wälle der Alltäglichkeit zu
durchnagen, für uns wie ein roter Faden die qualvolle Gewißheit, daß
unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern Willen
ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden
könne.

Wie ich nun vorhin Pernath bestätigen hörte, daß ihm ein Mensch begegnet
sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der >Golem< vor mir,
wie ich ihn damals gesehen.

Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.

Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas Unerklärliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich
schon einmal in meinen Kinderjahren verspürt, als die ersten spukhaften
Äußerungen des Golem ihre Schatten vorauswarfen.

Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knüpft sich an einen
Abend, an dem der Bräutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und
in der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.

Es wurde damals Blei gegossen -- zum Scherz -- und ich stand mit offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, -- in meiner
wirren, kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem
Golem, von dem ich meinen Großvater oft hatte erzählen hören, und
bildete mir ein, jeden Augenblick müsse die Tür aufgehen und der
Unbekannte eintreten.

Meine Schwester leerte dann den Löffel mit dem flüssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.

Mit welken, zitternden Händen holte mein Großvater den blitzenden
Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine
allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich
hinzudrängen, aber man wehrte mich ab.

Später, als ich älter geworden, erzählte mir mein Vater, es wäre damals
das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt
gewesen, -- glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von solch
unheimlicher Ähnlichkeit mit den Zügen des >Golem<, daß sich alle
entsetzt hätten.

Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten der
Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs Zeiten, darüber. Er hat sich mit Kabbala befaßt und
meint, jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmaßen sei vielleicht
nichts anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall
der bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, müsse das
Phantasie- oder Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner
zuerst _lebendig gedacht_ habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte,
und das nun in regelmäßigen Zeitabschnitten, bei den gleichen
astrologischen Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden --
wiederkehre, vom Triebe nach stofflichem Leben gequält.

Auch Hillels verstorbene Frau hat den >Golem< von Angesicht zu Angesicht
erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man sich im Starrkrampf
befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe weilt.

Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur ihre
eigene Seele habe sein können, die -- aus dem Körper getreten -- ihr
einen Augenblick gegenübergestanden und mit den Zügen eines fremden
Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.

Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt, habe
sie doch keine Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener andere nur ein
Stück ihres eignen Innern sein konnte.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Es ist unglaublich«, murmelte Prokop in Gedanken verloren.

Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken.

Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des Abends Wasser
bringt und was ich sonst noch nötig habe, trat ein, stellte den tönernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.

Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.

Als sei ein neuer Einfluß mit der Alten zur Tür hereingeschlüpft, an den
man sich erst gewöhnen mußte.

»Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen
sieht«, sagte plötzlich Zwakh ganz unvermittelt. »Dieses erstarrte,
grinsende Lächeln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die
Großmutter, dann die Mutter! -- Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug
anders! Derselbe Name Rosina; -- es ist immer eine die Auferstehung der
andern.«

»Ist Rosina nicht die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?« fragte
ich.

»Man spricht so«, meinte Zwakh, -- -- »Aaron Wassertrum aber hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiß. Auch bei Rosinas
Mutter wußte man nicht, wer ihr Vater gewesen, -- auch nicht, was aus
ihr geworden ist. -- Mit fünfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und
war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord
zusammen, soweit ich mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause
begangen wurde.

Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals _sie_ den halbwüchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, -- ich sehe ihn öfter, -- doch sein
Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine,
sie hat sie alle frühzeitig unter die Erde gebracht. Ich erinnere mich
aus jener Zeit überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene
Bilder durch mein Gedächtnis treiben. So hat es damals einen halb
blödsinnigen Menschen gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und
den Gästen gegen ein paar Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier
schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte, geriet er in eine unsägliche
Traurigkeit, und unter Tränen und Schluchzen schnitzelte er, ohne
aufzuhören, immer das gleiche scharfe Mädchenprofil, bis sein ganzer
Papiervorrat verbraucht war.

Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich längst vergessen, hatte er --
fast als Kind noch -- eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter der
heutigen, so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.

Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Zwakh schwieg und lehnte sich zurück. -- -- --

Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder
zum selben Punkt zurück, fuhr es mir durch den Sinn, und ein häßliches
Bild, das ich einmal mit angesehen -- eine Katze mit verletzter
Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd -- trat vor mein Auge. -- -- --

»Jetzt kommt der Kopf«, hörte ich plötzlich den Maler Vrieslander mit
heller Stimme sagen.

Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.

Eine schwere Müdigkeit legte sich mir über die Augen, und ich rückte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.

Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel und Josua Prokop füllte
wiederum die Gläser. Leise, ganz leise klangen die Klänge der Tanzmusik
durch das geschlossene Fenster; -- manchmal verstummten sie vollends,
dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs
verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.

Ob ich denn nicht mit anstoßen wolle, fragte mich nach einer Weile der
Musiker.

Ich aber gab keine Antwort, -- so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund
zu öffnen, verfiel.

Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich
meiner bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vrieslanders
funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine Späne biß,
-- um die Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.

In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzählte wieder allerlei
wunderliche Geschichten über Marionetten und krause Märchen, die er für
seine Puppenspiele erdacht.

Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin
eines Adligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu
Besuch komme.

Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums höhnische,
triumphierende Miene. --

Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte,
überlegte ich, -- dann hielt ich es nicht der Mühe für wert und für
belanglos. Auch wußte ich, daß mein Wille versagen würde, wollte ich
jetzt den Versuch machen zu sprechen.

Plötzlich sahen die drei am Tische aufmerksam zu mir herüber und Prokop
sagte ganz laut: »Er ist eingeschlafen«, -- so laut, daß es fast klang,
als ob es eine Frage sein sollte.

Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von
mir sprachen.

Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf,
das von der Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in
den Augen.

Es fiel ein Wort wie: »irr sein«, und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.

»Gebiete, wie das vom >Golem< sollte man vor Pernath nie berühren,«
sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, »als er vorhin von dem Buche Ibbur
erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte
wetten, er hat alles nur geträumt.«

Zwakh nickte: »Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem
Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher
Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch
den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das
Feuer aus allen Ecken.«

»War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst
vierzig sein«, sagte Vrieslander.

»Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen
mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein
altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem
Spitzbart. Vor vielen, vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter
Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine
kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und
mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen.« -- Wieder
sah Zwakh bewegt zu mir herüber. -- »Seit jener Zeit lebt er hier,
bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen
kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was
mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen
Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in
seiner Erinnerung wachrufen könnten, -- wie oft hat mir das der alte
Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so
eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe
eingemauert, möchte ich's nennen, -- so wie man eine Unglücksstätte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft.« -- -- --

Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein
Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen
Händen das Herz zusammen.

Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, -- ein Ahnen, als wäre
mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler.
Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.

Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich
wie eine bloßgelegte Wunde.

Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuhängen, -- dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer
wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir
unzugänglicher Gemächer gesperrt, -- das beängstigende Versagen meines
Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, -- alles das
fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: Ich war wahnsinnig
gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das -- »Zimmer«
verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns
bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens
gemacht.

Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wiederzugewinnen!

Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern,
vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, -- nie würde ich sie erkennen
können: eine verschnittne Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer
fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes
verschlossene »Zimmer« zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den
Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!

Die Geschichte von dem >Golem<, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog
mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne
Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem
bedeutungsvollen Traum.

Ja! auch in meinem Falle »würde der Strick reißen«, wollte ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.

Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas
unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.

Ich fühlte: es sind da Dinge -- unfaßbare -- zusammengeschmiedet und
laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen, wohin der Weg führt,
nebeneinander her.

Auch im Ghetto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden
kann, -- ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen
durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu
tragen! -- -- --

Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte
unter der Klinge des Messers.

Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es denn nicht
bald zu Ende sei.

Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als
habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine
Augen lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.

Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte
unverwandt auf das hölzerne Antlitz.

Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plötzlich gewannen die Züge
des Holzkopfes schreckhaftes Leben.

Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch
gebracht.

Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine
Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen aufhörte und
ängstlich flatterte.

Dennoch blieb ich mir -- wie damals -- des Gesichtes bewußt.

_Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoß und spähte
umher._

Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte
meinen Schädel.

Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Mienen und hörte seine
Worte: um Gottes Willen, das ist ja der Golem!

Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:

»Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar mißlungen.« Und er wand sich
los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.

Da schwand mein Bewußtsein und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die
von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, wie es mir
schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das
Holz klappernd auf das Pflaster fallen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie
schüttelten,« -- sagte Josua Prokop zu mir, »der Punsch ist aus, und Sie
haben alles versäumt.«

Der heiße Schmerz, über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich
wieder, und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt habe, als ich
ihnen von dem Buche Ibbur erzählte -- und es aus der Kassette nehmen und
ihnen zeigen könne.

Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht
durchdringen.

Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel um und rief:

»Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre
Lebensgeister erfrischen.«




                                Nacht


Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.

Ich spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren
einige Schritte vorausgegangen, und man hörte, wie sie draußen vor dem
Torweg mitsammen sprachen.

»Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum
Teufelholen.«

Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bückte und
die Marionette suchte.

»Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst«, brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht
leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen -- wie er
das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.

Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte
sich noch tiefer herab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:

»Still doch! Hört ihr denn nichts?«

Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und
lauschten in den Schacht hinab.

Nichts.

»Was war's denn?« flüsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.

Einen Augenblick -- kaum einen Herzschlag lang -- hatte es mir
geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte --
fast unhörbar. Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte, war alles
vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und
löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.

Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.

»Gehen wir; was stehen wir da herum!« mahnte Vrieslander.

Wir schritten die Häuserreihe entlang.

Prokop folgte nur widerwillig.

»Meinen Hals möcht' ich wetten, da unten hat jemand geschrien in
Todesangst.«

Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie leise
dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.

Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.

                         »SALON LOISITSCHEK«.
                       »Heinte großes Konzehr«

stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.

Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete sich die
Eingangstür nach innen und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem,
schwarzem Haar, ohne Kragen -- eine grünseidene Kravatte um den bloßen
Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen
geschmückt -- empfing uns mit Bücklingen.

»Jä, jä, das sin mir Gästäh. -- -- -- Pane Schaffranek, rasch einen
Tusch!« setzte er, über die Schulter in das von Menschen überfüllte
Lokal gewendet, hastig seinem Willkommengruß hinzu.

Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.

»Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man«,
murmelte der Vierschrötige immerwährend vor sich hin, während er uns aus
den Mänteln half.

»Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir
versammelt«, beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene,
als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geländer und eine
zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.

Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen
die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen
Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben
mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit
haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine
stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen
Augen und blatternarbige Kommis mit karrierten Hosen.

»Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön ungestört
sein«, krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen, und eine Rollwand,
beklebt mit kleinen tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den
Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.

Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer
verlöschen.

Eine Sekunde eine rhythmische Pause.

Totenstille, als hielte alles den Atem an.

Mit erschreckender Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen
Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündern in
die Luft bliesen -- -- dann fiel die Musik über das Geräusch her und
verschlang es.

Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.

Mit langem, wallendem, weißem Prophetenbart, ein schwarzseidenes
Käppchen -- wie es die alten jüdischen Familienväter tragen -- auf dem
Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern -- starr zur Decke
gerichtet -- saß dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit
dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm
in speckglänzendem, schwarzem Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an
Hals und Armen -- ein Sinnbild erheuchelter Bürgermoral -- ein
schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.

Ein wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instrumenten, dann
sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.

Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den Mund weit
auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der
Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten
begleitet, ein wilder Baß:

»Roo -- n -- te, blau -- we Stern -- --«

»Rititit« (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)

   »Roonte blaue Steern
   Hörndlach ess i' ach geern«;
   »Rititit«
   »Rothboart, Grienboart
   allerlaj Stern« -- --
   »Rititit, rititit.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Die Paare traten zum Tanze an.

»Es ist das Lied vom >chomezigen Borchu<«, erklärte uns lächelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der
sonderbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. »Vor
wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckergesellen, Rotbart
und Grünbart, am Abend des >Schabbes Hagodel< das Brot -- Sterne und
Hörnchen -- vergiftet, um ein ausgiebiges Sterben in der Judenstadt
hervorzurufen; aber der >Meschores< -- der Gemeindediener -- war infolge
göttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig daraufgekommen und konnte die
beiden Verbrecher der Stadtpolizei überliefern. Zur Erinnerung an die
wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals die >Lamdonim< und
>Bocherlech< jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als
Bordellquadrille hören.«

»Rititit -- Rititit«

»Roote blaue Steern -- -- -- --« immer hohler und fanatischer erscholl
das Gebell des Greises.

Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den Rhythmus
des böhmischen »Schlapak« -- eines schleifenden Schiebetanzes -- über,
bei dem die Paare die schwitzenden Wangen innig aneinander preßten.

»So recht. Bravo. Äh da! fang, hep, hep!« rief von der Estrade ein
schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem
Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück in
der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es über
das Tanzgewühl hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch
-- sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muß derselbe
gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben Charousek gestanden --
hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner Tänzerin, wo er sie bisher
hartnäckig ruhen gehabt, hervorgezogen -- ein Griff in die Luft mit
affenartiger Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik
auszulassen, und die Münze war geschnappt. Nicht eine Muskel zuckte im
Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten
leise.

»Wahrscheinlich einer vom >Bataillon<, nach der Geschicklichkeit zu
schließen«, sagte Zwakh lachend.

»Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom >Bataillon< gehört«,
fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem
Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. -- Ich verstand
gar wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich
für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen.
Irgend etwas.

Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen
in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!

Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, -- ich weiß nur, mir war, als verblute ich langsam.
Mir wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als ich als hölzernes
Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich
mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig umfing, -- einhüllte,
wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch.

Zwakh begann:

»_Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon._

-- -- -- No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller
Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jüngling kannte er
nichts als Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er
sich durch Stundengeben mühsam erwarb, mußte er noch seine kranke Mutter
erhalten. Wie grüne Wiesen aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und
Wälder, erfuhr er, glaube ich, nur aus Büchern. Und wie wenig von
Sonnenschein in Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst.

Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich
selbstverständlich.

Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. So
berühmt, daß alle Leute -- Richter und alte Advokaten -- zu ihm fragen
kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. Dabei lebte er ärmlich wie
ein Bettler in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof
schaute.

So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner
Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. Daß ein Mann
wie er weichen Herzensempfindungen zugänglich sein konnte, zumal sein
Haar schon anfing weiß zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von
etwas anderem als von Jurisprudenz sprechen gehört zu haben, hätte wohl
keiner geglaubt. Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glüht die
Sehnsucht am heißesten.

An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: -- als nämlich
Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rektor Magnifikus an
unserer Universität ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich
mit einem jungen, bildschönen Fräulein aus zwar armer, aber adliger
Familie verlobt.

Und wirklich schien von da an das Glück bei Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge
Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen, den er ihr nur irgend
von den Augen abzulesen vermochte, war seine höchste Freude.

In seinem Glück vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so manch
anderer getan hätte, seiner leidenden Mitmenschen. »Mir hat Gott meine
Sehnsucht gestillt,« soll er einmal gesagt haben, -- »er hat mir ein
Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu
eigen gegeben, das die Erde trägt. Und so will ich, daß ein Schimmer von
diesem Glück, soweit es in meiner kleinen Macht steht, auch auf andere
fällt.« -- -- --

Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm,
wie seines eignen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie wohl ihm
selbst ein solch gutes Werk getan hätte, wäre es ihm am eigenen Leib und
Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun
auf Erden manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach
sich zieht gleich der einer fluchwürdigen, weil wir wohl doch nicht
richtig unterscheiden können zwischen dem, was giftigen Samen in sich
trägt und was heilsamen, so begab es sich auch hier, daß aus Dr.
Hulberts mitleidsvollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst sproß.

Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem Studenten,
und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, daß sie der Rektor gerade in
dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum Zeichen
seiner Liebe mit einem Strauß Rosen als Geburtstagspräsent zu
überraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat über Wohltat
gehäuft hatte.

Man sagt, daß die blaue Muttergottesblume für immer ihre Farbe verlieren
kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein
Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt; gewiß ist, daß die Seele
des alten Mannes für immer erblindete an dem Tage, wo sein Glück in
Scherben ging. Am selben Abend noch saß er, er, der bis dahin nicht
gewußt, was Unmäßigkeit ist, hier beim »Loisitschek« -- fast bewußtlos
vom Fusel -- bis zum Morgengrauen. Und der »Loisitschek« wurde seine
Heimstätte für den Rest seines zerstörten Lebens. Im Sommer schlief er
irgendwo auf dem Schutt eines Neubaues, im Winter hier auf den hölzernen
Bänken.

Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte beließ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst
berühmten Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an
seinem Wandel.

Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung jener seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags »das Bataillon« nennt.

Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk für alle
die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein
entlassener Sträfling daran, zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert
splitternackt hinaus auf den Altstädter Ring -- und das Amt auf der
sogenannten »Fischbanka« sah sich genötigt, einen Anzug beizustellen.
Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so
heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszuständig war, und wurde
dadurch ansässig.

Hundert solcher Auswege wußte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenüber
stand die Polizei machtlos da. -- Was diese Ausgestoßenen der
menschlichen Gesellschaft »verdienten«, übergaben sie getreulich auf
Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der der nötige
Lebensunterhalt bestritten wurde. Niemals ließ sich auch nur eines die
geringste Unehrlichkeit zuschulden kommen. Mag sein, daß angesichts
dieser eisernen Disziplin der Name »das Bataillon« entstand.

Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks jährte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim »Loisitschek«
eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrängt standen sie hier:
Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunkenbolde und
Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst.
-- Und dann erzählte ihnen Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt
die beiden Musikanten sitzen, gerade unter dem Krönungsbilde Seiner
Majestät des Kaisers seine Lebensgeschichte: -- wie er sich
emporgerungen, den Doktortitel erworben und später ^Rektor magnificus^
geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit dem Busch Rosen in
der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, -- zur Feier ihres
Geburtstages und zugleich zum Gedächtnis jener Stunde, da er dereinst um
sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, -- da
versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen.
Dann geschah es wohl zuweilen, daß irgendein liederliches Frauenzimmer
ihm verschämt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke
Blume auf die Hand legte.

Von den Zuhörern rührte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie
herunter und drehten unsicher die Finger.

Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.

Sein Leichenbegängnis sehe ich noch heute vor mir. Das »Bataillon« hatte
sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie möglich zu gestalten.

Voran ging der Pedell der Universität in vollem Ornat: in den Händen das
purpurne Kissenpolster mit der güldenen Kette darauf und hinter dem
Leichenwagen in unabsehbarer Reihe -- -- das »Bataillon« barfuß,
schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein
Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus
altem Zeitungspapier umwickelt und umbunden.

So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.

Auf seinem Grabe, draußen im Friedhof, steht ein weißer Stein, darein
sind drei Figuren gemeißelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei
Räubern. Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau
habe das Denkmal errichtet. -- -- --

Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen,
danach bekommt jeder vom »Bataillon« mittags beim »Loisitschek« umsonst
eine Suppe; zu diesem Zwecke hängen hier am Tisch die Löffel an den
Ketten, und die ausgehöhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller.
Um 12 Uhr kommt die Kellnerin und spritzt mit einer großen, blechernen
Spritze die Brühe hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als
»vom Bataillon«, so zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück.

Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch
die ganze Welt.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie.
Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über mein Bewußtsein
hinweg. Ich sah noch, wie er seine Hände bewegte, um das Vor- und
Zurückschieben eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die
Bilder, die sich rings um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und
dennoch mit so gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß
ich in Momenten ganz mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in
einem lebendigen Uhrwerk.

Das Zimmer war ein einziges Menschengewühl geworden. Oben auf der
Estrade: dutzende Herren in schwarzen Fräcken. Weiße Manschetten,
blitzende Ringe. Eine Dragoneruniform mit Rittmeisterschnüren. Im
Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Straußenfedern.

Durch die Stäbe des Geländers stierte das verzerrte Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war
da und schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken dicht, ganz dicht, an
der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.

Die Gestalten hielten plötzlich im Tanzen inne: der Wirt mußte ihnen
etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch,
aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fühlte
es deutlich. Und doch lag der Ausdruck hämischer, wilder Freude in dem
Gesicht des Wirtes.

-- -- -- -- In der Eingangstür steht mit einem Mal der Polizeikommissär
in Uniform. Er hat die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen.
Hinter ihm ein Kriminalschutzmann.

»Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!«

Es klingt wie Kommandos.

Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen bleibt
in seinen Zügen.

Bloß starrer ist es geworden.

Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.

Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.

Die Gesichter sind plötzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.

Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissär zu.

Die Augen des Kriminalschutzmannes hängen gebannt an den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.

Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und läßt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den Füßen und wieder
zurückschweifen.

Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich über das
Geländer gebeugt und verbeißen das Lachen hinter ihren grauseidnen
Taschentüchern.

Der Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt einem
Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.

Der Polizeikommissär hat sich verfärbt und starrt in der Verlegenheit
immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.

Er kann den gleichgültigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.

Es bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.

Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.

»So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten Händen auf den
Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen«, flüstert der Maler
Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.

Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: »Äh -- Hm.« -- -- -- er
kopiert die Stimme des Wirtes: »Jä, jä, das sin mir Gästäh -- da schaut
man.« Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, daß die Gläser
klirren; die Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche
fliegt an die Wand und zerschellt. Der vierschrötige Wirt meckert uns
erläuternd und ehrfurchtsvoll zu: »Seine Durchlaucht Exzellenz Fürst
Ferri Athenstädt.«

Der Fürst hat dem Beamten eine Visitenkarte hingehalten. Der Ärmste
nimmt sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.

Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter geschehen
wird.

Der Kavalier spricht wieder:

»Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, -- äh -- sind
meine lieben Gäste.« Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlässigen
Armbewegung auf das Gesindel, »wünschen Sie, Herr Kommissär, -- äh --
vielleicht vorgestellt zu werden?«

Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert verlegen etwas
von »leidiger Pflichterfüllung« und rafft sich schließlich zu den Worten
auf: »Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht.«

Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im nächsten
Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen -- Rosina am Arm herunter
in den Saal.

Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. Der große,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa
Strümpfe und -- einen Herrenfrack auf dem bloßen Körper.

Ein Zeichen: Die Musik fällt ein wie rasend -- -- -- »Rititit --
Rititit« -- -- -- -- -- und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der
taubstumme Jaromir, als er Rosina gesehen, an der Wand drüben
ausgestoßen hat. -- -- --

Wir wollen gehen.

Zwakh ruft nach der Kellnerin.

Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.

Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.

Der Rittmeister hält die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich langsam
mit ihr im Takt.

Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.

Dann murmelt es von den Bänken: »Der Loisitschek, der Loisitschek«, die
Hälse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites
noch seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit
langem blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt
wie eine Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, --
hängt schmachtend an der Brust des Fürsten Athenstädt.

Ein süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.

Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.

Mein Blick sucht voll Angst die Türe: der Kommissär steht dort
abgewendet, um nichts zu sehen, und flüstert hastig mit dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.

Die beiden spähen herüber auf den blatternarbigen Loisa, der einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt -- das Gesicht
kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen -- stehen bleibt.

Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das
Bild, wie »Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, -- über
das Kanalgitter gebeugt -- und ein Todesschrei gellt aus der Erde
empor.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzähne, daß es wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.

Ich kann die Finger nicht sehen, weiß, daß sie unsichtbar sind, und doch
empfinde ich sie wie etwas Körperliches.

Und klar steht es in meinem Bewußtsein: sie gehören zu der
gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse das
Buch »Ibbur« gegeben haben.

»Wasser, Wasser!« schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.

»In seine Wohnung schaffen, Arzt holen -- der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen -- -- zu ihm bringen!« -- beraten sie murmelnd.

Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.




                                 Wach


Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen und ich hörte, wie Mirjam,
die Tochter des Archivars Hillel, ihn ängstlich ausfragte und er sie zu
beruhigen trachtete.

Ich gab mir keine Mühe, hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daß Zwakh erzählte, mir sei
ein Unfall zugestoßen und sie kämen bitten, mir die erste Hilfe zu
leisten und mich wieder zu Bewußtsein zu bringen.

Noch immer konnte ich kein Glied rühren, und die unsichtbaren Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefühl
des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wußte genau, wo ich war und
was mit mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daß
man mich wie einen Toten herauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah
Hillels niedersetzte und -- allein ließ.

Eine ruhige, natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich.

Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben sich
die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab, der
von der Gasse heraufschimmerte.

Alles kam mir selbstverständlich vor und ich wunderte mich weder
darüber, daß Hillel mit einem jüdischen siebenflammigen Sabbatleuchter
eintrat, noch, daß er mir gelassen »Guten Abend« wünschte wie jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.

Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, -- trotzdem wir einander oft drei- bis viermal
in der Woche auf den Stiegen begegnet waren, -- fiel mir plötzlich stark
an ihm auf, wie er so hin und her ging, einige Gegenstände auf der
Kommode zurechtrückte und schließlich mit dem Leuchter einen zweiten,
gleichfalls siebenflammigen anzündete.

Nämlich: sein Ebenmaß an Leib und Gliedern und der schmale, feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.

Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerze sah, nicht älter sein als
ich: höchstens 45 Jahre zählen.

»Du bist um einige Minuten früher gekommen«, -- begann er nach einer
Weile -- »als anzunehmen war, sonst hätte ich die Lichter schon vorher
angezündet.« -- Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre
und richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf
jemand, der mir zu Häupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu
sehen vermochte. Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen
Satz.

Sofort ließen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der
Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich:
Niemand außer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.

Sein »Du« und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?

Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es auf mich,
daß ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darüber
zu empfinden.

Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen
Sessel wies, und sagte:

»Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge -- die Kischuph -- auf den Menschen; das Leben
kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der
geistigen Welt sind mild und erwärmend.«

Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir
gegenüber und fuhr gelassen fort: »Auch ein silberner Spiegel, hätte er
Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und
glänzend geworden, gibt er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne
Leid und Erregung.«

»Wohl dem Menschen«, setzte er leise hinzu, »der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen.« -- Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und
ich hörte ihn einen hebräischen Satz murmeln: »^Lischuosècho Kiwisi
Adoschem^.« Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:

»Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach
gemacht. Im Psalm David heißt es:

»_Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Veränderung gemacht hat._«

Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen sie, sie
hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie ihren Sinnen
zum Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes
werden, als der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein
wahres Wachsein und das ist das, dem du dich jetzt näherst. Sprich den
Menschen davon und sie werden sagen, du seist krank, denn sie können
dich nicht verstehen. Darum ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu
reden.

   _Sie fahren dahin wie ein Strom --_
   _Und sind wie ein Schlaf,_
   _Gleich wie ein Gras, das doch bald welk wird --_
   _Das des Abends abgehauen wird und verdorret._«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch »Ibbur« gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?«,
wollte ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken
in Worte fassen konnte:

»Nimm an, der Mann, der zu dir kam und den du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!

Wie denkst du mit dem Auge? Jede Form, die du siehst, denkst du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst.«

Ich fühlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen,
sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein
uferloses Meer.

Ruhevoll fuhr Hillel fort:

»Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod sind
dasselbe.«

»-- -- kann nicht mehr sterben?« -- ein dumpfer Schmerz ergriff mich.

»Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg des
Todes. Du hast das Buch »Ibbur« genommen und darin gelesen. Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens«, hörte ich ihn reden.

»Hillel, Hillel, laß mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!«, schrie alles wild in mir auf.

Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.

»Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des
Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: »Ehe Gott
die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie
die geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da
nahmen die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich,
und diese strich Gott aus dem Buche der Lebenden.« Du aber _gehst_ einen
Weg und hast ihn aus freiem Willen beschritten, -- wenn du es jetzt auch
selbst nicht mehr weißt: Du bist berufen von dir selbst. Gräm' dich
nicht: allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung.
_Wissen und Erinnerung sind dasselbe._«

Der freundliche, fast liebenswürdige Ton, in den Hillels Rede
ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fühlte mich
geborgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß.

Ich blickte auf und sah, daß mit einem Male viele Gestalten im Zimmer
waren und uns im Kreis umstanden: Einige in weißen Sterbegewändern, wie
sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und
Silberschnallen an den Schuhen -- aber Hillel fuhr mir mit der Hand über
die Augen und die Stube war wieder leer.

Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten könne in mein Zimmer.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam
nicht, und ich geriet statt dessen in einen sonderbaren Zustand, der
weder Träumen war, noch Wachen, noch Schlafen.

Das Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles in der Stube so
deutlich, daß ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fühlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen
qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ähnlicher
Verfassung befindet.

Nie vorher in meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so scharf und
präzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit
durchströmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih und Glied
wie eine Armee, die nur auf meine Befehle wartete.

Ich brauchte bloß zu rufen, und sie traten vor mich und erfüllten, was
ich wünschte.

Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu
schneiden versucht hatte, -- ohne damit zurecht zu kommen, da sich die
vielen zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den Gesichtszügen
decken wollten, die ich mir vorgestellt, -- fiel mir ein, und im Nu sah
ich die Lösung vor mir und wußte genau, wie ich den Stichel zu führen
hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu werden.

Ehedem Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht gewußt: waren es Ideen oder Gefühle, sah ich
mich jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen Reich.

Rechenexempel, die ich früher nur mit Ächzen und auf dem Papier hätte
bewältigen können, fügten sich mir mit einem Male im Kopf spielend zum
Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten Fähigkeit, das
zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen,
Gegenstände oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch
derlei Werkzeuge nicht zu lösen waren: -- philosophische Probleme und
Ähnliches --, so trat an Stelle des inneren Sehens das Gehör, wobei die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers übernahm.

Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.

Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem Ohr hatte
vorübergehen lassen, stand wertgetränkt bis in die tiefste Faser vor
mir; was ich »auswendig« gelernt, »erfaßte« ich mit einem Schlag als
mein »Eigen«tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen
nackt vor mir.

Die »hohen« Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrätlich
biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab
behandelt hatten, -- demütig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze
und entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin
Krücken für -- einen noch frecheren Schwindel.

Träumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?

Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.

Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich überzeugt
hat, daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden
ist, wühlte ich mich wieder in die Kissen.

Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
Rätsel, die mich rings umgaben.

Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurückzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus -- glaubte ich --
könnte es mir möglich sein, jenen Teil meines Daseins zu überblicken,
der für mich, durch eine seltsame Fügung des Schicksals in Finsternis
gehüllt lag.

Aber wie sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als daß ich
mich wie einst in dem düsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch
den Torbogen den Trödlerladen des Aaron Wassertrum unterschied -- als ob
ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt
hätte, immer gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!

Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schürfen in den
Schächten der Vergangenheit, da begriff ich plötzlich mit leuchtender
Klarheit, daß wohl in meiner Erinnerung die breite Heerstraße der
Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge
winzig schmaler Fußsteige, die wohl bisher den Hauptpfad ständig
begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet worden waren: »Woher«,
schrie es mir fast in die Ohren, »hast du denn die Kenntnisse, dank
derer du jetzt dein Leben fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt
-- und gravieren und all das andere? Lesen, schreiben, sprechen -- und
essen -- und gehen, atmen, denken und fühlen?«

Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurück.

Ich zwang mich, in verkehrter, aber ununterbrochener Reihenfolge zu
überlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was
lag vor diesem und so weiter?

Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt -- -- jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem
Vergessenen trennte, mußte überflogen sein -- da trat ein Bild vor mich,
das ich auf der Rückwanderung meiner Gedanken übersehen hatte: Schemajah
Hillel fuhr mir mit der Hand über die Augen -- genau wie vorhin unten in
seinem Zimmer.

Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.

Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe der
Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die
verlorene Heimat zurückführen: das, was mit feiner, kaum sichtbarer
Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche
Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterläßt, -- birgt die Lösung
der letzten Geheimnisse.

So, wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner Jugend, wenn ich in
der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornähme von Z bis A, um dort
anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, -- so, begriff ich,
müßte ich auch wandern können in die andere ferne Heimat, die jenseits
alles Denkens liegt.

Eine Weltkugel aus Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewölbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir
ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und
wie Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas
bat: »Laß mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit
mir die entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt«, so gäbe es
vielleicht einen dunkeln Weg -- dämmerte mir -- von dieser Klippe weg.

Ein tiefer Argwohn, der Führerschaft meiner Gedanken weiter blind zu
vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und verschloß
mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die
Sinne. Um jeden Gedanken zu töten.

Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon
mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete in den
brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem
Fuß; ich verbarg mich im Hämmerwerk meines Herzens: nur eine kleine
Weile, und sie hatten mich entdeckt.

Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte:
»Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der Schlüssel zur Kunst des
Vergessens gehört unseren Brüdern, die den Pfad des Todes wandeln; du
aber bist geschwängert vom Geiste des -- Lebens.«

Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin auf:
der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mächtig,
gleich einem Erdbeben, -- der andere in unendlicher Ferne: der
Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus
rotem Holz.

Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand über meine
Augen, und ich schlummerte ein.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                Schnee


             »Mein lieber und verehrter Meister Pernath!

   Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und höchster
   Angst. Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen
   haben, -- oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit.
   -- Ich hätte keine Ruhe sonst.

   Sagen Sie keiner Menschenseele, daß ich Ihnen geschrieben habe.
   Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden!

   Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir -- »neulich« -- (Sie werden
   durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie
   waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fürchte
   mich, meinen Namen darunter zu setzen) -- so viel Vertrauen
   eingeflößt, und weiter, daß Ihr lieber, seliger Vater mich als
   Kind unterrichtet hat, -- alles das gibt mir den Mut, mich an
   Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen kann,
   zu wenden.

   Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die
   Domkirche auf dem Hradschin.

                                            Eine Ihnen bekannte Dame.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wohl eine Viertelstunde lang saß ich da und hielt den Brief in der Hand.
Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her
umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, -- weggeweht von dem
frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam
lächelnd und verheißungsvoll -- ein Frühlingskind -- auf mich zu. Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei mir. -- Bei mir! Wie sah meine Stube
plötzlich so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte
so zufrieden drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute,
die um den Tisch herumsitzen und behaglich kichernd Tarok spielen.

Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.

So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen?

Ich fühlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher
schlafen gelegen in mir -- verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele,
verschüttet von dem Geröll, das der Alltag häuft, wie eine Quelle
losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.

Und ich _wußte_ so gewiß, wie ich den Brief in der Hand hielt, daß ich
würde helfen können, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen
gab mir die Sicherheit.

Wieder und wieder las ich die Stelle: »und weiter, daß Ihr lieber,
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat -- -- -- -- -- --«; -- mir
stand der Atem still. Klang das nicht wie Verheißung: »Heute noch wirst
du mit mir im Paradiese sein?« Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe
suchend, hielt mir das Geschenk entgegen: _die Rückerinnerung, nach der
ich dürstete_, -- würde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben
helfen, der sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!

»Ihr lieber, seliger Vater« -- --, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie mir vorsagte! -- Vater! -- Einen Augenblick sah ich das müde
Gesicht eines alten Mannes mit weißem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner
Truhe auftauchen -- fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt;
-- -- dann kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines
Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.

Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf.

Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und schritt
die Treppen hinab. Was kümmerte mich heute das Geraune der dunkeln
Winkel, die bösartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer
von ihnen aufstiegen: »Wir lassen dich nicht, -- du bist unser, -- wir
wollen nicht, daß du dich freust -- das wäre noch schöner, Freude hier
im Haus!«

Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen und
Ecken her um mich gelegt mit würgenden Händen: heute wich er vor dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an
Hillels Tür.

Sollte ich eintreten?

Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders
heute, -- so, als _dürfe_ ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb
mich die Hand des Lebens vorwärts, die Stiegen hinab. -- --

Die Gasse lag weiß im Schnee.

Ich glaube, daß viele Leute mich gegrüßt haben; ich erinnerte mich
nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fühlte ich an die Brust, ob
ich den Brief auch bei mir trüge:

Es ging eine Wärme von der Stelle aus.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengänge auf dem
Altstädter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter
voll Eiszapfen hing, hinüber über die steinerne Brücke mit ihren
Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.

Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente.

Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein der heiligen
Luitgard mit »den Qualen der Verdammten« darin: dicht lag der Schnee auf
den Lidern der Büßenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Händen.

Torbogen nahmen mich auf und entließen mich, Paläste zogen langsam an
mir vorüber mit geschnitzten, hochmütigen Portalen, darinnen Löwenköpfe
in bronzene Ringe bissen.

Auch hier überall Schnee, Schnee. Weich, weiß wie das Fell eines
riesigen Eisbären.

Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.

Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war.

Wie ich die unzähligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so
breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um
Schritt die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor meinem Sinn.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Schon schlich die Dämmerung die Häuserreihen entlang, da trat ich auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der
Engel.

Fußtapfen -- die Ränder mit Krusten aus Eis -- führten hin zum Nebentor.

Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Töne
eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Tränentropfen der
Schwermut fielen sie in die Verlassenheit.

Ich hörte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die Kirchentüre
mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar blinkte in
starrer Ruhe herüber zu mir durch den grünen und blauen Schimmer
sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstühle
niedersank. Funken sprühten aus roten, gläsernen Ampeln.

Welker Duft von Wachs und Weihrauch.

Ich lehne mich in eine Bank. Mein Blut wird seltsam still in diesem
Reich der Regungslosigkeit.

Ein Leben ohne Herzschlag erfüllte den Raum -- ein heimliches,
geduldiges Warten.

Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.

Da! -- Aus weiter, weiter Ferne drang das Geräusch von Pferdehufen
gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näherkommen und verstummte.

Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte meinen Arm berührt.

»Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt
mir, hier in den Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen
sagen muß.«

Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nüchterner Klarheit. Der Tag
hatte mich plötzlich angefaßt.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daß Sie
mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben.«

Ich stotterte ein paar banale Worte.

»-- -- Aber ich wußte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns
gewiß niemand nachgegangen.«

Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.

Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll
Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahnpaßgasse flüchtete.
Ich war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte niemand anders
erwartet.

Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dämmerung der
Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein
mochte. Ihre Schönheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie
gebannt. Am liebsten wäre ich vor ihr niedergefallen und hätte ihre Füße
geküßt, daß sie es war, der ich helfen sollte, daß sie mich dazu erwählt
hatte.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, -- wenigstens so lange
wir hier sind -- die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben,«
sprach sie gepreßt weiter, »ich weiß auch gar nicht, wie Sie über solche
Dinge denken -- --«

»Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem Leben
war ich so vermessen, daß ich mich Richter gedünkt hätte über meine
Mitmenschen«, war das einzige, was ich hervorbrachte.

»Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, sagte sie warm und schlicht. »Und
jetzt hören Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung
nicht helfen oder wenigstens einen Rat geben können.« -- Ich fühlte, wie
eine wilde Angst sie packte, und hörte ihre Stimme zittern. -- »Damals
-- -- im Atelier -- -- -- damals brach die schreckliche Gewißheit über
mich herein, daß jener grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespürt
hat. -- Schon durch Monate war mir aufgefallen, daß, wohin ich auch
immer ging, -- ob allein, oder mit meinem Gatten, oder mit -- -- -- mit
-- mit Dr. Savioli, -- stets das entsetzliche Verbrechergesicht dieses
Trödlers irgendwo in der Nähe auftauchte. Im Schlaf und im Wachen
verfolgten mich seine schielenden Augen. Noch macht sich ja kein Zeichen
bemerkbar, was er vorhat, aber um so qualvoller drosselt mich nachts die
Angst: wann wirft er mir die Schlinge um den Hals!

Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein
armseliger Trödler wie dieser Aaron Wassertrum überhaupt vermöchte --
schlimmsten Falles könnte es sich nur um eine geringfügige Erpressung
oder dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiß, wenn
der Name Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hält mir etwas geheim,
um mich zu beruhigen, -- irgend etwas Furchtbares, was ihm oder mir das
Leben kosten kann.

Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: daß ihn
_der Trödler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat!_ --
Ich _weiß_ es, ich spüre es in jeder Faser meines Körpers: es geht etwas
vor, das sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange.
-- Was hat dieser Mörder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn
nicht abschütteln? Nein, nein, ich sehe das nicht länger mit an; ich muß
etwas tun. Irgend etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt.«

Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie ließ mich
nicht zu Ende sprechen.

»Und in den letzten Tagen nahm der Alb, der mich zu erwürgen droht,
immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plötzlich erkrankt, -- ich
kann mich nicht mehr mit ihm verständigen -- darf ihn nicht besuchen,
wenn ich nicht stündlich gewärtigen soll, daß meine Liebe zu ihm
entdeckt wird --; er liegt in Delirien, und das einzige, was ich
erkundigen konnte, ist, daß er sich im Fieber von einem Scheusal
verfolgt wähnt, dessen Lippen von einer Hasenscharte gespalten sind: --
Aaron Wassertrum!

Ich weiß, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher -- können Sie
sich das vorstellen? -- wirkt es auf mich, ihn jetzt gelähmt vor einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nähe eines grauenhaften
Würgengels empfinde, zusammengebrochen zu sehen.

Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr. Savioli bekenne, alles von mir würfe, wenn ich ihn doch so liebe --:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber --« sie schrie es
förmlich heraus, daß es widerhallte von den Chorgalerien, -- »ich _kann_
nicht! -- Ich hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines Mädel!
Ich _kann_ doch mein Kind nicht hergeben! -- Glauben Sie denn, mein Mann
ließe es mir!? Da, da, nehmen Sie das, Meister Pernath« -- sie riß im
Wahnwitz ein Täschchen auf, das vollgestopft war mit Perlenschnüren und
Edelsteinen -- »und bringen Sie es dem Verbrecher; -- ich weiß, er ist
habsüchtig -- er soll sich alles holen, was ich besitze, aber mein Kind
soll er mir lassen. -- Nicht wahr, er wird schweigen? -- So reden Sie
doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein Wort, daß Sie mir helfen
wollen!«

Es gelang mir mit größter Mühe, die Rasende wenigstens so weit zu
beruhigen, daß sie sich auf eine Bank niederließ.

Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre,
zusammenhanglose Sätze.

Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so daß ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, -- Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen,
kaum daß sie geboren waren.

Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten Mönchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allmählich verwandelten sich die
Züge der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger Überzieher mit
hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten
Wangen und hektischen Flecken wuchs daraus empor.

Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der Mönch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.

Die unglückliche Frau hatte sich über meine Hand gebeugt und weinte
still.

Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde, als
ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals übermächtig
erfüllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.

»Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe,
Meister Pernath«, fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. »Es
waren ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben -- und die ich nie
vergessen konnte die vielen Jahre hindurch --«

Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.

»-- -- Sie nahmen Abschied von mir -- ich weiß nicht mehr, weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, -- und Sie sagten so freundlich und
doch so traurig:

>Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie je
im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr,
daß _ich_ es dann sein darf, der Ihnen hilft.< -- Ich habe mich damals
abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen,
damit Sie meine Tränen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen
das rote Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals
trug, aber ich schämte mich, weil das gar so lächerlich gewesen wäre.«
-- -- --

_Erinnerung!_

-- Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich --
unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines Mädchen in weißem Kleid und
ringsum die dunkle Wiese eines Schloßparks, von alten Ulmen umsäumt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich mußte mich verfärbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: »Ich weiß ja, daß Ihre Worte damals nur der Stimmung des
Abschieds entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und -- und ich
danke Ihnen dafür.«

Mit aller Kraft biß ich die Zähne zusammen und jagte den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurück.

Ich verstand: Eine gnädige Hand war es gewesen, die die Riegel vor
meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem
Bewußtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen
herübergetragen: Eine Liebe, die für mein Herz zu stark gewesen, hatte
für Jahre mein Denken zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der
Balsam für meinen wunden Geist geworden.

Allmählich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins über mich und kühlte
die Tränen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lächelnd der in die Augen
sehen, die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wieder hörte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.

Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus
geschlichteten Bergen von Tannenbäumen raunte es von Flitter und
silbernen Nüssen und vom kommenden Christfest.

Auf dem Rathausplatz an der Mariensäule murmelten bei Kerzenglanz die
alten Bettelweiber mit den grauen Kopftüchern der Muttergottes ihren
Rosenkranz.

Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des
Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete
grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene Bühne eines
Marionettentheaters.

Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran an der Schnur ein Totenschädel, ritt klappernd auf hölzernem
Schimmel über die Bretter.

In Reihen fest aneinandergedrängt starrten die Kleinen -- die Pelzmützen
tief über die Ohren gezogen -- mit offenem Munde hinauf und lauschten
gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein Freund
Zwakh da drinnen im Kasten sprach:

   »Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
   Der Kerl war mager wie ein Dichter
   Und hatte bunte Lappen an
   Und torkelte und schnitt Gesichter.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz mündete.
Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der
Finsternis vor einem Anschlagszettel.

Ein Mann hatte ein Streichholz angezündet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstückweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Bewußtsein ein paar
Worte auf:

                              _Vermißt!_

                          1000 fl Belohnung

          Älterer Herr ...... schwarz gekleidet ...........
          ................... Signalement:
          ...... fleischiges, glattrasiertes Gesicht ......
          ................. Haarfarbe: weiß ...............
          ..... Polizeidirektion .... Zimmer Nr. ..........

Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen Häuserreihen.

Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen
Himmelsweg über den Giebeln.

Friedvoll schweiften meine Gedanken zurück in den Dom, und die Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz
herüber, schneidend klar -- als stünde sie dicht an meinem Ohr -- die
Stimme des Marionettenspielers durch die Winterluft:

   »Wo ist das Herz aus rotem Stein?
   Es hing an einem Seidenbande,
   Und funkelte im Frührotschein«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                 Spuk


Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich »ihr« Hilfe bringen könnte.

Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen,
ihm zu erzählen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten.
Aber jedesmal verwarf ich den Entschluß.

Er stand im Geist so riesengroß vor mir, daß es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das äußere Leben betrafen, zu behelligen, dann
wieder kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in
Wirklichkeit alles das erlebt hätte, was nur eine kurze Spanne Zeit
zurücklag und doch so seltsam verblaßt schien, verglichen mit den
lebenstrotzenden Erlebnissen des verflossenen Tages.

Hatte ich nicht doch geträumt? Durfte ich -- ein Mensch, dem das
Unerhörte geschehen war, daß er seine Vergangenheit vergessen hatte, --
auch nur eine Sekunde lang als Gewißheit annehmen, wofür als einziger
Zeuge bloß meine Erinnerung die Hand aufhob?

Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel
lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in
persönlicher Berührung gewesen!

Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie
umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, daß ein unsägliches Weh an
meinem Herzen fraß?

Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da ließ ich sie wieder los; ich
sah voraus, was kommen würde: Hillel würde mir mild über die Augen
fahren und -- -- -- nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht,
Linderung zu begehren. »Sie« vertraute auf mich und meine Hilfe, und
wenn die Gefahr, in der sie sich fühlte, mir in Momenten auch klein und
nichtig erscheinen mochte, -- _sie_ empfand sie sicherlich als
riesengroß!

Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit -- ich zwang mich, kalt und
nüchtern zu denken; -- ihn jetzt -- mitten in der Nacht zu stören? -- es
ging nicht an. So würde nur ein Verrückter handeln.

Ich wollte die Lampe anzünden; dann ließ ich es wieder sein: der Abglanz
des Mondlichts fiel von den Dächern gegenüber herein in mein Zimmer und
gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fürchtete, die Nacht könnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.

Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe anzuzünden,
nur um den Tag zu erwarten, -- eine leise Angst sagte mir, der Morgen
rücke dadurch in unerlebbare Ferne.

Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender
Friedhof lagen die Reihen verschnörkelter Giebel dort oben --
Leichensteine mit verwitterten Jahreszahlen, getürmt über die dunkeln
Modergrüfte, diese »Wohnstätten«, darein sich das Gewimmel der Lebenden
Höhlen und Gänge genagt.

Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise zu
wundern begann, warum ich denn nicht aufschräke, wo doch ein Geräusch
von verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein
Ohr drang.

Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze
Ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zögernd schlich.

Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde förmlich kleiner, so
preßte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens zu hören.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.

Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig
abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr
eigener Verräter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.

Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrückt, das drohende Gefühl
in der Kehle, daß drüben einer stand, genau so wie ich und dasselbe tat.

Ich lauschte und lauschte:

Nichts.

Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.

Lautlos -- auf den Zehenspitzen -- stahl ich mich an den Sessel bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zündete sie an.

Dann überlegte ich: Die eiserne Speichertüre draußen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis führte, ging nur von drüben aufzuklinken.

Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenförmiges Stück Draht, das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei Schlösser springen
leicht auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!

Und was würde dann geschehen?

Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, --
vielleicht in Kästen wühlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu
bekommen, legte ich mir zurecht.

Ob es viel nützen würde, wenn ich dazwischentrat?

Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!

Und schon stand ich vor der eisernen Bodentüre, drückte dagegen, schob
vorsichtig den Haken ins Schloß und horchte. Richtig: Ein schleifendes
Geräusch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.

Im nächsten Augenblick schnellte der Riegel zurück.

Ich konnte das Zimmer überblicken und sah, obwohl es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem, schwarzem
Mantel entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, -- eine Sekunde lang
unschlüssig, wohin sich wenden, -- eine Bewegung machte, als wolle er
auf mich losstürzen, sich dann den Hut vom Kopf riß und hastig damit
sein Gesicht bedeckte.

»Was suchen Sie hier!« wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:

»Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!« Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trödlers Wassertrum.

Automatisch blies ich die Kerze aus.

Das Zimmer lag halbdunkel da -- nur von dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische hereindrang, matt erhellt -- genau wie meines, und ich
mußte meine Augen aufs äußerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das plötzlich über dem Mantel auftauchte, die Züge
des Studenten Charousek erkennen konnte.

»Der Mönch!« drängte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit
einem Male die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! _Charousek! Das
war der Mann, an den ich mich wenden sollte!_ -- Und ich hörte seine
Worte wieder, die er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte:
»Aaron Wassertrum wird es schon erfahren, daß man mit vergifteten,
unsichtbaren Nadeln durch Mauern stechen kann. Genau an dem Tage, an dem
er Dr. Savioli an den Hals will.«

Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? Wußte er ebenfalls, was
sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewöhnlicher Stunde ließ fast
darauf schließen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu
richten.

Er war ans Fenster geeilt und spähte hinter dem Vorhang hinunter auf die
Gasse.

Ich erriet: er fürchtete, Wassertrum könne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.

»Sie denken gewiß, ich bin ein Dieb, daß ich nachts hier in einer
fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath,« fing er nach langem
Schweigen mit unsicherer Stimme an, »aber ich schwöre Ihnen -- --«

Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.

Und um ihm zu zeigen, daß ich keinerlei Mißtrauen gegen ihn hegte, in
ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzählte ich ihm mit kleinen
Einschränkungen, die ich für nötig hielt, welche Bewandtnis es mit dem
Atelier habe, und daß ich fürchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelüsten des Trödlers in irgendwelcher Art
zum Opfer zu fallen.

Aus der höflichen Weise, mit der er mir zuhörte, ohne mich mit Fragen zu
unterbrechen, entnahm ich, daß er das meiste bereits wußte, wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.

»Es stimmt schon,« sagte er grübelnd, als ich zu Ende gekommen war.
»Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die
Gurgel fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug
Material beisammen. Weshalb würde er sich sonst noch hier immerwährend
herumdrücken! Ich ging nämlich gestern, sagen wir mal: >zufällig< durch
die Hahnpaßgasse,« erklärte er, als er meine fragende Miene bemerkte,
»da fiel mir auf, daß Wassertrum erst lange -- scheinbar unbefangen --
vor dem Tor unten auf und ab schlenderte, dann aber, als er sich
unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus bog. Ich ging ihm sofort nach und
tat so, als wollte ich Sie besuchen, das heißt, ich klopfte bei Ihnen
an, und dabei überraschte ich ihn, wie er draußen an der eisernen
Bodentür mit einem Schlüssel herumhantierte. Natürlich gab er es
augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls als Vorwand bei
Ihnen an. Sie schienen übrigens nicht zu Hause gewesen zu sein, denn es
öffnete niemand.

Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daß jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier
heimlich ein Absteigequartier besäße. Da Dr. Savioli schwer krank liegt,
reimte ich mir das übrige zurecht.

Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum für alle Fälle zuvorzukommen«, schloß Charousek und deutete
auf ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; »es ist alles, was ich an
Schriftstücken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr
vorhanden. Wenigstens habe ich in sämtlichen Truhen und Schränken
gestöbert, so gut das in der Finsternis ging.«

Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben
unwillkürlich auf einer Falltüre am Boden haften. Ich entsann mich dabei
dunkel, daß Zwakh mir irgendwann erzählt hatte, ein geheimer Zugang
führe von unten herauf ins Atelier.

Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.

»Wo sollen wir die Briefe aufheben?«, fing Charousek wieder an. »Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Ghetto, die
Wassertrum harmlos vorkommen, -- warum gerade _ich_, das -- hat -- seine
-- besonderen -- Gründe«, -- (ich sah, daß sich seine Züge in wildem Haß
verzerrten, wie er so den letzten Satz förmlich zerbiß --) »und Sie hält
er für -- --« Charousek erstickte das Wort »verrückt« mit einem raschen,
erkünstelten Husten, aber ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat
mir nicht weh; das Gefühl, »ihr« helfen zu können, machte mich so
glückselig, daß jede Empfindlichkeit ausgelöscht war.

Wir kamen schließlich überein, das Paket bei mir zu verstecken, und
gingen hinüber in meine Kammer.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Charousek war längst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht
entschließen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit
nagte an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun,
fühlte ich, aber was? was?

Einen Plan für den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hätte?

Das allein konnte es nicht sein. Charousek ließ den Trödler sowieso
nicht aus den Augen, darüber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn
ich an den Haß dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.

Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?

Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich
verstand nicht.

Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reißen am Zügel
spürt und nicht weiß, welches Kunststück er machen soll, den Willen
seines Herrn nicht erfaßt.

Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?

Jede Faser in mir verneinte.

Die Vision des Mönchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern der
Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefühle nicht ohne
weiteres zu verachten. Geheime Kräfte keimten in mir auf seit geraumer
Zeit, das war gewiß: ich empfand es zu übermächtig, als daß ich auch nur
den Versuch gemacht hätte, es wegzuleugnen.

Buchstaben zu _empfinden_, sie nicht nur mit den Augen in Büchern zu
lesen, -- einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir übersetzt,
was die Instinkte ohne Worte raunen, darin muß der Schlüssel liegen,
sich mit dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen, begriff
ich.

»Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht«, fiel
mir eine Bibelstelle wie eine Erklärung dazu ein.

»Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel«, wiederholten mechanisch meine Lippen,
derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte ich
plötzlich.

»Schlüssel, Schlüssel -- --?« mein Blick fiel auf den krummen Draht in
meiner Hand, der mir vorhin zum Öffnen der Speichertüre gedient hatte,
und eine heiße Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem
Atelier führen könnte, peitschte mich auf.

Und ohne zu überlegen, ging ich nochmals hinüber in Saviolis Atelier und
zog an dem Griffring der Falltüre, bis es mir schließlich gelang, die
Platte zu heben.

Zuerst nichts als Dunkelheit.

Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste Finsternis.

Ich stieg hinunter.

Eine Zeitlang tastete ich mich mit den Händen die Mauern entlang, aber
es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, --
Windungen, Ecken und Winkel, -- Gänge geradeaus, nach links und nach
rechts, Reste einer alten Holztüre, Wegteilungen und dann wieder Stufen,
Stufen, Stufen hinauf und hinab.

Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall.

Und noch immer kein Lichtstrahl. --

Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte!

Endlich flacher, ebener Weg.

Aus dem Knirschen unter meinen Füßen schloß ich, daß ich auf trockenem
Sand dahinschritt.

Es konnte nur einer jener zahllosen Gänge sein, die scheinbar ohne Zweck
und Ziel unter dem Ghetto hinführen bis zum Fluß.

Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit unvordenklichen
Zeiten auf solchen unterirdischen Läuften, und die Bewohner Prags hatten
von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.

Das Fehlen jeglichen Geräusches zu meinen Häupten sagte mir, daß ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie
ausgestorben ist, befinden mußte, obwohl ich schon eine Ewigkeit
gewandert war. Belebtere Straßen oder Plätze über mir hätten sich durch
fernes Wagenrasseln verraten.

Eine Sekunde lang würgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise
herumging!? In ein Loch stürzte, mich verletzte, ein Bein brach und
nicht mehr weitergehen konnte!?

Was geschah dann mit _ihren_ Briefen in meiner Kammer? Sie mußten
unfehlbar Wassertrum in die Hände fallen.

Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines
Helfers und Führers verknüpfte, beruhigte mich unwillkürlich.

Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes und
hielt den Arm in die Höhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger würde.

Von Zeit zu Zeit, dann immer öfter stieß ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daß ich mich bücken
mußte, um durchzukommen.

Plötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.

Ich blieb stehen und starrte hinauf.

Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum
merklicher Schimmer von Licht.

Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgend einem Keller herunter?

Ich richtete mich auf und tastete mit beiden Händen in Kopfeshöhe um
mich herum: die Öffnung war genau viereckig und ausgemauert.

Allmählich konnte ich darin als Abschluß die schattenhaften Umrisse
eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir,
seine Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen.

Ich _stand_ jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.

Offenbar endeten hier die Überbleibsel einer eisernen Wendeltreppe, wenn
mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte?

Lang, unsagbar lang mußte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden
konnte, dann klomm ich empor.

Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in Manneshöhe über der
andern.

Sonderbar: die Treppe stieß oben gegen eine Art horizontalen Getäfels,
das aus regelmäßigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein
herabschimmern ließ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!

Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu können, wie die Linien verliefen, und sah zu
meinem Erstaunen, daß sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf
den Synagogen findet, bildeten.

Was mochte das nur sein?

Plötzlich kam ich dahinter: es war eine Falltür, die an den Kanten Licht
durchließ! Eine Falltür aus Holz in Gestalt eines Sternes.

Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drückte sie
aufwärts und stand im nächsten Moment in einem Gemach, das von grellem
Mondschein erfüllt war.

Es war ziemlich klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerümpel in
der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.

Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben
benützt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.

Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daß ich den Kopf hätte
durchstecken können, so viel aber sah ich:

Das Zimmer befand sich ungefähr in der Höhe eines dritten Stockwerks,
denn die Häuser gegenüber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich
tiefer.

Das eine Ufer der Straße unten war für mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in
tiefe Schlagschatten getaucht, die es mir unmöglich machten,
Einzelheiten zu unterscheiden.

Zum Judenviertel mußte die Gasse unbedingt gehören, denn die Fenster
drüben waren sämtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und
nur im Ghetto kehren die Häuser einander so seltsam den Rücken.

Vergebens quälte ich mich ab herauszubringen, was das wohl für ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.

Sollte es vielleicht ein aufgelassenes Seitentürmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehörte es irgendwie zur Altneusynagoge?

Die Umgebung stimmte nicht.

Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den kleinsten
Aufschluß gegeben hätte. -- Die Wände und Decke waren kahl, Bewurf und
Kalk längst abgefallen und weder Nagellöcher, noch Nägel, die verraten
hätten, daß der Raum einst bewohnt gewesen.

Der Boden lag fußhoch bedeckt mit Staub, als hätte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.

Das Gerümpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es
bestand.

Dem äußern Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knäuel geballt.

Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?

Ich tastete mit dem Fuß hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen
Teil davon in die Nähe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer
übers Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da
langsam aufrollte.

Ein blitzender Punkt wie ein Auge!

Ein Metallknopf vielleicht?

Allmählich wurde mir klar: ein Ärmel von sonderbarem, altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bündel heraus.

Und eine kleine weiße Schachtel oder dergleichen lag darunter, lockerte
sich unter meinem Fuß und zerfiel in eine Menge fleckiger Schichten.

Ich gab ihr einen leichten Stoß: Ein Blatt flog ins Helle.

Ein Bild?

Ich bückte mich: Ein Pagad?

Was mir eine weiße Schachtel geschienen, war ein Tarokspiel.

Ich hob es auf.

Konnte es etwas Lächerlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem
gespenstischen Ort!

Merkwürdig, daß ich mich zum Lächeln zwingen mußte. Ein leises Gefühl
von Grauen beschlich mich.

Ich suchte nach einer banalen Erklärung, wie die Karten wohl
hierhergekommen sein könnten, und zählte dabei mechanisch das Spiel. Es
war vollständig: 78 Stück. Aber schon während des Zählens fiel mir etwas
auf: Die Blätter waren wie aus Eis.

Eine lähmende Kälte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket
geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so
erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nüchternen
Erklärung:

Mein dünner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den
unterirdischen Gängen, die grimmige Winternacht, die Steinwände, der
entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloß: --
sonderbar genug, daß ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in
der ich mich die ganze Zeit befunden, mußte mich darüber hinweggetäuscht
haben. --

Ein Schauer nach dem andern jagte mir über die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Körper ein.

Ich fühlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen
Knochen bewußt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch
festfror.

Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den Füßen und nicht das
Schlagen mit den Armen. Ich biß die Zähne zusammen, um ihr Klappern
nicht zu hören.

Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten Hände auf den
Scheitel legt.

Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betäubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel
einhüllen kam.

Die Briefe, in meiner Kammer, -- _ihre_ Briefe! brüllte es in mir auf:
man wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat
ihre Rettung in meine Hände gelegt! -- Hilfe! -- Hilfe! -- Hilfe! --

Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die öde Gasse, daß
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!

Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben,
durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwärmen.

Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stürzte darauf zu
und zog sie mit schlotternden Händen über meine Kleider.

Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.

Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.

Dann kauerte ich mich in dem gegenüberliegenden Mauerwinkel zusammen und
spürte meine Haut langsam, langsam wärmer werden. Nur das schauerliche
Gefühl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen.
Regungslos saß ich da und ließ meine Augen wandern: die Karte, die ich
zuerst gesehen, -- der Pagad, -- lag noch immer inmitten des Zimmers in
dem Lichtstreifen.

Unverwandt mußte ich sie anstarren.

Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den
hebräischen Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfränkisch
gekleidet, den grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm
erhoben, während der andere abwärts deutete.

Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame Ähnlichkeit mit meinem,
dämmerte mir ein Verdacht auf? -- Der Bart -- er paßte so gar nicht zu
einem Pagad, -- -- ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke
zu dem Rest des Gerümpels, um den quälenden Anblick los zu sein.

Dort lag sie jetzt und schimmerte -- ein grauweißer, unbestimmter Fleck
-- zu mir herüber aus dem Dunkel.

Mit Gewalt zwang ich mich zu überlegen, was ich zu beginnen hätte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:

Den Morgen abwarten! Unten die Vorübergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit sie mir von außen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne
heraufbrächten! -- Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden Gänge
zurückfinden, würde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende
Gewißheit. -- Oder, falls das Fenster zu hoch läge, daß sich jemand vom
Dach mit einem Strick -- --? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl
durchfuhr es mich: jetzt wußte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang
-- nur mit einem vergitterten Fenster -- das altertümliche Haus in der
Altschulgasse, das jeder mied! -- schon einmal vor vielen Jahren hatte
sich ein Mensch an einem Strick vom Dach herabgelassen, um durchs
Fenster zu schauen, und der Strick war gerissen und -- Ja: ich war in
dem Haus, in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand!

Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkämpfen konnte,
lähmte jedes Weiterdenken, und mein Herz fing an, sich zu krampfen.

Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der da
so eisig aus der Ecke herüberwehte, sagte es mir vor, schneller und
schneller, mit pfeifendem Atem -- es half nicht mehr: dort drüben der
weißliche Fleck -- die Karte -- sie quoll auf zu blasigen Klumpen,
tastete sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurück in
die Finsternis. -- Tropfende Laute -- halb gedacht, geahnt, halb
wirklich -- im Raum und doch außerhalb um mich herum und doch anderswo,
-- tief im eigenen Herzen und wieder mitten im Zimmer -- erwachten:
Geräusche, wie wenn ein Zirkel fällt und mit der Spitze im Holz stecken
bleibt!

Immer wieder: Der weißliche Fleck -- -- -- der weißliche Fleck -- --!
Eine Karte, eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie
ich mir ins Hirn hinein -- -- -- umsonst -- -- jetzt hat er sich dennoch
-- dennoch Gestalt erzwungen -- der Pagad -- und hockt in der Ecke und
stiert herüber zu mir mit _meinem eigenen Gesicht_.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Stunden und Stunden kauerte ich da -- unbeweglich -- in meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! -- Und er
drüben: ich selbst.

Stumm und regungslos.

So starrten wir uns in die Augen -- einer das gräßliche Spiegelbild des
andern. -- -- --

Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter
Trägheit über den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren
Uhrwerks in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und
fahler werden? --

Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, daß er sich
auflösen wollte in dem Morgendämmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.

Ich hielt ihn fest.

Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben -- um das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehört. -- -- --

Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinüber zu ihm und
steckte ihn in die Tasche -- den Pagad.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Immer noch war die Gasse unten öd und menschenleer.

Ich durchstöberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein
Flaschenhals. Tote Dinge und doch so merkwürdig bekannt.

Und auch die Mauern -- wie die Risse und Sprünge darin deutlich wurden
-- wo hatte ich sie nur gesehen?

Ich nahm das Kartenpäckchen zur Hand -- es dämmerte mir auf: hatte ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?

Es war ein uraltes Tarokspiel. Mit hebräischen Zeichen. -- Nummer 12 muß
der »Gehenkte« sein, überkam's mich wie halbe Erinnerung. -- Mit dem
Kopf abwärts? Die Arme auf dem Rücken? -- Ich blätterte nach: Da! Da war
er.

Dann wieder, halb Traum, halb Gewißheit, tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwärztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mürrisches
Hexengebäude, die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem
Nebenhaus verwachsen. -- -- -- Wir sind mehrere halbwüchsige Jungen --
ein verlassener Keller ist irgendwo -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Dann sah ich an meinem Körper herab und wurde wieder irre: Der
altmodische Anzug war mir völlig fremd. -- -- --

Der Lärm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch wie ich
hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen
an einem Eckstein.

Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!

Zwei alte Weiber kamen langsam die Straße dahergetrottet, und ich
zwängte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.

Mit offenem Mund glotzten sie in die Höhe und berieten sich. Aber als
sie mich sahen, stießen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.

Sie haben mich für den Golem gehalten, begriff ich.

Und ich erwartete, daß ein Zusammenlauf von Menschen entstehen würde,
denen ich mich verständlich machen könnte, aber wohl eine Stunde
verging, und nur hie und da spähte unten vorsichtig ein blasses Gesicht
herauf zu mir, um sofort in Todesschreck wieder zurückzufahren.

Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen
Polizisten kamen -- die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?

Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen Gänge
ein Stück weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.

Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von
Licht hinab?

Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern
gekommen war, fort -- über ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und
durch versunkene Keller -- erklomm eine Treppenruine und stand plötzlich
-- -- im Hausflur des _schwarzen Schulhauses_, das ich vorhin wie im
Traum gesehen.

Sofort stürzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: Bänke,
bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plärrender Gesang,
ein Junge, der Maikäfer in der Klasse losläßt, Lesebücher mit
zerquetschten Butterbroten darin und Geruch nach Orangeschalen. Jetzt
wußte ich mit Gewißheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. -- Aber
ich ließ mir keine Zeit nachzudenken und eilte heim.

Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein
verwachsener alter Jude mit weißen Schläfenlocken. Kaum hatte er mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und heulte laut
hebräische Gebete herunter.

Auf den Lärm hin mußten wahrscheinlich viele Leute aus ihren Höhlen
gestürzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir
los. Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwälzen.

Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: -- ich trug noch
immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her über meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den »Golem« vor sich zu haben.

Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riß mir die modrigen
Fetzen vom Leibe.

Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen Stöcken und geifernden
Mäulern schreiend an mir vorüber.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                Licht


Einige Male im Laufe des Tages hatte ich an Hillels Türe geklopft; -- es
ließ mir keine Ruhe: ich mußte ihn sprechen und fragen, was alle diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieß es, er sei noch nicht
zu Hause.

Sowie er heimkäme vom jüdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verständigen. --

Ein sonderbares Mädchen übrigens, diese Mirjam!

Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.

Eine Schönheit, so fremdartig, daß man sie im ersten Moment gar nicht
fassen kann, -- eine Schönheit, die einen stumm macht, wenn man sie
ansieht, und ein unerklärliches Gefühl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit
in einem erweckt.

Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verloren gegangen sein
müssen, ist dieses Gesicht geformt, grübelte ich mir zurecht, wie ich es
so im Geiste wieder vor mir sah.

Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wählen müßte, um es als Gemme
festzuhalten und dabei den künstlerischen Ausdruck richtig zu wahren:
Schon an dem rein Äußerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und
der Augen, der alles übertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. --
Wie erst die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und
visionsgemäß in eine Kamee bannen, ohne sich in die stumpfsinnige
Ähnlichkeitsmacherei der kanonischen »Kunst«richtung festzurennen!

Nur durch ein Mosaik ließ es sich lösen, erkannte ich klar, aber was für
Material wählen? Ein Menschenleben gehörte dazu, das passende zusammen
zu finden. -- --

Wo nur Hillel blieb!

Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.

Merkwürdig, wie er mir in den wenigen Tagen -- und ich hatte ihn doch,
genau genommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, -- ins Herz
gewachsen war.

Ja, richtig: die Briefe -- _ihre_ Briefe wollte ich doch besser
verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal länger von zu
Hause fort sein sollte.

Ich nahm sie aus der Truhe: -- in der Kassette würden sie sicherer
aufbewahrt sein.

Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht
hinschauen, aber es war zu spät.

Den Brokatstoff um die bloßen Schultern gelegt -- so wie ich >sie< das
erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flüchtete aus Saviolis Atelier
-- blickte sie mir in die Augen.

Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:

Deine _Angelina_.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

_Angelina!!!_

Wie ich den Namen aussprach, zerriß der Vorhang, der meine Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.

Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu müssen. Ich krallte die Finger
in die Luft und winselte, -- biß mich in die Hand: -- -- nur wieder
blind sein, Gott im Himmel, -- den Scheintod weiter leben, wie bisher,
flehte ich.

Das Weh stieg mir in den Mund. -- Quoll. -- Schmeckte seltsam süß, --
wie Blut. -- --

Angelina!!

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Name kreiste in meinen Adern und wurde -- zu unerträglicher
gespenstischer Liebkosung.

Mit einem gewaltsamen Ruck riß ich mich zusammen und zwang mich -- mit
knirschenden Zähnen -- das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr
darüber wurde!

_Herr_ darüber!

Wie heute nacht über das Kartenblatt.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Endlich: Schritte! Männertritte.

Er kam!

Voll Jubel eilte ich zur Tür und riß sie auf.

Schemajah Hillel stand draußen und hinter ihm -- ich machte mir leise
Vorwürfe, daß ich es als Enttäuschung empfand -- mit roten Bäckchen und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.

»Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath«, fing
Hillel an.

Ein kaltes »Sie«?

Frost. Schneidender, ertötender Frost lag plötzlich im Zimmer.

Betäubt, mit halbem Ohr, hörte ich hin, was Zwakh, atemlos vor
Aufregung, auf mich losplapperte:

»Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf.
Vrieslander hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie
immer, mit einem Mord begonnen« -- Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?

Zwakh schüttelte mich: »Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath?
Unten hängt doch großmächtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den
dicken Zottmann, den >Freimaurer< -- na, ich meine doch den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann -- soll man ermordet haben. Der
Loisa -- hier im Haus -- ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina:
spurlos verschwunden. -- Der Golem -- der Golem -- es ist ja
haarsträubend.«

Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er mich
so unverwandt an?

Ein verhaltenes Lächeln zuckte plötzlich um seine Mundwinkel.

Ich verstand. Es galt mir.

Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.

Außer mir in meinem Entzücken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was
zuerst bringen? Gläser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur
eine.) Zigarren? -- Endlich fand ich Worte: »Aber warum setzt ihr euch
denn nicht!?« -- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. --
-- --

Zwakh fing an, sich zu ärgern: »Warum lächeln Sie denn immerwährend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daß der Golem spukt? Mir scheint,
Sie glauben überhaupt nicht an den Golem?«

»Ich würde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir sähe«, antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. -- Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.

Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: »Das Zeugnis von hunderten
Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? -- Aber warten Sie nur, Hillel,
denken Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt
geben! Ich kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft
hinter sich her.«

»Die Häufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares«, erwiderte
Hillel. Er sprach es im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den Trödlerladen -- »Wenn der Tauwind weht, rührt
sich's in den Wurzeln. In den süßen, wie in den giftigen.«

Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.

»Wenn der Rabbi nur reden wollte, der könnte uns Dinge erzählen, daß
einem die Haare zu Berge stünden,« warf er halblaut hin.

Schemajah drehte sich um.

»Ich bin nicht >Rabbi<, wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin nur
ein armseliger Archivar im jüdischen Rathaus und führe die Register --
über die Lebendigen und die Toten.«

Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fühlte ich. Auch der
Marionettenspieler schien es unterbewußt zu empfinden, -- er wurde still
und eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.

»Hören Sie mal, Rabbi --, verzeihen Sie: >Herr Hillel<, wollte ich
sagen,« -- fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang
auffallend ernst, »ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen
mir ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mögen, oder nicht dürfen
-- -- --«

Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas -- er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jüdische Ritual.

»Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh.«

»-- -- Wissen Sie etwas über die jüdische Geheimlehre, die Kabbala,
Hillel?«

»Nur wenig.«

»Ich habe gehört, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala
lernen kann: den >Sohar< -- --«

»Ja, den Sohar, -- das Buch des Glanzes.«

»Sehen Sie, da hat man's«, schimpfte Zwakh los. »Ist es nicht eine
himmelschreiende Ungerechtigkeit, daß eine Schrift, die angeblich die
Schlüssel zum Verständnis der Bibel und zur Glückseligkeit enthält --«

Hillel unterbrach ihn: »-- nur einige Schlüssel.«

»Gut, immerhin einige! -- also, daß diese Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugänglich ist? In
einem einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie
ich mir habe erzählen lassen? Und überdies chaldäisch, aramäisch,
hebräisch -- oder was weiß ich wie -- geschrieben? -- Habe _ich_ zum
Beispiel je im Leben Gelegenheit gehabt, diese Sprachen zu lernen oder
nach London zu kommen?«

»Haben Sie denn alle Ihre Wünsche so heiß auf dieses Ziel gerichtet?«
fragte Hillel mit leisem Spott.

»Offen gestanden -- nein«, gab Zwakh einigermaßen verwirrt zu.

»Dann sollten Sie sich nicht beklagen,« sagte Hillel trocken, »wer nicht
nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, -- wie ein
Erstickender nach Luft, -- der kann die Geheimnisse Gottes nicht
schauen.«

»Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sämtliche Schlüssel zu den
Rätseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige«, schoß es mir durch
den Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich
immer noch in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden
konnte, hatte Zwakh sie bereits ausgesprochen.

Hillel lächelte wieder sphinxhaft: »_Jede Frage, die ein Mensch tun
kann, ist im selben Augenblick beantwortet, wo er sie geistig gestellt
hat._«

»Verstehen _Sie_, was er damit meint?«, wandte sich Zwakh an mich.

Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.

Schemajah fuhr fort:

»Das ganze Leben ist _nichts_ anderes als formgewordene Fragen, die den
Keim der Antwort in sich tragen -- und Antworten, die schwanger gehen
mit Fragen. Wer irgend etwas anderes darin sieht, ist ein Narr.«

Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:

»Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder
anders versteht.«

»Gerade _darauf_ kommt es an,« sagte Hillel freundlich. »Alle Menschen
über _einen_ Löffel zu -- kurieren, ist lediglich Vorrecht der Ärzte.
Der Fragende erhält _die_ Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht
die Kreatur den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jüdischen
Schriften sind bloß aus Willkür nur in Konsonanten geschrieben? -- Jeder
hat _sich selbst_ die geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur
für ihn allein bestimmten Sinn erschließen, -- soll nicht das lebendige
Wort zum toten Dogma erstarren.«

Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:

»Das sind _Worte_, Rabbi, _Worte_! Pagad ultimo will ich heißen, wenn
ich daraus klug werde.«

_Pagad!!_ -- Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.

Hillel wich meinen Augen aus.

»Pagad ultimo? Wer weiß, ob Sie nicht wirklich so heißen, Herr Zwakh!«
-- schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. »Man soll
seiner Sache niemals allzu sicher sein. -- Übrigens, da wir gerade von
Karten sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarok?«

»Tarok? Natürlich. Von Kindheit an.«

»Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen können, in dem
die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst tausende Male in der Hand
gehabt haben.«

»Ich? In der Hand gehabt? Ich?« -- Zwakh griff sich an den Kopf.

»Jawohl, _Sie_! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß das Tarokspiel
zweiundzwanzig Trümpfe hat, -- genau so viel, wie das hebräische
Alphabet Buchstaben? Zeigen unsere böhmischen Karten nicht zum Überfluß
noch Bilder dazu, die offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der
Teufel, das letzte Gericht? -- Wie laut, lieber Freund, wollen Sie
eigentlich, daß Ihnen das Leben die Antworten in die Ohren schreien
soll? -- -- Was Sie allerdings nicht zu wissen brauchen, ist, daß
>^tarok^< oder >^Tarot^< soviel bedeutet wie das jüdische >^Tora^< = das
Gesetz, oder das altägyptische >^Tarut^< = >die Befragte<, und in der
uralten Zendsprache das Wort: >^tarisk^< = >ich verlange die Antwort<.
-- Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung
aufstellen, das Tarok stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. -- Und so,
wie der Pagad die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste
Figur in seinem eignen Bilderbuch, sein eigner Doppelgänger: -- -- der
hebräische Buchstabe Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit
der einen Hand zum Himmel zeigt und mit der andern abwärts: das heißt
also: >So wie es oben ist, ist es auch unten; so wie es unten ist, ist
es auch oben<. -- Darum sagte ich vorhin: Wer weiß, ob Sie wirklich
Zwakh heißen und nicht: >Pagad< -- Berufen Sie's nicht,« -- Hillel
blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie sich unter seinen
Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutungen auftat -- »berufen Sie's
nicht, Herr Zwakh! _Man kann da in finstere Gänge geraten_, aus denen
noch keiner zurückfand, der nicht -- _einen Talisman bei sich trug_. Die
Überlieferung erzählt, daß einmal drei Männer hinabgestiegen seien ins
Reich der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur
der dritte, Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich
selbst begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst
begegnet, z. B. Goethe, gewöhnlich auf einer Brücke, oder sonst einem
Steig, der von einem Ufer eines Flusses zum andern führt, -- hat sich
selbst ins Auge geblickt und ist _nicht_ wahnsinnig geworden. Aber dann
war's eben nur eine Spiegelung des eigenen Bewußtseins und nicht der
wahre Doppelgänger: nicht das, was man >den Hauch der Knochen<, den
>Habal Garmin< nennt, von dem es heißt: _Wie er in die Grube fuhr,
unverweslich, im Gebein, so wird er auferstehen am Tage des letzten
Gerichts._« -- Hillels Blick bohrte sich immer tiefer in meine Augen --
»Unsere Großmütter sagen von ihm: >_er wohnt_ hoch über der Erde _in
einem Zimmer ohne Türe, nur mit einem Fenster_, von dem aus eine
Verständigung mit den Menschen unmöglich ist. Wer ihn zu bannen und zu
-- -- verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst.< -- --
-- Was schließlich das Tarok betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: für
jeden Spieler liegen die Karten anders, wer aber die Trümpfe richtig
verwendet, der gewinnt die Partie -- -- --. Aber kommen Sie jetzt, Herr
Zwakh! Gehen wir, Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus,
und es bleibt nichts mehr übrig für ihn selbst.«




                                 Not


Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die Schneesterne -- winzige Soldaten in weißen, zottigen Mäntelchen --
hintereinander her an den Scheiben vorüber -- minutenlang -- immer in
derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders
bösartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einem Mal dick
satt, schienen aus rätselhaften Gründen einen Wutanfall zu bekommen und
sausten wieder zurück, bis ihnen von oben und unten neue feindliche
Armeen in die Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel
auflösten.

Monate schien mir zurückzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wären nicht täglich einigemal immer neue krause
Gerüchte über den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch
aufleben ließen, ich glaube, ich hätte mich in Augenblicken des Zweifels
verdächtigen können, das Opfer eines seelischen Dämmerzustandes gewesen
zu sein.

Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach mit
schreienden Farben hervor, was mir Zwakh über den noch immer
unaufgeklärten Mord an dem sogenannten »Freimaurer« erzählt hatte.

Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht
abschütteln konnte, -- fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener
Nacht aus dem Kanalgitter ein unheimliches Geräusch gehört zu haben
geglaubt, hatten wir den Burschen beim »Loisitschek« gesehen. Allerdings
lag kein Anlaß vor, den Schrei unter der Erde, der überdies geradesogut
eine Sinnestäuschung gewesen sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu
deuten. -- -- --

Das Schneegestöber vor meinen Augen blendete mich, und ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit
wieder auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams
Gesicht entworfen hatte, mußte sich vortrefflich auf den bläulich
leuchtenden Mondstein da übertragen lassen. -- Ich freute mich: es war
ein angenehmer Zufall, daß ich etwas so Geeignetes unter meinem
Mineralienvorrat gefunden hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende
gab dem Stein gerade das richtige Licht, und die Konturen paßten so
genau, als habe ihn die Natur eigens erschaffen, ein bleibendes Abbild
von Mirjams feinem Profil zu werden.

Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den ägyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit
auffallender Deutlichkeit ins Gedächtnis zurückrufen konnte, regte mich
künstlerisch stark dazu an, aber allmählich entdeckte ich nach den
ersten Schnitten eine solche Ähnlichkeit mit der Tochter Schemajah
Hillels, daß ich meinen Plan umstieß. -- -- --

-- Das Buch Ibbur! --

Erschüttert legte ich den Stahlgriffel weg. Unfaßbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!

Wie jemand, der sich plötzlich in eine unabsehbare Sandwüste versetzt
sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroßen
Einsamkeit bewußt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.

Konnte ich je mit einem Freund -- Hillel ausgenommen -- davon reden, was
ich erlebt?

Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen Nächte die
Erinnerung wiedergekehrt, daß mich all meine Jugendjahre -- von früher
Kindheit angefangen -- ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem
jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert
hatte, aber die Erfüllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm
gekommen und erdrückte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.

Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das
Geschehene in seiner vollen, markverbrennenden Lebendigkeit als
_Gegenwart_ empfinden mußte.

Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den Genuß auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!

Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinüberzugehen in mein
Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!

Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berührt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloß!

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Dumpfes Dröhnen draußen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehäuften
Schneemassen von den Dächern hinab vor die Häuser warf, gefolgt von
Pausen tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut
verschlang.

Ich wollte weiterarbeiten, -- da plötzlich stahlscharfe Hufschläge unten
die Gasse entlang, daß man's förmlich Funken sprühen sah.

Das Fenster zu öffnen und hinauszuschauen war unmöglich: Muskeln aus Eis
verbanden seine Ränder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
Hälfte weiß verweht. Ich sah nur, daß Charousek scheinbar ganz friedlich
neben dem Trödler Wassertrum stand -- sie mußten soeben ein Gespräch
mitsammen geführt haben -- sah, wie die Verblüffung, die sich in ihrer
beider Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der
meinen Blicken entzogen war, anstarrten.

Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. -- Sie selbst konnte
es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren, -- in der
Hahnpaßgasse! -- vor aller Leute Augen! Es wäre hellichter Wahnsinn
gewesen. -- Aber was sollte ich ihrem Gatten sagen, wenn er's wäre und
mich auf den Kopf zu fragte?

Leugnen, natürlich leugnen.

Hastig legte ich mir die Möglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, -- von Wassertrum -- daß sie
hier gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede
gebraucht: wahrscheinlich, daß sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir
bestellt habe. -- -- -- Da! wütendes Klopfen an meiner Tür und --
Angelina stand vor mir.

Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied
war aus.

Dennoch lehnte sich irgendetwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daß das Gefühl, ihr helfen zu
können, mich belogen haben sollte.

Ich führte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg todmüde wie ein Kind ihren Kopf an meiner Brust.

Wir hörten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein über die Dielen huschte, aufflammte und erlosch --
aufflammte und erlosch -- aufflammte und erlosch -- -- --

»Wo ist das Herz aus rotem Stein -- -- --« klang es in meinem Innern.
Ich fuhr auf: wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?

Und ich forschte sie aus, -- vorsichtig, leise, ganz leise, daß sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht
berühre.

Bruchstückweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es
mir zusammen wie ein Mosaik:

»Ihr Gatte weiß -- --?«

»Nein, noch nicht; er ist verreist.«

Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; -- Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war
sie hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff
ich.

Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.

Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?

Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daß
-- -- daß -- er wollte, daß sich Dr. Savioli -- -- ein Leid antue.

Sie kenne jetzt auch die Gründe von Wassertrums wildem, besinnungslosem
Haß: »Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den
Tod getrieben.«

Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunter laufen,
dem Trödler alles verraten: daß _Charousek_ den Schlag geführt hatte,
aus dem Hinterhalt -- und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war -- --
--. »Verrat! Verrat!« heulte es mir ins Hirn, »du willst also den armen
schwindsüchtigen Charousek, der _dir_ helfen wollte und _ihr_, der
Rachsucht dieses Halunken preisgeben?« -- Und es zerriß mich in blutende
Hälften. -- Dann sprach ein Gedanke eiskalt und gelassen die Lösung aus:
»Narr! Du hast es doch in der Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf
dem Tisch zu nehmen, hinunter zu laufen und sie dem Trödler durch die
Gurgel zu jagen, daß die Spitze hinten zum Genick herausschaut.«

Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich forschte weiter:

»Und Dr. Savioli?«

Kein Zweifel, daß er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht
rettete. Die Krankenschwestern ließen ihn nicht aus den Augen, hätten
ihn mit Morphium betäubt, aber vielleicht erwacht er plötzlich --
vielleicht gerade jetzt -- und -- und -- nein, nein, sie müsse fort,
dürfe keine Sekunde Zeit mehr versäumen, -- sie wolle ihrem Gatten
schreiben, ihm alles eingestehen, -- solle er ihr das Kind nehmen, aber
Savioli sei gerettet, denn sie hätte Wassertrum damit die einzige Waffe
aus der Hand geschlagen, die er besäße und mit der er drohe.

Sie wolle das Geheimnis selbst enthüllen, ehe er es verraten könne.

»Das werden Sie _nicht_ tun, Angelina!« schrie ich und dachte an die
Feile, und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude über meine Macht.

Angelina wollte sich losreißen: ich hielt sie fest.

»Nur noch eins: überlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem Trödler so ohne
weiteres glauben?«

»Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht
auch ein Bild von mir, -- alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war.«

Briefe? Bild? Schreibtisch? -- ich wußte nicht mehr, was ich tat: ich
riß Angelina an meine Brust und küßte sie. Auf den Mund, auf die Stirn,
auf die Augen.

Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.

Dann hielt ich sie an ihren schmalen Händen und erzählte ihr mit
fliegenden Worten, daß der Todfeind Wassertrums -- ein armer böhmischer
Student -- die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hätte und sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.

Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. Küßte
mich. Rannte zur Tür. Kehrte wieder um und küßte mich wieder.

Dann war sie verschwunden.

Ich stand wie betäubt und fühlte noch immer den Atem ihres Mundes an
meinem Gesicht.

Ich hörte, wie die Wagenräder über das Pflaster donnerten und den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute später war alles still. Wie ein
Grab.

Auch in mir.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Plötzlich knarrte die Tür leise hinter mir, und Charousek stand im
Zimmer:

»Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie schienen
es nicht zu hören.«

Ich nickte nur stumm.

»Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daß ich mich mit Wassertrum versöhnt
habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?« -- Charouseks
höhnisches Lächeln sagte mir, daß er nur einen grimmigen Spaß machte. --
»Sie müssen nämlich wissen: Das Glück ist mir hold; die Kanaille da
unten fängt an, mich in ihr Herz zu schließen, Meister Pernath. -- -- Es
ist eine seltsame Sache, das mit der Stimme des Blutes,« setzte er leise
-- halb für sich -- hinzu.

Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hätte
etwas überhört. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in
mir.

»Er wollte mir einen Mantel schenken,« fuhr Charousek laut fort. »Ich
habe natürlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut
genug. -- Und dann hat er mir Geld aufgedrängt.«

»Sie haben es angenommen?!« wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.

Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:

»Das Geld habe ich selbstverständlich angenommen.«

Mir wurde ganz wirr im Kopf!

»-- an -- genommen?« stammelte ich.

»Ich hätte nie gedacht, daß man auf Erden eine so reine Freude empfinden
kann!« -- Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine Fratze.
-- »Ist es nicht ein erhebendes Gefühl, im Haushalt der Natur
>Mütterchen Vorsehungs< ökonomischen Finger allenthalben in Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?« -- Er sprach wie ein Pastor und klimperte
dabei mit dem Geld in seiner Tasche, -- »wahrlich, als hehre Pflicht
empfinde ich es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller
und Pfennig dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzuführen.«

War er betrunken? Oder wahnsinnig?

Charousek änderte plötzlich den Ton:

»Es liegt eine satanische Komik darin, daß Wassertrum sich die -- Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?«

Eine Ahnung dämmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.

Ȇbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Geschäfte. Vorhin, die Dame, das war >_sie_< doch? Was ist ihr
denn eingefallen, hier öffentlich vorzufahren?«

Ich erzählte Charousek, was geschehen war.

»Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den Händen,« unterbrach er
mich freudig, »sonst hätte er nicht heute morgen abermals das Atelier
durchsucht. -- Merkwürdig, daß Sie ihn nicht gehört haben!? Eine volle
Stunde lang war er drüben.«

Ich staunte, woher er alles so genau wissen könne, und sagte es ihm.

»Darf ich?« -- als Erklärung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch,
zündete sie an und erläuterte: -- »Sehen Sie, wenn Sie jetzt die Tür
öffnen, bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den
Tabaksrauch aus der Richtung. Es ist das vielleicht das einzige
Naturgesetz, das Herr Wassertrum genau kennt, und für alle Fälle hat er
in der Straßenmauer des Ateliers -- das Haus gehört ihm, wie Sie wissen
-- eine kleine, versteckte, offene Nische anbringen lassen: eine Art
Ventilation, und darin ein rotes Fähnchen. Wenn nun jemand das Zimmer
betritt oder verläßt, das heißt: die Zugtür öffnet, so merkt es
Wassertrum unten aus dem heftigen Flattern des Fähnchens. Allerdings
weiß ich es ebenfalls,« setzte Charousek trocken hinzu, »wenn's mir drum
zu tun ist, und kann es von dem Kellerloch ^vis-à-vis^, in dem zu hausen
ein gnädiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. --
Der niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des
würdigen Patriarchen, aber auch mir seit Jahren geläufig.«

»Was für einen übermenschlichen Haß Sie gegen ihn haben müssen, daß Sie
so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie
sagen!« warf ich ein.

»Haß?« Charousek lächelte krampfhaft. »Haß? -- Haß ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefühle gegen ihn bezeichnen könnte, muß erst
geschaffen werden. -- Ich hasse, genau genommen, auch gar nicht _ihn_.
Ich hasse sein Blut. Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier,
wenn auch nur ein Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen
fließt, -- und« -- er biß die Zähne zusammen -- »das kommt >zuweilen<
vor hier im Ghetto.« Unfähig, weiter zu sprechen vor Aufregung lief er
ans Fenster und starrte hinaus. -- Ich hörte, wie er sein Keuchen
unterdrückte. Wir schwiegen beide eine Weile.

»Hallo, was ist denn das?« fuhr er plötzlich auf und winkte mir hastig:
»Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?«

Wir spähten vorsichtig hinter den Vorhängen hinunter:

Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trödlerladens und bot,
soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf
an. Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine
Höhle zurück.

Gleich darauf stürzte er wieder hervor -- totenblaß -- und packte
Jaromir an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. -- Mit einem
Mal ließ Wassertrum los und schien zu überlegen. Nagte wütend an seiner
gespaltenen Oberlippe. Warf einen grübelnden Blick zu uns herauf und zog
dann Jaromir am Arm friedlich in seinen Laden.

Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig
werden zu können mit ihrem Handel.

Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und ging
seines Weges.

»Was halten Sie davon?« fragte ich. »Es scheint nichts Wichtiges zu
sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand
versilbert.«

Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den
Tisch.

Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:

»Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. -- Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben.
Ich darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich
sonst nachher wie Ernüchterung. Ein Mensch mit Schamgefühl soll in
kühlen Worten reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder --
oder ein Dichter. -- Seit die Welt steht, wär's niemand eingefallen, vor
Leid die >Hände zu ringen<, wenn nicht die Schauspieler diese Geste als
besonders >plastisch< ausgetüftelt hätten.«

Ich begriff, daß er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich Ruhe
zu bekommen.

Es wollte ihm nicht recht gelingen. Nervös lief er im Zimmer auf und ab,
faßte alle möglichen Gegenstände an und stellte sie zerstreut zurück an
ihren Platz.

Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:

»Aus den kleinsten unwillkürlichen Bewegungen eines Menschen verrät sich
mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die >ihm< ähnlich sehen und als seine
_gelten_, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme, -- man kann mich
nicht täuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daß Dr. Wassory sein Sohn
ist, aber ich habe es -- ich möchte sagen -- gerochen.

Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen
Beziehungen Wassertrum zu mir steht,« -- sein Blick ruhte eine Sekunde
forschend auf mir, -- »besaß ich diese Gabe. Man hat mich mit Füßen
getreten, mich geschlagen, daß es wohl keine Stelle an meinem Körper
gibt, die nicht wüßte, was rasender Schmerz ist, -- hat mich hungern und
dursten lassen, bis ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde
gefressen habe, aber niemals konnte ich diejenigen hassen, die mich
peinigten. Ich _konnte_ einfach nicht. Es war kein Platz mehr in mir für
Haß. -- Verstehen Sie? Und doch war mein ganzes Wesen getränkt damit.

Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan -- ich will damit
sagen, daß er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch
irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten
herumtrieb: ich weiß das genau, -- und doch richtete sich alles, was an
Rachsucht und Wut in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!

Merkwürdig ist, daß ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack
gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurück. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der Haustüre
versteckt, durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis
mir vor unerklärlichem Haßgefühl schwarz vor den Augen wurde.

Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt, das
sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in
Berührung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muß wohl jede
seiner Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen, und wie er Sachen
anfaßt, hustet und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewußt
_auswendig_ gelernt haben, bis sich's mir in die Seele fraß, daß ich
überall die Spuren davon auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit
als seine Erbstücke erkennen kann.

Später wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstände
von mir, bloß weil mich der Gedanke quälte, seine Hand könne sie berührt
haben, -- andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie
Freunde, die ihm Böses wünschten.«

Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem
Tisch.

»Als dann ein paar mitleidige Lehrer für mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte -- auch nebenbei selbst denken lernte
--, da kam mir langsam die Erkenntnis, was Haß ist:

Wir können nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von
uns selbst ist.

Und wie ich später dahinter kam, -- nach und nach alles erfuhr: was
meine Mutter war -- und -- und noch sein muß, wenn -- wenn sie noch
lebt, -- und daß mein eigner Leib« -- er wendete sich ab, damit ich sein
Gesicht nicht sehen sollte, -- »voll ist von _seinem_ eklen Blut -- nun
ja, Pernath, -- warum sollen Sie's nicht wissen: _er_ ist _mein Vater_!
-- da wurde mir klar, wo die Wurzel lag. -- -- -- Zuweilen kommt's mir
sogar wie ein geheimnisvoller Zusammenhang vor, daß ich schwindsüchtig
bin und Blut spucken muß: mein Körper wehrt sich gegen alles, was von
>_ihm_< ist, und stößt es mit Abscheu von sich.

Oft hat mich mein Haß bis in den Traum begleitet und zu trösten gesucht
mit Gesichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich >ihm< zufügen
durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden
Beigeschmack des -- Unbefriedigtseins in mir hinterließen.

Wenn ich über mich selbst nachdenke und mich wundern muß, daß es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, -- ja nicht
einmal als antipathisch zu empfinden imstande wäre, außer >ihn< und
seinen Stamm, -- beschleicht mich oft das widerliche Gefühl: ich könnte
das sein, was man einen >guten Menschen< nennt. Aber zum Glück ist es
nicht so. -- Ich sagte Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.

Und glauben Sie nur ja nicht, daß ein trauriges Schicksal mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich überdies
erst in späteren Jahren) -- ich habe _einen_ Freudentag erlebt, der weit
in den Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergönnt ist. Ich
weiß nicht, ob Sie kennen, was innere, echte, heiße Frömmigkeit ist, --
ich hatte es bis dahin auch nicht gekannt -- als ich aber an jenem Tage,
an dem Wassory sich selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und
sah, wie >er< die Nachricht bekam, -- sie >stumpfsinnig<, wie ein Laie,
der die echte Bühne des Lebens nicht kennt, hätte glauben müssen, --
hinnahm, wohl eine Stunde lang teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote
Hasenscharte nur ein ganz klein bißchen höher über die Zähne gezogen als
sonst und den Blick so gewiß -- -- so -- so -- so eigenartig nach innen
gekehrt, -- -- -- -- da fühlte ich den Weihrauchduft von den Schwingen
des Erzengels. -- -- Kennen Sie das Gnadenbild der schwarzen
Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder, und die
Finsternis des Paradieses hüllte meine Seele ein.« --

-- -- -- Wie ich Charousek so dastehen sah, die großen, träumerischen
Augen voll Tränen, da fielen mir Hillels Worte ein von der
Unbegreiflichkeit des dunklen Pfades, den die Brüder des Todes gehen.

Charousek fuhr fort:

»Die äußeren Umstände, die meinen Haß >rechtfertigen< oder in den
Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen
könnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: -- Tatsachen
sehen sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie
sind das aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der
Protzen, das nur der Schwachsinnige für das wesentliche eines Gelages
hält. -- Wassertrum hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln,
die seinesgleichen Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu willen zu sein, --
wenn es nicht noch viel schlimmer war. Und dann -- -- nun ja -- und dann
hat er sie an -- ein Freudenhaus verkauft, -- -- -- so etwas ist nicht
schwer, wenn man Polizeiräte zu Geschäftsfreunden hat, -- aber nicht
etwa, weil er ihrer überdrüssig gewesen wäre, o nein! Ich kenne die
Schlupfwinkel seines Herzens: an _dem_ Tage hat er sie verkauft, wo er
sich voll Schrecken bewußt wurde, wie heiß er sie in Wirklichkeit
liebte. So einer wie er handelt da scheinbar widersinnig, aber immer
gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht auf, sowie jemand
kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trödlerbude gegen noch so
teures Geld: er empfindet nur den Zwang des >Hergebenmüssens<. Er möchte
den Begriff >haben< am liebsten in sich hineinfressen, und könnte er
sich überhaupt ein Ideal ausdenken, so wär's das, sich dereinst in den
abstrakten Begriff >Besitz< aufzulösen. -- --

Und da ist es damals riesengroß in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst: »seiner selbst nicht mehr sicher« zu sein, -- nicht: etwas an
Liebe geben zu _wollen_, sondern geben zu _müssen_: die Gegenwart eines
Unsichtbaren in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er
möchte, daß es sein Wille sein solle, heimlich in Fesseln schlug. -- So
war der Anfang. Was dann folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht
mechanisch zubeißen muß, -- ob er will oder nicht -- wenn ein blitzender
Gegenstand zu rechter Zeit vorüberschwimmt.

Das Verschachern meiner Mutter ergab sich für Wassertrum als natürliche
Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften:
die Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. -- -- --
Verzeihen Sie, Meister Pernath,« -- Charouseks Stimme klang plötzlich so
hart und nüchtern, daß ich erschrak, -- »verzeihen Sie, daß ich so
furchtbar gescheit daherrede, aber wenn man an der Universität ist,
kommt einem eine Menge vertrottelter Bücher unter die Hände;
unwillkürlich verfällt man da in eine teppenhafte Ausdrucksweise.« --

Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Lächeln; innerlich verstand ich
gar wohl, daß er mit dem Weinen kämpfte.

Irgendwie muß ich ihm helfen, überlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm
unauffällig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.

»Wenn Sie später einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als Arzt ausüben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek;«
sagte ich, um dem Gespräch eine versöhnliche Richtung zu geben, --
»machen Sie bald Ihr Doktorat?«

»Demnächst. Ich bin es meinen Wohltätern schuldig. Zweck hat's ja
keinen, denn meine Tage sind gezählt.«

Ich wollte den üblichen Einwand machen, daß er wohl zu schwarz sehe,
aber er wehrte lächelnd ab:

»Es ist das beste so. Es muß überdies kein Vergnügen sein, den
Heilkomödianten zu mimen und sich zu guter Letzt noch als diplomierter
Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. -- -- Andererseits,« --
setzte er mit seinem galligen Humor hinzu, -- »wird mir leider jedes
weitere segensreiche Wirken hier im Diesseits-Ghetto ein für allemal
abgeschnitten sein.« Er griff nach seinem Hut. »Jetzt will ich aber
nicht länger stören. Oder wäre noch etwas zu besprechen in der
Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen Sie mich jedenfalls
wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie hängen einen
Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, daß ich Sie besuchen soll. Zu mir
in den Keller dürfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum würde sofort
Verdacht schöpfen, daß wir zusammenhalten. -- Ich bin übrigens sehr
neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, daß die Dame zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hätte Ihnen ein
Schmuckstück zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird,
spielen Sie eben den Rabiaten.«

Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die
Banknote aufzudrängen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom
Fensterbrett und sagte: »Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stück die
Treppen hinunter. -- Hillel erwartet mich,« log ich.

Er stutzte:

»Sie sind mit ihm befreundet?«

»Ein wenig. Kennen Sie ihn? -- -- Oder mißtrauen Sie ihm,« -- ich mußte
unwillkürlich lächeln -- »vielleicht auch?«

»Da sei Gott vor!«

»Warum sagen Sie das so ernst?«

Charousek zögerte und dachte nach:

»Ich weiß selbst nicht warum. Es muß etwas Unbewußtes sein: so oft ich
ihm auf der Straße begegne, möchte ich am liebsten vom Pflaster
heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die
Hostie trägt. -- Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen
Menschen, der in jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z.
B. bei den Christen hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem
Fall falsch informiert sind, als Geizhals und heimlicher Millionär und
ist doch unsagbar arm.«

Ich fuhr entsetzt auf: »arm?«

»Ja, womöglich noch ärmer als ich. Das Wort >nehmen< kennt er, glaub'
ich, überhaupt nur aus Büchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus
dem >Rathaus< kommt, dann laufen die jüdischen Bettler vor ihm davon,
weil sie wissen, er würde dem nächsten besten von ihnen seinen ganzen
kärglichen Gehalt in die Hand drücken und ein paar Tage später -- samt
seiner Tochter selber verhungern. -- Wenn's wahr ist, was eine uralte
talmudische Legende behauptet: daß von den zwölf jüdischen Stämmen zehn
verflucht sind und zwei heilig, so verkörpert er die zwei heiligen und
Wassertrum alle zehn andern zusammen. -- Haben Sie noch nie bemerkt, wie
Wassertrum sämtliche Farben spielt, wenn Hillel an ihm vorübergeht?
Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen Sie, _solches_ Blut _kann_ sich gar
nicht vermischen; da kämen die Kinder tot zur Welt. Vorausgesetzt, daß
die Mütter nicht schon früher vor Entsetzen stürben. -- Hillel ist
übrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht herantraut; -- er
weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das
Unbegreifliche, das vollkommen Unenträtselbare, für ihn bedeutet.
Vielleicht wittert er in ihm auch den Kabbalisten.«

Wir gingen bereits die Stiegen hinab.

»Glauben Sie, daß es heutzutage noch Kabbalisten gibt -- daß überhaupt
an der Kabbala etwas sein könnte?« fragte ich, gespannt, was er wohl
antworten würde, aber er schien nicht zugehört zu haben.

Ich wiederholte meine Frage.

Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tür des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:

»Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jüdische aber arme
Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit
den kleinen Mädchen, kommt der Rappel über ihn: dann bindet er sie an
den Daumen zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwängt sie in
einen alten Hühnerkäfig und unterweist sie im >Gesang<, wie er es nennt,
damit sie später ihren Lebensunterhalt selbst erwerben können, -- das
heißt, er lehrt sie die verrücktesten Lieder, die es gibt, deutsche
Texte, Bruchstücke, die er irgendwo aufgeschnappt hat und im Dämmer
seines Seelenzustandes für -- preußische Schlachthymnen oder dergleichen
hält.«

Wirklich tönte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen kratzte fürchterlich hoch und immerwährend in ein und
demselben Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendünne
Kinderstimmen sangen dazu:

      »Frau Pick,
      Frau Hock,
   Frau Kle -- pe -- tarsch,
   se stehen beirenond
   und schmusen allerhond -- --«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich mußte wider Willen
hellaut auflachen.

»Schwiegersohn Schaffranek -- seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt
Gurkensaft gläschenweise an die Schuljugend -- läuft den ganzen Tag in
den Bureaus herum,« fuhr Charousek grimmig fort, »und erbettelt sich
alte Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter
findet, die zufällig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie
aufeinander und schneidet sie durch. Die ungestempelten Hälften klebt er
zusammen und verkauft sie als neu. Anfangs blühte das Geschäft und warf
manchmal fast einen -- Gulden im Tag ab, aber schließlich kamen die
Prager jüdischen Großindustriellen dahinter -- und machen es jetzt
selber. Sie schöpfen den Rahm ab.«

»Würden _Sie_ Not lindern, Charousek, wenn Sie überflüssiges Geld
hätten?« fragte ich rasch. -- Wir standen vor Hillels Tür, und ich
klopfte an.

»Halten Sie mich für so gemein, daß Sie glauben können, ich täte es
nicht?« fragte er verblüfft zurück.

Mirjams Schritte kamen näher und ich wartete, bis sie die Klinke
niederdrückte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
»Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafür, aber mich _müßten_ Sie
für gemein halten, wenn ich's unterließe.«

Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschüttelt und die
Tür hinter mir zugezogen. Während mich Mirjam begrüßte, lauschte ich,
was er tun würde.

Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging
langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich
am Geländer halten muß.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Es war das erstemal, daß ich Hillels Zimmer besucht hatte.

Es sah schmucklos aus wie ein Gefängnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weißem Sand bestreut. Nichts an Möbeln als zwei Stühle und ein Tisch
und eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den Wänden.
-- -- --

Mirjam saß mir gegenüber am Fenster, und ich bossierte an meinem
Modellierwachs.

»Muß man denn ein Gesicht _vor sich_ haben, um die Ähnlichkeit zu
treffen?« fragte sie schüchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.

Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wußte nicht, wohin
die Augen richten in ihrer Qual und Scham über die jammervolle Stube,
und mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daß ich mich nicht
längst gekümmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.

Aber irgend etwas mußte ich doch antworten!

»Nicht so sehr, um die Ähnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen, ob
man innerlich auch richtig gesehen hat,« ich fühlte, noch während ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.

Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man müsse die
äußere Natur studieren, um künstlerisch schaffen zu können, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst seit Hillel mich in jener Nacht erweckt,
war mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre Sehenkönnen hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen
aufschlägt, -- die Gabe, die sie alle zu haben glauben und doch unter
Millionen keiner wirklich besitzt.

Wie konnte ich auch nur von der _Möglichkeit_ sprechen, die unfehlbare
Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins
nachmessen zu wollen!

Mirjam schien Ähnliches zu denken. Nach dem Erstaunen in ihren Mienen zu
schließen.

»Sie dürfen es nicht so wörtlich nehmen,« entschuldigte ich mich.

Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form
vertiefte.

»Es muß unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu
übertragen?«

»Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens.«

Pause.

»Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?« fragte sie.

»Sie ist doch für Sie bestimmt, Mirjam.«

»Nein, nein; das geht nicht, -- -- das -- das -- --,« -- ich sah, wie
ihre Hände nervös wurden.

»Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?« unterbrach
ich sie schnell, »ich wollte, ich dürfte mehr für Sie tun.«

Hastig wandte sie das Gesicht ab.

Was hatte ich da gesagt! Ich mußte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.

Konnte ich es noch beschönigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?

Ich nahm einen Anlauf:

»Hören Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. -- Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, -- Sie können das gar nicht ermessen --
--«

Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.

»-- ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben.«

»Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmächtig wurden? Das war doch
selbstverständlich.«

Ich fühlte: sie wußte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater
verknüpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.

»Weit höher als äußere Hilfe, dächte ich, ist die innere zu stellen. --
Ich meine die, die aus dem geistigen Einfluß eines Menschen auf den
andern überstrahlt. -- Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam?
-- Man kann jemand auch seelisch heilen, nicht nur körperlich, Mirjam.«

»Und das hat -- --?«

»Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!« -- ich faßte sie an der Hand, --
»begreifen Sie nicht, daß es mir da ein Herzenswunsch sein muß, wenn
schon nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht wie Sie,
irgendeine Freude zu bereiten? -- Haben Sie nur ein ganz klein wenig
Vertrauen zu mir! -- Gibt's denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen
erfüllen könnte?«

Sie schüttelte den Kopf: »Sie glauben, ich fühle mich unglücklich hier?«

»Gewiß nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen könnte? Sie sind verpflichtet -- hören Sie! -- verpflichtet,
mich daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der
finstern, traurigen Gasse, wenn Sie nicht müßten? Sie sind noch so jung,
Mirjam, und -- --«

»Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath,« unterbrach sie mich
lächelnd, »was fesselt denn Sie an das Haus?«

Ich stutzte. -- Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich
hier? Ich konnte es mir nicht erklären, was fesselt dich an das Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine Erklärung finden
und vergaß einen Augenblick ganz, wo ich war. -- Dann stand ich
plötzlich entrückt irgendwo hoch oben -- in einem Garten -- roch den
zauberhaften Duft von blühenden Holunderdolden, -- sah herab auf die
Stadt -- -- --

»Habe ich eine Wunde berührt? Hab' ich Ihnen weh getan?« kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.

Sie hatte sich über mich gebeugt und sah mir ängstlich forschend ins
Gesicht.

Ich mußte wohl lange starr dagesessen haben, daß sie so besorgt war.

Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plötzlich
gewaltsam Bahn, überflutete mich, und ich schüttete Mirjam mein ganzes
Herz aus.

Ich erzählte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein
ganzes Leben beisammen war, und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um
mich stand, und auf welche Weise ich aus einer Erzählung Zwakhs erfahren
hatte, daß ich in früheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung
an meine Vergangenheit beraubt worden war, -- wie in letzter Zeit Bilder
in mir wach geworden, die in jenen Tagen wurzeln mußten, immer häufiger
und häufiger, und daß ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar
werden und mich von neuem zerreißen würde.

Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen mußte: -- meine
Erlebnisse in den unterirdischen Gängen und all das übrige, verschwieg
ich ihr.

Sie war dicht zu mir gerückt und hörte mit einer tiefen, atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsäglich wohl tat.

Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. -- Gewiß
wohl: Hillel war ja noch da, aber für mich nur wie ein Wesen jenseits
der Wolken, das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht
herankonnte, wenn ich mich sehnte.

Ich sagte es ihr, und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.

Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm -- »und doch bin ich
wie durch eine Glaswand von ihm getrennt,« vertraute sie mir an, »die
ich nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. -- Wenn ich
ihn als Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das
Gewand des Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12
Steinen darin auf der Brust, und blaue, leuchtende Strahlen gingen von
seinen Schläfen aus. -- Ich glaube, seine Liebe ist von der Art, die
übers Grab hinausgeht, und zu groß, als daß wir sie fassen könnten. --
Das hat auch meine Mutter immer gesagt, wenn wir heimlich über ihn
sprachen.« -- -- Sie schauderte plötzlich und zitterte am ganzen Leib.
Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurück: »Seien Sie ruhig, es
ist nichts. Bloß eine Erinnerung. Als meine Mutter starb, -- nur ich
weiß, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein kleines Mädchen,
-- glaubte ich vor Schmerz ersticken zu müssen, und ich lief zu ihm hin
und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte doch
nicht, weil alles gelähmt war in mir -- und -- und da -- -- -- -- mir
läuft's wieder eiskalt über den Rücken, wenn ich daran denke -- -- sah
er mich lächelnd an, küßte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand
über die Augen. -- -- -- -- Und von dem Moment an bis heute war jedes
Leid, daß ich meine Mutter verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht
eine Träne konnte ich vergießen, als sie begraben wurde; ich sah die
Sonne als strahlende Hand Gottes am Himmel stehen und wunderte mich,
warum die Menschen weinten. Mein Vater ging hinter dem Sarge her, neben
mir, und wenn ich aufblickte, lächelte er jedesmal leise, und ich
fühlte, wie das Entsetzen durch die Menge fuhr, als sie es sahen.«

»Und sind Sie glücklich, Mirjam? Ganz glücklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares für Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben,
das hinausgewachsen ist über alles Menschentum?« fragte ich leise.

Mirjam schüttelte freudig den Kopf:

»Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. -- Als Sie mich vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hätte, und warum wir hier
wohnten, mußte ich fast lachen. Ist denn die Natur schön? Nun ja, die
Bäume sind grün und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir
viel schöner vorstellen, wenn ich die Augen schließe. Muß ich denn, um
sie zu sehen, auf einer Wiese sitzen? -- Und das bißchen Not und -- und
-- und Hunger? Das wird tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und
das Warten.«

»Das Warten?« fragte ich erstaunt.

»Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie aber
ein ganz, ganz armer Mensch. -- Daß das so wenige kennen?! Sehen Sie,
das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand
verkehre. Ich hatte wohl früher ein paar Freundinnen -- Jüdinnen
natürlich, wie ich --, aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie
verstanden mich nicht und ich sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach,
glaubten sie anfangs, ich mache Spaß, und als sie merkten, wie ernst es
mir war, und daß ich auch unter Wundern nicht das verstand, was die
Deutschen mit ihren Brillen so bezeichnen: das gesetzmäßige Wachsen des
Grases und dergleichen, sondern eher das Gegenteil, -- hätten sie mich
am liebsten für verrückt gehalten, aber dagegen stand ihnen wieder im
Wege, daß ich ziemlich gelenkig bin im Denken, hebräisch und aramäisch
gelernt habe, die Targumim und Midraschim lesen kann, und was
dergleichen Nebensächlichkeiten mehr sind. Schließlich fanden sie ein
Wort, das überhaupt nichts mehr ausdrückt: sie nannten mich
>überspannt<.

Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, daß das Bedeutsame -- das
Wesentliche -- für mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das
_Wunder_ und bloß das Wunder sei und nicht Vorschriften über Moral und
Ethik, die nur versteckte Wege sein können, um zum Wunder zu gelangen,
-- so wußten sie nur mit Gemeinplätzen zu erwidern, denn sie scheuten
sich, offen einzugestehen, daß sie aus den Religionsschriften nur das
glaubten, was ebensogut im bürgerlichen Gesetzbuch stehen könnte. Wenn
sie das Wort >Wunder< nur hörten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie
verlören den Boden unter den Füßen, sagten sie.

Als ob es etwas Herrlicheres geben könnte, als den Boden unter den Füßen
zu verlieren!

Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hörte ich
einmal meinen Vater sagen, -- dann, dann erst fängt das Leben an. -- Ich
weiß nicht, was er mit dem >Leben< meinte, aber ich fühle zuweilen, daß
ich eines Tages so wie: >erwachen< werde. Wenn ich mir auch nicht
vorstellen kann, in welchen Zustand hinein. Und Wunder müssen dem
vorhergehen, denke ich mir immer.

>Hast du denn schon welche erlebt, daß du fortwährend darauf wartest?<
fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie
plötzlich froh und siegesgewiß. Sagen Sie, Herr Pernath, können _Sie_
solche Herzen verstehen? Daß ich _doch_ Wunder erlebt habe, wenn auch
nur kleine, -- winzig kleine --,« -- Mirjams Augen glänzten, -- »wollte
ich ihnen nicht verraten, -- -- -- -- -- --«

Ich hörte, wie Freudentränen ihre Stimme fast erstickten.

»-- aber _Sie_ werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate,« -- Mirjam
wurde ganz leise, -- »haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein
Brot mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wußte ich:
jetzt ist die Stunde da! -- Und dann saß ich hier und wartete und
wartete, bis ich vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und -- und
dann, wenn's mich plötzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer
durch die Straßen, so rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause
zu sein, ehe mein Vater heimkam. Und -- und jedesmal fand ich Geld.
Einmal mehr, einmal weniger, aber immer soviel, daß ich das Nötigste
einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden mitten auf der Straße; ich sah ihn
von weitem blitzen und die Leute traten darauf, rutschten aus darüber,
aber keiner bemerkte ihn. -- Das machte mich zuweilen so übermütig, daß
ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in der Küche den Boden
durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom Himmel gefallen
sei.«

-- Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf, und ich mußte aus Freude
darüber lächeln. --

Sie sah es.

»Lachen Sie nicht, Herr Pernath,« flehte sie. »Glauben Sie mir, ich
weiß, daß diese Wunder wachsen werden, und daß sie eines Tages --«

Ich beruhigte sie: »Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich glücklich, daß Sie nicht sind wie die andern,
die hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's
-- _wir_ rufen in solchen Fällen: Gott sei Dank! -- einmal anders
kommt.«

Sie streckte mir die Hand hin:

»Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daß Sie mir --
oder uns -- helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daß Sie mir die
Möglichkeit, ein Wunder zu erleben, rauben würden, wenn Sie es täten?«

Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.

Da ging die Tür, und Hillel trat ein.

Mirjam umarmte ihn; und er begrüßte mich. Herzlich und voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kühlen »Sie«.

Auch schien etwas wie leise Müdigkeit oder Unsicherheit auf ihm zu
lasten. -- Oder irrte ich mich?

Vielleicht kam es nur von der Dämmerung, die in der Stube lag.

»Sie sind gewiß hier, mich um Rat zu fragen,« fing er an, als Mirjam uns
allein gelassen hatte, »in der Sache, die die fremde Dame betrifft --
--?«

Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:

»Ich weiß es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse
an, weil er mir merkwürdig verändert vorkam. Er hat mir alles erzählt.
In der Überfülle seines Herzens. Auch, daß -- Sie ihm Geld geschenkt
haben.« Er sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf
höchst seltsame Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:

»Gewiß, es hat dadurch ein paar Tropfen Glück mehr vom Himmel geregnet
-- und -- und in diesem -- Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet,
aber --,« er dachte eine Weile nach, -- »aber manchmal schafft man sich
und anderen nur Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie
denken, mein lieber Freund! Da wäre es sehr, sehr einfach, die Welt zu
erlösen. -- Oder glauben Sie nicht?«

»Geben _Sie_ denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen,
Hillel?« fragte ich.

Er schüttelte lächelnd den Kopf: »Mir scheint, Sie sind über Nacht ein
Talmudist geworden, daß Sie eine Frage wieder mit einer Frage
beantworten. Da ist freilich schwer streiten.«

Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.

»Übrigens, um zu dem Thema zurückzukommen,« fuhr er in verändertem Tone
fort, »ich glaube nicht, daß Ihrem Schützling -- ich meine die Dame --
augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten.
Es heißt zwar: >der kluge Mann baut vor<, aber der Klügere, scheint mir,
wartet ab und ist auf alles gefaßt. Vielleicht ergibt sich die
Gelegenheit, daß Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muß
dann von ihm ausgehen, -- ich tue keinen Schritt, _er_ muß
herüberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist gleichgültig, -- und dann
will ich mit ihm reden. An _ihm_ wird's sein, sich zu entscheiden, ob er
meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine Hände in
Unschuld.«

Ich versuchte ängstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und
eigentümlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.

»Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns,« fielen mir Mirjams
Worte ein.

Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drücken und -- gehen.

Er begleitete mich bis vor die Türe und, als ich die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daß er stehen geblieben war und
mir freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen
möchte und nicht kann.




                                Angst


Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine
Wirtsstube »Zum alten Ungelt« essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh,
Vrieslander und Prokop bis spät in die Nacht beisammen saßen und
einander verrückte Geschichten erzählten; aber kaum betrat ich mein
Zimmer, da fiel der Vorsatz von mir ab, -- wie wenn mir Hände ein Tuch
oder sonst etwas, was ich am Leibe getragen, abgerissen hätten.

Es lag eine Spannung in der Luft, über die ich mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und
sich im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich übertrug, daß
ich vor Unruhe anfangs kaum wußte, was ich zuerst tun sollte: Licht
anzünden, hinter mir abschließen, mich niedersetzen oder auf und ab
gehen.

Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich
ansteckte? War Wassertrum vielleicht hier?

Ich griff hinter die Gardinen, öffnete den Schrank, ein Blick ins
Nebenzimmer: -- niemand.

Auch die Kassette stand unverrückt an ihrem Platz.

Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein für allemal die Sorge um sie los zu sein?

Schon suchte ich nach dem Schlüssel in meiner Westentasche -- aber mußte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen früh.

Erst Licht machen!

Ich konnte die Streichhölzer nicht finden.

War die Tür abgesperrt? -- Ich ging ein paar Schritte zurück. Blieb
wieder stehen.

Warum mit einem Male die Angst?

Ich wollte mir Vorwürfe machen, daß ich feig sei: -- die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.

Eine wahnwitzige Idee überfiel mich plötzlich: Rasch, rasch auf den
Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und »dem« den
Schädel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden
herumkroch, -- -- wenn -- wenn es in die Nähe kam.

»Es ist doch niemand hier,« sagte ich mir laut und ärgerlich vor, »hast
du dich denn je im Leben gefürchtet?«

Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dünn und schneidend
wie Äther.

Wenn ich _irgend etwas gesehen_ hätte: das Gräßlichste, was man sich
vorstellen kann, -- im Nu wäre die Furcht von mir gewichen.

Es kam nichts.

Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:

Nichts.

Überall lauter wohlbekannte Dinge: Möbel, Truhen, die Lampe, das Bild,
die Wanduhr -- leblose, alte, treue Freunde.

Ich hoffte, sie würden sich vor meinen Blicken verändern und mir Grund
geben, eine Sinnestäuschung als Ursache für das würgende Angstgefühl in
mir zu finden.

Auch das nicht. -- Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr
für das herrschende Halbdunkel, als daß es natürlich gewesen wäre.

»Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst,« fühlte ich. »Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen.«

Warum tickt die Wanduhr nicht? --

Das Lauern ringsum trank jeden Laut.

Ich rüttelte am Tisch und wunderte mich, daß ich das Geräusch hören
konnte.

Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! -- Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: -- das Feuer war erloschen.

Und immerwährend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft -- pausenlos,
lückenlos, wie das Rinnen von Wasser.

Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich
verzweifelte daran, es je überdauern zu können. -- Der Raum voll Augen,
die ich nicht sehen, -- voll von planlos wandernden Händen, die ich
nicht greifen konnte.

»Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die lähmende
Schrecknis des unfaßbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm
Denken die Grenzen zerfrißt,« begriff ich dumpf.

Ich stellte mich steif hin und wartete.

Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht ließ »es« sich verleiten und
schlich von rückwärts an mich heran -- und ich konnte es ertappen?!

Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.

Dasselbe markverzehrende »Nichts«, das _nicht war_ und doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfüllte.

Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?

»Es würde mit mir gehen,« wußte ich sofort mit unabweisbarer Sicherheit.
Auch, daß es mir nichts nützen könnte, wenn ich Licht machte, sah ich
ein, -- dennoch suchte ich so lang nach dem Feuerzeug, bis ich es
gefunden hatte.

Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben,
und als sie sich endlich doch ein schwindsüchtiges Dasein erkämpft
hatte, blieb sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war
die Dunkelheit noch besser.

Ich löschte wieder aus und warf mich angezogen übers Bett. Zählte die
Schläge meines Herzens: eins, zwei, drei -- vier ... bis tausend, und
immer von neuem -- Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine
Lippen trocken wurden und das Haar sich mir sträubte: keine Sekunde der
Erleichterung.

Auch nicht eine einzige.

Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge
kamen: »Prinz«, »Baum«, »Kind«, »Buch« -- und sie krampfhaft zu
wiederholen, bis sie plötzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus
barbarischer Vorzeit nackt mir gegenüberstanden, und ich mit aller Kraft
nachdenken mußte, in ihre Bedeutung zurückzufinden: P--r--i--n--z? --
B--u--ch?

War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? -- Ich tastete an mir
herum.

Aufstehen!

Mich in den Sessel setzen!

Ich ließ mich in den Lehnstuhl fallen.

Wenn doch endlich der Tod käme!

Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fühlen! »Ich -- will
nicht -- ich -- will -- nicht,« -- schrie ich. »Hört ihr denn nicht?!«

Kraftlos fiel ich zurück.

Konnte es nicht fassen, daß ich immer noch lebte.

Unfähig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Weshalb er mir nur die Körner so beharrlich hinreicht?« ebbte ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurück und kam wieder. Zog sich zurück.
Kam wieder.

Langsam wurde mir endlich klar, daß ein seltsames Wesen vor mir stand --
vielleicht schon, seit ich hier saß, dagestanden hatte -- und mir die
Hand hinstreckte:

Ein graues, breitschultriges Geschöpf, in der Größe eines gedrungen
gewachsenen Menschen, auf einen spiralförmig gedrehten Knotenstock aus
weißem Holz gestützt.

Wo der Kopf hätte sitzen müssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.

Ein trüber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.

Ein Gefühl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung.
Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht,
drängte sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen
zur Form geronnen.

Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich würde wahnsinnig werden vor
Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen könnte, --
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren -- und doch zog es mich
wie ein Magnet, daß ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht
wenden konnte und darin forschte nach Augen, Nase und Mund.

Aber so sehr ich mich auch abmühte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl
glückte es mir, Köpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal
wußte ich, daß sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.

Sie zerrannen auch stets -- fast in derselben Sekunde, wo ich sie
geschaffen hatte.

Nur die Form eines ägyptischen Ibiskopfs blieb noch am längsten
bestehen.

Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit,
zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter
langsamen Atemzügen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige
Bewegung, die zu bemerken war. Statt der Füße berührten Knochenstumpen
den Boden, von denen das Fleisch -- grau und blutleer -- auf
Spannenbreite zu wulstigen Rändern emporgezogen war.

Regungslos hielt das Geschöpf mir seine Hand hin.

Kleine Körner lagen darin. Bohnengroß, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.

Was sollte ich damit?!

Ich fühlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir -- eine
Verantwortung, die weit hinausging über alles Irdische, -- wenn ich
jetzt nicht das Richtige tat.

Zwei Wagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben Weltgebäudes,
schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich, -- auf welche von
beiden ich ein Stäubchen warf: die sank zu Boden.

_Das_ war das furchtbare Lauern ringsum! verstand ich. »Keinen Finger
rühren!« riet mir mein Verstand, -- »und wenn der Tod in alle Ewigkeit
nicht kommen sollte und mich erlösen aus dieser Qual.« --

Auch dann hättest du deine Wahl getroffen: du hättest die Körner
_abgelehnt_, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zurück.

Hilfe suchend blickte ich mich um, ob mir denn kein Zeichen würde, was
ich tun sollte.

Nichts.

Auch in mir kein Rat, kein Einfall, -- alles tot, gestorben.

Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich -- --.

Es mußte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die Wände meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.

Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hörte, daß jemand Schränke
rückte, Schubladen aufriß und polternd zu Boden warf, glaubte
Wassertrums Stimme zu erkennen, wie er in seinem röchelnden Baß wilde
Flüche ausstieß; ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das
Rascheln einer Maus. -- Ich schloß die Augen:

Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vorüber. Die Lider
zugedrückt -- starre Totenmasken: -- mein eigenes Geschlecht, meine
eigenen Vorfahren.

Immer dieselbe Schädelbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien, so
stand es auf aus seinen Grüften, -- mit glattem, gescheiteltem Haar,
gelocktem und kurz geschnittenem, mit Allongeperücken und in Ringe
gezwängten Schöpfen -- durch Jahrhunderte heran, bis die Züge mir
bekannter und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht
zusammenflossen: -- das Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner
Ahnen abbrach.

Dann löste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wußte, vor mir
der graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.

Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:

Die des einen Kreises gehüllt in Gewänder mit violettem Schimmer, die
des anderen mit rötlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von
hohem, unnatürlich schmächtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden
Tüchern verborgen.

Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, daß der Zeitpunkt der
Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den Körnern: -- und
da sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rötlichen Kreises
ging. --

Sollte ich die Körner zurückweisen?: das Zittern ergriff den bläulichen
Kreis; -- ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da -- in
derselben Stellung: regungslos wie früher.

Sogar sein Atmen hatte aufgehört.

Ich hob den Arm, wußte noch immer nicht, was ich tun sollte, und --
schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, daß die Körner über den
Boden hinrollten.

Einen Moment, so jäh wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das
Bewußtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu stürzen, -- dann stand
ich fest auf den Füßen.

Das graue Geschöpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rötlichen
Kreises.

Die bläulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und
hielten stumm -- es sah aus wie ein Schwur -- zwischen Zeigefinger und
Daumen die roten Körner in die Höhe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus
der Hand geschlagen hatte.

Ich hörte, wie draußen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und
brüllender Donner die Luft zerriß:

Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste über die
Stadt hinweg. Vom Fluß her dröhnten durch das Heulen des Sturms in
rhythmischen Intervallen die dumpfen Kanonenschüsse, die das Brechen der
Eisdecke auf der Moldau verkündeten. Die Stube loderte im Licht der
ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich fühlte mich plötzlich so
schwach, daß mir die Knie zitterten und ich mich setzen mußte.

»Sei ruhig,« sagte deutlich eine Stimme neben mir, »sei ganz ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Beschützung.« --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Allmählich ließ das Unwetter nach, und der betäubende Lärm ging über in
das eintönige Trommeln der Schloßen auf die Dächer.

Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, daß ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:

Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:

»_Den ihr suchet, der ist nicht hier._«

Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.

Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, darin kam der Name

                               »Henoch«

vor, aber ich verstand das übrige nicht: der Wind trug das Stöhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herüber.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Dann löste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust -- sie waren dieselben Buchstaben wie die
der übrigen -- und fragte mich, ob ich sie lesen könne.

Und als ich -- lallend vor Müdigkeit -- verneinte, streckte er die
Handfläche gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf
_meiner_ Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:

                       CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
                 -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. -- -- -- Und ich
fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht,
wo Hillel mir die Zunge gelöst, nicht mehr gekannt hatte.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                Trieb


Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum, daß
ich mir Zeit zu den Mahlzeiten ließ.

Ein unwiderstehlicher Drang nach äußerer Tätigkeit hatte mich von früh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.

Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind
darüber gefreut.

Auch der Buchstabe »I« in dem Buche Ibbur war ausgebessert.

Ich lehnte mich zurück und ließ ruhevoll all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorüberziehen:

Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestürzt kam mit der Meldung, die steinerne Brücke sei in
der Nacht eingestürzt. --

Seltsam: -- Eingestürzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die
Körner -- -- -- nein, nein, nicht daran denken; es könnte einen Anstrich
von Nüchternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir
vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von
selbst wieder erwachte, -- nur nicht daran rühren!

Wie lange war's her, da ging ich noch über die Brücke, sah die
steinernen Statuen, -- und jetzt lag sie, die Brücke, die Jahrhunderte
gestanden, in Trümmern.

Es stimmte mich beinahe wehmütig, daß ich nie mehr meinen Fuß auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr
die alte, geheimnisvolle, steinerne Brücke.

Stundenlang hatte ich, während ich an der Gemme schnitt, darüber
nachdenken müssen, und so selbstverständlich, als hätte ich es nie
vergessen gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind
und auch in späteren Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all
den andern, die jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern,
aufgeblickt hatte.

Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste -- und meinen Vater und
meine Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich
gewohnt, konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Ich wußte, es würde plötzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.

Die Empfindung, daß sich mit einem Male alles natürlich und einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.

Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, -- es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daß es aussah, nun, wie
eben ein altes, mit wertvollen Initialen geschmücktes Pergamentbuch
aussieht -- schien es mir ganz selbstverständlich.

Ich konnte nicht begreifen, daß es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!

Es war in hebräischer Sprache geschrieben, vollkommen unverständlich für
mich.

Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen würde?

Die Freude am Leben, die während der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und
verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterrücks wieder überfallen
wollten.

Rasch nahm ich Angelinas Bild -- ich hatte die Widmung, die darunter
stand, abgeschnitten -- und küßte es.

Es war das alles so töricht und widersinnig, aber warum nicht einmal von
-- Glück träumen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran
freuen, wie über eine Seifenblase?

Konnte denn nicht vielleicht doch in Erfüllung gehen, was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmöglich,
daß ich über Nacht ein berühmter Mann würde? Ihr ebenbürtig, wenn auch
nicht an Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbürtig? Ich dachte an die
Gemme Mirjams: wenn mir noch andere so gelangen, wie diese, -- kein
Zweifel, selbst die ersten Künstler aller Zeiten hatten nie etwas
Besseres geschaffen.

Und nur ein Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stürbe plötzlich?

Mir wurde heiß und kalt: ein winziger Zufall -- und meine Hoffnung, die
verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem dünnen Faden, der
stündlich reißen konnte, hing das Glück, das mir dann in den Schoß
fallen müßte.

War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge, von
denen die Menschheit gar nicht ahnte, daß sie überhaupt existierten?

War es _kein_ Wunder, daß binnen weniger Wochen künstlerische
Fähigkeiten in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit über den
Durchschnitt erhoben?

Und ich stand doch erst am _Anfang_ des Weges!

Hatte _ich_ denn kein Anrecht auf Glück?

Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?

Ich übertönte das »Ja« in mir: -- nur noch eine Stunde träumen -- eine
Minute -- ein kurzes Menschendasein!

Und ich träumte mit offenen Augen:

Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von
allen Seiten mit farbigen Wasserfällen. Bäume aus Opal standen in
Gruppen beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau
schillerte wie der Flügel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in
Funkensprühregen über unabsehbare Wiesen voll heißem Sommerduft.

Mich dürstete, und ich kühlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der
Bäche, die über Felsblöcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.

Schwüler Hauch strich über Hänge, übersät mit Blüten und Blumen, und
machte mich trunken mit den Gerüchen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen,
Seidelbast -- -- --

Unerträglich! Unerträglich! Ich verlöschte das Bild. -- Mich dürstete.

Das waren die Qualen des Paradieses.

Ich riß die Fenster auf und ließ den Tauwind an meine Stirne wehen.

Es roch nach kommendem Frühling -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Mirjam!

Ich mußte an Mirjam denken. Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte
halten müssen, um nicht umzufallen, als sie mir erzählen gekommen, ein
Wunder sei geschehen, ein wirkliches Wunder: sie habe ein Goldstück
gefunden in dem Brotlaib, den der Bäcker vom Gang aus durchs Gitter ins
Küchenfenster gelegt. -- -- --

Ich griff nach meiner Börse. -- Hoffentlich war es heute nicht schon zu
spät, und ich kam noch zurecht, _ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern_!

Täglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erfüllt war sie von dem
»Wunder« gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie
aufgewühlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plötzlich ohne
äußern Grund -- nur unter dem Einfluß ihrer Erinnerung -- totenblaß
geworden war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloßen Gedanken,
ich könnte in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite
bis ins Grenzenlose ging.

Und wenn ich mir die letzten, dunkeln Worte Hillels ins Gedächtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, überlief es mich eiskalt.

Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung für mich, -- der Zweck
heiligt die Mittel _nicht_, das sah ich ein.

Und was, wenn überdies das Motiv: »helfen zu wollen« nur _scheinbar_
»rein« war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche Lüge
dahinter verborgen?: der selbstgefällige, unbewußte Wunsch, in der Rolle
des Helfers zu schwelgen?

Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.

Daß ich Mirjam viel zu oberflächlich beurteilt hatte, war klar.

Schon als die Tochter Hillels mußte sie anders sein als andere Mädchen.

Wie hatte ich nur so vermessen sein können, auf solch törichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch über meinem
eigenen stand!

Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
ägyptischen Dynastie paßte und selbst für diese noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hätte mich
warnen müssen.

»Nur der ganz Dumme mißtraut dem äußern Schein,« hatte ich irgendwo
einmal gelesen. -- Wie richtig! Wie richtig!

Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen, daß
ich es gewesen war, der die Dukaten Tag für Tag ins Brot geschmuggelt
hatte?

Der Schlag käme zu plötzlich. Würde sie betäuben.

Ich durfte das nicht wagen, mußte behutsamer vorgehen.

Das »Wunder« irgendwie abschwächen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die Treppenstufe legen, daß sie es finden mußte, wenn sie die Tür
aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes
würde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem
Wunderbaren allmählich wieder ins Alltägliche herüberlenkte, tröstete
ich mich.

Ja! Das war das Richtige.

Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamröte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug,
wenn alle andern Mittel versagten.

Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versäumen!

Ein guter Einfall kam mir: ich mußte Mirjam zu etwas ganz Absonderlichem
bewegen, sie für ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung reißen, daß
sie andere Eindrücke bekam.

Wir würden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?

Vielleicht interessierte es sie, die eingestürzte Brücke zu besichtigen?

Oder der alte Zwakh oder eine ihrer früheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden würde, daß ich mit dabei sei.

Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

An der Türschwelle rannte ich einen Mann beinahe über den Haufen.

Wassertrum!

Er mußte durchs Schlüsselloch hineingespäht haben, denn er stand
gebückt, als ich mit ihm zusammengestoßen war.

»Suchen Sie mich?« fragte ich barsch.

Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmöglichen
Jargon; dann bejahte er.

Ich forderte ihn auf, näher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe
Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.

Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer Nähe gesehen. Seine
grauenhafte Häßlichkeit war es nicht, die einen so abstieß; (sie machte
mich eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein Geschöpf, dem die Natur
selbst bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem Fuß ins Gesicht
getreten hatte) -- etwas anderes, Unwägbares, das von ihm ausging, trug
die Schuld daran.

Das »Blut«, wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.

Unwillkürlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem
Eintritt gereicht hatte.

So wenig auffällig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er mußte sich plötzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des
Hasses in seinen Zügen zu unterdrücken.

»Hübsch ham Se's hier,« fing er endlich stockend an, als er sah, daß ich
ihm nicht den Gefallen tat, das Gespräch zu beginnen.

Im Widerspruch zu seinen Worten schloß er dabei die Augen, vielleicht,
um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, daß es seinem
Gesicht einen harmloseren Ausdruck verleihen würde?

Man konnte ihm deutlich anhören, welche Mühe er sich gab, hochdeutsch zu
reden.

Ich fühlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen würde.

In seiner Verlegenheit griff er nach der _Feile_, die -- weiß Gott wieso
-- noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber
unwillkürlich sofort wie von einer Schlange gebissen zurück. Ich staunte
innerlich über seine unterbewußte seelische Feinfühligkeit.

»Freilich, natürlich, es gehört zum Geschäft, daß man's fein hat,«
raffte er sich auf, zu sagen, »wenn man -- so noble Besuche bekommt.« Er
wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte
auf mich machten, hielt es aber offenbar noch für verfrüht und schloß
sie schnell wieder.

Ich wollte ihn in die Enge treiben: »Sie meinen die Dame, die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!«

Er zögerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.

Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine
Höhle gerissen hatte.

Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:

»Was glauben Sie, Herr Pernath, laßt sich da noch was machen?«

Es war eine goldene Uhr, mit so stark verbeulten Deckeln, daß es fast
aussah, als hätte sie jemand mit Absicht verbogen.

Ich nahm ein Vergrößerungsglas: die Scharniere waren zur Hälfte
abgerissen und innen -- stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr
leserlich und noch überdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen
zerkratzt. Langsam entzifferte ich:

                          K--rl Zott--mann.

Zottmann? Zottmann? -- Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?

Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:

»Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Gehäuse,
da stinkt's.«

»Braucht man nur gerade zu klopfen -- höchstens ein paar Lötstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr
Wassertrum.«

»Ich leg' doch Wert darauf, daß es eine solide Arbeit wird. Was man so
sagt: künstlerisch,« unterbrach er mich hastig. Fast ängstlich.

»Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt --«

»Viel daran liegt!« Seine Stimme schnappte über vor Eifer. »Ich will sie
doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemanden zeig', will ich
sagen können: schauen Sie mal her, _so_ arbeitet der Herr von Pernath.«

Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerwärtigen
Schmeicheleien förmlich ins Gesicht.

»Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein.«

Wassertrum wand sich in Krämpfen: »Das gibt's nicht. Das will ich nicht.
Drei Tag. Vier Tag. Die nächste Woche ist Zeit genug. Das ganze Leben
möcht' ich mir Vorwürfe machen, daß ich Ihnen gedrängt hab'.«

Was wollte er nur, daß er so außer sich geriet? -- Ich machte einen
Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu -- für
den Fall, daß Wassertrum mir nachblicken sollte.

Als ich zurückkam, fiel mir auf, daß er sich verfärbt hatte.

Ich musterte ihn scharf, ließ aber meinen Verdacht sofort fallen:
Unmöglich! Er _konnte_ nichts gesehen haben.

»Also, dann vielleicht nächste Woche,« sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.

Er schien mit einem Male keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.

Im Gegensatz zu früher hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf. -- --

Pause.

»Die Duksel hat Ihnen natürlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen
machen, wenn's herauskommt. Waas?« sprudelte er plötzlich ohne jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Es lag etwas merkwürdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von einer Sprechweise in die andere übergehen -- von Schmeicheltönen
blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es für sehr
wahrscheinlich, daß die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im
Handumdrehen in seiner Gewalt befinden mußten, wenn er nur die geringste
Waffe gegen sie besaß.

Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die Tür setzen, war
mein erster Gedanke; dann überlegte ich, ob es nicht klüger sei, ihn
zuvörderst einmal gründlich auszuhorchen.

»Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;« -- ich
bemühte mich, ein möglichst dummes Gesicht zu machen. »Duksel? Was ist
das: Duksel?«

»Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?« fuhr er mich grob an. »Die
Hand werden Sie aufheben müssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag' ich Ihnen!« -- Er fing an zu schreien:
»Mir ins Gesicht hinein werden Sie nicht abschwören, daß >sie< von da
drüben« -- er deutete mit dem Daumen nach dem Atelier -- »zu Ihnen
heribber geloffen is mit en Teppich an und -- sonst nix!«

Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust und
schüttelte ihn:

»Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?«

Aschfahl sank er in den Stuhl zurück und stotterte:

»Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloß.«

Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen. Horchte
nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.

Dann setzte ich mich ihm dicht gegenüber, in der festen Absicht, die
Sache, soweit sie Angelina betraf, ein für allemal mit ihm ins Reine zu
bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich
die Feindseligkeiten zu eröffnen und seine paar schwachen Pfeile
vorzeitig zu verschießen.

Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf zu, daß Erpressungen irgendwelcher Art -- ich betonte das Wort
-- mißglücken müßten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit
Beweisen erhärten könnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es
wäre überhaupt im Bereiche der Möglichkeit, daß es je zu einer solchen
käme) -- _bestimmt_ zu entziehen wissen würde. Angelina stünde mir viel
zu nahe, als daß ich sie nicht in der Stunde der Not retten würde, koste
es, was es wolle, _sogar einen Meineid_!

Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Zähne und kollerte wie ein
Truthahn mir immer wieder in die Rede hinein: »Will ich denn was von die
Duksel? So hören Sie doch zu!« -- Er war außer sich vor Ungeduld, daß
ich mich nicht beirren ließ. -- »Um den Savioli is mir's zu tun, um den
gottverfluchten Hund, -- den -- den --,« fuhr es ihm plötzlich brüllend
heraus.

Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaßt und fixierte wieder
meine Weste.

»Hören Sie zu, Pernath,« er zwang sich, die kühle, abwägende Sprechweise
eines Kaufmanns nachzuahmen, »Sie reden fort von der Duk -- -- von der
Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem --
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?« Er bewegte die Hände
vor meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedrückt, als
hielte er eine Prise Salz darin -- »soll _sie_ sich das selber abmachen,
die Duksel. -- Ich bin e Weltmann, und Sie sin auch e Weltmann. Wir
kennen doch das beide. Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen.
Verstehen Sie, Pernath?!«

Ich horchte erstaunt auf:

»Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?«

Wassertrum wich aus:

»Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus.«

»Sie wollen ihn ermorden!« schrie ich.

Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.

»Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch Komödie vorspielen!«
Ich deutete auf die Tür. »Schauen Sie, daß Sie hinauskommen.«

Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren
ich ihn nie für fähig gehalten hätte:

»Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein Zarbüchel ist voll. Wenn
Sie gescheit gewesen wären --: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg!? --
_Jetzt_ -- _mach_ -- _ich_ -- _mit_ -- _Ihnen allen dreien_« -- er
deutete mit einer Geste des Erdrosselns an, was er meinte --
»_Preßcolleeh_.«

Seine Mienen drückten eine so satanische Grausamkeit aus, und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daß mir das Blut in den Adern erstarrte.
Er mußte eine Waffe in Händen haben, von der ich nichts ahnte, die auch
Charousek nicht kannte. Ich fühlte den Boden unter mir wanken.

»_Die Feile! Die Feile!_« hörte ich es in meinem Hirn flüstern. Ich
schätzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch -- zwei Schritte
bis zu Wassertrum -- -- ich wollte zuspringen -- -- -- da stand wie aus
dem Boden gewachsen Hillel auf der Schwelle.

Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.

Ich sah nur -- wie durch Nebel --, daß Hillel unbeweglich stehen blieb
und Wassertrum Schritt für Schritt bis an die Wand zurückwich.

Dann hörte ich Hillel sagen:

»Sie kennen doch, Aaron, den Satz: _Alle Juden sind Bürgen füreinander?_
Machen Sie's einem nicht zu schwer.« -- Er fügte ein paar hebräische
Worte hinzu, die ich nicht verstand.

»Was haben Sie das netig, an der Türe zu schnuffeln?« geiferte der
Trödler mit bebenden Lippen.

»Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu kümmern!« --
wieder schloß Hillel mit einem hebräischen Satz, der diesmal wie eine
Drohung klang. Ich erwartete, daß es zu einem Zank kommen würde, aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, überlegte einen Augenblick und
ging dann trotzig hinaus.

Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf
den Gang hinaus. Ich wollte die Türe schließen gehen: er hielt mich mit
einer ungeduldigen Handbewegung zurück.

Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des
Trödlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.

Wassertrum wartete, bis er außer Hörweite war, dann knurrte er mich
verbissen an:

»Geben Se mer meine Uhr zorück.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                 Weib


Wo nur Charousek blieb?

Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer ließ er sich nicht
blicken.

Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?

Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daß der Sonnenstrahl,
der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner
Kellerwohnung fiel.

Das Eingreifen Hillels -- gestern -- hatte mich ziemlich beruhigt.
Bestimmt würde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzuge wäre.

Überdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben;
gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden
zurückgekehrt, -- ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er
unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon
frühmorgens gesehen. -- -- --

Unerträglich, das ewige Warten!

Die milde Frühlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem
Nebenzimmer hereinströmte, machte mich krank vor Sehnsucht.

Dies schmelzende Tropfen von den Dächern! Und wie die feinen
Wasserschnüre im Sonnenlicht glänzten!

Es zog mich hinaus an unsichtbaren Fäden. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.

Dieses süchtige Keimen einer ungewissen Verliebtheit in meiner Brust, es
wollte nicht weichen.

Die ganze Nacht über hatte es mich gequält. Einmal war es Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar
ganz harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam
abermals Angelina und küßte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und
ihr weicher Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren
entblößten Schultern -- und sie wurde zur Rosina, die mit trunkenen,
halbgeschlossenen Augen tanzte -- im Frack -- nackt; -- -- -- und alles
in einem Halbschlaf, der doch genau so gewesen war wie ein Wachsein. Wie
ein süßes, verzehrendes, dämmeriges Wachsein.

Gegen Morgen stand dann mein Doppelgänger an meinem Bett, der
schattenhafte Habal Garmin, »der Hauch der Knochen«, von dem Hillel
gesprochen, -- und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht,
_mußte_ mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen würde nach
irdischen oder jenseitigen Dingen, und er _wartete_ nur darauf, aber der
Durst nach dem Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die Schwüle meines
Blutes und versickerte im dürren Erdreich meines Verstandes. -- Ich
schickte das Phantom weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und
es schrumpfte zusammen zu dem Buchstaben »Aleph«, wuchs wieder empor,
stand da als das Koloßweib, splitternackt, wie ich es einstens im Buche
Ibbur gesehen, mit dem Pulse gleich einem Erdbeben, und beugte sich über
mich und ich atmete den betäubenden Geruch ihres heißen Fleisches ein.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Kam denn Charousek immer noch nicht? -- Die Glocken sangen von den
Kirchtürmen.

Eine Viertelstunde wollte ich noch warten -- dann aber hinaus! Durch
belebte Straßen voll festtägig gekleideter Menschen schlendern, mich in
das frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schöne Frauen
sehen mit koketten Gesichtern und schmalen Händen und Füßen.

Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufällig, entschuldigte ich
mich vor mir selbst.

Ich holte das altertümliche Tarokspiel vom Bücherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. --

Vielleicht ließ sich aus den Bildern Anregung schöpfen zum Entwurf einer
Kamee?

Ich suchte nach dem Pagad.

Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?

Ich blätterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in Nachdenken
über ihren verborgenen Sinn. Besonders der »Gehenkte«, -- was konnte er
nur bedeuten?:

Ein Mann hängt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf abwärts,
die Arme auf den Rücken gebunden, den rechten Unterschenkel über das
linke Bein verschränkt, daß es aussieht wie ein Kreuz über einem
verkehrten Dreieck?

Unverständliches Gleichnis.

Da! -- Endlich! Charousek kam.

Oder doch nicht?

Freudige Überraschung: es war Mirjam.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Wissen Sie, Mirjam, daß ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?« Es war nicht ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darüber. -- »Nicht
wahr, Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im
Herzen, daß Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen
müssen.«

»-- spazierenfahren?«, wiederholte sie derart verblüfft, daß ich laut
auflachen mußte.

»Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?«

»Nein, nein, aber -- --,« sie suchte nach Worten, »unerhört merkwürdig.
Spazierenfahren!«

»Durchaus nicht merkwürdig, wenn Sie sich vorhalten, daß es
Hunderttausende von Menschen tun -- eigentlich ihr ganzes Leben nichts
anderes tun.«

»Ja, _andere_ Menschen!« gab sie, immer noch vollständig überrumpelt,
zu.

Ich faßte ihre beiden Hände:

»Was _andere_ Menschen an Freude erleben dürfen, möchte ich, daß Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem Maße genießen.«

Sie wurde plötzlich leichenblaß, und ich sah an der starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte.

Es gab mir einen Stich.

»Sie dürfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam,« redete ich ihr
zu, »das -- das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen -- aus --
aus Freundschaft?«

Sie hörte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.

»Wenn es Sie nicht so angriffe, könnte ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie, daß ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? -- Um -- um --
wie soll ich nur sagen? -- um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es
nicht wörtlich auf, aber --: ich wollte, das Wunder wäre nie geschehen.«

Ich erwartete, sie würde mir widersprechen, aber sie nickte nur in
Gedanken versunken.

»Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?« Sie raffte sich auf:

»Manchmal möchte ich beinahe auch, es wäre nicht geschehen.«

Es klang wie ein Hoffnungsstrahl für mich. -- »Wenn ich mir denken
soll,« sie sprach ganz langsam und traumverloren, »daß Zeiten kommen
könnten, wo ich ohne solche Wunder leben müßte -- -- --.«

»Sie können doch über Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr
--,« fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich
das Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, -- »ich meine: Sie können
plötzlich auf natürliche Weise ihrer Sorgen enthoben werden, und die
Wunder, die Sie dann erleben, würden geistiger Art sein: -- innere
Erlebnisse.«

Sie schüttelte den Kopf und sagte hart: »Innere Erlebnisse sind keine
Wunder. Erstaunlich genug, daß es Menschen zu geben scheint, die
überhaupt keine haben. -- Seit meiner Kindheit, Tag für Tag, Nacht für
Nacht, erlebe ich --« (sie brach mit einem Ruck ab und ich erriet, daß
noch etwas anderes in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte,
vielleicht das Weben unsichtbarer Geschehnisse, ähnlich den meinigen) --
»aber das gehört nicht hierher. Selbst, wenn einer aufstünde und machte
Kranke gesund durch Handauflegen, ich könnte es kein Wunder nennen.
Erst, wenn der leblose Stoff -- die Erde -- beseelt wird vom Geist und
die Gesetze der Natur zerbrechen, dann ist das geschehen, wonach ich
mich sehne, seit ich denken kann. -- Mir hat einmal mein Vater gesagt:
es gäbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische und eine abstrakte, die
sich niemals zur Deckung bringen ließen. Wohl könne die magische die
abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt. Die magische
ist ein _Geschenk_, die andere _kann_ errungen werden, wenn auch nur mit
Hilfe eines Führers.« -- Sie nahm den ersten Faden wieder auf: »Das
_Geschenk_ ist es, nach dem ich dürste; was ich mir erringen kann, ist
mir gleichgültig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es
könnten Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder
leben müßte,« -- ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und
Jammer zerfleischten mich, -- »ich glaube, ich sterbe jetzt schon
angesichts der bloßen Möglichkeit.«

»Ist das der Grund, weshalb auch Sie wünschten, das Wunder wäre nie
geschehen?«, forschte ich.

»Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich -- ich --«, sie dachte
einen Augenblick nach, »war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser
Form zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen nur erklären? Nehmen
Sie einmal an, bloß als Beispiel, ich hätte seit Jahren jede Nacht ein
und denselben Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich
jemand -- sagen wir: ein Bewohner einer andern Welt -- belehrt und mir
nicht nur an einem Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmählichen
Veränderungen zeigt, wie weit ich von der magischen Reife, ein >Wunder<
erleben zu können, entfernt bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen,
wie sie mich manchmal tagsüber beschäftigen, derart Aufschluß gibt, daß
ich es jederzeit nachprüfen kann. Sie werden mich verstehen: Ein solches
Wesen ersetzt einem an Glück alles, was sich auf Erden ausdenken läßt;
es ist für mich die Brücke, die mich mit dem >Drüben< verbindet, ist die
Jakobsleiter, auf der ich mich über die Dunkelheit des Alltags erheben
kann ins Licht, -- ist mir Führer und Freund, und alle meine Zuversicht,
daß ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine Seele geht, nicht verirren
kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf >ihn<, der mich noch nie
belogen hat. -- Da mit einem Mal, entgegen allem, was er mir gesagt hat,
kreuzt ein >Wunder< mein Leben! Wem soll ich jetzt glauben? War das, was
mich die vielen Jahre über ununterbrochen erfüllt hat, eine Täuschung?
Wenn ich daran zweifeln müßte, ich stürzte kopfüber in einen bodenlosen
Abgrund. -- Und doch ist das Wunder geschehen! Ich würde aufjauchzen vor
Freude, wenn --«

»Wenn -- -- --?« unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie
selbst jetzt das erlösende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.

»-- wenn ich erführe, daß ich mich geirrt habe, -- daß es gar kein
Wunder war! Aber ich weiß so genau, wie ich weiß, daß ich hier sitze,
ich ginge zugrunde daran«; (mir blieb das Herz stehen) --
»zurückgerissen werden, vom Himmel wieder herab müssen auf diese Erde?
Glauben Sie, daß das ein Mensch ertragen kann?«

»Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe«, sagte ich ratlos vor Angst.

»Meinen Vater? Um Hilfe?« -- sie blickte mich verständnislos an, -- »wo
es nur zwei Wege für mich gibt, kann er da einen dritten finden? -- --
Wissen Sie, was die einzige Rettung für mich wäre? Wenn _mir_ das
geschähe, was Ihnen geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was
hinter mir liegt: mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag -- vergessen
könnte. -- Ist es nicht merkwürdig: was Sie als Unglück empfinden, wäre
für mich das höchste Glück!«

Wir schwiegen beide eine lange Zeit. Dann ergriff sie plötzlich meine
Hand und lächelte. Beinahe fröhlich.

»Ich will nicht, daß Sie sich meinetwegen grämen;« -- (sie tröstete mich
-- mich!) -- »vorhin waren Sie so voll Freude und Glück über den
Frühling draußen, und jetzt sind Sie die Betrübnis selbst. Ich hätte
Ihnen überhaupt nichts sagen sollen. Reißen Sie es aus Ihrem Gedächtnis
und denken Sie wieder so heiter wie vorhin! -- Ich bin ja so froh --«

»Sie? Froh? Mirjam?«, unterbrach ich sie bitter.

Sie machte ein überzeugtes Gesicht: »Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu
Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich ängstlich, -- ich weiß
nicht warum: ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß Sie in einer
großen Gefahr schweben,« -- ich horchte auf -- »aber, statt mich darüber
zu freuen, Sie gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und
-- --«

Ich zwang mich zur Lustigkeit: »und das können Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit mir ausfahren.« (Ich bemühte mich, so viel Übermut wie möglich
in meine Stimme zu legen:) »Ich möchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es
mir nicht gelingt, Ihnen die trüben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie,
was Sie wollen: Sie sind noch lange kein ägyptischer Zauberer, sondern
vorläufig nur ein junges Mädchen, dem der Tauwind noch manchen bösen
Streich spielen kann.«

Sie wurde plötzlich ganz lustig:

»Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch nie gesehen! -- Übrigens >Tauwind<: bei uns Judenmädchen lenken
bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen
es natürlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. -- Mir ja nicht,«
setzte sie ernsthafter hinzu, »meine Mutter hat bös gestreikt, als sie
den gräßlichen Aaron Wassertrum heiraten sollte.«

»Was? Ihre Mutter? Den Trödler da unten?«

Mirjam nickte. »Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. -- Für den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag.«

»Armer Mensch, sagen Sie?« fuhr ich auf. »Der Kerl ist ein Verbrecher.«

Sie wiegte nachdenklich den Kopf: »Gewiß, er ist ein Verbrecher. Aber
wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muß ein
Prophet sein.«

Ich rückte neugierig näher:

»Wissen Sie Genaueres über ihn? Mich interessiert das. Aus ganz
besonderen -- --«

»Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hätten, Herr Pernath,
wüßten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil
ich als Kind sehr oft drin war. -- Warum sehen Sie mich so erstaunt an?
Ist denn das so merkwürdig? -- Gegen mich war er immer freundlich und
gütig. Einmal sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen großen
blitzenden Stein, der mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte.
Meine Mutter sagte, es sei ein Brillant, und ich mußte ihn natürlich
sofort zurücktragen.

Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riß er ihn mir
aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch
gesehen, wie ihm dabei die Tränen aus den Augen stürzten; ich konnte
auch damals schon genug Hebräisch, um zu verstehen, was er murmelte:
>Alles ist verflucht, was meine Hand berührt.< -- -- Es war das letzte
Mal, daß ich ihn besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem
aufgefordert, zu ihm zu kommen. Ich weiß auch warum: Hätte ich ihn nicht
zu trösten versucht, wäre alles beim alten geblieben, so aber, weil er
mir unendlich leid tat, und ich es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr
sehen. -- -- -- Sie verstehen das nicht, Herr Pernath? Es ist doch so
einfach: er ist ein Besessener, -- ein Mensch, der sofort mißtrauisch,
unheilbar mißtrauisch wird, wenn jemand an sein Herz rührt. Er hält sich
für noch viel häßlicher, als er in Wirklichkeit ist, -- wenn das
überhaupt möglich sein kann, -- und darin wurzelt sein ganzes Denken und
Handeln. Man sagt, seine Frau hätte ihn gern gehabt, vielleicht war es
mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr viele Leute. Der
einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er. Überall
wittert er Verrat und Haß.

Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, daß er ihn
vom Säuglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder
Eigenschaft vom Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie
zu einem Punkte gelangte, wo sein Mißtrauen hätte einsetzen können, oder
ob es im jüdischen Blute lag: alles, was an Liebesfähigkeit in ihm
lebte, auf seinen Nachkommen auszugießen -- in jener instinktiven Furcht
unserer Rasse: wir könnten aussterben und eine Mission nicht erfüllen,
die wir vergessen haben, die aber dunkel in uns fortlebt, -- wer kann
das wissen!

Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung
seines Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen räumte er dem Kinde
jedes Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der Gewissenstätigkeit
hätte beitragen können, um ihm künftige seelische Leiden zu ersparen.

Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre Schmerzäußerung ein
mechanischer Reflex.

Aus jedem Geschöpf so viel Freude und Genuß für sich selbst
herauspressen wie nur irgend möglich, und dann die Schale sofort als
nutzlos wegwerfen: das war ungefähr das Abc seines weitblickenden
Erziehungssystems.

Daß das Geld als Standarte und Schlüssel zur >Macht< dabei eine erste
Rolle spielte, können Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er
selbst den eigenen Reichtum sorgsam geheim hält, um die Grenzen seines
Einflusses in Dunkel zu hüllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem
Sohn Ähnliches zu ermöglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines
scheinbar ärmlichen Lebens zu ersparen: er durchtränkte ihn mit der
infernalischen Lüge von der >Schönheit<, brachte ihm die äußere und
innere Gebärde der Ästhetik bei, lehrte ihn _äußerlich_: die Lilie auf
dem Felde heucheln und _innerlich_ ein Aasgeier sein.

Natürlich war das mit der >Schönheit< wohl kaum eigene Erfindung von ihm
-- vermutlich die >Verbesserung< eines Ratschlages, den ihm ein
Gebildeter gegeben hatte.

Daß ihn sein Sohn später verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm er
niemals übel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur _Pflicht_: denn seine
Liebe war selbstlos und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte:
-- von der Art, die übers Grab hinausgeht.«

Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hörte es an dem veränderten Klang ihrer
Stimme, als sie sagte:

»Seltsame Früchte wachsen auf dem Baume des Judentums.«

»Sagen Sie, Mirjam,« fragte ich, »haben Sie nie davon gehört, daß
Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiß nicht
mehr, wer es mir erzählt hat, -- es war vielleicht nur ein Traum -- --«

»Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroße
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten
Gerümpel, auf seinem Strohsack schläft. Er hat sie vor Jahren einem
Schaubudenbesitzer abgewuchert, heißt es, bloß weil sie einem Mädchen --
einer Christin -- ähnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte
gewesen sein soll.«

»Charouseks Mutter!« drängte es sich mir auf.

»Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?«

Mirjam schüttelte den Kopf. »Wenn Ihnen daran liegt -- soll ich mich
erkundigen?«

»Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgültig« (ich sah an
ihren blitzenden Augen, daß sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor) »aber was mich viel mehr
interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flüchtig sprachen. Ich
meine das vom >Tauwind<. -- Ihr Vater würde Ihnen doch gewiß nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?«

Sie lachte lustig auf:

»Mein Vater? Wo denken Sie hin!«

»Nun, das ist ein großes Glück für mich.«

»Wieso?« fragte sie arglos.

»Weil ich dann noch Chancen habe.«

Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu
lassen, daß sie rot wurde.

Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:

»Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich müssen Sie einweihen,
wenn's einmal so weit ist. -- Oder gedenken Sie überhaupt ledig zu
bleiben?«

»Nein! nein! nein!« -- sie wehrte so entschlossen ab, daß ich
unwillkürlich lächelte -- »einmal muß ich ja doch heiraten.«

»Natürlich! Selbstverständlich!«

Sie wurde nervös wie ein Backfisch.

»Können Sie denn nicht eine Minute lang ernsthaft bleiben, Herr
Pernath?« -- Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht und sie setzte sich
wieder. -- »Also: wenn ich sage, ich muß doch einmal heiraten, so meine
ich damit, daß ich mir zwar bis jetzt den Kopf über die näheren Umstände
nicht zerbrochen habe, den Sinn des Lebens aber gewiß nicht verstünde,
wenn ich annehmen würde, ich sei als Weib auf die Welt gekommen, um
kinderlos zu bleiben.«

Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren
Zügen.

»Es gehört mit zu meinen Träumen,« fuhr sie leise fort, »mir
vorzustellen, daß es ein Endziel ist, wenn zwei Wesen zu einem
verschmelzen, -- zu dem, was -- -- haben Sie nie von dem alten
ägyptischen Osiriskult gehört? -- zu dem verschmelzen, was der
>Hermaphrodit< als Symbol bedeuten mag.«

Ich horchte gespannt auf: »Der Hermaphrodit --?«

»Ich meine: Die magische Vereinigung von männlich und weiblich im
Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! -- Nein, nicht als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist -- _kein_ Ende hat.«

»Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden,« fragte ich erschüttert,
»den Sie suchen? -- Kann es nicht sein, daß er in einem fernen Land
lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?«

»Davon weiß ich nichts;« sagte sie einfach, »ich kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, -- was ich nicht glaube,
weshalb wäre ich dann hier im Ghetto angebunden? -- oder durch die
Klüfte gegenseitigen Nichterkennens -- und ich finde ihn nicht, dann hat
mein Leben keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines
idiotischen Dämons. -- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon,«
flehte sie, »wenn man den Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon
einen häßlichen, irdischen Beigeschmack, und ich möchte nicht --«

Sie brach plötzlich ab.

»Was möchten Sie nicht, Mirjam?«

Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:

»Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!«

Seidenkleider raschelten auf dem Gang.

Ungestümes Klopfen. Dann:

Angelina!

Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurück:

»Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes -- Frau Gräfin
--«

»Nicht einmal vorfahren kann man mehr. Überall das Pflaster aufgerissen.
Wann werden Sie einmal in eine menschenwürdige Gegend siedeln, Meister
Pernath? Draußen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, daß es einem
die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte wie
ein alter Frosch, -- -- übrigens wissen Sie, daß ich gestern bei meinem
Juwelier war und er gesagt hat: Sie sind der größte Künstler, der
feinste Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der
größten, die je gelebt haben?!« -- Angelina plauderte wie ein
Wasserfall, und ich war verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden,
blauen Augen, die kleinen Füße in den winzigen Lackstiefeln, sah das
kapriziöse Gesicht aus dem Wust von Pelzwerk leuchten und die rosigen
Ohrläppchen.

Sie ließ sich kaum Zeit auszuatmen.

»An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu Hause
zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst -- ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst
einmal -- warten Sie -- -- ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz:
irgendwohin ins Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen
in der Luft ahnt. Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann
essen Sie bei mir, -- und dann schwätzen wir bis abends. Nehmen Sie doch
Ihren Hut! Worauf warten Sie denn? -- Eine warme, ganz weiche Decke ist
unten: da wickeln wir uns ein bis an die Ohren und kuscheln uns
zusammen, bis uns siedheiß wird.«

Was sollte ich nur sagen?! -- -- »Soeben habe ich mit der Tochter meines
Freundes hier eine Spazierfahrt verabredet -- --«

Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.

Ich begleitete sie bis vor die Tür, obschon sie mich freundlich abwehren
wollte.

»Hören Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen hänge -- -- und daß ich tausendmal lieber mit
Ihnen -- --«

»Sie dürfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath,« drängte sie,
»adieu und viel Vergnügen!«

Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah,
daß der Glanz in ihren Augen erloschen war.

Sie eilte die Treppe hinunter und das Leid schnürte mir die Kehle
zusammen.

Mir war, als hätte ich eine Welt verloren.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wie im Rausch saß ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenüberfüllten Straßen.

Eine Brandung des Lebens rings um mich, daß ich, halbbetäubt, nur noch
die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorüberhuschte,
unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten,
blanke Zylinderhüte, weiße Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa
Halsschleife, der kläffend in die Räder beißen wollte, schäumende
Rappen, die uns entgegensausten in silbernen Geschirren, ein
Ladenfenster, drin schimmernde Schalen voll Perlschnüren und funkelnden
Geschmeiden, -- Seidenglanz um schlanke Mädchenhüften.

Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, ließ mich die Wärme von
Angelinas Körper doppelt sinnverwirrend empfinden.

Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn
wir an ihnen vorüberjagten.

Dann ging's im Schritt über das Quai, das eine einzige Wagenreihe war,
an der eingestürzten steinernen Brücke vorbei, umstaut vom Gewühl
gaffender Gesichter.

Ich blickte kaum hin: -- das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, -- alles, alles war mir
unendlich viel wichtiger, als zuzusehen, wie die Felstrümmer dort unten
den antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. --

Parkwege. Dann -- gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter
den Hufen der Pferde, nasse Luft, blätterlose Baumriesen voll von
Krähennestern, totes Wiesengrün mit weißlichen Inseln schwindenden
Schnees, alles zog an mir vorbei wie geträumt.

Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgültig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.

»Jetzt, wo die Gefahr vorüber ist,« sagte sie mit entzückender,
kindlicher Unbefangenheit, »und ich weiß, daß es ihm auch wieder besser
geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so gräßlich
langweilig vor. -- Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen
zumachen und untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich
glaube, alle Frauen sind so. Sie gestehen es bloß nicht ein. Oder sind
sie so dumm, daß sie es selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?« Sie
hörte gar nicht hin, was ich darauf antwortete. »Übrigens sind mir
Frauen vollständig uninteressant. Sie dürfen es natürlich nicht als
Schmeichelei auffassen: aber -- wahrhaftig, die bloße Nähe eines
sympathischen Mannes ist mir im kleinen Finger lieber, als das
anregendste Gespräch mit einer noch so gescheiten Frau. Es ist ja
schließlich doch alles dummes Zeug, was man da zusammenschwätzt. --
Höchstens: das bißchen Putz -- na und! Die Moden wechseln ja nicht gar
so häufig. -- -- Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?«, fragte sie
plötzlich kokett, daß ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen
mußte, nicht ihr Köpfchen zwischen meine Hände zu nehmen und sie in den
Nacken zu küssen, -- »sagen Sie, daß ich leichtsinnig bin!«

Sie schmiegte sich noch dichter an und hängte sich in mich ein.

Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit strohumwickelten
Zierstauden, die aussahen in ihren Hüllen wie Rümpfe von Ungeheuern mit
abgehauenen Gliedern und Häuptern.

Leute saßen auf Bänken in der Sonne und blickten hinter uns drein und
steckten die Köpfe zusammen.

Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war
Angelina doch so vollständig anders, als sie bisher in meiner Einbildung
gelebt hatte! -- Als sei sie erst heute für mich in die Gegenwart
gerückt!

War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche
getröstet hatte?

Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.

Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.

Der Wagen bog über eine feuchte Wiese.

Es roch nach erwachender Erde.

»Wissen Sie, -- -- Frau -- --?«

»Nennen Sie mich doch Angelina«, unterbrach sie mich leise.

»Wissen Sie, Angelina, daß -- daß ich heute die ganze Nacht von Ihnen
geträumt habe?«, stieß ich gepreßt hervor.

Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus
meinem ziehen, und sah mich groß an. »Merkwürdig! Und ich von Ihnen! --
Und in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht.«

Wieder stockte das Gespräch und beide errieten wir, daß wir auch
dasselbe geträumt hatten.

Ich fühlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen
hinaus. -- -- --

Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weißen,
duftenden Handschuh zurück, hörte, wie ihr Atem heftig wurde, und preßte
toll vor Liebe meine Zähne in ihren Handballen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

-- -- Stunden später ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel
hinab der Stadt zu. Planlos wählte ich die Straßen und ging lange, ohne
es zu wissen, im Kreise herum.

Dann stand ich am Fluß über ein eisernes Geländer gebeugt und starrte
hinab in die tosenden Wellen.

Noch immer fühlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das steinerne
Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied voneinander
genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden Ulmenblättern
darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor kurzem, den
Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den fröstelnden, dämmrigen
Park ihres Schlosses.

Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
träumen.

Die Wasser brausten über das Wehr und ihr Rauschen verschlang die
letzten, aufmurrenden Geräusche der schlafengehenden Stadt.

Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und
aufblickte, lag der Fluß in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von
der schweren Nacht erdrückt, schwarzgrau dahinströmte und der Gischt des
Staudamms als weißer, blendender Streifen schräg hinüber zum andern Ufer
lief.

Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zurück zu müssen in mein
trauriges Haus.

Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich für immer zum Fremdling in
meiner Wohnstätte gemacht.

Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann mußte das
Glück vorüber sein -- und nichts blieb davon, als eine wehe, schöne
Erinnerung.

Und dann?

Dann war ich heimatlos hier und drüben, diesseits und jenseits des
Flusses.

Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das
Schloß werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das
finstere Ghetto ging. -- -- -- Ich schlug die Richtung ein, aus der ich
gekommen war, tappte mich durch den dichten Nebel an Häuserreihen
entlang und über schlummernde Plätze, sah schwarze Monumente drohend
auftauchen und einsame Schilderhäuser und die Schnörkel von
Barockfassaden. Der matte Schimmer einer Laterne wuchs zu riesigen,
phantastischen Ringen in verblichenen Regenbogenfarben aus dem Dunst
heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge und zerging hinter mir in
der Luft.

Mein Fuß tastete breite, steinerne Stufenflächen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwärts führt?

Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen Äste eines Baumes
hängen herüber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich
hinter der Nebelwand. --

Ein paar morsche, dünne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen
Abgrund, der mir meine Füße verbirgt.

Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne -- irgendwo
-- rätselhaft -- zwischen Himmel und Erde. -- -- --

Ich mußte fehlgegangen sein. Es konnte nur die »alte Schloßstiege« sein
neben den Hängen der Fürstenbergschen Gärten -- -- --

Dann lange Strecken lehmiger Erde. -- Ein gepflasterter Weg.

Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen,
steifen Zipfelmütze: »die Daliborka« = der Hungerturm, in dem Menschen
einst verschmachteten, derweilen Könige unten im »Hirschgraben« das Wild
hetzten.

Ein schmales, gewundenes Gäßchen mit Schießscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug, die Schultern durchzulassen -- und ich stand vor einer
Reihe von Häuschen, keines höher als ich.

Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die Dächer greifen.

Ich war in die »Goldmachergasse« geraten, wo im Mittelalter die
alchimistischen Adepten den Stein der Weisen geglüht und die
Mondstrahlen vergiftet haben.

Es führte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.

Aber ich fand die Mauerlücke nicht mehr, die mich eingelassen, -- stieß
an ein Holzgatter.

Es nützt nichts, ich muß jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, daß hier ein Haus die Gasse abschließt --
größer als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht
entsinnen, es je bemerkt zu haben.

Es muß wohl weiß getüncht sein, daß es so hell aus dem Nebel leuchtet?

Ich gehe durch das Gatter über den schmalen Gartenstreif, drücke das
Gesicht an die Scheiben: -- alles finster. Ich klopfe ans Fenster. -- Da
geht drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand,
durch eine Tür mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die
Stube, bleibt stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten
alchimistischen Retorten und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf
die riesigen Spinnweben in den Ecken und richtet dann seinen Blick
unverwandt auf mich.

Der Schatten seiner Backenknochen fällt ihm auf die Augenhöhlen, daß es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.

Er sieht mich offenbar nicht.

Ich klopfe ans Glas.

Er hört mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.

Ich warte vergebens.

Klopfe ans Haustor: niemand öffnet -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Es blieb mir nichts übrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ob es nicht am besten wäre, ich ginge noch unter Menschen, überlegte
ich. -- Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins »alte
Ungelt«, wo sie bestimmt sein würden --, um meine verzehrende Sehnsucht
nach Angelinas Küssen wenigstens für ein paar Stunden zu übertäuben?
Rasch mache ich mich auf den Weg.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, -- alle drei: weiße dünnstielige Tonpfeifen zwischen den
Zähnen, und das Zimmer voll Rauch.

Man konnte kaum ihre Gesichtszüge unterscheiden, so schluckten die
dunkelbraunen Wände das spärliche Licht der altmodischen Hängelampe ein.

In der Ecke die spindeldürre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit ihrem
ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben
Entenschnabelnase!

Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen Türen, so daß die Stimmen
der Gäste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms
herüberdrangen.

Vrieslander, seinen kegelförmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem
Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe
unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holländer aus einem
vergessenen Jahrhundert.

Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken
gesteckt, klapperte unaufhörlich mit seinen gespenstisch langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abmühte, der
bauchigen Arakflasche das Purpurmäntelchen einer Marionette umzuhängen.

»Das wird Babinski«, erklärte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. »Sie
wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erzählen Sie Pernath rasch, wer
Babinski war!«

»Babinski war«, begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, »einst ein berühmter Raubmörder in Prag. --
Viele Jahre betrieb er sein schändliches Handwerk, ohne daß es jemand
bemerkt hätte. Nach und nach jedoch fiel es den besseren Familien auf,
daß bald dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und
sich nie wieder blicken ließ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die
Sache gewissermaßen ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen
brauchte, so durfte wiederum nicht außer acht gelassen werden, daß das
Ansehen in der Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede
kommen konnte.

Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer Töchter
handelte.

Überdies verlangte es die Hochachtung vor sich selbst, daß man auf ein
bürgerliches Zusammenleben in der Familie nach außen hin das nötige
Gewicht legte.

Die Zeitungsrubriken: »Kehre zurück, alles ist verziehen« wuchsen immer
mehr und mehr, -- ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die
meisten Berufsmörder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, --
und erregten schließlich die allgemeine Aufmerksamkeit.

In dem lieblichen Dörfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der
innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit
durch seine unverdrossene Tätigkeit ein kleines, aber trautes Heim
geschaffen. Ein Häuschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein Gärtchen
davor mit blühenden Geranien.

Da es ihm seine Einkünfte nicht gestatteten, sich zu vergrößern, sah er
sich genötigt, um die Leichen seiner Opfer unauffällig bestatten zu
können, statt eines Blumenbeetes -- wie er es gern gesehen hätte --
einen grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umständen angemessen:
zweckmäßigen Grabhügel anzulegen, der sich mühelos verlängern ließ, wenn
es der Betrieb oder die Saison erforderte.

Auf dieser Weihestätte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages Last
und Mühen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf
seiner Flöte allerlei schwermütige Weisen zu blasen.« -- --

»Halt!« unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen Hausschlüssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:

»Zimzerlim zambusla -- deh«.

»Waren Sie denn dabei, daß Sie die Melodie so genau kennen?«, fragte
Vrieslander erstaunt.

Prokop warf ihm einen bitterbösen Blick zu: »Nein. Dazu hat Babinski zu
früh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muß ich als Komponist doch
am besten wissen. Ihnen steht darüber kein Urteil zu: Sie sind nicht
musikalisch. -- -- Zimzerlim -- zambusla -- busla -- deh.«

Zwakh hörte ergriffen zu, bis Prokop seinen Hausschlüssel wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:

»Das beständige Wachsen des Hügels erweckte allmählich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der
gelegentlich von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der
guten Gesellschaft erwürgte, gebührt das Verdienst, dem selbstsüchtigen
Treiben des Unholdes ein für allemal Schranken gesetzt zu haben:

Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.

Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden
Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den
Strang und beauftragte zugleich die Firma Gebrüder Leipen -- Seilwaren
en gros und en detail -- die nötigen Hinrichtungsutensilien, soweit
diese in ihre Branche fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem
hohen Staatsärar gegen Quittung auszuhändigen.

Nun fügte es sich aber, daß der Strick riß und Babinski zu
lebenslänglichem Gefängnis begnadigt wurde.

20 Jahre verbüßte der Raubmörder hinter den Mauern von Sankt Pankraz,
ohne daß je ein Vorwurf über seine Lippen gekommen wäre; -- noch heute
ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob über seine vorbildliche
Aufführung; ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres
allerhöchsten Landesherrn ab und zu die Flöte zu blasen; --«

Prokop suchte sofort wieder nach seinem Hausschlüssel, aber Zwakh wehrte
ihm.

»-- infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen, und er bekam die Stelle eines Pförtners im Kloster der
>Barmherzigen Schwestern<.

Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging
ihm dank der großen, während seines früheren Wirkungskreises erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so daß ihm
hinlänglich Muße blieb, Herz und Geist an guter, sorgfältig ausgewählter
Lektüre zu läutern.

Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.

So oft ihn die Oberin Samstagsabends ins Wirtshaus schickte, damit er
sein Gemüt ein wenig erheitere, jedesmal kam er pünktlich vor Anbruch
der Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral
stimme ihn trübe und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte
mache die Landstraße unsicher, daß es für jeden Friedliebenden ein Gebot
der Klugheit sei, rechtzeitig die Schritte heimwärts zu lenken.

Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine Figürchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle
umhängen hatten und den Raubmörder Babinski darstellten.

Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.

Gewöhnlich aber standen sie in den Läden unter Glasstürzen, und über
nichts konnte sich Babinski so empören, als wenn er eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.

>Es ist im höchsten Grade unwürdig und zeugt von einer Gemütsroheit
sondersgleichen, einem Menschen beständig die Verfehlungen seiner
Jugendzeit vor Augen zu führen,< pflegte Babinski in solchen Fällen zu
sagen, >und es ist tief zu bedauern, daß von seiten der Obrigkeit nichts
geschieht, so offenkundigem Unfug zu steuern.<

Noch auf dem Totenbette äußerte er sich in ähnlichem Sinne.

Nicht vergebens, denn bald darauf verfügte die Behörde die Einstellung
des Handels mit den ärgerniserregenden Babinskischen Statuetten.« -- --
--

-- -- -- Zwakh tat einen mächtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle
drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach
der farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Träne im Auge
zerdrückte.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

-- »Na, und Sie geben nichts zum besten, außer -- natürlich -- daß Sie
aus Dankbarkeit für den überstandenen Kunstgenuß die Zeche berappen,
wertgeschätzter Kollege und Gemmenschneider?«, fragte mich Vrieslander
nach einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.

Ich erzählte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.

Wie ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiße Haus
erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den
Zähnen, und als ich schloß, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch
und rief:

»Das ist doch rein -- --! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. -- A propos, der Golem von damals -- Sie wissen: die
Sache hat sich aufgeklärt.«

»Wieso aufgeklärt?« fragte ich baff.

»Sie kennen doch den verrückten jüdischen Bettler >HaschileSonntagskindern<. Man nennt es die >Mauer zur letzten
Laterne<. Wer bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen großen, grauen
Stein, -- dahinter stürzt es jäh ab in die Tiefe in den Hirschgraben,
und Sie können von Glück sagen Pernath, daß Sie keinen Schritt weiter
gemacht haben: Sie wären unfehlbar hinuntergefallen und hätten sämtliche
Knochen gebrochen.

Unter dem Stein, heißt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von dem
Orden der >Asiatischen Brüder<, die angeblich Prag gegründet haben, als
Grundstein für ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der
Tage ein Mensch bewohnen wird -- besser gesagt ein Hermaphrodit -- ein
Geschöpf, das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das
Bild eines Hasen im Wappen tragen, -- nebenbei: der Hase war das Symbol
des Osiris, und _daher_ stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.

Bis die Zeit gekommen ist, heißt es, hält Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn
mit ihm zeugt: den sogenannten Armilos. -- Haben Sie noch nie von diesem
Armilos erzählen hören? -- Sogar wie er aussehen würde, weiß man -- das
heißt, die alten Rabbiner wissen es, -- wenn er auf die Welt käme: Haare
aus Gold würde er haben, rückwärts zum Schopf gebunden, dann: zwei
Scheitel, sichelförmige Augen und Arme bis herunter zu den Füßen.«

»Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen«, brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.

»Also: Pernath, wenn Sie einmal das Glück haben sollten, ein
Hermaphrodit zu werden und ^en passant^ den vergrabenen Schatz zu
finden,« schloß Prokop, »dann vergessen Sie nicht, daß ich stets Ihr
bester Freund gewesen bin!«

-- Mir war nicht zum Spaßmachen zumute, und ich fühlte ein leises Weh im
Herzen.

Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wußte, denn er
kam mir rasch zu Hilfe:

»Jedenfalls ist es höchst merkwürdig, fast unheimlich, daß Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so
eng verknüpft ist. -- Da sind Zusammenhänge, aus deren Umklammerung sich
ein Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die
Fähigkeit hat, Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. --
Ich kann mir nicht helfen: das _Übersinnliche_ ist doch das Reizvollste!
-- Was meint ihr?«

Vrieslander und Prokop waren ernst geworden und jeder von uns hielt eine
Antwort für überflüssig.

»Was meinen Sie, Eulalia?« wiederholte Zwakh, zurückgewendet, »ist nicht
das Übersinnliche das Reizvollste?«

Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errötete und sagte:

»Aber gähn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag über,« fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte,
»nicht einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. Fortwährend hab' ich
an die Rosina denken müssen, wie sie im Frack getanzt hat.«

»Ist sie wieder aufgefunden worden?« fragte ich.

»>Aufgefunden< ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch für ein längeres
Engagement gewonnen! -- Vielleicht ist sie dem Herrn Kommissär -- damals
>beim Loisitschek<, ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt --
fieberhaft tätig und trägt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in
der Judenstadt bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie übrigens
geworden in der kurzen Zeit.«

»Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloß dadurch,
daß sie ihn verliebt sein läßt in sich: es ist zum Staunen,« warf Zwakh
hin. »Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu können, ist der arme
Bursche, der Jaromir, über Nacht Künstler geworden. Er geht in den
Wirtshäusern herum und schneidet Silhouetten für Gäste aus, die sich auf
diese Art porträtieren lassen.«

Prokop, der den Schluß überhört hatte, schmatzte mit den Lippen:

»Wirklich? Ist sie so hübsch geworden, die Rosina? -- Haben Sie ihr
schon ein Küßchen geraubt, Vrieslander?«

Die Kellnerin sprang sofort auf und verließ indigniert das Zimmer.

»Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nötig, -- Tugendanfälle! Pah!«,
brummte Prokop ärgerlich hinter ihr drein.

»Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen. Und
außerdem war der Strumpf gerade fertig,« beschwichtigte ihn Zwakh.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Wirt brachte neuen Grog und die Gespräche fingen allmählich an, eine
schwüle Richtung zu nehmen. Zu schwül, als daß sie mir nicht ins Blut
gegangen wären bei meiner fiebrigen Stimmung.

Ich sträubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloß und
an Angelina zurückdachte, um so heißer brauste es mir in den Ohren.

Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.

Der Nebel war durchsichtiger geworden, sprühte feine Eisnadeln auf mich,
war aber immer noch so dicht, daß ich die Straßentafeln nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.

Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hörte
ich meinen Namen rufen:

»Herr Pernath! Herr Pernath!«

Ich blickte um mich, in die Höhe:

Niemand!

Ein offenes Haustor, darüber diskret eine kleine, rote Laterne, gähnte
neben mir auf, und eine helle Gestalt -- schien mir -- stand tief im
Flur darin.

Wieder: »Herr Pernath! Herr Pernath!« Im Flüsterton.

Ich trat erstaunt in den Gang, -- da schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam
öffnenden Türspalt fiel, daß es Rosina war, die sich heiß an mich
preßte.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                 List


Ein grauer, blinder Tag.

Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos, bewußtlos,
wie ein Scheintoter.

Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen einzuheizen.

Kalte Asche lag im Ofen.

Staub auf den Möbeln.

Der Fußboden nicht gekehrt.

Fröstelnd ging ich auf und ab.

Widerwärtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein Mantel,
meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.

Ich riß das Fenster auf, schloß es wieder: -- der kalte, schmutzige
Hauch von der Straße war unerträglich.

Spatzen mit durchnäßtem Gefieder hockten regungslos draußen auf den
Dachrinnen.

Wohin ich blickte, mißfarbige Verdrossenheit. Alles in mir war
zerrissen, zerfetzt.

Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl -- wie fadenscheinig es war! Die
Roßhaare quollen hervor aus den Rändern.

Man mußte es zum Tapezierer schicken -- -- ach was, sollte es so bleiben
-- noch ein ödes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerümpel zerfiel!

Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese Zwirnlappen
an den Fenstern!

Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!

Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu
sehen, und der ganze graue, zermürbende Jammer war vorüber -- ein für
allemal.

Ja! Das war das Gescheiteste! Ein Ende machen.

Heute noch.

Jetzt noch -- vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. -- Ein
ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In
der nassen Erde zu liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu
haben.

Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen und ihre freche Lüge von der
Freude des Daseins einem ins Herz funkeln wollte!

Nein! ich ließ mich nicht mehr narren, wollte nicht länger der Spielball
sein eines täppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob und dann
wieder in Pfützen stieß, bloß damit ich die Vergänglichkeit alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich längst wußte, was jedes Kind
weiß, jeder Hund auf der Straße weiß.

Arme, arme Mirjam! Wenn ich _ihr_ wenigstens helfen könnte.

Es hieß, einen Entschluß fassen, einen ernsten, unabänderlichen
Beschluß, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.

Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?

Zu nichts, zu gar gar nichts.

Nur dazu vielleicht, daß ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmögliche Qual empfand.

Da gab es nur noch eins.

Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen
hatte.

Ja, nur _so_ ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!

Alles, was ich besaß -- die paar Edelsteine in der Schublade dazu --
zusammenschnüren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre
wenigstens würde es die Sorge ums tägliche Leben von ihr nehmen. Und
einen Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie
stand mit dem »Wunder«.

Er allein konnte ihr helfen.

Ich fühlte: ja, er würde Rat wissen für sie.

Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich jetzt auf die Bank ging -- in einer Stunde konnte alles in Ordnung
gebracht sein.

Und dann noch einen Strauß roter Rosen kaufen für Angelina! -- -- -- --
es schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. -- Nur noch einen
Tag, einen einzigen Tag möchte ich leben!

Um dann abermals dieselbe würgende Verzweiflung mitmachen zu müssen?

Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie eine
Befriedigung über mich, daß ich mir nicht nachgegeben hatte.

Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?

Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, -- wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon
vorgenommen.

Ich haßte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich wäre zum Mörder
geworden durch sie.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wer kam mich denn da wieder stören?

Es war der Trödler.

»Nur en Augenblick, Herr von Pernath«, bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, daß ich keine Zeit hätte. »Nur en ganz en kurzen Augenblick.
Nur ä paar Worte.«

Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.

»Kann man hier auch ungestört mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
möcht' nicht, daß der -- der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch
lieber die Tür ab, oder geh' mer besser ins Nebenzimmer«, -- er zog mich
in seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.

Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flüsterte heiser:

»Ich hab mir's überlegt, wissen Sie, -- das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix heraus dabei. Gut. Vorüber is vorüber.«

Ich suchte in seinen Augen zu lesen.

Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.

»Das freut mich, Herr Wassertrum,« sagte ich so freundlich ich konnte,
»das Leben ist zu trüb, als daß man es sich gegenseitig noch mit Haß
verbittern sollte.«

»Rein, als ob man ä gedrucktes Buch reden hört,« grunzte er erleichtert,
wühlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr mit den
verbogenen Sprungdeckeln hervor, »und damit Sie sehen, ich mein's
ehrlich, müssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk.«

»Was fällt Ihnen denn ein,« wehrte ich ab, »Sie werden doch wohl nicht
glauben -- --«, da fiel mir ein, was Mirjam über ihn gesagt hatte, und
ich streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu kränken.

Er achtete nicht darauf, wurde plötzlich weiß wie die Wand, lauschte und
röchelte:

»Da! Da! Hab' ich's doch gewußt. Schon wieder der Hillel! Er klopft.«

Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurück und zog zu seiner Beruhigung
die Verbindungstür hinter mir halb zu.

Es war diesmal nicht Hillel. _Charousek_ trat ein, legte, wie zum
Zeichen, daß er wisse, _wer_ nebenan sei, den Finger an die Lippen und
überschüttete mich in der nächsten Sekunde und ohne abzuwarten, was ich
sagen würde, mit einem Schwall von Worten:

»Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister Pernath, wie soll ich nur
die Worte finden, Ihnen meine Freude auszudrücken, daß ich Sie allein
und wohlauf zu Hause antreffe.« -- -- Er sprach wie ein Schauspieler,
und seine schwülstige, unnatürliche Redeweise stand in so krassem
Gegensatz zu seinem verzerrten Gesicht, daß ich ein tiefes Grauen vor
ihm empfand.

»Niemals hätte ich, Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu kommen, in dem Sie mich gewiß schon des öfteren auf der Straße
erblickt haben, -- doch, was sage ich: erblickt! haben Sie mir doch oft
huldreich die Hand gereicht.

Daß ich heute vor Sie hintreten kann mit weißem Kragen und in sauberem
Anzug, -- wissen Sie, wem ich es verdanke? Einem der edelsten und leider
-- ach -- meist verkannten Menschen unserer Stadt. Rührung übermannt
mich, wenn ich seiner gedenke.

Selber in bescheidenen Verhältnissen, hat er dennoch eine offene Hand
für Arme und Bedürftige. Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem
Laden stehen sah, trieb es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu ihm zu
treten und ihm stumm die Hand zu drücken.

Vor einigen Tagen rief er mich an, als ich vorüberging, schenkte mir
Geld und versetzte mich dadurch in die Lage, mir gegen Ratenzahlung
einen Anzug kaufen zu können.

Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein Wohltäter war? --

Mit Stolz sage ich es, denn ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat, welch goldenes Herz in seinem Busen schlägt: Es war -- Herr Aaron
Wassertrum!« -- --

-- -- Ich verstand natürlich, daß Charousek seine Komödie auf den
Trödler, der nebenan lauschte, gemünzt hatte, wenn mir auch unklar
blieb, was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe
Schmeichelei geeignet, den mißtrauischen Wassertrum hinters Licht zu
führen. Charousek erriet offenbar aus meiner bedenklichen Miene, was ich
dachte, schüttelte grinsend den Kopf, und auch seine nächsten Worte
sollten mir wahrscheinlich sagen, daß er seinen Mann genau kenne und
wisse, wie dick er auftragen dürfe.

»Jawohl! Herr -- Aaron -- Wassertrum! Es drückt mir fast das Herz ab,
daß ich ihm nicht selbst sagen kann, wie unendlich dankbar ich ihm bin,
und ich beschwöre Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, daß ich hier
war und Ihnen alles erzählt habe. -- Ich weiß, die Selbstsucht der
Menschen hat ihn verbittert und tiefes, unheilbares -- ach, leider nur
zu gerechtfertigtes Mißtrauen in seine Brust gepflanzt.

Ich bin Seelenarzt, aber auch mein Gefühl sagt mir, es ist am besten,
Herr Wassertrum erfährt nie -- auch aus meinem Munde nicht -- wie hoch
ich von ihm denke. -- Es hieße das: Zweifel in sein unglückliches Herz
säen. Und das sei ferne von mir. Lieber soll er mich für undankbar
halten.

Meister Pernath! Ich bin selbst ein Unglücklicher und weiß von
Kindesbeinen an, was es heißt, einsam und verlassen in der Welt zu
stehen! Ich kenne nicht einmal den Namen meines Vaters. Auch mein
Mütterlein habe ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muß
frühzeitig gestorben sein --« Charouseks Stimme wurde seltsam
geheimnisvoll und eindringlich, -- »und war, wie ich bestimmt glaube,
eine jener tiefseelisch angelegten Naturen, die nie sagen können, wie
unendlich sie lieben, und zu denen auch Herr Aaron Wassertrum gehört.

Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter -- ich
trage das Blatt beständig auf der Brust -- und darin steht, daß sie
meinen Vater, obschon er häßlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie
wohl noch nie ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.

Dennoch scheint sie es ihm nie gesagt zu haben. -- Vielleicht aus
ähnlichen Gründen, weshalb ich z. B. Herrn Wassertrum nicht sagen könnte
-- und wenn mir das Herz darüber bräche -- was ich für ihn an
Dankbarkeit fühle.

Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor, wenn ich es auch nur
erraten kann, denn die Sätze sind fast unleserlich vor Tränenspuren:
mein Vater, wer auch immer er gewesen war -- sein Andenken möge vergehen
im Himmel und auf Erden! -- muß scheußlich an meiner Mutter gehandelt
haben.«

-- Charousek fiel plötzlich auf die Knie, daß der Boden dröhnte, und
schrie in so markerschütternden Tönen, daß ich nicht wußte, spielte er
noch immer Komödie oder war er wahnsinnig geworden:

»_Du Allmächtiger, dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor dir: verflucht, verflucht, verflucht sei
mein Vater in alle Ewigkeit!_«

Er biß das letzte Wort förmlich entzwei und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.

Dann feixte er wie der Satan. Mir schien es, als hätte Wassertrum
nebenan leise gestöhnt.

»Verzeihen Sie, Meister,« fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, »verzeihen Sie, daß es mich übermannt hat, aber
es ist mein Gebet früh und spät, der Allmächtige wolle es fügen, daß
mein Vater, wer immer er auch sein möge, dereinst das gräßlichste Ende
nehme, das sich ausdenken läßt.«

Ich wollte unwillkürlich etwas erwidern, allein Charousek unterbrach
mich rasch:

»Doch jetzt, Meister Pernath, komme ich zu der Bitte, die ich Ihnen
vorzutragen habe:

Herr Wassertrum besaß einen Schützling, den er über die Maßen ins Herz
geschlossen hatte, -- es dürfte ein Neffe von ihm gewesen sein. Es heißt
sogar, er sei sein Sohn gewesen, aber ich will es nicht glauben, denn
sonst hätte er doch denselben Namen getragen, in Wirklichkeit aber hieß
er: Wassory, Dr. Theodor Wassory.

Die Tränen treten mir in die Augen, wenn ich ihn im Geiste vor mir sehe.
Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als hätte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknüpft.«

Charousek schluchzte, als könne er vor Ergriffenheit kaum
weitersprechen.

»Ach, daß dieser Edeling von der Erde gehen mußte! -- Ach! Ach!

Was auch der Grund gewesen sein mag, -- ich habe ihn nie erfahren -- er
hat sich selbst den Tod gegeben. Und ich war unter denen, die zu Hilfe
gerufen wurden -- -- ach, ach, zu spät -- zu spät -- zu spät! Und als
ich dann allein am Totenlager stand und seine kalte, bleiche Hand mit
Küssen bedeckte, da -- warum soll ich es nicht eingestehen, Meister
Pernath? -- es war ja doch kein Diebstahl -- da nahm ich eine Rose von
der Brust der Leiche und eignete mir das Fläschchen an, mit dessen
Inhalt der Unglückliche seinem blühenden Leben ein schnelles Ende
bereitet hatte.«

Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:

»Beides -- lege -- ich -- hier -- auf -- Ihren Tisch, die verdorrte Rose
und die Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen
Freund.

Wie oft in Stunden innerer Verlassenheit, wenn ich mir den Tod
herbeiwünschte in der Einsamkeit meines Herzens und der Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem Fläschchen, und es gab mir
einen seligen Trost, zu wissen: _ich brauchte nur die Flüssigkeit auf
ein Tuch zu gießen und einzuatmen_ und schwebte schmerzlos hinüber in
die Gefilde, wo mein lieber, guter Theodor ausruht von den Mühsalen
unseres Jammertales.

Und nun bitte ich Sie, hochverehrter Meister, -- und deswegen bin ich
hergekommen -- nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.

Sagen Sie, Sie hätten es von jemandem bekommen, dem Dr. Wassory
nahestand, dessen Namen Sie jedoch gelobt hätten, nie zu nennen, --
vielleicht von einer Dame.

Er wird es glauben, und es wird ihm ein Andenken sein, wie es ein teures
Andenken für mich war.

Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm und es
ist alles, was ich habe, aber es macht mich froh, zu wissen: beides wird
jetzt _ihm_ gehören, und dennoch ahnt er nicht, daß _ich_ der Geber bin.

Es liegt darin auch zugleich für mich etwas unendlich Süßes.

Und jetzt leben Sie wohl, teurer Meister, und seien Sie im voraus viel
tausendmal bedankt.«

Er hielt meine Hand fest, zwinkerte und flüsterte mir, als ich noch
immer nicht verstand, kaum hörbar etwas zu.

»Warten Sie, Herr Charousek, ich werde Sie ein Stückchen
hinunterbegleiten«, sagte ich mechanisch die Worte nach, die ich von
seinen Lippen las, und ging mit ihm hinaus.

Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.

»Ich kann mir denken, was Sie mit der Komödie bezweckt haben. -- -- Sie
-- Sie wollen, daß sich Wassertrum mit dem Fläschchen vergiftet!« Ich
sagte es ihm ins Gesicht.

»Freilich«, gab Charousek aufgeräumt zu.

»Und _dazu_, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?«

»Durchaus nicht nötig.«

»Aber ich sollte Wassertrum doch die Flasche bringen, sagten Sie
vorhin!«

Charousek schüttelte den Kopf:

»Wenn Sie jetzt zurückgehen, werden Sie sehen, daß er sie bereits
eingesteckt hat.«

»Wie können Sie das nur annehmen?«, fragte ich erstaunt. »Ein Mensch wie
Wassertrum wird sich niemals umbringen, -- ist viel zu feig dazu --
handelt nie nach plötzlichen Impulsen.«

»Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht,« unterbrach
mich Charousek ernst. »Hätte ich in alltäglichen Worten geredet, würden
Sie vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich
vorher berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche
Hundsfötter! Glauben Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner Sätze
hätte ich Ihnen hinzeichnen können. -- Kein >Kitsch<, wie es die Maler
nennen, ist niederträchtig genug, als daß er nicht der bis ins Mark
verlogenen Menge Tränen entlockte -- sie ins Herz trifft! Glauben Sie
denn, man hätte nicht längst sämtliche Theater mit Feuer und Schwert
ausgetilgt, wenn es anders wäre? An der Sentimentalität erkennt man die
Kanaille. Tausende armer Teufel können verhungern, da wird nicht
geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Bühne, als Bauerntrampel
verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die Schloßhunde. --
-- Wenn Väterchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen hat, was
ihm soeben noch -- Herzjauche kostete: jedes meiner Worte wird wieder in
ihm lebendig werden, wenn die Stunden reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. -- In solchen Momenten des großen
Misereres bedarf es bloß eines leisen Anstoßes, -- und für den werde ich
sorgen -- und selbst die feigste Pfote greift nach dem Gift. Es muß nur
zur Hand sein! Theodorchen hätte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst,
wenn ich's ihm nicht so bequem gemacht hätte.«

»Charousek, Sie sind ein furchtbarer Mensch,« rief ich entsetzt.
»Empfinden Sie denn gar kein -- -- --«

Er hielt mir schnell den Mund zu und drängte mich in eine Mauernische!

»Still! Da ist er!«

Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stützend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vorüber.

Charousek schüttelte mir flüchtig die Hand und schlich ihm nach. -- --

Als ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, sah ich, daß die Rose und das
Fläschchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte
Uhr des Trödlers auf dem Tisch lag.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

>Acht Tage müsse ich warten, ehe ich mein Geld bekommen könne; es sei
das die übliche Kündigungsfrist<, hatte man mir auf der Bank gesagt.

Man solle den Direktor holen, denn ich sei in größter Eile und gedächte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.

Er sei nicht zu sprechen und könne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts ändern, hieß es, und ein Kerl mit einem Glasauge, der zugleich
mit mir an den Schalter getreten war, hatte darüber gelacht.

Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!

Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. -- -- --

Ich war so niedergeschlagen, daß ich mir gar nicht bewußt wurde, wie
lange ich schon vor der Türe eines Kaffeehauses auf und
niedergeschritten sein mochte.

Endlich trat ich ein, bloß um den widerwärtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden, der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer
in meiner Nähe hielt und, wenn ich ihn anblickte, sofort auf dem Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.

Er hatte einen hellkarierten, viel zu engen Rock an und schwarze,
speckglänzende Hosen, die ihm wie Säcke um die Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein eiförmiger, gewölbter Lederfleck
aufgesteppt, daß es aussah, als trüge er darunter einen Siegelring auf
der Zehe.

Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch er herein und ließ sich an
einem Nebentisch nieder.

Ich glaubte, er wolle mich anbetteln, und suchte schon nach meinem
Portemonnaie, da sah ich einen großen Brillanten an seinen wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.

Stunden und Stunden saß ich in dem Kaffeehause und glaubte vor innerer
Nervosität wahnsinnig werden zu müssen, -- aber wohin sollte ich gehen?
Nach Hause? Herumschlendern? Eines schien mir gräßlicher als das andere.

Die veratmete Luft, das ewige, alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene, unaufhörliche Geräusper eines halbblinden Zeitungstigers mir
gegenüber, ein storchbeiniger Zollbeamter, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern vor einem Taschenspiegel
den Schnurrbart kämmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafte,
verschwitzter, schnatternder Italiener um den Kartentisch in der Ecke,
die bald unter gellem Gekreisch ihre Trümpfe mit dem Faustknöchel
hinschlugen, bald unter Brecherscheinungen ins Zimmer spuckten. Und das
alles in den Wandspiegeln doppelt und dreifach sehen zu müssen! Es sog
mir langsam das Blut aus den Adern. -- --

Es wurde allmählich dunkel und ein plattfüßiger, knieweicher Kellner
tastete mit einer Stange nach den Gaslüstern, um sich endlich
kopfschüttelnd zu überzeugen, daß sie nicht brennen wollten.

So oft ich das Gesicht wandte, immer begegnete ich dem schielenden
Wolfsblick des Glasäugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine
Zeitung versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart in die längst
ausgetrunkene Kaffeetasse tauchte.

Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestülpt, daß ihm die Ohren
fast wagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.

Es war nicht mehr auszuhalten.

Ich zahlte und ging.

Wie ich die Glastür hinter mir zumachen wollte, nahm mir jemand die
Klinke aus der Hand. -- Ich drehte mich um:

Wieder der Kerl!

Ärgerlich wollte ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da drängte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.

»Da hört denn doch alles auf!« schrie ich ihn an.

»Nach rechts geht's,« sagte er kurz.

»Was soll das heißen?«

Er fixierte mich frech:

»Sie sind der Pernath!«

»Sie wollen wahrscheinlich sagen: _Herr_ Pernath?«

Er lachte nur hämisch:

»Alsdann keine Faxen jetz! Sie gäh'n Sie mit!«

»Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?«, fuhr ich auf.

Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurück und zeigte vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.

Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.

»So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?«

»Sie werden sich's schonn erfahrrähn. Auf dem Däpartemänt«, erwiderte er
grob. »Alla marsch jetz!«

Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.

»Nix da!«

Wir gingen zur Polizei.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ein Gendarm führte mich vor eine Tür.

                            ALOIS OTSCHIN
                              Polizeirat

las ich auf der Porzellantafel.

»Sie kännen sich einträtten«, sagte der Gendarm.

Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen Aufsätzen standen einander
gegenüber.

Ein paar verkraxte Stühle dazwischen.

Das Bild des Kaisers an der Wand.

Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.

Sonst nichts im Zimmer.

Ein Klumpfuß und daneben ein dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.

Ich hörte rascheln. Jemand murmelte ein paar Worte in böhmischer Sprache
und gleich darauf tauchte der Herr Polizeirat aus dem rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.

Es war ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die Zähne zu fletschen wie jemand, der
in grelles Sonnenlicht schaut.

Dabei kniff er die Augen hinter den Brillengläsern zusammen, was ihm den
Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.

»Sie heißen Athanasius Pernath und sind« -- er blickte auf ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand -- »Gemmenschneider«.

Sofort kam Leben in den Klumpfuß unter dem anderen Schreibtisch: er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hörte das Rauschen einer
Schreibfeder.

Ich bejahte: »Pernath. Gemmenschneider.«

»No, da sin wir ja gleich beisammen, Herr -- -- -- Pernath, -- jawohl
Pernath. Ja wohl ja.« -- Der Herr Polizeirat war mit einem Schlag von
erstaunlicher Liebenswürdigkeit, als hätte er die erfreulichste
Nachricht von der Welt bekommen, streckte mir beide Hände entgegen und
bemühte sich in lächerlicher Weise, die Miene eines Biedermannes
aufzusetzen.

»Also, Herr Pernath, erzählen Sie mir einmal, was treiben Sie so den
ganzen Tag?«

»Ich glaube, daß Sie das nichts angeht, Herr Otschin«, antwortete ich
kalt.

Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr dann
blitzschnell los:

»Seit wann hat die Gräfin ihr Verhältnis mit dem Savioli?«

Ich war auf etwas Ähnliches gefaßt gewesen und zuckte nicht mit der
Wimper.

Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in Widersprüche zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz im Halse
schlug, ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurück, daß
ich den Namen Savioli nie gehört hätte, mit Angelina von meinem Vater
her befreundet sei, und daß sie schon öfter Kameen bei mir bestellt
habe.

Ich fühlte trotzdem genau, daß der Polizeirat mir ansah, wie ich ihn
belog, und innerlich schäumte vor Wut, nichts aus mir herausbekommen zu
können.

Er dachte eine Weile nach, dann zog er mich am Rock dicht an sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flüsterte
mir ins Ohr:

»Athanasius! Ihr seliger Vater war mein bester Freund. Ich will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie müssen mir alles sagen über die Gräfin. --
Hören Sie: alles.«

Ich begriff nicht, was das bedeuten sollte. »Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?«, fragte ich laut.

Der Klumpfuß stampfte ärgerlich auf den Boden. Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor Haß. Zog die Lippe empor. Wartete. -- Ich wußte,
daß er gleich wieder losspringen würde; (sein Verblüffungssystem
erinnerte mich an Wassertrum) und ich wartete ebenfalls, -- sah, daß ein
Bocksgesicht, der Inhaber des Klumpfußes, lauernd hinter dem
Schreibpulte auftauchte -- -- dann schrie mich der Polizeirat plötzlich
gellend an:

»_Mörder_«.

Ich war sprachlos vor Verblüffung.

Mißmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurück.

Auch der Herr Polizeirat schien ziemlich betreten über meine Ruhe,
versteckte es aber geschickt, indem er einen Stuhl herbeizog und mich
aufforderte, Platz zu nehmen.

»Sie verweigern also, über die Gräfin die von mir gewünschte Auskunft zu
geben, Herr Pernath?«

»Ich kann sie nicht geben, Herr Polizeirat, wenigstens nicht in dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne ich niemand namens Savioli, und
dann bin ich felsenfest überzeugt, daß es eine Verleumdung ist, wenn man
der Gräfin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten.«

»Sind Sie bereit, das zu beeiden?«

Mir stockte der Atem. »Ja! Jederzeit.«

»Gut. Hm.«

Eine längere Pause entstand, während der der Polizeirat angestrengt
nachzugrübeln schien.

Als er mich wieder anblickte, lag ein komödiantenhafter Zug von
Schmerzlichkeit in seiner Fratze. Unwillkürlich mußte ich an Charousek
denken, wie er dann mit tränenerstickter Stimme anfing:

»Mir können Sie es doch sagen, Athanasius, -- mir, dem alten Freund
Ihres Vaters, -- mir, der Sie auf den Armen getragen hat --« ich konnte
das Lachen kaum verbeißen: er war höchstens zehn Jahre älter als ich --
»nicht wahr, Athanasius, es war Notwehr?«

Das Bockgesicht erschien abermals.

»Was war Notwehr?«, fragte ich verständnislos.

»Das mit dem -- -- -- _Zottmann_!« schrie mir der Polizeirat einen Namen
ins Gesicht.

Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.

Ich fühlte, wie mir alles Blut zum Herzen strömte: Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf
mich zu lenken!

Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte die Zähne und kniff
die Augen zusammen:

»Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?«

»Das alles ist ein Irrtum, ein entsetzlicher Irrtum. Um Gottes willen
hören Sie mich an. Ich kann es Ihnen erklären, Herr Polizeirat -- --!«,
schrie ich.

»Werden Sie mir jetzt alles mitteilen in bezug auf die Frau Gräfin«,
unterbrach er mich rasch: »ich mache Sie aufmerksam: Sie verbessern Ihre
Lage damit.«

»Ich kann nicht mehr sagen, als bereits geschehen ist: die Gräfin ist
unschuldig«.

Er biß die Zähne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:

»Schreiben Sie: -- Also, Pernath gesteht den Mord an dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein«.

Mich packte eine besinnungslose Wut.

»Sie Polizeikanaille!« brüllte ich los, »was unterstehen Sie sich?!«

Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.

Im nächsten Augenblick hatten mich zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.

Der Polizeirat blähte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:

»Und die Uhr da?«, -- er hielt plötzlich die verbeulte Uhr in der Hand,
-- »hat der unglückliche Zottmann noch gelebt, als Sie ihn beraubten,
oder nicht?«

Ich war wieder ganz ruhig geworden und gab mit klarer Stimme zu
Protokoll:

»Die Uhr hat mir heute vormittag der Trödler Aaron Wassertrum --
geschenkt.«

Ein wieherndes Gelächter brach los, und ich sah, wie der Klumpfuß und
der Filzpantoffel mitsammen einen Freudentanz unter dem Schreibtisch
aufführten.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                 Qual


Die Hände gefesselt, hinter mir ein Gendarm mit aufgepflanztem Bajonett,
mußte ich durch die abendlich beleuchteten Straßen gehen.

Gassenjungen zogen in Scharen johlend links und rechts mit, Weiber
rissen die Fenster auf, drohten mit Kochlöffeln herunter und schimpften
hinter mir drein.

Schon von weitem sah ich den massigen Steinwürfel des Gerichtsgebäudes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:

                   »Die strafende Gerechtigkeit ist
                    die Beschirmung aller Braven.«

Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in dem es nach
Küche stank.

Ein vollbärtiger Mann mit Säbel, Beamtenrock und -mütze, barfuß und die
Beine in langen, um die Knöchel zusammengebundenen Unterhosen, stand
auf, stellte die Kaffeemühle, die er zwischen den Knien hielt, weg und
befahl mir, mich auszuziehen.

Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich -- Wanzen hätte.

Als ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte, es
sei gut, ich könne mich wieder ankleiden.

Man führte mich mehrere Stockwerke hinauf und durch Gänge, in denen
vereinzelt große, graue, verschließbare Kisten in den Fensternischen
standen.

Eiserne Türen mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
über jedem eine Gasflamme, zogen sich in ununterbrochener Reihe die Wand
entlang. Ein hünenhafter, soldatisch aussehender Gefangenwärter -- das
erste ehrliche Gesicht seit Stunden -- sperrte eine der Türen auf, schob
mich in eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende Öffnung
und schloß hinter mir ab.

Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.

Mein Knie stieß an einen Blechkübel.

Endlich erwischte ich -- der Raum war so eng, daß ich mich kaum umdrehen
konnte -- eine Klinke, und stand in -- einer Zelle.

Je zwei und zwei Pritschen mit Strohsäcken an den Mauern.

Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.

Ein Quadratmeter Gitterfenster hoch oben in der Querwand ließ den matten
Schein des Nachthimmels herein.

Unerträgliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete Luft erfüllte
den Raum.

Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, daß auf
drei der Pritschen -- die vierte war leer -- Menschen in grauen
Sträflingskleidern saßen; die Arme auf die Knie gestützt und die
Gesichter in den Händen vergraben.

Keiner sprach ein Wort.

Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.

Eine Stunde.

Zwei -- drei Stunden!

Wenn ich draußen einen Schritt zu hören glaubte, fuhr ich auf:

Jetzt, jetzt kam man mich holen, um mich dem Untersuchungsrichter
vorzuführen.

Jedesmal war es eine Täuschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.

Ich riß mir den Kragen auf -- glaubte, ersticken zu müssen.

Ich hörte, wie ein Gefangener nach dem andern sich ächzend ausstreckte.

»Kann man denn das Fenster da oben nicht aufmachen?«, fragte ich voll
Verzweiflung laut in die Dunkelheit hinein. Ich erschrak fast vor meiner
eigenen Stimme.

»Es geht net,« antwortete es mürrisch von einem der Strohsäcke herüber.

Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang: ein Brett
in Brusthöhe lief quer hin -- -- -- zwei Wasserkrüge -- -- -- Stücke von
Brotrinden.

Mühsam kletterte ich hinauf, hielt mich an den Gitterstäben und preßte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu
atmen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

So stand ich, bis mir die Knie zitterten. Eintöniger, schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.

Die kalten Eisenstäbe schwitzten.

Es mußte bald Mitternacht sein.

Hinter mir hörte ich schnarchen. Nur einer schien nicht schlafen zu
können: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stöhnte manchmal
halblaut auf.

Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.

Ich zählte mit bebenden Lippen:

Eins, zwei, drei! -- Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden, dann mußte
die Dämmerung kommen. Es schlug weiter:

Vier? fünf? -- Der Schweiß trat mir auf die Stirn. -- Sechs!! -- Sieben
-- -- -- es war _elf_ Uhr.

Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte Mal hatte schlagen
hören.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Allmählich legten sich meine Gedanken zurecht:

Wassertrum hatte mir die Uhr des vermißten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. -- Er mußte also
selbst der Mörder sein; wie hätte er sonst in den Besitz der Uhr kommen
können? Würde er die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt
haben, hätte er sich bestimmt die tausend Gulden Belohnung geholt, die
für die Entdeckung des Vermißten öffentlich ausgesetzt waren. -- Das
konnte aber nicht sein: die Plakate klebten noch immer an den
Straßenecken, wie ich deutlich auf meinem Weg ins Gefängnis gesehen
hatte. -- -- --

Daß der Trödler mich angezeigt haben mußte, war klar.

Ebenso: daß er mit dem Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf, unter
einer Decke steckte. Wozu sonst das Verhör wegen Savioli?

Andererseits ging daraus hervor, daß Wassertrum Angelinas Briefe _noch
nicht_ in Händen hatte.

Ich grübelte nach -- -- --

Mit einem Schlag stand alles mit entsetzlicher Deutlichkeit vor mir, als
wäre ich selbst dabei gewesen.

Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne Kassette, in
der er Beweise vermutete, heimlich an sich genommen, als er gerade mit
seinen Polizeikomplizen meine Wohnung durchstöberte, -- konnte sie nicht
sogleich öffnen, da ich den Schlüssel bei mir trug und war -- -- --
vielleicht gerade jetzt daran, sie in seiner Höhle aufzubrechen.

In wahnsinniger Verzweiflung rüttelte ich an den Gitterstäben, sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wühlte -- --

Wenn ich nur Charousek benachrichtigen könnte, daß er Savioli wenigstens
rechtzeitig warnen ging!

Einen Augenblick klammerte ich mich an die Hoffnung, meine Verhaftung
müsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein,
und ich vertraute auf Charousek wie auf einen rettenden Engel. Gegen
seine infernalische Schlauheit kam der Trödler nicht auf; »Ich werde ihn
genau in der Stunde an der Gurgel haben, in der er Dr. Savioli an den
Hals will,« hatte Charousek schon einmal gesagt.

In der nächsten Minute wieder verwarf ich alles und eine wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu spät kam?

Dann war Angelina verloren. -- -- --

Ich biß mir die Lippen blutig und zerkrallte mir die Brust aus Reue, daß
ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; -- -- -- ich schwor
es mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen,
wo ich wieder auf freiem Fuß sein würde.

Ob ich von eigner Hand starb oder am Galgen -- was lag mir daran!

Daß der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben würde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr plausibel machte, ihm von Wassertrums
Drohungen erzählte, -- keinen Augenblick zweifelte ich daran.

Bestimmt morgen schon mußte ich frei sein; zumindest würde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdacht verhaften lassen.

Ich zählte die Stunden und betete, daß sie rascher vergehen möchten;
starrte hinaus in den schwärzlichen Dunst.

Nach unsäglich langer Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein
kupfernes, riesiges Gesicht aus dem Nebel: das Zifferblatt einer alten
Turmuhr. Doch die _Zeiger fehlten_; -- neuerliche Qual.

Dann schlug es fünf.

Ich hörte, wie die Gefangenen erwachten und gähnend eine Unterhaltung in
böhmischer Sprache führten.

Eine Stimme kam mir bekannt vor; ich drehte mich um, stieg von dem Brett
herunter und -- sah den blatternarbigen Loisa auf der Pritsche,
gegenüber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.

Die beiden anderen waren Gesellen mit verwegenen Gesichtern und
musterten mich geringschätzig.

»Defraudant? Was?«, fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieß
ihn mit dem Ellenbogen an.

Der Gefragte brummte verächtlich irgend etwas, kramte in seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.

Dann schüttete er aus dem Krug ein wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin und kämmte sich mit den Fingern das Haar in die
Stirn.

Hierauf trocknete er das Papier mit zärtlicher Sorgfalt ab und
versteckte es wieder unter der Pritsche.

»Pan Pernath, Pan Pernath,« murmelte Loisa dabei beständig mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.

»Die Herrschaften kennen einand, wie ich bemerkö,« sagte der Ungekämmte,
dem dies auffiel, in dem geschraubten Dialekt eines tschechischen
Wieners und machte mir spöttisch eine halbe Verbeugung: »Erlaubens mich
vorzustellen: Vóssatka ist mein Name. Der schwarze Vóssatka. -- -- --
Brandstiftung,« setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.

Der Frisierte spuckte zwischen den Zähnen durch, blickte mich eine Weile
verächtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:

»Einbruch.«

Ich schwieg.

»No, und zweng wos für einen Verdachtö sin Sie hier, Herr Graf?« fragte
der Wiener nach einer Pause.

Ich überlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: »Wegen Raubmord«.

Die beiden fuhren verblüfft auf, der spöttische Ausdruck auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie
riefen fast wie aus einem Munde:

»Räschpäkt, Räschpäkt.«

Als sie sahen, daß ich keine Notiz von ihnen nahm, zogen sie sich in die
Ecke zurück und unterhielten sich flüsternd miteinander.

Nur einmal stand der Frisierte auf, kam zu mir, prüfte schweigend die
Muskeln meines Oberarms und ging dann kopfschüttelnd zu seinem Freund
zurück.

»Sie sind doch auch unter dem Verdacht hier, den Zottmann ermordet zu
haben?« fragte ich Loisa unauffällig.

Er nickte. »Ja, schon lang.«

Wieder vergingen einige Stunden.

Ich schloß die Augen und stellte mich schlafend.

»Herr Pernath. Herr Pernath!« hörte ich plötzlich ganz leise Loisas
Stimme.

»Ja?« -- -- -- Ich tat, als erwachte ich.

»Herr Pernath? Bitte entschuldigen Sie, -- bitte -- bitte, wissen Sie
nicht, was die Rosina macht? -- Ist sie zu Hause?«, stotterte der arme
Bursche. Er tat mir unendlich leid, wie er mit seinen entzündeten Augen
an meinen Lippen hing und vor Aufregung die Hände verkrampfte.

»Es geht ihr gut. Sie -- sie ist jetzt Kellnerin beim -- -- alten
Ungelt«, log ich.

Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Zwei Sträflinge hatten auf einem Brett Blechtöpfe mit heißem Wurstabsud
stumm hereingebracht und drei davon in die Zelle gestellt, dann knallten
nach einigen Stunden abermals die Riegel und der Aufseher führte mich
zum Untersuchungsrichter.

Mir schlotterten die Knie vor Erwartung, wie wir treppauf, treppab
schritten.

»Glauben Sie, ist es möglich, daß ich heute noch freigelassen werde?«,
fragte ich den Aufseher beklommen.

Ich sah, wie er mitleidig ein Lächeln unterdrückte. »Hm. Heute noch? Hm
-- -- Gott, -- möglich ist ja alles.« --

Mir wurde eiskalt.

Wieder las ich eine Porzellantafel an einer Tür und einen Namen:

                    KARL FREIHERR VON LEISETRETER
                         Untersuchungsrichter

Wieder ein schmuckloses Zimmer und zwei Schreibpulte mit meterhohen
Aufsätzen.

Ein alter, großer Mann mit weißem, geteiltem Vollbart, schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.

»Sie sind Herr Pernath?«

»Jawohl.«

»Gemmenschneider?«

»Jawohl.«

»Zelle Nr. 70?«

»Jawohl.«

»Des Mordes an Zottmann verdächtig?«

»Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter -- --«

»_Des Mordes an Zottmann verdächtig?_«

»Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber -- --«

»Geständig?«

»Was soll ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich bin doch
unschuldig!«

»_Geständig?_«

»Nein.«

»Dann verhänge ich die Untersuchungshaft über Sie. -- Führen Sie den
Mann hinaus, Gefangenwärter.«

»Bitte, so hören Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, -- ich muß
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu
veranlassen -- --«

Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.

Der Herr Baron schmunzelte. --

»Führen Sie den Mann hinaus, Gefangenwärter.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch saß ich in der
Zelle.

Um zwölf Uhr durften wir täglich hinunter in den Gefängnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und Sträflingen zu zweit 40 Minuten im
Kreis herumgehen auf der nassen Erde.

Miteinander zu reden, war verboten.

In der Mitte des Platzes stand ein kahler, sterbender Baum, in dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.

An den Mauern wuchsen kümmerliche Ligusterstauden, die Blätter fast
schwarz vom fallenden Ruß.

Ringsum die Gitter der Zellen, aus denen zuweilen ein kittgraues Gesicht
mit blutleeren Lippen herunterschaute.

Dann ging's wieder hinauf in die gewohnten Grüfte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und Sonntags zu faulenden Linsen.

Erst einmal war ich wieder vernommen worden:

Ob ich Zeugen hätte, daß mir »Herr« Wassertrum angeblich die Uhr
geschenkt habe?

»Ja: Herrn Schemajah Hillel -- -- das heißt -- nein« (ich erinnerte
mich, er war nicht dabei gewesen) -- -- »aber Herr Charousek -- nein,
auch er war ja nicht dabei.«

»Kurz: also niemand war dabei?«

»Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter.«

Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:

»Führen Sie den Mann hinaus, Gefangenwärter!« -- -- --

Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern mußte, war vorüber. Entweder
Wassertrums Racheplan war längst geglückt, oder Charousek hatte
eingegriffen, sagte ich mir.

Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.

Ich stellte mir vor, wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, daß sich
das Wunder erneuere, -- wie sie früh am Morgen, wenn der Bäcker kam,
hinauslief und mit bebenden Händen das Brot untersuchte, -- wie sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.

Oft in der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich stieg auf das
Wandbrett und starrte empor zu dem kupfernen Gesicht der Turmuhr und
verzehrte mich in dem Wunsch, meine Gedanken möchten zu Hillel dringen
und ihm ins Ohr schreien, er solle Mirjam helfen und sie erlösen von der
Qual des Hoffens auf ein Wunder.

Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis mir
die Brust fast zersprang, -- um das Bild meines Doppelgängers vor mich
zu zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken könnte als einen Trost.

Und einmal war er auch erschienen neben meinem Lager mit den Buchstaben:
Chabrat Zereh Aur Bocher in Spiegelschrift auf der Brust, und ich wollte
aufschreien vor Jubel, daß jetzt alles wieder gut würde, aber er war in
den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam zu
erscheinen. -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Daß ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!

Ob es denn verboten sei, einem Briefe zu schicken? fragte ich meine
Zellengenossen.

Sie wußten es nicht.

Sie hätten noch nie welche bekommen -- allerdings wäre auch niemand da,
der ihnen schreiben könnte, sagten sie.

Der Gefangenwärter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen. -- --

Meine Nägel waren rissig geworden vom Abbeißen und mein Haar verwildert,
denn Schere, Kamm und Bürste gab es nicht.

Auch kein Wasser zum Waschen.

Fast ununterbrochen kämpfte ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit Soda gewürzt statt mit Salz. -- -- Eine Gefängnisvorschrift, um dem
»Überhandnehmen des Geschlechtstriebes vorzubeugen«. -- --

Die Zeit verging in grauer, furchtbarer Eintönigkeit.

Drehte sich im Kreis wie ein Rad der Qual.

Da gab es die gewissen Momente, die jeder von uns kannte, wo plötzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und niederlief wie
ein wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen
zu lassen und stumpfsinnig weiter zu warten -- zu warten -- zu warten.

Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen über die
Wände und ich fragte mich erstaunt, warum denn der Kerl in Säbel und
Unterhosen mich so gewissenhaft ausgeforscht habe, ob ich kein
Ungeziefer hätte.

Fürchtete man vielleicht im Landesgericht, es könne eine Kreuzung
_fremder_ Insektenrassen entstehen?

Mittwoch vormittags kam gewöhnlich ein Schweinskopf herein mit
Schlapphut und zuckenden Hosenbeinen: Der Gefängnisarzt Dr. Rosenblatt,
und überzeugte sich, daß alle vor Gesundheit strotzten.

Und wenn einer sich beschwerte, gleichgültig worüber, so verschrieb er
-- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.

Einmal kam auch der Landesgerichtspräsident -- ein hochgewachsener,
parfümierter Halunke der »guten Gesellschaft«, dem die gemeinsten Laster
im Gesicht geschrieben standen, und sah nach, ob -- alles in Ordnung
sei: »ob sich noch immer kaner derhenkt hobe«, wie sich der Frisierte
ausdrückte.

Ich war auf ihn zugetreten, um ihm eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen Satz hinter den Gefangenwärter gemacht und mir einen Revolver
vorgehalten. -- »Was ich denn wolle«, schrie er mich an.

Ob Briefe für mich da seien, fragte ich höflich. Statt der Antwort bekam
ich einen Stoß vor die Brust vom Herrn Dr. Rosenblatt, der gleich darauf
das Weite suchte. Auch der Herr Präsident zog sich zurück und höhnte
durch den Türausschnitt: -- ich solle lieber den Mord gestehen. Eher
bekäme ich in diesem Leben keine Briefe.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich hatte mich längst an die schlechte Luft und die Hitze gewöhnt und
fröstelte beständig. Selbst, wenn die Sonne schien.

Zwei der Gefangenen hatten schon einige Mal gewechselt, aber ich achtete
nicht darauf. Diese Woche war es ein Taschendieb und ein Wegelagerer,
das nächste Mal ein Falschmünzer oder ein Hehler, die hereingeführt
wurden.

Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.

Gegen das Wühlen der Sorge um Mirjam verblaßten alle äußern
Begebenheiten.

Nur _ein_ Ereignis hatte sich mir tiefer eingeprägt -- es verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum.

Ich hatte auf dem Wandbrett gestanden, um hinauf in den Himmel zu
starren, da fühlte ich plötzlich, daß mich ein spitzer Gegenstand in die
Hüfte stach, und als ich nachsah, bemerkte ich, daß es die Feile gewesen
war, die sich mir durch die Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt
hatte. Sie mußte schon lange dort gesteckt haben, sonst hätte sie der
Mann in der Flurstube gewiß bemerkt.

Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.

Als ich dann herunterstieg, war sie verschwunden, und ich zweifelte
keinen Augenblick, daß nur Loisa sie genommen haben konnte.

Einige Tage später holte man ihn aus der Zelle, um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.

Es dürfe nicht sein, daß zwei Untersuchungsgefangene, die desselben
Verbrechens beschuldigt wären, wie er und ich, in der gleichen Zelle
säßen, hatte der Gefangenwärter gesagt.

Von ganzem Herzen wünschte ich, es möchte dem armen Burschen gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.




                                 Mai


Auf meine Frage, welches Datum denn wäre -- die Sonne schien so warm wie
im Hochsommer und der müde Baum im Hof trieb ein paar Knospen -- hatte
der Gefangenwärter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugeflüstert, es
sei der 15. Mai. Eigentlich dürfe er es nicht sagen, denn es sei
verboten, mit den Gefangenen zu sprechen, -- insbesondere solche, die
noch nicht gestanden hätten, müßten hinsichtlich der Zeit im unklaren
gehalten werden.

Drei volle Monate war ich also schon im Gefängnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da draußen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wenn es Abend wurde, drangen leise Klänge eines Klaviers durch das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.

Die Tochter des Beschließers unten spiele, hatte mir ein Sträfling
gesagt. -- --

Tag und Nacht träumte ich von Mirjam.

Wie es ihr wohl ging?!

Zuzeiten hatte ich das tröstliche Gefühl, als seien meine Gedanken zu
ihr gedrungen und stünden an ihrem Bette, während sie schlief, und
legten ihr lindernd die Hand auf die Stirne.

Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem
andern meiner Zellengenossen zum Verhör geführt wurde, -- nur ich nicht,
-- drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange
tot.

Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder
nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die
ich aus dem Strohsack riß, sollte mir Antwort geben.

Und fast jedesmal »ging es schlecht aus«, und ich wühlte in meinem
Innern nach einem Blick in die Zukunft; -- suchte meine Seele, die mir
das Geheimnis verbarg, zu überlisten durch die scheinbar abseits
liegende Frage, ob wohl für mich dereinst noch ein Tag kommen würde, wo
ich heiter sein und wieder lachen könnte.

Immer bejahte das Orakel in solchen Fällen, und dann war ich eine Stunde
lang glücklich und froh.

Wie eine Pflanze heimlich wächst und sproßt, war allmählich in mir eine
unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faßte es nicht,
daß ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden können, ohne mir
damals schon klar darüber geworden zu sein.

Der zitternde Wunsch, daß auch sie mit gleichen Gefühlen an mich denken
möchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der
Gewißheit, und wenn ich dann auf dem Gange draußen einen Schritt hörte,
fürchtete ich mich beinahe davor, man könne mich holen und freilassen
und mein Traum würde in der groben Wirklichkeit der Außenwelt in nichts
zerrinnen.

Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, daß ich
auch das leiseste Geräusch vernahm.

Jedesmal bei Anbruch der Nacht hörte ich in der Ferne einen Wagen fahren
und zergrübelte mir den Kopf, wer wohl darin sitzen möchte.

Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, daß es Menschen gab
da draußen, die tun und lassen durften, was sie wollten, -- die sich
frei bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.

Daß auch ich jemals wieder so glücklich werden würde, im Sonnenschein
durch die Straßen wandern zu können -- -- ich war nicht mehr imstande,
es mir vorzustellen.

Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem
längstverflossenen Dasein anzugehören; -- ich dachte daran zurück mit
jener leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch
aufschlägt und findet darin welke Blumen, die einst die Geliebte der
Jugendjahre getragen hat.

Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend für Abend mit Vrieslander und
Prokop beim »Ungelt« saß und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus
machte?

Nein, es war doch Mai -- die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch die Provinznester zog und auf grünen Wiesen vor den Toren den
Ritter Blaubart spielte.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich saß allein in der Zelle. -- Vóssatka, der Brandstifter, mein
einziger Gefährte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum
Untersuchungsrichter geholt worden.

Merkwürdig lange dauerte diesmal sein Verhör.

Da. Die eiserne Vorlegstange klirrte an der Tür. Und mit
freudestrahlender Miene stürmte Vóssatka herein, warf ein Bündel Kleider
auf die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.

Den Sträflingsanzug warf er Stück um Stück mit einem Fluch auf den
Boden.

»Nix hamms mer beweisen könna, dö Hallodri. -- Brandstiftung! -- Ja
doder« er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. »Auf den
schwarzen Vóssatka sans jung. -- Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi
fest blimm. Den kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen -- den Herrn
von Wind. -- No servus heit Abend! -- Do werd aufdraht. Beim
Loisitschek.« -- Er breitete die Arme aus und tanzte einen
»G'strampften«. -- »Nur einmahl im Leböhn blie--het der Mai.« -- Er
stülpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten Nußhäherfeder darauf über den Schädel. -- »Ja,
richtig, das wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana
Freund, der Loisa, is ausbrochen! -- Grad hab i's erfahrehn oben bei die
Hallodri. Schon vurigen Monat -- gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht
und ist längs ieber -- pbhuit« -- er schlug sich mit den Fingern auf den
Handrücken -- »ieber alle Bergöh«. --

»Aha, die Feile,« dachte ich mir und lächelte.

»Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf,« der Brandstifter
streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, »daß Sie möglichst bei
Zeitöhn freikommen. -- Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen
Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen Vóssatka. -- Kennte
mich jädes Madel durten. So! -- Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein
Vergniegen.«

Er stand noch in der Türe, da schob der Wärter schon einen neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.

Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der
Soldatenmütze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der
Hahnpaßgasse gestanden hatte. Eine freudige Überraschung! Vielleicht
wußte er zufällig etwas über Hillel und Zwakh und alle die andern?

Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem größten
Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und
bedeutete mir, ich solle schweigen.

Erst als die Tür von draußen abgesperrt und der Schritt des
Gefangenwärters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.

Mir schlug das Herz vor Aufregung.

Was sollte das bedeuten?

Kannte er mich denn, und was wollte er?

Das erste, was der Schlot tat, war, daß er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.

Dann zerrte er mit den Zähnen einen Stöpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riß die
anscheinend nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides
mit stolzer Miene hin. --

Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im
geringsten zu achten.

»So! Einen schönen Gruß vom Herrn Charousek.«

Ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbringen konnte. --

»Brauchens' bloß Eisenblechl nähmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. -- Ise nämlich hohl inewändig« --
erklärte der Schlot mit überlegener Miene, »und finden Sie sich drinn
eine Brieffel von Herrn Charousek.«

Im Übermaß meines Entzückens fiel ich dem Schlot um den Hals und die
Tränen stürzten mir aus den Augen.

Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:

»Missen sich mehr zusammennähmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, daß
ich in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim
Pordjöh die Nummern mitsamm vertauscht.« --

Ich mußte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot
fuhr fort:

»Wann Sie das auch nicht verstähn, macht nix. Kurz: ich bin ich hier,
Pasta!«

»Sagen Sie doch,« fiel ich ihm ins Wort, »sagen Sie doch, Herr -- --
Herr -- -- --«

»Wenzel,« -- half mir der Schlot aus, »ich heiß' ich der schöne Wenzel.«

»Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie geht
es seiner Tochter?«

»Dazu ist jetz keine Zeit nicht,« unterbrach mich der schöne Wenzel
ungeduldig. »Ich kann ich doch im näxen Augenblick herausgeschmissen
werden. -- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra
eingestanden hab -- --«

»Was, Sie haben bloß meinetwegen, und um zu mir kommen zu können, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?« fragte ich erschüttert.

Der Schlot schüttelte verächtlich den Kopf: »Wann ich wirklich einen
Raubanfall _begangen_ hätt, mecht ich ihm doch nicht _eingestähen_. Was
glauben Sie von mir!?«

Ich verstand allmählich: -- der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins Gefängnis zu schmuggeln.

»So; zuverderscht« -- er machte ein äußerst wichtiges Gesicht -- »muß
ich Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gäben.«

»Worin?«

»In der Ebilebsie! -- Gäbm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! -- Alsdann schaugens här: Zuerscht macht me Speichel in der
Goschen;« -- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie
jemand, der sich den Mund ausspült -- »dann kriegt me Schaum vorm Maul,
sengen S' so«: -- er machte auch dies. Mit widerwärtiger Natürlichkeit.
-- »Nachhe drehte ma die Daumen in die Faust. -- Nachhe kugelt me die
Augen raus« -- er schielte entsetzlich -- »und dann -- das ise sich bisl
schwär -- stoßt me so halbeten Schrei aus. Segen S', so: Bö -- bö -- bö,
-- und gleichzeitig fallt me sich um.« -- Er ließ sich der Länge nach zu
Boden fallen, daß das Haus zitterte, und sagte beim Aufstehen:

»Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert
gottsälig beim >Bataljohn< gelernt hat.«

»Ja, ja, es ist täuschend ähnlich,« gab ich zu, »aber wozu dient das
alles?«

»Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!«, erklärte der schöne
Wenzel. »Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon gar
kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! -- Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsräschpäkt. Wann
aner daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. -- -- Und da
ise sich das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;« -- er wurde tief
geheimnisvoll -- »den Fenstergitter in der Krankenzelle ise nämlich
durchgesägt und nur schwach mit Dreck zusammenpappt. -- Es ise sich das
ein Geheimnis vom Bataljohn! -- Sie brauchen dann bloß ein paar Nächte
scharf aufpassen und, wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis
vors Fenster kommen segen, heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand
nicht aufwacht, steckens die Schultern in die Schlinge, und mir ziegen
Ihnen hinauf aufs Dach und lassen Ihnen auf der andern Seiten hinunter
auf die Straßen. -- Pasta.«

»Weshalb soll ich denn aus dem Gefängnis ausbrechen?« wandte ich
schüchtern ein, »ich bin doch unschuldig.«

»Daß ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!«, widerlegte mich der
schöne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.

Ich mußte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen
Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines »Bataillons«beschlusses war,
auszureden.

Daß ich »die Gabe Gottes« von der Hand wies und lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen würde, war ihm unbegreiflich.

»Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das
allerherzlichste,« sagte ich gerührt und drückte ihm die Hand. »Wenn die
schwere Zeit für mich vorüber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen.«

»Ise gar nicht nätig,« lehnte Wenzel freundlich ab. »Wann Sie ein paar
Glas >Pils< zahlen, nähmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn, hat e' uns schon
erzählt, was Sie für ein heimlicher Wohltäter sin. Soll ich ihm was
ausrichten, wenn ich in paar Täg wieder herauskomm?«

»Ja, bitte,« fiel ich rasch ein, »sagen Sie ihm, er möchte zu Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich hätte soviel Angst wegen der Gesundheit
seiner Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen.
-- Werden Sie sich den Namen merken?: _Hillel_!«

»Hirräl?«

»Nein: Hillel.«

»Hillär?«

»Nein: Hill--el.«

Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem für einen Tschechen
unmöglichen Namen, aber schließlich bewältigte er ihn doch unter wilden
Grimassen.

»Und dann noch eins: Herr Charousek möge -- ich lasse ihn herzlich drum
bitten -- sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der »vornehmen
Dame« -- er weiß schon, wer darunter zu verstehen ist -- annehmen.«

»Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was das
Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz -- dem Dr. Sapoli? -- No, die hat sich
doch scheiden lassen und ise mit ihrem Kind und dem Sapoli furt.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

Ich fühlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, -- es krampfte mir dennoch das Herz zusammen.

Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt -- -- -- war ich
vergessen.

Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmörder.

Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.

Der Schlot schien mit dem Feingefühl, das verwahrlosten Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen,
erraten zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und
antwortete nicht.

»Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Fräulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?«, fragte ich gepreßt.

»Mirjam? Mirjam?« -- Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten
-- »Mirjam? -- Gäht sich die öfters in der Nacht zum Loisitschek?«

Ich mußte unwillkürlich lächeln. »Nein. Bestimmt nicht.«

»Dann kenn ich sie nicht,« sagte Wenzel trocken.

Wir schwiegen eine Weile.

Vielleicht steht in dem Briefchen etwas über sie, hoffte ich.

»Daß den Wassertrum der Deiwel g'holt hat«, fing Wenzel plötzlich wieder
an, »wärden Sie sich wohl schon gehärt haben?«

Ich fuhr entsetzt auf.

»No ja.« -- Wenzel deutete auf seine Kehle. -- »Murxi, murxi! Ich sag
ich Ihnän; es war Ihnän schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen
haben, weil er sich paar Täg nicht hat segen lassen, war ich natrierlich
der erschte drin; -- wie denn nicht! -- Und da hat e' durten g'sässen,
der Wassertrum, in einen dreckigen Lähnsessel, die Brust voller Blut und
die Augen wie aus Glas. -- -- -- -- -- Wissen S', ich bin ich ein
handfeste Kerl, aber mir hat sich alles gedräht, sag ich Ihnän, und ich
hab' gemeint, ich hau ich ohnmächtig hi--iin. Furt' a furt' hab' ich mir
vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht
auf, es is doch bloß ein toter Jud. -- Er hat eine Feile in der Kehle
stecken gehabt und im Laden war sich alles umedum geschmissen. -- Ein
Raubmord natierlich.«

»Die Feile! Die Feile!« Ich fühlte, wie mir der Atem kalt wurde vor
Grausen. -- Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!

»Ich weiß ich auch, wer's war,« fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut
fort. »Niemand anders, sag ich Ihnän, als der blattersteppige Loiso. --
Ich hab' ich nämlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt
und rasch eing'stäckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. -- Er
ise sich durch einen unterirdischen Gang in den Laden -- -- -- -- --« er
brach mit einem Ruck seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang
angestrengt, dann warf er sich auf die Pritsche und fing an,
fürchterlich zu schnarchen.

Gleich darauf klirrte das Vorhängeschloß und der Gefängniswärter kam
herein und musterte mich argwöhnisch.

Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.

Erst nach vielen Püffen richtete er sich gähnend auf und taumelte,
gefolgt von dem Wärter, schlaftrunken hinaus.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:

Den 12. Mai.

»Mein lieber armer Freund und Wohltäter!

Woche um Woche habe ich gewartet, daß Sie endlich freikommen würden, --
immer vergebens, -- habe alle möglichen Schritte versucht, um
Entlastungsmaterial für Sie zu sammeln, aber ich fand keins.

Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal hieß es, er könne nichts tun, -- es sei Sache der
Staatsanwaltschaft und nicht die seinige.

Amtsschimmel!

_Eben erst, vor einer Stunde_, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir
den _besten_ Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, daß Jaromir dem
Wassertrum eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung
seines Bruders Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.

Beim >Loisitschek<, wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht
das Gerücht, man hätte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann --
dessen Leiche übrigens noch immer nicht entdeckt ist -- als ^corpus
delicti^ bei _Ihnen_ gefunden. Das übrige reimte ich mir zusammen:
Wassertrum ^et cetera^!

Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl. gegeben -- --« Ich
ließ den Brief sinken und die Freudentränen traten mir in die Augen: nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch
Prokop, noch Vrieslander besaßen soviel Geld. -- Sie hatte mich also
doch nicht vergessen! -- Ich las weiter:

»-- 1000 fl. gegeben und ihm weitere 2000 fl. versprochen, wenn er mit
mir sofort zur Polizei ginge und eingestünde, die Uhr seinem Bruder zu
Hause entwendet und verkauft zu haben.

Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.

Aber seien Sie versichert: es _wird_ geschehen. _Heute_ noch. Ich bürge
Ihnen dafür.

Ich zweifle keinen Augenblick, daß Loisa den Mord begangen hat und die
Uhr die Zottmanns ist.

Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, -- nun, dann weiß Jaromir, was
er zu tun hat: -- _Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene
agnoszieren_.

Also: harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.

Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?

Ich weiß es nicht.

Fast möchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch zu
Ende, und _ich muß auf der Hut sein, daß mich die letzte Stunde nicht
überrascht_.

Aber eins halten Sie fest: wir _werden_ uns wiedersehen.

Wenn auch nicht in _diesem_ Leben und nicht wie die Toten in _jenem_
Leben, aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, -- wo, wie es in der
Bibel steht, der HERR _die_ ausspeien wird aus seinem Munde, die lau
waren und weder kalt noch warm. -- -- --

Wundern Sie sich nicht, daß ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen über
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort >Kabbala< berührten,
bin ich Ihnen ausgewichen, aber -- ich weiß, was ich weiß.

Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem
Gedächtnis. -- -- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich -- ein Zeichen
auf Ihrer Brust zu sehen. -- Mag sein, daß ich wach geträumt habe.

Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daß ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe -- innerlich! -- fast schon von
Kindheit an, die mich einen seltsamen Weg geführt haben; --
Erkenntnisse, die sich nicht decken mit dem, was die Medizin lehrt oder,
Gott sei Dank, noch nicht weiß; hoffentlich auch nie erfahren wird.

Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
höchstes Ziel es ist, einen -- >Wartesaal< auszustaffieren, den man am
besten niederrisse.

Doch genug davon.

Ich will Ihnen lieber erzählen, was sich inzwischen zugetragen hat:

Ende April war Wassertrum soweit, daß meine Suggestion anfing zu wirken.

Ich sah es daran, daß er auf der Gasse beständig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.

So etwas ist ein sicheres Zeichen, daß die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um über ihren Herrn herzufallen.

Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.

Er schrieb!

Er schrieb! Daß ich nicht lache! Er _schrieb_.

Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wußte ich, was er
oben machte: -- er machte sein Testament.

Daß er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich hätte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor Vergnügen, wenn's
mir eingefallen wäre.

Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er noch etwas gutmachen könnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn
überlistet.

Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich würde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode durch seine Huld plötzlich als Millionär sähe, und
dadurch den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat
mit anhören müssen.

Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.

Rasend witzig, daß er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im
Jenseits geglaubt hat, während er sich's das ganze Leben lang mühselig
ausreden wollte.

Aber so ist's bei allen den ganz Gescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt.
Sie fühlen sich ertappt.

Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, ließ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.

Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn jede
Minute konnte die Entscheidung fallen. --

Ich glaube, durch Mauern hindurch würde ich das ersehnte schnalzende
Geräusch gehört haben, wenn er den Stöpsel aus der Giftflasche gezogen
hätte.

Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war
vollbracht.

Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.

Lassen Sie sich das Nähere von Wenzel erzählen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu müssen.

Nennen Sie es Aberglaube, -- aber, wie ich sah, daß Blut _vergossen_
worden war -- die Dinge im Laden waren befleckt davon, -- kam es mir
vor, als sei mir seine Seele entwischt.

Etwas in mir, -- ein feiner, untrüglicher Instinkt -- sagt mir, daß es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt, oder von
eigener: -- daß Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hätte nehmen
müssen, dann erst wäre meine Mission erfüllt gewesen. -- Jetzt, wo es
anders gekommen ist, fühle ich mich als Ausgestoßener, als ein Werkzeug,
das nicht würdig befunden wurde in der Hand des Todesengels.

Aber ich will mich nicht auflehnen. _Mein Haß ist von der Art, die übers
Grab hinausgeht_, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich
vergießen kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich
der Schatten auf Schritt und Tritt. -- -- --

Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich draußen bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.

Ich glaube, ich weiß es bereits, aber ich will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. -- Wir
Menschen sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis
wir das Flüstern unserer Seele verstehen. -- -- --

In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt,
daß mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.

Daß ich für mich keinen Kreuzer davon anrühre, brauche ich Ihnen wohl
nicht zu versichern, Herr Pernath. -- Ich werde mich hüten, >ihm< -- für
>drüben< eine Handhabe zu geben.

Die Häuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die Gegenstände,
die er berührt hat, werden verbrannt, und was an Geld und Geldeswert
sich dann ergibt, fällt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen zu. --

Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmäßiges Eigentum mit
Zinsen und Zinseszinsen. Schon lange wußte ich, daß Wassertrum vor
Jahren Ihren Vater und seine Familie um alles gebracht hat, -- erst
jetzt bin ich in der Lage, es aktenmäßig nachweisen zu können.

Ein zweites Drittel wird unter die zwölf Mitglieder des »Bataillons«
verteilt, die den Dr. Hulbert noch persönlich gekannt haben. Ich will,
daß jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager -- »guten
Gesellschaft«.

Das letzte Drittel gehört zu gleichen Teilen den nächsten sieben
Raubmördern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen
werden müssen.

Ich bin das dem öffentlichen Ärgernis schuldig.

So. Das wäre wohl alles.

Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen

                                                                 Ihres
                                            aufrichtigen und dankbaren
                                                  Innocenz Charousek.«

Tief erschüttert legte ich den Brief aus der Hand.

Ich konnte mich nicht freuen über die Nachricht von meiner
bevorstehenden Enthaftung.

Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kümmerte er sich um mein
Schicksal. Bloß, weil ich ihm einst 100 fl. geschenkt hatte. Wenn ich
ihm nur einmal noch die Hand drücken könnte!

Ich fühlte: ja, er hatte recht; der Tag würde nie kommen.

Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsüchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.

Vielleicht, daß alles ganz anders gekommen wäre, wenn eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hätte.

Noch einmal las ich den Brief durch.

Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er überhaupt irrsinnig
war?

Ich schämte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick
geduldet zu haben.

Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel, wie
Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, über den die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, -- den sie durch die wilden Schluchten und Klüfte des
Lebens emporführte in die Firnenwelt eines unbetretenen Landes.

Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner
da, als irgendeiner von denen, die naserümpfend umhergehen und
angelernte Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen
vorgeben?

Er hielt das Gebot, das ihm ein übermächtiger Trieb diktierte, ohne an
eine »Belohnung« hier oder jenseits auch nur zu denken.

Was er getan hatte, war es etwas anderes als frömmste Pflichterfüllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?

»Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische -- eine
Verbrechernatur« -- ich hörte förmlich, wie das Urteil der Menge über
ihn lauten mußte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele
hineinleuchten käme, -- dieser geifernden Menge, die nie und nimmer
begreifen wird, daß die giftige Herbstzeitlose tausendfach schöner und
edler ist als der nützliche Schnittlauch. -- -- --

Wieder ging das Türschloß draußen, und ich hörte, daß man einen Menschen
hereinschob.

Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfüllt von dem
Eindruck des Briefes.

Kein Wort über Angelina, nichts von Hillel stand darin.

Freilich: Charousek mußte in größter Eile geschrieben haben, die Schrift
verriet es mir.

Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich überbracht werden würde?

Ich hoffte auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang der
Gefangenen im Hof. -- Da war es noch am leichtesten, daß mir irgendeiner
vom »Bataillon« etwas zusteckte.

Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grübeleien:

»Würden Sie gestatten, mein Herr, daß ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder.«

Ich drehte mich um.

Ein kleiner, schmächtiger, noch ziemlich junger Mann in gewählter
Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich
korrekt vor mir.

Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine großen, hellgrün
glänzenden, mandelförmigen Augen hatten das Eigentümliche an sich, daß,
so geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu
sehen schienen. -- Es lag so etwas wie -- Geistesabwesenheit darin.

Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht
wenden, so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften Lächeln,
das die aufwärts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen
beständig seinem Gesicht aufdrückten.

Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mädchenhaft schmalen Nase
und den zarten Nüstern.

»Amadeus Laponder, Amadeus Laponder«, wiederholte ich vor mich hin.

»Was er wohl begangen haben mag?«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                 Mond


»Waren Sie schon beim Verhör,« fragte ich nach einer Weile.

»Ich komme soeben von dort. -- Hoffentlich werde ich Sie hier nicht
lange inkommodieren müssen,« antwortete Herr Laponder liebenswürdig.

»Armer Teufel,« dachte ich mir, »er ahnt nicht, was einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht.«

Ich wollte ihn langsam vorbereiten:

»Man gewöhnt sich allmählich an das Stillsitzen, wenn einmal die ersten,
schlimmsten Tage vorüber sind.« -- --

Er machte ein verbindliches Gesicht.

Pause.

»Hat das Verhör lange gedauert, Herr Laponder?«

Er lächelte zerstreut:

»Nein. Ich wurde bloß gefragt, ob ich geständig sei, und mußte das
Protokoll unterschreiben.«

»Sie haben unterschrieben, daß Sie geständig sind?« fuhr es mir heraus.

»Allerdings.«

Er sagte es, als ob es sich von selbst verstünde.

Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell
oder etwas Ähnliches.

»Ich bin leider schon so lange hier, daß es mir wie ein Menschenleben
vorkommt;« -- ich seufzte unwillkürlich, und er machte sofort eine
teilnehmende Miene. »Ich wünsche Ihnen, daß Sie das nicht mitzumachen
brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie wohl bald
wieder auf freiem Fuß sein.«

»Wie man's nimmt,« antwortete er ruhig, aber es klang wie ein
versteckter Doppelsinn.

»Sie glauben nicht?«, fragte ich lächelnd. Er schüttelte den Kopf.

»Wie soll ich das verstehen? -- Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir,
-- lediglich Teilnahme, daß ich frage.«

Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu
zucken:

»Lustmord.«

Mir war, als hätte er mich mit einem Stock über den Kopf geschlagen.

Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.

Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das
leiseste Mienenspiel in seinem automatenhaft lächelnden Gesicht verriet,
daß er über mein plötzlich verändertes Benehmen verletzt gewesen wäre.

Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. --
-- --

Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hängte sorgsam seine Kleider
an den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen,
tiefen Atemzügen zu schließen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu
sein.

Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.

Das beständige Gefühl, ein solches Scheusal in meiner nächsten Nähe zu
haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu müssen, war mir so gräßlich und
aufregend, daß die Eindrücke des Tages, Charouseks Brief und all das
erlebte Neue tief in den Hintergrund traten.

Ich hatte mich so gelegt, daß ich den Mörder beständig im Auge behielt,
denn ich würde es nicht haben ertragen können, ihn hinter mir zu wissen.

Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdämmert und ich konnte
sehen, daß Laponder regungslos, fast starr, dalag.

Seine Züge hatten etwas Leichenhaftes bekommen und der halbgeöffnete
Mund erhöhte diesen Eindruck.

Viele Stunden hindurch änderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.

Erst spät nach Mitternacht, als ein dünner Mondstrahl auf sein Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe über ihn und er bewegte unhörbar die Lippen,
wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu
sein, -- ein zweisilbiger Satz vielleicht, -- so wie:

»Laß mich. Laß mich. Laß mich.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Die nächsten paar Tage vergingen, ohne daß ich Notiz von ihm genommen
hätte, und auch er brach niemals das Schweigen.

Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswürdig. So oft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog höflich, wenn er
auf der Pritsche saß, die Füße zurück, um mir nicht im Wege zu sein.

Ich fing an, mir Vorwürfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.

So sehr ich gehofft hatte, mich an seine Nähe gewöhnen zu können, -- es
ging nicht.

Selbst in den Nächten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.

Abend für Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte
sie pedantisch in Falten, hängte sie auf, und so weiter und so weiter.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Eines Nachts -- es mochte um die zweite Stunde sein -- stand ich
schlaftrunken vor Müdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes Öl auf dem kupfernen
Gesicht der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.

_Da hörte ich plötzlich leise ihre Stimme hinter mir._

Sofort war ich wach, überwach, -- fuhr herum und horchte.

Eine Minute verging.

Schon glaubte ich, ich hätte mich getäuscht, da kam es wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:

»Frag' mich. Frag' mich.«

_Es war bestimmt Mirjams Stimme._

Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und trat
an das Bett Laponders.

Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich
unterscheiden, daß er die Lider offen hatte, doch nur das Weiße der
Augäpfel war sichtbar.

An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daß er im Tiefschlaf lag.

Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich.

Und allmählich verstand ich die Worte, die hinter seinen Zähnen
hervordrangen:

»Frag' mich. Frag' mich.«

Die Stimme war der Mirjams täuschend ähnlich.

»Mirjam? Mirjam?« rief ich unwillkürlich, dämpfte aber sofort den Ton,
um den Schläfer nicht zu erwecken.

Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann
wiederholte ich leise:

»Mirjam? Mirjam?«

Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:

»Ja.«

Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen.

Nach einer Weile hörte ich _Mirjams Stimme_ flüstern -- so unverkennbar
ihre Stimme, daß mir Kälteschauer über die Haut liefen.

Ich trank die Worte so gierig, daß ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glück, daß wir uns endlich
gefunden hätten -- und uns nie wieder trennen würden -- hastig -- ohne
Pause, wie jemand, der fürchtet unterbrochen zu werden und jede Sekunde
ausnützen will.

Dann wurde die Stimme stockend -- erlosch zeitweilig ganz.

»Mirjam?« fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem,
»Mirjam, bist du gestorben?«

Lange keine Antwort.

Dann fast unverständlich:

»Nein. -- Ich lebe. -- Ich schlafe.« -- --

Nichts mehr.

Ich lauschte und lauschte.

Vergebens.

Nichts mehr.

Vor Ergriffenheit und Zittern mußte ich mich auf die Kante der Pritsche
stützen, um nicht vornüber auf Laponder zu fallen.

Die Täuschung war so vollständig gewesen, daß ich Mirjam momentelang
tatsächlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft
zusammennehmen mußte, um nicht einen Kuß auf die Lippen des Mörders zu
drücken.

»Henoch! Henoch!« -- hörte ich ihn plötzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: »Henoch! Henoch!«

Sofort erkannte ich Hillel.

»Bist du es, Hillel?«

Keine Antwort.

Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, daß man Schlafenden, um sie zum
Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dürfe, sondern gegen
das Nervengeflecht in der Magengrube richten müsse.

Ich tat es:

»Hillel?«

»Ja, ich höre dich!«

»Ist Mirjam gesund? Weißt du alles?«, fragte ich schnell.

»Ja. Ich weiß alles. Wußte es längst. -- Sei ohne Sorge, Henoch, und
fürchte dich nicht!«

»Kannst du mir verzeihen, Hillel?«

»Ich sage dir doch: sei ohne Sorge.«

»Werden wir uns bald wiedersehen?« -- Ich fürchtete, die Antwort nicht
mehr verstehen zu können; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht
worden.

»Ich hoffe es. Ich will warten -- auf dich -- wenn ich kann -- dann muß
ich -- Land --«

»Wohin? In welches Land?« -- ich fiel beinahe auf Laponder -- »In
welches Land? In welches Land?«

»-- Land -- Gad -- südlich -- Palästina --«

Die Stimme erstarb.

Hundert Fragen schossen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum
nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina,
_Charousek_.

»Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen,« kam es plötzlich
wieder laut und deutlich von den Lippen des Mörders. Diesmal in
Charouseks Tonfall, aber ähnlich so, als hätte ich es selbst gesagt.

Ich erinnerte mich: es war wörtlich der Schlußsatz aus Charouseks Brief.
--

Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde mußte es aus der Zelle
verschwunden sein.

Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:

Der Mörder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider
geschlossen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich machte mir die heftigsten Vorwürfe, all die Tage über in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. --

Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler -- ein
Geschöpf, das unter dem Einfluß des Vollmonds stand.

Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art Dämmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. --

Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen Zügen gewichen
und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.

So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.

Ich konnte den Moment, wo er aufwachen würde, kaum erwarten.

Ob er wohl wüßte, was geschehen war?

Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur
Seite.

Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: »Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder, daß ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war
das Ungewohnte, das --«

»Seien Sie überzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen,« unterbrach er
mich lebhaft, »daß es ein scheußliches Gefühl sein muß, mit einem
Lustmörder beisammen zu sein.«

»Reden Sie nicht mehr davon,« bat ich. »Es ist mir heute nacht so
mancherlei durch den Kopf gegangen und ich werde den Gedanken nicht los,
Sie könnten vielleicht -- -- -- -- --« ich suchte nach Worten.

»Sie halten mich für krank,« half er mir heraus.

Ich bejahte: »Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schließen zu dürfen.
Ich -- ich -- darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?«

»Ich bitte darum.«

»Es klingt etwas merkwürdig, -- aber -- würden Sie mir sagen, was Sie
heute geträumt haben?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf: »Ich träume nie.«

»Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen.«

Er blickte überrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er
bestimmt:

»Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben.« -- Ich
gab es zu. »Denn wie gesagt, ich träume nie. Ich -- ich wandere,« setzte
er nach einer Pause halblaut hinzu.

»Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?«

Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt es
für angezeigt, ihm die Gründe zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn
zu dringen, und erzählte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.

»Sie können sich fest darauf verlassen,« sagte er ernst, als ich zu Ende
war, »daß alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen
habe. Wenn ich vorhin bemerkte, daß ich nicht träume, sondern >wandere<,
so meinte ich damit, daß mein Traumleben anders beschaffen ist als das
-- sagen wir: _normaler_ Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein
Austreten aus dem Körper. -- -- So war ich z. B. heute nacht in einem
höchst sonderbaren Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch
eine Falltür führte.«

»Wie sah es aus?«, fragte ich rasch. »War es unbewohnt? Leer?«

»Nein; es standen Möbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem
ein junges Mädchen schlief -- oder wie scheintot lag, -- und ein Mann
saß neben ihr und hielt seine Hand über ihre Stirn.« -- Laponder
schilderte die Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und
Mirjam.

Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.

»Bitte, erzählen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?«

»Sonst noch jemand? Warten Sie -- -- -- nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. -- Dann ging
ich eine Wendeltreppe hinunter.«

»Sie war zerbrochen?« fiel ich ein.

»Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saß ein Mann mit silbernen Schnallen an
den Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen
gesehen habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrägstehenden Augen; --
er war vornüber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen
Auftrag vielleicht.«

»Ein Buch, -- ein altes großes Buch haben Sie nirgends gesehen?«,
forschte ich.

Er rieb sich die Stirn.

»Ein Buch sagen Sie? -- Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem großen, goldenen
>A< fing die Seite an.«

»Mit einem >I< meinen Sie wohl?«

»Nein, mit einem >A<.«

»Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein >IA<.«

Ich schüttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte Laponder
im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr
durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und
den unterirdischen Gang.

»Haben Sie die Gabe zu >wandern<, wie Sie es nennen, schon lang?«,
fragte ich.

»Seit meinem 21. Jahr -- -- --«, er stockte, schien nicht gern davon zu
reden; da nahm seine Miene plötzlich den Ausdruck grenzenlosen
Erstaunens an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas
sähe.

Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat -- fast flehentlich:

»Um Himmelswillen, sagen Sie mir _alles_. Es ist heute der letzte Tag,
den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde
werde ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhören -- --.«

Ich unterbrach ihn entsetzt:

»Dann müssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwören, daß
Sie krank sind. -- Sie sind mondsüchtig. Es darf nicht sein, daß man Sie
hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie
doch Vernunft an!«

Er wehrte nervös ab: »Das ist doch so nebensächlich, -- bitte, sagen Sie
mir alles!«

»Aber was soll ich Ihnen denn sagen? -- Reden wir doch lieber von
_Ihnen_ und -- --«

»Sie müssen, ich weiß das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, -- näher als Sie ahnen können; -- -- ich bitte
Sie, sagen Sie mir alles!«, flehte er.

Ich konnte es nicht fassen, daß ihn mein Leben mehr interessierte als
seine eigenen, doch wahrhaftig genügend dringenden Angelegenheiten; um
ihn aber zu beruhigen, erzählte ich ihm alles, was mir an
Unbegreiflichem geschehen war.

Bei jedem größeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.

Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir
gestanden und mir die schwarzroten Körner hingehalten hatte, konnte er
es kaum erwarten, den Schluß zu erfahren.

»Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm«, murmelte er sinnend.
»Ich hätte nie gedacht, daß es einen _dritten_ >Weg< geben könnte.«

»Es war das kein dritter Weg,« sagte ich, »es war dasselbe, wie wenn ich
die Körner abgelehnt hätte.«

Er lächelte.

»Glauben Sie nicht, Herr Laponder?«

»Wenn Sie sie abgelehnt hätten, wären Sie wohl auch den >Weg des Lebens<
gegangen, aber die Körner, die magische Kräfte bedeuten, wären nicht
zurückgeblieben. -- So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen.
Das heißt: sie sind hier geblieben und werden von Ihren Vorfahren so
lange behütet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die Kräfte,
die in Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden.«

Ich verstand nicht: »Von meinen Vorfahren werden die Körner behütet?«

»Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben«,
erklärte Laponder. »Der Kreis der bläulich strahlenden Menschen, der Sie
umstand, war die Kette der ererbten >Iche<, die jeder von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts >Einzelnes<, --
sie soll es erst werden, und das nennt man dann: >Unsterblichkeit<; Ihre
Seele ist noch zusammengesetzt aus vielen >Ichen< -- so, wie ein
Ameisenstaat aus vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler
tausend Vorfahren in sich: -- die Häupter Ihres Geschlechtes. Bei allen
Wesen ist es so. Wie könnte denn ein Huhn, das aus einem Ei künstlich
erbrütet wurde, sich sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht
die Erfahrung von Jahrmillionen in ihm stäke? -- Das Vorhandensein des
>Instinktes< verrät die Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der
Seele. -- Aber, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

Ich erzählte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam über den
»Hermaphroditen« gesagt hatte.

Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, daß Laponder weiß
geworden war wie der Kalk an der Wand und Tränen über seine Wangen
liefen.

Rasch stand ich auf, tat, als sähe ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben würde.

Dann setzte ich mich ihm gegenüber und bot meine ganze Beredsamkeit auf,
ihn zu überzeugen, wie dringend nötig es wäre, den Richtern gegenüber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.

»Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hätten!«, schloß ich.

»Aber ich mußte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt«, sagte er
naiv.

»Halten Sie denn eine Lüge für schlimmer als -- als einen Lustmord?«,
fragte ich verblüfft.

»Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiß. -- Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestünde, hatte
ich die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu
lügen oder nicht zu lügen. -- Als ich den Lustmord beging -- -- bitte,
ersparen Sie mir die Details: es war so gräßlich, daß ich die Erinnerung
nicht wieder aufleben lassen möchte -- -- als ich den Lustmord beging,
da hatte ich _keine_ Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem
Bewußtsein handelte, so hatte ich _dennoch keine Wahl_: Irgend etwas,
dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt hatte, wachte auf und war
stärker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl gehabt haben würde, ich
hätte gemordet? -- Nie habe ich getötet -- nicht einmal das kleinste
Tier, -- und jetzt wäre ich es schon gar nicht imstande.

Nehmen Sie an, es wäre Menschengesetz: zu morden, und auf der
Unterlassung stünde der Tod -- ähnlich wie es im Krieg der Fall ist, --
augenblicklich hätte ich mir den Tod verdient. -- Weil mir keine Wahl
bliebe. Ich könnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den
Lustmord beging, lag die Sache umgekehrt.«

»Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fühlen, müssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!«, wandte ich ein.

Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: »Sie irren! Die Richter
haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder übermorgen
wieder das Unheil losbricht?«

»Nein; aber in einer Heilanstalt für Geisteskranke sollte man Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!«

»Wenn ich irrsinnig wäre, hätten Sie recht«, erwiderte Laponder
gleichmütig. »Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes,
-- etwas, was dem Irrsein sehr ähnlich sieht, aber gerade das Gegenteil
ist. Bitte, hören Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. -- -- --
Was Sie mir vorhin von dem Phantom ohne Kopf -- ein Symbol natürlich:
dieses Phantom, den Schlüssel können Sie leicht finden, wenn Sie darüber
nachdenken -- erzählten, ist mir einst genau so passiert. Nur habe ich
die Körner _angenommen_. Ich gehe also den >Weg des TodesSchlange des geistigen Reiches<
gebissen sind. Es scheint fast, als müßten in uns zwei Leben
aufeinandergepfropft werden, wie ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe
das _Wunder der Erweckung_ geschehen kann; -- was sonst durch den Tod
getrennt wird, geschieht hier durch Erlöschen der Erinnerung -- manchmal
nur durch eine plötzliche innere Umkehr.

Bei mir war es so, daß ich scheinbar ohne äußere Ursache in meinem 21.
Jahr eines Morgens wie verändert erwachte. Was mir bis dahin lieb
gewesen, erschien mir mit einem Mal gleichgültig: Das Leben kam mir dumm
vor wie eine Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die Träume
wurden zu Gewißheit -- zu apodiktischer, beweiskräftiger Gewißheit,
verstehen Sie wohl: _zu beweiskräftiger, realer_ Gewißheit, und das
Leben des Tages wurde zum Traum.

Alle Menschen könnten das, wenn sie den Schlüssel hätten. Und der
Schlüssel liegt einzig und allein darin, daß man sich seiner
>Ichgestalt<, sozusagen seiner _Haut_, im Schlaf bewußt wird, -- die
schmale Ritze findet, durch die sich das Bewußtsein zwängt zwischen
Wachsein und Tiefschlaf.

Darum sagte ich vorhin: ich >wandere< und nicht: >ich träume<.

Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen
die uns innewohnenden Klänge und Gespenster; und das Warten auf das
Königwerden des eigenen >Ichs< ist das Warten auf den Messias.

Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der >Hauch der
Knochen< der Kabbala, das war der König. Wenn er gekrönt sein wird, --
dann reißt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die äußern Sinne und
den Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.

Wieso es kommen konnte, daß ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
über Nacht zum Lustmörder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist
wie ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben
nur eine. Ist die Kugel rot, heißt der Mensch: >schlecht<. Ist sie gelb,
dann ist der Mensch: >gut<. Laufen zwei hintereinander -- eine rote und
eine gelbe, dann hat >man< einen >ungefestigten< Charakter. Wir von der
>Schlange Gebissenen<, machen in einem Leben durch, was sonst an der
ganzen Rasse in einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen
hintereinander her durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind -- --
dann sind wir Propheten, -- sind die Spiegel Gottes geworden.«

Laponder schwieg.

Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast betäubt.

»Weshalb fragten Sie mich vorhin so ängstlich nach _meinen_ Erlebnissen,
wo Sie doch so viel, viel höher stehen als ich?«, fing ich endlich
wieder an.

»Sie irren,« sagte Laponder, »ich stehe weit _unter_ Ihnen. -- Ich
fragte Sie, weil ich fühlte, daß Sie den Schlüssel besitzen, der mir
noch fehlte.«

»Ich? Einen Schlüssel? O Gott!«

»Jawohl _Sie_! Und Sie haben ihn mir gegeben. -- Ich glaube nicht, daß
es einen glücklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin.«

Draußen entstand ein Geräusch; die Riegel wurden zurückgeschoben, --
Laponder achtete kaum darauf:

»Das mit dem Hermaphroditen war der Schlüssel. Jetzt habe ich die
Gewißheit. Schon deshalb bin ich froh, daß man mich holen kommt, denn
bald bin ich am Ziel.«

Vor Tränen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich
_hörte_ nur das Lächeln in seiner Stimme.

»Und jetzt: leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man
morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das Schönste
eröffnet, -- das Letzte, was ich noch nicht wußte. Jetzt geht's zur
Hochzeit -- -- -- --,« er stand auf und folgte dem Gefangenwärter -- »es
hängt mit dem Lustmord eng zusammen«, waren die letzten Worte, die ich
hörte und nur dunkel begriff.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

So oft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer
wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes
liegen zu sehen.

In den nächsten Tagen, nachdem er weggeführt worden war, hatte ich ein
Hämmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdröhnen hören, das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.

Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu vor
Verzweiflung.

Monat um Monat verfloß. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kümmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus
den Mauern drang.

Wenn mein Blick bei den Rundgängen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich
unwillkürlich jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders
Gesicht in mich eingegraben hatte. Beständig trug ich es in mir herum
dieses Buddhagesicht mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen,
immerwährenden Lächeln.

Ein einziges Mal noch -- im September -- hatte mich der
Untersuchungsrichter holen lassen und mißtrauisch gefragt, wie ich es
begründen könne, daß ich bei dem Bankschalter gesagt, ich müsse dringend
verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig
gewesen wäre und meine sämtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hätte.

Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch höhnisch gemeckert. --

Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen
Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fühlte, längst tot
sein mußte, und Laponder und meiner Sehnsucht um Mirjam nachhängen.

Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, -- »Waisenkinder«, wie der
schwarze Vóssatka sie genannt haben würde, -- und verpesteten mir die
Luft und die Stimmung.

Eines Tages gab einer von ihnen voll Entrüstung zum besten, daß vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum Glück hätte
man den Täter sogleich erwischt und kurzen Prozeß mit ihm gemacht.

»Laponder hat er geheißen, der Schuft, der gottserbärmliche«, schrie ein
Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen Kindsmißhandlung zu -- 14
Tagen Gefängnis verurteilt worden war, dazwischen. »Auf frischer Tat
habn's'n g'faßt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer
is ausbrennt. Die Leich' von dem Madel is dabei so verkohlt, daß mer bis
zum heutigen Tage noch nöt hat rausbringen können, wer sie eigentlich
war. Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dös is alls, was
mer weiß. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'ruckt mit ihrem
Namen. -- Wann's nach mir gangen wär, i hätt ihm d'Haut ab'zogen und
Pfeffer drauf g'streut. -- Dös san halt die feinen Herren! Mörder san's,
alle z'samm. -- -- -- -- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann
aner a Madel los sein wüll«, setzte er mit zynischem Lächeln hinzu.

Die Wut kochte in mir und am liebsten hätte ich den Halunken zu Boden
geschlagen.

Nacht für Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen. Ich
atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.

Aber selbst da war ich ihn noch nicht los. Seine Rede hatte sich wie ein
Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.

Fast beständig, hauptsächlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam könne das Opfer Laponders gewesen sein.

Je mehr ich dagegen ankämpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.

Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefühl für ihn verscheuchte mir die Qual,
-- aber nur zu oft kamen die gräßlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam
ermordet und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den
Verstand verlieren zu müssen.

Die schwachen Anhaltspunkte, die ich für meinen Verdacht hatte,
verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, -- zu
einem Gemälde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.

Anfangs November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und
die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen Höhepunkt erreicht, daß
ich mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiß wie
ein verdurstendes Tier, öffnete plötzlich der Gefangenwärter die Zelle
und forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich
fühlte mich so schwach, daß ich mehr taumelte als ging.

Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dürfen, war
längst in mir gestorben.

Ich machte mich darauf gefaßt, wieder eine kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hören und
dann zurück in die Finsternis zu müssen.

Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.

Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen würde.

Es fiel mir auf, daß der Gefangenwärter mit hereingekommen war und mir
gutmütig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daß ich
mir über die Bedeutung alles dessen hätte klarwerden können.

»Die Untersuchung hat ergeben«, fing der Schreiber an, meckerte, stieg
auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem Bücherbord nach
Schriftstücken, ehe er fortfuhr: »hat ergeben, daß der in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode anläßlich einer heimlichen Zusammenkunft
mit der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die
damaliger Zeit den Spitznamen >die rote Rosina< führte, dann später von
einem taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir Kwáßnitschka aus dem Weinsalon
>Kautsky< losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner
Durchlaucht dem Fürsten Ferri Athenstädt im gemeinsamen, wilden
Konkubinate als Majteresse lebt, von hinterlistiger Hand in ein
unterirdisches, aufgelassenes Kellergewölbe des Hauses Nummer
^conscriptionis^ 21873, gebrochen durch römisch III, der Hahnpaßgasse,
laufende Nummero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und sich
selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren
überlassen wurde. -- -- Der obenerwähnte Zottmann nämlich«, erklärte der
Schreiber mit einem Blick über die Brille hinweg und blätterte ein
paarmal um.

»Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß der obenerwähnte Karl
Zottmann allem Anscheine nach -- nach eingetretenem Ableben -- seiner
sämtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub
faszikel römisch P gebrochen durch >Bäh< beigeschlossenen
doppelmanteligen Taschenuhr« -- der Schreiber hob die Uhr an der Kette
in die Höhe -- »beraubt wurde. Der eidesstattlichen Aussage des
Silhubettenschnitzers Jaromir Kwáßnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17
Jahren verstorbenen Hostienbäckers gleichen Namens: die Uhr im Bett
seines inzwischen flüchtig gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den
Altwarenhändler und mehrfachen, inzwischen aus dem Leben geschiedenen
Realitätenbesitzer Aaron Wassertrum gegen Inempfangnahme von Geldeswert
veräußert zu haben, konnte mangels Glaubwürdigkeit kein Gewicht
beigelegt werden.

Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß die Leiche des erwähnten Karl
Zottmann in der rückwärtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein
Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor
erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung
des Täters durch die k. k. Behörden erleichternde Eintragungen
vorgenommen hatte.

Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend
verdächtig gewordenen _Loisa_ Kwáßnitschka, zurzeit flüchtig, gelenkt
und unter einem verfügt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das
Verfahren gegen ihn einzustellen.

Prag im Juli

                                                            gezeichnet
                                        Dr. Freiherr von Leisetreter.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und ich verlor eine Minute das
Bewußtsein.

Als ich erwachte, saß ich auf einem Stuhl, und der Gefangenwärter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.

Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:

»Die Verlesung der Verfügung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem >Päh< beginnt und naturgemäß im Alphabet erst gegen
Schluß vorkommen kann.« -- Dann las er weiter:

Ȇberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu
setzen, daß ihm laut testamentarischer Verfügung des im Mai mit Tod
abgegangenen ^stud. med.^ Innocenz Charousek ein Drittel von dessen
gesamter Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur
Unterfertigung des Protokolles hiermit anzuhalten.«

Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.

Ich erwartete gewohnheitsmäßig, daß er meckern würde, aber er meckerte
nicht.

»Innocenz Charousek«, murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.

Der Gefangenwärter beugte sich über mich und flüsterte mir ins Ohr:

»Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er läßt Sie viel--vielmals grüßen, hat er
g'sagt. Ich hab's natürlich damals nicht ausrichten dürfen. Es ist
streng verboten. Ein schreckliches Ende hat er übrigens genommen, der
Herr Dr. Charousek. Er hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem
Grabhügel des Aaron Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. -- Er
hat zwei tiefe Löcher in die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern
aufgeschnitten und dann die Arme in die Löcher gesteckt. So ist er
verblutet. Er ist wahrscheinlich wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char
-- -- --«

Der Schreiber schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und reichte mir die
Feder zum Unterschreiben.

Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines
freiherrlichen Vorgesetzten:

»Gefangenwärter, führen Sie den Mann hinaus.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit Säbel und
Unterhosen im Torzimmer seine Kaffeemühle vom Schoß genommen; nur daß er
mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das
Portemonnaie mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles übrige
zurückgab.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Dann stand ich auf der Straße.

»Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Wiedersehen!« -- Ich
unterdrückte einen Schrei wildesten Entzückens.

Es mußte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein fahler
Messingteller hinter Dunstschleiern.

Das Pflaster war mit einer zähen Schicht von Schmutz bedeckt.

Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten
fast den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte -- auf
empfindungslosen Sohlen wie ein Rückenmarkskranker. -- --

»Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie können, in die Hahnpaßgasse 7!
-- Haben Sie mich verstanden?: -- Hahnpaßgasse 7.«




                                 Frei


Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.

»Hahnpaßgassä, gnä' Herr?«

»Ja, ja, nur rasch.«

Wieder fuhr der Wagen ein Stück weiter. Wieder blieb er stehen.

»Um Himmels willen, was gibt's denn?«

»Hahnpaßgassä, gnä' Herr?«

»Ja, ja. Ja doch.«

»In die Hahnpaßgassä kann me doch nicht fahrrähn!«

»Warum denn nicht?«

»Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch
assaniert.«

»Also fahren Sie eben, soweit Sie können, aber jetzt rasch gefälligst.«

Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann
gemächlich weiter.

Ich ließ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen die
Nachtluft ein.

Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die Häuser, die
Straßen, die geschlossenen Läden.

Ein weißer Hund trabte einsam und mißgelaunt auf dem nassen Trottoir
vorüber. Ich sah ihm nach. -- Wie sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz
vergessen, daß es solche Tiere gab. -- Vor Freude kindisch rief ich ihm
nach: »Aber, aber! Wie kann man nur so verdrossen sein.« -- -- --

Was Hillel wohl sagen würde!? -- Und Mirjam?

Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich
aufhören, an ihre Türe zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.

Jetzt war ja alles gut -- all der Jammer dieses Jahres vorüber! --

Würde das ein Weihnachten werden!

Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.

Einen Augenblick lähmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des
Sträflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte
Gesicht -- der Lustmord -- aber nein, nein! -- Ich schüttelte es
gewaltsam ab: nein, nein, es konnte, es konnte nicht sein. -- Mirjam
lebte! Ich hatte doch ihre Stimme aus Laponders Mund gehört.

Nur noch eine Minute -- eine halbe -- -- und dann --

Die Droschke hielt vor einem Trümmerhaufen. Barrikaden aus
Pflastersteinen überall!

Rote Laternen brannten darauf.

Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.

Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.

Das hier, das mußte doch die Hahnpaßgasse sein?!

Mühsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.

Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?

Die Vorderseite war eingerissen.

Ich kletterte auf einen Erdhügel; tief unter mir lief ein schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie
riesige Bienenzellen hingen die bloßgelegten Wohnräume in der Luft, halb
vom Fackelschein, halb von dem trüben Mondlicht beschienen.

Das dort oben, das mußte mein Zimmer sein -- ich erkannte es an der
Bemalung der Wände.

Nur noch ein Streifen davon war übrig.

Und daranstoßend das Atelier -- Saviolis. Mir wurde plötzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! -- Angelina! -- -- So weit, so
unabsehbar fern lag das alles hinter mir!

Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trödlerladen,
die Kellerwohnung Charouseks -- -- -- alles, alles.

»Der Mensch geht dahin wie ein Schatten« -- fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.

Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt
wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar
Schemajah Hillel kenne.

»Nix daitsch«, war die Antwort.

Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch,
konnte mir aber keine Antwort geben.

Auch von seinen Kameraden niemand.

Vielleicht, daß beim »Loisitschek« etwas zu erfahren wäre?

Der »Loisitschek« sei gesperrt, hieß es, das Haus würde renoviert.

Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! -- Ging das nicht?

»Weit a breit wohnt sich keine Katz,« sagte der Arbeiter, »weil ise
behärdlich verbotten. Von wägen Typhus.«

»Der >UngeltMarionettenweihnachtsabend<«, malte ich mir aus, --
»und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener«:

   »Wo ist das Herz aus rotem Stein!
   Es hängt an einem Seidenbande.
   O du, o gib das Herz nicht her;
   Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
   Und diente sieben Jahre schwer
   Um dieses Herz, und hatt' es lieb!«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Eigentümlich feierlich wurde mir plötzlich zumute.

Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.

Als ob mich eine Hand zöge, wandte ich mich plötzlich um und:

_Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein Doppelgänger. In einem
weißen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf._

Nur einen Augenblick.

Dann brachen Flammen durch das Holz der Tür und eine Wolke erstickenden
heißen Qualms schlug herein:

Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Ich reiße das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.

Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.

Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.

Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die Dämonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.

Glas klirrt und rote Lohe schießt aus allen Fenstern.

Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze Straße liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.

In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiß
nicht warum. Das Haar sträubt sich mir.

Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.

_Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt._

Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als
Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des
Hauses hinab. --

Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:

Drin ist alles blendend erleuchtet.

_Und da sehe ich_ -- -- -- _da sehe ich_ -- -- -- mein ganzer Körper
wird ein einziger hallender Freudenschrei:

»_Hillel! Mirjam! Hillel!_«

Ich will auf die Gitterstäbe losspringen.

Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.

Einen Augenblick hänge ich, _Kopf abwärts, die Beine gekreuzt zwischen
Himmel und Erde_.

Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.

Ich falle.

Mein Bewußtsein erlischt.

Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:

der Stein ist glatt.

                         _Glatt wie ein Stück
                                Fett._

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --




                                Schluß


»-- -- -- _wie ein Stück Fett!_«

_Das ist der Stein, der aussieht wie ein Stück Fett._

Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und muß
mich besinnen, wo ich bin.

Ich liege im Bett und wohne im Hotel.

Ich heiße doch gar nicht Pernath.

Habe ich das alles nur geträumt?

Nein! So träumt man nicht.

Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist
halb drei.

Und dort hängt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saß.

Steht ein Name darin?

Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weißen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:

                          ATHANASIUS PERNATH

Jetzt läßt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.

»Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren.«

»Wohin, bitt schän?«

»In die Judenstadt. In die Hahnpaßgasse. Gibt's überhaupt eine Straße,
die so heißt?«

»Freilich, freilich« -- der Portier lächelt malitiös -- »aber in der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu
gebaut, bitte.«

»Macht nichts. Wo liegt die Hahnpaßgasse?«

Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: »Hier, bitte.«

»Und die Schenke >Zum LoisitschekPerson< war« -- sie
schrieb wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf -- »hat ihn dann ganz
ausgezogen. -- Punkto Geld mein' ich natürlich. No, und wie er dann kein
Geld nicht mehr gehabt hat, is sie weg und hat sich von einem hohen
Herrn heiraten lassen: -- von dem ..« -- sie flüsterte mir einen Namen
ins Ohr, den ich nicht verstehe. »Der hohe Herr hat dann natürlich auf
alle Ehre verzichten müssen und sich von da an nur mehr Ritter von
Dämmerich nennen dürfen. No ja. Aber daß sie früher eine >Person<
g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht wegwaschen können. Ich sag'
immer --.«

»Fritzi! Zahlen!« ruft jemand von der Estrade herab. --

Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da höre ich plötzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.

Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:

Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so
klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletthänden sitzt
ganz in sich zusammengesunken -- der _blinde, greise Nephtali
Schaffranek_ in der Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.

Ich trete zu ihm.

Im Flüsterton singt er konfus vor sich hin:

   »Frau Pick,
   Frau Hock.
   Und rote, blaue Stern
   die schmusen allerhand.
   Von Messinung, an Räucherl und Rohn.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Wissen Sie, wie der alte Mann heißt?«, frage ich einen vorbeieilenden
Kellner.

»Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110
Jahre alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee.«

Ich beuge mich über den Greis, -- rufe ihm ein Wort ins Ohr:
»_Schaffranek!_«

Es durchfährt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich sinnend
über die Stirn.

»Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?«

Er nickt.

»Passen Sie mal gut auf! Ich möchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich
hier auf den Tisch lege.«

»Gulden«, wiederholt der Greis und fängt sofort an wie ein Rasender an
seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.

Ich halte seine Hand fest: »Denken Sie einmal nach! -- _Haben Sie nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?_«

»Hadrbolletz! Hosenschneider!« -- lallt er asthmatisch auf und lacht
übers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hätte ihm einen famosen Witz
erzählt.

»Nein, nicht Hadrbolletz: -- -- _Pernath_!«

»Pereles?!« -- er jubelt förmlich.

»Nein, auch nicht Pereles. -- Per--_nath_!«

»Pascheles?!« -- er kräht vor Freude. -- --

Ich gebe enttäuscht meinen Versuch auf.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

»Sie wollten mich sprechen, mein Herr?«, -- der Markör Ferri Athenstädt
steht vor mir und verbeugt sich kühl.

»Ja. Ganz richtig. -- Wir können dabei eine Partie Billard spielen.«

»Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor.«

»Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Markör.«

Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gixst, macht ein ärgerliches
Gesicht. Ich kenne das: er läßt mich bis 99 kommen und dann macht er in
_einer_ Serie »aus«.

Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:

»Entsinnen Sie sich, Herr Markör: vor langer Zeit, etwa in den Jahren,
als die steinerne Brücke einstürzte, in der damaligen Judenstadt _einen
gewissen_ -- _Athanasius Pernath_ gekannt zu haben?«

Ein Mann in einer rotweißgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und
eine Zeitung liest, fährt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.

»Pernath? Pernath?« wiederholt der Markör und denkt angestrengt nach --
»Pernath? -- War er nicht groß, schlank? Braunes Haar, melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?«

»Ja. Ganz richtig.«

»Etwa 40 Jahre alt damals? Er sah aus wie -- --«, Seine Durchlaucht
starrt mich plötzlich überrascht an. -- »Sie sind ein Verwandter von
ihm, mein Herr?!«

Der Schieläugige bekreuzigt sich.

»Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. -- Nein. Ich interessiere mich nur
für ihn. Wissen Sie noch mehr?«, sagte ich gelassen, fühle aber, daß mir
eiskalt im Herzen wird.

Ferri Athenstädt denkt wieder nach.

»Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit für verrückt. -- Einmal
behauptete er, er hieße -- -- warten Sie mal, -- ja: Laponder! Und dann
wieder gab er sich für einen gewissen -- Charousek aus.«

»Kein Wort wahr!« fährt der Schieläugige dazwischen. »Den _Charousek_
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl. von ihm
geerbt.«

»Wer ist dieser Mann?«, frage ich den Markör halblaut.

»Er ist Fährmann und heißt Tschamrda. -- Was den Pernath betrifft, so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens -- daß er in späteren
Jahren eine sehr schöne, dunkelhäutige Jüdin geheiratet hat.«

»Mirjam!« sage ich mir und werde so aufgeregt, daß mir die Hände zittern
und ich nicht mehr weiterspielen kann.

Der Fährmann bekreuzigt sich.

»Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?«, fragt der
Markör erstaunt.

»Der Pernath hat niemals nicht gelebt«, schreit der Schieläugige los.
»Ich glaub's nicht.«

Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gesprächiger
wird.

»Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer,« rückt
der Fährmann endlich heraus, »er is, hör' ich, Kammschneider und wohnt
auf dem Hradschin.«

»Wo auf dem Hradschin?«

Der Fährmann bekreuzigt sich:

»Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: _an
der Mauer zur letzten Latern_.«

»Kennen Sie sein Haus, Herr -- Herr -- Tschamrda?«

»Nicht um die Welt möcht' ich dort hinaufgehen!«, protestiert der
Schieläugige. »Wofür halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!«

»Aber den Weg hinauf könnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr
Tschamrda?«

»Das schon,« brummt der Fährmann. »Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr
früh; dann geh' ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat' Ihnen ab! Sie
stürzen in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige
Muttergottes!«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fühle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.

Plötzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.

Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das Gitter,
die fettig glänzenden Steinsimse -- alles, alles!

»Wann ist dieses Haus abgebrannt?«, frage ich den Schieläugigen. Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.

»Abgebrannt? Niemals nicht!«

»Doch! Ich weiß es bestimmt.«

»Nein.«

»Aber ich weiß es doch! Wollen Sie wetten?«

»Wieviel?«

»Einen Gulden.«

»Gemacht!« -- Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. »Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?«

»I woher denn!« Der Mann lacht. --

Ich kann und kann es nicht glauben.

»Schon siebzig Jahr' wohn' ich drin,« beteuert der Hausmeister, »ich
müßt's doch wahrhaftig wissen.«

-- -- -- Sonderbar, sonderbar!

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Der Fährmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen über die Moldau.
Die gelben Wasser schäumen gegen das Holz. Die Dächer des Hradschins
glitzern rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches Gefühl
ergreift Besitz von mir. Ein leise dämmerndes Gefühl wie aus einem
früheren Dasein, als sei die Welt um mich her verzaubert -- eine
traumhafte Erkenntnis, als lebte ich zuweilen an mehreren Orten
zugleich.

Ich steige aus.

»Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?«

»Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen hätten rudern, -- hätt's zwei
Kreuzer 'kost.«

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Denselben Weg, den ich heute nachts im Schlaf schon einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine, einsame Schloßstiege. Mir klopft
das Herz und ich weiß voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen Äste
über die Mauer herübergreifen.

Nein: er ist mit weißen Blüten besät.

Die Luft ist voll von süßem Fliederhauch.

Zu meinen Füßen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der
Verheißung.

Kein Laut. Nur Duft und Glanz.

Mit geschlossenen Augen könnte ich mich hinauffinden in die kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plötzlich jeder Schritt.

Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weißschimmernden Haus
gestanden hat, schließt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.

Zwei Eibenbäume ragen aus blühendem, niederem Gesträuch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang läuft.

Ich strecke mich, um über das Strauchwerk hinüberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:

Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. Türkisblau mit goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des ägyptischen Gottes
Osiris darstellen.

Das Flügeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei Hälften,
die die Türe bilden, -- die rechte weiblich, die linke männlich. -- Er
sitzt auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter -- in Halbrelief
-- und sein goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die
Höhe gestellt und dicht aneinander, daß sie aussehen, wie die beiden
Seiten eines aufgeschlagenen Buches. --

Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht über die Mauer herüber. --
-- --

Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als träte eine
fremde Welt vor mich, und ein alter Gärtner oder Diener mit silbernen
Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von
links hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die Stäbe, was
ich wünsche.

Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.

Er nimmt ihn und geht durch das Flügeltor.

Wie es sich öffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:

                          ATHANASIUS PERNATH

und an ihn gelehnt:

                               MIRJAM,

und beide schauen hinab in die Stadt.

Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, lächelt und
flüstert Athanasius Pernath etwas zu.

Ich bin gebannt von ihrer Schönheit.

Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.

Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt
stehen:

Mir ist, als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.

              -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Dann fallen die Flügel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den
schimmernden Hermaphroditen.

Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt -- ich höre seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde --:

   »Herr Athanasius Pernath läßt verbindlichst danken und bittet,
   ihn nicht für ungastfreundlich zu halten, daß er Sie nicht
   einlädt in den Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz
   so von alters her.

   Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm
   die Verwechslung sofort aufgefallen sei.

   Er wolle nur hoffen, daß der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen
   verursacht habe.«

                    Gedruckt in der Buchdruckerei
                        G. Kreysing in Leipzig




Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind,
wurden ^so^ markiert.

Auf Seite 1 heisst es »linke Seite« (des Mondes). Dies ist offenbar
falsch und wurde in späteren Auflagen zu »rechte Seite« berichtigt.
Hier wird der Originaltext unverändert belassen.

Die Schreibweise der Vorlage wurde weitgehend beibehalten. Einige
offensichtliche Fehler wurden berichtigt wie hier aufgeführt, teilweise
unter Verwendung weiterer Ausgaben (vorher/nachher):

   [S. 36]:
   ... Das hilfslose Opfer aber saß, das Herz voll brennender ...
   ... Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender ...

   [S. 46]:
   ... >Loisitschek< der meschuggene Nephtali Schaffraneck mit ...
   ... >Loisitschek< der meschuggene Nephtali Schaffranek mit ...

   [S. 47]:
   ... wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem, freien ...
   ... wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem, freiem ...

   [S. 55]:
   ... auf, eine unsichtbare Intelliganz, die sich lichtscheu
       verborgen ...
   ... auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich lichtscheu
       verborgen ...

   [S. 69]:
   ... über Klavierseiten liefe, war die Antwort. ...
   ... über Klaviersaiten liefe, war die Antwort. ...

   [S. 70]:
   ... die eisernen Glasstäbe fauchend die flachen herzförmigen ...
   ... die eisernen Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen ...

   [S. 70]:
   ... Mit langem, wallenden, weißen Prophetenbart, ein ...
   ... Mit langem, wallendem, weißem Prophetenbart, ein ...

   [S. 90]:
   ... die alten Rabbinen trugen, andere mit dreieckigem Hut ...
   ... die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut ...

   [S. 99]:
   ... auf dem Altstätter Ring und an dem Erzbrunnen ...
   ... auf dem Altstädter Ring und an dem Erzbrunnen ...

   [S. 99]:
   ... schauten teilnahmlos zu den Wolken empor. ...
   ... schauten teilnahmslos zu den Wolken empor. ...

   [S. 108]:
   ... Wunschlos, teilnahmlos, ein lebender Leichnam, ging ...
   ... Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ...

   [S. 149]:
   ... Angelina wolte sich losreißen: ich hielt sie fest. ...
   ... Angelina wollte sich losreißen: ich hielt sie fest. ...

   [S. 157]:
   ... ich schwindsüchtig bin und Blut spuken muß: mein Körper ...
   ... ich schwindsüchtig bin und Blut spucken muß: mein Körper ...

   [S. 191]:
   ... War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbares ...
   ... War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres ...

   [S. 198]:
   ... Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spukte mir ...
   ... Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir ...

   [S. 217]:
   ... Oder gedenken sie überhaupt ledig zu bleiben?« ...
   ... Oder gedenken Sie überhaupt ledig zu bleiben?« ...

   [S. 287]:
   ... Sollte Sie es wider Erwarten nicht sein, -- nun, ...
   ... Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, -- nun, ...

   [S. 319]: (mehrfache Fälle)
   ... Jaromir Kwaßnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 ...
   ... Jaromir Kwáßnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 ...

   [S. 319]:
   ... Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend verdächig ...
   ... Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend verdächtig ...






End of the Project Gutenberg EBook of Der Golem, by Gustav Meyrink

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1.A.  By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement.  If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B.  "Project Gutenberg" is a registered trademark.  It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement.  There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement.  See
paragraph 1.C below.  There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
works.  See paragraph 1.E below.

1.C.  The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
Gutenberg-tm electronic works.  Nearly all the individual works in the
collection are in the public domain in the United States.  If an
individual work is in the public domain in the United States and you are
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
are removed.  Of course, we hope that you will support the Project
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
the work.  You can easily comply with the terms of this agreement by
keeping this work in the same format with its attached full Project
Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.

1.D.  The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work.  Copyright laws in most countries are in
a constant state of change.  If you are outside the United States, check
the laws of your country in addition to the terms of this agreement
before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
creating derivative works based on this work or any other Project
Gutenberg-tm work.  The Foundation makes no representations concerning
the copyright status of any work in any country outside the United
States.

1.E.  Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.  The following sentence, with active links to, or other immediate
access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
copied or distributed:

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org/license

1.E.2.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
and distributed to anyone in the United States without paying any fees
or charges.  If you are redistributing or providing access to a work
with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
1.E.9.

1.E.3.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
terms imposed by the copyright holder.  Additional terms will be linked
to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
permission of the copyright holder found at the beginning of this work.

1.E.4.  Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5.  Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6.  You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
word processing or hypertext form.  However, if you provide access to or
distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
form.  Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.  Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.  You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
that

- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
     the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
     you already use to calculate your applicable taxes.  The fee is
     owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
     has agreed to donate royalties under this paragraph to the
     Project Gutenberg Literary Archive Foundation.  Royalty payments
     must be paid within 60 days following each date on which you
     prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
     returns.  Royalty payments should be clearly marked as such and
     sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
     address specified in Section 4, "Information about donations to
     the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."

- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
     you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
     does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
     License.  You must require such a user to return or
     destroy all copies of the works possessed in a physical medium
     and discontinue all use of and all access to other copies of
     Project Gutenberg-tm works.

- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
your equipment.

1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3.  LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
refund.  If you received the work electronically, the person or entity
providing it to you may choose to give you a second opportunity to
receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.