Hamburgische Dramaturgie

By Gotthold Ephraim Lessing

Project Gutenberg's Hamburgische Dramaturgie, by Gotthold Ephraim Lessing

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Title: Hamburgische Dramaturgie

Author: Gotthold Ephraim Lessing

Release Date: November 15, 2003 [EBook #10055]

Language: German

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HAMBURGISCHE DRAMATURGIE

von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING



Inhalt:

Ankuendigung
Erster Band
Zweiter Band
Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Autorennamen geordnet
Verzeichnis der Theaterstuecke, nach Titeln geordnet




Ankuendigung

Es wird sich leicht erraten lassen, dass die neue Verwaltung des hiesigen
Theaters die Veranlassung des gegenwaertigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man
den Maennern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders
als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlaenglich darueber erklaert,
und ihre Aeusserungen sind, sowohl hier, als auswaerts, von dem feinern
Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede
freiwillige Befoerderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern
Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und ueberall Leute, die, weil sie sich selbst am
besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten
erblicken. Man koennte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goennen;
aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst
aufbringen; wenn ihr haemischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese
scheitern zu lassen bemueht ist: so muessen sie wissen, dass sie die
verachtungswuerdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Gluecklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groessere
Anzahl wohlgesinnter Buerger sie in den Schranken der Ehrerbietung haelt
und nicht verstattet, dass das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen,
und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoettischen
Aberwitzes werden!

So gluecklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner
Freiheit gelegen: denn es verdienet, so gluecklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des daenischen Theaters,--(ein deutscher
Dichter des daenischen Theaters!)--Vorschlaege tat, von welchen es
Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, dass ihm keine
Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war
dieses der erste und vornehmste, "dass man den Schauspielern selbst die
Sorge nicht ueberlassen muesse, fuer ihren Verlust und Gewinst zu
arbeiten".[1] Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu
einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto
nachlaessiger und eigennuetziger treiben laesst, je gewissere Kunden, je
mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waere, als dass
eine Gesellschaft von Freunden der Buehne Hand an das Werk gelegt und,
nach einem gemeinnuetzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haette:
so waere dennoch, bloss dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser
ersten Veraenderung koennen, auch bei einer nur maessigen Beguenstigung des
Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen,
deren unser Theater bedarf.

An Fleiss und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an
Geschmack und Einsicht fehlen duerfte, muss die Zeit lehren. Und hat es
nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden
sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und
hoere, und pruefe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaetzig
verhoeret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur dass sich nicht jeder kleine Kritikaster fuer das Publikum halte, und
derjenige, dessen Erwartungen getaeuscht werden, auch ein wenig mit sich
selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht
jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines
Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den
Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen
einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre
Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art
verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als
sie nach ihrer Art gewaehren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der
Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von
dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte
sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht
wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste,
der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer
geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden
Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des
Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist
keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer
Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die
Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr
ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens
daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm
Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum
ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch
schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen
haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann.
So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text
dazu elend ist.

Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn
er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu
unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters,
oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der
andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen,
und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste
Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters
kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer
wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist
in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich
schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers
mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen
lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schoene Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein
reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge,
die sich nicht wohl mit Worten ausdruecken lassen. Doch sind es auch weder
die einzigen noch groessten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaetzbare
Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noetig, aber noch lange nicht
seinen Beruf erfuellend! Er muss ueberall mit dem Dichter denken; er muss da,
wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, fuer ihn denken.

Man hat allen Grund, haeufige Beispiele hiervon sich von unsern
Schauspielern zu versprechen.--Doch ich will die Erwartung des Publikums
nicht hoeher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht,
und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eroeffnung der Buehne. Sie wird viel entscheiden; sie
muss aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich
die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es wuerde Muehe kosten, ein ruhiges
Gehoer zu erlangen.--Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher
als mit dem Anfange des kuenftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April 1767.


----Fussnote

[1] "Werke", dritter Teil, S. 252."

----Fussnote




Erster Band


Erstes Stueck
Den 1. Mai 1767

Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und
Sophronia" gluecklich eroeffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit
einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der
Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stueckes konnte auf eine solche Ehre
keinen Anspruch machen. Die Wahl waere zu tadeln, wenn sich zeigen liesse,
dass man eine viel bessere haette treffen koennen.

"Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein
unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuer unsere
Buehne zu frueh; aber eigentlich gruendet sich sein Ruhm mehr auf das was
er, nach dem Urteile seiner Freunde, fuer dieselbe noch haette leisten
koennen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische
Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haette in seinem
sechsundzwanzigsten Jahre sterben koennen, ohne die Kritik ueber seine
wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine ruehrende
Erzaehlung in ein ruehrendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar
kostet es wenig Muehe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne
Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhueten wissen, dass diese
neue Verwickelungen weder das Interesse schwaechen, noch der
Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzaehlers
in den wahren Standort einer jeden Person versetzen koennen; die
Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers
entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu
lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist
es, was dazu noetig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich
langweilig zu erklaeren, tut, und was der bloss witzige Kopf nachzumachen,
vergebens sich martert.

Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus
und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die
Staerke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die
Staerke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuetiger Diensteifer, der
die Probe der Freundschaft veranlasste: hier ist es die Religion, welche
der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die
Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe
so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden.
Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiss, eine
fromme Verbesserung--weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn
verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natuerlich, so wahr und
menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch
zu machen, dass nichts darueber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch
Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen
Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das
wundertaetige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum
machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn
dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der
Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmoeglich geben.
Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraet sich
in mehrern Stuecken, dass ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem
mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der groebste Fehler aber ist, dass er
eine Religion ueberall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als
jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heisst ihm "ein
Sitz der falschen Goetter", und den Priester selbst laesst er ausrufen:

"So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe ruesten, Ihr Goetter?
Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!"

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostuem, vom Scheitel
bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muss solche
Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso koemmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne dass man
eigentlich weiss, ob es von Menschenhaenden entwendet worden, oder ob eine
hoehere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Taeter.
Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber
Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr
veraechtliche Seite. Man kann ihm unmoeglich wieder gut werden, dass er es
wagen koennen, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des
Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so
ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Grossmut. Beim Tasso laesst
ihn bloss die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder
mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloss um mit ihr zu sterben; kann er mit
ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer
Seite, an den naemlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem naemlichen Feuer
verzehret zu werden, empfindet er bloss das Glueck einer so suessen
Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe,
und wuenschet nichts, als dass diese Nachbarschaft noch enger und
vertrauter sein moege, dass er Brust gegen Brust druecken und auf ihren
Lippen seinen Geist verhauchen duerfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz
geistigen Schwaermerin und einem hitzigen, begierigen Juenglinge ist beim
Cronegk voellig verloren. Sie sind beide von der kaeltesten Einfoermigkeit;
beide haben nichts als das Maertertum im Kopfe; und nicht genug, dass er,
dass sie fuer die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena
haette nicht uebel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten,
einen angehenden tragischen Dichter vor grossen Fehltritten bewahren kann.
Die eine betrifft das Trauerspiel ueberhaupt. Wenn heldenmuetige
Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht zu
verschwenderisch damit umgehen; denn was man oefters, was man an mehrern
sieht, hoeret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in
seinem "Kodrus" sehr versuendiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum
freiwilligen Tode fuer dasselbe, haette den Kodrus allein auszeichnen
sollen: er haette als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art
dastehen muessen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm
im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht?
sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere
Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So
auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles haelt
gemartert werden und sterben fuer ein Glas Wasser trinken. Wir hoeren diese
frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, dass sie alle Wirkung
verlieren.

Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere.
Die Helden desselben sind mehrenteils Maertyrer. Nun leben wir zu einer
Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als
dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung
aller seiner buergerlichen Obliegenheiten in den Tod stuerzet, den Titel
eines Maertyrers sich anmassen duerfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen
Maertyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr,
als wir diese verehren, und hoechstens koennen sie uns eine melancholische
Traene ueber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die
Menschheit ueberhaupt in ihnen faehig erblicken. Doch diese Traene ist keine
von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der
Dichter einen Maertyrer zu seinem Helden waehlet: dass er ihm ja die
lautersten und triftigsten Bewegungsgruende gebe! dass er ihn ja in die
unumgaengliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich
der Gefahr blossstellet! dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen,
nicht hoehnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum
Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter
leiden. Ich habe schon beruehret, dass es nur ein ebenso nichtswuerdiger
Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher
den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es
entschuldiget den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher
Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen
konnte; dass es noch Laender gibt, wo er der frommen Einfalt nichts
Befremdendes haben wuerde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig
fuer jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boehmen oder Spanien gespielt zu
werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle,
wenn er nicht bloss schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen,
hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in
Augen, und nur was diesen gefallen, was diese ruehren kann, wuerdiget er zu
schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poebel herablaesst,
laesst sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern;
nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart
zu bestaerken.



Zweites Stueck
Den 5. Mai 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend,
wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir
auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig
koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem
Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen
entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in
der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das
Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu
jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und
Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters,
genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr
hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen.
Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail,
ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur
einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er
uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten
Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der
Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber
viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar
keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das
Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz
zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine,
erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die
Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand
hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater
gehen duerfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des
Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Grossmut und Ermahnungen bestuermet
und bis in das Innerste erschuettert worden, laesst er ihn doch die Wahrheit
der Religion, an deren Bekennern er so viel Grosses sieht, mehr vermuten,
als glauben. Und vielleicht wuerde Voltaire auch diese Vermutung
unterdrueckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas haette
geschehen muessen.

Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide
Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr
geworden sind, so duerfte die erste Tragoedie, die den Namen einer
christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein
Stueck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist
ein solches Stueck aber auch wohl moeglich? Ist der Charakter des wahren
Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille
Gelassenheit, die unveraenderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Zuege
sind, mit dem ganzen Geschaefte der Tragoedie, welches Leidenschaften durch
Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung
einer belohnenden Glueckseligkeit nach diesem Leben der Uneigennuetzigkeit,
mit welcher wir alle grosse und gute Handlungen auf der Buehne unternommen
und vollzogen zu sehen wuenschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann,
wieviel Schwierigkeiten es zu uebersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten
unwidersprechlich widerlegt, waere also mein Rat:--man liesse alle
bisherige christliche Trauerspiele unaufgefuehret. Dieser Rat, welcher aus
den Beduerfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts
als sehr mittelmaessige Stuecke bringen kann, ist darum nichts schlechter,
weil er den schwaechern Gemuetern zustatten koemmt, die, ich weiss nicht
welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an
einer heiligern Staette gefasst machen, im Theater zu hoeren bekommen. Das
Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoss geben; und ich wuenschte,
dass es auch allem genommenen Anstosse vorbeugen koennte und wollte.

Cronegk hatte sein Stueck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges
gebracht. Das uebrige hat eine Feder in Wien dazugefueget; eine Feder
--denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der
Ergaenzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als
sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod loeset alle Verwirrungen am
besten; darum laesst er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim
Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der
uneigennuetzigsten Grossmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt
gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei
Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu
rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den
Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen
Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"--"Woran? am fuenften Akte!"
antwortete dieser. In Wahrheit; der fuenfte Akt ist eine garstige boese
Staupe, die manchen hinreisst, dem die ersten vier Akte ein weit laengeres
Leben versprachen.--

Doch ich will mich in die Kritik des Stueckes nicht tiefer einlassen. So
mittelmaessig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich
schweige von der aeusseren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters
erfordert nichts als Geld. Die Kuenste, deren Hilfe dazu noetig ist, sind
bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die
Kuenstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muss mit der Vorstellung eines Stueckes zufrieden sein, wenn unter
vier, fuenf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet
haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaenger oder sonst ein Notnagel so
sehr beleidiget, dass er ueber das Ganze die Nase ruempft, der reise nach
Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer
ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im
Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann
eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch
immer fuer den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle uebrige
Rollen von ihm sehen zu koennen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses,
dass er Sittensprueche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen
Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer
Innigkeit zu sagen weiss, dass das Trivia1ste von dieser Art in seinem
Munde Neuheit und Wuerde, das Frostigste Feuer und Leben erhaelt.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem
"Kodrus" und hier, so manche in einer so schoenen nachdruecklichen Kuerze
ausgedrueckt, dass viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von
dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu
werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oefters gefaerbtes Glas fuer
Ede1steine, und witzige Antithesen fuer gesunden Verstand einzuschwatzen.
Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere
Wirkung auf mich. Die eine,

"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere,

"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boesewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und
dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrueckt,
wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaenzlich ausbrechen laesst. Teils dachte
ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet
Geschmack an Maximen; auf dieser Buehne koennte sich ein Euripides Ruhm
erwerben, und ein Sokrates wuerde sie gern besuchen. Teils fiel es mir
zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoessig diese
vermeinten Maximen waeren, und ich wuenschte sehr, dass die Missbilligung an
jenem Gemurmle den meisten Anteil moege gehabt haben. Es ist nur ein Athen
gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Poebel das
sittliche Gefuehl so fein, so zaertlich war, dass einer unlautern Moral
wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater
herabgestuermet zu werden! Ich weiss wohl, die Gesinnungen muessen in dem
Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie aeussert,
entsprechen; sie koennen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht
haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muessen, dass
dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht
anders als so habe urteilen koennen. Aber auch diese poetische Wahrheit
muss sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naehern, und der
Dichter muss nie so unphilosophisch denken, dass er annimmt, ein Mensch
koenne das Boese, um des Boesen wegen, wollen, er koenne nach lasterhaften
Grundsaetzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen
sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so
graesslich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines
schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden fuer die hoechste Schoenheit des
Trauerspieles haelt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum
alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, dass von Priestern einer
falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, dass
ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein muessen. Priester haben in den
falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht
weil sie Priester, sondern weil sie Boesewichter waren, die, zum Behuf
ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes
gemissbraucht haetten.

Wenn die Buehne so unbesonnene Urteile ueber die Priester ueberhaupt ertoenen
laesst, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie
als die grade Heerstrasse zur Hoelle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stueckes, und ich wollte von
dem Schauspieler sprechen.



Drittes Stueck
Den 8. Mai 1767

Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), dass wir auch die
gemeinste Moral so gern von ihm hoeren? Was ist es eigentlich, was ein
anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso
unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muss aus der Fuelle des Herzens kommen, von der der Mund
uebergehet; man muss ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu
prahlen scheinen.

Es verstehst sich also von selbst, dass die moralischen Stellen vorzueglich
wohl gelernet sein wollen. Sie muessen ohne Stocken, ohne den geringsten
Anstoss, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer
Leichtigkeit gesprochen werden, dass sie keine muehsame Auskramungen des
Gedaechtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwaertigen Lage
der Sachen scheinen.

Ebenso ausgemacht ist es, dass kein falscher Akzent uns muss argwoehnen
lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muss uns durch den
richtigsten, sichersten Ton ueberzeugen, dass er den ganzen Sinn seiner
Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei
beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch
von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man
einmal gefasst, die man sich einmal ins Gedaechtnis gepraeget hat, lassen
sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern
Dingen beschaeftiget; aber alsdann ist keine Empfindung moeglich. Die Seele
muss ganz gegenwaertig sein; sie muss ihre Aufmerksamkeit einzig und allein
auf ihre Reden richten, und nur alsdann--

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch
keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist ueberhaupt immer das
streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man
sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht
ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen
aeussern Merkmalen urteilen koennen. Nun ist es moeglich, dass gewisse Dinge
in dem Baue des Koerpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten,
oder doch schwaechen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse
Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen
wir ganz andere Faehigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere
Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwaertig aeussern und
ausdruecken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir
glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche.
Gegenteils kann ein anderer so gluecklich gebauet sein; er kann so
entscheidende Zuege besitzen; alle seine Muskeln koennen ihm so leicht, so
geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfaeltige Abaenderungen
der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime
erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglueckt sein, dass er uns in
denjenigen Rollen, die er nicht urspruenglich, sondern nach irgendeinem
guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen
wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische
Nachaeffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgueltigkeit und Kaelte,
dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug
nichts als nachgeaeffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln
bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfaengt, und durch
deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, dass eben die Modifikationen der
Seele, welche gewisse Veraenderungen des Koerpers hervorbringen,
hinwiederum durch diese koerperliche Veraenderungen bewirket werden) er zu
einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer
derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber
doch in dem Augenblicke der Vorstellung kraeftig genug ist, etwas von den
nicht freiwilligen Veraenderungen des Koerpers hervorzubringen, aus deren
Dasein wir fast allein auf das innere Gefuehl zuverlaessig schliessen zu
koennen glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die aeusserste Wut des Zornes
ausdruecken; ich nehme an, dass er seine Rolle nicht einmal recht
verstehet, dass er die Gruende dieses Zornes weder hinlaenglich zu fassen,
noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in
Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergroebsten Aeusserungen
des Zornes einem Akteur von urspruenglicher Empfindung abgelernet hat und
getreu nachzumachen weiss--den hastigen Gang, den stampfenden Fuss, den
rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der
Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zaehne usw.--wenn er,
sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will,
gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefuehl
von Zorn befallen, welches wiederum in den Koerper zurueckwirkt, und da
auch diejenigen Veraenderungen hervorbringt, die nicht bloss von unserm
Willen abhangen; sein Gesicht wird gluehen, seine Augen werden blitzen,
seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein
scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es
sein sollte.

Nach diesen Grundsaetzen von der Empfindung ueberhaupt habe ich mir zu
bestimmen gesucht, welche aeusserliche Merkmale diejenige Empfindung
begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und
welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so dass sie jeder
Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann.
Mich duenkt folgendes.

Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von
Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will also mit
Gelassenheit und einer gewissen Kaelte gesagt sein.

Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindruecken,
welche individuelle Umstaende auf die handelnden Personen machen; er ist
kein blosser symbolischer Schluss; er ist eine generalisierte Empfindung,
und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung
gesprochen sein.

Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kaelte?--

Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach
Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht.

Ist die Situation ruhig, so muss sich die Seele durch die Moral gleichsam
einen neuen Schwung geben wollen; sie muss ueber ihr Glueck oder ihre
Pflichten bloss darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um
durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu geniessen,
diese desto williger und mutiger zu beobachten.

Ist die Situation hingegen heftig, so muss sich die Seele durch die Moral
(unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam
von ihrem Fluge zurueckholen; sie muss ihren Leidenschaften das Ansehen der
Vernunft, stuermischen Ausbruechen den Schein vorbedaechtlicher
Entschliessungen geben zu wollen scheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen
gemaessigten und feierlichen. Denn dort muss das Raisonnement in Affekt
entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskuehlen.

Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen
Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stuermisch heraus, als
das uebrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als
das uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, dass sich die Moral weder
in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und dass wir sie in
jenen ebenso unnatuerlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie
ueberlegten nie, dass die Stickerei von dem Grunde abstechen muss, und Gold
auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.

Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn
sie deren dabei machen sollen, noch was fuer welche. Sie machen
gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln
scheinet, um einen ueberlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie
umgibt, zu werfen; so ist es natuerlich, dass sie allen Bewegungen des
Koerpers, die von ihrem blossen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die
Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand
der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruecken, ohne die das Auge der Vernunft
nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuss
fest auf, die Arme sinken, der ganze Koerper zieht sich in den wagrechten
Stand; eine Pause--und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer
feierlichen Stille, als ob er sich nicht stoeren wollte, sich selbst zu
hoeren. Die Reflexion ist aus,--wieder eine Pause--und so wie die
Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu maessigen, oder zu
befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmaehlich
das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben,
waehrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch
in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urploetzlich
in unserer Gewalt, als Fuss und Hand. Und hierin dann, in diesen
ausdrueckenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande
des ganzen uebrigen Koerpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaelte,
mit welcher ich glaube, dass die Moral in heftigen Situationen gesprochen
sein will.

Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein;
nur mit dem Unterschiede, dass der Teil der Aktion, welcher dort der
feurige war, hier der kaeltere, und welcher dort der kaeltere war, hier der
feurige sein muss. Naemlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte
Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften
Empfindungen einen hoehern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird
sie auch die Glieder des Koerpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen,
dazu beitragen lassen; die Haende werden in voller Bewegung sein; nur der
Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge
wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uebrige Koerper gern
herausarbeiten moechte.



Viertes Stueck
Den 12. Mai 1767

Aber von was fuer Art sind die Bewegungen der Haende, mit welchen, in
ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet?

Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln,
welche die Alten den Bewegungen der Haende vorgeschrieben hatten, wissen
wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, dass sie die Haendesprache zu
einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner
darin zu leisten imstande sind, kaum die Moeglichkeit sollte begreifen
lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein
unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermoegen,
Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte
Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, dass sie nicht
bloss eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes
faehig werden.

Ich bescheide mich gern, dass man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit
dem Schauspieler vermengen muss. Die Haende des Schauspielers waren bei
weitem so geschwaetzig nicht, als die Haende des Pantomimens. Bei diesem
vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den
Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natuerliche
Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben
verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Haende
nicht bloss natuerliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle
Bedeutung, und dieser musste sich der Schauspieler gaenzlich enthalten.

Er gebrauchte sich also seiner Haende sparsamer, als der Pantomime, aber
ebensowenig vergebens, als dieser. Er ruehrte keine Hand, wenn er nichts
damit bedeuten oder verstaerken konnte. Er wusste nichts von den
gleichgueltigen Bewegungen, durch deren bestaendigen einfoermigen Gebrauch
ein so grosser Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich
das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald
mit der linken Hand die Haelfte einer krieplichten Achte, abwaerts vom
Koerper, beschreiben, oder mit beiden Haenden zugleich die Luft von sich
wegrudern, heisst ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen
Tanzmeistergrazie zu tun geuebt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern
zu koennen.

Ich weiss wohl, dass selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand
in schoenen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit
allen moeglichen Abaenderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres
Schwunges, ihrer Groesse und Dauer, faehig sind. Und endlich befiehlt er es
ihnen nur zur Uebung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um
den Armen die Biegungen des Reizes gelaeufig zu machen; nicht aber in der
Meinung, dass das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung
solcher schoenen Linien, immer nach der naemlichen Direktion, bestehe.

Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen
Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse;
und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und
endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Spruechelchen aufsagen, wenn
der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher
man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam
vom Rocken spinnet.

Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muss
bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man
nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal
Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von
malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren
Gebrauch, in Beispielen zu erlaeutern. Itzt wuerde mich dieses zu weit
fuehren, und ich merke nur an, dass es unter den bedeutenden Gesten eine
Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat,
und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind
dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist
ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umstaenden der handelnden Personen
gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermassen der Sache fremd,
er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwaertige von dem
weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhoerer nicht bemerkt
oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung
sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das
Anschauende zurueckzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein
koennen, so muss sie der Schauspieler ja nicht zu machen versaeumen.

Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie
mir es itzt beifaellt; der Schauspieler wird sich ohne Muehe auf noch weit
einleuchtendere besinnen.--Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt,
Gott werde das Herz des Aladin bewegen, dass er so grausam mit den
Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein
alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrueglichkeit unsrer
Hoffnungen zu Gemuete fuehren.

"Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!"

Sein Sohn ist ein feuriger Juengling, und in der Jugend ist man vorzueglich
geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen.

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft."

Doch indem besinnt er sich, dass das Alter zu dem entgegengesetzten Fehler
nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Juengling nicht ganz
niederschlagen und faehret fort:

"Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft."

Diese Sentenzen mit einer gleichgueltigen Aktion, mit einer nichts als
schoenen Bewegung des Armes begleiten, wuerde weit schlimmer sein, als sie
ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die,
welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschraenkt.
Die Zeile,

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft"

muss in dem Tone, mit dem Gestu der vaeterlichen Warnung, an und gegen den
Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne
leichtglaeubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung
veranlasst. Die Zeile hingegen,

"Das Alter quaelt sich selbst, weil es zu wenig hofft"

erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene
Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Haende muessen sich notwendig
gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, dass Evander diesen Satz aus
eigener Erfahrung habe, dass er selbst der Alte sei, von dem er gelte.

Es ist Zeit, dass ich von dieser Ausschweifung ueber den Vortrag der
moralischen Stellen wieder zurueckkomme. Was man Lehrreiches darin findet,
hat man lediglich den Beispielen des Herrn Ekhof zu danken; ich habe
nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie
angenehm ist es, einem Kuenstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloss
gelingt, sondern der es macht!

Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig
eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals
gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein
falscher Akzent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiss den
verworrensten, holprigsten, dunke1sten Vers mit einer Leichtigkeit, mit
einer Praezision zu sagen, dass er durch ihre Stimme die deutlichste
Erklaerung, den vol1staendigsten Kommentar erhaelt. Sie verbindet damit
nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr gluecklichen
Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube
die Liebeserklaerung, welche sie dem Olint tut, noch zu hoeren:

    "--Erkenne mich! Ich kann nicht laenger schweigen;
    Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen.
    Olint ist in Gefahr, und ich bin ausser mir--
    Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir;
    Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute,
    War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite.
    Dein Unglueck aber reisst die ganze Seele hin,
    Und itzt erkenn' ich erst, wie klein, wie schwach ich bin.
    Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen,
    Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen,
    Verbrechern gleichgestellt, ungluecklich und ein Christ,
    Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist:
    Itzt wag' ich's zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!"

Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst
beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher
Ueberstroemung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit
ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie
ueberraschend brach sie auf einmal ab und veraenderte auf einmal Stimme und
Blick und die ganze Haltung des Koerpers, da es nun darauf ankam, die
duerren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde
geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen
Tone der Verwirrung, kam endlich

    "Ich liebe dich, Olint,--"

heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiss, ob die Liebe
sich so erklaert, empfand, dass sie sich so erklaeren sollte. Sie entschloss
sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein
zaertliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewoehnt sonst
in allem zu maennlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die
Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere
Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimuetigkeit wieder da. Sie
fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekuemmerten Hitze
des Affekts fort:

    "--Und stolz auf meine Liebe,
    Stolz, dass dir meine Macht dein Leben retten kann,
    Biet' ich dir Hand und Herz, und Kron' und Purpur an."

Denn die Liebe aeussert sich nun als grossmuetige Freundschaft: und die
Freundschaft spricht ebenso dreist, als schuechtern die Liebe.




Fuenftes Stueck
Den 15. Mai 1767

Es ist unstreitig, dass die Schauspielerin durch diese meisterhafte
Absetzung der Worte

    "Ich liebe dich, Olint,--"

der Stelle eine Schoenheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in
dem naemlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste
Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen haette, in diesen
Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den
Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den
Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er haette sagen
sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob koennte groesser sein, als so
ein Vorwurf? Freilich muss sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses
Lob verdienen zu koennen. Denn sonst moechte es mit den armen Dichtern
uebel aussehen.

Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes,
widerwaertiges, haessliches Ding gemacht. Und demohngeachtet ist sie noch
der einzige Charakter, der uns bei ihm interessierst. So sehr er die
schoene Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte
Natur einige Wirkung. Das macht, weil die uebrigen Charaktere ganz ausser
aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von
Weibe, als mit himmelbruetenden Schwaermern sympathisieren. Nur gegen das
Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton faellt, wird sie uns ebenso
gleichgueltig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt
sie von einem Aeussersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklaert,
so fuegt sie hinzu:

"Wirst du mein Herz verschmaehn? Du schweigst?--Entschliesse dich; Und wenn
du zweifeln kannst--so zittre!--

So zittre? Olint soll zittern? er, den sie oft in dem Tumulte der
Schlacht unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll
vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen?
--O wenn es der Schauspielerin eingefallen waere, fuer diese ungezogene
weibliche Gasconade "so zittre!" zu sagen: "ich zittre!" Sie konnte
zittern, soviel sie wollte, ihre Liebe verschmaeht, ihren Stolz beleidiget
zu finden. Das waere sehr natuerlich gewesen. Aber es von dem Olint
verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fordern, das
ist so unartig als laecherlich.

Doch was haette es geholfen, den Dichter einen Augenblick laenger in den
Schranken des Woh1standes und der Maessigung zu erhalten? Er faehrt fort,
Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marketenderin rasen zu
lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemaentelung mehr statt.

Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun koennte,
waere vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so
ganz hinreissen liesse, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die
aeusserste Wut nicht mit der aeussersten Anstrengung der Stimme, nicht mit
den gewaltsamsten Gebaerden ausdrueckte.

Wenn Shakespeare nicht ein ebenso grosser Schauspieler in der Ausuebung
gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch
wenigstens ebenso gut gewusst, was zu der Kunst des einen, als was zu der
Kunst des andern gehoeret. Ja vielleicht hatte er ueber die Kunst des
erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu
hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die
Komoedianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel fuer alle
Schauspieler, denen an einem vernuenftigen Beifalle gelegen ist. "Ich
bitte euch", laesst er ihn unter andern zu den Komoedianten sagen, "sprecht
die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muss nur eben darueber
hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von
unsern Schauspielern tun: seht, so waere mir es ebenso lieb gewesen, wenn
der Stadtschreier meine Verse gesagt haette. Auch durchsaegt mir mit eurer
Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles huebsch artig; denn
mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem
Wirbelwinde der Leidenschaften, muesst ihr noch einen Grad von Maessigung
beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt."

Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich
so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben koenne. Wenn die, welche
es behaupten, zum Beweise anfuehren, dass ein Schauspieler ja wohl am
unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein koenne, als es die
Umstaende erfodern: so haben die, welche es leugnen, recht zu sagen, dass
in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig
Verstand zeige. Ueberhaupt koemmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem
Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist
es wohl unstreitig, dass der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber
das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle
Stuecke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem
Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so muessten wir diesen Schein der
Wahrheit nicht bis zur aeussersten Illusion getrieben zu sehen wuenschen,
wenn es moeglich waere, dass der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem
Verstande anwenden koennte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein,
dessen Maessigung Shakespeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem
Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muss bloss jene Heftigkeit der
Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden,
warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Maessigung beobachtet
hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stuecken maessigen muesse. Es
gibt wenig Stimmen, die in ihrer aeussersten Anstrengung nicht widerwaertig
wuerden; und allzu schnelle, allzu stuermische Bewegungen werden selten
edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren
beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Aeusserung der heftigen
Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein
koennte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch
noch da von ihnen verlangt, wenn sie den hoechsten Eindruck machen und ihm
das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.

Die Kunst des Schauspielers stehet hier zwischen den bildenden Kuensten
und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muss zwar die Schoenheit
ihr hoechstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie
ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten
Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muss sich das Wilde
eines Tempesta, das Freche eines Bernini oefters erlauben; es hat bei ihr
alle das Ausdrueckende, welches ihm eigentuemlich ist, ohne das
Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuensten durch den
permanenten Stand erhaelt. Nur muss sie nicht allzu lang darin verweilen;
nur muss sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmaehlich vorbereiten
und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des
Wohlanstaendigen aufloesen; nur muss sie ihm nie alle die Staerke geben, zu
der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar
eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verstaendlich
machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen gibet, unverfaelscht
ueberliefern soll.

Es koennte leicht sein, dass sich unsere Schauspieler bei der Maessigung, zu
der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in
Ansehung des Beifalles nicht allzuwohl befinden duerften.--Aber welches
Beifalles?--Die Galerie ist freilich ein grosser Liebhaber des Laermenden
und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten
Haenden zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von
diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem
Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schlaefrigste rafft sich, gegen
das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal
die Stimme und ueberladet die Aktion, ohne zu ueberlegen, ob der Sinn
seiner Rede diese hoehere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten
widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was
tut das ihm? Genug, dass er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam
auf ihn zu sein, und wenn es die Guete haben will, ihm nachzuklatschen.
Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug,
teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen,
fuer die Tat.

Ich getraue mich nicht, von der Aktion der uebrigen Schauspieler in diesem
Stuecke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemueht sein muessen, Fehler zu
bemaenteln, und das Mittelmaessige geltend zu machen: so kann auch der Beste
nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir
ihn auch den Verdruss, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten
lassen, so sind wir doch nicht aufgeraeumt genug, ihm alle die
Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet.

Den Beschluss des ersten Abends machte "Der Triumph der vergangenen Zeit",
ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Franzoesischen des Le Grand.
Es ist eines von den drei kleinen Stuecken, welche Le Grand unter
dem allgemeinen Titel "Der Triumph der Zeit" im Jahr 1724 auf die
franzoesische Buehne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits
einige Jahre vorher, unter der Aufschrift "Die laecherlichen Verliebten",
behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der
dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind
sehr laecherlich. Nur ist das Laecherliche von der Art, wie es sich mehr
fuer eine satirische Erzaehlung, als auf die Buehne schickt. Der Sieg der
Zeit ueber Schoenheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung
eines sechzigjaehrigen Gecks und einer ebenso alten Naerrin, dass die
Zeit nur ueber ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar
laecherlich; aber diesen Geck und diese Naerrin selbst zu sehen, ist
ekelhafter, als laecherlich.



Sechstes Stueck
Den 19. Mai 1767

Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem grossen
Stuecke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem
Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen
Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefaellige
Miene des Scherzes zu geben. Womit koennte ich diese Blaetter besser
auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie.
Sie beduerfen keines Kommentars. Ich wuensche nur, dass manches darin nicht
in den Wind gesagt sei!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der
Wuerde, und die andere mit alle der Waerme und Feinheit und einschmeichelnden
Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte.

Prolog
(Gesprochen von Madame Loewen)

    Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel
    Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel:
    Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen,
    Wie schoen, wie edel ist die Lust, sich so zu quaelen;
    Wenn bald die suesse Traen', indem das Herz erweicht,
    In Zaertlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht,
    Bald die bestuermte Seel', in jeder Nerv' erschuettert,
    Im Leiden Wollust fuehlt und mit Vergnuegen zittert!
    O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt,
    Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners waelzt,
    Vergnuegend, wenn sie ruehrt, entzueckend, wenn sie schrecket,
    Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket,
    Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt,
    Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert?
    Die Fuersicht sendet sie mitleidig auf die Erde,
    Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde;
    Weiht sie, die Lehrerin der Koenige zu sein,
    Mit Wuerde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
    Heisst sie, mit ihrer Macht, durch Traenen zu ergoetzen,
    Das stumpfeste Gefuehl der Menschenliebe wetzen;
    Durch suesse Herzensangst, und angenehmes Graun
    Die Bosheit baendigen und an den Seelen baun;
    Wohltaetig fuer den Staat, den Wuetenden, den Wilden
    Zum Menschen, Buerger, Freund und Patrioten bilden.
    Gesetze staerken zwar der Staaten Sicherheit
    Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit;
    Doch deckt noch immer List den Boesen vor dem Richter,
    Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boesewichter.
    Wer raecht die Unschuld dann? Weh dem gedrueckten Staat,
    Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat!
    Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
    Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen,
    Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit
    Fuer eines Solons Geist den Geist der Drueckung leiht!
    Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen,
    Das Schwert der Majestaet aus ihren Haenden drehen:
    Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls
    Der Redlichkeit, den Fuss der Freiheit auf den Hals.
    Laesst den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten,
    Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten!
    Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann,
    Der schlaue Boesewicht, der blutige Tyrann,
    Wenn der die Unschuld drueckt, wer wagt es, sie zu decken?
    Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken.
    Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?--
    Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geissel traegt,
    Die unerschrockne Kunst, die allen Missgestalten
    Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
    Die das Geweb' enthuellt, worin sich List verspinnt,
    Und den Tyrannen sagt, dass sie Tyrannen sind;
    Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erbloedet,
    Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fuersten redet;
    Gekroente Moerder schreckt, den Ehrgeiz nuechtern macht,
    Den Heuchler zuechtiget und Toren klueger lacht;
    Sie, die zum Unterricht die Toten laesst erscheinen,
    Die grosse Kunst, mit der wir lachen, oder weinen.
    Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier;
    In Rom, in Gallien, in Albion, und--hier.
    Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Traenen flossen,
    Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen;
    Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint
    Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint:
    Wie sie gehasst, geliebt, gehoffet und gescheuet
    Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet.
    Lang hat sie sich umsonst nach Buehnen umgesehn:
    In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen!
    Hier, in dem Schoss der Ruh', im Schutze weiser Goenner,
    Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
    Hier reifet--ja ich wuensch', ich hoff', ich weissag' es!--
    Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles,
    Der Graeciens Kothurn Germanien erneute:
    Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Goenner, wird der eure.
    O seid desselben wert! Bleibt eurer Guete gleich,
    Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!



Epilog
(Gesprochen von Madame Hensel)

    Seht hier! so standhaft stirbt der ueberzeugte Christ!
    So lieblos hasset der, dem Irrtum nuetzlich ist,
    Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache,
    Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache.
    Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt,
    Wo Blindheit fuer Verdienst, und Furcht fuer Andacht galt.
    So konnt' er sein Gespinst von Luegen mit den Blitzen
    Der Majestaet, mit Gift, mit Meuchelmord beschuetzen.
    Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut:
    Die Wahrheit ueberfuehrt, der Irrtum fodert Blut.
    Verfolgen muss man die und mit dem Schwert bekehren,
    Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren.
    Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach
    Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Moerder nach
    Und muss mit seinem Schwert den, welchen Traeumer hassen,
    Den Freund, den Maertyrer der Wahrheit wuergen lassen.
    Abscheulichs Meisterstueck der Herrschsucht und der List,
    Wofuer kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist!
    O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst missbrauchen,
    In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen,
    Dich, die ihr Blutpanier oft ueber Leichen trug,
    Dich, Greuel, zu verschmaehn, wer leiht mir einen Fluch!
    Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme
    Laut fuer die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme
    Ein schuldlos Opfer ward und fuer die Wahrheit sank:
    Habt Dank fuer dies Gefuehl, fuer jede Traene Dank!
    Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes:
    Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes!
    Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
    Zwar schwaechere vielleicht, doch immer Menschen sind.
    Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Traenen,
    Die sonst kein Vorwurf trifft, als dass sie anders waehnen!
    Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu,
    Nichts zur Verstellung zwingt, zu boeser Heuchelei;
    Der fuer die Wahrheit glueht und, nie durch Furcht gezuegelt,
    Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt.
    Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert:
    O wohl uns! haetten wir, was Cronegk schoen gelehrt,
    Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben,
    Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben!
    Des Dichters Leben war schoen, wie sein Nachruhm ist;
    Er war, und--o verzeiht die Traen'!--und starb, ein Christ.
    Liess sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
    Um sie--was kann man mehr?--noch tot zu unterrichten.
    Versaget, hat euch itzt Sophronia geruehrt,
    Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebuehrt,
    Den Seufzer, dass er starb, den Dank fuer seine Lehre,
    Und--ach! den traurigen Tribut von einer Zaehre.
    Uns aber, edle Freund', ermuntre Guetigkeit;
    Und haetten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht.
    Verzeihung mutiget zu edelerm Erkuehnen,
    Und feiner Tadel lehrt das hoechste Lob verdienen.
    Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind;
    Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen,
    Und--doch nur euch gebuehrt zu richten, uns zu schweigen.




Siebentes Stueck
Den 22. Mai 1767

Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner hoechsten Wuerde, indem er es
als das Supplement der Gesetze betrachten laesst. Es gibt Dinge in dem
sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren
Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbetraechtlich und in sich
selbst zu veraenderlich sind, als dass sie wert oder faehig waeren, unter der
eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere,
gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faellt; die in ihren
Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren
Folgen so unermesslich sind, dass sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz
entgehen oder doch unmoeglich nach Verdienst geahndet werden koennen. Ich
will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des
Laecherlichen, die Komoedie; und auf die andern, als auf ausserordentliche
Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen
und das Herz in Tumult setzen, die Tragoedie einzuschraenken. Das Genie
lacht ueber alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch
unstreitig, dass das Schauspiel ueberhaupt seinen Vorwurf entweder
diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes waehlet und die
eigentlichen Gegenstaende desselben nur insofern behandelt, als sie sich
entweder in das Laecherliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche
verbreiten.

Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil
der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von
dem Hrn. von Cronegk ein wenig unueberlegt, in einem Stuecke, dessen Stoff
aus den ungluecklichen Zeiten der Kreuzzuege genommen ist, die Toleranz
predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den
Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese
Kreuzzuege selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der
Paepste waren, wurden in ihrer Ausfuehrung die unmenschlichsten
Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig
gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die
wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben,
zur Strafe ziehen, koemmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das
rechtglaeubige Europa entvoelkerte, um das unglaeubige Asien zu verwuesten?
Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat,
das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und
Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein
Anlass dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr
natuerlich und dringend finden sollte.

Uebrigens stimme ich mit Vergnuegen dem ruehrenden Lobe bei, welches der
Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich
bereden lassen, dass er mit mir ueber den poetischen Wert des kritisierten
Stueckes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen
gewesen, als man mich versichert, dass ich verschiedene von meinen Lesern
durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht haette. Wenn ihnen
bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken
lassen, missfaellt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen.
Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu
verleiden, den ungekuenstelter Witz, viel feine Empfindung und die
lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit
schaetzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muss, zu denen er
entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre
erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den
Verfassern der "Bibliothek der schoenen Wissenschaften" gekroenet, aber
wahrlich nicht als ein gutes Stueck, sondern als das beste von denen, die
damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die
ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so
bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koemmt, doch noch ein
Hinkender.

Eine Stelle in dem Epilog ist einer Missdeutung ausgesetzt gewesen, von
der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:

    "Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind."

Quin, habe ich darwider erinnern hoeren, ist kein schlechter Schauspieler
gewesen.--Nein, gewiss nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die
Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson,
gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil fuer seine
Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil fuer sich:
man weiss, dass er in der Tragoedie mit vieler Wuerde gespielet; dass er
besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuege zu leisten gewusst; dass
er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer groessten Vollkommenheit
gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das
Missverstaendnis liegt bloss darin, dass man annimmt, der Dichter habe diesem
allgemeinen und ausserordentlichen Schauspieler einen schlechten, und fuer
schlecht durchgaengig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier
einen von der gewoehnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht;
einen Mann, der ueberhaupt seine Sache so gut wegmacht, dass man mit ihm
zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich
spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu
Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte
ein guter Schauspieler heissen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der
Proteus in seiner Kunst zu sein, fuer den das einstimmige Geruecht schon
laengst den Garrick erklaeret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel,
den Koenig im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoedie
waren[1]; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick
anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick
der groesste Akteur? Er schien ja nicht ueber das Gespenst erschrocken,
sondern er war es. Was ist das fuer eine Kunst, ueber ein Gespenst zu
erschrecken? Gewiss und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen haetten, so
wuerden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der
andere hingegen, der Koenig, schien wohl auch etwas geruehrt zu sein, aber
als ein guter Akteur gab er sich doch alle moegliche Muehe, es zu
verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch
einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein
Aufhebens macht!"

Bei den Englaendern hat jedes neue Stueck seinen Prolog und Epilog, den
entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu
die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoerer von verschiedenen Dingen zu
unterrichten, die zu einem geschwindem Verstaendnisse der zum Grunde
liegenden Geschichte des Stueckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar
nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei
darin zu sagen, was das Auditorium fuer den Dichter, oder fuer den von ihm
bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl ueber ihn als
ueber die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des
Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die
voellige Aufloesung des Stuecks, die in dem fuenften Akte nicht Raum hatte,
darin erzaehlen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von
Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen ueber die
geschilderten Sitten und ueber die Kunst, mit der sie geschildert worden;
und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aendern
sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts
Ungewoehnliches, dass nach dem Blutigsten und Ruehrendsten die Satire ein so
lautes Gelaechter aufschlaegt und der Witz so mutwillig wird, dass es
scheinet, es sei die ausdrueckliche Absicht, mit allen Eindruecken des
Guten ein Gespoette zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider
diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert
hat. Wenn ich daher wuenschte, dass auch bei uns neue Origina1stuecke nicht
ganz ohne Einfuehrung und Empfehlung vor das Publikum gebracht wuerden, so
versteht es sich von selbst, dass bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs
unserm deutschen Ernste angemessener sein muesste. Nach dem Lustspiele
koennte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei
den Englaendern Meisterstuecke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt
mit dem groessten Vergnuegen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu
welchen er sie verfertiget, zum Teil laengst vergessen sind. Hamburg haette
einen deutschen Dryden in der Naehe; und ich brauche ihn nicht noch einmal
zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem
Salze zu wuerzen, so gut als der Englaender verstehen wuerde.


----Fussnote

[1] Teil VI, S. 15.

----Fussnote




Achtes Stueck
Den 26. Mai 1767

Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt.

Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgefuehret.
Dieses Stueck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der
ruehrenden Gattung, der man den spoettischen Beinamen der Weinerlichen
gegeben. Wenn weinerlich heisst, was uns die Traenen nahe bringt, wobei wir
nicht uebel Lust haetten zu weinen, so sind verschiedene Stuecke von dieser
Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele
Stroeme von Traenen; und der gemeine Prass franzoesischer Trauerspiele
verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden.
Denn eben bringen sie es ungefaehr so weit, dass uns wird, als ob wir
haetten weinen koennen, wenn der Dichter seine Kunst besser
verstanden haette.

"Melanide" ist kein Meisterstueck von dieser Gattung; aber man sieht es
doch immer mit Vergnuegen. Es hat sich selbst auf dem franzoesischen
Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der
Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt,
entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der
zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muss ich einen
Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich
wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wuenschte.

Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine
italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des
Diodati stehet. Ich muss es zum Troste des groessten Haufens unserer
Uebersetzer anfuehren, dass ihre italienischen Mitbrueder meistenteils noch
weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa uebersetzen,
erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich moechte wohl sagen, etwas
anders. Allzu puenktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil
unmoeglich alles, was in der einen Sprache natuerlich ist, es auch in der
andern sein kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich
waessrig und schielend. Denn wo ist der glueckliche Versifikateur, den nie
das Silbenmass, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas
staerker oder schwaecher, frueher oder spaeter, sagen liesse, als er es, frei
von diesem Zwange, wuerde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses
nicht zu unterscheiden weiss; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug
hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den
eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaenzen oder
anzubringen: so wird er uns alle Nachlaessigkeiten seines Originals
ueberliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben,
welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der
Grundsprache fuer sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer
neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den
Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und
ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen
verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit
dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von
der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste
Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen,
doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation
akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel
intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu
koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere
Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und
gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das
Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder
Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist
durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit,
in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den
letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig,
weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine
Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit
der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von
mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stueck annehmen und die
Glieder als die Takte desselben betrachten, so muessen die Glieder, auch
alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laenge waeren und aus der naemlichen
Anzahl von Silben des naemlichen Zeitmasses bestuenden, dennoch nie mit
einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht
auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Ruecksicht auf den in dem
ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein
koennen: so ist es der Natur gemaess, dass die Stimme die geringfuegigern
schnell herausstoesst, fluechtig und nachlaessig darueber hinschlupft; auf den
betraechtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort,
und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaehlet. Die Grade dieser
Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine
kuenstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen,
so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden,
sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem
durchdrungenen Herzen und nicht bloss aus einem fertigen Gedaechtnisse
fliesset. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaendig abwechselnde
Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abaenderungen des
Tones, nicht bloss in Ansehung der Hoehe und Tiefe, der Staerke und
Schwaeche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und
Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen
damit verbunden: so entstehet jene natuerliche Musik, gegen die sich
unfehlbar unser Herz eroeffnet, weil es empfindet, dass sie aus dem Herzen
entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die
Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die
Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu
vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente
auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleissiget, noch hinzufueget,
bloss dadurch seiner Deklamation eine hoehere Vollkommenheit zu geben
imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich
urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in
welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in
dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.

Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches
Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe",
aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt,
dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums
erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu
urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein.

Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der
"Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld,
ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den
"Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert
haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines
Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher
gewesen sein.

Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr
gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung
faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig
guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in
den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen.
Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie
sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber
der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn
gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch
ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist?
Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst
eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist
nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug
schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau
besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet
habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein
schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein
Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals
erdichtet hat, weit uebertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren
Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie
ueber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuecke
nichts zu hoeren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uebrig, als, wie
gesagt, das schwache verfuehrerische Maedchen, das Tugend und Weisheit auf
der Zunge, und Torheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft.
Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich
wuenschte, dass unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten
ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der grossen Welt aufmerksamer sein
wollten.--St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte
Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angefuehrte Kunstrichter, "den
Philosophen. Den Philosophen! Ich moechte wissen, was der junge Mensch in
der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst?
In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all-
gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt
und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er
abenteuerlich, schwuelstig, ausgelassen, und in seinem uebrigen Tun und
Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das
stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen
genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schuelerin oder von
seinem Freunde an der Hand gefuehret zu werden."--Aber wie tief ist der
deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!


----Fussnote

[1] Teil X, S. 255 u. f.

----Fussnote




Neuntes Stueck
Den 29. Mai 1767

In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen
aufgeklaerten Verstand zu zeigen und die taetige Rolle des rechtschaffenen
Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoedie ist weiter nichts, als
ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend
macht und sich sehr beleidiget findet, dass man seinem zaertlichen Herzchen
nicht durchgaengig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze
Wirksamkeit laeuft auf ein paar maechtige Torheiten heraus. Das Buerschchen
will sich schlagen und erstechen.

Der Verfasser hat es selbst empfunden, dass sein Siegmund nicht in
genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch
vorzubeugen, wenn er zu erwaegen gibt: "dass ein Mensch seinesgleichen, in
einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein Koenig, dem alle
Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, grosse Handlungen verrichten
koenne. Man muesse zum voraus annehmen, dass er ein rechtschaffener Mann
sei, wie er beschrieben werde; und genug, dass Julie, ihre Mutter,
Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafuer erkannt haetten."

Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den
Charakter anderer kein beleidigendes Misstrauen setzt; wenn man dem
Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben
beimisst. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der
Billigkeit abspeisen? Gewiss nicht; ob er sich schon sein Geschaeft dadurch
sehr leicht machen koennte. Wir wollen es auf der Buehne sehen, wer die
Menschen sind, und koennen es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir
ihnen, bloss auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmoeglich fuer sie
interessieren; es laesst uns voellig gleichgueltig, und wenn wir nie die
geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine ueble
Rueckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und
allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, dass wir deswegen, weil Julie,
ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund fuer den vortrefflichsten,
vollkommensten jungen Menschen erklaeren, ihn auch dafuer zu erkennen
bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller
dieser Personen ein Misstrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen
Augen etwas sehen, was ihre guenstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr,
in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel grosse
Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn grosse? Auch in den
kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das
meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaetzung, die
groessten. Wie traf es sich denn indes, dass vierundzwanzig Stunden Zeit
genug waren, dem Siegmund zu den zwei aeussersten Narrheiten Gelegenheit zu
schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaenden nur immer einfallen
koennen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koennte der Verfasser
antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moechten aber noch so
natuerlich herbeigefuehret, noch so fein behandelt sein: so wuerden darum
die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre
ueble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuermischen Scheinweisen
nicht verlieren. Dass er schlecht handele, sehen wir: dass er gut handeln
koenne, hoeren wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den
allgemeinsten schwankendsten Ausdruecken.

Die Haerte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen
andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaehlet hatte,
wird beim Rousseau nur kaum beruehrt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine
ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas
wagt. Er laesst den Vater die Tochter zu Boden stossen. Ich war um die
Ausfuehrung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler
hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der
Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der
Wahrheit so wenig Abbruch, dass ich mir gestehen musste, diesen Akteurs
koenne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, dass,
wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut
zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, dass dieses unterlassen worden. Die
Pantomime muss nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in
solchen Faellen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber
das Auge muss es nicht wirklich sehen.

Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stueckes. Sie
gehoert dem Rousseau. Ich weiss selbst nicht, welcher Unwille sich in die
Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter
fussfaellig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraenket uns,
denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte
uebertragen hat. Dem Rousseau muss man diesen ausserordentlichen Hebel
verzeihen; die Masse ist zu gross, die er in Bewegung setzen soll. Da
keine Gruende bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung
ist, dass es sich durch die aeusserste Strenge in seinem Entschlusse nur
noch mehr befestigen wuerde: so konnte sie nur durch die ploetzliche
Ueberraschung der unerwartetsten Begegnung erschuettert, und in einer Art
von Betaeubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter,
verfuehrerische Zaertlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau
kein Mittel sahe, der Natur diese Veraenderung abzugewinnen, so musste er
sich entschliessen, ihr sie abzunoetigen, oder, wenn man will, abzustehlen.
Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, dass
sie den inbruenstigsten Liebhaber dem kaeltesten Ehemanne aufgeopfert habe.
Aber da diese Aufopferung in der Komoedie nicht erfolget; da es nicht die
Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: haette Herr Heufeld
die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloss das
Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewoehnliche
derselben vor dem Vorwurfe des Unnatuerlichen in Sicherheit setzen
wollte?--Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan haette,
so wuerden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so
recht in das Ganze passen will, doch sehr kraeftig ist; er wuerde uns ein
hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht
eigentlich weiss, wo es herkoemmt, das aber eine treffliche Wirkung tut.
Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausfuehrte, die Aktion, mit der er
einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter
beschwor, waeren es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu
begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei
Zergliederung des Planes, merklich wird.

Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des
Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen
Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er
ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wussten ihre Rollen mit der
Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn
ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam
und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten,
die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel
besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen muessen Schlag auf
Schlag gesagt werden, und der Zuhoerer muss keinen Augenblick Zeit haben,
zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine
Frauenzimmer in diesem Stuecke; das einzige, welches noch anzubringen
gewesen waere, wuerde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber
keines, als so eines. Sonst moechte ich es niemanden raten, sich dieser
Besondernheit zu befleissigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider
Geschlechter gewoehnet, als dass wir bei gaenzlicher Vermissung des reizendern
nicht etwas Leeres empfinden sollten.

Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen
Destouches, das naemliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buehne
gebracht. Sie haben beide grosse Stuecke von fuenf Aufzuegen daraus gemacht
und sind daher genoetiget gewesen, den Plan des Roemers mit eignen
Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heisst "Die Mitgift" und wird vom
Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von
den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches
fuehrt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im
Jahre 1745, auf der italienischen Buehne zu Paris, und auch dieses einzige
Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgefuehret. Es fand keinen Beifall, und ist
erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre spaeter,
als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht
der erste Erfinder dieses so gluecklichen, und von mehrern mit so vieler
Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es
eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder
zurueckgefuehret worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in
Benennung seiner Stuecke; und meistenteils nahm er sie von dem aller-
unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den
Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling fuer seine Muehe bekam.




Zehntes Stueck
Den 2. Juni 1767

Das Stueck des fuenften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das
unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches.

Wenn wir die Annales des franzoesischen Theaters nachschlagen, so finden
wir, dass die lustigsten Stuecke dieses Verfassers gerade den
allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwaertige, noch "Der
verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der
poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in
ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgefuehret worden. Es beruhet sehr viel auf
dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankuendiget, oder in welchem er
seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er
eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu
entfernen; und wenn er es tut, duenket man sich berechtiget, darueber zu
stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas
Schlechters zu finden, sobald man nicht das naemliche findet. Destouches
hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in
seinem "Verschwender" Muster eines feinern, hoehern Komischen gegeben, als
man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuecken, gewohnt war.
Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu
seiner eigentuemlichen Sphaere; was bei dem Poeten vielleicht nichts als
zufaellige Wahl war, erklaerten sie fuer vorzueglichen Hang und herrschende
Faehigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen
nicht zu koennen: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern
aehnlicher, als dass sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren liessen,
ehe sie ihr voreiliges Urteil aenderten? Ich will damit nicht sagen, dass
das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Guete
sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin
zu spueren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den
behaglichen Narren, wie sie aus den Haenden der Natur kommen, sondern
mehrenteils von der hoelzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und
mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie ueberladet; sein
Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als laecherlich. Aber
demohngeachtet,--und nur dieses wollte ich sagen,--sind seine lustigen
Stuecke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein
verzaertelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus
Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen
Rang unter den komischen Dichtern versichern koennten.

Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue
Agnese".

Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Sproede; aber
insgeheim war sie die gefaellige, feurige Freundin eines gewissen Bernard.
"Wie gluecklich, o wie gluecklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst
in der Entzueckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf
fragte das liebe einfaeltige Maedchen: "Aber Mama, wer ist denn der
Bernard, der die Leute gluecklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten,
fasste sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich
mir kuerzlich gewaehlt habe; einer von den groessten im Paradiese." Nicht
lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute
Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnuegen; Mama bekoemmt Verdacht;
Mama beschleicht das glueckliche Paar; und da bekoemmt Mama von dem
Toechterchen ebenso schoene Seufzer zu hoeren, als das Toechterchen juengst
von Mama gehoert hatte. Die Mutter ergrimmt, ueberfaellt sie, tobt. "Nun,
was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Maedchen. "Sie haben sich
den h. Bernard gewaehlt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum
nicht?"--Dieses ist eines von den lehrreichen Maerchen, mit welchen das
weise Alter des goettlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart
fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein
muss. Er sahe nichts Anstoessiges darin, als die Namen der Heiligen, und
diesem Anstosse wusste er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine
platonische Weise, eine Anhaengerin der Lehre des Gabalis; und der h.
Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt
eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann
auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und
Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen
Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen naeherzubringen
gesucht; man hat sich aller Anstaendigkeit beflissen; das liebe Maedchen
ist von der reizendsten, verehrungswuerdigsten Unschuld; und durch das
Ganze sind eine Menge gute komische Einfaelle verstreuet, die zum Teil dem
deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veraenderungen
selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht naeher einlassen; aber
Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wuenschten, dass
er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten haette.--Die Rolle der
Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine
vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung
verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles koemmt ihr hier zustatten;
und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles
von selbst spielet: so muss man ihr doch auch eine Menge Feinheiten
zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht
weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.

Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des
Hrn. von Voltaire aufgefuehret.

Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die franzoesische Buehne
gebracht, erhielt grossen Beifall und macht in der Geschichte dieser Buehne
gewissermassen Epoche.--Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und
"Alzire", seinen "Brutus" und "Caesar" geliefert hatte, ward er in der
Meinung bestaerkt, dass die tragischen Dichter seiner Nation die alten
Griechen in vielen Stuecken weit uebertraefen. "Von uns Franzosen", sagt er,
"haetten die Griechen eine geschicktere Exposition und die grosse Kunst,
die Auftritte untereinander so zu verbinden, dass die Szene niemals leer
bleibt und keine Person weder ohne Ursache koemmt noch abgehet, lernen
koennen. Von uns", sagt er, "haetten sie lernen koennen, wie Nebenbuhler und
Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der
Dichter mit einer Menge erhabner, glaenzender Gedanken blenden und in
Erstaunen setzen muesse. Von uns haetten sie lernen koennen"--O freilich;
was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da moechte zwar
ein Auslaender, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demuetig um
Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu duerfen. Er moechte vielleicht
einwenden, dass alle diese Vorzuege der Franzosen auf das Wesentliche des
Trauerspiels eben keinen grossen Einfluss haetten; dass es Schoenheiten waeren,
welche die einfaeltige Groesse der Alten verachtet habe. Doch was hilft es,
dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein
einziges vermisste er bei seiner Buehne; dass die grossen Meisterstuecke
derselben nicht mit der Pracht aufgefuehret wuerden, deren doch die
Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewuerdiget
haetten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von
dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das
stehende Volk draengt und stoesst, beleidigte ihn mit Recht; und besonders
beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Buehne zu
dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren
notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war ueberzeugt, dass bloss
dieser Uebe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem
freiern, zu Handlungen bequemern und praechtigern Theater, ohne Zweifel
gewagt haette. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine
"Semiramis". Eine Koenigin, welche die Staende ihres Reichs versammelt, um
ihnen ihre Vermaehlung zu eroeffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft
steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Moerder zu raechen;
diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder
herauszukommen: das alles war in der Tat fuer die Franzosen etwas ganz
Neues. Es macht so viel Laermen auf der Buehne, es erfordert so viel Pomp
und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter
glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und
ob er es schon nicht fuer die franzoesische Buehne, so wie sie war, sondern
so wie er sie wuenschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben,
vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefaehr spielen liess. Bei der
ersten Vorstellung sassen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich
haette wohl ein altvaetrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel moegen
erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser
Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Buehne frei;
und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so ausserordentlichen
Stueckes, war, ist nach der Zeit die bestaendige Einrichtung geworden. Aber
vornehmlich nur fuer die Buehne in Paris; fuer die, wie gesagt, "Semiramis"
in diesem Stuecke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haeufig
bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte
entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu koennen.




Eilftes Stueck
Den 5. Junius 1767

Die Erscheinung eines Geistes war in einem franzoesischen Trauerspiele
eine so kuehne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie
mit so eignen Gruenden, dass es sich der Muehe lohnet, einen Augenblick
dabei zu verweilen.

"Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire,
"dass man an Gespenster nicht mehr glaube und dass die Erscheinung der
Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch
sein koenne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum haette diese
Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoennt sein, sich nach dem
Altertume zu richten? Wie? unsere Religion haette dergleichen
ausserordentliche Fuegungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte
laecherlich sein, sie zu erneuern?"

Diese Ausrufungen, duenkt mich, sind rhetorischer, als gruendlich. Vor
allen Dingen wuenschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In
Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gruende, aus ihr genommen, recht
gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht
tauglich, ihn zu ueberzeugen. Die Religion, als Religion, muss hier nichts
entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Altertums,
gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des
Altertums gelten. Und sonach haetten wir es auch hier nur mit dem
Altertume zu tun.

Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen
Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn
wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgefuehret finden, so waere
es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozess zu machen.
Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende
dramatische Dichter die naemliche Befugnis? Gewiss nicht.--Aber wenn er
seine Geschichte in jene leichtglaeubigere Zeiten zuruecklegt? Auch alsdenn
nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er
erzaehlt nicht, was man ehedem geglaubt, dass es geschehen, sondern er laesst
es vor unsern Augen nochmals geschehen; und laesst es nochmals geschehen,
nicht der blossen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz
andern und hoehern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck,
sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taeuschen, und durch
die Taeuschung ruehren. Wenn es also wahr ist, dass wir itzt keine
Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Taeuschung notwendig
verhindern muesste; wenn ohne Taeuschung wir unmoeglich sympathisieren
koennen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn
er uns demohngeachtet solche unglaubliche Maerchen ausstaffieret; alle
Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.

Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und
Erscheinungen auf die Buehne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des
Schrecklichen und Pathetischen fuer uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust
waere fuer die Poesie zu gross; und hat sie nicht Beispiele fuer sich, wo das
Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten
Vernunft sehr spoettisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuerchterlich
zu machen weiss? Die Folge muss daher anders fallen; und die Voraussetzung
wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das?
Oder vielmehr, was heisst das? Heisst es so viel: wir sind endlich in
unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmoeglichkeit davon
erweisen koennen; gewisse unumstoessliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an
Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind
auch dem gemeinsten Manne immer und bestaendig so gegenwaertig, dass ihm
alles, was damit streitet, notwendig laecherlich und abgeschmackt
vorkommen muss? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine
Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, ueber die sich
fast ebensoviel dafuer als darwider sagen laesst, die nicht entschieden ist
und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwaertig herrschende Art zu
denken den Gruenden darwider das Uebergewicht gegeben; einige wenige haben
diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen
das Geschrei und geben den Ton; der groesste Haufe schweigt und verhaelt
sich gleichgueltig und denkt bald so, bald anders, hoert beim hellen Tage
mit Vergnuegen ueber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit
Grausen davon erzaehlen.

Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den
dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu
machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am
haeufigsten, fuer die er vornehmlich dichtet. Es koemmt nur auf seine Kunst
an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den
Gruenden fuer ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu
geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moegen wir in gemeinem Leben
glauben, was wir wollen; im Theater muessen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein.
Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie
moegen ein glaeubiges oder unglaeubiges Gehirn bedecken. Der Herr von
Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es
macht ihn und seinen Geist des Ninus--laecherlich.

Shakespeares Gespenst koemmt wirklich aus jener Welt; so duenkt uns. Denn
es koemmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht,
in der vollen Begleitung aller der duestern, geheimnisvollen Nebenbegriffe,
wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu
denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum
Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der blosse verkleidete
Komoediant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich
machen koennte, er waere das, wofuer er sich ausgibt; alle Umstaende
vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoeren den Betrug und verraten
das Geschoepf eines kalten Dichters, der uns gern taeuschen und schrecken
moechte, ohne dass er weiss, wie er es anfangen soll. Man ueberlege auch nur
dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Staende des
Reichs, von einem Donnerschlage angekuendiget, tritt das Voltairische
Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoert, dass
Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haette ihm nicht sagen koennen,
dass die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und grosse Gesellschaften gar
nicht gern besuchten? Doch Voltaire wusste zuverlaessig das auch; aber er
war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstaende zu nutzen; er wollte
uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art
sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich
Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten
unter den Gespenstern sind, duenket mich kein rechtes Gespenst zu sein;
und alles, was die Illusion hier nicht befoerdert, stoeret die Illusion.

Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haette, so
wuerde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden
haben, ein Gespenst vor den Augen einer grossen Menge erscheinen zu
lassen. Alle muessen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und
Entsetzen aeussern; alle muessen es auf verschiedene Art aeussern, wenn der
Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun
richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie
auf das gluecklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser
vielfache Ausdruck des naemlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und
von den Hauptpersonen abziehen muss. Wenn diese den rechten Eindruck auf
uns machen sollen, so muessen wir sie nicht allein sehen koennen, sondern
es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare
ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaesst; in der
Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch
gehoert. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale
eines von Schauder und Schrecken zerruetteten Gemuets wir an ihm entdecken,
desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerruettung
in ihm verursacht, fuer eben das zu halten, wofuer er sie haelt. Das
Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der
Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns ueber, und die Wirkung ist
zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der ausserordentlichen
Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff
verstanden! Es erschrecken ueber seinen Geist viele; aber nicht viel.
Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht
mehr Umstaende mit ihm, als man ohngefaehr mit einem weit entfernt
geglaubten Freunde machen wuerde, der auf einmal ins Zimmer tritt.




Zwoelftes Stueck
Den 9. Junius 1767

Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des
englischen und franzoesischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist
nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es
interessiert uns fuer sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares
Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen
Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen
Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern ueberhaupt. Voltaire
betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare
als eine ganz natuerliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer
denkt, duerfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der
Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem
Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen faehig ist, mit welchem wir
also Mitleiden haben koennen, in keine Betrachtung. Er wollte bloss damit
lehren, dass die hoechste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu
bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen
Gesetzen mache.

Ich will nicht sagen, dass es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter
seine Fabel so einrichtet, dass sie zur Erlaeuterung oder Bestaetigung
irgendeiner grossen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen,
dass diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; dass
sehr lehrreiche vollkommene Stuecke geben kann, die auf keine solche
einzelne Maxime abzwecken; dass man unrecht tut, den letzten Sittenspruch,
den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so
anzusehen, als ob das Ganze bloss um seinetwillen da waere.

Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst
haette, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, dass man naemlich
daraus die hoechste Gerechtigkeit verehren lerne, die, ausserordentliche
Lastertaten zu strafen, ausserordentliche Wege waehle: so wuerde "Semiramis"
in meinen Augen nur ein sehr mittelmaessiges Stueck sein. Besonders da diese
Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem
weisesten Wesen weit anstaendiger, wenn es dieser ausserordentlichen Wege
nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Boesen in die
ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch ich will mich bei dem Stuecke nicht laenger verweilen, um noch ein
Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgefuehret worden. Man hat alle
Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Buehne ist geraeumlich genug, die
Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in
verschiedenen Szenen auftreten laesst. Die Verzierungen sind neu, von dem
besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als
moeglich in einen.

Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, gespielet.

Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die franzoesische Buehne und
fand so allgemeinen Beifall, dass es in Jahr und Tag sechsunddreissigmal
aufgefuehret ward. Die deutsche Uebersetzung ist nicht die prosaische aus
den zu Berlin uebersetzten saemtlichen Werken des Destouches; sondern eine
in Versen, an der mehrere Haende geflickt und gebessert haben. Sie hat
wirklich viel glueckliche Verse, aber auch viel harte und unnatuerliche
Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem
Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig franzoesische
Stuecke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser
ausgefallen waeren, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das
schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Loewen die launigte
Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront
unverbesserlich. Ich kann es ueberhoben sein, von dem Stuecke selbst zu
reden. Es ist zu bekannt und gehoert unstreitig unter die Meisterstuecke
der franzoesischen Buehne, die man auch unter uns immer mit Vergnuegen
sehen wird.

Das Stueck des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus,
oder Die Schottlaenderin" des Hrn. von Voltaire.

Es liesse sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein
Verfasser schickte es als eine Uebersetzung aus dem Englischen des Hume,
nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern
dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht
hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke"
des Goldoni etwas Aehnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni
das Urbild des Frelon gewesen zu sein. Was aber dort bloss ein boesartiger
Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frelon nannte,
damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den
Journalisten Freron, fallen moechten. Diesen wollte er damit zu Boden
schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich
versetzt. Wir Auslaender, die wir an den haemischen Neckereien der
franzoesischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen ueber die
Persoenlichkeiten dieses Stuecks weg und finden in dem Frelon nichts als
die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht
fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und
Englaender, nur dass sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere
Literatur ueberhaupt gleichgueltiger ist. Fiele das Treffende dieses
Charakters aber auch gaenzlich in Deutschland weg, so hat das Stueck doch,
noch ausser ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein koennte
es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmuetigkeit, und
die Englaender selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden.

Denn nur seinetwegen haben sie erst kuerzlich den ganzen Stamm auf den
Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein ruehmte.
Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die
"Schottlaenderin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", uebersetzt
und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem
Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen
Sitten auch kennen will, so hatte er doch haeufig dagegen verstossen; z.E.
darin, dass er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen laesst. Colman
mietet sie dafuer bei einer ehrlichen Frau ein, die moeblierte Zimmer haelt,
und diese Frau ist weit anstaendiger die Freundin und Wohltaeterin der
jungen verlassenen Schoene, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman
fuer den englischen Geschmack kraeftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist
nicht bloss eine eifersuechtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie,
von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer
Schutzgoettin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung
wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet,
den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaere von
Taetigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso
eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Franzoesischen der Lord
Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und
er ist es allein, der alles zu einem gluecklichen Ende bringet.

Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen
durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere
sehr wohl ausgefuehrt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans uebrige
Stuecke weit vor, von welchen man "Die eifersuechtige Ehefrau" auf dem
Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die
sich ihrer erinnern, ungefaehr urteilen koennen. "Der englische Kaufmann"
hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug
darin genaehret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar.
Hiernaechst hat er ihnen zuviel Aehnlichkeit mit andern Stuecken, und den
besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, haette nicht
den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden muessen; seine
gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw.

Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegruendet; indes sind wir
Deutschen es sehr wohl zufrieden, dass die Handlung nicht reicher und
verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und
ermuedet uns; wir lieben einen einfaeltigen Plan, der sich auf einmal
uebersehen laesst. So wie die Englaender die franzoesischen Stuecke mit
Episoden erst vollpfropfen muessen, wenn sie auf ihrer Buehne gefallen
sollen; so muessten wir die englischen Stuecke von ihren Episoden erst
entladen, wenn wir unsere Buehne gluecklich damit bereichern wollten. Ihre
besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley wuerden uns, ohne diesen
Ausbau des allzu wolluestigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren
Tragoedien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem
so verworren nicht, als ihre Komoedien, und verschiedene haben, ohne die
geringste Veraenderung, bei uns Glueck gemacht, welches ich von keiner
einzigen ihrer Komoedien zu sagen wuesste.

Auch die Italiener haben eine Uebersetzung von der "Schottlaenderin", die
in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie
folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine
Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte,
Frelon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so
verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu
schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener duenkte
diese Entschuldigung nicht hinlaenglich, und er ergaenzte die Bestrafung
des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind grosse Liebhaber der
poetischen Gerechtigkeit.




Dreizehntes Stueck
Den 12. Junius 1767

Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden.
Es wurden aber auf einmal mehr als die Haelfte der Schauspieler durch
einen epidemischen Zufall ausserstand gesetzet, zu agieren; und man musste
sich so gut zu helfen suchen, als moeglich. Man wiederholte "Die neue
Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante".

Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische
Dorfjunker", vom Destouches, aufgefuehrt.

Dieses Stueck hat im Franzoesischen drei Aufzuege, und in der Uebersetzung
fuenfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche
Schaubuehne" des weiland beruehmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen
zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Uebersetzerin, war eine viel
zu brave Ehefrau, als dass sie sich nicht den kritischen Ausspruechen ihres
Gemahls blindlings haette unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch
fuer grosse Muehe, aus drei Aufzuegen fuenfe zu machen? Man laesst in einem
andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlaegt einen Spaziergang im
Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der
Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie
ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was
hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"--Die Uebersetzung
selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin
die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie
ueberall ebenso gluecklich gewesen, wo sie den Einfaellen ihres Originals
eine andere Wendung geben zu muessen geglaubt, wuerde sich aus der
Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe
Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen
hoeren. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, laesst
Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen,
Mademoiselle; ich habe Sie fuer eine Virtuosin gehalten." "O pfui!"
erwidert Henriette; "wofuer haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches
Maedchen; dass Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", faellt ihr Masuren
ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Maedchen und eine Virtuosin,
sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, dass man das nicht zugleich
sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched
anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte
man, dass sie das tat. Sie fuehlte sich auch so etwas von einer Virtuosin
zu sein, und ward ueber den vermeinten Stich boese. Aber sie haette nicht
boese werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der
Person einer dummen Agnese, sagt, haette die Frau Professorin immer, ohne
Maulspitzen, nachsagen koennen. Doch vielleicht war ihr nur das fremde
Wort Virtuosin anstoessig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern
Schoenen fuenfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und
verstaendlich uebersetzen; sie hatte sehr recht.

Den Beschluss dieses Abends machte "Die stumme Schoenheit", von Schlegeln.

Schlegel hatte dieses kleine Stueck fuer das neuerrichtete Kopenhagensche
Theater geschrieben, um auf demselben in einer daenischen Uebersetzung
aufgefuehret zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich
daenischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes
komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte ueberall
eine ebenso fliessende als zierliche Versifikation, und es war ein Glueck
fuer seine Nachfolger, dass er seine groessern Komoedien nicht auch in Versen
schrieb. Er haette ihnen leicht das Publikum verwoehnen koennen, und so
wuerden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider
sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komoedie sehr
lebhaft angenommen; und je gluecklicher er die Schwierigkeiten derselben
ueberstiegen haette, desto unwiderleglicher wuerden seine Gruende geschienen
haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel,
wie unsaegliche Muehe es koste, nur einen Teil derselben zu uebersteigen,
und wie wenig das Vergnuegen, welches aus diesen ueberstiegenen
Schwierigkeiten entstehet, fuer die Menge kleiner Schoenheiten, die man
ihnen aufopfern muesse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so
ekel, dass man ihnen die prosaischen Stuecke des Moliere, nach seinem Tode,
in Verse bringen musste; und noch itzt hoeren sie ein prosaisches Lustspiel
als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koenne. Den Englaender
hingegen wuerde eine gereimte Komoedie aus dem Theater jagen. Nur die
Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgueltiger?
Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was waere es auch, wenn sie
itzt schon waehlen und ausmustern wollten?

Die Rolle der stummen Schoene hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme
Schoene, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin
hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels
stumme Schoenheit ist allerdings dumm zugleich; denn dass sie nichts
spricht, koemmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei wuerde also
dieses sein, dass man sie ueberall, wo sie, um artig zu scheinen, denken
muesste, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten liesse, die
bloss mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben koennte. Ihr
Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht baeurisch zu sein; sie
koennen so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren
kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben,
da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muss Quadrille nicht schlecht
spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen.
Auch ihre Kleidung muss weder altvaetrisch, noch schlumpicht sein; denn
Frau Praatgern sagt ausdruecklich:

    "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?--Lass doch sehn!
    Nun!--dreh dich um!--das ist ja gut, und sitzt galant.
    Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?"

In dieser Musterung der Fr. Praatgern ueberhaupt hat der Dichter deutlich
genug bemerkt, wie er das Aeusserliche seiner stummen Schoene zu sein wuensche.
Gleichfalls schoen, nur nicht reizend.

    "Lass sehn, wie traegst du dich?--Den Kopf nicht so zuruecke!"

Dummheit ohne Erziehung haelt den Kopf mehr vorwaerts, als zurueck; ihn
zurueckhalten, lehrt der Tanzmeister; man muss also Charlotten den
Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer
Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren
gerade die, welche der stummen Schoenheit am meisten entsprechen; sie
zeigen die Schoenheit in ihrem besten Vorteile, nur dass sie ihr das
Leben nehmen.

    "Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke."

Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit grossen schoenen Augen zu
dieser Rolle hat. Nur muessen sich diese schoene Augen wenig oder gar nicht
regen; ihre Blicke muessen langsam und stier sein; sie muessen uns mit
ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber
nichts sagen.

    "Geh doch einmal herum!--Gut! hieher!--Neige dich!
    Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich."

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine baeurische
Neige, einen dummen Knicks machen laesst. Ihre Verbeugung muss wohl gelernt
sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau
Praatgern muss sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte
verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das
ist der ganze Unterschied, und Madame Loewen bemerkte ihn sehr wohl, ob
ich gleich nicht glaube, dass die Praatgern sonst eine Rolle fuer sie ist.
Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern
wollen nichtswuerdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer
Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miss Sara Sampson"
aufgefuehret.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in
der Rolle der Sara leistet, und das Stueck ward ueberhaupt sehr gut
gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkuerzt es daher auf den
meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkuerzungen so recht
zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiss ja, wie die Autores sind;
wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie
gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der uebermaessigen Laenge eines
Stuecks durch das blosse Weglassen nur uebel abgeholfen, und ich begreife
nicht, wie man eine Szene verkuerzen kann, ohne die ganze Folge des
Dialogs zu aendern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkuerzungen nicht
anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Muehe wert duenket
und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf
ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henseln starb ungemein anstaendig; in der malerischsten Stellung;
und besonders hat mich ein Zug ausserordentlich ueberrascht. Es ist eine
Bemerkung an Sterbenden, dass sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder
Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die
gluecklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich,
aeusserte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes,
ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward
und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verloeschenden
Lichts; der juengste Strahl einer untergehenden Sonne.--Wer diese Feinheit
in meiner Beschreibung nicht schoen findet, der schiebe die Schuld auf
meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!




Vierzehntes Stueck
Den 16. Junius 1767

Das buergerliche Trauerspiel hat an dem franzoesischen Kunstrichter,
welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,[1] einen sehr
gruendlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten
etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fuersten und Helden koennen einem Stuecke Pomp und Majestaet
geben; aber zur Ruehrung tragen sie nichts bei. Das Unglueck derjenigen,
deren Umstaende den unsrigen am naechsten kommen, muss natuerlicherweise am
tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Koenigen Mitleiden
haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit
Koenigen. Macht ihr Stand schon oefters ihre Unfaelle wichtiger, so macht er
sie darum nicht interessanter. Immerhin moegen ganze Voelker darein
verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand,
und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff fuer unsere Empfindungen.

"Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man
verkennst die Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel beduerfe, uns zu
bewegen und zu ruehren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters,
des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen
ueberhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte
immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname,
die Geburt des Ungluecklichen ist, den seine Gefaelligkeit gegen unwuerdige
Freunde und das verfuehrerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen
Wohlstand und seine Ehre darueber zugrunde gerichtet, und nun im
Gefaengnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er
ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist
er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt
wird, schmachtet in der aeussersten Beduerfnis und kann ihren Kindern,
welche Brot verlangen, nichts als Traenen geben. Man zeige mir in der
Geschichte der Helden eine ruehrendere, moralischere, mit einem Worte,
tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglueckliche
vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfaehrt, dass der Himmel
ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und
fuerchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes
marternde Vorstellungen, wie gluecklich er habe leben koennen, gesellen;
was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoedie wuerdig zu sein? Das Wunderbare,
wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare
genugsam in dem ploetzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der
Unschuld zum Verbrechen, von der suessesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in
dem aeussersten Ungluecke, in das eine blosse Schwachheit gestuerzet?"

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und
Marmontels, noch so eingeschaerft werden: es scheint doch nicht, dass das
buergerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen
werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere aeusserliche
Vorzuege zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit
Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als
schlechte Gesellschaft. Zwar ein glueckliches Genie vermag viel ueber sein
Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet
vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und
Staerke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem
Stuecke gemacht hat, welches er "Das Gemaelde der Duerftigkeit" nennet, hat
schon grosse Schoenheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen,
haetten wir es fuer unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist
zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird
lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht ungluecklichen Muehe
einer gaenzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was
Voltaire bei einer aehnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer
alles ausfuehren, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige
Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, muesste
man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich
sonst ganz gut."

Den zwoelften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom
Regnard, aufgefuehret.

Dieses Stueck ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber
Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buehne
brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, dass
ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard
schob die Beschuldigung zurueck, und itzt wissen wir von diesem Streite
nur so viel mit Zuverlaessigkeit, dass einer von beiden der Plagiarius
gewesen. Wenn es Regnard war, so muessen wir es ihm wohl noch dazu danken,
dass er sich ueberwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu
missbrauchen; er bemaechtigte sich, bloss zu unserm Besten, der Materialien,
von denen er voraussahe, dass sie verhunzt werden wuerden. Wir haetten nur
einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen waere. Doch
haette er die Tat eingestehen und dem armen Du Freny einen Teil der damit
erworbnen Ehre lassen muessen.

Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph" wiederholst; und den Beschluss machte "Der Liebhaber als
Schriftsteller und Bedienter".

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stueckes heisst Cerou; er studierte
die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen
gab. Es faellt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter",
vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgefuehrt.

Jene wird von den Kennern unter die besten Stuecke gerechnet, die sich auf
dem franzoesischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es
ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Moliere nicht haette
schaemen duerfen. Aber der fuenfte Akt und die ganze Aufloesung haette weit
besser sein koennen; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten
gedacht wird, koemmt nicht zum Vorscheine; das Stueck schliesst mit einer
kalten Erzaehlung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet
worden. Sonst ist es in der Geschichte des franzoesischen Theaters
deswegen mit merkwuerdig, weil der laecherliche Marquis darin der erste von
seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel
nicht, und Quinault haette es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten
Verliebten" koennen bewenden lassen.

"Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem
funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beifall
fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des
guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der
Personen entspringet und nicht auf blossen Einfaellen beruhet. Brueys gab
ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es
gegenwaertig aufgefuehret wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz
vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist"
vorgestellt.

Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschaemten Freigeistes", weil man
ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift
fuehret, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, dass
derjenige beschaemt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht
einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an
diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der fuer Wahrheit
und Irrtum gleichgueltige Lisidor, der spitzbuebische Johann sind alles
Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stuecks erfuellen
muessen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, dass die Vorstellung alles
Beifalls wuerdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und
besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen
Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen ueber
die Hartnaeckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze
Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluss dieses Abends machte das Schaeferspiel des Hrn. Pfeffels:
"Der Schatz".

Dieser Dichter hat sich, ausser diesem kleinen Stuecke, noch durch ein
anders, "Der Eremit", nicht unruehmlich bekannt gemacht. In den "Schatz"
hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere
Schaeferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt taendelnde Liebe ist.
Sein Ausdruck ist nur oefters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch
die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoechst studiertes
Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes
werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines
Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele,
auf ruehrende Stuecke koennte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber
wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaehnen
uebergehen.


----Fussnote

[1] "Journal Etranger", Decembre 1761.

----Fussnote




Funfzehntes Stueck
Den 19. Junius 1767

Den sechzehnten Abend (mittewochs, den 13. Mai) ward die "Zaire" des
Herrn von Voltaire aufgefuehrt.

"Den Liebhabern der gelehrten Geschichte", sagt der Hr. von Voltaire,
"wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stueck entstanden.
Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, dass in seinen
Tragoedien nicht genug Liebe waere. Er antwortete ihnen, dass seiner Meinung
nach die Tragoedie auch eben nicht der schicklichste Ort fuer die Liebe
sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben muessten,
so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stueck ward
in achtzehn Tagen vollendet und fand grossen Beifall. Man nennt es zu
Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des
Polyeukts, vorgestellet worden."

Den Damen haben wir also dieses Stueck zu verdanken, und es wird noch
lange das Lieblingsstueck der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch,
nur der Liebe unterwuerfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schoenheit
besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien
zugaenglichen Sitz einer unumschraenkten Gebieterin verwandelt; ein
verlassenes Maedchen, zur hoechsten Staffel des Gluecks, durch nichts als
ihre schoenen Augen, erhoehet; ein Herz, um das Zaertlichkeit und Religion
streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das
gern fromm sein moechte, wenn es nur nicht aufhoeren sollte zu lieben; ein
Eifersuechtiger, der sein Unrecht erkennet und es an sich selbst raechet;
wenn diese schmeichelnde Ideen das schoene Geschlecht nicht bestechen,
durch was liesse es sich denn bestechen?

Die Liebe selbst hat Voltairen die Zaire diktiert: sagt ein Kunstrichter
artig genug. Richtiger haette er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur
eine Tragoedie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist
"Romeo und Juliet", vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire laesst seine
verliebte Zaire ihre Empfindungen sehr fein, sehr anstaendig ausdruecken;
aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaelde aller der
kleinsten geheimsten Raenke, durch die sich die Liebe in unsere Seele
einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet,
aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich
bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und
Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den
Kanzeleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache,
denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das
behutsamste und gemessenste ausdruecken will, wenn sie nichts sagen will,
als was sie bei der sproeden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter
verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiss von den Geheimnissen
der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das
Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat
er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit
unter dem Dichter geblieben.

Von der Eifersucht laesst sich ohngefaehr eben das sagen. Der eifersuechtige
Orosman spielt gegen den eifersuechtigen Othello des Shakespeare eine sehr
kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman
gewesen. Cibber sagt,[1] Voltaire habe sich des Brandes bemaechtiget, der
den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich haette
gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu
eines, der mehr dampft, als leuchtet und waermet. Wir hoeren in dem Orosman
einen Eifersuechtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines
Eifersuechtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht
mehr und nicht weniger, als wir vorher wussten. Othello hingegen ist das
vollstaendigste Lehrbuch ueber diese traurige Raserei; da koennen wir alles
lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden.

Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen,
immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das
aergert uns; wir koennen ihn ja nicht lesen.--Ich ergreife diese
Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsaetzlich
vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Uebersetzung von Shakespeare.
Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekuemmert sich schon mehr
darum. Die Kunstrichter haben viel Boeses davon gesagt. Ich haette grosse
Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Maennern
zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin
bemerkt haben: sondern weil ich glaube, dass man von diesen Fehlern kein
solches Aufheben haette machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein
jeder anderer, als Herr Wieland, wuerde in der Eil' noch oeftrer verstossen
und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr ueberhuepft haben; aber
was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er
uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man
unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schoenheiten, die
es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es
sie liefert, so beleidigen, dass wir notwendig eine bessere Uebersetzung
haben muessten.

Doch wieder zur "Zaire". Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die
Pariser Buehne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische uebersetzt, und
auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Uebersetzer war
Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten
Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in
dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines
Stuecks an den Englaender Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden.
Nur muss man nicht alles fuer vollkommen so wahr annehmen, als er es
ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften ueberhaupt nicht mit dem
skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben
geschrieben hat!

Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: "Eure Dichter hatten eine
Gewohnheit, der sich selbst Addison[2] unterworfen; denn Gewohnheit ist
so maechtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernuenftige
Gewohnheit bestand darin, dass jeder Akt mit Versen beschlossen werden
musste, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Uebrige des
Stuecks; und notwendig mussten diese Verse eine Vergleichung enthalten.
Phaedra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe,
Cato mit einem Felsen, und Kleopatra mit Kindern, die so lange weinen,
bis sie einschlafen. Der Uebersetzer der "Zaire" ist der erste, der es
gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten
Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es
empfunden, dass die Leidenschaft ihre wahre Sprache fuehren und der Poet
sich ueberall verbergen muesse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen."

Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das
ist fuer den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, dass die
Englaender, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch laenger her,
die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzuege in ungereimten Versen mit ein paar
gereimten Zeilen zu enden. Aber dass diese gereimten Zeilen nichts als
Vergleichungen enthielten, dass sie notwendig Vergleichungen enthalten
muessen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von
Voltaire einem Englaender, von dem er doch glauben konnte, dass er die
tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die
Nase sagen koennen. Zweitens ist es nicht an dem, dass Hill in seiner
Uebersetzung der "Zaire" von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar
beinahe nicht glaublich, dass der Hr. von Voltaire die Uebersetzung seines
Stuecks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich oder ein anderer.
Gleichwohl muss es so sein. Denn so gewiss sie in reimfreien Versen ist, so
gewiss schliesst sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zellen.
Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter
allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare und Jonson
und Dryden und Lee und Otway und Rowe, und wie sie alle heissen, ihre
Aufzuege schliessen, sind sicherlich hundert gegen fuenfe, die gleichfalls
keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Haette er aber auch
wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so waere doch
drittens das nicht wahr, dass sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von
dem es Voltaire sein laesst. Noch bis diese Stunde erscheinen in England
ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit
gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem
einzigen Stuecke, deren er doch verschiedene, noch nach der Uebersetzung
der "Zaire", gemacht, sich der alten Mode gaenzlich entaeussert. Und was ist
es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoeren oder keine? Wenn sie da sind,
koennen sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen naemlich,
nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit
schicklicher aus dem Stuecke selbst abgenommen wuerde, als dass es die
Pfeife oder der Schluessel gibt.


----Fussnote

[1] From English Plays, Zara's French author fir'd,
    Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd,
    From rack'd Othello's rage, he rais'd his style
    And snatch'd the brand, that lights this tragic pile.

[2] Le plus sage de vos ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie waere das
wohl recht zu uebersetzen? Sage heisst: weise; aber der weiseste unter den
englischen Schriftstellern, wer wuerde den Addison dafuer erkennen? Ich
besinne mich, dass die Franzosen auch ein Maedchen sage nennen, dem man
keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat.
Dieser Sinn duerfte vielleicht hier passen. Und nach diesem koennte man ja
wohl geradezu uebersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern,
der uns harmlosen, nuechternen Franzosen am naechsten koemmt."

----Fussnote




Sechzehntes Stueck
Den 23. Junius 1767

Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr
unnatuerlich; besonders war ihr tragisches Spiel aeusserst wild und
uebertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudruecken hatten, schrien
und gebaerdeten sie sich als Besessene; und das uebrige toenten sie in einer
steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den
Komoedianten verriet. Als er daher seine Uebersetzung der "Zaire" auffuehren
zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaire einem jungen
Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoedie gespielt hatte. Er urteilte
so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefuehl und Stimme und Figur und
Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie
braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar
Stunden ueberreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf
sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es
ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, dass
nur eine sehr geuebte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genuege
leisten koenne, wurden beschaemt. Diese junge Aktrice war die Frau des
Komoedianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten
Jahre ward ein Meisterstueck. Es ist merkwuerdig, dass auch die franzoesische
Schauspielerin, welche die Zaire zuerst spielte, eine Anfaengerin war. Die
junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch beruehmt, und
selbst Voltaire ward so entzueckt ueber sie, dass er sein Alter recht
klaeglich bedauerte.

Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill uebernommen, der
kein Komoediant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er
spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken,
oeffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schaetzbar als
irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen
Leuten, die zu ihrem blossen Vergnuegen einmal mitspielen, nicht selten.
"Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist
dieses, dass es uns befremdet. Wir sollten ueberlegen, dass alle Dinge in
der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der franzoesische Hof
hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat
weiter nichts Besonders dabei gefunden, als dass diese Art von Lustbarkeit
aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Kuensten fuer ein
Unterschied, als dass die eine ueber die andere ebensoweit erhaben ist, als
es Talente, welche vorzuegliche Seelenkraefte erfodern, ueber bloss
koerperliche Fertigkeiten sind?"

Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaire" uebersetzt; sehr genau und
sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher
Sprache koennen zaertliche Klagen ruehrender klingen, als in dieser? Mit der
einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stuecks genommen,
wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, laesst
ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns ueber das Schicksal des
Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne
Zweifel zu kalt, einen Tuerken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt
also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller
Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den
Text setzen.[1]

Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem
welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist
er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er
sich den toedlichen Stoss beigebracht, so lassen wir den Vorhang
niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, dass der deutsche Geschmack
dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkuerzung mit mehrern
Stuecken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, dass sich
ein Trauerspiel wie ein Epigramm schliessen soll? Immer mit der Spitze des
Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koemmt uns
gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die
Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hoeren zu wollen, wenn es
auch noch so wenige, zur voelligen Rundung des Stuecks noch so
unentbehrliche Worte waeren? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache
einer Sache, die nicht ist. Wir haetten kalt Blut genug, den Dichter bis
ans Ende zu hoeren, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir
wuerden recht gern die letzten Befehle des grossmuetigen Sultans vernehmen;
recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber
wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiss ich
kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es waere
begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten.
Erstochen und geklatscht! Man muss Kuenstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

Bei keiner Nation hat die "Zaire" einen schaerfern Kunstrichter gefunden,
als unter den Hollaendern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des
beruehmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel
daran auszusetzen, dass er es fuer etwas Kleines hielt, eine bessere zu
machen. Er machte auch wirklich eine--andere[2], in der die Bekehrung
der Zaire das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, dass der Sultan
ueber seine Liebe sieget und die christliche Zaire mit aller der Pracht in
ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhoehung gemaess ist; der
alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen?
Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser,
dass er uns kalt laesst; er interessiere uns und mache mit den kleinen
mechanischen Regeln, was er will. Die Duime koennen wohl tadeln, aber den
Bogen des Ulysses muessen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich
darum, weil ich nicht gern zurueck, von der misslungenen Verbesserung auf
den Ungrund der Kritik geschlossen wissen moechte. Duims Tadel ist in
vielen Stuecken ganz gegruendet; besonders hat er die Unschicklichkeiten,
deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das
Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der
Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der
sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er,
"koemmt, Zairen in die Moschee abzuholen; Zaire weigert sich, ohne die
geringste Ursache von ihrer Weigerung anzufuehren; sie geht ab, und
Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl
seiner Wuerde gemaess? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum
dringt er nicht in Zairen, sich deutlicher zu erklaeren? Warum folgt er
ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"--Guter
Duim! wenn sich Zaire deutlicher erklaeret haette: wo haetten denn die
andern Akte sollen herkommen? Waere nicht die ganze Tragoedie darueber in
die Pilze gegangen?--Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts
ist ebenso abgeschmackt: Orosman koemmt wieder zu Zairen; Zaire geht
abermals, ohne die geringste naehere Erklaerung, ab, und Orosman, der gute
Schlucker (dien goeden hals), troestet sich desfalls in einer Monologe.
Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewissheit musste doch bis zum
fuenften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare
haengt, so haengen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem staerkern.

Die letzterwaehnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler,
der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem
bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner
zu empfinden faehig ist. Er muss aus einer Gemuetsbewegung in die andere
uebergehen, und diesen Uebergang durch das stumme Spiel so natuerlich zu
machen wissen, dass der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern
durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit
fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Grossmut,
willig und geneigt, Zairen zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen
sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm laenger kein
Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue,
und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zaertlich
genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch
da Zaire auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu
haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der aeusserste Unwille.
Und so geht er von dem Stolze zur Zaertlichkeit, und von der Zaertlichkeit
zur Erbitterung ueber. Alles was Remond de Sainte-Albine in seinem
"Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf
eine so vollkommene Art, dass man glauben sollte, er allein koenne das
Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.


----Fussnote

[1]
    Questo mortale orror che per le vene
    Tutte mi scorre, omai non e dolore,
    Che basti ad appagarti, anima bella.
    Feroce cor, cor dispietato, e misero,
    Paga la pena del delitto orrendo.
    Mani crudeli--oh Dio--Mani, che siete
    Tinte del sangue di si cara donna.
    Voi--voi--dov'e quel ferro? Un' altra volta
    In mezzo al petto--Oime, dov'e quel ferro?
    L'acuta punta--
    Tenebre, e notte
    Si fanno intorno--
    Perche non posso--
    Non posso spargere
    Il sangue tutto?
    Si, si, lo spargo tutto, anima mia,
    Dove sei?--piu non posso--oh Dio! non posso--
    Vorrei--vederti--io manco, io manco, oh Dio!

[2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745.

[3] "Le Comedien", Partie II, chap. X. p. 209.

----Fussnote




Siebzehntes Stueck
Den 26. Junius 1767

Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom
Gresset, aufgefuehret.

Dieses Stueck kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider
den Selbstmord konnte in Paris kein grosses Glueck machen. Die Franzosen
sagten: es waere ein Stueck fuer London. Ich weiss auch nicht; denn die
Englaender duerften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er
geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht,
zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine
Reue koennte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem
franzoesischen Bedienten so angefuehrt zu sehen, moechte von manchen fuer
eine Beschaemung gehalten werden, die des Haengens allein wuerdig waere.

Doch so wie das Stueck ist, scheinet es fuer uns Deutsche recht gut zu
sein. Wir moegen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemaenteln und
finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem
dummen Streiche zurueckhaelt und das Gestaendnis, falsch philosophiert zu
haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein
franzoesischer Prahler ist, so herzlich gut, dass uns die Etikette, welche
der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun
erfaehrt, dass er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht naeher ist,
als der gesundesten einer, so laesst ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich
es glauben--Rosalla!--Hamilton!--und du, dessen gluecklicher Eifer usw."
Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse
aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehoert das
erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter
seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich
Schauspieler waere, hier wuerde ich es kuehnlich wagen, zu tun, was der
Dichter haette tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht
das erste Wort an meinen Erretter richten duerfte, so wuerde ich ihm
wenigstens den ersten geruehrten Blick zuschicken, mit der ersten
dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann wuerde ich mich gegen
Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurueckkommen.
Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich--Es ist ohnstreitig eine von
seinen staerksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das
Gefuehl der Fuehllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze
Gemuetsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit
groesserer Wahrheit ausdruecken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch
die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Koerper gibt, und
seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstaende verwandelt. Welcher
fortreissende Ton der Ueberzeugung!--

Den Beschluss machte diesen Abend ein Stueck in einem Aufzuge, nach dem
Franzoesischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man
erraet gleich, dass ein Narr oder eine Naerrin darin vorkommen muss, der es
hauptsaechlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener
Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die
Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haengt von der
Aufklaerung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur fuer den
Pflegesohn eines gewissen buergerlichen Lisanders, aber es findet sich,
dass Lisander sein wahrer Vater ist. Nun waere weiter an die Heirat nicht
zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfaelle zu dem
buergerlichen Stande herablassen muessen. In der Tat ist er von ebenso
guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche
Ausschweifungen aus dem vaeterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen
Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusoehnen. Die Aussoehnung
gelingt und macht das Stueck gegen das Ende sehr ruehrend. Da also der
Hauptton desselben ruehrender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der
Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre
Kleinigkeit; aber dasmal haette ich ihn von dem einzigen laecherlichen
Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch
zu erschoepfen; aber er sollte doch auch nicht irrefuehren. Und dieser tut
es ein wenig. Was ist leichter zu aendern, als ein Titel? Die uebrigen
Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr
zum Vorteile des Stuecks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast
allen von dem franzoesischen Theater entlehnten Stuecken mangelt.

Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der
Trommel" gespielt.

Dieses Stueck schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her.
Addison hat nur eine Tragoedie und nur eine Komoedie gemacht. Die
dramatische Poesie ueberhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf
weiss sich ueberall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden
Stuecke, wenn schon nicht die hoechsten Schoenheiten ihrer Gattung,
wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schaetzbaren Werken machen.
Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der franzoesischen
Regelmaessigkeit mehr zu naehern; aber noch zwanzig Addisons, und diese
Regelmaessigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Englaender werden.
Begnuege sich damit, wer keine hoehere Schoenheiten kennet!

Destouches, der in England persoenlichen Umgang mit Addison gehabt hatte,
zog das Lustspiel desselben ueber einen noch franzoesischern Leisten. Wir
spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und
natuerlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich
mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche
Uebersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen und
manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet.

Den neunzehnten Abend (montags, den 18. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, wiederholt.

Des Regnard "Demokrit" war dasjenige Stueck, welches den zwanzigsten Abend
(dienstags, den 19. Mai) gespielet wurde.

Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch
gefaellt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus
dem Poebel. Was folgt hieraus? Dass die Schoenheiten, die es hat, wahre
allgemeine Schoenheiten sein muessen, und die Fehler vielleicht nur
willkuerliche Regeln betreffen, ueber die man sich leichter hinaussetzen
kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des
Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Uebliche aus den Augen gesetzt:
immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stuecke
aehnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl,
so streiche man Demokrit und Athen aus und setze bloss erdichtete Namen
dafuer. Regnard hat es gewiss so gut als ein anderer gewusst, dass um Athen
keine Wueste und keine Tiger und Baere waren; dass es, zu der Zeit des
Demokrits, keinen Koenig hatte usw. Aber er hat das alles itzt nicht
wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden
Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen
Dichters, und nicht die historische Wahrheit.

Andere Fehler moechten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des
Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge muessiger Personen, das
abgeschmackte Geschwaetz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt,
weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern
weil es Unsinn in jedes andern Munde sein wuerde, der Dichter moechte ihn
genannt haben, wie er wolle. Aber was uebersieht man nicht bei der guten
Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist
gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiss nicht, was man aus ihm machen
soll; er aendert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er
ein feiner witziger Spoetter, bald ein plumper Spassmacher, bald ein
zaertlicher Schulfuchs, bald ein unverschaemter Stutzer. Seine Erkennung
mit der Kleanthis ist ungemein komisch, aber unnatuerlich. Die Art, mit
der Mademoiselle Beauval und La Thorilliere diese Szenen zuerst spielten,
hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern
fortgepflanzt. Es sind die unanstaendigsten Grimassen, aber da sie durch
die Ueberlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so koemmt
es niemanden ein, etwas daran zu aendern, und ich will mich wohl hueten, zu
sagen, dass man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden
sollte. Der beste, drolligste und ausgefuehrteste Charakter ist der
Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller
boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts
weniger als episodisch, sondern zur Aufloesung des Knoten ebenso
schicklich als unentbehrlich ist.[1]


----Fussnote

[1] "Histoire du Theatre Francais", T. XIV. p. 164.

----Fussnote




Achtzehntes Stueck
Den 30. Junius 1767

Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel
des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgefuehrt.

Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert fuer die Theater in Paris
gearbeitet; sein erstes Stueck ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte
1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele
belaeuft sich auf einige dreissig, wovon mehr als zwei Dritteile den
Harlekin haben, weil er sie fuer die italienische Buehne verfertigte. Unter
diese gehoeren auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst,
ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder
hervorgesucht wurden, und desto groessern erhielten.

Seine Stuecke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und
Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr aehnlich. In allen
der naemliche schimmernde und oefters allzu gesuchte Witz; in allen die
naemliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die
naemliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von
einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner
Kunst, weiss er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und
doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, dass wir am Ende
einen noch so weiten Weg mit ihm zurueckgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof.
Gottscheds, den Harlekin oeffentlich von ihrem Theater verbannte, haben
alle deutsche Buehnen, denen daran gelegen war, regelmaessig zu heissen,
dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im
Grunde hatten sie nur das bunte Jaeckchen und den Namen abgeschafft, aber
den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stuecke,
in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hiess bei ihr
Haenschen, und war ganz weiss, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich,
ein grosser Triumph fuer den guten Geschmack!

Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der
deutschen Uebersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot,
Gottsched ist auch tot: ich daechte, wir zoegen ihm das Jaeckchen wieder
an.--Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht
auch unter seinem? "Er ist ein auslaendisches Geschoepf", sagt man. Was tut
das? Ich wollte, dass alle Narren unter uns Auslaender waeren! "Er traegt
sich, wie sich kein Mensch unter uns traegt":--so braucht er nicht erst
lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das naemliche Individuum
alle Tage in einem andern Stuecke erscheinen zu sehen." Man muss ihn als
kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht
Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", uebermorgen in den
"Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen,
vorkoemmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend
Varietaeten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in
Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei
Hauptzuege hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir
ekler, in unsere Vergnuegungen waehliger und gegen kahle Vernuenfteleien
nachgebender sein, als--ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener
sind--sondern, als selbst die Roemer und Griechen waren? War ihr Parasit
etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene,
besondere Tracht, in der er in einem Stuecke ueber dem andern vorkam?
Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri
eingeflochten werden mussten, sie mochten sich nun in die Geschichte des
Stuecks schicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der
wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gruendlichkeit, verteidiget.
Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moeser ueber das Groteske-Komische
allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren
Stimme habe ich schon. Es wird darin beilaeufig von einem gewissen
Schriftsteller gesagt, dass er Einsicht genug besitze, dermaleins der
Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man
denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr
Moeser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja
nicht einmal gedacht zu haben erinnern.

Ausser dem Harlekin koemmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein
anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige fuehret. Beide wurden sehr
wohl gespielt; und unser Theater hat ueberhaupt an den Herren Hensel und
Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser
verlangen kann.

Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die
"Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgefuehret.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern
franzoesischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der
"Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stueck nicht verdiente, dass die
Franzosen ein solches Laermen damit machten, so gereicht doch dieses
Laermen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf
seinen Ruhm eifersuechtig ist; auf das die grossen Taten seiner Vorfahren
den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und
von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten ueberzeugt, jenen
nicht zu seinen unnuetzen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den
Gegenstaenden zaehlet, um die sich nur geschaeftige Muessiggaenger bekuemmern.
Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stuecke noch hinter den Franzosen! Es
gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren!
Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersaenger
ein sehr schaetzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgueltigkeit
gegen Kuenste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der
mit Baerfellen und Bernstein handelt, der nuetzlichere Buerger waere?
sicherlich fuer die Frage eines Narren gehalten haetten!--Ich mag mich in
Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von
der sich erwarten liesse, dass sie nur den tausendsten Teil der Achtung und
Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben wuerde, die Calais
gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuer franzoesische
Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit
faehig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein
genug, die Nation in der Geringschaetzung alles dessen zu bestaerken, was
nicht geradezu den Beutel fuellet. Man spreche von einem Werke des Genies,
von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuenstler; man
aeussere den Wunsch, dass eine reiche bluehende Stadt der anstaendigsten
Erholung fuer Maenner, die in ihren Geschaeften des Tages Last und Hitze
getragen, und der nuetzlichsten Zeitverkuerzung fuer andere, die gar keine
Geschaefte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?)
durch ihre blosse Teilnehmung aufhelfen moege:--und sehe und hoere um sich.
"Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloss der Wucherer Albinus, "dass unsere
Buerger wichtigere Dinge zu tun haben!"

------Eu!
Rem poteris servare tuam!--

Wichtigere? Eintraeglichere; das gebe ich zu! Eintraeglich ist freilich
unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Kuensten in Verbindung
stehet. Aber,

--haec animos aerugo er cura peculi
Cum semel imbuerit--

Doch ist vergesse mich. Wie gehoert das alles zur "Zelmire"?

Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte
oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum
Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward
Komoediant. Er spielte einige Zeit unter der franzoesischen Truppe zu
Braunschweig, machte verschiedene Stuecke, kam wieder in sein Vaterland
und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so gluecklich und beruehmt,
als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haette machen koennen, wenn er
auch ein Beaumont geworden waere. Wehe dem jungen deutschen Genie, das
diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei wuerden sein
gewissestes Los sein!

Das erste Trauerspiel des Du Belloy heisst "Titus"; und "Zelmire" war sein
zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal
gespielt. Aber "Zelmire" fand desto groessern; es ward vierzehnmal
hintereinander aufgefuehrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran
satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.

Ein franzoesischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen
die Trauerspiele von dieser Gattung ueberhaupt zu erklaeren: "Uns waere",
sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die
Jahrbuecher der Welt sind an beruechtigten Verbrechen ja so reich; und die
Tragoedie ist ja ausdruecklich dazu, dass sie uns die grossen Handlungen
wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem
sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist,
befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde,
ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, dass 'Zaire', 'Alzire',
'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung waeren. Die Namen der
beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist
historisch. Es hat wirklich Kreuzzuege gegeben, in welchen sich Christen
und Tuerken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, hassten und
wuergten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die
gluecklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europaeischen und
amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaermerei und der wahren Religion
aeussern muessen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die
Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruegers; der
Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoenste philosophische Gemaelde, das
jemals von diesem gefaehrlichen Ungeheuer gemacht worden."


----Fussnote

[1] "Journal Encyclopedique", Juillet 1762.

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Neunzehntes Stueck
Den 3. Julius 1767

Es ist einem jeden vergoennt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es
ist ruehmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben
suchen. Aber den Gruenden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine
Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit haette, ihn
zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muesste, heisst aus den Grenzen des
forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen
Gesetzgeber aufwerfen. Der angefuehrte franzoesische Schriftsteller faengt
mit einem bescheidenen "Uns waere lieber gewesen" an und geht zu so
allgemein verbindenden Ausspruechen fort, dass man glauben sollte, dieses
Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter
folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack
nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.

Nun hat es Aristoteles laengst entschieden, wie weit sich der tragische
Dichter um die historische Wahrheit zu bekuemmern habe; nicht weiter, als
sie einer wohleingerichteten Fabel aehnlich ist, mit der er seine
Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil
sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie
schwerlich zu seinem gegenwaertigen Zwecke besser erdichten koennte. Findet
er diese Schicklichkeit von ohngefaehr an einem wahren Falle, so ist ihm
der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuecher erst lange darum
nachzuschlagen, lohnt der Muehe nicht. Und wie viele wissen denn, was
geschehen ist? Wenn wir die Moeglichkeit, dass etwas geschehen kann, nur
daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine
gaenzlich erdichtete Fabel fuer eine wirklich geschehene Historie zu
halten, von der wir nie etwas gehoert haben? Was ist das erste, was
uns eine Historie glaubwuerdig macht? Ist es nicht ihre innere
Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit
von gar keinen Zeugnissen und Ueberlieferungen bestaetiget wird, oder von
solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne
Grund angenommen, dass es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das
Andenken grosser Maenner zu erhalten; dafuer ist die Geschichte, aber nicht
das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder
jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem
gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaenden tun werde. Die
Absicht der Tragoedie ist weit philosophischer, als die Absicht der
Geschichte; und es heisst sie von ihrer wahren Wuerde herabsetzen, wenn man
sie zu einem blossen Panegyrikus beruehmter Maenner macht, oder sie gar den
Nationa1stolz zu naehren missbraucht.

Die zweite Erinnerung des naemlichen franzoesischen Kunstrichters gegen die
"Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, dass sie fast nichts als
ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufaelle sei, die in den engen Raum
von vierundzwanzig Stunden zusammengepresst, aller Illusion unfaehig
wuerden. Eine seltsam ausgesparte Situation ueber die andere! ein
Theaterstreich ueber den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man
nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so draengen, koennen
schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles ueberrascht, wird
uns leicht manches mehr befremden, als ueberraschen. "Warum muss sich z.E.
der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine
Verbrechen zu offenbaren? Faellt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die
Gemuetsaenderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den
Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines
Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu
empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrueckt.
Welch geringfuegige Ursachen gibt hiernaechst der Dichter nicht manchmal
den wichtigsten Dingen! So muss Polydor, wenn er aus der Schlacht koemmt
und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Ruecken
zukehren, und der Dichter muss uns sorgfaeltig diesen kleinen Umstand
einschaerfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das
Gesicht, anstatt den Ruecken zuwendete: so wuerde sie ihn erkennen, und die
folgende Szene, wo diese zaertliche Tochter unwissend ihren Vater seinen
Henkern ueberliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so grossen
Eindruck machende Szene fiele weg. Waere es gleichwohl nicht weit
natuerlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal
fluechtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen
Wink gegeben haette? Freilich waere es so natuerlicher gewesen, als dass die
ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er
seinen Ruecken dahin oder dorthin kehret, gruenden muessen. Mit dem Billett
des Azor hat es die naemliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten
Akte gleich mit, so wie er es haette mitbringen sollen, so war der Tyrann
entlarvet, und das Stueck hatte ein Ende."

Die Uebersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht
lieber eine koernichte, wohlklingende Prosa hoeren wollen, als matte,
geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Uebersetzungen werden
kaum ein halbes Dutzend sein, die ertraeglich sind. Und dass man mich ja
nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich wuerde eher wissen, wo ich
aufhoeren, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen
dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der groesste
Versifikateur, sondern stuemperte und flickte; der Deutsche war es noch
weniger, und indem er sich bemuehte, die gluecklichen und ungluecklichen
Zeilen seines Originals gleich treu zu uebersetzen, so ist es natuerlich,
dass oefters, was dort nur Lueckenbuesserei oder Tautologie war, hier zu
foermlichem Unsinne werden musste. Der Ausdruck ist dabei meistens so
niedrig und die Konstruktion so verworfen, dass der Schauspieler allen
seinen Adel noetig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand
brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu
erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden!

Aber verlohnt es denn auch der Muehe, auf franzoesische Verse so viel Fleiss
zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso waessrig korrekte, ebenso
grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen
poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa uebertragen, so wird
unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der
Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen
Uebersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch
der kuehnsten Tropen und Figuren, ausser einer gebundenen kadensierten
Wortfuegung, uns an Besoffene denken laesst, die ohne Musik tanzen. Der
Ausdruck wird sich hoechstens ueber die alltaegliche Sprache nicht weiter
erheben, als sich die theatralische Deklamation ueber den gewoehnlichen Ton
der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wuenschte
ich unserm prosaischen Uebersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich
der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, dass das Silbenmass
ueberhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am
wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier koemmt es bloss darauf an,
unter zwei Uebeln das kleinste zu waehlen; entweder Verstand und Nachdruck
der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte
war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der
das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstaerkung
des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es
etwas mehr, und wir koennen der griechischen ungleich naeher kommen, die
durch den blossen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin
ausgedrueckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoesischen Verse haben
nichts als den Wert der ueberstandenen Schwierigkeit fuer sich; und
freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert.

Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit
aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Boesewichte von grossem
Verstande so natuerlich zu sein scheinen. Kein misslungener Anschlag wird
ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Raenken unerschoepflich;
er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner
Bloesse darzustellen drohte, empfaengt eine Wendung, die ihm die Larve nur
noch fester aufdrueckt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von
seiten des Schauspielers das getreueste Gedaechtnis, die fertigste Stimme,
die freieste, nachlaessigste Aktion unumgaenglich noetig. Hr. Borchers hat
ueberhaupt sehr viele Talente, und schon das muss ein guenstiges Vorurteil
fuer ihn erwecken, dass er sich in alten Rollen ebenso gern uebet, als in
jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner
unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die
nur immer auf der Buehne glaenzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich
in lauter galanten liebenswuerdigen Rollen begaffen und bewundern zu
lassen, ihr vornehmster, auch wohl oefters ihr einziger Beruf zum
Theater ist.




Zwanzigstes Stueck
Den 7. Julius 1767

Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward "Cenie"
aufgefuehret.

Dieses vortreffliche Stueck der Graffigny musste der Gottschedin zum
Uebersetzen in die Haende fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von
sich selbst ablegt, "dass sie die Ehre, welche man durch Uebersetzung oder
auch Verfertigung theatralischer Stuecke erwerben koenne, allezeit nur fuer
sehr mittelmaessig gehalten habe", laesst sich leicht vermuten, dass sie,
diese mittelmaessige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmaessige Muehe
werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, dass sie einige lustige Stuecke des Destouches eben nicht verdorben
hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu uebersetzen, als eine
Empfindung! Das Laecherliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen;
aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre
eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese
verkennt und sie dafuer den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle
die kalte Vollstaendigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will,
die wir an einem logischen Satze verlangen. z.E. Dorimond hat dem
Mericourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines
Vermoegens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht;
er verweigert sich dem grossmuetigen Anerbieten und will sich ihm aus
Uneigennuetzigkeit verweigert zu haben scheinen. "Wozu das?" sagt er.
"Warum wollen Sie sich Ihres Vermoegens berauben? Geniessen Sie Ihrer Gueter
selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet." J'en jouirai,
je vous rendrai tous heureux: laesst die Graffigny den lieben gutherzigen
Alten antworten. "Ich will ihrer geniessen, ich will euch alle gluecklich
machen." Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlaessige
Kuerze, mit der ein Mann, dem Guete zur Natur geworden ist, von seiner Guete
spricht, wenn er davon sprechen muss! Seines Glueckes geniessen, andere
gluecklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloss
eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das
andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiss
auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das
naemliche zweimal spraeche, als ob beide Saetze wahre tautologische Saetze,
vollkommen identische Saetze waeren; ohne das geringste Verbindungswort. O
des Elenden, der die Verbindung nicht fuehlt, dem sie eine Partikel erst
fuehlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, dass die
Gottschedin jene acht Worte uebersetzt hat? "Alsdenn werde ich meiner
Gueter erst recht geniessen, wenn ich euch beide dadurch werde gluecklich
gemacht haben." Unertraeglich! Der Sinn ist vollkommen uebergetragen, aber
der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses
Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses
Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle
Bedenklichkeiten der Ueberlegung geben und eine warme Empfindung in eine
frostige Schlussrede verwandeln.

Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, dass ungefaehr auf diesen
Schlag das ganze Stueck uebersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren
gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in
die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgeloeset worden. Hierzu koemmt
in vielen Stellen der haessliche Ton des Zeremoniells; verabredete
Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der geruehrten Natur
auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie:
"Frau Mutter! o welch ein suesser Name!" Der Name Mutter ist suess; aber Frau
Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das
ganze, der Empfindung sich oeffnende Herz wieder zusammen. Und in dem
Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem
"Gnaediger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!" ihm in die Arme. Mon
pere! auf deutsch: Gnaediger Herr Vater. Was fuer ein respektuoeses Kind!
Wenn ich Dorsainville waere, ich haette es ebenso gern gar nicht wieder
gefunden, als mit dieser Anrede.

Madame Loewen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Wuerde
und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewusstsein ihres
verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudruecken, kann nur ihrem
Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort faellt aus ihrem Munde auf die Erde.
Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es koemmt aus ihrem eignen Kopfe, aus
ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr
Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wuesste nur einen einzigen Fehler; aber
es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswuerdiger Fehler. Die
Aktrice ist fuer die Rolle zu gross. Mich duenkt einen Riesen zu sehen, der
mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich moechte nicht alles machen,
was ich vortrefflich machen koennte.

Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung
von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in
so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum
Schlusse des Stuecks vom Mericourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, dass
er in der grossen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag
ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen
Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf
einmal zu zeigen, was das fuer ein Land ist, dieses Vaterland des
Mericourt? Ein gefaehrliches, ein boeses Land!

    Tot linguae, quot membra viro!

Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des
Herrn Weisse aufgefuehret.

"Amalia" wird von Kennern fuer das beste Lustspiel dieses Dichters
gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgefuehrtere Charaktere
und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine uebrige komische
Stuecke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame
Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit
aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr
unwahrscheinlich finden wuerden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt
zu sehen. Dergleichen Verkleidungen ueberhaupt geben einem dramatischen
Stuecke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafuer kann es aber auch nicht
fehlen, dass sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen
veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fuenfte des letzten Akts, in
welcher ich meinem Freunde einige allzu kuehn kroquierte Pinselstriche zu
lindern und mit dem uebrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl
raten moechte. Ich weiss nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich
mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich
will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit
bestehen koenne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu
brueskieren. Ich will die Vermutung ungeaeussert lassen, dass es vielleicht
gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu
treiben; dass ein wahrer Manley die Sache wohl haette feiner anfangen
koennen; dass man ueber einen schnellen Strom nicht in gerader Linie
schwimmen zu wollen verlangen muesse; dass--Wie gesagt, ich will diese
Vermutungen ungeaeussert lassen; denn es koennte leicht bei einem solchen
Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem naemlich die Gegenstaende
sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, dass diejenige Frau,
bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen uebrigen Arten Obstand
halten werde. Ich will bloss bekennen, dass ich fuer mein Teil nicht Herz
genug gehabt haette, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich wuerde mich,
vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefuerchtet
haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch
einer mehr als Crebillonschen Faehigkeit bewusst gewesen waere, mich
zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiss ich doch nicht, ob ich
nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen waere. Besonders da
sich dieser andere Weg hier von selbst oeffnet. Manley, oder Amalia, wusste
ja, dass Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmaessig verbunden
sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm
gaenzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es
nur um fluechtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften
Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit
sei? Seine Bewerbungen wuerden dadurch, ich will nicht sagen unstraeflich,
aber doch unstraeflicher geworden sein; er wuerde, ohne sie in ihren
eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen koennen; die Probe
waere ungleich verfuehrerischer und das Bestehen in derselben ungleich
entscheidender fuer ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man wuerde zugleich
einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben;
anstatt dass man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun
koennen, wenn sie ungluecklicherweise in ihrer Verfuehrung gluecklich
gewesen waere.

Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der
Finanzpachter". Es besteht ungefaehr aus ein Dutzend Szenen von der
aeussersten Lebhaftigkeit. Es duerfte schwer sein, in einen so engen Bezirk
mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die
Manier dieses liebenswuerdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein
Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewusst, als er.

Den fuenfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire"
des Du Belloy wiederholt.




Einundzwanzigstes Stueck
Den 10. Julius 1767

Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die
Muetterschule" des Nivelle de la Chaussee aufgefuehret.

Es ist die Geschichte einer Mutter, die fuer ihre parteiische Zaertlichkeit
gegen einen nichtswuerdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kraenkung
erhaelt. Marivaux hat auch ein Stueck unter diesem Titel. Aber bei ihm ist
es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes,
gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle
Welt und Erfahrung laesst: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten
kann. Das liebe Maedchen hat ein empfindliches Herz; sie weiss keiner
Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in
den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem
Himmel danken, dass es noch so gut ablaeuft. In jener Schule gibt es eine
Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu
lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es muesste fuer
Kenner ein Vergnuegen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander
besuchen zu koennen. Sie haben hierzu auch alle aeusserliche Schicklichkeit;
das erste Stueck ist von fuenf Akten, das andere von einem.

Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine"
des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre
1749 zuerst erschien. Was ist das fuer ein Titel? Was denkt man
dabei?--Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken
soll. Ein Titel muss kein Kuechenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte
verraet, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung
dabei, und die Alten haben ihren Komoedien selten andere, als
nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den
Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter
gehoeret des Plautus "Miles gloriosus". Wie koemmt es, dass man noch nicht
angemerket, dass dieser Titel dem Plautus nur zur Haelfte gehoeren kann.
Plautus nannte sein Stueck bloss Gloriosus; so wie er ein anderes
"Truculentus" ueberschrieb. Miles muss der Zusatz eines Grammatikers sein.
Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber
seine Prahlereien beziehen sich nicht bloss auf seinen Stand und seine
kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso grosssprecherisch;
er ruehmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schoenste und
liebenswuerdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen;
aber sobald man Miles hinzufuegt, wird das gloriosus nur auf das erstere
eingeschraenkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte,
eine Stelle des Cicero[1] verfuehrt; aber hier haette ihm Plautus selbst
mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:

    ALAZON Graece huic nomen est Comoediae
    Id nos latine GLORIOSUM dicimus--

und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, dass eben
das Stueck des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines grosssprecherischen
Soldaten kam in mehrern Stuecken vor. Cicero kann ebensowohl auf den
Thraso des Terenz gezielet haben.--Doch dieses beilaeufig. Ich erinnere
mich, meine Meinung von den Titeln der Komoedien ueberhaupt schon einmal
geaeussert zu haben. Es koennte sein, dass die Sache so unbedeutend nicht
waere. Mancher Stuemper hat zu einem schoenen Titel eine schlechte Komoedie
gemacht; und bloss des schoenen Titels wegen. Ich moechte doch lieber eine
gute Komoedie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuer
Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken
sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stueck
genannt haetten. Der ist laengst dagewesen! ruft man. Der auch schon!
Dieser wuerde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet?
Das koemmt aus den schoenen Titeln. Was fuer ein Eigentumsrecht erhaelt ein
Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, dass er seinen Titel davon
hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht haette, so wuerde ich
ihn wiederum stillschweigend brauchen duerfen, und niemand wuerde mich
darueber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache
z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem
Moliereschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie
heissen. Genug, dass Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat
unrecht, dass er funfzig Jahr spaeter lebet; und dass die Sprache fuer die
unendlichen Varietaeten des menschlichen Gemuets nicht auch unendliche
Benennungen hat.

Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr:
"Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stueck nicht
zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die
Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die
Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet
der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In
der naemlichen Ausgabe seiner Werke heisst er auf einem Blatte "Das
besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch
beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, dass zu
einer vernuenftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes
erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die
Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den
Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar
Stuecke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein grosses Glueck
gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussee sind auch
ziemlich kahle Stuecke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein,
etwas weit Besseres zu machen.

"Nanine" gehoert unter die ruehrenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr
viel laecherliche Szenen, und nur insofern, als die laecherlichen Szenen
mit den ruehrenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komoedie geduldet
wissen. Eine ganz ernsthafte Komoedie, wo man niemals lacht, auch nicht
einmal laechelt, wo man nur immer weinen moechte, ist ihm ein Ungeheuer.
Hingegen findet er den Uebergang von dem Ruehrenden zum Laecherlichen und
von dem Laecherlichen zum Ruehrenden sehr natuerlich. Das menschliche Leben
ist nichts als eine bestaendige Kette solcher Uebergaenge, und die Komoedie
soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewoehnlicher",
sagt er, "als dass in dem naemlichen Hause der zornige Vater poltert, die
verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich ueber beide aufhaelt und jeder
Anverwandte bei der naemlichen Szene etwas anders empfindet? Man
verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan aeusserst
bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben
Viertelstunde ueber ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr
ehrwuerdige Matrone sass bei einer von ihren Toechtern, die gefaehrlich krank
lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in
Traenen zerfliessen, sie rang die Haende und rief: 'O Gott, lass mir, lass mir
dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafuer nehmen!'
Hier trat ein Mann, der eine von ihren uebrigen Toechtern geheiratet hatte,
naeher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Aermel und fragte: 'Madame, auch
die Schwiegersoehne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese
Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betruebte Dame,
dass sie in vollem Gelaechter herauslaufen musste; alles folgte ihr und
lachte; die Kranke selbst, als sie es hoerte, waere vor Lachen fast
erstickt."

"Homer", sagt er an einem andern Orte, "laesst sogar die Goetter, indem sie
das Schicksal der Welt entscheiden, ueber den possierlichen Anstand des
Vulkans lachen. Hektor lacht ueber die Furcht seines kleinen Sohnes, indem
Andromacha die heissesten Traenen vergiesst. Es trifft sich wohl, dass mitten
unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer
Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhaengnisses, ein Einfall, eine
ungefaehre Posse, trotz aller Beaengstigung, trotz alles Mitleids das
unbaendigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem
Regimente, dass es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat
darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein
Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmoeglich
dienen!' Diese Naivetaet ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und
metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoedie das Lachen auf ruehrende
Empfindungen folgen koennen? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht
Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung
streiten zu wollen."

Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die
Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komoedie fuer eine ebenso
fehlerhafte als langweilige Gattung erklaeret? Vielleicht damals, als
er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein
"Hausvater" vorhanden; und vieles muss das Genie erst wirklich machen,
wenn wir es fuer moeglich erkennen sollen.


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[1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33.

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Zweiundzwanzigstes Stueck
Den 14. Julius 1767

Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat
Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert
beschlossen.

Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert
derjenige, dessen Stuecke das meiste urspruenglich Deutsche haben. Es sind
wahre Familiengemaelde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder
Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muehmchen aus seiner
eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, dass es
an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und dass nur die Augen ein
wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere
Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir ueber
viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere
Virtuosen an eine allzu flache Manier gewoehnet. Sie machen sie aehnlich,
aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand
nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewusst, so mangelt dem Bilde die
Rundung, das Koerperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns
bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Aussenlinien uns gleich
an die Taeuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uebrigen Seiten
herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig
und ekel; wann sie belustigen sollen, muss ihnen der Dichter etwas von
dem Seinigen geben. Er muss sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der
schmutzigen Nachlaessigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb
ihren vier Pfaehlen herumtraeumen. Sie muessen nichts von der engen Sphaere
kuemmerlicher Umstaende verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten
will. Er muss sie aufputzen; er muss ihnen Witz und Verstand leihen, das
Armselige ihrer Torheiten bemaenteln zu koennen; er muss ihnen den Ehrgeiz
geben, damit glaenzen zu wollen.

"Ich weiss gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das fuer
ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr
Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muss seine
geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstaende machen!
Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar
grosses Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und
ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und
er muss ja wohl."

"Ganz gewiss!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern.
Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Muetter. Eine Andrienne! Welche
Schneidersfrau traegt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, dass
die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie
nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"--(ich habe die andern Namen
vergessen, ich wuerde sie auch nicht zu schreiben wissen)--"dafuer sagen!
Mich in einer Andrienne zu denken; das allein koennte mich krank machen.
Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muss es
auch die neueste Tracht sein. Wie koennen wir es sonst wahrscheinlich
finden, dass sie darueber krank geworden?"

"Und ich", sagte eine dritte (es war die gelehrteste), "finde es sehr
unanstaendig, dass die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib
gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser--wie
soll ich es nennen?--Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die
Einheit der Zeit! Das Kleid musste fertig sein; die Stephan sollte es noch
anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid
fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele
vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt"--Hier
ward meine Kunstrichterin unterbrochen.

Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der
"Melanide" des de la Chaussee "Der Mann nach der Uhr, oder der
ordentliche Mann" gespielet.

Der Verfasser dieses Stuecks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an
drolligen Einfaellen; nur schade, dass ein jeder, sobald er den Titel hoert,
alle diese Einfaelle voraussieht. National ist es auch genug; oder
vielmehr provinzial. Und dieses koennte leicht das andere Extremum werden,
in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten
schildern wollten. Ich fuerchte, dass jeder die armseligen Gewohnheiten des
Winkels, in dem er geboren worden, fuer die eigentlichen Sitten des
gemeinschaftlichen Vaterlandes halten duerfte. Wem aber liegt daran, zu
erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort gruenen Kohl isst?

Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, dass
jeder etwas anders sagen muss. Hier ist das nicht; "Der Mann nach der
Uhr", oder "Der ordentliche Mann" sagen ziemlich das naemliche; ausser dass
das erste ohngefaehr die Karikatur von dem andern ist.

Den dreissigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der "Graf von
Essex", vom Thomas Corneille, auf gefuehrt. Dieses Trauerspiel ist fast
das einzige, welches sich aus der betraechtlichen Anzahl der Stuecke des
juengern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird
auf den deutschen Buehnen noch oefterer wiederholt, als auf den
franzoesischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher
bereits Calprenede die naemliche Geschichte bearbeitet hatte.

"Es ist gewiss", schreibt Corneille, "dass der Graf von Essex bei der
Koenigin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr
stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr
auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verstaendnisses mit dem Grafen
von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwaehlet hatten.
Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando
der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf,
ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um
Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die
Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, dass ich
sie in einem wichtigen Stuecke verfaelscht haette, weil ich mich des
Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Koenigin dem Grafen zum
Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines
Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muss mich
dieses sehr befremden. Ich bin versichert, dass dieser Ring eine Erfindung
des Calprenede ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das
geringste davon gelesen."

Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu
nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, dass er ihn fuer
eine poetische Erfindung erklaerte. Seine historische Richtigkeit ist
neuerlich fast ausser Zweifel gesetzt worden; und die bedaechtlichsten,
skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre
Werke aufgenommen.

Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut
redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: "Die
gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste
war diese, dass dieses Uebel aus einer betruebten Reue wegen des Grafen von
Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz ausserordentliche Achtung fuer
das Andenken dieses ungluecklichen Herrn; und wiewohl sie oft ueber seine
Hartnaeckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne
Traenen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung
mit neuer Zaertlichkeit belebte und ihre Betruebnis noch mehr vergaellte.
Die Graefin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wuenschte die
Koenigin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung
sie nicht ruhig wuerde sterben lassen. Wie die Koenigin in ihr Zimmer kam,
sagte ihr die Graefin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen
worden, gewuenscht, die Koenigin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die
Art, die Ihro Majestaet ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr
naemlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit
der Versicherung geschenkt, dass, wenn er ihr denselben, bei einem
etwanigen Ungluecke, als ein Zeichen senden wuerde, er sich ihrer voelligen
Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person,
durch welche er ihn habe uebersenden wollen; durch ein Versehen aber sei
er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Haende geraten. Sie habe
ihrem Gemahl die Sache erzaehlt (er war einer von den unversoehnlichsten
Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Koenigin
zu geben noch dem Grafen zurueckzusenden. Wie die Graefin der Koenigin ihr
Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth,
die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene
Ungerechtigkeit einsahe, dass sie ihn im Verdacht eines unbaendigen
Eigensinnes gehabt, antwortete: 'Gott mag Euch vergeben; ich kann es
nimmermehr!' Sie verliess das Zimmer in grosser Entsetzung, und von dem
Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gaenzlich. Sie nahm weder Speise
noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein
Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Naechte auf einem Polster, ohne ein
Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen,
auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst
der Seelen und von so langem Fasten ganz entkraeftet, den Geist aufgab."




Dreiundzwanzigstes Stueck
Den 17. Julius 1767

Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise
kritisiert. Ich moechte nicht gegen ihn behaupten, dass "Essex" ein
vorzueglich gutes Stueck sei; aber das ist leicht zu erweisen, dass viele
von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden,
teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den
richtigsten und wuerdigsten Begriff von der Tragoedie voraussetzen.

Es gehoert mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, dass er ein
sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem
"Essex" auf dieses sein Streitross und tummelte es gewaltig herum. Schade
nur, dass alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert
sind, den er erregt.

Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewusst;
und zum Gluecke fuer den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender.
"Itzt", sagt er, "kennen wir die Koenigin Elisabeth und den Grafen Essex
besser; itzt wuerden einem Dichter dergleichen grobe Verstossungen wider
die historische Wahrheit schaerfer aufgemutzet werden".

Und welches sind denn diese Verstossungen? Voltaire hat ausgerechnet, dass
die Koenigin damals, als sie dem Grafen den Prozess machen liess,
achtundsechzig Jahr alt war. "Es waere also laecherlich", sagt er, "wenn
man sich einbilden wollte, dass die Liebe den geringsten Anteil an dieser
Begebenheit koenne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Laecherliches
in der Welt? Sich etwas Laecherliches als geschehen denken, ist das so
laecherlich? "Nachdem das Urteil ueber den Essex abgegeben war", sagt Hume,
"fand sich die Koenigin in der aeussersten Unruhe und in der grausamsten
Ungewissheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuer ihre
eigene Sicherheit und Bekuemmernis um das Leben ihres Lieblings stritten
unaufhoerlich in ihr: und vielleicht, dass sie in diesem quaelenden Zustande
mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte
den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal ueber das andere; itzt war sie
fast entschlossen, ihn dem Tode zu ueberliefern; den Augenblick darauf
erwachte ihre Zaertlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des
Grafen liessen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, dass er
selbst den Tod wuensche, dass er selbst erklaeret habe, wie sie doch anders
keine Ruhe vor ihm haben wuerde. Wahrscheinlicherweise tat diese Aeusserung
von Reue und Achtung fuer die Sicherheit der Koenigin, die der Graf sonach
lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als
sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer
alten Leidenschaft, die sie so lange fuer den ungluecklichen Gefangnen
genaehret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaertete,
war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten.
Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus
Verdruss, dass er nicht erfolgen wollte, liess sie dem Rechte endlich seinen
Lauf."

Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem achtundsechzigsten Jahre
geliebt haben, sie, die sich so gern lieben liess? Sie, der es so sehr
schmeichelte, wenn man ihre Schoenheit ruehmte? Sie, die es so wohl
aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muss in diesem
Stuecke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Hoeflinge stellten
sich daher alle in sie verliebt und bedienten sich gegen Ihro Majestaet,
mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der laecherlichsten Galanterie.
Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen
Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die
Koenigin eine Venus, eine Diane, und ich weiss nicht was, war. Gleichwohl
war diese Goettin damals schon sechzig Jahr alt. Fuenf Jahr darauf fuehrte
Heinrich Union, ihr Abgesandter in Frankreich, die naemliche Sprache mit
ihr. Kurz, Corneille ist hinlaenglich berechtiget gewesen, ihr alle die
verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zaertliche Weib mit der
stolzen Koenigin in einen so interessanten Streit bringet.

Ebensowenig hat er den Charakter des Essex verstellet oder verfaelschet.
"Essex", sagt Voltaire, "war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille
macht: er hat nie etwas Merkwuerdiges getan." Aber wenn er es nicht war,
so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die
Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar kein Teil laesst,
hielt er so sehr fuer sein Werk, dass er es durchaus nicht leiden wollte,
wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmasste. Er erbot sich, es mit
dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Nottingham, unter dem er
kommandiert hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten
zu beweisen, dass sie ihm allein zugehoere.

Corneille laesst den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom
Cecil, vom Cobhan, sehr veraechtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht
gutheissen. "Es ist nicht erlaubt", sagt er, "eine so neue Geschichte so
groeblich zu verfaelschen, und Maenner von so vornehmer Geburt, von so
grossen Verdiensten, so unwuerdig zu misshandeln. "Aber hier koemmt es ja gar
nicht darauf an, was diese Maenner waren, sondern wofuer sie Essex hielt;
und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und
gar keine einzuraeumen.

Wenn Corneille den Essex sagen laesst, dass es nur an seinem Willen
gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so laesst er ihn freilich etwas
sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire haette
darum doch nicht ausrufen muessen. "Wie? Essex auf dem Throne? mit was fuer
Recht? unter was fuer Vorwande? wie waere das moeglich gewesen?" Denn
Voltaire haette sich erinnern sollen, dass Essex von muetterlicher Seite aus
dem koeniglichen Hause abstammte, und dass es wirklich Anhaenger von ihm
gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zaehlen,
die Ansprueche auf die Krone machen koennten. Als er daher mit dem Koenige
Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, liess er es das erste
sein, ihn zu versichern, dass er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken
nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger,
als was ihn Corneille voraussetzen laesst.

Indem also Voltaire durch das ganze Stueck nichts als historische
Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Ueber eine hat
sich Walpole[1] schon lustig gemacht. Wenn naemlich Voltaire die erstern
Lieblinge der Koenigin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert
Dudley und den Grafen von Leicester. Er wusste nicht, dass beide nur eine
Person waren, und dass man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den
Kammerherrn von Voltaire zu zwei verschiedenen Personen machen koennte.
Ebenso unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der
Ohrfeige verfaellt, die die Koenigin dem Essex gab. Es ist falsch, dass er
sie nach seiner ungluecklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie
lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, dass er damals den Zorn
der Koenigin durch die geringste Erniedrigung zu besaenftigen gesucht, dass
er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art muendlich und schriftlich
seine Empfindlichkeit darueber ausliess. Er tat zu seiner Begnadigung auch
nicht wieder den ersten Schritt; die Koenigin musste ihn tun.

Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von
Voltaire an? Ebensowenig als ihn die historische Unwissenheit des
Corneille haette angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur
dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragoedie des Corneille sei ein Roman: wenn er ruehrend ist, wird
er dadurch weniger ruehrend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?

Weswegen waehlt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere
aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche
ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu
zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede
nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden
sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der
gewoehnlichen Praxi der Dichter uebereinstimmender auszudruecken: sind es
die blossen Fakta, die Umstaende der Zeit und des Ortes, oder sind es die
Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum
der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit waehlet? Wenn es die
Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der
Dichter von der historischen Wahrheit abgehen koenne? In allem, was die
Charaktere nicht betrifft, soweit er will. Nur die Charaktere sind ihm
heilig; diese zu verstaerken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist
alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste
wesentliche Veraenderung wuerde die Ursache aufheben, warum sie diese und
nicht andere Namen fuehren; und nichts ist anstoessiger, als wovon wir uns
keine Ursache geben koennen.


----Fussnote

[1] "Le Chateau d'Otrante", Pref. p. XIV.

----Fussnote




Vierundzwanzigstes Stueck
Den 21. Julius 1767

Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von
dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Koenigin dieses Namens
beilegt; wenn wir in ihr die Unentschluessigkeit, die Widersprueche, die
Beaengstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und
zaertliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei
diesen und jenen Umstaenden wirklich verfallen ist, sondern auch nur
verfallen zu koennen vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert
finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun
obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn
vor den Richterstuhl der Geschichte fuehren, um ihn da jedes Datum, jede
beilaeufige Erwaehnung, auch wohl solcher Personen, ueber welche die
Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heisst
ihn und seinen Beruf verkennen, heisst von dem, dem man diese Verkennung
nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren.

Zwar bei dem Herrn von Voltaire koennte es leicht weder Verkennung noch
Schikane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und
ohnstreitig ein weit groesserer, als der juengere Corneille. Es waere denn,
dass man ein Meister in einer Kunst sein und doch falsche Begriffe von der
Kunst haben koennte. Und was die Schikane anbelangt, die ist, wie die
ganze Welt weiss, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften
hier und da aehnlich sieht, ist nichts als Laune; aus blosser Laune spielt
er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den
Philosophen und in der Philosophie den witzigen Kopf.

Sollte er umsonst wissen, dass Elisabeth achtundsechzig Jahr alt war, als
sie den Grafen koepfen liess? Im achtundsechzigsten Jahre noch verliebt,
noch eifersuechtig! Die grosse Nase der Elisabeth dazu genommen, was fuer
lustige Einfaelle muss das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfaelle
in dem Kommentare ueber eine Tragoedie; also da, wo sie nicht hingehoeren.
Der Dichter haette recht zu seinem Kommentator zu sagen: "Mein Herr
Notenmacher, diese Schwaenke gehoeren in Eure allgemeine Geschichte, nicht
unter meinen Text. Denn es ist falsch, dass meine Elisabeth achtundsechzig
Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stuecke,
das Euch hinderte, sie nicht ungefaehr mit dem Essex von gleichem Alter
anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie?
Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr
den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt
Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, dass die Erinnerung
bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen
hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine
wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja
meine Elisabeth; und seine eigene Augen ueberzeugen ihn, dass es nicht Eure
achtundsechzigjaehrige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras
mehr glauben, als seinen eignen Augen?"--

So ungefaehr koennte sich auch der Dichter ueber die Rolle des Essex erklaeren.
"Euer Essex im Rapin de Thoyras", koennte er sagen, "ist nur der Embryo
von dem meinigen. Was sich jener zu sein duenkte, ist meiner wirklich. Was
jener, unter gluecklichem Umstaenden, fuer die Koenigin vielleicht getan
haette, hat meiner getan. Ihr hoert ja, dass es ihm die Koenigin selbst
zugesteht; wollt Ihr meiner Koenigin nicht ebensoviel glauben, als dem
Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und grosser, aber stolzer
und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so gross, noch so
unbiegsam: desto schlimmer fuer ihn. Genug fuer mich, dass er doch immer
noch gross und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe
seinen Namen zu lassen."

Kurz: die Tragoedie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist
fuer die Tragoedie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir
gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der
Geschichte mehrere Umstaende zur Ausschmueckung und Individualisierung
seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur dass man ihm hieraus
ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache!

Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr
bereit, das uebrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben.
"Essex" ist ein mittelmaessiges Stueck, sowohl in Ansehung der Intrige als
des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu
machen; ihn mehr aus Verzweiflung, dass er der ihrige nicht sein kann, als
aus edelmuetigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten
herabzulassen, auf das Schafott zu fuehren: das war der ungluecklichste
Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl
haben musste. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Uebersetzung
ist er oft kriechend geworden. Aber ueberhaupt ist das Stueck nicht ohne
Interesse und hat hier und da glueckliche Verse, die aber im Franzoesischen
gluecklicher sind als im Deutschen. "Die Schauspieler", setzt der Herr von
Voltaire hinzu, "besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des
Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie und
mit einem grossen blauen Bande ueber die Schulter darin erscheinen koennen.
Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das
macht Eindruck. Uebrigens ist die Zahl der guten Tragoedien bei allen
Nationen in der Welt so klein, dass die, welche nicht ganz schlecht sind,
noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur
aufgestutzet werden."

Er bestaetiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne
Anmerkungen, die ebenso richtig als scharfsinnig sind und deren man sich
vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnuegen erinnern
duerfte. Ich teile die vorzueglichsten also hier mit; in der festen
Ueberzeugung, dass die Kritik dem Genusse nicht schadet und dass diejenigen,
welche ein Stueck am schaerfesten zu beurteilen gelernt haben, immer
diejenigen sind, welche das Theater am fleissigsten besuchen.

"Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige
Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muss man die Farben
in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat.

Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernuenftige, tugendhafte
Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der
Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser
Charakter wuerde sehr schoen sein, wenn er mehr Leben haette, und wenn er
zur Verwickelung etwas beitruege; aber hier vertritt sie bloss die Stelle
eines Freundes. Das ist fuer das Theater nicht hinlaenglich.

Mich duenket, dass alles, was die Personen in dieser Tragoedie sagen und
tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmt ist. Die
Handlung muss deutlich, der Knoten verstaendlich und jede Gesinnung plan
und natuerlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was
will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen?
Ist er schuldig, oder ist er faelschlich angeklagt? Wenn ihn die Koenigin
fuer unschuldig haelt, so muss sie sich seiner annehmen. Ist er aber
schuldig: so ist es sehr unvernuenftig, die Vertraute sagen zu lassen,
dass er nimmermehr um Gnade bitten werde, dass er viel zu stolz dazu sei.
Dieser Stolz schickt sich sehr wohl fuer einen tugendhaften unschuldigen
Helden, aber fuer keinen Mann, der des Hochverrats ueberwiesen ist. Er
soll sich unterwerfen: sagt die Koenigin. Ist das wohl die eigentliche
Gesinnung, die sie haben muss, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun
unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth
darum von ihm mehr geliebt als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als
mich selbst: sagt die Koenigin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen
gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen
Sie doch die Beschuldigungen Ihres Gebliebten selbst und verstatten
nicht, dass ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und
unterdruecken, wie es durch das ganze Stueck, obwohl ganz ohne
Grund, heisst.

Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug
werden, ob er ihn fuer schuldig oder fuer unschuldig haelt. Er stellt der
Koenigin vor, dass der Anschein oefters betriege, dass man alles von der
Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe.
Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Koenigin. Was hatte er
dieses noetig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was
soll der Zuschauer glauben? Der weiss ebensowenig, woran er mit der
Verschwoerung des Grafen, als woran er mit der Zaertlichkeit der Koenigin
gegen ihn ist.

Salisbury sagt der Koenigin, dass man die Unterschrift des Grafen
nachgemacht habe. Aber die Koenigin laesst sich im geringsten nicht
einfallen, einen so wichtigen Umstand naeher zu untersuchen. Gleichwohl
war sie als Koenigin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht
einmal auf diese Eroeffnung, die sie doch begierig haette ergreifen muessen.
Sie erwidert bloss mit andern Worten, dass der Graf allzu stolz sei, und
dass sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten."

Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht
war?"




Fuenfundzwanzigstes Stueck
Den 24. Julius 1767

"Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben,
als die Koenigin davon ueberzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er
kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht.
Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemaess? Soll er aus Liebe
zur Irton so widersinnig handeln: so haette ihn der Dichter durch das
ganze Stueck von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen muessen. Die
Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser
Heftigkeit sehen wir ihn nicht.

Der Stolz der Koenigin streitet unaufhoerlich mit dem Stolze des Essex; ein
solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie
handeln laesst, so ist er bei der Elisabeth sowohl als bei dem Grafen,
blosser Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um
Gnade bitten; das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muss vergessen, dass
Elisabeth entweder sehr abgeschmackt oder sehr ungerecht ist, wenn sie
verlangt, dass der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches
er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muss es vergessen,
und er vergisst es wirklich, um sich bloss mit den Gesinnungen des Stolzes
zu beschaeftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist.

Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie
sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher
dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die fuer sich
selbst ruehrend ist.--Ein grosser Mann, den man auf das Schafott fuehret,
wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch
ohne alle Hilfe der Poesie, Eindruck; ungefaehr eben den Eindruck, den die
Wirklichkeit selbst machen wuerde."

So viel liegt fuer den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch
diese allein koennen die schwaechsten, verwirrtesten Stuecke eine Art von
Glueck machen; und ich weiss nicht, wie es koemmt, dass es immer solche
Stuecke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen.
Selten wird ein Meisterstueck so meisterhaft vorgestellt, als es
geschrieben ist; das Mittelmaessige faehrt mit ihnen immer besser.
Vielleicht, weil sie in dem Mittelmaessigen mehr von dem ihrigen hinzutun
koennen; vielleicht, weil uns das Mittelmaessige mehr Zeit und Ruhe laesst,
auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmaessigen
alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt
dass in einem vollkommenem Stuecke oefters eine jede Person ein Hauptakteur
sein muesste, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt,
zugleich auch die uebrigen verderben hilft.

Beim "Essex" koennen alle diese und mehrere Ursachen zusammenkommen. Weder
der Graf noch die Koenigin sind von dem Dichter mit der Staerke geschildert,
dass sie durch die Aktion nicht noch weit staerker werden koennten. Essex
spricht so stolz nicht, dass ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung,
in jeder Gebaerde, in jeder Miene noch stolzer zeigen koennte. Es ist sogar
dem Stolze wesentlich, dass er sich weniger durch Worte, als durch das
uebrige Betragen aeussert. Seine Worte sind oefters bescheiden, und es laesst
sich nur sehen, nicht hoeren, dass es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese
Rolle muss also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen
Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht voellig so; aber doch kann sie
auch schwerlich ganz verungluecken. Elisabeth ist so zaertlich als stolz;
ich glaube ganz gern, dass ein weibliches Herz beides zugleich sein kann;
aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen koenne, das begreife
ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht
viel Zaertlichkeit, und einer zaertlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen
es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen
den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich
gelaeufig sind; hat sie aber nur die einen vorzueglich in ihrer Gewalt,
so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrueckt, zwar
empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, dass sie dieselbe so
lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen
als die Natur? Ist sie von einem majestaetischen Wuchse, toent ihre Stimme
voller und maennlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell
und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen;
aber wie steht es mit den zaertlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger
imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein
bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang als Nachdruck; ist in
ihrer Bewegung mehr Anstand und Wuerde, als Kraft und Geist: so wird sie
den zaertlichen Stellen die voelligste Genuege leisten; aber auch den
stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiss nicht; sie wird sie
noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zuernende Liebhaberin in
ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren
General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich
meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich
taeuschend zu zeigen vermoegend waeren, duerften noch seltner sein, als die
Elisabeths selber; und wir koennen und muessen uns begnuegen, wenn eine
Haelfte nur recht gut gespielt und die andere nicht ganz verwahrloset wird.

Madame Loewen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene
allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zaertliche
Frau, als die stolze Monarchin sehen und hoeren lassen. Ihre Bildung, ihre
Stimme, ihre bescheidene Aktion liessen es nicht anders erwarten; und mich
duenkt, unser Vergnuegen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig
eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als dass nicht
die Koenigin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte:
so, glaube ich, ist es zutraeglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und
der Koenigin, als von der Liebhaberin und der Zaertlichkeit verloren geht.

Es ist nicht bloss eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch
weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu
machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein wuerde, wenn ihr
diese Rolle auch gar nicht gelungen waere. Ich weiss einem Kuenstler, er sei
von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu
machen; und diese besteht darin, dass ich annehme, er sei von aller eiteln
Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm ueber alles, er hoere gern
frei und laut ueber sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und
wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht
versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht
wert, dass wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal,
dass wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch
so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, dass wir auch Augen und
Gefuehl fuer seine Schwaeche haben. Er spottet bei sich ueber jede
uneingeschraenkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von
dem er weiss, dass er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich wollte sagen, dass sich Gruende anfuehren lassen, warum es besser ist,
wenn die Aktrice mehr die zaertliche als die stolze Elisabeth ausdrueckt.
Stolz muss sie sein, das ist ausgemacht: und dass sie es ist, das hoeren
wir. Die Frage ist nur, ob sie zaertlicher als stolz, oder stolzer als
zaertlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu waehlen
haette, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte
Koenigin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der raecherischen
Majestaet, auszudruecken vermoechte, oder die, welche die eifersuechtige
Liebhaberin, mit allen kraenkenden Empfindungen der verschmaehten Liebe,
mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller
Beaengstigung ueber seine Hartnaeckigkeit, mit allem Jammer ueber seinen
Verlust, angemessener waere? Und ich sage: diese.

Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des naemlichen Charakters
vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so
muss sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die
Zaertlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muss
bei der Koenigin die Zaertlichkeit den Stolz ueberwiegen. Wenn der Graf sich
eine hoehere Miene gibt, als ihm zukommt, so muss die Koenigin etwas weniger
zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer
in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist,
herabblicken lassen, wuerde die ekelste Einfoermigkeit sein. Man muss nicht
glauben koennen, dass Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle waere, ebenso
wie Essex handeln wuerde. Der Ausgang weiset es, dass sie nachgebender ist
als er; sie muss also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren
als er. Wer sich durch aeussere Macht emporzuhalten vermag, braucht weniger
Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muss. Wir wissen
darum doch, dass Elisabeth die Koenigin ist, wenn sie gleich Essex das
koeniglichere Ansehen gibt.

Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, dass die Personen in
ihren Gesinnungen steigen, als dass sie fallen. Es ist schicklicher, dass
ein zaertlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als dass ein stolzer
von der Zaertlichkeit sich fortreissen laesst. Jener scheint sich zu erheben;
dieser zu sinken. Eine ernsthafte Koenigin, mit gerunzelter Stirne, mit
einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der
Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen koennte, wenn die zu
verliebten Klagen gebracht wird und nach den kleinen Beduerfnissen ihrer
Leidenschaft seufzet, ist fast, fast laecherlich. Eine Geliebte hingegen,
die ihre Eifersucht erinnert, dass sie Koenigin ist, erhebt sich ueber sich
selbst, und ihre Schwachheit wird fuerchterlich.




Sechsundzwanzigstes Stueck
Den 28. Julius 1767

Den einunddreissigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel
der Madame Gottsched, "Die Hausfranzoesin, oder die Mamsell" aufgefuehret.

Dieses Stueck ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter
Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fuenften Bande der "Schaubuehne"
beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da
mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es
noch erhalten wuerde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen.
"Das Testament", von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber
"Die Hausfranzoesin" ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts:
denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch
obendarein schmutzig, ekel, und im hoechsten Grade beleidigend. Es ist mir
unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben koennen. Ich will
hoffen, dass man mir den Beweis von diesem allen schenken wird.--

Den zweiunddreissigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die
"Semiramis" des Herrn von Voltaire wiederholt.

Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermassen die Stelle der
alten Choere vertritt, so haben Kenner schon laengst gewuenscht, dass die
Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stuecke gespielt wird, mit dem
Inhalte desselben mehr uebereinstimmen moechte. Herr Scheibe ist unter den
Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld fuer die Kunst
bemerkte. Da er einsahe, dass, wenn die Ruehrung des Zuschauers nicht auf
eine unangenehme Art geschwaecht und unterbrochen werden sollte, ein jedes
Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er
nicht allein bereits 1738 mit dem "Polyeukt" und "Mithridat" den Versuch,
besondere diesen Stuecken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche
bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und
anderwaerts aufgefuehret wurden; sondern liess sich auch in einem besondern
Blatte seines "Kritischen Musikus"[1] umstaendlich darueber aus, was
ueberhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung
mit Ruhm arbeiten wolle.

"Alle Symphonien," sagt er, "die zu einem Schauspiele verfertiget werden,
sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es
gehoeren also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu
den Lustspielen. So verschieden die Tragoedien und Komoedien unter sich
selbst sind, so verschieden muss auch die dazugehoerige Musik sein.
Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der
Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen
eine jede Abteilung gehoert, zu sehen. Daher muss die Anfangssymphonie sich
auf den ersten Aufzug des Stueckes beziehen; die Symphonien aber, die
zwischen den Aufzuegen vorkommen, muessen teils mit dem Schlusse des
vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden
Aufzuges uebereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des
letzten Aufzuges gemaess sein muss."

"Alle Symphonien zu Trauerspielen muessen praechtig, feurig und geistreich
gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen
und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten.
Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragoedien, da bald
diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen
ist. Man halte einmal den 'Polyeukt' gegen den 'Brutus', oder auch die
'Alzire' gegen den 'Mithridat': so wird man gleich sehen, dass sich
keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die
Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufaellen
begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermassen das
Praechtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Grossmut,
die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Ungluecksfaellen im
Trauerspiele herrschen: so muss auch die Musik weit feuriger und lebhafter
sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele 'Cato', 'Brutus',
'Mithridat'. 'Alzire' aber und 'Zaire' erfordern hingegen schon eine etwas
veraenderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen
Stuecken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veraenderung der
Affekten zeigen."

"Ebenso muessen die Komoediensymphonien ueberhaupt frei, fliessend und
zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem
eigentuemlichen Inhalte einer jeden Komoedie richten. So wie die Komoedie
bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muss auch die
Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komoedien 'Der Falke' und 'Die
beiderseitige Unbestaendigkeit' wuerden ganz andere Symphonien erfordern
als 'Der verlorne Sohn'. So wuerden sich auch nicht die Symphonien, die
sich zum 'Geizigen' oder zum 'Kranken in der Einbildung' sehr wohl
schicken moechten, zum 'Unentschluessigen' oder zum 'Zerstreuten' schicken.
Jene muessen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber
verdriesslicher und ernsthafter."

"Die Anfangssymphonie muss sich auf das ganze Stueck beziehen; zugleich
aber muss sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem
ersten Auftritte uebereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Saetzen
bestehen, so wie es der Komponist fuer gut findet.--Die Symphonien
zwischen den Aufzuegen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des
vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten
sollen, werden am natuerlichsten zwei Saetze haben koennen. Im ersten kann
man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende
sehen. Doch ist solches nur allein noetig, wenn die Affekten einander
allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen,
wenn er nur die gehoerige Laenge erhaelt, damit die Beduerfnisse der
Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden
koennen.--Die Schlusssymphonie endlich muss mit dem Schlusse des Schauspiels
auf das genaueste uebereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto
nachdruecklicher zu machen. Was ist laecherlicher, als wenn der Held auf
eine unglueckliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine
lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als
wenn sich die Komoedie auf eine froehliche Art endiget, und es folgt eine
traurige und bewegliche Symphonie darauf?"--

"Da uebrigens die Musik zu den Schauspielen bloss allein aus Instrumenten
bestehet, so ist eine Veraenderung derselben sehr noetig, damit die Zuhoerer
desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht
verlieren moechten, wenn sie immer einerlei Instrumente hoeren sollten. Es
ist aber beinahe eine Notwendigkeit, dass die Anfangssymphonie sehr stark
und vollstaendig ist, und also desto nachdruecklicher ins Gehoer falle. Die
Veraenderung der Instrumenten muss also vornehmlich in den Zwischensymphonien
erscheinen. Man muss aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten
zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdruecken
kann, was man ausdruecken soll. Es muss also auch hier eine vernuenftige
Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher
erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei
aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veraenderung der
Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man
diesen Uebelstand vermeidet."

Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie
in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den
Worten eines Tonkuenstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich
die Ehre der Erfindung anmassen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und
Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, dass sie
weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten
imstande sei. Die mehresten muessen es von ihren Kunstverwandten erst
hoeren, dass die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste
Aufmerksamkeit darauf wenden.

Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was
geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der
Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankoemmt, ist noch einzig das Werk
des Genies. Denn ob es schon Tonkuenstler gibt und gegeben, die bis zur
Bewunderung darin gluecklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an
einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsaetze
aus ihren Beispielen hergeleitet haette. Aber je haeufiger diese Beispiele
werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto
eher koennen wir sie uns versprechen; und ich muesste mich sehr irren, wenn
nicht ein grosser Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkuenstler in
dergleichen dramatischen Symphonien geschehen koennte. In der Vokalmusik
hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwaechste und
schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstaerkt: in der
Instrumentalmusik hingegen faellt diese Hilfe weg, und sie sagt gar
nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der
Kuenstler wird also hier seine aeusserste Staerke anwenden muessen; er wird
unter den verschiedenen Folgen von Toenen, die eine Empfindung ausdruecken
koennen, nur immer diejenigen waehlen, die sie am deutlichsten ausdruecken;
wir werden diese oefterer hoeren, wir werden sie miteinander oefterer
vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie bestaendig gemein
haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.

Welchen Zuwachs unser Vergnuegen im Theater dadurch erhalten wuerde,
begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers
Theaters hat man sich daher nicht nur ueberhaupt bemueht, das Orchester in
einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch wuerdige Maenner
bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser
Art von Komposition zu machen, die ueber alle Erwartung ausgefallen sind.
Schon zu Cronegks "Olint und Sophronia" hatte Herr Hertel eigne
Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Auffuehrung der "Semiramis"
wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgefuehrt.


----Fussnote

[1] Stueck 67.

----Fussnote




Siebenundzwanzigstes Stueck
Den 31. Julius 1767

Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu
machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen;--denn je lebhafter und feiner
ein sinnliches Vergnuegen ist, desto weniger laesst es sich mit Worten
beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprueche, in
unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und
diese sind ebenso ununterrichtend fuer den Liebhaber, als ekelhaft fuer den
Virtuosen, den man zu ehren vermeinet;--sondern bloss nach den Absichten,
die ihr Meister damit gehabt, und nach den Mitteln ueberhaupt, deren er
sich, zur Erreichung derselben, bedienen wollen.

Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Saetzen. Der erste Satz ist ein
Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Floeten; der Grundbass ist durch
Fagotte verstaerkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und
stuermisch; der Zuhoerer soll vermuten, dass er ein Schauspiel ungefaehr
dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein;
Zaertlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung nehmen ihr Teil daran;
und der zweite Satz, ein Andante mit gedaempften Violinen und
konzertierenden Fagotten, beschaeftigst sich also mit dunkeln und
mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen
Tonwendungen mit stolzen; denn die Buehne eroeffnet sich mit mehr als
gewoehnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit;
wie diese Herrlichkeit das Auge spueren muss, soll sie auch das Ohr
vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in
dem ersten, ausser dass die Hoboen, Floeten und Fagotte miteinander einige
besondere kleinere Saetze haben.

Die Musik zwischen den Akten hat durchgaengig nur einen einzigen Satz;
dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der
sich auf das Folgende bezoege, scheinet Herr Agricola also nicht zu
billigen. Ich wuerde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik
soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das
Unerwartete, das Ueberraschende mehr als ein anderer; er laesst seinen Gang
nicht gern voraus verraten; und die Musik wuerde ihn verraten, wenn sie
die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es
ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muss auch
sie nur den allgemeinen Ton des Stuecks angeben, und nicht staerker, nicht
bestimmter, als ihn ungefaehr der Titel angibt. Man darf dem Zuhoerer wohl
das Ziel zeigen, wohin man ihn fuehren will, aber die verschiedenen Wege,
auf welchen er dahin gelangen soll, muessen ihm gaenzlich verborgen
bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten ist aus
dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern,
der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestaerkt. Denn gesetzt, dass
die Leidenschaften, welche in zwei aufeinanderfolgenden Akten herrschen,
einander ganz entgegen waeren, so wuerden notwendig auch die beiden Saetze
von ebenso widriger Beschaffenheit sein muessen. Nun begreife ich sehr
wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr
entgegenstehenden, zu ihrem voelligen Widerspiele, ohne unangenehme
Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach;
er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder
hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch
der Musikus? Es sei, dass er es in einem Stuecke, von der erforderlichen
Laenge, ebensowohl tun koenne; aber in zwei besondern, voneinander gaenzlich
abgesetzten Stuecken muss der Sprung, z.E. aus dem Ruhigen in das
Stuermische, aus dem Zaertlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich
sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploetzliche
Uebergang aus einem Aeussersten in das andere, aus der Finsternis in das
Licht, aus der Kaelte in die Hitze zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir
in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider
eben den, fuer den unsere Seele ganz mitleidiges Gefuehl war? oder wider
einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie laesst uns in
Ungewissheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge
unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle
diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend als ergoetzend. Die
Poesie hingegen laesst uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren;
hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch,
warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die
ploetzlichsten Uebergaenge nicht allein ertraeglich, sondern auch angenehm.
In der Tat ist diese Motivierung der ploetzlichen Uebergaenge einer der
groessten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie
ziehet; ja vielleicht der allergroesste. Denn es ist bei weitem nicht so
notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der
Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude
einzuschraenken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer
sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende
Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewaehren koennen, zu
verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben,
welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Uebereinstimmung des
Mannigfaltigen bemerke. Nun aber wuerde, bei dem doppelten Satze zwischen
den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hintennach kommen; wir
wuerden es erst hintennach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in
eine ganz entgegengesetzte ueberspringen muessen: und das ist fuer die Musik
so gut, als erfuehren wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine ueble
Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir
nun einsehen, dass er uns nicht haette beleidigen sollen. Man glaube aber
nicht, dass sonach alle Symphonien verwerflich sein muessten, weil alle aus
mehrern Saetzen bestehen, die voneinander unterschieden sind, und deren
jeder etwas anders ausdrueckt als der andere. Sie druecken etwas anders
aus, aber nicht etwas Verschiednes; oder vielmehr, sie druecken das
naemliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren
verschiednen Saetzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften
ausdrueckt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muss nur
eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muss ebendieselbe
Leidenschaft, bloss mit verschiednen Abaenderungen, es sei nun nach den
Graden ihrer Staerke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei
Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertoenen lassen und in
uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser
Beschaffenheit; das Ungestueme des ersten Satzes zerfliesst in das Klagende
des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen
Wuerde erhebet. Ein Tonkuenstler, der sich in seinen Symphonien mehr
erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden
einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren
laesst, um sich in einen dritten ebenso verschiednen zu werfen; kann viel
Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann ueberraschen, kann betaeuben,
kann kitzeln, nur ruehren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen
und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muss ebensowohl
Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu
belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und
jeder Teile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines
dauerhaften Eindruckes faehig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem
festen Marmor, an dem sich die Hand des Kuenstlers verewigen kann.

Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der
"Semiramis" zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat;
Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante
mesto, bloss mit gedaempften Violinen und Bratsche.

In dem zweiten Akt spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als dass er nicht
den Ausdruck der darauffolgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro
assai aus dem G-dur mit Waldhoernern, durch Floeten und Hoboen, auch den
Grundbass mitspielende Fagotte verstaerkt, drueckt den durch Zweifel und
Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz
dieses treulosen und herrschsuechtigen Ministers aus.

In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der
ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese
Erscheinung auf die Anwesenden machen laesst. Aber der Tonkuenstler hat
sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter
unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E-moll, mit der naemlichen
Instrumentenbesetzung des Vorhergehenden, nur dass E-Hoerner mit G-Hoernern
verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und traeges Erstaunen,
sondern die wahre wilde Bestuerzung, welche eine dergleichen Erscheinung
unter dem Volke verursachen muss.

Die Beaengstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid;
wir bedauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen.
Bedauern und Mitleid laesst also auch die Musik ertoenen; in einem Larghetto
aus dem A-moll, mit gedaempften Violinen und Bratsche und einer
konzertierenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fuenften Akt nur ein einziger Satz, ein
Adagio, aus dem E-dur, naechst den Violinen und der Bratsche, mit Hoernern,
mit verstaerkenden Hoboen und Floeten und mit Fagotten, die mit dem
Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels
angemessene und ins Erhabene gezogene Betruebnis, mit einiger Ruecksicht,
wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit
ihre warnende Stimme gegen die Grossen der Erde ebenso wuerdig als
maechtig erhebt.

Die Absichten eines Tonkuenstlers merken, heisst ihm zugestehen, dass er sie
erreicht hat. Sein Werk soll kein Raetsel sein, dessen Deutung ebenso
muehsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm
vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob waechst mit
seiner Verstaendlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto
verdienter jenes.--Es ist kein Ruhm fuer mich, dass ich recht gehoert habe;
aber fuer den Hrn. Agricola ist es ein so viel groesserer, dass in dieser
seiner Komposition niemand etwas anders gehoert hat als ich.




Achtundzwanzigstes Stueck
Den 4. August 1767

Den dreiunddreissigsten Abend (freitags, den 12. Junius) ward die "Nanine"
wiederholt, und den Beschluss machte "Der Bauer mit der Erbschaft", aus
dem Franzoesischen des Marivaux.

Dieses kleine Stueck ist hier Ware fuer den Platz und macht daher allezeit
viel Vergnuegen. Juerge koemmt aus der Stadt zurueck, wo er einen reichen
Bruder begraben lassen, von dem er hunderttausend Mark geerbt. Glueck
aendert Stand und Sitten; nun will er leben, wie vornehme Leute leben,
erhebt seine Liese zur Madame, findet geschwind fuer seinen Hans und fuer
seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende
Bote koemmt nach. Der Makler, bei dem die hunderttausend Mark gestanden,
hat Bankerott gemacht, Juerge ist wieder nichts wie Juerge, Hans bekommt
den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluss wuerde traurig genug sein,
wenn das Glueck mehr nehmen koennte, als es gegeben hat; gesund und
vergnuegt waren sie, gesund und vergnuegt bleiben sie.

Diese Fabel haette jeder erfinden koennen; aber wenige wuerden sie so
unterhaltend zu machen gewusst haben, als Marivaux. Die drolligste Laune,
der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire lassen uns vor Lachen
kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine
ganz eigene Wuerze. Die Uebersetzung ist von Kruegern, der das franzoesische
Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu uebertragen gewusst
hat. Es ist nur schade, dass verschiedene Stellen hoechst fehlerhaft und
verstuemmelt abgedruckt werden. Einige muessten notwendig in der Vorstellung
berichtiget und ergaenzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene.

"Juerge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev
niks, as Gullen un Dahlers.

Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief
Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken?

Juerge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die.

Lise. Woto denn, Hans Narr?

Juerge. Foer duessen Jungen, de mie mienen Buendel op dee Reise bed in
unse Doerp dragen hed, un ik buen ganss licht und sacht hergahn.

Lise. Buest du to Foote hergahn?

Juerge. Ja. Wielt't veel kummoder is.

Lise. Da hest du een Maark.

Juerge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat.
Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig.

Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak
dragen hed?

Juerge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.

Valentin. Sollen die fuenf Schilling fuer mich, Herr Juerge?

Juerge. Ja, mien Fruend!

Valentin. Fuenf Schilling? ein reicher Erbe! fuenf Schillinge? ein
Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?

Juerge. O! et kumt mie even darop nich an, jy doerft't man seggen.
Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so."

Wie ist das? Juerge ist zu Fusse gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert
fuenf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fuenf
Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen
Schilling hinschmeissen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb
ihm ja noch uebrig. Ohne das Franzoesische wird man sich schwerlich aus dem
Hanfe finden. Juerge war nicht zu Fusse gekommen, sondern mit der Kutsche:
und darauf geht sein "Wielt't veel kummoder is". Aber die Kutsche ging
vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, liess
er sich bis zu seinem Hause das Buendel nachtragen. Dafuer gibt er dem
Jungen die fuenf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das
hat er fuer die Kutsche bezahlen muessen, und er erzaehlt ihr nur, wie
geschwind er mit dem Kutscher darueber fertig geworden.[1]

Den vierunddreissigsten Abend (montags, den 29. Junius) ward "Der
Zerstreute" des Regnard aufgefuehrt.

Ich glaube schwerlich, dass unsere Grossvaeter den deutschen Titel dieses
Stuecks verstanden haetten. Noch Schlegel uebersetzte Distrait durch
"Traeumer". Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der
Analogie des Franzoesischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das
Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen,
nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das
ist genug.

Regnard brachte seinen "Zerstreuten" im Jahre 1679 aufs Theater; und er
fand nicht den geringsten Beifall. Aber vierunddreissig Jahr darauf, als
ihn die Komoedianten wieder versuchten, fand er einen so viel groessern.
Welches Publikum hatte nun recht? Vielleicht hatten sie beide nicht
unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stueck als eine gute foermliche
Komoedie, wofuer es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm
es fuer nichts mehr auf, als es ist; fuer eine Farce, fuer ein Possenspiel,
das zu lachen machen soll; man lachte und war dankbar. Jenes
Publikum dachte:

    --non satis est risu diducere rictum
    Auditoris--

und dieses:

    --et est quaedam tamen hic quoque virtus.

Ausser der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlaessig
ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Muehe gemacht haben. Den
Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyere voellig entworfen.
Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Zuege teils in Handlung zu
bringen, teils erzaehlen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufuegte,
will nicht viel sagen.

Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere
Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralitaet fassen will, desto
mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf fuer die Komoedie sein. Warum
nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglueck; und
kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden,
als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komoedie muesse sich nur mit Fehlern
abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei,
der lasse sich durch Spoettereien ebensowenig bessern als ein Hinkender.

Aber ist es denn wahr, dass die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist,
dem unsere besten Bemuehungen nicht abhelfen koennen? Sollte sie wirklich
mehr natuerliche Verwahrlosung als ueble Angewohnheit sein? Ich kann es
nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir
es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir
wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch
unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht,
was er, seinen itzigen sinnlichen Eindruecken zufolge, denken sollte.
Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betaeubt, nicht ausser Taetigkeit
gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwaerts taetig. Aber so gut
sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natuerlicher
Beruf, bei den sinnlichen Veraenderungen ihres Koerpers gegenwaertig zu sein;
es kostet Muehe, sie dieses Berufs zu entwoehnen, und es sollte unmoeglich
sein, ihr ihn wieder gelaeufig zu machen?

Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben,
dass wir in der Komoedie nur ueber moralische Fehler, nur ueber verbesserliche
Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel
und Realitaet ist laecherlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit
auseinander. Wir koennen ueber einen Menschen lachen, bei Gelegenheit
seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so
bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch
neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komoedie gemacht hat, nur daher
entstanden, weil er ihn nicht gehoerig in Erwaegung gezogen. "Moliere",
sagt er z.E., "macht uns ueber den Misanthropen zu lachen, und doch ist
der Misanthrop der ehrliche Mann des Stuecks; Moliere beweiset sich also
als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften veraechtlich macht."

Nicht doch; der Misanthrop wird nicht veraechtlich, er bleibt, wer er ist,
und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der
Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste.
Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen ueber ihn, aber verachten wir ihn
darum? Wir schaetzen seine uebrige guten Eigenschaften, wie wir sie
schaetzen sollen; ja ohne sie wuerden wir nicht einmal ueber seine
Zerstreuung lachen koennen. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften,
nichtswuerdigen Manne, und sehe, ob sie noch laecherlich sein wird? Widrig,
ekel, haesslich wird sie sein; nicht laecherlich.


----Fussnote

[1]
Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons
que de grosses pieces.

Claudine (le contrefaisant). Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec
tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire?

Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, te dis-je.

Claudine. Pourquoi donc, Nicodeme?

Blaise. Pour ce garcon qui apporte mon paquet depis la voiture
jusqu'a cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et a mon
aise.

Claudine. T'es venu dans la voiture?

Blaise. Oui, parce que cela est plus commode.

Claudine. T'a baille un ecu?

Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un ecu, ce
m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ca.

Claudine. Et tu depenses cinq sols en porteurs de paquets?

Blaise. Oui, par maniere de recreation.

Arlequin. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise?

Blaise. Oui, mon ami. etc.

----Fussnote



Neunundzwanzigstes Stueck
Den 7. August 1767

Die Komoedie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen;
nicht gerade diejenigen Unarten, ueber die sie zu lachen macht, noch
weniger bloss und allein die, an welchen sich diese laecherlichen Unarten
finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der
Uebung unserer Faehigkeit, das Laecherliche zu bemerken; es unter allen
Bemaentelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen
mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln
des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, dass
der "Geizige" des Moliere nie einen Geizigen, der "Spieler" des Regnard
nie einen Spieler gebessert habe; eingeraeumt, dass das Lachen diese Toren
gar nicht bessern koenne: desto schlimmer fuer sie, aber nicht fuer die
Komoedie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen
kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem
Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt,
ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben
andere, mit welchen sie leben muessen; es ist erspriesslich, diejenigen zu
kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; erspriesslich, sich
wider alle Eindruecke des Beispiels zu verwahren. Ein Praeservativ ist auch
eine schaetzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kraeftigers,
wirksamers, als das Laecherliche.--

"Das Raetsel oder Was den Damen am meisten gefaellt", ein Lustspiel in
einem Aufzuge von Herr Loewen, machte diesen Abend den Beschluss.

Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzaehlungen und Maerchen geschrieben
haetten, so wuerde das franzoesische Theater eine Menge Neuigkeiten haben
entbehren muessen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen
Quellen bereichert. Des letztern "Ce qui plait aux dames" gab den Stoff
zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzuegen, welches
unter dem Titel "La fee Urgele", von den italienischen Komoedianten zu
Paris, im Dezember 1765 aufgefuehret ward. Herr Loewen scheinet nicht
sowohl dieses Stueck, als die Erzaehlung des Voltaire selbst vor Augen
gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsaeule mit auf den
Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die
primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, dass dieses oder
jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so
ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Loewen wegen der
Einrichtung seines Stuecks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem
Hexenmaerchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Loewen selbst gibt
sein Raetsel fuer nichts anders, als fuer eine kleine Plaisanterie, die auf
dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und
Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es waere blosser
Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar
nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duenkt mich, dass ein
Waffentraeger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der
irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen
will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gruendet und ritterliche
Abenteuer als ruehmliche Handlungen eines vernuenftigen und tapfern Mannes
annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien
muss man nicht zergliedern wollen.

Den fuenfunddreissigsten Abend (mittewochs, den 1. Julius) ward, in
Gegenwart Sr. Koenigl. Majestaet von Daenemark, die "Rodogune" des Peter
Corneille aufgefuehrt.

Corneille bekannte, dass er sich auf dieses Trauerspiel das meiste
einbilde, dass er es weit ueber seinen "Cinna" und "Cid" setze, dass seine
uebrige Stuecke wenig Vorzuege haetten, die in diesem nicht vereint
anzutreffen waeren; ein gluecklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke
Verse, ein gruendliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt
zu Akt immer wachsendes Interesse.--

Es ist billig, dass wir uns bei dem Meisterstuecke dieses grossen Mannes
verweilen.

Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzaehlt Appianus Alexandrinus
gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. "Demetrius, mit
dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther und lebte
als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Koeniges Phraates, mit
dessen Schwester Rodogune er sich vermaehlte. Inzwischen bemaechtigte sich
Diodotus, der den vorigen Koenigen gedienet hatte, des syrischen Thrones
und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen
Namen er als Vormund anfangs die Regierung fuehrte. Bald aber schaffte er
den jungen Koenig aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf und gab
sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Koenigs,
das Schicksal desselben und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs zu
Rhodus, wo er sich aufhielt, hoerte, kam er nach Syrien zurueck, ueberwand
mit vieler Muehe den Tryphon und liess ihn hinrichten. Hierauf wandte er
seine Waffen gegen den Phraates und foderte die Befreiung seines Bruders.
Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch
wirklich los; aber nichtsdestoweniger kam es zwischen ihm und Antiochus
zum Treffen, in welchem dieser den kuerzern zog und sich aus Verzweiflung
selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret
war, ward von seiner Gemahlin Kleopatra aus Hass gegen die Rodogune
umgebracht; obschon Kleopatra selbst, aus Verdruss ueber diese Heirat, sich
mit dem naemlichen Antiochus, seinem Bruder, vermaehlet hatte. Sie hatte
von dem Demetrius zwei Soehne, wovon sie den aeltesten, mit Namen Seleukus,
der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhaendig mit einem
Pfeile erschoss; es sei nun, weil sie besorgte, er moechte den Tod seines
Vaters an ihr raechen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemuetsart dazu
veranlasste. Der juengste Sohn hiess Antiochus; er folgte seinem Bruder in
der Regierung und zwang seine abscheuliche Mutter, dass sie den
Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken musste."

In dieser Erzaehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es wuerde
Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen
"Tryphon", einen "Antiochus", einen "Demetrius", einen "Seleukus" daraus
zu machen, als es ihm, eine "Rodogune" daraus zu erschaffen, kostete. Was
ihn aber vorzueglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die
usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug raechen zu
koennen glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, dass
sonach sein Stueck nicht "Rodogune", sondern "Kleopatra" heissen sollte.
Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, dass die Zuhoerer diese
Koenigin von Syrien mit jener beruehmten letzten Koenigin von Aegypten
gleichen Namens verwechseln duerften, wollte er lieber von der zweiten,
als von der ersten Person den Titel hernehmen. "Ich glaubte mich", sagt
er, "dieser Freiheit um so eher bedienen zu koennen, da ich angemerkt
hatte, dass die Alten selbst es nicht fuer notwendig gehalten, ein Stueck
eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl
nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger teil
hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z.E. Sophokles
eines seiner Trauerspiele 'Die Trachinerinnen' genannt, welches man
itziger Zeit schwerlich anders, als den 'sterbenden Herkules' nennen
wuerde." Diese Bemerkung ist an und fuer sich sehr richtig; die Alten
hielten den Titel fuer ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht,
dass er den Inhalt angeben muesse; genug, wenn dadurch ein Stueck von dem
andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand
hinlaenglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, dass Sophokles das
Stueck, welches er "Die Trachinerinnen" ueberschrieb, wuerde haben
"Dejanira" nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden
Titel zu geben, aber ihm einen verfuehrerischen Titel zu geben, einen
Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen
moechte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des
Corneille ging hiernaechst zu weit; wer die aegyptische Kleopatra kennet,
weiss auch, dass Syrien nicht Aegypten ist, weiss, dass mehr Koenige und
Koeniginnen einerlei Namen gefuehrt haben: wer aber jene nicht kennt, kann
sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens haette Corneille in dem
Stueck selbst den Namen Kleopatra nicht so sorgfaeltig vermeiden sollen;
die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der
deutsche Uebersetzer tat daher sehr wohl, dass er sich ueber diese kleine
Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muss
seine Leser oder Zuhoerer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl
manchmal denken: was sie nicht wissen, das moegen sie fragen!




Dreissigstes Stueck
Den 11. August 1767

Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschiesst den einen
von ihren Soehnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel
folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde
nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens laesst es sich mit
Wahrscheinlichkeit  annehmen, dass die einzige Eifersucht ein wuetendes
Eheweib zu einer ebenso wuetenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin
an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und
die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes
Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht
allein besitzen konnte. Demetrius muss nicht leben, weil er fuer Kleopatra
nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl faellt; aber in ihm faellt
auch ein Vater, der raechende Soehne hinterlaesst. An diese hatte die Mutter
in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Soehne
gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher
Eifer doch, wenn er unter Eltern waehlen muesste, ohnfehlbar sich fuer den
zuerst beleidigten Teil erklaeren wuerde. Sie fand es aber so nicht; der
Sohn ward Koenig, und der Koenig sahe in der Kleopatra nicht die Mutter,
sondern die Koenigsmoerderin. Sie hatte alles von ihm zu fuerchten; und von
dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem
Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Soehnen uebrig; sie fing an,
alles zu hassen, was sie erinnern musste, ihn einmal geliebt zu haben; die
Selbsterhaltung staerkte diesen Hass; die Mutter war fertiger als der Sohn,
die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten
Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem
Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, dass sie ihn nur an dem
begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, dass sie eigentlich
nicht morde, dass sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des
aeltere Sohnes waere auch das Schicksal des juengern geworden; aber dieser
war rascher, oder war gluecklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu
trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen raechet
das andere; und es koemmt bloss auf die Umstaende an, auf welcher Seite wir
mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.

Dieser dreifache Mord wuerde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang,
ihr Mittel und ihr Ende in der naemlichen Leidenschaft der naemlichen
Person haette. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragoedie? Fuer das
Genie fehlt ihr nichts: fuer den Stuemper alles. Da ist keine Liebe, da
ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer
Zwischenfall; alles geht seinen natuerlichen Gang. Dieser natuerliche Gang
reizet das Genie; und den Stuemper schrecket er ab. Das Genie koennen nur
Begebenheiten beschaeftigen, die ineinander gegruendet sind, nur Ketten von
Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurueckzufuehren, jene gegen diese
abzuwaegen, ueberall das Ungefaehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so
geschehen zu lassen, dass es nicht anders geschehen koennen: das, das ist
seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnuetzen
Schaetze des Gedaechtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der
Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegruendete, sondern nur
auf das Aehnliche oder Unaehnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die
dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, haelt sich bei Begebenheiten
auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als dass sie zugleich
geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu
flechten und zu verwirren, dass wir jeden Augenblick den einen unter dem
andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestuerzt werden; das
kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestaendigen Durchkreuzung solcher
Faeden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in
der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von
dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, gruen oder gelb ist; der
beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet;
ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz fuer Kinder.

Nun urteile man, ob der grosse Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie
oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser
Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand
in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung.

Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus
Eifersucht? dachte Corneille: das waere ja eine ganz gemeine Frau; nein,
meine Kleopatra muss eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern
verloren haette, aber durchaus nicht den Thron; dass ihr Mann Rodogunen
liebt, muss sie nicht so sehr schmerzen, als dass Rodogune Koenigin sein
soll, wie sie; das ist weit erhabner.--

Ganz recht; weit erhabner und--weit unnatuerlicher. Denn einmal ist der
Stolz ueberhaupt ein unnatuerlicheres, ein gekuenstelteres Laster, als die
Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatuerlicher, als
der Stolz eines Mannes. Die Natur ruestete das weibliche Geschlecht zur
Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zaertlichkeit, nicht Furcht
erwecken; nur seine Reize sollen es maechtig machen; nur durch Liebkosungen
soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es geniessen
kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloss des Herrschens wegen, gefaellt,
bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere
Glueckseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuss
ganzen Voelkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal,
auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet
eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das
minder Natuerliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist,
die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle
Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um
sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr
tugendhaft und liebenswuerdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea
begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zaertlichen, eifersuechtigen Frau
will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu
heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus ueberlegtem
Ehrgeize Freveltaten veruebet, empoert sich das ganze Herz; und alle Kunst
des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an,
wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesaettiget
haben, so danken wir dem Himmel, dass sich die Natur nur alle tausend
Jahre einmal so verirret, und aergern uns ueber den Dichter, der uns
dergleichen Missgeschoepfe fuer Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns
erspriesslich sein koennte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter
funfzig Frauen, die ihre Maenner vom Throne gestuerzet und ermordet haben,
ist kaum eine, von der man nicht beweisen koennte, dass nur beleidigte
Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus blossem Regierungsneide, aus
blossem Stolze das Zepter selbst zu fuehren, welches ein liebreicher
Ehemann fuehrte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele,
nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen,
haben diese Regierung hernach mit allem maennlichen Stolze verwaltet: das
ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, muerrischen, treulosen Gatten
alles, was die Unterwuerfigkeit Kraenkendes hat, zu sehr erfahren, als dass
ihnen nachher ihre mit der aeussersten Gefahr erlangte Unabhaengigkeit nicht
um so viel schaetzbarer haette sein sollen. Aber sicherlich hat keine das
bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von
sich sagen laesst; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der groesste
Boesewicht weiss sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst
zu ueberreden, dass das Laster, welches er begeht, kein so grosses Laster
sei, oder dass ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge.
Es ist wider alle Natur, dass er sich des Lasters, als Lasters, ruehmet;
und der Dichter ist aeusserst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glaenzendes
und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen laesst, als ob
seine Grundneigungen auf das Boese, als auf das Boese, gehen koennten.

Dergleichen missgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden,
sind indes bei keinem Dichter haeufiger, als bei Corneillen, und es koennte
leicht sein, dass sich zum Teil sein Beiname des Grossen mit darauf gruende.
Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines
faehig sein sollte, und wirklich auch keines faehig ist: das Laster. Den
Ungeheuern, den Gigantischen haette man ihn nennen sollen; aber nicht den
Grossen. Denn nichts ist gross, was nicht wahr ist.




Einunddreissigstes Stueck
Den 14. August 1767

In der Geschichte raechet sich Kleopatra bloss an ihrem Gemahle; an
Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht raechen. Bei dem Dichter ist
jene Rache laengst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloss erzaehlt,
und alle Handlung des Stuecks geht auf Rodogunen. Corneille will seine
Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muss sich noch gar
nicht geraechet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen
raechet. Einer Eifersuechtigen ist es allerdings natuerlich, dass sie gegen
ihre Nebenbuhlerin noch unversoehnlicher ist, als gegen ihren treulosen
Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder
gar nicht eifersuechtig; sie ist bloss ehrgeizig; und die Rache einer
Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersuechtigen aehnlich sein. Beide
Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als dass ihre Wirkungen die
naemlichen sein koennten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut,
und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als dass die Rache des
Ehrgeizigen ohne Mass und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck
verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht,
kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kaelter und
ueberlegender zu werden anfaengt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach
dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer
ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergisst er es auch wohl, dass er
ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fuerchten hat, den verachtet er; und
wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht
hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes
Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gaenzliche Verderben
seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie
versoehnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhoeret, die
naemliche Beleidigung zu sein, und immer waechset, je laenger sie dauert:
so kann auch ihr Durst nach Rache nie erloeschen, die sie spat oder frueh,
immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der
Kleopatra beim Corneille; und die Misshelligkeit, in der diese Rache also
mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als aeusserst beleidigend
sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbaendiger Trieb nach Ehre und
Unabhaengigkeit, lassen sie uns als eine grosse, erhabne Seele betrachten,
die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tueckischer Groll; ihre
haemische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu
befuerchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem
geringsten Funken von Edelmute, vergeben muesste; ihr Leichtsinn, mit dem
sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die
unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so
klein, dass wir sie nicht genug verachten zu koennen glauben. Endlich muss
diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in
der ganzen Kleopatra nichts uebrig, als ein haessliches, abscheuliches Weib,
das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.

Aber nicht genug, dass Kleopatra sich an Rodogunen raechet: der Dichter
will, dass sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie faengt er
dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist
das Ding viel zu natuerlich: denn was ist natuerlicher, als seine Feindin
hinzurichten? Ginge es nicht an, dass zugleich eine Liebhaberin in ihr
hingerichtet wuerde? Und dass sie von ihrem Liebhaber hingerichtet wuerde?
Warum nicht? Lasst uns erdichten, dass Rodogune mit dem Demetrius noch
nicht voellig vermaehlet gewesen; lasst uns erdichten, dass nach seinem Tode
sich die beiden Soehne in die Braut des Vaters verliebt haben; lasst uns
erdichten, dass die beiden Soehne Zwillinge sind, dass dem aeltesten der
Thron gehoeret, dass die Mutter es aber bestaendig verborgen gehalten,
welcher von ihnen der aelteste sei; lasst uns erdichten, dass sich endlich
die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr
nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen fuer den aeltesten
zu erklaeren und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse
Bedingung eingehen wolle; lasst uns erdichten, dass diese Bedingung der Tod
der Rodogune sei. Nun haetten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen
sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte
umbringen will, der soll regieren.

Schoen; aber koennten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koennten
wir die guten Prinzen nicht noch in groessere Verlegenheit setzen? Wir
wollen versuchen. Lasst uns also weiter erdichten, dass Rodogune den
Anschlag der Kleopatra erfaehrt; lasst uns weiter erdichten, dass sie zwar
einen von den Prinzen vorzueglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat,
auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, dass sie
fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch
den, welchem der Thron heimfallen duerfte, zu ihrem Gemahle zu waehlen, dass
sie allein den waehlen wolle, welcher sich ihr am wuerdigsten erzeigen
werde; Rodogune muss geraechet sein wollen; muss an der Mutter der Prinzen
geraechet sein wollen; Rodogune muss ihnen erklaeren: wer mich von euch
haben will, der ermorde seine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut
angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen!
Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine
Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine
Mutter! Es versteht sich, dass es sehr tugendhafte Prinzen sein muessen,
die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt fuer den Teufel
von Mama, und ebensoviel Zaertlichkeit fuer eine liebaeugelnde Furie von
Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist
die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, dass
es gar nicht moeglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und
schlaegt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder
der andere geht hin und schlaegt die Mutter tot, um die Prinzessin zu
haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die
Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus
werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das
Maedchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie
beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere
totschlagen; so stehen sie beide huebsch und sperren das Maul auf, und
wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schoenheit davon.
Freilich wird das Stueck dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen,
dass die Weiber darin aerger als rasende Maenner, und die Maenner weibischer
als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist
dieses ein Vorzug des Stueckes mehr; denn das Gegenteil ist so gewoehnlich,
so abgedroschen!--

Doch im Ernste: ich weiss nicht, ob es viel Muehe kostet, dergleichen
Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich moechte es auch
schwerlich jemals versuchen. Aber das weiss ich, dass es einem sehr sauer
wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es blosse Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur
in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit haette sich
Corneille immer ersparen koennen. "Vielleicht", sagt er, "duerfte man
zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, dass sie
unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es
hier gemacht habe, wo nach der Erzaehlung im ersten Akte, welche die
Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fuenften, nicht das
geringste vorkoemmt, welches einigen historischen Grund haette. Doch",
faehrt er fort, "Mich duenkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte
beibehalten, so sind alle vorlaeufige Umstaende, alle Einleitungen zu
diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wuesste ich mich keiner
Regel dawider zu erinnern, und die Ausuebung der Alten ist voellig auf
meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles
mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein
haben, als das blosse Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen
ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm
eigentuemliche Mittel gelanget, so dass wenigstens eine davon notwendig
ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muss. Oder man werfe nur
die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster
einer vollkommenen Tragoedie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, dass
sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloss auf das
Vorgeben gruendet, dass Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare,
auf welchem sie geopfert werden sollte, entrueckt und ein Reh an ihrer
Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des
Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die
Episoden, sowohl der Knoten als die Aufloesung, gaenzlich erdichtet sind,
und aus der Historie nichts als die Namen haben."

Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umstaenden nach Gutduenken
verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und
Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte
nachrechnet, dass Rodogune so jung nicht koenne gewesen sein; sie habe den
Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens
zwanzig Jahre haben muessten, noch in ihrer Kindheit gewesen waeren. Was
geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht
geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und
nicht viel aelter, als sich die Soehne in sie verliebten. Voltaire ist mit
seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die
Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafuer verifizieren wollte!




Zweiunddreissigstes Stueck
Den 18. August 1767

Mit den Beispielen der Alten haette Corneille noch weiter zurueckgehen
koennen. Viele stellen sich vor, dass die Tragoedie in Griechenland wirklich
zur Erneuerung des Andenkens grosser und sonderbarer Begebenheiten
erfunden worden; dass ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die
Fusstapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken
auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis liess sich um die
historische Richtigkeit ganz unbekuemmert.[1] Es ist wahr, er zog sich
darueber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, dass
Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst
verstanden: so laesst sich den Folgerungen, die man aus seiner Missbilligung
ziehen koennte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich
unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des
Nutzens, ihrer noch nicht wuerdig erzeigen konnte. Thespis ersann,
erdichtete, liess die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte:
aber er wusste seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch
lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne
die geringste Vermutung von dem Nuetzlichen zu haben. Er eiferte wider ein
Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu fuehren, leicht von uebeln
Folgen sein koennte.

Ich fuerchte sehr, Solon duerfte auch die Erdichtungen des grossen Corneille
nichts als leidige Luegen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen?
Machen sie in der Geschichte, die er damit ueberladet, das Geringste
wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal fuer sich selbst wahrscheinlich.
Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der
Erdichtungskraft; und er haette doch wohl wissen sollen, dass nicht das blosse
Erdichten, sondern das zweckmaessige Erdichten, einen schoepfrischen Geist
beweise.

Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Soehne mordet;
eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich
vor, sie in einer Tragoedie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm
weiter nichts, als das blosse Faktum, und dieses ist ebenso graesslich als
ausserordentlich. Es gibt hoechstens drei Szenen, und da es von allen
naehern Umstaenden entbloesst ist, drei unwahrscheinliche Szenen.--Was tut
also der Poet?

So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die
Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kuerze der groessere Mangel seines
Stueckes scheinen.

Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein,
eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene
unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen muessen.
Unzufrieden, ihre Moeglichkeit bloss auf die historische Glaubwuerdigkeit zu
gruenden, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen;
wird er suchen, die Vorfaelle, welche diese Charaktere in Handlung setzen,
so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen,
die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird
er suchen, diese Leidenschaften durch so allmaehliche Stufen durchzufuehren:
dass wir ueberall nichts als den natuerlichsten, ordentlichsten Verlauf
wahrnehmen; dass wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun laesst,
bekennen muessen, wir wuerden ihn, in dem naemlichen Grade der Leidenschaft,
bei der naemlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; dass uns nichts
dabei befremdet, als die unmerkliche Annaeherung eines Zieles, von dem
unsere Vorstellungen zurueckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des
innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreisst, und
voll Schrecken ueber das Bewusstsein befinden, auch uns koenne ein aehnlicher
Strom dahinreissen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Gebluete noch so
weit von uns entfernt zu sein glauben.--Und schlaegt der Dichter diesen
Weg ein, sagt ihm sein Genie, dass er darauf nicht schimpflich ermatten
werde: so ist mit eins auch jene magere Kuerze seiner Fabel verschwunden;
es bekuemmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfaellen fuenf
Akte fuellen wolle; ihm ist nur bange, dass fuenf Akte alle den Stoff nicht
fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer
mehr und mehr vergroessert, wenn er einmal der verborgnen Organisation
desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet.

Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter
nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage
ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstoessig
sein, dass er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden
vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern duerfe, wenn er sich
nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid
zu erregen. Denn er weiss so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und
dieses Mitleid bestehet, dass er, um jenes hervorzubringen, nicht
sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug haeufen zu
koennen glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den
ausserordentlichsten, graesslichsten Ungluecksfaellen und Freveltaten nehmen
zu muessen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra,
eine Moerderin ihres Gemahls und ihrer Soehne, aufgesagt, so sieht er, um
eine Tragoedie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die
Luecken zwischen beiden Verbrechen auszufuellen, und sie mit Dingen
auszufuellen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen
selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien,
knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman
zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer
Haecksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das
Drahtgerippe von Akten und Szenen, laesst erzaehlen und erzaehlen, laesst rasen
und reimen,--und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter
oder saurer ankoemmt, ist das Wunder fertig; es heisst ein Trauerspiel,
--wird gedruckt und aufgefuehrt,--gelesen und angesehen,--bewundert oder
ausgepfiffen,--beibehalten oder vergessen,--so wie es das liebe Glueck will.
Denn et habent sua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den grossen Corneille zu machen?
Oder brauche ich sie noch lange zu machen?--Nach dem geheimnisvollen
Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist
seine "Rodogune", nun laenger als hundert Jahr, als das groesste Meisterstueck
des groessten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit
von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjaehrige Bewunderung
wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre
Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen
Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn
auf ein Meteor herabzusetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte sass einmal ein ehrlicher Hurone in
der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war;
und vor langer Weile studierte er die franzoesischen Poeten; diesem
Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu
Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der
hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute
des sechzehnten Saeculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls
vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein
Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn,
weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer
armen verlassnen Enkelin dieses grossen Dichters an, liess sie unter seinen
Augen erziehen, lehrte sie huebsche Verse machen, sammelte Almosen fuer
sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen grossen eintraeglichen Kommentar ueber
die Werke ihres Grossvaters usw.) aber gleichwohl erklaerte er die "Rodogune"
fuer ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern,
wie ein so grosser Mann, als der grosse Corneille, solch widersinniges
Zeug habe schreiben koennen.--Bei einem von diesen ist der Dramaturgist
ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach
bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den
Auslaendern ueber die Fehler eines Franzosen die Augen eroeffnet. Diesem
ganz gewiss betet er nach;--oder ist es nicht diesem, wenigstens dem
Welschen,--wo nicht gar dem Huronen. Von einem muss er es doch haben. Denn
dass ein Deutscher selbst daechte, von selbst die Kuehnheit haette, an der
Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das
einbilden?

Ich rede von diesen meinen Vorgaengern mehr bei der naechsten Wiederholung
der "Rodogune". Meine Leser wuenschen aus der Stelle zu kommen; und ich
mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung, nach welcher
dieses Stueck aufgefuehret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuettelsche
vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch
ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die
beste von dieser Art nicht schaemen, und ist voller starken, gluecklichen
Stellen. Der Verfasser aber, weiss ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack,
als dass er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte.
Corneillen gut zu uebersetzen, muss man bessere Verse machen koennen, als er
selbst.


----Fussnote

[1] Diogenes Laertius, Lib. I. Sec. 59.

----Fussnote




Dreiunddreissigstes Stueck
Den 21. August 1767

Den sechsunddreissigsten Abend (freitags, den 3. Julius) ward das Lustspiel
des Herrn Favart, "Soliman der Zweite", ebenfalls in Gegenwart Sr. Koenigl.
Majestaet von Daenemark, aufgefuehret.

Ich mag nicht untersuchen, wieweit es die Geschichte bestaetiget, dass
Soliman II. sich in eine europaeische Sklavin verliebt habe, die ihn so
zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewusst, dass er, wider alle
Gewohnheit seines Reichs, sich foermlich mit ihr verbinden und sie zur
Kaiserin erklaeren muessen. Genug, dass Marmontel hierauf eine von seinen
moralischen Erzaehlungen gegruendet, in der er aber jene Sklavin, die eine
Italienerin soll gewesen sein, zu einer Franzoesin macht; ohne Zweifel,
weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, dass irgendeine andere Schoene,
als eine franzoesische, einen so seltnen Sieg ueber einen Grosstuerken
erhalten koennen.

Ich weiss nicht, was ich eigentlich zu der Erzaehlung des Marmontel sagen
soll; nicht, dass sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen
Kenntnissen der grossen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laecherlichen,
ausgefuehret und mit der Eleganz und Anmut geschrieben waere, welche diesem
Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst.
Aber es soll eine moralische Erzaehlung sein, und ich kann nur nicht finden,
wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schluepfrig, so
anstoessig, als eine Erzaehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie
darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?

Ein Sultan, der in dem Schosse der Wollueste gaehnet, dem sie der alltaegliche
und durch nichts erschwerte Genuss unschmackhaft und ekel gemacht hat, der
seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder
gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit,
die raffinierteste Zaertlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschoepft:
dieser kranke Wolluestling ist der leidende Held in der Erzaehlung. Ich
sage der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Suessigkeiten den Magen
verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas
verfaellt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken wuerde, auf faule
Eier, auf Rattenschwaenze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die
edelste, bescheidenste Schoenheit, mit dem schmachtendsten Auge, gross und
blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den
Sultan,--bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestaetischer in ihrer Form,
blendender von Kolorit, bluehende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer
Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Toene, eine wahre Muse, nur
verfuehrerischer, wird--genossen und vergessen. Endlich erscheinet ein
weibliches Ding, fluechtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur
Unverschaemtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie, wenig
Schoenheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses
Ding, als es den Sultan erblickt, faellt mit der plumpesten Schmeichelei,
wie mit der Tuere ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine!
--(Eine Schmeichelei, die nicht bloss dieser Sultan, auch mancher deutscher
Fuerst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch
plumper, zu hoeren bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut
wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich
enthaelt, zu fuehlen.) Und so wie dieses Eingangskompliment, so das uebrige
--Vous etes beaucoup mieux, qu'il n'appartient a un Turc: vous avez
meme quelque chose d'un Francais--En verite ces Turcs sont plaisants--Je
me charge d'apprendre a vivre a ce Turc--Je ne desespere pas d'en faire
quelque jour un Francais.--Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und
schilt, es droht und spottet, es liebaeugelt und mault, bis der Sultan,
nicht genug, ihm zu gefallen, dem Seraglio eine neue Gestalt gegeben zu
haben, auch Reichsgesetze abaendern und Geistlichkeit und Poebel wider sich
aufzubringen Gefahr laufen muss, wenn er anders mit ihr ebenso gluecklich
sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem
Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Muehe!

Marmontel faengt seine Erzaehlung mit der Betrachtung an, dass grosse
Staatsveraenderungen oft durch sehr geringfuegige Kleinigkeiten veranlasst
worden, und laesst den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst
schliessen: Wie ist es moeglich, dass eine kleine aufgestuelpte Nase die
Gesetze eines Reiches umstossen koennen? Man sollte also fast glauben, dass
er bloss diese Bemerkung, dieses anscheinende Missverhaeltnis zwischen
Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erlaeutern wollen. Doch diese Lehre
waere unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst,
dass er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt.
"Ich nahm mir vor", sagt er, "die Torheit derjenigen zu zeigen, welche
ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefaelligkeit bringen
wollen; ich waehlte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als
die zwei Extrema der Herrschaft und Abhaengigkeit." Allein Marmontel muss
sicherlich auch diesen seinen Vorsatz waehrend der Ausarbeitung vergessen
haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten
Versuch einiger Gewaltsamkeit von seiten des Sultans; er ist gleich
bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Franzoesin sagt, der
zurueckhaltendste, nachgebendste, gefaelligste, folgsamste, untertaenigste
Mann, la meilleure pate de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein
wuerde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in
dieser Erzaehlung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben
bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Kaefer, wenn er alle Blumen
durchschwaermt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.

Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel,
ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laesst oder
nicht; und also war die Erzaehlung des Marmontel darum nichts mehr und
nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat
Favart, und sehr gluecklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus
aehnlichen Erzaehlungen bereichern wollen, die Favartsche Ausfuehrung mit
dem Marmontelschen Urstoffe zusammenzuhalten. Wenn sie die Gabe zu
abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veraenderungen, die
dieser gelitten und zum Teil leiden muessen, lehrreich sein, und ihre
Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer blossen
Spekulation wohl unentdeckt geblieben waere, den noch kein Kritikus zur
Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der oefters mehr
Wahrheit, mehr Leben in ihr Stueck bringen wird, als alle die mechanischen
Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren
Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der
Vollkommenheit eines Dramas machen moechten.

Ich will nur bei einer von diesen Veraenderungen stehenbleiben. Aber ich
muss vorher das Urteil anfuehren, welches Franzosen selbst ueber das Stueck
gefaellt haben.[1] Anfangs aeussern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den groessten
Fuersten seines Jahrhunderts; die Tuerken haben keinen Kaiser, dessen
Andenken ihnen teurer waere als dieses Solimans; seine Siege, seine
Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswuerdig,
ueber die er siegte: aber welche kleine, jaemmerliche Rolle laesst ihn
Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener
ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuehnsten,
schwaerzesten Streiche faehig war, die den Sultan durch ihre Raenke und
falsche Zaertlichkeit so weit zu bringen wusste, dass er wider sein eigenes
Blut wuetete, dass er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen
Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine
naerrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf
voller Wind, doch das Herz mehr gut als boese. Sind dergleichen
Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein
Erzaehler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese
Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn
er Fakta nach seinem Gutduenken veraendern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?"

Das heisst einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich moechte die
Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht uebernehmen; ich habe mich
vielmehr schon dahin geaeussert,[2] dass die Charaktere dem Dichter weit
heiliger sein muessen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau
beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von
selbst nicht viel anders ausfallen koennen; da hingegen allerlei Faktum
sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten laesst. Zweitens, weil
das Lehrreiche nicht in den blossen Faktis, sondern in der Erkenntnis
bestehet, dass diese Charaktere unter diesen Umstaenden solche Fakta
hervorzubringen pflegen und hervorbringen muessen. Gleichwohl hat es
Marmontel gerade umgekehrt. Dass es einmal in dem Seraglio eine europaeische
Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmaessigen Gemahlin des Kaisers zu
machen gewusst: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und
dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich
geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich
werden koennen, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche
von diesen Arten er waehlen will; ob die, welche die Historie bestaetiget,
oder eine andere, sowie der moralischen Absicht, die er mit seiner
Erzaehlung verbindet, das eine oder das andere gemaesser ist. Nur sollte er
sich, im Fall dass er andere Charaktere als die historischen, oder wohl
gar diesen voellig entgegengesetzte waehlet, auch der historischen Namen
enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum
beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten.
Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren
und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir
bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Fakta betrachten wir als
etwas Zufaelliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die
Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigentuemliches. Mit jenen
lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, solange er sie nur nicht
mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl
ins Licht stellen, aber nicht veraendern; die geringste Veraenderung
scheinet uns die Individualitaet aufzuheben und andere Personen
unterzuschieben, betruegerische Personen, die fremde Namen usurpieren
und sich fuer etwas ausgeben, was sie nicht sind.


----Fussnote

[1] "Journal Encyclop.", Janvier 1762.

[2] Oben im 23. Stueck.

----Fussnote




Vierunddreissigstes Stueck
Den 25. August 1767

Aber dennoch duenkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen
Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt,
als in diesen freiwillig gewaehlten Charakteren selbst, es sei von seiten
der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu
verstossen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen;
nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergoennt, tausend Dinge nicht zu
wissen, die jeder Schulknabe weiss; nicht der erworbene Vorrat seines
Gedaechtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen
Gefuehl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;[1] was es
gehoert oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter
nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstoesst also,
bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft,
so groeblich, dass wir andern guten Leute uns nicht genug darueber verwundern
koennen; wir stehen und staunen und schlagen die Haende zusammen und rufen:
"Aber, wie hat ein so grosser Mann nicht wissen koennen!--Wie ist es
moeglich, dass ihm nicht beifiel!--Ueberlegte er denn nicht?" Oh, lasst uns
ja schweigen; wir glauben ihn zu demuetigen, und wir machen uns in seinen
Augen laecherlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloss,
dass wir fleissiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider
noetig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoepfe bleiben wollten.

Marmontels Soliman haette daher meinetwegen immer ein ganz anderer
Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein moegen, als
mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haette, dass, ob
sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer
andern Welt gehoeren koennten; zu einer Welt, deren Zufaelligkeiten in einer
andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in
dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten
abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den
Schoepfer ohne Namen durch sein edelstes Geschoepf zu bezeichnen!) das,
sage ich, um das hoechste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der
gegenwaertigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich
ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten
verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde,
so kann ich es zufrieden sein, dass man ihm auch jenes nicht fuer genossen
ausgehen laesst. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muss uns
nicht vorsaetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei
nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen
haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter
ausbildet oder sich schaffet, Uebereinstimmung und Absicht zu verlangen,
wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet
zu werden.

Uebereinstimmung:--Nichts muss sich in den Charakteren widersprechen; sie
muessen immer einfoermig, immer sich selbst aehnlich bleiben; sie duerfen
sich itzt staerker, itzt schwaecher aeussern, nachdem die Umstaende auf sie
wirken; aber keine von diesen Umstaenden muessen maechtig genug sein koennen,
sie von Schwarz auf Weiss zu aendern. Ein Tuerk und Despot muss, auch wenn er
verliebt ist, noch Tuerk und Despot sein. Dem Tuerken, der nur die sinnliche
Liebe kennt, muessen keine von den Raffinements beifallen, die eine
verwoehnte europaeische Einbildungskraft damit verbindet. "Ich bin dieser
liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts
Anzuegliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu
ueberwinden haben und, wenn ich sie ueberwunden habe, durch neue
Schwierigkeiten in Atem erhalten sein": so kann ein Koenig von Frankreich
denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese
Denkungsart einmal gibt, so koemmt der Despot nicht mehr in Betrachtung;
er entaeussert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu
geniessen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine
dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt:
"Soliman war ein zu grosser Mann, als dass er die kleinen Angelegenheiten
seines Seraglio auf den Fuss wichtiger Staatsgeschaefte haette treiben
sollen." Sehr wohl; aber so haette er auch am Ende wichtige Staatsgeschaefte
nicht auf den Fuss der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben
muessen. Denn zu einem grossen Manne gehoert beides: Kleinigkeiten als
Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er
suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen laesst, freie Herzen, die sich aus
blosser Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen liessen; er haette
ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiss er, was er will? Die
zaertliche Elmire wird von einer wolluestigen Delia verdraengt, bis ihm eine
Unbesonnene den Strick ueber die Hoerner wirft, der er sich selbst zum
Sklaven machen muss, ehe er die zweideutige Gunst geniesset, die bisher
immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein?
Ich muss lachen ueber den guten Sultan, und er verdiente doch mein
herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal
alles verlieren, was ihn vorher entzueckte: was wird denn Roxelane, nach
diesem kritischen Augenblicke, fuer ihn noch behalten? Wird er es, acht
Tage nach ihrer Kroenung, noch der Muehe wert halten, ihr dieses Opfer
gebracht zu haben? Ich fuerchte sehr, dass er schon den ersten Morgen,
sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten
Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre
aufgestuelpte Nase. Mich duenkt, ich hoere ihn ausrufen: "Beim Mahomet, wo
habe ich meine Augen gehabt!"

Ich leugne nicht, dass bei alle den Widerspruechen, die uns diesen Soliman
so armselig und veraechtlich machen, er nicht wirklich sein koennte. Es
gibt Menschen genug, die noch klaeglichere Widersprueche in sich vereinigen.
Aber diese koennen auch, eben darum, keine Gegenstaende der poetischen
Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;
es waere denn, dass man ihre Widersprueche selbst, das Laecherliche oder die
ungluecklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch
Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem
Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht.
--Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen ueber geringere Geschoepfe
erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie
von den kleinen Kuenstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten,
die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnuegen
befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese
Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, dass auch wir uns mit
dem ebenso geringen Vergnuegen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen
ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet.
Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen faengt das Genie an, zu
lernen; es sind seine Voruebungen; auch braucht es sie in groessern Werken zu
Fuellungen, zu Ruhepunkten unserer waermern Teilnehmung: allein mit der
Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und
groessere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder
zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten
und Boesen, des Anstaendigen und Laecherlichen bekannt zu machen; die Absicht,
uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schoen und als
gluecklich selbst im Ungluecke, dieses hingegen als haesslich und ungluecklich
selbst im Gluecke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwuerfen, wo keine
unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung fuer uns statthat,
wenigstens unsere Begehrungs-und Verabscheuungskraefte mit solchen
Gegenstaenden zu beschaeftigen, die es zu sein verdienen, und diese
Gegenstaende jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein
falscher Tag verfuehrt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was
wir verabscheuen sollten zu begehren.

Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem
Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von
manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten
sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich
erregen muesste, ein stumpfer Wolluestling, eine abgefeimte Buhlerin werden
uns mit so verfuehrerischen Zuegen, mit so lachenden Farben geschildert,
dass es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus
berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schoenen als
gefaelligen Gattin ueberdruessig zu sein, weil sie eine Elmire und keine
Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die
angefuehrten franzoesischen Kunstrichter recht, dass sie alle das Tadelhafte
des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet
ihnen sogar dabei noch mehr gesuendiget zu haben, als jener. "Die
Wahrscheinlichkeit", sagen sie, "auf die es vielleicht in einer Erzaehlung
so sehr nicht ankoemmt, ist in einem dramatischen Stuecke unumgaenglich
noetig; und diese ist in dem gegenwaertigen auf das aeusserste verletzet. Der
grosse Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so
einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der
Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein
Schatten von der unumschraenkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muss.
Man haette diese Gewalt wohl lindern koennen; nur ganz vertilgen haette man
sie nicht muessen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels
gefallen; aber wenn die Ueberlegung darueber koemmt, wie sieht es dann mit
ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem
Sultan, wie mit einem Pariser Buerger; sie tadelt alle seine Gebraeuche;
sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte,
nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar haette sie das alles
sagen koennen; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdruecken gesagt haette.
Aber wer kann es aushalten, den grossen Soliman von einer jungen
Landstreicherin so hofmeistern zu hoeren? Er soll sogar die Kunst zu
regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmaehten Schnupftuche ist
hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unertraeglich."


----Fussnote

[1] Pindarus, "Olymp." II. str. 5. v. 10.

----Fussnote




Fuenfunddreissigstes Stueck
Den 28. August 1767

Der letztere Zug, muss man wissen, gehoert dem Favart ganz allein;
Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem
feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches
der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu goennen,
als sich selbst; sie scheinet es zu verschmaehen: das ist Beleidigung.
Beim Marmontel hingegen laesst sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben
und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer
Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen willens ist,
und das mit der uneigennuetzigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann
sich ueber nichts beschweren, als dass sie seine Gesinnungen so schlecht
erraet oder nicht besser erraten will.

Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Ueberladungen das Spiel der
Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er
einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen,
besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit
dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, dass seine Roxelane noch
unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat
er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewusst,
als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das?

Eben auf diese Veraenderung wollte ich oben kommen; und mich duenkt, sie
ist so gluecklich und vorteilhaft, dass sie von den Franzosen bemerkt und
ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient haette.

Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines
naerrisches, vermessenes Ding, dessen Glueck es ist, dass der Sultan
Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack
durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen,
als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen
steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als
zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe
gestellt, als seine Schwaeche gemissbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den
Sultan dahingebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, dass seine
Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt und ihm eine
Erklaerung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ein Licht auf
ihre vorige Auffuehrung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesoehnet
werden. "Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre
geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, grosse Seele, ganz den
Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzueckt mich! Aber lerne nun
auch mich kennen. Ich liebe dich, Soliman; ich muss dich wohl lieben! Nimm
all deine Rechte, nimm meine Freiheit zurueck; sei mein Sultan, mein Held,
mein Gebieter! Ich wuerde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen
muessen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget.
Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen
Liebhaber, der meinetwegen nicht erroeten darf; sieh hier in Roxelanen
--nichts, als deine untertaenige Sklavin."[1] So sagt sie, und uns wird auf
einmal ganz anders; die Kokette verschwindet, und ein liebes, ebenso
vernuenftiges als drollichtes Maedchen steht vor uns; Soliman hoeret auf,
uns veraechtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe
wuerdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fuerchten, er moechte die
nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er
moechte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber moechte den Despoten
wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt,
eine kalte Danksagung, dass sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so
bedenklichen Schritte zurueckhalten wollen, moechte anstatt einer feurigen
Bestaetigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind moechte durch
ihre Grossmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige
Vermessenheiten so muehsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens,
und das Stueck schliesst sich zu unserer voelligen Zufriedenheit.

Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veraenderung? Ist sie bloss
willkuerlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung,
in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel
seiner Erzaehlung diesen vergnuegendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem,
was dort eine Schoenheit ist, hier ein Fehler?

Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben,
welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der Aesopischen Fabel und
des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen
Erzaehlung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur
Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht
wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollstaendige Handlung,
die fuer sich ein wohlgeruendetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht;
der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem
Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen
nehmen, durch welche er sie ausfuehren laesst, ist er unbekuemmert, er hat
uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es
lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses
mag befriediget werden oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das
Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel
fliessende Lehre keinen Anspruch; es gehet entweder auf die
Leidenschaften, welche der Verlauf und die Gluecksveraenderungen seiner
Fabel anzufachen und zu unterhalten vermoegend sind, oder auf das
Vergnuegen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und
Charaktere gewaehret; und beides erfordert eine gewisse Vollstaendigkeit
der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der
moralischen Erzaehlung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit
auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall
derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt.

Wenn es also wahr ist, dass Marmontel durch seine Erzaehlung lehren wollte,
die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie muesse durch Nachsicht und
Gefaelligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er
recht, so aufzuhoeren, wie er aufhoert. Die unbaendige Roxelane wird durch
nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans
Charakter denken, ist ihm ganz gleichgueltig, moegen wir sie doch immer fuer
eine Naerrin und ihn fuer nichts Bessers halten. Auch hat er gar nicht
Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so
wahrscheinlich sein, dass den Sultan seine blinde Gefaelligkeit bald
gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die
Gefaelligkeit ueber das Frauenzimmer ueberhaupt vermag; er nahm also eines
der wildesten; unbekuemmert, ob es eine solche Gefaelligkeit wert sei
oder nicht.

Allein, als Favart diese Erzaehlung auf das Theater bringen wollte, so
empfand er bald, dass durch die dramatische Form die Intuition des
moralischen Satzes groesstenteils verloren gehe und dass, wenn sie auch
vollkommen erhalten werden koenne, das daraus erwachsende Vergnuegen doch
nicht so gross und lebhaft sei, dass man dabei ein anderes, welches dem
Drama wesentlicher ist, entbehren koenne. Ich meine das Vergnuegen, welches
uns ebenso rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaehren.
Nichts beleidiget uns aber, von seiten dieser, mehr als der Widerspruch,
in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des
Dichters finden; wenn wir finden, dass sich dieser entweder selbst damit
betrogen hat oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das
Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer
Weisheit gibt und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen
Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der grossen Welt
ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden,
desto strenger verfaehrt unsere Ueberlegung; das haessliche Gesicht, das wir
so schoen geschminkt sehen, wird fuer noch einmal so haesslich erklaert, als
es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu waehlen, ob er von uns lieber
fuer einen Giftmischer oder fuer einen Bloedsinnigen will gehalten sein. So
waere es dem Favart, so waere es seinen Charakteren des Solimans und der
Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere
nicht von Anfang aendern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu
verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterres zu
sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun uebrig, als was er tat. Nun
freuen wir uns, uns an nichts vergnuegt zu haben, was wir nicht auch
hochachten koennten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere
Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama
weit staerker ist, als einer blossen Erzaehlung, so interessieren uns auch
die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnuegen uns
nicht, ihr Schicksal bloss fuer den gegenwaertigen Augenblick entschieden zu
sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls
zufriedengestellet wissen.


----Fussnote

[1]
   Sultan, j'ai penetre ton ame;
   J'en ai demele les ressorts.
   Elle est grande, elle est fiere, et la gloire l'enflamme,
     Tant de vertus excitent mes transports.
     A ton tour, tu vas me connaitre:
   Je t'aime, Soliman; mais tu l'as merite.
     Reprends tes droits, reprends ma liberte;
   Sois mon Sultan, mon Heros et mon Maitre.
   Tu me soupconnerais d'injuste vanite.
     Va, ne fais rien que ta loi n'autorise;
   Il est des prejuges qu'on ne doit point trahir,
   Et je veux un Amant, qui n'ait point a rougir:
   Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise.

----Fussnote




Sechsunddreissigstes Stueck
Den 1. September 1767

So unstreitig wir aber, ohne die glueckliche Wendung, welche Favart am
Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Kroenung nicht
anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den laecherlichen
Triumph einer "Serva Padrona" wuerden betrachtet haben; so gewiss, ohne
sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein klaeglicher Pimpinello,
und die neue Kaiserin nichts als eine haessliche, verschmitzte Serbinette
gewesen waere, von der wir vorausgesehen haetten, dass sie nun bald dem
armen Sultan Pimpinello dem Zweiten noch ganz anders mitspielen werde:
so leicht und natuerlich duenkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir
muessen uns wundern, dass sie, demohngeachtet, so manchem Dichter nicht
beigefallen und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische
Erzaehlung in der dramatischen Form darueber verungluecken muessen.

Zum Exempel, "Die Matrone von Ephesus". Man kennt dieses beissende Maerchen,
und es ist unstreitig die bitterste Satire, die jemals gegen den weiblichen
Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nacherzaehlt;
und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte
man, dass es ein ebenso gluecklicher Stoff auch fuer das Theater sein muesse.
Houdar de la Motte und andere machten den Versuch; aber ich berufe mich
auf jedes feinere Gefuehl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter
der Matrone, der in der Erzaehlung ein nicht unangenehmes hoehnisches
Laecheln ueber die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem
Drama ekel und haesslich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren sich der
Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und
siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein
empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich ernst
ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre
Schwaeche duenkt uns die Schwaeche des ganzen Geschlechts zu sein; wir
fassen also keinen besondern Hass gegen sie; was sie tut, glauben wir,
wuerde ungefaehr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den
lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir
ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu muessen;
oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die
Vermutung, dass er wohl auch nur ein blosser Zusatz des haemischen Erzaehlers
sei, der sein Maerchen gern mit einer recht giftigen Spitze schliessen
wollte. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht statt; was wir
dort nur hoeren, dass es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen;
woran wir dort noch zweifeln koennen, davon ueberzeugt uns unser eigener
Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der blossen Moeglichkeit ergoetzte uns
das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloss ihre
Schwaerze; der Einfall vergnuegte unsern Witz, aber die Ausfuehrung des
Einfalls empoert unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buehne den
Ruecken und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem
besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus imperator fuisset,
debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere
cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen,
je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verfuehrung angewendet; denn wir
verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib ueberhaupt, sondern ein
vorzueglich leichtsinniges, luederliches Weibsstueck insbesondere.--Kurz,
die Petronische Fabel gluecklich auf das Theater zu bringen, muesste sie
den naemlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; muesste die
Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen.--Die Erklaerung
hierueber anderwaerts!

Den siebenunddreissigsten Abend (sonnabends, den 4. Julius) wurden
"Nanine" und der "Advokat Patelin" wiederholt.

Den achtunddreissigsten Abend (dienstags, den 7. Julius) ward die "Merope"
des Herrn von Voltaire aufgefuehrt.

Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der "Merope" des
Maffei; vermutlich im Jahr 1737 und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania,
der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift
davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit und als Verfasser des
Theatre des Grecs am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafuer
einzufloessen und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemaess zu
stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern
musste er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr
geschmeichelt, von seinem lieben Sohn Voltaire ueber ein Trauerspiel, ueber
eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden,
ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darueber zurueckschrieb,
welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur
Warnung, jederzeit dem Stuecke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin
fuer eines von den vollkommensten Trauerspielen, fuer ein wahres Muster
erklaert, und wir koennen uns nunmehr ganz zufrieden geben, dass das Stueck
des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses
ist nun nicht laenger verloren, Voltaire hat es uns wiederhergestellt.

So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein musste, so schien er
sich doch mit der Vorstellung nicht uebereilen zu wollen, welche erst im
Jahre 1743 erfolgte. Er genoss von seiner staatsklugen Verzoegerung auch
alle die Fruechte, die er sich nur immer davon versprechen konnte.
"Merope" fand den ausserordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte
dem Dichter eine Ehre, von der man noch zurzeit kein Exempel gehabt
hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem grossen Corneille sehr
vorzueglich; sein Stuhl auf dem Theater ward bestaendig freigelassen, wenn
der Zulauf auch noch so gross war, und wenn er kam, so stand jedermann
auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Gebluete
gewuerdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause
angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als dass
ihm die Gaeste ihre Hoeflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch
ganz etwas anders; das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu
kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende
war, verlangte es ihn zu sehen und rufte und schrie und laermte, bis der
Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen
musste. Ich weiss nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haette,
ob die kindische Neugierde des Publikums oder die eitele Gefaelligkeit des
Dichters. Wie denkt man denn, dass ein Dichter aussieht? Nicht wie andere
Menschen? Und wie schwach muss der Eindruck sein, den das Werk gemacht
hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die
Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstueck, duenkt mich,
erfuellet uns so ganz mit sich selbst, dass wir des Urhebers darueber
vergessen; dass wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern
der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es waere Suende
in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel
liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so
gross, so ueberschwenglich, dass es dem rohern Menschen zu verzeihen, dass es
sehr natuerlich war, wenn er sich keine groessere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in
der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, dass er an den Schoepfer der
Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig
Zuverlaessiges von der Person und den Lebensumstaenden des Homers wissen,
ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller
Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im
Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung
dabei, es zu vergessen, dass Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der
blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so
entzuecket. Er bringt uns unter Goetter und Helden; wir muessten in dieser
Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Tuersteher so genau zu
erkundigen, der uns hereingelassen. Die Taeuschung muss sehr schwach sein,
man muss wenig Natur, aber desto mehr Kuenstelei empfinden, wenn man so
neugierig nach dem Kuenstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde
fuer einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu
kennen, sein muesste (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten,
dem besten Murmeltiere voraus, welches der Poebel gesehen zu haben ebenso
begierig ist?), so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der
franzoesischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser
Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie
zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Karessen werden koenne,
so machte es sich dieses Vergnuegen oeftrer, und selten ward nachher ein
neues Stueck aufgefuehrt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormusste,
und auch ganz gern hervorkam. Von Voltairen bis zu Marmontel und von
Marmontel bis tief herab zu Cordier haben fast alle an diesem Pranger
gestanden. Wie manches Armesuendergesichte muss daruntergewesen sein! Der
Posse ging endlich so weit, dass sich die Ernsthaftern von der Nation
selbst darueber aergerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell
ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kuehn genug,
das Parterre vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus
nicht; sein Stueck war mittelmaessig, aber dieses sein Betragen desto braver
und ruehmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Uebe1stand
lieber abgeschafft, als durch zehn "Meropen" ihn veranlasst haben.




Siebenunddreissigstes Stueck
Den 4. September 1767

Ich habe gesagt, dass Voltairens "Merope" durch die "Merope" des Maffei
veranlasset worden ist. Aber veranlasset sagt wohl zu wenig: denn jene
ist ganz aus dieser entstanden; Fabel, Plan und Sitten gehoeren dem
Maffei; Voltaire wuerde ohne ihn gar keine oder doch sicherlich eine ganz
andere "Merope" geschrieben haben.

Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, muessen wir
zuvoerderst das Original des Italieners kennenlernen; und um das poetische
Verdienst des letztern gehoerig zu schaetzen, muessen wir vor allen Dingen
einen Blick auf die historischen Fakta werfen, auf die er seine Fabel
gegruendet hat.

Maffei selbst fasset diese Fakta in der Zueignungsschrift seines Stueckes
folgendergestalt zusammen. "Dass, einige Zeit nach der Eroberung von
Troja, als die Herakliden, d.I. die Nachkommen des Herkules, sich in
Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das messenische Gebiete
durch das Los zugefallen; dass die Gemahlin dieses Kresphonts Merope
geheissen; dass Kresphont, weil er dem Volke sich allzuguenstig erwiesen,
von den Maechtigern des Staats, mitsamt seinen Soehnen, umgebracht worden,
den juengsten ausgenommen, welcher auswaerts bei einem Anverwandten seiner
Mutter erzogen ward; dass dieser juengste Sohn, Namens Aepytus, als er
erwachsen, durch Hilfe der Arkader und Dorier, sich des vaeterlichen
Reiches wieder bemaechtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Moerdern
geraechet habe: dieses erzaehlet Pausanias. Dass, nachdem Kresphont mit
seinen zwei Soehnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus
dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; dass
dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; dass der dritte
Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher
umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet
Apollodorus. Dass Merope selbst den gefluechteten Sohn unbekannterweise
toeten wollen; dass sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener
daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, dass der, den sie fuer den
Moerder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; dass der nun erkannte Sohn
bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses
meldete Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes fuehret."

Es waere zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere
Glueckswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis
waere genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner
Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn
erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Moerder ihres
Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom
Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf ebendieses Stueck,[1] wenn er sich
auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope
die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer
befalle, dass der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen
koenne. Aristoteles erwaehnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des
Verfassers; da wir aber bei dem Cicero und mehrern Alten einen
"Kresphont" des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes
als das Werk dieses Dichters gemeiner haben.

Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: "Aristoteles, dieser
weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste
Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des
sujets tragiques). Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet,
dass, so oft der 'Kresphont' des Euripides auf dem Theater des witzigen
Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstuecke so gewoehnte
Volk ganz ausserordentlich sei betroffen, geruehrt und entzueckt worden."
--Huebsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden
Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt
und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine
Kleinigkeit, aber ueber dieses verlohnet es der Muehe, ein paar Worte zu
sagen, weil mehrere den Aristoteles ebenso unrecht verstanden haben.

Die Sache verhaelt sich wie folget. Aristoteles untersucht in dem
vierzehnten Kapitel seiner "Dichtkunst", durch was eigentlich fuer
Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten,
sagt er, muessen entweder unter Freunden oder unter Feinden oder unter
gleichgueltigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind toetet,
so erweckt weder der Anschlag noch die Ausfuehrung der Tat sonst weiter
einiges Mitleid als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des
Schmerzlichen und Verderblichen ueberhaupt verbunden ist. Und so ist
es auch bei gleichgueltigen Personen. Folglich muessen die tragischen
Begebenheiten sich unter Freunden ereignen; ein Bruder muss den Bruder,
ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toeten oder
toeten wollen oder sonst auf eine empfindliche Weise misshandeln oder
misshandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit oder ohne Wissen und
Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollfuehrt oder nicht
vollfuehrt werden muss, so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten,
welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die
erste: wenn die Tat wissentlich, mit voelliger Kenntnis der Person, gegen
welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird.
Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen und wirklich vollzogen wird.
Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes,
unternommen und vollzogen wird und der Taeter die Person, an der er
sie vollzogen, zu spaet kennenlernet. Die vierte: wenn die unwissend
unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein
verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen
vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug, und da er die
Handlung der "Merope" in dem "Kresphont" davon zum Beispiele anfuehret: so
haben Tournemine und andere dieses so angenommen, als ob er dadurch die
Fabel dieses Trauerspiels ueberhaupt von der vollkommensten Gattung
tragischer Fabeln zu sein erklaere.

Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, dass eine gute tragische Fabel
sich nicht gluecklich, sondern ungluecklich enden muesse. Wie kann dieses
beides beieinander bestehen? Sie soll sich ungluecklich enden, und
gleichwohl laeuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation
allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, gluecklich ab.
Widerspricht sich nicht also der grosse Kunstrichter offenbar?

Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit
gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem
ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den
geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede
dort gar nicht von der Fabel ueberhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie
mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln koenne, ohne
das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu veraendern, und
welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z.E. die Ermordung der
Klytaemnestra durch den Orest der Inhalt des Stueckes sein sollte, so zeige
sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu
bearbeiten, naemlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der
zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter muesse nun
ueberlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung
als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht
statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen muesse, und durch den
Orest geschehen muesse. Nach der zweiten darum nicht: weil sie zu graesslich
sei. Nach der vierten darum nicht: weil Klytaemnestra dadurch abermals
gerettet wuerde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich
bleibe ihm nichts als die dritte Klasse uebrig.

Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht
bloss in einzeln Faellen, nach Massgebung der Umstaende, sondern ueberhaupt.
Der ehrliche Dacier macht es oeftrer so: Aristoteles behaelt bei ihm recht,
nicht weil er recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf
der einen Seite eine Bloesse von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf
einer andern eine ebenso schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit
hat, anstatt nach jener in diese zu stossen: so ist es ja doch um die
Untrueglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm im Grunde noch mehr
als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die
Uebereinstimmung der Geschichte ankoemmt, wenn der Dichter allgemein
bekannte Dinge aus ihr zwar lindern, aber nie gaenzlich veraendern darf:
wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem
ersten oder zweiten Plane behandelt werden muessen? Die Ermordung der
Klytaemnestra muesste eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn
Orestes hat sie wissentlich und vorsaetzlich vollzogen: der Dichter aber
kann den dritten waehlen, weil dieser tragischer ist und der Geschichte
doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z.E. Medea, die
ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders
einschlagen, als den zweiten? Denn sie muss sie umbringen, und sie muss
sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein
bekannt. Was fuer eine Rangordnung kann also unter diesen Planen
stattfinden? Der in einem Falle der vorzueglichste ist, koemmt in einem
andern gar nicht in Betracht. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben:
so mache man die Anwendung nicht auf historische, sondern auf bloss
erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytaemnestra waere
von dieser letztern Art, und es haette dem Dichter freigestanden, sie
vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne voellige
Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan haette er dann waehlen muessen,
um eine so viel als moeglich vollkommene Tragoedie daraus zu machen? Dacier
sagt selbst: den vierten, denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so
geschaehe es bloss aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den
also, welcher sich gluecklich schliesst? Aber die besten Tragoedien, sagt
eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen
erteilet, sind ja die, welche sich ungluecklich schliessen? Und das ist ja
eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also
gehoben? Bestaetiget hat er ihn vielmehr.


----Fussnote

[1] Dieses vorausgesetzt (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann,
weil es bei den alten Dichtern nicht gebraeuchlich und auch nicht erlaubt
war, einander solche eigene Situationen abzustehlen), wuerde sich an der
angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden,
welches Josua Barnes nicht mitgenommen haette und ein neuer Herausgeber
des Dichters nutzen koennte.

----Fussnote




Achtunddreissigstes Stueck
Den 8. September 1767

Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genuege
leistet. Unsern deutschen Uebersetzer der Aristotelischen Dichtkunst[1]
hat sie ebensowenig befriediget. Er traegt seine Gruende dagegen vor, die
zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch
sonst erheblich genug duenken, um seinen Autor lieber gaenzlich im Stiche
zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht
zu retten sei. "Ich ueberlasse", schliesst er, "einer tiefern Einsicht,
diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklaerung
finden, und scheinet mir wahrscheinlich, dass unser Philosoph dieses
Kapitel nicht mit seiner gewoehnlichen Vorsicht durchgedacht habe."

Ich bekenne, dass mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines
offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig.
Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das
groessere Misstrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich
verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich ueberlese die Stelle zehnmal und
glaube nicht eher, dass er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen
Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem
Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten
koennen, was ihm diesen Widerspruch gewissermassen unvermeidlich machen
muessen, so bin ich ueberzeugt, dass er nur anscheinend ist. Denn sonst
wuerde er dem Verfasser, der seine Materie so oft ueberdenken muessen, gewiss
am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeuebterm Leser, der ich ihn
zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge
den Faden seiner Gedanken zurueck, ponderiere ein jedes Wort und sage mir
immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber dass er hier
etwas behaupten sollte, wovon er auf der naechsten Seite gerade das
Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's
auch.

Doch ohne weitere Umstaende; hier ist die Erklaerung, an welcher Herr
Curtius verzweifelt.--Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich
desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer groessern
Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnuegen.

Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute
Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere
Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist
es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen
und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft
und vortrefflich ist. Er erklaert aber die Fabel durch die Nachahmung
einer Handlung, [Greek: praxeos]; und eine Handlung ist ihm eine
Verknuepfung von Begebenheiten, [Greek: synthesin pragmaton]. Die Handlung
ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie
die Guete eines jeden Ganzen auf der Guete seiner einzeln Teile und deren
Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger
vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede fuer
sich und alle zusammen, den Absichten der Tragoedie mehr oder weniger
entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der
tragischen Handlung statthaben koennen, unter drei Hauptstuecke: des
Glueckswechsels, [Greek: peripeteias]; der Erkennung, [Greek: anagnorismou];
und des Leidens, [Greek: pathous]. Was er unter den beiden erstern
versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber fasst er alles
zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches
widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der
Glueckswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte
Fabel, [Greek: mythos peplegmenos], von der einfachen, [Greek: aplo],
unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stuecke der Fabel; sie
machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schoener und
interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre voellige Einheit
und Rundung und Groesse haben. Ohne das dritte hingegen laesst sich gar keine
tragische Handlung denken; Arten des Leidens, [Greek: pathos], muss jedes
Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein;
denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung
des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glueckswechsel, nicht
jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht
erreichen, sie in einem hoehern Grade erreichen helfen, andere aber ihr
mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem
Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstuecke gebrachten Teile
der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet,
welches der beste Glueckswechsel, welches die beste Erkennung, welches die
beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern,
dass derjenige Glueckswechsel der beste, das ist der faehigste, Schrecken
und Mitleid zu erwecken und zu befoerdern, sei, welcher aus dem Bessern in
das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, dass diejenige
Behandlung des Leidens die beste in dem naemlichen Verstande sei, wenn die
Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen,
aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen
soll, einander kennen lernen, so dass es dadurch unterbleibt.

Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die
Gedanken haben muss, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der
Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von
diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten muessen? Ist denn die
moeglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des
andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit
des Ganzen? Wenn der Glueckswechsel und das, was Aristoteles unter dem
Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind,
warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen?
Oder ist es unmoeglich, dass ein Ganzes Teile von entgegengesetzten
Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, dass die beste Tragoedie
nichts als die Vorstellung einer Veraenderung des Glueckes in Unglueck sei?
Oder, wo sagt er, dass die beste Tragoedie auf nichts, als auf die
Erkennung dessen hinauslaufen muesse, an dem eine grausam widernatuerliche
Tat veruebet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der
Tragoedie ueberhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben,
welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern
mehr oder weniger Einfluss, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der
Glueckswechsel kann sich mitten in dem Stuecke ereignen, und wenn er schon
bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so
ist z.E. der Glueckswechsel im "Oedip", der sich bereits zum Schlusse des
vierten Akts aeussert, zu dem aber noch mancherlei Leiden ([Greek: pathos])
hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stueck schliesset. Gleichfalls
kann das Leiden mitten in dem Stuecke zur Vollziehung gelangen sollen, und
in dem naemlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so
dass durch diese Erkennung das Stueck nichts weniger als geendet ist; wie
in der zweiten "Iphigenia" des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem
vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist,
erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glueckswechsel mit
der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben
Fabel verbinden lasse, kann man an der "Merope" selbst zeigen. Sie hat
die letztere; aber was hindert es, dass sie nicht auch den ersteren haben
koennte, wenn naemlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche
erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu
schuetzen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben
befoerderte? Warum koennte sich dieses Stueck nicht ebensowohl mit dem
Untergange der Mutter, als des Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem
Dichter nicht freistellen koennen, um unser Mitleiden gegen eine so
zaertliche Mutter auf das hoechste zu treiben, sie durch ihre Zaertlichkeit
selbst ungluecklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht
erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen,
gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Wuerde
eine solche Merope, in beiden Faellen, nicht wirklich die beiden
Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem
Kunstrichter so widersprechend findet?

Ich merke wohl, was das Missverstaendnis veranlasset haben kann. Man hat
sich einen Glueckswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne
Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne
Glueckswechsel denken koennen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das
andere sein; nicht zu erwaehnen, dass auch nicht beides eben die naemliche
Person treffen muss, und wenn es die naemliche Person trifft, dass eben
nicht beides sich zu der naemlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf
das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne
dieses zu ueberlegen, hat man nur an solche Faelle und Fabeln gedacht, in
welchen beide Teile entweder zusammenfliessen, oder der eine den andern
notwendig ausschliesst. Dass es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist
der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der moeglichsten
Allgemeinheit abfasst, ohne sich um die Faelle zu bekuemmern, in welchen
seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der
andern aufgeopfert werden muss? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich
selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine
Vollkommenheit haben soll, muss von dieser Beschaffenheit sein; jener von
einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er
gesagt, dass jede Fabel diese Teile alle notwendig haben muesse? Genug fuer
ihn, dass es Fabeln gibt, die sie alle haben koennen. Wenn eure Fabel aus
der Zahl dieser gluecklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten
Glueckswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so
untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten ueberhaupt fahren
wuerdet, und waehlet. Das ist es alles!


----Fussnote

[1] Herrn Curtius, S. 214.

----Fussnote




Neununddreissigstes Stueck
Den 11. September 1767

Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen oder nicht widersprochen
haben; Tournemine mag ihn recht verstanden oder nicht recht verstanden
haben: die Fabel der "Merope" ist weder in dem einen, noch in dem andern
Falle so schlechterdings fuer eine vollkommene tragische Fabel zu
erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er
ebensowohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muss erst untersucht
werden, wo er das groessere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber,
nach meiner Erklaerung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er
davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln
Teile derselben. Vielleicht war der Missbrauch seines Ansehens bei dem
Pater Tournemine auch nur ein blosser Jesuiterkniff, um uns mit guter Art
zu verstehen zu geben, dass eine so vollkommene Fabel, von einem so grossen
Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstueck werden muessen.

Doch Tournemine und Tournemine--Ich fuerchte, meine Leser werden fragen:
"Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine." Denn
viele duerften ihn wirklich nicht kennen; und manche duerften so fragen,
weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu[1].

Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire
selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns von dem verlornen Stuecke
des Euripides die naemlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, dass
Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten,
dass die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste
Augenblick der ganzen griechischen Buehne sei. Auch er sagt, dass Aristoteles
diesem coup de theatre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch
versichert er uns gar, dass er dieses Stueck des Euripides fuer das ruehrendste
von allen Stuecken desselben gehalten habe.[2] Dieses letztere ist nun
gaenzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stuecke, aus
welchem er die Situation der Merope anfuehrt, nicht einmal den Titel namhaft;
er sagt weder, wie es heisst, noch wer der Verfasser desselben sei;
geschweige, dass er es fuer das ruehrendste von allen Stuecken des Euripides
erklaere.

Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, dass die Erkennung der
Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen
griechischen Buehne sei! Welche Ausdruecke: nicht anstehen, zu behaupten!
Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen
Buehne! Sollte man hieraus nicht schliessen: Aristoteles gehe mit Fleiss
alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben koenne, durch,
vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die
er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten
Dichtern gefunden, untereinander ab und tue endlich so dreist als sicher
den Ausspruch fuer diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es
nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum
Beispiele anfuehret; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel
von dieser Art. Denn Aristoteles fand aehnliche Beispiele in der "Iphigenia",
wo die Schwester den Bruder, und in der "Helle", wo der Sohn die Mutter
erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu
vergehen.

Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und
wenn, wie Dacier vermutet, auch die "Helle" ein Werk dieses Dichters
gewesen: so waere es doch sonderbar, dass Aristoteles alle drei Beispiele
von einer solchen gluecklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter
gefunden haette, der sich der ungluecklichen Peripetie am meisten bediente.
Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, dass die eine die andere nicht
ausschliesst; und obschon in der "Iphigenia" die glueckliche Erkennung auf
die unglueckliche Peripetie folgt, und das Stueck ueberhaupt also gluecklich
sich endet: wer weiss, ob nicht in den beiden andern eine unglueckliche
Peripetie auf die glueckliche Erkennung folgte, und sie also voellig in der
Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten
von allen tragischen Dichtern verdiente?

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art moeglich;
ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, laesst sich aus den
wenigen Fragmenten, die uns von dem "Kresphontes" uebrig sind, nicht
schliessen. Sie enthalten nichts als Sittensprueche und moralische
Gesinnungen, von spaetern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und
werfen nicht das geringste Licht auf die Oekonomie des Stueckes.[3] Aus
dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Goettin des
Friedens ist, scheinet zu erhellen, dass zu der Zeit, in welche die
Handlung gefallen, die Ruhe in dem messenischen Staate noch nicht wieder
hergestellet gewesen; und aus ein paar andern sollte man fast schliessen,
dass die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei aeltern Soehne entweder
einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe oder doch nur kurz
vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des juengern
Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brueder
zu raechen kam, nicht wohl zusammenreimet. Die groesste Schwierigkeit aber
macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des
juengern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen. Wie konnte das Stueck
"Kresphontes" heissen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber
hiess nach einigen Aepytus und nach andern Telephontes; vielleicht, dass
jenes der rechte und dieses der angenommene Name war, den er in der
Fremde fuehrte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts
sicher zu bleiben. Der Vater muss laengst tot sein, wenn sich der Sohn des
vaeterlichen Reiches wieder bemaechtiget. Hat man jemals gehoert, dass ein
Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin
vorkommt? Corneille und Dacier haben sich geschwind ueber diese
Schwierigkeit hinwegzusetzen gewusst, indem sie angenommen, dass der Sohn
gleichfalls Kresphont geheissen;[4] aber mit welcher Wahrscheinlichkeit?
aus welchem Grunde?

Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich
Maffei schmeichelte: so koennen wir den Plan des Kresphontes ziemlich
genau wissen. Er glaubte ihn naemlich bei dem Hyginus, in der
hundertundvierundachtzigsten Fabel, gefunden zu haben.[5] Denn er haelt
die Fabeln des Hyginus ueberhaupt groesstenteils fuer nichts, als fuer die
Argumente alter Tragoedien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius
gewesen war, und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem
verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich
neue zu erdichten. Der Rat ist nicht uebel und zu befolgen. Auch hat ihn
mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, dass er
ihn gegeben. Herr Weisse hat den Stoff zu seinem "Thyest" aus dieser Grube
geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verstaendiges Auge. Nur
moechte es nicht der groesste, sondern vielleicht gerade der allerkleinste
Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen.
Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragoedien
zusammengesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder
unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragoedienschreiber selbst
ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation
gemacht, scheinet selbst die Tragoedien als abgeleitete verdorbene Baeche
betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter
nichts als die Glaubwuerdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte,
ausdruecklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzaehlt er
z.E. die Fabel von der Ino und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach
dieser und darauf in einem besondern Abschnitte nach der Behandlung des
Euripides.


----Fussnote

[1] "Lettres familieres".

[2] Aristote, dans sa Poetique immortelle, ne balance pas a dire que la
reconnaissance de Merope et de son fils etait le moment le plus
interessant de toute la scene Grecque. Il donnait a ce coup de Theatre la
preference sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si
sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arreter le
bras de Merope, n'arrivat pas asseztot. Cette piece, qu'on jouait de son
temps, et dont il nous reste tres peu de fragments, lui paraissait la
plus touchante de toutes les tragedies d'Euripide etc. Lettre a
Mr. Maffei.

[3] Dasjenige, welches Dacier anfuehret ("Poetique d'Aristote", Chap. XV.
Rem. 23.), ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem
Plutarch in der Abhandlung: "Wie man seine Feinde nuetzen solle".

[4] Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d'Arist. Une Mere, qui
va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte etc.

[5] Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184
d'Igino, la quale a mio credere altro non e, che l'Argomento di quella
Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa.
Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch'io feci gia in quell'
Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le piu di quelle
Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di cio col
confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto
in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi e stato
caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal
sentimento. Una miniera e pero questa di Tragici Argomenti, che se fosse
stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a
lor fantasia: io la scopriro loro di buona voglia, perche rendano col
loro ingegno alla nostra eta cio, che dal tempo invidioso le fu rapito.
Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto piu di considerazione
quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non e stato
creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori delle
favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole
costui narrate, secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso
convertendole, le avean ridotte.

----Fussnote




Vierzigstes Stueck
Den 15. September 1767

Damit will ich jedoch nicht sagen, dass, weil ueber derhundertundvierund-
Achtzigsten Fabel Der Name Des Euripides Nicht Stehe, Sie Auch Nicht Aus
Dem "Kresphont" Desselben Koenne Gezogen Sein. Vielmehr Bekenne Ich, Dass
Sie Wirklich Den Gang Und Die Verwickelung Eines Trauerspieles Hat; So
Dass, Wenn Sie Keines Gewesen Ist, Sie Doch Leicht Eines Werden Koennte,
Und Zwar Eines, Dessen Plan Der Alten Simplizitaet Weit Naeher Kaeme, Als
Alle Neuere Meropen. Man Urteile Selbst: Die Erzaehlung Des Hyginus, Die
Ich Oben Nur Verkuerzt Angefuehrt, Ist Nach Allen Ihren Umstaenden Folgende.

Kresphontes war Koenig von Messenien und hatte mit seiner Gemahlin Merope
drei Soehne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem
er, nebst seinen beiden aeltesten Soehnen, das Leben verlor. Polyphontes
bemaechtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche
waehrend dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn,
namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit
bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward
Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewaertigen und versprach
also demjenigen eine grosse Belohnung, der ihn aus dem Wege raeumen wuerde.
Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr faehig fuehlte, seine
Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging
nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, dass er den Telephontes
umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuer ausgesetzte Belohnung.
Polyphontes nahm ihn auf und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu
bewirten, bis er ihn weiter ausfragen koenne. Telephontes ward also in das
Gastzimmer gebracht, wo er vor Muedigkeit einschlief. Indes kam der alte
Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen
Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen und meldete ihr, dass
Telephontes aus Aetolien weg sei, ohne dass man wisse, wo er hingekommen.
Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der
angekommene Fremde ruehme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer und haette ihn
im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin
nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt und die Mutter an der
Freveltat verhindert haette. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche
Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versoehnt.
Polyphontes duenkte sich aller seiner Wuensche gewaehret und wollte den
Goettern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber
alle um den Altar versammelt waren, fuehrte Telephontes den Streich, mit
dem er das Opfertier faellen zu wollen sich stellte, auf den Koenig; der
Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines vaeterlichen
Reiches.[1]

Auch hatten, schon in dem sechzehnten Jahrhunderte, zwei italienische
Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Pomponio Torelli, den Stoff zu ihren
Trauerspielen, "Kresphont" und "Merope", aus dieser Fabel des Hyginus
genommen und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fusstapfen des
Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Ueberzeugung
ohngeachtet wollte Maffei selbst sein Werk so wenig zu einer blossen

Divination ueber den Euripides machen und den verlornen "Kresphont" in
seiner "Merope" wieder aufleben lassen, dass er vielmehr mit Fleiss von
verschiednen Hauptzuegen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging
und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin geruehrt hatte,
in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.

Die Mutter naemlich, die ihren Sohn so feurig liebte, dass sie sich an dem
Moerder desselben mit eigner Hand raechen wollte, brachte ihn auf den
Gedanken, die muetterliche Zaertlichkeit ueberhaupt zu schildern und mit
Ausschliessung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und
tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stueck zu beleben. Was dieser Absicht
also nicht vollkommen zusprach, ward veraendert; welches besonders die
Umstaende von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswaertiger
Erziehung treffen musste. Merope musste nicht die Gemahlin des Polyphonts
sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so
frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes
ueberlassen zu haben, in dem sie den Moerder ihres ersten kannte, und
dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche
naehere Ansprueche auf den Thron haben koennten, zu befreien. Der Sohn musste
nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines vaeterlichen Hauses, in aller
Sicherheit und Gemaechlichkeit, in der voelligen Kenntnis seines Standes
und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die muetterliche Liebe erkaltet
natuerlicherweise, wenn sie nicht durch die bestaendigen Vorstellungen des
Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand
geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er musste nicht in der
ausdruecklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu raechen; er muss
nicht von Meropen fuer den Moerder ihres Sohnes gehalten werden, weil er
sich selbst dafuer ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von
Zufaellen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so
ist ihre Verlegenheit bei der ersten muendlichen Erklaerung aus, und ihr
ruehrender Kummer, ihre zaertliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel
genug.

Und diesen Veraenderungen zufolge kann man sich den Maffeischen Plan
ungefaehr vorstellen. Polyphontes regieret bereits fuenfzehn Jahre, und
doch fuehlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das
Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Koeniges zugetan und rechnet
auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Missvergnuegten zu
beruhigen, faellt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er traegt ihr
seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope
weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch
Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht
verhelfen koennen. Eben dringt er am schaerfsten in sie, als ein Juengling
vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstrasse ueber einem Morde
ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Juengling, hatte nichts getan,
als sein eignes Leben gegen einen Raeuber verteidiget; sein Ansehen verraet
so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, dass Merope, die
noch ausserdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl
mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koenig fuer ihn zu bitten; und der
Koenig begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermisst Merope ihren juengsten
Sohn, den sie einem alten Diener, namens Polydor, gleich nach dem Tode
ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes
Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuer seinen Vater haelt,
heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder
aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der
Landstrasse ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen
waere? So denkt sie und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene
Umstaende, durch die Bereitwilligkeit des Koenigs, den Moerder zu
begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestaerket, den man bei dem
Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, dass ihn Aegisth dem
Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls,
den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhaendigen,
wenn er erwachsen, und es Zeit sein wuerde, ihm seinen Stand zu entdecken.
Sogleich laesst sie den Juengling, fuer den sie vorher selbst gebeten, an
eine Saeule binden und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstossen. Der
Juengling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Eltern; ihm entfaehrt
der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort
sorgfaeltig zu vermeiden; Merope verlangt hierueber Erklaerung: indem koemmt
der Koenig dazu, und der Juengling wird befreiet. So nahe Merope der
Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfaellt sie wiederum darein zurueck,
als sie siehet, wie hoehnisch der Koenig ueber ihre Verzweiflung triumphiert.
Nun ist Aegisth unfehlbar der Moerder ihres Sohnes, und nichts soll ihn
vor ihrer Rache schuetzen. Sie erfaehrt mit einbrechender Nacht, dass er in
dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und koemmt mit einer Axt, ihm den
Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als
ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen und
den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme faellt. Aegisth erwacht
und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem
vermeinten Moerder ihres Sohnes. Sie will ihm nach und wuerde ihn leicht
durch ihre stuermische Zaertlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie
der Alte nicht auch hiervon zurueckgehalten haette. Mit fruehem Morgen soll
ihre Vermaehlung mit dem Koenige vollzogen werden; sie muss zu dem Altare,
aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat
Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den
Tempel, draenget sich durch das Volk, und--das uebrige wie bei dem Hyginus.


----Fussnote

[1] In der 184. Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzaehlung genommen,
sind offenbar Begebenheiten ineinander geflossen, die nicht die geringste
Verbindung unter sich haben. Sie faengt an mit dem Schicksale des Pentheus
und der Agave und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar
nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen
koennen; es waere denn, dass sie sich bloss in derjenigen Ausgabe, welche ich
vor mir habe (Johannis Schefferi, Hamburgi 1674), befaende. Diese
Untersuchung ueberlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat.
Genug, dass hier, bei mir, die 184. Fabel mit den Worten: quam Licoterses
excepit, aus sein muss. Das uebrige macht entweder eine besondere Fabel,
von der die Anfangsworte verloren gegangen, oder gehoeret, welches mir das
Wahrscheinlichste ist, zu der 137., so dass, beides miteinander verbunden,
ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137. oder zu
der 184. machen wollen, folgendermassen zusammenlegen wurde. Es versteht
sich, dass in der letztern die Worte: cum qua Polyphontes, occiso
Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnoetige Wiederholung, mitsamt dem
darauffolgenden ejus, welches auch so schon ueberfluessig ist, wegfallen
muesste. Merope.

[2] Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum
interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem
infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem
in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat,
aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem
aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem.
Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis
interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in
hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem
obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad
Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope
credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum
cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex
cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit,
occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum
Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso
simulavit se hostiam percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum
adeptus est.

----Fussnote




Einundvierzigstes Stueck
Den 18. September 1767

Je schlechter es zu Anfange dieses Jahrhunderts mit dem italienischen
Theater ueberhaupt aussahe, desto groesser war der Beifall und das
Zujauchzen, womit die "Merope" des Maffei aufgenommen wurde.

    Cedite Romani scriptores, cedite Graii,
    Nescio quid majus nascitur Oedipode:

schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon
gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast
kein anderes Stueck gespielt als "Merope"; die ganze Welt wollte die neue
Tragoedie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbuehnen fanden sich
darueber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in
sechzehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreissig Ausgaben, in und
ausser Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie
ward ins Franzoesische, ins Englische, ins Deutsche uebersetzt; und man
hatte vor, sie mit allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu lassen.
Ins Franzoesische war sie bereits zweimal uebersetzt, als der Herr von
Voltaire sich nochmals daruebermachen wollte, um sie auch wirklich auf die
franzoesische Buehne zu bringen. Doch er fand bald, dass dieses durch eine
eigentliche Uebersetzung nicht geschehen koennte, wovon er die Ursachen in
dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen "Merope"
vorsetzte, umstaendlich angibt.

Der Ton, sagt er, sei in der italienischen "Merope" viel zu naiv und
buergerlich, und der Geschmack des franzoesischen Parterrs viel zu fein,
viel zu verzaertelt, als dass ihm die blosse simple Natur gefallen koenne. Es
wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zuegen der Kunst sehen;
und diese Zuege muessten zu Paris weit anders als zu Verona sein. Das ganze
Schreiben ist mit der aeussersten Politesse abgefasst; Maffei hat nirgends
gefehlt; alle seine Nachlaessigkeiten und Maengel werden auf die Rechnung
seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schoenheiten,
aber leider nur Schoenheiten fuer Italien. Gewiss, man kann nicht hoeflicher
kritisieren! Aber die verzweifelte Hoeflichkeit! Auch einem Franzosen wird
sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet.
Die Hoeflichkeit macht, dass wir liebenswuerdig scheinen, aber nicht gross;
und der Franzose will ebenso gross, als liebenswuerdig scheinen.

Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire?
Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei
ebensoviel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte.
Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist
schade, dass eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat und uebrigens so
unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich
Lindelle: wer einen franzoesischen Januskopf sehen will, der vorne auf die
einschmeichelndste Weise laechelt und hinten die haemischsten Grimassen
schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich moechte keinen
geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Hoeflichkeit bleibet
Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht
schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener haette freimuetiger, und
dieser gerechter sein muessen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten
sollte, dass der naemliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden
Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen
vergeben habe.

Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, dass er
einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug
gehabt, eine Tragoedie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze
Intrige auf der Liebe einer Mutter beruhe und das zaertlichste Interesse
aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm
beliebt, dass die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlauben
wollen, von den leichtesten natuerlichsten Mitteln, welche die Umstaende
zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die
Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr
hat unstreitig sehr unrecht, wenn es seit dem koeniglichen Ringe, ueber den
Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem
Theater mehr hoeren will;[1] wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung seine
Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt,
zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der
Person, verbunden hat. Es hat sehr unrecht, wenn es nicht will, dass ein
junger Mensch, der sich fuer den Sohn gemeiner Eltern haelt und in dem
Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord
veruebt, demohngeachtet nicht soll fuer einen Raeuber gehalten werden
duerfen, weil es voraussieht, dass er der Held des Stueckes werden muesse,
[2] wenn es beleidiget wird, dass man einem solchen Menschen keinen
kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Faehndrich in des Koenigs Armee
sei, der nicht de belles nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich,
hat in diesen und aehnlichen Faellen unrecht; aber warum muss Voltaire auch
in andern Faellen, wo es gewiss nicht unrecht hat, dennoch lieber ihm als
dem Maffei unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die franzoesische
Hoeflichkeit gegen Auslaender darin besteht, dass man ihnen auch in solchen
Stuecken recht gibt, wo sie sich schaemen muessten, recht zu haben, so weiss
ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanstaendiger sein
kann, als diese franzoesische Hoeflichkeit. Das Geschwaetz, welches Maffei
seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von praechtigen Kroenungen,
denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in
den Mund legt, wenn das Interesse aufs hoechste gestiegen und die
Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschaeftiget ist:
dieses nestorische, aber am unrechten Orte nestorische Geschwaetz kann
durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen
kultivierten Voelkern entschuldiget werden; hier muss der Geschmack ueberall
der naemliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern
hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht ebensowohl dabei gaehnet und
darueber unwillig wird, als der Franzose. "Sie haben", sagt Voltaire zu
dem Marquis, "in Ihrer Tragoedie jene schoene und ruehrende Vergleichung
des Virgils:

    Qualis populea moerens Philomela sub umbra
    Amissos queritur foetus--

uebersetzen und anbringen duerfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen
wollte, so wuerde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben
nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen muessen; ich
meine unser Publikum. Dieses verlangt, dass in der Tragoedie ueberall der
Held und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, dass bei
kritischen Vorfaellen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen
Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr kein Koenig, kein Minister
poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn dieses
Publikum etwas Unrechtes, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte
nicht jedes Publikum ebendieses verlangen? ebendieses meinen? Ein
Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muss
Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publico machen
wollen, weil er nicht Freimuetigkeit genug hat, dem Dichter geradeheraus
zu sagen, dass er hier und an mehrern Stellen luxuriere und seinen eignen
Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, dass ausfuehrliche
Gleichnisse ueberhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem
Trauerspiele finden koennen, haette er anmerken sollen, dass jenes
Virgilische von dem Maffei aeusserst gemissbrauchet worden. Bei dem Virgil
vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem
Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der ueber das Unglueck, wovon
es das Bild sein soll, triumphieret, und muesste nach der Gesinnung des
Polyphonts mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere und auf
das Ganze noch groessern Einfluss habende Fehler scheuet sich Voltaire
nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener ueberhaupt, als einem einzeln
Dichter aus ihnen zur Last zu legen, und duenkt sich von der allerfeinsten
Lebensart, wenn er den Maffei damit troestet, dass es seine ganze Nation
nicht besser verstehe, als er; dass seine Fehler die Fehler seiner Nation
waeren; dass aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler waeren,
weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuer sich gut oder
schlecht sei, sondern was die Nation dafuer wolle gelten lassen. "Wie
haette ich es wagen duerfen", faehrt er mit einem tiefen Buecklinge, aber
auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis
fort, "blosse Nebenpersonen so oft miteinander sprechen zu lassen, als Sie
getan haben? Sie dienen bei Ihnen, die interessanten Szenen zwischen den
Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugaenge zu einem schoenen
Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem
Palaste befinden. Wir muessen uns also schon nach dem Geschmacke eines
Volks richten, welches sich an Meisterstuecken sattgesehen hat und also
aeusserst verwoehnt ist." Was heisst dieses anders, als: "Mein Herr Marquis,
Ihr Stueck hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnuetze Szenen. Aber
es sei fern von mir, dass ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte!
Behuete der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiss zu leben; ich werde
niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben
Sie diese kalten, langweiligen, unnuetzen Szenen mit Vorbedacht, mit allem
Fleisse gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich
wuenschte, dass ich auch so wohlfeil davonkommen koennte; aber leider ist
meine Nation so weit, so weit, dass ich noch viel weiter sein muss, um
meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr
einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr
uebersieht"--Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen;
denn sonst,

Desinit in piscem mulier formosa superne:

aus der Hoeflichkeit wird Persiflage (ich brauche dieses franzoesische
Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen), und aus der
Persiflage dummer Stolz.


----Fussnote

[1] Je n'ai pu me servir, comme Mr. Maffei, d'un anneau, parce que
depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela
semblerait trop petit sur notre theatre.

[2] Je n'oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur,
quoique la circonstance ou il se trouve autorise cette meprise.

----Fussnote




Zweiundvierzigstes Stueck
Den 22. September 1767

Es ist nicht zu leugnen, dass ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire
als Eigentuemlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an
seinem Vorgaenger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen
Nation ueberhaupt zur Last zu legen, dass, sage ich, diese, und noch
mehrere, und noch groessere, sich in der "Merope" des Maffei befinden.
Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit
vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der beruehmtesten
Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen
fuer das eigentliche Genie, welches zur Tragoedie erfodert wird, wenig oder
nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und
Altertuemer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung fuer das
tragische Genie sind. Er war unter Kirchenvaeter und Diplomen vergraben
und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche
Veranlassung, seine "Merope" vor die Hand nahm, und sie in weniger als
zwei Monaten zustande brachte. Wenn dieser Mann unter solchen
Beschaeftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstueck gemacht haette, so
muesste er der ausserordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragoedie
ueberhaupt ist ein sehr geringfuegiges Ding. Was indes ein Gelehrter von
gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr fuer eine Erholung als fuer
eine Arbeit ansieht, die seiner wuerdig waere, leisten kann, das leistete
auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als gluecklich;
seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder
nach bekannten Vorbildern in Buechern, als nach dem Leben geschildert;
sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefuehl; der Literator und der
Versifikateur laesst sich ueberall spueren, aber nur selten das Genie und
der Dichter.

Als Versifikateur laeuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr
nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaelde, die in
seinem Munde nicht genug bewundert werden koennten, aber in dem Munde
seiner Personen unertraeglich sind und in die laecherlichsten
Ungereimtheiten ausarten. So ist es z.E. zwar sehr schicklich, dass
Aegisth seinen Kampf mit dem Raeuber, den er umgebracht, umstaendlich
beschreibet, denn auf diesen Umstaenden beruhet seine Verteidigung; dass er
aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluss geworfen zu haben bekennet,
alle, selbst die allerkleinsten Phaenomena malet, die den Fall eines
schweren Koerpers ins Wasser begleiten, wie er hineinschiesst, mit welchem
Geraeusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie
sich die Flut wieder ueber ihn zuschliesst:[1] das wuerde man auch nicht
einmal einem kalten geschwaetzigen Advokaten, der fuer ihn spraeche,
verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet und sein
Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als dass er
in seiner Erzaehlung so kindisch genau sein koennte.

Als Literator hat er zu viel Achtung fuer die Simplizitaet der alten
griechischen Sitten und fuer das Kostuem bezeugt, mit welchem wir sie bei
dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas,
ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostueme naeher gebracht
werden muss, wenn es der Ruehrung im Trauerspiele nicht mehr schaedlich als
zutraeglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schoene Stellen aus
den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was fuer einer
Art von Werken er sie entlehnt und in was fuer eine Art von Werken er sie
uebertraegt. Nestor ist in der Epopee ein gespraechiger freundlicher Alte;
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoedie ein alter ekler
Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haette folgen
wollen: so wuerde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht
haben. Er haette es sodann fuer seine Schuldigkeit geachtet, alle die
kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes uebrig sind, zu nutzen und
seinem Werke getreulich einzuflechten.[2] Wo er also geglaubt haette, dass
sie sich hinpassten, haette er sie als Pfaehle aufgerichtet, nach welchen
sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen muessen. Welcher
pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprueche, womit man
seine Luecken fuellet, so sind es andere.

Demohngeachtet moechten sich wiederum Stellen finden, wo man wuenschen
duerfte, dass sich der Literator weniger vergessen haette. Z.E. Nachdem die
Erkennung vorgegangen und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal
gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so laesst er die Ismene voller
Erstaunen ausrufen: "Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie
jemals auf einer Buehne erdichtet worden!"

    Con cosi strani avvenimenti uom' forse
    Non vide mai favoleggiar le scene.

Maffei hat sich nicht erinnert, dass die Geschichte seines Stuecks in eine
Zeit faellt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem
Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich wuerde
diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede
entschuldigen zu muessen glaubte, dass er den Namen Messene zu einer Zeit
brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil
Homer keiner erwaehne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten
halten, wie er will; nur verlangt man, dass er sich immer gleichbleibet
und dass er sich nicht einmal ueber etwas Bedenken macht, worueber er ein
andermal kuehnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, dass er den Anstoss
vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen.
Ueberhaupt wuerden mir die angefuehrten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch
keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles
vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald
sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob
Maffei die Illusion eher noch bestaerken wollen, indem er das Theater
ausdruecklich ausser dem Theater annehmen laesst; doch die blossen Worte
"Buehne" und "erdichten" sind der Sache schon nachteilig und bringen uns
geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen
Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung
Vorstellungen entgegenzusetzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht
es des Grades der Taeuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.

Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach
seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnuegt, was ihm sein Stoff von
selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist
ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Wuerde; da ist so
viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude
des Harlekins, zu dulden waere; alles wimmelt von Ungereimtheiten und
Schulschnitzern. "Mit einem Worte", schliesst er, "das Werk des Maffei
enthaelt einen schoenen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stueck. Alle Welt
koemmt in Paris darin ueberein, dass man die Vorstellung desselben nicht
wuerde haben aushalten koennen; und in Italien selbst wird von verstaendigen
Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen
Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragoedie zu
uebersetzen; er konnte leichter einen Uebersetzer bezahlen, als sein Stueck
verbessern."

So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Luegen, so finden sich auch
selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stuecken
wider den Maffei recht, und moechte er doch hoeflich oder grob sein, wenn
er sich begnuegte, ihn bloss zu tadeln. Aber er will ihn unter die Fuesse
treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke.
Er schaemt sich nicht, offenbare Luegen zu sagen, augenscheinliche
Verfaelschungen zu begehen, um nur ein recht haemisches Gelaechter
aufschlagen zu koennen. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer
in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder
treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei
Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum
Teil gefuehlt zu haben und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an
Lindellen den Maffei in allen Stuecken zu verteidigen, in welchen er sich
zugleich mitverteidigen zu muessen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit
sich selbst, duenkt mich, fehlt das interessanteste Stueck; die Antwort des
Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire haette mitteilen
wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei
zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum
die Eigentuemlichkeiten des franzoesischen Geschmacks ins Licht zu stellen,
ihm zu zeigen, warum die franzoesische "Merope" ebensowenig in Italien, als
die italienische in Frankreich gefallen koenne?--


----Fussnote

[1]
    ------In core
    Pero mi venne di lanciar nel fiume
    Il morto, o semivivio; e con fatica
    (Ch' inutil' era per riuscire, e vana)
    L' alzai da terra, e in terra rimaneva
    Una pozza di sangue: a mezzo il ponte
    Portailo in fretta, di vermiglia striscia
    Sempre rigando il suol; quinci cadere
    Col capo in giu il lasciai; piombo, e gran tonfo
    S' udi nel profondarsi: in alto salse
    Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse.

[2] Non essende dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia
d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que'
sentimenti di essa, che son rimasti qua e la; avendone tradotti cinque
versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e
alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso
Stobeo.

----Fussnote




Dreiundvierzigstes Stueck
Den 25. September 1767

So etwas laesst sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich
selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben koennten.

Lindern, vors erste, liesse sich der Tadel des Lindelle fast in allen
Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump
gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z.E., Aegisth,
wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: "O mein alter Vater!"
und die Koenigin werde durch dieses Wort "alter Vater" so geruehret, dass
sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth koenne
wohl ihr Sohn sein. "Ist das nicht", setzt er hoehnisch hinzu, "eine sehr
gegruendete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, dass
ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei", faehrt er fort, "hat mit
diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler
verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stueckes begangen
hatte. Aegisth rief da: 'Ach, Polydor, mein Vater!' Und dieser Polydor
war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen
Polydor haette die Koenigin gar nicht mehr zweifeln muessen, dass Aegisth ihr
Sohn sei; und das Stueck waere ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar
weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit groeberer eingenommen."
Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen
Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die
Rede. Die Koenigin stutzt bloss bei dem Namen Polydor, der den Aegisth
gewarnet habe, ja keinen Fuss in das messenische Gebiete zu setzen. Sie
gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloss naehere Erklaerung,
und ehe sie diese erhalten kann, koemmt der Koenig dazu. Der Koenig laesst den
Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht
worden, billiget und ruehmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen
verspricht, so muss wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurueckfallen.
Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er
ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluss muss notwendig bei ihr mehr gelten,
als ein blosser Name. Sie bereuet es nunmehr auch, dass sie eines blossen
Namens wegen, den ja wohl mehrere fuehren koennen, mit der Vollziehung ihrer
Rache gezaudert habe:

    Che dubitar? misera, ed io da un nome
    Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
    Altri aver non potesse--

und die folgenden Aeusserungen des Tyrannen koennen sie nicht anders als in
der Meinung vollends bestaerken, dass er von dem Tode ihres Sohnes die
allerzuverlaessigste, gewisseste Nachricht haben muesse. Ist denn das also
nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muss ich gestehen,
dass ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal fuer sehr noetig halte.
Lasst es den Aegisth immerhin sagen, dass sein Vater Polydor heisse! Ob es
sein Vater oder sein Freund war, der so hiesse und ihn vor Messene warnte,
das nimmt einander nicht viel. Genug, dass Merope, ohne alle Widerrede,
das fuer wahrscheinlicher halten muss, was der Tyrann von ihm glaubet, da
sie weiss, dass er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das,
was sie aus der blossen Uebereinstimmung eines Namens schliessen koennte.
Freilich, wenn sie wuesste, dass sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei
der Moerder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung
gruende, so waere es etwas anders. Aber dieses weiss sie nicht; vielmehr hat
sie allen Grund, zu glauben, dass er seiner Sache werde gewiss sein.--Es
versteht sich, dass ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum
nicht fuer schoen ausgebe; der Poet haette unstreitig seine Anlage viel
feiner machen koennen. Sondern ich will nur sagen, dass auch so, wie er sie
gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und
dass es gar wohl moeglich und wahrscheinlich ist, dass Merope in ihrem
Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen
Versuch, sie zu vollziehen, wagen koennen. Worueber ich mich also
beleidiget finden moechte, waere nicht dieses, dass sie zum zweitenmale
ihren Sohn als den Moerder ihres Sohnes zu ermorden koemmt, sondern dieses,
dass sie zum zweitenmale durch einen gluecklichen ungefaehren Zufall daran
verhindert wird. Ich wuerde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch
nicht eigentlich nach den Gruenden der groessern Wahrscheinlichkeit sich
bestimmen liesse; denn die Leidenschaft, in der sie ist, koennte auch den
Gruenden der schwaechern das Uebergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm
nicht verzeihen, dass er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und
mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den
gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Dass der Zufall einmal der Mutter
einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel
lieber glauben, je mehr uns die Ueberraschung gefaellt. Aber dass er zum
zweiten Male die naemliche Uebereilung auf die naemliche Weise verhindern
werde, das sieht dem Zufalle nicht aehnlich; ebendieselbe Ueberraschung
wiederholt, hoert auf, Ueberraschung zu sein; ihre Einfoermigkeit
beleidiget, und wir aergern uns ueber den Dichter, der zwar ebenso
abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiss, als
der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsaetzlichen Verfaelschungen des Lindelle
will ich nur zwei anfuehren.--"Der vierte Akt", sagt er, "faengt mit einer
kalten und unnoetigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der
Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiss selbst nicht wie,
dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu
begeben, damit, wenn er eingeschlafen waere, ihn die Koenigin mit aller
Gemaechlichkeit umbringen koenne. Er schlaeft auch wirklich ein, so wie er
es versprochen hat. O schoen! und die Koenigin koemmt zum zweiten Male,
mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der
ausdruecklich deswegen schlaeft. Diese naemliche Situation, zweimal
wiederholt verraet die aeusserste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des
jungen Menschen ist so laecherlich, dass in der Welt nichts laecherlicher
sein kann." Aber ist es denn auch wahr, dass ihn die Vertraute zu diesem
Schlafe beredet? Das luegt Lindelle.[1] Aegisth trifft die Vertraute an
und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Koenigin so
ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles
sagen; aber ein wichtiges Geschaefte rufe sie itzt woanders hin; er solle
einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein.
Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Koenigin in die Haende
zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und
Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schlaeft, nicht seinem
Versprechen nach, sondern schlaeft, weil er muede ist, weil es Nacht ist,
weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen koennen als
hier.[2]--Die zweite Luege des Lindelle ist von eben dem Schlage.
"Merope", sagt er, "nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres
Sohnes verhindert, fragt ihn, was fuer eine Belohnung er dafuer verlange;
und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjuengen." Bittet sie, ihn zu
verjuengen? "Die Belohnung meines Dienstes", antwortet der Alte, "ist
dieser Dienst selbst; ist dieses, dass ich dich vergnuegt sehe. Was
koenntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts.
Eines moechte ich mir wuenschen, aber das stehet weder in deiner; noch in
irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewaehren; dass mir die Last meiner
Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wuerde usw."[3] Heisst das:
Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Staerke und Jugend wieder? Ich
will gar nicht sagen, dass eine solche Klage ueber die Ungemaechlichkeiten
des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen
in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit
Wahnwitz? Und mussten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten
Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den
Mund legte, die Lindelle ihnen anluegt?--Anluegt! Luegen! Verdienen solche
Kleinigkeiten wohl so harte Worte?--Kleinigkeiten? Was dem Lindelle
wichtig genug war, darum zu luegen, soll das einem dritten nicht wichtig
genug sein, ihm zu sagen, dass er gelogen hat?--


----Fussnote

[1] Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle
sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais
comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand
il sera endormi, la reine puisse le tuer tout a son aise, sondern auch
der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Merope engage le jeune
Egiste a dormir sur la scene, afin de donner le temps a la reine de venir
l'y assassiner. Was aus dieser Uebereinstimmung zu schliessen ist, brauche
ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Luegner mit sich selbst
ueberein; und wenn zwei Luegner miteinander uebereinstimmen, so ist es gewiss
abgeredete Karte.

[2]
    Egi. Ma di tanto furor, di tanto affanno
      Qual' ebbe mai cagion?--
    Ism. Il tutto
      Scoprirti io non ricuso; ma egli e d'uopo
      Che qui t'arresti per brev' ora: urgente
      Cura or mi chiama altrove.
    Egi. Io volontieri
      T'attendo quanto vuoi. Ism. Ma non partire
      E non far si, ch' io qua ritorni indarno.
    Egi. Mia fe do in pegno; e dove gir dovrei?--


    [3]
    Mer. Ma quale, o mio fedel, qual potro io
      Darti gia mai merce, che i merti agguagli?
    Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora
      M'e, il vederti contenta, ampia mercede.
      Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro
      Sol mi saria cio, ch' altri dar non puote;
      Che scemato mi fosse il grave incarco
      De gli anni, che mi sta su'l capo, e a terra
      Il curva, e prime si, che parmi un monte.--

----Fussnote




Vierundvierzigstes Stueck
Den 29. September 1767

Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den
Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.

Ich uebergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fuehlte,
dass der Wurf auf ihn zurueckpralle.--Lindelle hatte gesagt, dass es sehr
schwache und unedle Merkmale waeren, aus welchen Merope bei Maffei
schliesse, dass Aegisth der Moerder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet:
"Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, das Maffei es viel
kuenstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, dass ihr
Sohn der Moerder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu
bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem koeniglichen Ringe, ueber
den Boileau in seinen Satiren spottet, wuerde das auf unserm Theater sehr
klein scheinen." Aber musste denn Voltaire eben eine alte Ruestung anstatt
des Ringes waehlen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn,
auch die Ruestung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn
er erwachsen waere, sich keine neue Ruestung kaufen duerfe und sich mit der
alten seines Vaters behelfen koenne? Der vorsichtige Alte! Liess er sich
nicht auch ein paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah
es, damit Aegisth einmal an dieser Ruestung erkannt werden koenne? So eine
Ruestung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienruestung, die
Vulkan selbst dem Grossgrossvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche
Ruestung? Oder wenigstens mit schoenen Figuren und Sinnbildern versehen,
an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder
erkannten? Wenn das ist: so musste sie der Alte freilich mitnehmen; und
der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, dass er unter den
blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht
haette, auch zugleich an eine so nuetzliche Moebel dachte. Wenn Aegisth
schon das Reich seines Vaters verlor, so musste er doch nicht auch die
Ruestung seines Vaters verlieren, in der er jenes wiedererobern konnte.
--Zweitens hatte sich Lindelle ueber den Polyphont des Maffei aufgehalten,
der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische
das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: "Weder Maffei noch
ich haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus
Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des
Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, dass ich einen solchen Fehler fuer sehr
gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, betraechtlich
ist." Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande
eben hat Maffei den Stoff veraendert. Was brauchte Voltaire diese
Veraenderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe?--

Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine aehnliche Ruecksicht auf
sich selbst haette nehmen koennen: aber welcher Vater sieht alle Fehler
seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar
nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, dass er nicht der
Vater ist. Gesetzt also, ich waere dieser Fremde!

Lindelle wirft dem Maffei vor, dass er seine Szenen oft nicht verbinde,
dass er das Theater oft leer lasse, dass seine Personen oft ohne Ursache
auftreten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heutzutage auch
dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe.--Wesentliche Fehler dieses?
Doch das ist die Sprache der franzoesischen Kunstrichter ueberhaupt; die
muss ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen
will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein moegen; wollen
wir es Lindellen auf sein Wort glauben, dass sie bei den Dichtern seines
Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der groessten
Regelmaessigkeit ruehmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln
eine solche Ausdehnung geben, dass es sich kaum mehr der Muehe verlohnet,
sie als Regeln vorzutragen oder sie auf eine solche linke und gezwungene
Art beobachten, dass es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen,
als gar nicht.[1] Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln
der Kunst so leicht, so weit zu machen, dass er alle Freiheit behaelt, sich
zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer
und macht so aengstliche Verdrehungen, dass man meinen sollte, jedes Glied
von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Ueberwindung,
ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es
bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern noch so sehr Mode ist, es fast
aus keinem andern als aus diesem zu betrachten; da es der ist, aus welchem
die Bewunderer des franzoesischen Theaters das lauteste Geschrei erheben:
so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit
einstimme.

1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich
anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den
Grundsaetzen und Beispielen der Alten, ein Hedelin verlangen zu koennen
glaubte. Die Szene muss kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des
Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und ebendemselben Standorte zu
uebersehen faehig ist. Ob sie ein ganzer Palast oder eine ganze Stadt oder
eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch
schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein
ausdrueckliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung und
wollte, dass eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei.
Wenn er seine besten Stuecke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so
musste er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das
muss Voltairen recht sein. Ich sage also nichts dagegen, dass eigentlich
die Szene bald in dem Zimmer der Koenigin, bald in dem oder jenem Saale,
bald in dem Vorhofe, bald nach dieser, bald nach einer andern Aussicht
muss gedacht werden. Nur haette er bei diesen Abwechselungen auch die
Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie muessen nicht
in dem naemlichen Akte, am wenigsten in der naemlichen Szene angebracht
werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muss durch diesen ganzen
Akt dauern; und ihn vollends in ebenderselben Szene abaendern oder auch
nur erweitern oder verengern, ist die aeusserste Ungereimtheit von der
Welt.--Der dritte Akt der "Merope" mag auf einem freien Platze, unter
einem Saeulengange oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das
Grabmal des Kresphontes zu sehen, an welchem die Koenigin den Aegisth mit
eigener Hand hinrichten will: Was kann man sich armseliger vorstellen,
als dass, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth
wegfuehret, diese Vertiefung hinter sich zuschliessen muss? Wie schliesst er
sie zu? Faellt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen
Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaengen ueberhaupt sagt, gepasst
hat, so ist es auf diesen;[2] besonders wenn man zugleich die Ursache
erwaegt, warum Aegisth so ploetzlich abgefuehrt, durch diese Maschinerie so
augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muss, von der ich hernach
reden will.--Ebenso ein Vorhang wird in dem fuenften Akte aufgezogen. Die
ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der
siebenten erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um
einen toten Koerper in einem blutigen Rocke sehen zu koennen. Durch welches
Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen,
die Tueren dieses Tempels oeffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal
mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in
denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Koeniglichen
Majestaet Schlosskapelle, die gerade an den Saal stiess und mit ihm
Kommunikation hatte, damit Allerhoechstdieselben jederzeit trocknes Fusses
zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses
Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen;
wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat und
ja den kuerzesten Weg nehmen muss, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat
schon vollbracht haben soll.


----Fussnote

[1] Dieses war zum Teil schon das Urteil unsers Schlegels. "Die Wahrheit
zu gestehen", sagt er in seinen Gedanken zur Aufnahme des daenischen
Theaters, "beobachten die Englaender, die sich keiner Einheit des Ortes
ruehmen, dieselbe grossenteils viel besser als die Franzosen, die sich
damit viel wissen, dass sie die Regeln des Aristoteles so genau
beobachten. Darauf koemmt gerade am allerwenigsten an, dass das Gemaelde der
Szenen nicht veraendert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum
die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden und nicht
vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine
Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers auffuehrt, wo kurz
vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause waere, in aller
Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne
dass dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird;
kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten
kommen, um auf die Schaubuehne zu treten: so wuerde der Verfasser des
Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte 'der Schauplatz ist
ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu
setzen: 'der Schauplatz ist auf dem Theater'. Oder, im Ernste zu reden,
es wuerde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche
der Englaender die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern
verlegt und also den Zuschauer seinem Helden nachgefuehret haette, als dass
er seinem Helden die Muehe macht, den Zuschauern zu Gefallen an einen
Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat."

[2] On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les
Acteurs paraissent ei disparaissent selon la necessite du Sujet--ces
rideaux ne sont bons qu'a faire des couvertures pour berner ceux qui les
ont inventes, et ceux qui les approuvent. Pratique du Theatre. Liv.
II. chap. 6.

----Fussnote




Fuenfundvierzigstes Stueck
Den 2. Oktober 1767

2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit
der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner
"Merope" vorgehen laesst, an einem Tage geschehen, und sage, wieviel
Ungereimtheiten man sich dabei denken muss. Man nehme immer einen
voelligen, natuerlichen Tag; man gebe ihm immer die dreissig Stunden, auf
die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar
keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem
Zeitraume nicht haetten geschehen koennen; aber desto mehr moralische. Es
ist freilich nicht unmoeglich, dass man innerhalb zwoelf Stunden um ein
Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders wenn man
es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht,
verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die
allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen?
Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch
soll uns, was bloss physikalischer Weise moeglich ist, denn wahrscheinlich
werden? Der Staat will sich einen Koenig waehlen; Polyphont und der
abwesende Aegisth koennen allein dabei in Betrachtung kommen; um die
Ansprueche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben
heiraten; an ebendemselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr
den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich und faellt fuer ihn
aus; Polyphont ist also Koenig, und man sollte glauben, Aegisth moege
nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwaehlte Koenig koenne es vors
erste mit ihm ansehen. Nichts weniger; er bestehet auf der Heirat, und
bestehet darauf, dass sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben
des Tages, an dem er Meropen zum ersten Male seine Hand angetragen; eben
des Tages, da ihn das Volk zum Koenige ausgerufen. Ein so alter Soldat,
und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik.
Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so
zu misshandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht
Koenig war, als sie glauben musste, dass ihn ihre Hand vornehmlich auf den
Thron verhelfen sollte; aber nun ist er Koenig und ist es geworden, ohne
sich auf den Titel ihres Gemahls zu gruenden; er wiederhole seinen Antrag,
und vielleicht gibt sie es naeher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu
vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewoehnen, ihn
als ihresgleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu
noetig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen?
Wird es ihren Anhaengern unbekannt bleiben, dass sie gezwungen worden?
Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu muessen glauben? Werden sie
nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten und in
seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben sich fuer
verbunden achten? Vergebens, dass das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer
funfzehn Jahr sonst so bedaechtig zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun
selbst in die Haende liefert und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne
alle Ansprueche zu besitzen, anbietet, das weit kuerzer, weit unfehlbarer
ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muss geheiratet
sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue Koenig will bei der
alten Koenigin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man
sich etwas Komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn dass es
einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen koenne,
wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also
dem Dichter, dass die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer
wirklichen Eraeugung ungefaehr nicht viel mehr Zeit brauchen wuerden, als
auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und dass diese Zeit mit der, welche
auf die Zwischenakte gerechnet werden muss, noch lange keinen voelligen
Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet?
Die Worte dieser Regel hat er erfuellt, aber nicht ihren Geist. Denn was
er an einem Tage tun laesst, kann zwar an einem Tage getan werden, aber
kein vernuenftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der
physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muss auch die moralische dazu
kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt dass die
Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmoeglichkeit
involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstoessig ist, weil diese
Unmoeglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z.E. in einem Stuecke
von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als
einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche
den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht
alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen koennen es
an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu
welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die
physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der
moralischen zu beobachten verstehet und sich kein Bedenken macht, diese
jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vorteil
und opfert das Wesentlichere dem Zufaelligen auf.--Maffei nimmt doch
wenigstens noch eine Nacht zu Hilfe; und die Vermaehlung, die Polyphont
der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch
ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget;
die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie
uebereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem
Koenige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil
er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfaengt.

3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde oefters die Szenen nicht, und das
Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heutzutage auch den geringsten
Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung der Szenen", sagt Corneille, "ist
eine grosse Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit
der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie
ist aber doch nur eine Zierde und keine Regel; denn die Alten haben sich
ihr nicht immer unterworfen usw." Wie? ist die Tragoedie bei den Franzosen
seit ihrem grossen Corneille so viel vollkommener geworden, dass das, was
dieser bloss fuer eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher
Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der
Tragoedie noch mehr verkennen gelernt, dass sie auf Dinge einen so grossen
Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden
ist, mag Corneille immer wenigstens ebenso glaubwuerdig sein, als
Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler
bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire
aufgehen, nach welchem er das Theater oefters laenger voll laesst, als es
bleiben sollte. Wenn z.E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Koenigin
koemmt, und die Koenigin mit der dritten Szene abgeht, mit was fuer Recht
kann Polyphont in dem Zimmer der Koenigin verweilen? Ist dieses Zimmer der
Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das
Beduerfnis des Dichters verraet sich in der vierten Szene gar zu deutlich,
in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen muessen, nur dass
wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haetten.

4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar
nicht:--und Voltaire motiviert es ebensooft falsch; welches wohl noch
schlimmer ist. Es ist nicht genug, dass eine Person sagt, warum sie koemmt,
man muss auch aus der Verbindung einsehen, dass sie darum kommen muessen.
Es ist nicht genug, dass sie sagt, warum sie abgeht, man muss auch in dem
Folgenden sehen, dass sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist
das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein blosser Vorwand
und keine Ursache. Wenn z.E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten
Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Koenigin zu versammeln, so
muesste man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch
hernach etwas hoeren. Da wir aber nichts davon zu hoeren bekommen, so ist
sein Vorgeben ein schuelerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten
besten Luegen, die dem Knaben einfaellt. Er geht nicht ab, um das zu tun,
was er sagt, sondern um, ein paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht
wiederkommen zu koennen, die der Poet durch keinen andern erteilen zu
lassen wusste. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer
Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, dass der
Altar ihrer erwarte, dass zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles
bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt
ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Kulisse
hinein, worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfaengt, und nicht etwa
seinen Unwillen aeussert, dass ihm die Koenigin nicht in den Tempel gefolgt
ist (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit), sondern
wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, ueber die er nicht hier, ueber
die er zu Hause in seinem Gemache mit ihm haette schwatzen sollen. Nun
schliesst auch der vierte Akt, und schliesst vollkommen wie der dritte.
Polyphont zitiert die Koenigin nochmals nach dem Tempel, Merope
selbst schreiet,

    Courons tous vers le temple ou m'attend mon outrage;

und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie,

    Vous venez a l'autel entrainer la victime.

Folglich werden sie doch gewiss zu Anfange des fuenften Akts in dem Tempel
sein, wo sie nicht schon gar wieder zurueck sind? Keines von beiden; gut
Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und koemmt noch
einmal wieder, und schickt auch die Koenigin noch einmal wieder.
Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten
und fuenften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen
sollte, sondern es geschieht auch, platterdings, gar nichts, und der
dritte und vierte Akt schliessen bloss, damit der vierte und fuenfte wieder
anfangen koennen.




Sechsundvierzigstes Stueck
Den 6. Oktober 1767

Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich
beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten
verstanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die
Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus
jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben wuerden, als es jene
notwendig erfordert haette, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu
gekommen waere. Da naemlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen
haben mussten und diese Menge immer die naemliche blieb, welche sich weder
weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch laenger aus denselben
wegbleiben konnte, als man gewoehnlichermassen der blossen Neugierde wegen
zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen
und ebendenselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und
ebendenselben Tag einschraenken. Dieser Einschraenkung unterwarfen sie sich
denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, dass
sie, unter neun Malen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren.
Denn sie liessen sich diesen Zwang einen Anlass sein, die Handlung selbst
so zu simplifizieren, alles Ueberfluessige so sorgfaeltig von ihr abzusondern,
dass sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein
Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am
gluecklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umstaenden der Zeit
und des Ortes verlangte.

Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen
Geschmack fanden, die durch die wilden Intrigen der spanischen Stuecke
schon verwoehnt waren, ehe sie die griechische Simplizitaet kennenlernten,
betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts nicht als Folgen jener
Einheit, sondern als fuer sich zur Vorstellung einer Handlung
unumgaengliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und
verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen muessten, als es nur
immer der Gebrauch des Chors erfordern koennte, dem sie doch gaenzlich
entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmoeglich oefters
dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren
voelligen Gehorsam aufzukuendigen nicht Mut genug hatten, ein Abkommen.
Anstatt eines einzigen Ortes fuehrten sie einen unbestimmten Ort ein,
unter dem man sich bald den, bald jenen einbilden koenne; genug, wenn
diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit auseinanderlaegen und keiner
eine besondere Verzierung beduerfe, sondern die naemliche Verzierung
ungefaehr dem einen so gut als dem andern zukommen koenne. Anstatt der
Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine
gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne
hoerte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht oefterer als einmal
zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin
ereignen, liessen sie fuer einen Tag gelten.

Niemand wuerde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich
auch so noch vortreffliche Stuecke machen; und das Sprichwort sagt, bohre
das Brett, wo es am duennsten ist.--Aber ich muss meinen Nachbar nur auch
da bohren lassen. Ich muss ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den
astigsten Teil des Brettes zeigen und schreien. da bohre mir durch! da
pflege ich durchzubohren!--Gleichwohl schreien die franzoesischen
Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stuecke der
Englaender kommen. Was fuer ein Aufhebens machen sie von der Regelmaessigkeit,
die sie sich so unendlich erleichtert haben!--Doch mir ekelt, mich bei
diesen Elementen laenger aufzuhalten.

Moechten meinetwegen Voltairens und Maffeis "Merope" acht Tage dauern und
an sieben Orten in Griechenland spielen! Moechten sie aber auch nur die
Schoenheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!

Die strengste Regelmaessigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren
nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei oefters spricht
und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat recht, ueber die
heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund
legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu raeumen; das Volk
in alle die Wollueste zu versenken, die es entkraeften und weibisch machen
koennen; die groessten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der
Gnade, ungestraft zu lassen usw., wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen
unsinnigen Weg zu regieren einschlaegt, wird er sich dessen auch ruehmen?
So schildert man die Tyrannen in einer Schuluebung; aber so hat noch
keiner von sich selbst gesprochen.[1]--Es ist wahr, so gar frostig und
wahnwitzig laesst Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber
mitunter laesst er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiss kein Mann von
dieser Art ueber die Zunge bringt. Z.E.

    --Des Dieux quelquefois la longue patience
    Fait sur nous a pas lents descendre la vengeance--

Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie
nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu
neuen Verbrechen aufmuntert:

    Eh bien, encor ce crime!--

Wie unbesonnen und in den Tag hinein er gegen Meropen handelt, habe ich
schon beruehrt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem ebenso
verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von
Anfange schildert, noch weniger aehnlich. Aegisth haette bei dem Opfer
gerade nicht erscheinen muessen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwoeren? In
den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter?
Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?[2] Er
hat sich fuer seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth
verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit
eins zu entscheiden; und diesen tollkuehnen Aegisth laesst er sich an dem
Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand faellt, ein Schwert
werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen
Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht und haelt ihn
fuer seinen Freund. Warum haette Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht
naehern duerfen? Niemand gab auf seine Bewegungen acht; der Streich war
geschehen und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen
einkommen konnte, den ersten zu raechen.

"Merope", sagt Lindelle, "wenn sie bei dem Maffei erfaehrt, dass ihr Sohn
ermordet sei, will dem Moerder das Herz aus dem Leibe reissen und es mit
ihren Zaehnen zerfleischen.[3] Das heisst, sich wie eine Kannibalin und
nicht wie eine betruebte Mutter ausdruecken; das Anstaendige muss ueberall
beobachtet werden." Ganz recht; aber obgleich die franzoesische Merope
delikater ist, als dass sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz,
beissen sollte: so duenkt mich doch, ist sie im Grunde ebensogut
Kannibalin, als die italienische.--


----Fussnote

[1] Atto III. Sc. I.

    ----Quando
    Saran da poi sopiti alquanto, e queti
    Gli animi, l'arte del regnar mi giovi.
    Per mute oblique vie n'andranno a Stige
    L'alme piu audaci, e generose. A i vizi
    I'er cui vigor si abbatte, ardir si toglie
    Il freno allarghero. Lunga clemenza
    Con pompa di pieta faro, che splenda
    Su i delinquenti; a i gran delitti invito,
    Onde restino i buoni esposti, e paghi
    Renda gl' iniqui la licenza; ed onde
    Poi fra se distruggendosi, in crudeli
    Gare private il lor furor si stempri.
    Udrai sovente risonar gli editti.
    E raddopiar le leggi, che al sovrano
    Giovan servate, e transgredite. Udrai
    Correr minaccia ognor di guerra esterna;
    Ond' io n'andro su l'atterrita plebe
    Sempre crescendo i pesi, e peregrine
    Milizie introdurro.--

[2]
    Si ce fils, tant pleure, dans Messene est produit,
    De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit.
    Crois-moi, ces prejuges de sang et de naissance
    Revivront dans les coeurs, y prendront sa defense.
    Le souvenir du pere, et cent rois pour aieux,
    Cet honneur pretendu d'etre issu de nos Dieux;
    Les cris, le desespoir d'une mere eploree.
    Detruiront ma puissance encor mal assuree.

[3]
    Quel scelerato in mio poter vorrei
    Per trarne prima, s'ebbe parte in questo
    Assassinio il tiranno; io voglio poi
    Con una scure spalancargli il petto,
    Voglio strappargli il cor, vogho co' denti
    Lacerarlo, e sbranarlo--

----Fussnote




Siebenundvierzigstes Stueck
Den 9. Oktober 1767

Und wie das?--Wenn es unstreitig ist, dass man den Menschen mehr nach
seinen Taten, als nach seinen Reden richten muss; dass ein rasches Wort, in
der Hitze der Leidenschaft ausgestossen, fuer seinen moralischen Charakter
wenig, eine ueberlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich
wohl recht haben. Merope, die sich in der Ungewissheit, in welcher sie von
dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer ueberlaesst, die immer
das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie ungluecklich ihr
abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid ueber alle Unglueckliche
erstrecket: ist das schoene Ideal einer Mutter. Merope, die in dem
Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zaertlichkeit
erfaehrt, von ihrem Schmerze betaeubt dahinsinkt, und ploetzlich, sobald sie
den Moerder in ihrer Gewalt hoeret, wieder aufspringt und tobet und wuetet
und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und
wirklich vollziehen wuerde, wenn er sich eben unter ihren Haenden befaende:
ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in
welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schoenheit und
Ruehrung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt,
Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die
Henkerin sein, nicht toeten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre
Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich
wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken;
eine Mutter, wie es jede Baerin ist.--Diese Handlung der Merope gefalle
wem da will; mir sage er es nur nicht, dass sie ihm gefaellt, wenn ich ihn
nicht ebensosehr verachten, als verabscheuen soll.

Vielleicht duerfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des
Stoffes machen; vielleicht duerfte er sagen, Merope muesse ja wohl den
Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze coup de theatre,
den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser
ehedem so sehr entzueckt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire wuerde
sich wiederum irren und die willkuerlichen Abweichungen des Maffei
abermals fuer den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, dass
Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert
nicht, dass sie es mit aller Ueberlegung tun muss. Und so scheinet sie es
auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel
des Hyginus fuer den Auszug seines Stuecks annehmen duerfen. Der Alte koemmt
und sagt der Koenigin weinend, dass ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte
sie gehoert, dass ein Fremder angelangt sei, der sich ruehme, ihn umgebracht
zu haben, und dass dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie
ergreift das erste das beste, was ihr in die Haende faellt, eilet voller
Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung
geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war
sehr simpel und natuerlich, sehr ruehrend und menschlich! Die Athenienser
zitterten fuer den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu duerfen. Sie
zitterten fuer Meropen selbst, die durch die gutartigste Uebereilung Gefahr
lief, die Moerderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber
machen mich bloss fuer den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so
ungehalten, dass ich es ihr fast goennen moechte, sie vollfuehrte den
Streich. Moechte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen,
so haette sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie
so eine blutduerstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache
in der ersten Hitze mit dem Moerder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie
ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und
verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze
zu verwuenschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz
zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der
Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Ruestung bei ihm
findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Moerder Ihres Sohnes, an
dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen,
Leibwache und Priester dazu zu Hilfe zu nehmen--O pfui, Madame! Ich muesste
mich sehr irren, oder Sie waeren in Athen ausgepfiffen worden.

Dass die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die
veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, ebensowenig ein Fehler des
Stoffes ist, habe ich schon beruehrt. Denn nach der Fabel des Hyginus
hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts
geheiratet; und es ist sehr glaublich, dass selbst Euripides diesen
Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gruende,
mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren
bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,[1] haetten sie auch vor
funfzehn Jahren dazu vermoegen koennen. Es war sehr in der Denkungsart der
alten griechischen Frauen, dass sie ihren Abscheu gegen die Moerder ihrer
Maenner ueberwanden und sie zu ihren zweiten Maennern annahmen, wenn sie
sahen, dass den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen koenne.
Ich erinnere mich etwas Aehnliches in dem griechischen Roman des
Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine
Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen traegt, auf
eine sehr ruehrende Art darueber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle
verdiente angefuehrt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand.
Genug, dass das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt,
hinreichend gewesen waere, die Auffuehrung seiner "Merope" zu rechtfertigen,
wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingefuehret haette. Die kalten
Szenen einer politischen Liebe waeren dadurch weggefallen; und ich sehe
mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch
weit lebhafter und die Situationen noch weit intriganter haetten werden
koennen.

Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei
gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, dass es einen
bessern geben koenne, dass dieser bessere eben der sei, der schon vor
Alters befahren worden, so begnuegte er sich, auf jenem ein paar
Sandsteine aus dem Gleise zu raeumen, ueber die er meinet, dass sein
Vorgaenger fast umgeschmissen haette. Wuerde er wohl sonst auch dieses von
ihm beibehalten haben, dass Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von
ungefaehr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige
Merkmale in den Verdacht kommen muss, dass er der Moerder seiner selbst sei?
Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdruecklichen
Vorsatze, sich zu raechen, nach Messene und gab sich selbst fuer den Moerder
des Aegisth aus: nur dass er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei
aus Vorsicht, oder aus Misstrauen, oder aus was sonst fuer Ursache, an der
es ihm der Dichter gewiss nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar
oben dem Maffei einige Gruende zu allen den Veraenderungen, die er mit dem
Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich
bin weit entfernt, die Gruende fuer wichtig und die Veraenderungen fuer
gluecklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, dass jeder Tritt, den
er aus den Fusstapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden.
Dass sich Aegisth nicht kennet, dass er von ungefaehr nach Messene kommt und
per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrueckt) fuer den Moerder des
Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr
verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwaecht auch
das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wusste es der Zuschauer von dem
Aegisth selbst, dass er Aegisth sei, und je gewisser er es wusste, dass
Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto groesser musste notwendig
das Schrecken sein, das ihn darueber befiel, desto quaelender das Mitleid,
welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter
Zeit verhindert wuerde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen vermuten wir
es nur, dass der vermeinte Moerder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein
koenne, und unser groesstes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick
versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhoeret. Das Schlimmste dabei
ist noch dieses, dass die Gruende, die uns in dem jungen Fremdlinge den
Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gruende sind, aus welchen es
Merope selbst vermuten sollte, und dass wir ihn, besonders bei Voltairen,
nicht in dem allergeringsten Stuecke naeher und zuverlaessiger kennen, als
sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gruenden entweder
ebensoviel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen
wir ihnen ebensoviel, so halten wir den Juengling mit ihr fuer einen
Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr
ruehren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, dass sie nicht
besser darauf merket und sich von weit seichtern Gruenden hinreissen laesst.
Beides aber taugt nicht.


----Fussnote

[1] Acte II. Sc. 1.

    --Mer. Non, mon fils ne le souffrirait pas.
      L'exil ou son enfance a langui condamnee
      Lui serait moins affreux que ce lache hymenee.
    Eur. Il le condamnerait, si, paisible en son rang,
      Il n'en croyait ici que les droits de son sang;
      Mais si par les malheurs son ame etait instruite,
      Sur ses vrais interets s'il reglait sa conduite,
      De ses tristes amis s'il consultait la voix,
      Et la necessite souveraine des loix,
      Il verrait que jamais sa malheureuse mere
      Ne lui donna d'amour une marque plus chere.
    Mer. Ah que me dites-vous? Eur. De dures verites
      Que m'arrachent mon zele et vos calamites.
    Mer. Quoi! Vous me demandez que l'interet surmonte
      Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte!
      Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs!
    Eur. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs;
      Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui resiste;
      Il est sans heritier, et vous aimez Egiste.--.

----Fussnote




Achtundvierzigstes Stueck
Den 13. Oktober 1767

Es ist wahr, unsere Ueberraschung ist groesser, wenn wir es nicht eher mit
voelliger Gewissheit erfahren, dass Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope
selbst erfaehrt. Aber das armselige Vergnuegen einer Ueberraschung! Und was
braucht der Dichter uns zu ueberraschen? Er ueberrasche seine Personen,
soviel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn
wir, was sie ganz unvermutet treffen muss, auch noch so lange
vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und staerker
sein, je laenger und zuverlaessiger wir es vorausgesehen haben.

Ich will, ueber diesen Punkt, den besten franzoesischen Kunstrichter fuer
mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stuecken", sagt Diderot,[1]
"ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den
einfachen Stuecken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des
Plans. Allein worauf muss sich das Interesse beziehen? Auf die Personen?
Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen
man nichts weiss. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben
muss. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schuerzen, ohne dass sie es
wissen; fuer diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne dass
sie es merken, der Aufloesung immer naeher und naeher. Sind diese nur in
Bewegung, so werden wir Zuschauer den naemlichen Bewegungen schon auch
nachgeben, sie schon auch empfinden muessen.--Weit gefehlt, dass ich mit
den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben,
glauben sollte, man muesse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen.
Ich daechte vielmehr, es sollte meine Kraefte nicht uebersteigen, wenn ich
mir ein Werk zu machen versetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten
Szene verraten wuerde und aus diesem Umstande selbst das allerstaerkeste
Interesse entspraenge.--Fuer den Zuschauer muss alles klar sein. Er ist der
Vertraute einer jeden Person; er weiss alles, was vorgeht, alles was
vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers
tun kann, als dass man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll.
--O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst,
und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht
hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie uebertreten kann, sooft es ihm
beliebt!--Meine Gedanken moegen so paradox scheinen, als sie wollen:
soviel weiss ich gewiss, dass fuer eine Gelegenheit, wo es nuetzlich ist, dem
Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich
ereignet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das
Gegenteil erfodert.--Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis
eine kurze Ueberraschung; und in welche anhaltende Unruhe haette er uns
stuerzen koennen, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht haette!--Wer in
einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch
nur einen Augenblick bedauern. Aber, wie steht es alsdenn mit mir, wenn
ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, dass sich das Ungewitter ueber
meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darueber
verweilet?--Meinetwegen moegen die Personen alle einander nicht kennen;
wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.--Ja, ich wollte fast behaupten,
dass der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein
undankbarer Stoff ist; dass der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu
ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie haette
entuebrigen koennen. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlass geben. Immer
werden wir uns mit Vorbereitungen beschaeftigen muessen, die entweder allzu
dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang
von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine
kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die
Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle
der allerheftigsten Bewegungen.--Warum haben gewisse Monologen eine so
grosse Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschlaege einer Person
vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder
Hoffnung erfuellet.--Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann
sich der Zuschauer fuer die Handlung nicht staerker interessieren, als die
Personen. Das Interesse aber wird sich fuer den Zuschauer verdoppeln, wenn
er Licht genug hat und es fuehlet, dass Handlung und Reden ganz anders sein
wuerden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum
erwarten koennen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie
wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann."

Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, fuer welchen von beiden
Planen sich Diderot erklaeren wuerde: ob fuer den alten des Euripides, wo
die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth ebensogut kennen, als er
sich selbst; oder fuer den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings
angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Raetsel ist und dadurch
das ganze Stueck "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht,
die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz unrecht, seine Gedanken ueber die
Entbehrlichkeit und Geringfuegigkeit aller ungewissen Erwartungen und
ploetzlichen Ueberraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, fuer
ebenso neu als gegruendet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer
Abstraktion, aber sehr alt, in Ansehung der Muster, aus welchen sie
abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, dass seine Vorgaenger
nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgaenger gehoert
weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was
ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Praedilektion fuer dieses Gegenteil
haette bestaerken koennen, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch
den besten Stuecken der Alten abgesehen hatten.

Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiss, dass er fast
immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie fuehren
wollte. Ja, ich waere sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die
Verteidigung seiner Prologen zu uebernehmen, die den neuern Kriticis so
sehr missfallen. "Nicht genug", sagt Hedelin, "dass er meistenteils alles,
was vor der Handlung des Stuecks vorhergegangen, durch eine von seinen
Hauptpersonen den Zuhoerern geradezu erzaehlen laesst, um ihnen auf diese
Weise das Folgende verstaendlich zu machen: er nimmt auch wohl oefters
einen Gott dazu, von dem wir annehmen muessen, dass er alles weiss, und
durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch
geschehen soll, uns kundmacht. Wir erfahren sonach gleich anfangs die
Entwicklung und die ganze Katastrophe und sehen jeden Zufall schon von
weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der
Ungewissheit und Erwartung, die auf dem Theater bestaendig herrschen
sollen, gaenzlich zuwider ist und alle Annehmlichkeiten des Stueckes
vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Ueberraschung
beruhen."[2] Nein. der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte
so geringschaetzig von seiner Kunst nicht; er wusste, dass sie einer weit
hoehern Vollkommenheit faehig waere, und dass die Ergoetzung einer kindischen
Neugierde das Geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er liess seine
Zuhoerer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel
wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich
die Ruehrung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was
geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich
muesste den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstoessig sein, als
nur dieses, dass er uns die noetige Kenntnis des Vergangnen und des
Zukuenftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht;
dass er ein hoeheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen
Anteil nimmt, dazu gebrauchet und dass er dieses hoehere Wesen sich
geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung
mit der erzaehlenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann
bloss hierauf einschraenkten, was waere denn ihr Tadel? Ist uns das
Nuetzliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns
verstohlnerweise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der
Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn
das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, dass wir sie
durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht?
Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen ueberhaupt? In den
Lehrbuechern sondre man sie so genau voneinander ab, als moeglich: aber
wenn ein Genie, hoeherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und
ebendemselben Werke zusammenfliessen laesst, so vergesse man das Lehrbuch
und untersuche bloss, ob es diese hoehere Absichten erreicht hat. Was geht
mich es an, ob so ein Stueck des Euripides weder ganz Erzaehlung, noch ganz
Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, dass mich dieser
Zwitter mehr vergnuegt, mehr erbauet, als die gesetzmaessigsten Geburten
eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heissen. Weil der Maulesel
weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten
lasttragenden Tieren?--


----Fussnote

[1] In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater, S. 327 die
Uebers.

[2] "Pratique du Theatre", Liv. III. chap. 1.

----Fussnote




Neunundvierzigstes Stueck
Den 16. Oktober 1767

Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu
sehen glauben, der sich aus Unvermoegen, oder aus Gemaechlichkeit, oder aus
beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als moeglich; wo sie die
dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese
in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der
im Grunde ebenso regelmaessig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es
nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stuecken eine
Schoenheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben.

Denn es ist klar, dass alle die Stuecke, deren Prologe ihnen so viel
Aergernis machen, auch ohne diese Prologe vollkommen ganz, und vollkommen
verstaendlich sind. Streichet z.E. vor dem "Ion" den Prolog des Merkurs,
vor der "Hekuba" den Prolog des Polydors weg; lasst jenen sogleich mit der
Morgenandacht des Ion und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind
beide darum im geringsten verstuemmelt? Woher wuerdet ihr, was ihr
weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da waere? Behaelt nicht
alles den naemlichen Gang, den naemlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, dass
die Stuecke, nach eurer Art zu denken, desto schoener sein wuerden, wenn wir
aus den Prologen nicht wuessten, dass der Ion, welchen Kreusa will vergiften
lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; dass die Kreusa, welche Ion von dem
Altar zu einem schmaehlichen Tode reissen will, die Mutter dieses Ion ist;
wenn wir nicht wuessten, dass an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum
Opfer hingeben muss, die alte unglueckliche Frau auch den Tod ihres letzten
einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses wuerde die trefflichsten
Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen wuerden noch dazu
vorbereitet genug sein: ohne dass ihr sagen koenntet, sie braechen auf
einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten
nicht, sondern sie entstaenden; man wolle euch nicht auf einmal etwas
entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem
Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm
doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu
machen ist. Einen wolluestigen Schoessling schneidet der Gaertner in der
Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat.
Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen,--es ist wahr, es heisst sehr
viel annehmen--dass Euripides vielleicht ebensoviel Einsicht, ebensoviel
Geschmack koenne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um soviel
mehr, wie er bei dieser grossen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke,
dennoch einen so groben Fehler begehen koennen: so tretet zu mir her und
betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es
so gut, als wir, dass z.E. sein "Ion" ohne den Prolog bestehen koenne; dass
er, ohne denselben, ein Stueck sei, welches die Ungewissheit und Erwartung
des Zuschauers bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewissheit
und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst
in dem fuenften Akte, dass Ion der Sohn der Kreusa sei: so ist es fuer ihn
nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten
Akte aus dem Wege raeumen will; so ist es fuer ihn nicht die Mutter des
Ion, an welcher sich Ion in dem vierten Akte raechen will, sondern bloss
die Meuchelmoerderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid
herkommen? Die blosse Vermutung, die sich etwa aus uebereintreffenden
Umstaenden haette ziehen lassen, dass Ion und Kreusa einander wohl naeher
angehen koennten, als sie meinen, wuerde dazu nicht hinreichend gewesen
sein. Diese Vermutung musste zur Gewissheit werden; und wenn der Zuhoerer
diese Gewissheit nur von aussen erhalten konnte, wenn es nicht moeglich war,
dass er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben
konnte: war es nicht immer besser, dass der Dichter sie ihm auf die
einzige moegliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise,
was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine
Tragoedie ist dadurch, was eine Tragoedie sein soll; und wenn ihr noch
unwillig seid, dass er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge
euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuecken, wo das Wesen der Form
aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads
"Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem
alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin
ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und
ich werde euch nie beneiden!

Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen
Dichtern nennet, so sahe er nicht bloss darauf, dass die meisten seiner
Stuecke eine unglueckliche Katastrophe haben; ob ich schon weiss, dass viele
den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststueck waere ihm ja wohl bald
abgelernt; und der Stuemper, der brav wuergen und morden und keine von
seinen Personen gesund oder lebendig von der Buehne kommen liesse, wuerde
sich ebenso tragisch duenken duerfen, als Euripides. Aristoteles hatte
unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen
Charakter erteilte; und ohne Zweifel, dass die eben beruehrte mit dazu
gehoerte, vermoege der er naemlich den Zuschauern alle das Unglueck, welches
seine Personen ueberraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer
auch dann schon mit Mitleiden fuer die Personen einzunehmen, wenn diese
Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen.
--Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher
duerfte der Meinung sein, dass der Dichter dieser Freundschaft des
Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schoenen
Sittenspruechen, den er so verschwendrisch in seinen Stuecken ausstreuet.
Ich denke, dass er ihr weit mehr schuldig war; er haette, ohne sie, ebenso
spruchreich sein koennen; aber vielleicht wuerde er, ohne sie, nicht so
tragisch geworden sein. Schoene Sentenzen und Moralen sind ueberhaupt
gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten
hoeren; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den
Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein;
in allen die ebensten und kuerzesten Wege der Natur ausforschen und lieben;
jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem
Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was
ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Gluecklich der Dichter, der so
einen Freund hat--und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!--

Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, dass es gut sein wuerde, wenn
er uns mit dem Sohn der Merope gleich anfangs bekannt machte; wenn er uns
mit der Ueberzeugung, dass der liebenswuerdige unglueckliche Juengling, den
Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Moerder ihres
Aegisth hinrichten will, der naemliche Aegisth sei, sofort koenne aussetzen
lassen. Aber der Juengling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand
da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn koennten kennen lernen.
Was tut also der Dichter? Wie faengt er es an, dass wir es gewiss wissen,
Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte
Narbas zuruft?--Oh, das faengt er sehr sinnreich an! Auf so einen
Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen!--Er laesst, sobald der
unbekannte Juengling auftritt, ueber das erste, was er sagt, mit grossen,
schoenen, leserlichen Buchstaben den ganzen, vollen Namen "Aegisth"
setzen; und so weiter ueber jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir
es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei
diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan haette, so duerften
wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht
es lang und breit! Freilich ist es ein wenig laecherlich, wenn die Person,
ueber deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen "Aegisth" gelesen haben,
auf die Frage:

    --Narbas vous est connu?
    Le nom d'Egiste au moins jusqu'a vous est venu?
    Quel etait votre etat, votre rang, votre pere?

antwortet:

    Mon pere est un vieillard accable de misere;
    Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas,
    Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.

Freilich ist es sehr sonderbar, dass wir von diesem Aegisth, der nicht
Aegisth heisst, auch keinen andern Namen hoeren; dass, da er der Koenigin
antwortet, sein Vater heisse Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heisse
so und so. Denn einen Namen muss er doch haben; und den haette der Herr von
Voltaire ja wohl schon mit erfinden koennen, da er so viel erfunden hat!
Leser, die den Rummel einer Tragoedie nicht recht gut verstehen, koennen
leicht darueber irre werden. Sie lesen, dass hier ein Bursche gebracht
wird, der auf der Landstrasse einen Mord begangen hat; dieser Bursche,
sehen sie, heisst Aegisth, aber er sagt, er heisse nicht so, und sagt doch
auch nicht, wie er heisse: oh, mit dem Burschen, schliessen sie, ist es
nicht richtig; das ist ein abgefeimter Strassenraeuber, so jung er ist, so
unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken
in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, dass es fuer die erfahrnen
Leser besser ist, auch so, gleich anfangs, zu erfahren, wie der unbekannte
Juengling ist, als gar nicht. Nur dass man mir nicht sage, dass diese Art sie
davon zu unterrichten, im geringsten kuenstlicher und feiner sei, als ein
Prolog im Geschmacke des Euripides!--




Funfzigstes Stueck
Den 20. Oktober 1767

Bei dem Maffei hat der Juengling seine zwei Namen, wie es sich gehoert;
Aegisth heisst er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn
der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur
unter jenem eingefuehrt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stuecks
als kein geringes Verdienst an, dass dieses Verzeichnis den wahren Stand
des Aegisth nicht voraus verrate.[1] Das ist, die Italiener sind von den
Ueberraschungen noch groessere Liebhaber, als die Franzosen.--

Aber noch immer "Merope"!--Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an
diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei
und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung
nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stuecke, in kleine
lustige oder ruehrende Romane gebracht; anstatt beilaeufiger
Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, naerrischer Geschoepfe, wie
die doch wohl sein muessen, die sich mit Komoedienschreiben abgeben;
anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandaloeser Anekdoten von
Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser
artigen Saechelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte,
trockne Kritiken ueber alte bekannte Stuecke; schwerfaellige Untersuchungen
ueber das, was in einer Tragoedie sein sollte und nicht sein sollte;
mitunter wohl gar Erklaerungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen?
Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angefuehrt!--Doch im
Vertrauen: besser, dass sie es sind, als ich. Und ich wuerde es sehr sein,
wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen muesste. Nicht dass ihre
Erwartungen sehr schwer zu erfuellen waeren; wirklich nicht; ich wuerde sie
vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur
besser vertragen wollten.

Ueber die "Merope" indes muss ich freilich einmal wegzukommen suchen.--Ich
wollte eigentlich nur erweisen, dass die "Merope" des Voltaire im Grunde
nichts als die "Merope" des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich
erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern
ebendieselbe Verwicklung und Aufloesung machen, dass zwei oder mehrere
Stuecke fuer ebendieselben Stuecke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire
mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit
ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier fuer weiter nichts,
als fuer den Uebersetzer und Nachahmer desselben zu erklaeren. Maffei hat
die "Merope" des Euripides nicht bloss wieder hergestellet; er hat eine
eigene "Merope" gemacht: denn er ging voellig von dem Plane des Euripides
ab; und in dem Vorsatze, ein Stueck ohne Galanterie zu machen, in welchem
das ganze Interesse bloss aus der muetterlichen Zaertlichkeit entspringe,
schuf er die ganze Fabel um; gut oder uebel, das ist hier die Frage nicht;
genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze
so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, dass Merope mit dem Polyphont
nicht vermaehlt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus
welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermaehlung
dringen zu muessen glaubet; er entlehnte von ihm, dass der Sohn der Merope
sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von
seinem vermeintlichen Vater entkoemmt; er entlehnte von ihm den Vorfall,
der den Aegisth als einen Moerder nach Messene bringt; er entlehnte von
ihm die Missdeutung, durch die er fuer den Moerder seiner selbst gehalten
wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der muetterlichen Liebe,
wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den
Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Haenden
sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte,
Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht
auch die ganze Aufloesung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei
welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung
verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und
vielleicht, dass er, bloss darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die
Verbindung mit Meropen fallen liess, um dieses Opfer desto natuerlicher
anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.

Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umstaenden, die er vom
Maffei entlehnte, eine andere Wendung. z.E. Anstatt dass, beim Maffei,
Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, laesst er die Unruhen in
Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der
unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt dass, beim Maffei,
Aegisth von einem Raeuber auf der Strasse angefallen wird, laesst er ihn in
einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten ueberfallen werden, die es
ihm uebel nehmen, dass er den Herkules fuer die Herakliden, den Gott des
Tempels fuer die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt dass beim Maffei
Aegisth durch einen Ring in Verdacht geraet, laesst Voltaire diesen Verdacht
durch eine Ruestung entstehen usw. Aber alle diese Veraenderungen betreffen
die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle ausser dem Stuecke sind
und auf die Oekonomie des Stueckes selbst keinen Einfluss haben. Und doch
wollte ich sie Voltairen noch gern als Aeusserungen seines schoepferischen
Genies anrechnen, wenn ich nur faende, dass er das, was er aendern zu muessen
vermeinte, in allen seinen Folgen zu aendern verstanden haette. Ich will
mich an dem mitte1sten von den angefuehrten Beispielen erklaeren. Maffei
laesst seinen Aegisth von einem Raeuber angefallen werden, der den
Augenblick abpasst, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern
einer Bruecke ueber die Pamise; Aegisth erlegt den Raeuber und wirft den
Koerper in den Fluss, aus Furcht, wenn der Koerper auf der Strasse gefunden
wuerde, dass man den Moerder verfolgen und ihn dafuer erkennen duerfte. Ein
Raeuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den
Beutel nehmen will, ist fuer mein feines, edles Parterr ein viel zu
niedriges Bild; besser, aus diesem Raeuber einen Missvergnuegten gemacht,
der dem Aegisth als einem Anhaenger der Herakliden zu Leibe will. Und
warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto
groesser, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem
aeltrern gemacht wird, kann hernach fuer den Narbas genommen werden. Recht
gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen
von diesen Missvergnuegten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er traegt den
toten Koerper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der
leeren Landstrasse in den nahen Fluss; das ist ganz begreiflich: aber aus
dem Tempel in den Fluss, dieses auch? War denn ausser ihnen niemand in
diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die groesste Ungereimtheit noch
nicht. Das Wie liesse sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis
Aegisth traegt den Koerper in den Fluss, weil er sonst verfolgt und erkannt
zu werden fuerchtet; weil er glaubt, wenn der Koerper beiseite geschafft
sei, dass sodann nichts seine Tat verraten koenne; dass diese sodann,
mitsamt dem Koerper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens
Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite haette nicht entkommen
muessen. Wird sich dieser begnuegen, sein Leben davongetragen zu haben?
Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten
beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn
andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was
hilft es dem Moerder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier
ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Muehe haette er
sparen und dafuer eilen sollen, je eher je lieber ueber die Grenze zu
kommen. Freilich musste der Koerper, des Folgenden wegen, ins Wasser
geworfen werden; es war Voltairen ebenso noetig als dem Maffei, dass Merope
nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden
konnte; nur dass, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er
bei jenem bloss dem Dichter zu Gefallen tun muss. Denn Voltaire korrigierte
die Ursache weg, ohne zu ueberlegen, dass er die Wirkung dieser Ursache
brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Beduerfnis abhaengt.

Eine einzige Veraenderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht
hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die naemlich, durch welche er
den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Moerder ihres
Sohnes zu raechen, unterdrueckt und dafuer die Erkennung von seiten des
Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen laesst. Hier erkenne ich
den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz
vortrefflich. Ich wuenschte nur, dass die Erkennung ueberhaupt, die in der
vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muessen das
Ansehen hat, mit mehrerer Kunst haette geteilet werden koennen. Denn dass
Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuehret wird und die Vertiefung
sich hinter ihm schliesst, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht
ein Haar besser, als die uebereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem
Maffei rettet, und ueber die Voltaire seinen Lindelle so spotten laesst.
Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natuerlicher; wenn der Dichter
nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht
gaenzlich die ersten ruehrenden Ausbrueche ihrer beiderseitigen Empfindungen
gegeneinander vorenthalten haette. Vielleicht wuerde Voltaire die Erkennung
ueberhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht haette dehnen
muessen, um fuenf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal
ueber cette longue carriere de cinq actes qui est prodigieusement
difficile a remplir sans episodes--Und nun fuer diesesmal genug von
der "Merope"!


----Fussnote

[1] Fin ne i nomi de' Personaggi si e levato quell' errore, comunissimo
alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per
conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi
messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto.

----Fussnote




Einundfunfzigstes Stueck
Den 23. Oktober 1767

Den neununddreissigsten Abend (mittewochs, den 8. Julius) wurden "Der
verheiratete Philosoph" und "Die neue Agnese" wiederholt.[1]

Chevrier sagt,[2] dass Destouches sein Stueck aus einem Lustspiele des
Campistron geschoepft habe, und dass, wenn dieser nicht seinen "Jaloux
desabuse" geschrieben haette, wir wohl schwerlich einen "Verheirateten
Philosophen" haben wuerden. Die Komoedie des Campistron ist unter uns wenig
bekannt; ich wuesste nicht, dass sie auf irgendeinem deutschen Theater waere
gespielt worden; auch ist keine Uebersetzung davon vorhanden. Man duerfte
also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem
Vorgeben des Chevrier sei.

Die Fabel des Campistronschen Stuecks ist kurz diese: Ein Bruder hat das
ansehnliche Vermoegen seiner Schwester in Haenden, und um dieses nicht
herausgeben zu duerfen, moechte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber
die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um
ihren Mann zu vermoegen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf
alle Weise eifersuechtig zu machen, indem sie verschiedne junge
Mannspersonen sehr guetig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich
um ihre Schwaegerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt;
der Mann wird eifersuechtig; und williget endlich, um seiner Frau den
vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die
Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner
Frau, dem zu Gefallen sie die Rolle der Kokette gespielt hatte. Der Mann
sieht sich berueckt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem
Ungrunde seiner Eifersucht ueberzeugt wird.

Was hat diese Fabel mit der Fabel des "Verheirateten Philosophen"
Aehnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus
dem zweiten Akte des Campistronschen Stuecks, zwischen Dorante, so heisst
der Eifersuechtige, und Dubois, seinem Sekretaer. Diese wird gleich zeigen,
was Chevrier gemeiner hat.

"Dubois. Und was fehlt Ihnen denn?

Dorante. Ich bin verdruesslich, aergerlich; alle meine ehemalige
Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat
mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhoeren wird,
mich zu martern, zu peinigen--

Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker?

Dorante. Meine Frau.

Dubois. Ihre Frau, mein Herr?

Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau.--Sie bringt mich zur
Verzweiflung.

Dubois. Hassen Sie sie denn?

Dorante. Wollte Gott! So waere ich ruhig.--Aber ich liebe sie, und
liebe sie so sehr--Verwuenschte Qual!

Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersuechtig?

Dorante. Bis zur Raserei.

Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersuechtig? Sie, der Sie von
jeher ueber alles, was Eifersucht heisst,--

Dorante. Gelacht und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran!
Ich Geck, mich von den elenden Sitten der grossen Welt so hinreissen zu
lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich ueber die
Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und
ich stimmte nicht bloss ein; es waehrte nicht lange, so gab ich den Ton.
Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was fuer albernes Zeug habe ich nicht
gesprochen! Eheliche Treue, bestaendige Liebe, pfui, wie schmeckt das
nach dem kleinstaedtischen Buerger! Der Mann, der seiner Frau nicht
allen Willen laesst, ist ein Baer! Der es ihr uebel nimmt, wenn sie auch
andern gefaellt und zu gefallen sucht, gehoert ins Tollhaus. So sprach
ich, und mich haette man da sollen ins Tollhaus schicken.--

Dubois. Aber warum sprachen Sie so?

Dorante. Hoerst du nicht? Weil ich ein Geck war und glaubte, es liesse
noch so galant und weise.--Inzwischen wollte mich meine Familie
verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Maedchen
vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben;
die soll in meiner Denkungsart nicht viel aendern; ich liebe sie itzt
nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgueltiger gegen
sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward taeglich
schoener, taeglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte
je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie--

Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden!

Dorante. Denn ich bin so eifersuechtig!--Dass ich mich schaeme, es auch
nur dir zu bekennen.--Alle meine Freunde sind mir zuwider--und
verdaechtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe
ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause
zu suchen? Was wollen die Muessiggaenger? Wozu alle die Schmeicheleien,
die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere
erhebt ihr gefaelliges Wesen bis in den Himmel. Den entzuecken ihre
himmlischen Augen, und den ihre schoenen Zaehne. Alle finden sie hoechst
reizend, hoechst anbetungswuerdig; und immer schliesst sich ihr
verdammtes Geschwaetze mit der verwuenschten Betrachtung, was fuer ein
gluecklicher, was fuer ein beneidenswuerdiger Mann ich bin.

Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu.

Dorante. Oh, sie treiben ihre unverschaemte Kuehnheit wohl noch weiter!
Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest
du erst sehen und hoeren! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen
Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall
jagt den andern, eine boshafte Spoetterei die andere, ein kitzelndes
Histoerchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit
Liebaeugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich
erwidert, dass--dass mich der Schlag oft ruehren moechte! Kannst du
glauben, Dubois? ich muss es wohl mit ansehen, dass sie ihr die Hand
kuessen.

Dubois. Das ist arg!

Dorante. Gleichwohl darf ich nicht mucksen. Denn was wuerde die Welt
dazu sagen? Wie laecherlich wuerde ich mich machen, wenn ich meinen
Verdruss auslassen wollte? Die Kinder auf der Strasse wuerden mit
Fingern auf mich weisen. Alle Tage wuerde ein Epigramm, ein
Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen usw."


Diese Situation muss es sein, in welcher Chevrier das Aehnliche mit dem
"Verheirateten Philosophen" gefunden hat. So wie der Eifersuechtige des
Campistron sich schaemet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich
ehedem ueber diese Schwachheit allzu lustig gemacht hat: so schaemt sich
auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil
er ehedem ueber alle ernsthafte Liebe gespottet und den ehelosen Stand fuer
den einzigen erklaert hatte, der einem freien und weisen Manne anstaendig
sei. Es kann auch nicht fehlen, dass diese aehnliche Scham sie nicht beide
in mancherlei aehnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z.E., die,
in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau
verlangt, ihm die ueberlaestigen Besucher vom Halse zu schaffen, diese aber
ihn bedeutet, dass das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen
muesse, fast die naemliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich
Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, dass er sich auf
Meliten keine Rechnung machen koenne. Auch leidet dort der Eifersuechtige,
wenn seine Freunde in seiner Gegenwart ueber die Eifersuechtigen spotten
und er selbst sein Wort dazu geben muss, ungefaehr auf gleiche Weise, als
hier der Philosoph, wenn er sich muss sagen lassen, dass er ohne Zweifel
viel zu klug und vorsichtig sei, als dass er sich zu so einer Torheit, wie
das Heiraten, sollte haben verleiten lassen.

Demohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stuecke
notwendig das Stueck des Campistron vor Augen gehabt haben muesste; und mir
ist es ganz begreiflich, dass wir jenes haben koennten, wenn dieses auch
nicht vorhanden waere. Die verschiedensten Charaktere koennen in aehnliche
Situationen geraten; und da in der Komoedie die Charaktere das Hauptwerk,
die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich aeussern zu lassen und
ins Spiel zu setzen: so muss man nicht die Situationen, sondern die
Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stueck
Original oder Kopie genannt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der
Tragoedie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind und Schrecken und
Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Aehnliche Situationen
geben also aehnliche Tragoedien, aber nicht aehnliche Komoedien. Hingegen
geben aehnliche Charaktere aehnliche Komoedien, anstatt dass sie in den
Tragoedien fast gar nicht in Erwaegung kommen.

Der Sohn unsers Dichters, welcher die praechtige Ausgabe der Werke seines
Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbaenden aus der
Koeniglichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu
dieser Ausgabe, eine besondere, dieses Stueck betreffende Anekdote. Der
Dichter naemlich habe sich in England verheiratet und aus gewissen
Ursachen seine Verbindung geheim halten muessen. Eine Person aus der
Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis frueher ausgeplaudert, als
ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem "Verheirateten
Philosophen" gegeben. Wenn dieses wahr ist,--und warum sollten wir es
seinem Sohne nicht glauben?--so duerfte die vermeinte Nachahmung des
Campistron um so eher wegfallen.


----Fussnote

[1] S. den 5. und 7. Abend

[2] "L'Observateur des Spectacles.", T. II. p. 135.

----Fussnote




Zweiundfunfzigstes Stueck Den 27. Oktober 1767

Den vierzigsten Abend (donnerstags, den 9. Julius) ward Schlegels
"Triumph der guten Frauen" aufgefuehret.

Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es
war, soviel ich weiss, das letzte komische Werk des Dichters, das seine
fruehern Geschwister unendlich uebertrifft und von der Reife seines Urhebers
zeuget. "Der geschaeftige Muessiggaenger" war der erste jugendliche Versuch
und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz
verzeihe es denen und raeche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin
gefunden haben! Er enthaelt das kalteste, langweiligste Alltagsgewaesche,
das nur immer in dem Hause eines meissnischen Pelzhaendlers vorfallen kann.
Ich wuesste nicht, dass er jemals waere aufgefuehrt worden, und ich zweifle,
dass seine Vorstellung duerfte auszuhalten sein. "Der Geheimnisvolle" ist
um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist,
den Moliere in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlass
zu diesem Stuecke wollte genommen haben.[1] Molieres Geheimnisvoller ist
ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels
Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen
will, um von den Woelfen nicht gefressen zu werden. Daher koemmt es auch,
dass er so viel Aehnliches mit dem Charakter des Misstrauischen hat, den
Cronegk hernach auf die Buehne brachte. Beide Charaktere aber, oder
vielmehr beide Nuancen des naemlichen Charakters, koennen nichts anders
als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und
haesslichen Seele sich finden, dass ihre Vorstellungen notwendig mehr
Mitleiden oder Abscheu erwecken muessen, als Lachen. "Der Geheimnisvolle"
ist wohl sonst hier aufgefuehret worden; man versichert mich aber auch
durchgaengig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr
begreiflich, dass man ihn laeppischer gefunden habe, als lustig.

"Der Triumph der guten Frauen" hingegen hat, wo er noch aufgefuehret
worden, und sooft er noch aufgefuehret worden, ueberall und jederzeit einen
sehr vorzueglichen Beifall erhalten; und dass sich dieser Beifall auf wahre
Schoenheiten gruenden muesse, dass er nicht das Werk einer ueberraschenden
blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach
Lesung des Stuecks, zurueckgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefaellt es
um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen
gesehen, dem gefaellt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es
die strengesten Kunstrichter ebensosehr seinen uebrigen Lustspielen, als
diese ueberhaupt dem gewoehnlichen Prasse deutscher Komoedien vorgezogen.

"Ich las", sagt einer von ihnen,[2] "den 'Geschaeftigen Muessiggaenger': die
Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Muessiggaenger,
solche in ihre Kinder vernarrte Muetter, solche schalwitzige Besuche und
solche dumme Pelzhaendler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so
handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine
Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gaehnte
vor Langeweile.--Ich las darauf den 'Triumph der guten Frauen'. Welcher
Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren
Handlungen, echten Witz in ihren Gespraechen und den Ton einer feinen
Lebensart in ihrem ganzen Umgange."

Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat,
ist der, dass die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider
muss man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu
sehr an fremde, und besonders an franzoesische Sitten gewoehnt, als dass er
eine besonders ueble Wirkung auf uns haben koennte.

"Nikander", heisst es, "ist ein franzoesischer Abenteurer, der auf
Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste
gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stuerzen, aller Frauen
Verfuehrer und aller Maenner Schrecken zu werden sucht, und der bei allem
diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten
und Grundsaetze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! dass ein
Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben
muss.--Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit
verlassen und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, koemmt auf den
Einfall, ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson und folgt
ihm, unter dem Namen Philint, in alle Haeuser nach, wo er Avanturen sucht.
Philint ist witziger, flatterhafter und unverschaemter als Nikander. Das
Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem
frechen, aber doch artigen Wesen sich sehen laesst, stehet Nikander da wie
verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die
Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet und
gluecklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten
Petitmaitre ist gewiss kein Deutscher."

"Was mir", faehrt er fort, "sonst an diesem Lustspiele missfaellt, ist der
Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen,
zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu haesslichen Seite. Er
tyrannisierst seine unschuldige Christiane auf das unwuerdigste und hat
recht seine Lust, sie zu quaelen. Graemlich, sooft er sich sehen laesst,
spoettisch bei den Traenen seiner gekraenkten Frau, argwoehnisch bei ihren
Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen
durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersuechtig,
hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden koennen, in seiner
Frauen Kammermaedchen verliebt.--Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als
dass wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen koennten. Der Dichter gibt
ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswuerdigen
Herzens nicht genug entwickeln koennen. Er tobt, und weder Juliane noch
die Leser wissen recht, was er will. Ebensowenig hat der Dichter Raum
gehabt, seine Besserung gehoerig vorzubereiten und zu veranstalten. Er
musste sich begnuegen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die
Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine,
dieses edelmuetige Kammermaedchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte,
sagt gar recht am Ende des Lustspiels: 'Die geschwindesten Bekehrungen
sind nicht allemal die aufrichtigsten!' Wenigstens solange dieses Maedchen
im Hause ist, moechte ich nicht fuer die Aufrichtigkeit stehen."

Ich freue mich, dass die beste deutsche Komoedie dem richtigsten deutschen
Beurteiler in die Haende gefallen ist. Und doch war es vielleicht die
erste Komoedie, die dieser Mann beurteilte.


----Fussnote

[1] "Misanthrope", Acte II, Sc. 4.

    C'est de la tete aux pieds un homme tout mystere,
    Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil egare,
    Et sans aucune affaire est toujours affaire.
    Tous ce qu'il vous debite en grimaces abonde.
    A force de facons il assomme le monde.
    Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien,
    Un secret a vous dire, et ce secret n'est rien.
    De la moindre vetille il fait une merveille,
    Et, jusqu' au bon jour, il dit tout a l'oreille.

[2] "Briefe, die neueste Literatur betreffend", T. XXI. S. 133.

----Fussnote


Ende des ersten Bandes





Zweyter Band



Dreiundfunfzigstes Stueck
Den 3. November 1767

Den einundvierzigsten Abend (freitags, den 10. Julius) wurden "Cenie" und
"Der Mann nach der Uhr" wiederholt.[1] "Cenie", sagt Chevrier gerade
heraus,[2] "fuehret den Namen der Frau von Graffigny, ist aber ein Werk
des Abts von Voisenon. Es war anfangs in Versen; weil aber die Frau von
Graffigny, der es erst in ihrem vierundfunfzigsten Jahre einfiel, die
Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so
ward 'Cenie' in Prosa gebracht. Mais l'auteur, fuegt er hinzu, y a laisse
81 vers qui y existent dans leur entier." Das ist, ohne Zweifel, von
einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim
verloren, aber die Silbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier
keinen andern Beweis hatte, dass das Stueck in Versen gewesen: so ist es
sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die franzoesischen Verse kommen ueberhaupt
der Prosa so nahe, dass es Muehe kosten soll, nur in einem etwas
gesuchteren Stile zu schreiben, ohne dass sich nicht von selbst ganze
Verse zusammenfinden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade
denjenigen, die gar keine Verse machen, koennen dergleichen Verse am
ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr fuer das Metrum haben und
es also ebensowenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen.

Was hat "Cenie" sonst fuer Merkmale, dass sie nicht aus der Feder eines
Frauenzimmers koenne geflossen sein? "Das Frauenzimmer ueberhaupt", sagt
Rousseau,[3] "liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf keine einzige,
und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken
gluecklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack,
nichts als Anmut, hoechstens Gruendlichkeit und Philosophie verlangen. Es
kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich
durch Muehe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer,
welches die Seele erhitzet und entflammt, jenes um sich greifende
verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwuenge,
die ihr Entzueckendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den
Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen."

Also fehlen sie wohl auch der "Cenie"? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen,
so muss "Cenie" notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst
wuerde so nicht schliessen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer
ueberhaupt absprechen zu muessen glaube, wolle er darum keiner Frau
insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas a une femme, mais aux femmes
que je refuse les talents des hommes.[4]) Und dieses sagt er eben auf
Veranlassung der "Cenie"; ebenda, wo er die Graffigny als die Verfasserin
derselben anfuehrt. Dabei merke man wohl, dass Graffigny seine Freundin
nicht war, dass sie Uebels von ihm gesprochen hatte, dass er sich an eben
der Stelle ueber sie beklagt. Demohngeachtet erklaert er sie lieber fuer
eine Ausnahme seines Satzes, als dass er im geringsten auf das Vorgeben
des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel,
Freimuetigkeit genug gehabt haette, wenn er nicht von dem Gegenteile
ueberzeugt gewesen waere.

Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser
Abt, wie Chevrier wissen will, hat fuer die Favart gearbeitet. Er hat die
komische Oper "Annette und Lubin" gemacht; und nicht sie, die Aktrice,
von der er sagt, dass sie kaum lesen koenne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer,
der in Paris darueber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, dass die
Gassenhauer in der franzoesischen Geschichte ueberhaupt unter die glaub-
wuerdigsten Dokumente gehoeren.

Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen
in die Welt schicke, liesse sich endlich noch begreifen. Aber warum er
sich zu einer "Cenie" nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten
vorziehen moechte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr
als ein Stueck auffuehren und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als
den Verfasser kennet und die der "Cenie" bei weitem nicht gleichkommen.
Wenn er einer Frau von vierundfunfzig Jahren eine Galanterie machen
wollte, ist es wahrscheinlich, dass er es gerade mit seinem besten Werke
wuerde getan haben?--

Den zweiundvierzigsten Abend (montags, den 13. Julius) ward "Die
Frauenschule" von Moliere aufgefuehrt.

Moliere hatte bereits seine "Maennerschule" gemacht, als er im Jahre 1662
diese "Frauenschule" darauf folgen liess. Wer beide Stuecke nicht kennet,
wuerde sich sehr irren, wenn er glaubte, dass hier den Frauen, wie dort den
Maennern, ihre Schuldigkeit geprediget wuerde. Es sind beides witzige
Possenspiele, in welchen ein Paar junge Maedchen, wovon das eine in aller
Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar
alte Laffen hintergehen; und die beide "Die Maennerschule" heissen muessten,
wenn Moliere weiter nichts darin haette lehren wollen, als dass das duemmste
Maedchen noch immer Verstand genug habe, zu betruegen, und dass Zwang und
Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit.
Wirklich ist fuer das weibliche Geschlecht in der "Frauenschule" nicht
viel zu lernen; es waere denn, dass Moliere mit diesem Titel auf die
Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen haette,
mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher laecherlich gemacht werden.

"Die zwei gluecklichsten Stoffe zur Tragoedie und Komoedie", sagt Trublet,
[5] "sind der 'Cid' und die 'Frauenschule'. Aber beide sind vom Corneille
und Moliere bearbeitet worden, als diese Dichter ihre voellige Staerke noch
nicht hatten. Diese Anmerkung", fuegt er hinzu, "habe ich von dem Hrn. von
Fontenelle."

Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt haette, wie er dieses
meine. Oder falls es ihm so schon verstaendlich genug war, wenn er es doch
auch seinen Lesern mit ein paar Worten haette verstaendlich machen wollen.
Ich wenigstens bekenne, dass ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit
diesem Raetsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder
Trublet hat sich verhoert.

Wenn indes, nach der Meinung dieser Maenner, der Stoff der "Frauenschule"
so besonders gluecklich ist und Moliere in der Ausfuehrung desselben nur zu
kurz gefallen: so haette sich dieser auf das ganze Stueck eben nicht viel
einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern teils aus
einer spanischen Erzaehlung, die man bei dem Scarron unter dem Titel "Die
vergebliche Vorsicht" findet, teils aus den "Spasshaften Naechten" des
Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage
vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, dass
dieser Freund sein Nebenbuhler ist.

"Die Frauenschule", sagt der Herr von Voltaire, "war ein Stueck von einer
ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzaehlung, aber doch so
kuenstliche Erzaehlung ist, dass alles Handlung zu sein scheinet."

Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, dass man die neue
Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger kuenstlich, Erzaehlung bleibt
immer Erzaehlung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen
sehen.--Aber ist es denn auch wahr, dass alles darin erzaehlt wird? dass
alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire haette diesen alten Einwurf
nicht wieder aufwaermen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob
zu verkehren, haette er wenigstens die Antwort beifuegen sollen, die
Moliere selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzaehlungen
naemlich sind in diesem Stuecke, vermoege der innern Verfassung desselben,
wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung
erforderlich ist; und es ist blosse Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier
streitig zu machen.[6] Denn es koemmt ja weit weniger auf die Vorfaelle an,
welche erzaehlt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfaelle auf
den betrognen Alten machen, wenn er sie erfaehrt. Das Laecherliche dieses
Alten wollte Moliere vornehmlich schildern; ihn muessen wir also
vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebaerdet;
und dieses haetten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er
erzaehlen laesst, vor unsern Augen haette vorgehen lassen, und das, was er
vorgehen laesst, dafuer haette erzaehlen lassen. Der Verdruss, den Arnolph
empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruss zu verbergen; der
hoehnische Ton, den er annimmt, wenn er dem weitern Progresse des Horaz
nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der
wir ihn sehen, wenn er vernimmt, dass Horaz demohngeachtet sein Ziel
gluecklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen,
als alles, was ausser der Szene vorgeht. Selbst in der Erzaehlung der
Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr
Handlung, als wir finden wuerden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der
Buehne wirklich machen saehen.

Also, anstatt von der "Frauenschule" zu sagen, dass alles darin Handlung
scheine, obgleich alles nur Erzaehlung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte
sagen zu koennen, dass alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzaehlung
zu sein scheine.


----Fussnote

[1] S. den 23. und 29. Abend

[2] "Observateur des Spectacles", Tome I. p. 211.

[3] a d'Alembert, p. 133.

[4] a d'Alembert, p. 78.

[5] "Essais de Litt. et de Morale", T. IV. p. 295.

[6] In der "Kritik der Frauenschule", in der Person des Dorante: Les
recits eux-memes y sont des actions suivant la constitution du sujet.

----Fussnote




Vierundfunfzigstes Stueck
Den 6. November 1767

Den dreiundvierzigsten Abend (dienstags, den 14. Julius) ward "Die
Muetterschule" des La Chaussee, und den vierundvierzigsten Abend (als den
15.) "Der Graf von Essex" wiederholt.[1]

Da die Englaender von jeher so gern domestica facta auf ihre Buehne
gebracht haben, so kann man leicht vermuten, dass es ihnen auch an
Trauerspielen ueber diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das aelteste ist
das von Joh. Banks, unter dem Titel "Der unglueckliche Liebling, oder Graf
von Essex". Es kam 1682 aufs Theater und erhielt allgemeinen Beifall.
Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calprenede von
1638; des Boyer von 1678, und des juengern Corneille von ebendiesem Jahre.
Wollten indes die Englaender, dass ihnen die Franzosen auch hierin nicht
moechten zuvorgekommen sein, so wuerden sie sich vielleicht auf Daniels
"Philotas" beziehen koennen; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die
Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden
glaubte.[2]

Banks scheinet keinen von seinen franzoesischen Vorgaengern gekannt zu
haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel "Geheime
Geschichte der Koenigin Elisabeth und des Grafen von Essex" fuehret,[3] wo
er den ganzen Stoff sich so in die Haende gearbeitet fand, dass er ihn bloss
zu dialogieren, ihm bloss die aeussere dramatische Form zu erteilen brauchte.
Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angefuehrten
Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, dass es meinen Lesern
nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stueck des Corneille halten zu koennen.

"Um unser Mitleid gegen den ungluecklichen Grafen desto lebhafter zu
machen und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Koenigin fuer
ihn aeussert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden
beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter
nichts, als dass er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt
hat. Burleigh, der erste Minister der Koenigin, der auf ihre Ehre sehr
eifersuechtig ist und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit
welchen sie ihn ueberhaeuft, bemueht sich unablaessig, ihn verdaechtig zu
machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des
Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Graefin
von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte,
nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten koennen, was sie
nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestueme Gemuetsart des
Grafen macht ihnen allzu gutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf
folgende Weise.

Die Koenigin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr
ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen
gefaehrlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden
Scharmuetzeln sahe sich der Graf genoetiget, mit dem Feinde in Unterhandlung
zu treten, weil seine Truppen durch Strapazen und Krankheiten sehr
abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret
stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anfuehrern muendlich betrieben
ward und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Koenigin
als ihrer Ehre hoechst nachteilig und als ein gar nicht zweideutiger
Beweis vorgestellet, dass Essex mit den Rebellen in einem heimlichen
Verstaendnisse stehen muesse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern
Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats
anklagen zu duerfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist,
dass sie sich vielmehr ueber ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht
bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation
erwiesen, und erklaert, dass sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid
seiner Anklaeger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger
Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er
erhebt die Gerechtigkeit der Koenigin, einen solchen Mann nicht
unterdruecken zu lassen; und seine Feinde muessen vor diesesmal schweigen.
(Erster Akt.)

Indes ist die Koenigin mit der Auffuehrung des Grafen nichts weniger als
zufrieden, sondern laesst ihm befehlen, seine Fehler wieder gutzumachen,
und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen voellig zu
Paaren getrieben und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die
Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde
bei ihr anzuschwaerzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu
rechtfertigen, und koemmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der
Waffen vermocht, des ausdruecklichen Verbots der Koenigin ungeachtet,
nach England ueber. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden
ebensoviel Vergnuegen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die
Graefin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den
Folgen. Am meisten aber betruebt sich die Koenigin, da sie sieht, dass ihr
durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten,
wenn sie nicht eine Zaertlichkeit verraten will, die sie gern vor der
ganzen Welt verbergen moechte. Die Erwaegung ihrer Wuerde, zu welcher ihr
natuerlicher Stolz koemmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm traegt,
erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich
selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken oder den
geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen
sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschliesst sie sich zu dem letztern,
doch nicht ohne alle Einschraenkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn
auf eine Art empfangen, dass er die Hoffnung wohl verlieren soll, fuer seine
Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham
sind bei dieser Zusammenkunft gegenwaertig. Die Koenigin ist auf die letztere
gelehnet und scheinet tief im Gespraeche zu sein, ohne den Grafen nur ein
einziges Mal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen,
verlaesst sie auf einmal das Zimmer und gebietet allen, die es redlich mit
ihr meinen, ihr zu folgen und den Verraeter allein zu lassen. Niemand darf
es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab,
koemmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei
seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Koenigin den Burleigh
und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich
aber, ihn in andere, als in der Koenigin eigene Haende, zurueckzuliefern, und
beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr
veraechtlich begegnet. (Zweiter Akt.)

Die Koenigin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist
aeusserst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann
weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkuehnt,
noch die Lobsprueche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der
Fuelle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als
jene, weil sie daraus entdeckt, dass die Rutland ihn liebet. Zuletzt
befiehlt sie, demohngeachtet, dass er vor sie gebracht werden soll. Er
koemmt, und versucht es, seine Auffuehrung zu verteidigen. Doch die Gruende,
die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als dass sie
ihren Verstand von seiner Unschuld ueberzeugen sollten. Sie verzeihet ihm,
um der geheimen Neigung, die sie fuer ihn hegt, ein Genuege zu tun; aber
zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung
dessen, was sie sich selbst, als Koenigin, schuldig zu sein glaubt. Und
nun ist der Graf nicht laenger vermoegend, sich zu maessigen; seine
Ungestuemheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Fuessen und bedient
sich verschiedner Ausdruecke, die zu sehr wie Vorwuerfe klingen, als dass
sie den Zorn der Koenigin nicht aufs hoechste treiben sollten. Auch
antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natuerlich ist; ohne sich
um Anstand und Wuerde, ohne sich um die Folgen zu bekuemmern: naemlich,
anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem
Degen; und nur der einzige Gedanke, dass es seine Koenigin, dass es nicht
sein Koenig ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, dass es eine Frau
ist, von der er die Ohrfeige hat, haelt ihn zurueck, sich taetlich an ihr zu
vergehen. Southampton beschwoert ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt
seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals und wirft dem
Burleigh und Raleigh ihren niedertraechtigen Neid, sowie der Koenigin ihre
Ungerechtigkeit vor. Sie verlaesst ihn in der aeussersten Wut; und niemand
als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt
eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.)

Der Graf geraet ueber sein Unglueck in Verzweiflung; er laeuft wie unsinnig
in der Stadt herum, schreiet ueber das ihm angetane Unrecht und schmaehet
auf die Regierung. Alles das wird der Koenigin, mit vielen Uebertreibungen,
wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern.
Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangengenommen
und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis dass ihnen der Prozess gemacht
werden kann. Doch indes hat sich der Zorn der Koenigin gelegt und
guenstigern Gedanken fuer den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn
also, ehe er zum Verhoere geht, allem, was man ihr dawider sagt, ungeachtet,
nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen moechten zu strafbar
befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit
zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald
er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen wuerde, zu gewaehren. Fast
aber bereuet sie es wieder, dass sie so guetig gegen ihn gewesen, als sie
gleich darauf erfaehrt, dass er mit der Rutland vermaehlt ist; und es von der
Rutland selbst erfaehrt, die fuer ihn um Gnade zu bitten koemmt. (Vierter Akt.)


----Fussnote

[1] S. den 26. und 30. Abend.

[2] "Cibber's Lives of the Engl. Poets", Vol. I. p. 147.

[3] "The Companion to the Theatre", Vol. II. p. 99.

----Fussnote




Fuenfundfunfzigstes Stueck
Den 10. November 1767

Was die Koenigin gefuerchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen
schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund
Southampton desgleichen. Nun weiss zwar Elisabeth, dass sie, als Koenigin,
den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, dass eine solche
freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwaeche verraten wuerde, die
keiner Koenigin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den
Ring senden und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes,
dass es je eher je lieber geschehen moege, schickt sie die Nottingham zu
ihm und laesst ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt
sich, das zaertlichste Mitleid fuer ihn zu fuehlen; und er vertrauet ihr das
kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demuetigsten Bitte an die
Koenigin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wuenschet;
nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu
raechen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet
sie ihn auf das boshafteste und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest
entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Aeusserste
ankommen zu lassen, dass die Koenigin dem Berichte kaum glauben kann, nach
wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl
erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr
die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen,
nicht weil ihr das Unglueck desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie
sich einbildet, dass Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so viel mehr
empfinden werde, wenn er sieht, dass die Gnade, die man ihm verweigert,
seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht raet
sie der Koenigin auch, seiner Gemahlin, der Graefin von Rutland, zu
erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Koenigin williget
in beides, aber zum Ungluecke fuer die grausame Ratgeberin; denn der Graf
gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Koenigin, die sich eben in dem
Tower befindet und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgefuehret,
erhaelt. Aus diesem Briefe ersieht sie, dass der Graf der Nottingham den
Ring gegeben und sie durch diese Verraeterin um sein Leben bitten lassen.
Sogleich schickt sie und laesst die Vollstreckung des Urteils untersagen;
doch Burleigh und Raleigh, denen sie aufgetragen war, hatten so sehr
damit geeilet, dass die Botschaft zu spaet koemmt. Der Graf ist bereits tot.
Die Koenigin geraet vor Schmerz ausser sich, verbannt die abscheuliche
Nottingham auf ewig aus ihren Augen und gibt allen, die sich als Feinde
des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen."

Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, dass der "Essex" des Banks ein
Stueck von weit mehr Natur, Wahrheit und Uebereinstimmung ist, als sich in
dem "Essex" des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die
Geschichte gehalten, nur dass er verschiedne Begebenheiten naeher zusammen
gerueckt, und ihnen einen unmittelbarem Einfluss auf das endliche Schicksal
seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist ebensowenig
erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon
angemerkt, in der Historie, nur jener weit frueher und bei einer ganz
andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist
begreiflicher, dass die Koenigin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben,
da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als dass sie ihm dieses
Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer
eben am meisten verlustig gemacht hatte und der Fall, sich dessen zu
gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie
teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese
Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er
ungluecklicherweise in ihren Augen etwa koennte verloren haben. Aber was
braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen?
Glaubt sie ihrer guenstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht
maechtig zu sein, dass sie sich mit Fleiss auf eine solche Art fesseln will?
Wenn sie ihm im Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben
gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den
muendlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloss
um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten,
er mag wieder in ihre Haende kommen oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch
die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung
des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache
seiner toedlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht
kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen?

So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung.
Mich duenkt, er wuerde eine weit bessere tun, wenn ihn die Koenigin ganz
vergessen haette und er ihr ploetzlich, aber auch zu spaet, eingehaendiget
wuerde, indem sie eben von der Unschuld oder wenigstens geringern Schuld
des Grafen noch aus andern Gruenden ueberzeugt wuerde. Die Schenkung des
Ringes haette vor der Handlung des Stuecks lange muessen vorhergegangen
sein, und bloss der Graf haette darauf rechnen muessen, aber aus Edelmut
nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, dass man auf
seine Rechtfertigung nicht achte, dass die Koenigin zu sehr wider ihn
eingenommen sei, als dass er sie zu ueberzeugen hoffen koenne, dass er sie
also zu bewegen suchen muesse. Und indem sie so bewegt wuerde, muesste die
Ueberzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung
ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, fuer
unschuldig gelten zu lassen, muessten sie auf einmal ueberraschen, aber
nicht eher ueberraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermoegen stehet,
gerecht und erkenntlich zu sein.

Viel gluecklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stueck eingeflochten.--
Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanstaendig!
Ehe meine feinern Leser zu sehr darueber spotten, bitte ich sie, sich der
Ohrfeige im "Cid" zu erinnere. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire
darueber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwuerdig.
"Heutzutage", sagt er, "duerfte man es nicht wagen, einem Helden eine
Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie
sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gaeben. Nicht
einmal in der Komoedie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das
einzige Exempel, welches man auf der tragischen Buehne davon hat. Es ist
glaublich, dass man unter andern mit deswegen den 'Cid' eine Tragikomoedie
betitelte; und damals waren fast alle Stuecke des Scudery und des
Boisrobert Tragikomoedien. Man war in Frankreich lange der Meinung
gewesen, dass sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit
gemeinen Zuegen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomoedie selbst
ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen 'Amphitruo' damit zu bezeichnen,
weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in
allem Ernste betruebt ist."--Was der Herr von Voltaire nicht alles
schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie
sehr er meistenteils damit verunglueckt!

Es ist nicht wahr, dass die Ohrfeige im "Cid" die einzige auf der
tragischen Buehne ist. Voltaire hat den "Essex" des Banks entweder nicht
gekannt, oder vorausgesetzt, dass die tragische Buehne seiner Nation allein
diesen Namen verdiene. Unwissenheit verraet beides; und nur das letztere
noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der
Tragikomoedie hinzufuegt, ist ebenso unrichtig. Tragikomoedie hiess die
Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen
vergnuegten Ausgang hat; das ist der "Cid", und die Ohrfeige kam dabei gar
nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille
hernach sein Stueck eine Tragoedie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte,
dass eine Tragoedie notwendig eine unglueckliche Katastrophe haben muesse.
Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloss im
Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen.
Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch abgeborgt, bis es in dem
sechzehnten Jahrhunderte den spanischen und italienischen Dichtem
einfiel, gewisse von ihren dramatischen Missgeburten so zu nennen.[1] Wenn
aber auch Plautus seinen "Amphitruo" im Ernste so genannt haette, so waere
es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet.
Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und
der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum haette Plautus
sein Stueck lieber eine Tragikomoedie nennen wollen. Denn sein Stueck ist
ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo
ebensosehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische
Handlung groesstenteils unter hoehern Personen vorgehet, als man in der
Komoedie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklaert sich darueber
deutlich genug:

    Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia:
    Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia
    Reges quo veniant et di, non par arbitror.
    Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet,
    Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam.


----Fussnote

[1] Ich weiss zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht
hat; aber das weiss ich gewiss, dass es Garnier nicht ist. Hedelin sagte: Je
ne sais, si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter
ce titre a sa "Bradamante", ce que depuis plusieurs ont imite. (Prat. du
Th. Liv. II. ch. 10.) Und dabei haetten es die Geschichtschreiber des
franzoesischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen
die leichte Vermutung des Hedelins zur Gewissheit und gratulieren ihrem
Landsmanne zu einer so schoenen Erfindung. Voici la premiere
Tragi-Comedie, ou, pour mieux dire, le premier poeme du Theatre qui a
porte ce titre--Garnier ne connaissait pas assez les finesses de l'art
qu'il professait; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans
les secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une
idee, qui n'a pas ete inutile a beaucoup d'Auteurs du dernier siecle.
Garniers "Bradamante" ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit fruehere
spanische und italienische Stuecke, die diesen Titel fuehren.

----Fussnote




Sechsundfunfzigstes Stueck
Den 13. November 1767

Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen.--Einmal ist es doch nun so, dass
eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seinesgleichen oder von einem
Hoehern bekoemmt, fuer eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, dass
alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafuer verschaffen koennen, vergebens
ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem
Beleidigten selbst geraechet, und auf eine ebenso eigenmaechtige Art
geraechet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche
Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt,
es ist nun einmal so. Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum
soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im
Gange sind: warum nicht auch hier?

"Die Schauspieler", sagt der Herr von Voltaire, "wissen nicht, wie sie
sich dabei anstellen sollen." Sie wuessten es wohl; aber man will eine
Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt
sie in Feuer; die Person erhaelt ihn, aber sie fuehlen ihn; das Gefuehl hebt
die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung
aeussert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen,
und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene
Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen.

Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der
Masken bedauern moechte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske
mehr Kontenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit
auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch
weniger gewahr.

Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: Der
dramatische Dichter arbeitet zwar fuer den Schauspieler, aber er muss sich
darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist.
Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es
ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen,
dass er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins
Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn veraechtlich; es
verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so
weit noch nicht gebracht hat, dass ihn so etwas nicht verwirret; wenn er
seine Kunst so sehr nicht liebet, dass er sich, ihr zum Besten, eine
kleine Kraenkung will gefallen lassen: so suche er ueber die Stelle so gut
wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand
vor; nur verlange er nicht, dass sich der Dichter seinetwegen mehr
Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die
er ihn vorstellen laesst. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine
Ohrfeige hinnehmen muss: was wollen ihre Repraesentanten dawider
einzuwenden haben?

Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder
hoechstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, fuer den
sie eine seinem Stande angemessene Zuechtigung ist? Einem Helden hingegen,
einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanstaendig!--Und wenn sie
das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanstaendigkeit die Quelle der
gewaltsamsten Entschliessungen, der blutigsten Rache werden soll, und
wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht
haette haben koennen? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was
unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muss, soll dennoch
aus der Tragoedie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komoedie, weil
es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worueber wir einmal lachen,
sollen wir ein andermal nicht erschrecken koennen?

Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen moechte,
so waere es aus der Komoedie. Denn was fuer Folgen kann sie da haben?
Traurige? die sind ueber ihrer Sphaere. Laecherliche? die sind unter ihr und
gehoeren dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Muehe, sie
geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als poebelhafte Hitze, und wer
sie bekoemmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also
den beiden Extremis, der Tragoedie und dem Possenspiele; die mehrere
dergleichen Dinge gemein haben, ueber die wir entweder spotten oder
zittern wollen.

Und ich frage jeden, der den "Cid" vorstellen sehen oder ihn mit einiger
Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder ueberlaufen,
wenn der grosssprecherische Gormas den alten wuerdigen Diego zu schlagen
sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid fuer diesen, und
den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal
alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung
nach sich ziehen muesse, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung
und Furcht erfuellet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung
auf ihn hat, nicht tragisch sein?

Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von
einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war und eben itzt
eine von seinem Nachbar verdient haette. Wen aber die ungeschickte Art,
mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu laecheln
machte, der biss sich geschwind in die Lippe und eilte, sich wieder in die
Taeuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den
Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.

Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige
vertreten koennte? Fuer jede andere wuerde es in der Macht des Koenigs
stehen, dem Beleidigten Genugtunung zu schaffen; fuer jede andere wuerde
sich der Sohn weigern duerfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten
aufzuopfern. Fuer diese einzige laesst das Pundonor weder Entschuldigung
noch Abbitte gelten; und alle guetliche Wege, die selbst der Monarch dabei
einleiten will, sind fruchtlos. Corneille liess nach dieser Denkungsart
den Gormas, wenn ihm der Koenig andeuten laesst, den Diego
zufriedenzustellen, sehr wohl antworten:

    Ces satisfactions n'apaisent point une ame:
    Qui les recoit n'a rien, qui les fait se diffame.
    Et de tous ces accords l'effet le plus commun,
    C'est de deshonorer deux hommes au lieu d'un.

Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen,
dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwiderliefen. Corneille erhielt
also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem
Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergaenzte sie aus
dem Gedaechtnisse und aus seiner Empfindung.

In dem "Essex" wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, dass sie eine
Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau
und Koenigin; was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Ueber die
handfertige wehrhafte Frau wuerde er spotten; denn eine Frau kann weder
schimpfen noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souveraen,
dessen Beschimpfungen unausloeschlich sind, da sie von seiner Wuerde eine
Art von Gesetzmaessigkeit erhalten. Was kann also natuerlicher scheinen,
als dass Essex sich wider diese Wuerde selbst auflehnet und gegen die Hoehe
tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wuesste wenigstens
nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich haette machen
koennen. Die blosse Ungnade, die blosse Entsetzung seiner Ehrenstellen
konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so
knechtische Behandlung ausser sich gebracht, sehen wir ihn alles, was
ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit
Entschuldigung unternehmen. Die Koenigin selbst muss ihn aus diesem
Gesichtspunkte ihrer Verzeihung wuerdig erkennen; und wir haben so
ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen
scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekraenkten Ehre
tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht.

Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt,
war ueber die Wahl eines Koenigs von Irland. Als er sahe, dass die Koenigin
auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr veraechtlichen
Gebaerde den Ruecken. In dem Augenblicke fuehlte er ihre Hand, und seine
fuhr nach dem Degen. Er schwur, dass er diesen Schimpf weder leiden koenne
noch wolle; dass er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht wuerde
erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Den Brief, den er an den
Kanzler Egerton ueber diesen Vorfall schrieb, ist mit dem wuerdigsten
Stolze abgefasst, und er schien fest entschlossen, sich der Koenigin nie
wieder zu naehern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer
voelligen Gnade und in der voelligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings.
Diese Versoehnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr
schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war.
In diesem Falle war er wirklich ein Verraeter, der sich alles gefallen liess,
bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht,
den ihm die Koenigin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die
Ohrfeige; und der Zorn ueber diese Verschmaelerung seiner Einkuenfte verblendete
ihn so, dass er ohne alle Ueberlegung losbrach. So finden wir ihn in der
Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen
Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht und ihm weiter keine
treulosen Absichten gegen seine Koenigin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler
einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloss durch
die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war.




Siebenundfunfzigstes Stueck
Den 17. November 1767

Banks hat die naemlichen Worte beibehalten, die Essex ueber die Ohrfeige
ausstiess. Nur dass er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der
Welt, mitsamt Alexandern, beifuegen laesst.[1] Sein Essex ist ueberhaupt
zuviel Prahler; und es fehlet wenig, dass er nicht ein ebenso grosser
Gasconier ist als der Essex des Gasconiers Calprenede. Dabei ertraegt er
sein Unglueck viel zu kleinmuetig und ist bald gegen die Koenigin ebenso
kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr
nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergisst,
ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwuerdig.
In der Geschichte kann man dergleichen Widersprueche mit sich selbst fuer
Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste
des Herzens kennenlernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden
allzu vertraut, als dass wir nicht gleich wissen sollten, ob seine
Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet
haetten, uebereinstimmen oder nicht. Ja, sie moegen es, oder sie moegen es
nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Faellen nicht recht
nutzen. Ohne Verstellung faellt der Charakter weg; bei der Verstellung die
Wuerde desselben.

Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen koennen. Diese Frau
bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige
Maenner bleiben. Ihre Zaertlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem
Essex hat er mit vieler Anstaendigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm
gewissermassen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die
Elisabeth des Corneille, ueber Kaelte und Verachtung, ueber Glut und
Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert
nicht, dass ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch
deutlich genug zu verstehen gegeben, dass er um sie allein seufzen solle,
usw. Keine von diesen Armseligkeiten koemmt ueber ihre Lippen. Sie spricht
nie als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hoert es nie, aber man
sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken
Eifersucht verraten sie; sonst wuerde man sie schlechterdings fuer nichts,
als fuer seine Freundin halten koennen.

Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion
zu setzen gewusst, das koennen folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen.
--Die Koenigin glaubt sich allein und ueberlegt den ungluecklichen Zwang
ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres
Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr
nachgekommen.--

"Die Koenigin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein.

Nottingham. Verzeihe, Koenigin, dass ich so kuehn bin. Und doch
befiehlt mir meine Pflicht, noch kuehner zu sein.--Dich bekuemmert
etwas. Ich muss fragen,--aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung
bitten, dass ich es frage--Was ist's, das Dich bekuemmert? Was ist es,
das diese erhabene Seele so tief herabbeuget?--Oder ist Dir nicht
wohl?

Die Koenigin. Steh auf, ich bitte dich.--Mir ist ganz wohl.--Ich danke
dir fuer deine Liebe.--Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich,--meines
Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fuerchte, ihm nur zu
lange. Es faengt an, meiner ueberdruessig zu werden.--Neue Kronen sind
wie neue Kraenze; die frischesten sind die lieblichsten. Meine Sonne
neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewaermet; man fuehlet
sich zu heiss; man wuenscht, sie waere schon untergegangen.--Erzaehle mir
doch, was sagt man von der Ueberkunft des Essex?

Nottingham.--Von seiner Ueberkunft--sagt man--nicht das Beste. Aber
von ihm--er ist fuer einen so tapfern Mann bekannt--

Die Koenigin. Wie? tapfer? da er mir so dienet?--Der Verraeter!

Nottingham. Gewiss, es war nicht gut--

Die Koenigin. Nicht gut! nicht gut?--Weiter nichts?

Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat.

Die Koenigin. Nicht wahr, Nottingham?--Meinen Befehl so gering zu
schaetzen! Er haette den Tod dafuer verdient.--Weit geringere Verbrechen
haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet.--

Nottingham. Jawohl.--Und doch sollte Essex, bei soviel groesserer
Schuld, mit geringerer Strafe davonkommen? Er sollte nicht sterben?

Die Koenigin. Er soll!--Er soll sterben, und in den empfindlichsten
Martern soll er sterben!--Seine Pein sei, wie seine Verraeterei, die
groesste von allen!--Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder,
nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Bruecken, auf
den hoechsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der
voruebergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen,
undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner
Koenigin trotzte!--Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente!--Was
sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch?--du schweigst?--Warum
schweigst du? Willst du ihn noch vertreten?

Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Koenigin, so will ich Dir alles
sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht.--

Die Koenigin. Tu das!--Lass hoeren: was sagt die Welt von ihm und mir?

Nottingham. Von Dir, Koenigin?--Wer ist es, der von Dir nicht mit
Entzuecken und Bewunderung spraeche? Der Nachruhm eines verstorbenen
Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen
ertoenen. Nur dieses einzige wuenschet man, und wuenschet es mit den
heissesten Traenen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen,
--dieses einzige, dass Du geruhen moechtest, ihren Beschwerden gegen
diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verraeter nicht laenger zu
schuetzen, ihn nicht laenger der Gerechtigkeit und der Schande
vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu ueberliefern--

Die Koenigin. Wer hat mir vorzuschreiben?

Nottingham. Dir vorzuschreiben!--Schreibet man dem Himmel vor, wenn
man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet?--Und so flehet Dich alles
wider den Mann an, dessen Gemuetsart so schlecht, so boshaft ist, dass
er es auch nicht der Muehe wert achtet, den Heuchler zu spielen.--Wie
stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, poebelhaft stolz; nicht
anders als ein elender Lakai auf seinen bunten verbraemten Rock!--Dass
er tapfer ist, raeumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der
Baer ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit,
welche eine edle Seele ueber Glueck und Unglueck erhebt, ist fern von
ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset ueber
ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; ueberall will er allein
glaenzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des
Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und
herrschsuechtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stuerzte--

Die Koenigin. Gemach, Nottingham, gemach!--Du eiferst dich ja ganz aus
dem Atem.--Ich will nichts mehr hoeren--(beiseite) Gift und Blattern
auf ihre Zunge!--Gewiss, Nottingham, du solltest dich schaemen, so etwas
auch nur nachzusagen; dergleichen Niedertraechtigkeiten des boshaften
Poebels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, dass der Poebel
das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wuenscht, dass er es
sagen moechte.

Nottingham. Ich erstaune, Koenigin--

Die Koenigin. Worueber?

Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden--

Die Koenigin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt haette, wie gewuenscht dir
dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal
gluehte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich,
ueberzufliessen, und jedes Wort, jede Gebaerde hatte seinen laengst
abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft.

Nottingham. Verzeihe, Koenigin, wenn ich in dem Ausdrucke meine
Schuldigkeit gefehlet habe. Ich mass ihn nach Deinem ab.

Die Koenigin. Nach meinem?--Ich bin seine Koenigin. Mir steht es frei,
dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auch
hat er sich der graesslichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig
gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich.--Womit koennte dich
der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er
uebertreten, keine Untertanen, die er bedruecken, keine Krone, nach der
er streben koennte. Was findest du denn also fuer ein grausames
Vergnuegen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf
zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen?

Nottingham. Ich bin zu tadeln--

Die Koenigin. Genug davon!--Seine Koenigin, die Welt, das Schicksal
selbst erklaert sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein
Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen?--

Nottingham. Ich bekenne es, Koenigin,

Die Koenigin. Geh, es sei dir vergeben!--Rufe mir gleich die Rutland
her.--"


----Fussnote

[1] Act. III.

    --By all
    The Subtilty, and Woman in your Sex,
    I swear, that had you been a Man, you durst not,
    Nay, your bold Father Harry durst not this
    Have done--Why say I him? Not all the Harrys,
    Not Alexander self, were he alive,
    Should boast of such a deed on Essex done
    Without revenge.--

----Fussnote




Achtundfunfzigstes Stueck
Den 20. November 1767

Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich,
dass Rutland, ohne Wissen der Koenigin, mit dem Essex vermaehlt ist.

"Die Koenigin. Koemmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt.
--Wie ist's? Ich finde dich seit einiger Zeit so traurig. Woher diese
truebe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland;
ich will dir einen wackern Mann suchen.

Rutland. Grossmuetige Frau!--Ich verdiene es nicht, dass meine Koenigin
so gnaedig auf mich herabsiehet.

Die Koenigin. Wie kannst du so reden?--Ich liebe dich; jawohl liebe
ich dich.--Du sol1st es daraus schon sehen!--Eben habe ich mit der
Nottingham, der widerwaertigen!--einen Streit gehabt; und zwar--ueber
Mylord Essex.

Rutland. Ha!

Die Koenigin. Sie hat mich recht sehr geaergert. Ich konnte sie nicht
laenger vor Augen sehen.

Rutland (beiseite). Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen!
Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fuehl' es; ich werde blass--und
wieder rot.--

Die Koenigin. Was ich dir sage, macht dich erroeten?--

Rutland. Dein so ueberraschendes, guetiges Vertrauen, Koenigin,--

Die Koenigin. Ich weiss, dass du mein Vertrauen verdienest.--Komm,
Rutland, ich will dir alles sagen. Du sol1st mir raten.--Ohne Zweifel,
liebe Rutland, wirst du es auch gehoert haben, wie sehr das Volk wider
den armen, ungluecklichen Mann schreiet; was fuer Verbrechen es ihm zur
Last leget. Aber das Schlimmste weisst du vielleicht noch nicht? Er
ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdruecklichen Befehl;
und hat die dortigen Angelegenheiten in der groessten Verwirrung
gelassen.

Rutland. Darf ich Dir, Koenigin, wohl sagen, was ich denke?--Das
Geschrei des Volkes ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Hass
ist oefters so ungegruendet--

Die Koenigin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele.--Aber,
liebe Rutland, er ist demohngeachtet zu tadeln.--Komm her, meine
Liebe; lass mich an deinen Busen mich lehnen.--O gewiss, man legt mir
es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen.
Sie vergessen, dass ich ihre Koenigin bin.--Ah, Liebe; so ein Freund hat
mir laengst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschuetten kann!--

Rutland. Siehe meine Traenen, Koenigin--Dich so leiden zu sehen, die
ich so bewundere!--Oh, dass mein guter Engel Gedanken in meine Seele,
und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu
beschwoeren, und Balsam in Deine Wunden zu giessen!

Die Koenigin. Oh, so waerest du mein guter Engel! mitleidige, beste
Rutland!--Sage, ist es nicht schade, dass so ein braver Mann ein
Verraeter sein soll? dass so ein Held, der wie ein Gott verehret ward,
sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu
wollen?

Rutland. Das haette er gewollt? das koennte er wollen? Nein, Koenigin,
gewiss nicht, gewiss nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hoeren!
mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem
Entzuecken habe ich ihn von Dir sprechen hoeren!

Die Koenigin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hoeren?

Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte
Ueberlegung, aus dem ein inneres Gefuehl spricht, dessen er nicht
maechtig ist. Sie ist, sagte er, die Goettin ihres Geschlechts, so weit
ueber alle andere Frauen erhaben, dass das, was wir in diesen am meisten
bewundern, Schoenheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein
groesseres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit
verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem
alles ueberstroemenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts uebersteigt ihre
Guete; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glueckliche
Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels
gezogen und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet.--Oh,
unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues
Herz ausdrueckte, oh, dass sie nicht unsterblich sein kann! Ich wuensche
ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit
diesen Abglanz von sich zurueckruft und mit eins sich Nacht und
Verwirrung ueber Britannien verbreiten.

Die Koenigin. Sagte er das, Rutland?

Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe,
dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich
ueberstroemte--

Die Koenigin. Oh, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du
ihm gibst!

Rutland. Und kannst ihn noch fuer einen Verraeter halten?

Die Koenigin. Nein;--aber doch hat er die Gesetze uebertreten.--Ich muss
mich schaemen, ihn laenger zu schuetzen.--Ich darf es nicht einmal wagen,
ihn zu sehen.

Rutland. Ihn nicht zu sehen, Koenigin? nicht zu sehen?--Bei dem
Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwoere
ich Dich,--Du musst ihn sehen! Schaemen? wessen? dass Du mit einem
Ungluecklichen Erbarmen hast?--Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte
Koenige schimpfen?--Nein, Koenigin; sei auch hier Dir selbst gleich.
Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen--

Die Koenigin. Ihn, der meinen ausdruecklichen Befehl so geringschaetzen
koennen? Ihn, der sich so eigenmaechtig vor meine Augen draengen darf?
Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl?

Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der
Gefahr, in der er sich sahe. Er hoerte, was hier vorging; wie sehr man
ihn zu verkleinern, ihn Dir verdaechtig zu machen suche. Er kam also,
zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich
zu rechtfertigen und Dich nicht hintergehen zu lassen.

Die Koenigin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich
sehen.--Oh, meine Rutland, wie sehr wuensche ich es, ihn noch immer
ebenso rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!

Rutland. Oh, naehre diese guenstige Gedanke! Deine koenigliche Seele
kann keine gerechtere hegen.--Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiss
finden. Ich wollte fuer ihn schwoeren; bei aller Deiner Herrlichkeit
fuer ihn schwoeren, dass er es nie aufgehoeret zu sein. Seine Seele ist
reiner als die Sonne, die Flecken hat und irdische Duenste an sich
ziehet und Geschmeiss ausbruetet.--Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt
es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niedertraechtigkeit faehig.
Bedenke, wie er die Rebellen gezuechtiget; wie furchtbar er Dich dem
Spanier gemacht, der vergebens die Schaetze seiner Indien wider Dich
verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Voelkern vorher,
und ehe diese noch eintrafen, hatte oefters schon sein Name gesiegt.

Die Koenigin (beiseite). Wie beredt sie ist!--Ha! dieses Feuer, diese
Innigkeit,--das blosse Mitleid gehet so weit nicht.--Ich will es gleich
hoeren!--(Zu ihr.) Und dann, Rutland, seine Gestalt--

Rutland. Recht, Koenigin; seine Gestalt.--Nie hat eine Gestalt den
innern Vollkommenheiten mehr entsprochen!--Bekenn' es, Du, die Du
selbst so schoen bist, dass man nie einen schoenern Mann gesehen! So
wuerdig, so edel, so kuehn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied,
in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das ganze von einem so
sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen
vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus
hundert Gegenstaenden zusammensuchen muss, was sie hier beieinander
findet!

Die Koenigin (beiseite). Ich dacht' es!--Das ist nicht laenger
auszuhalten.--(Zu ihr.) Wie ist dir, Rutland? Du geraetst ausser dir.
Ein Wort, ein Bild ueberjagt das andere. Was spielt so den Meister
ueber dich? Ist es bloss deine Koenigin, ist es Essex selbst, was diese
wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket?--(Beiseite.) Sie
schweigt; ganz gewiss, sie liebt ihn.--Was habe ich getan? Welchen
neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt?" usw.

Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Koenigin zu
sagen, dass Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen.
"Rutland", sagt die Koenigin, "wir sprechen einander schon weiter; geh
nur.--Nottingham, tritt du naeher." Dieser Zug der Eifersucht ist
vortrefflich. Essex koemmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige.
Ich wuesste nicht, wie sie verstaendiger und gluecklicher vorbereitet
sein koennte. Essex anfangs, scheinet sich voellig unterwerfen zu
wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach
und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl haette
alles das die Koenigin so weit nicht aufbringen koennen, wenn ihr Herz
nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen waere. Es ist
eigentlich die eifersuechtige Liebhaberin, welche schlaegt, und die
sich nur der Hand der Koenigin bedienet. Eifersucht ueberhaupt schlaegt
gern.--

Ich, meinesteils, moechte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den
ganzen "Essex" des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch,
so voller Leben und Wahrheit, dass das Beste des Franzosen eine sehr
armselige Figur dagegen macht.



Neunundfunfzigstes Stueck
Den 24. November 1767

Nur den Stil des Banks muss man aus meiner Uebersetzung nicht beurteilen.
Von seinem Ausdrucke habe ich gaenzlich abgehen muessen. Er ist zugleich so
gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von
Person zu Person, sondern ganz durchaus, dass er zum Muster dieser Art von
Misshelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut
als moeglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen
lieber, als an der andern, scheitern wollen.

Ich habe mich mehr vor dem Schwuelstigen gehuetet, als vor dem Platten. Die
mehresten haetten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwuelstig
und tragisch halten viele so ziemlich fuer einerlei. Nicht nur viele der
Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere
Menschen sprechen? Was waeren das fuer Helden? Ampullae et sesquipedalia
verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den
wahren Ton der Tragoedie.

"Wir haben es an nichts fehlen lassen", sagt Diderot,[1] (man merke, dass
er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht), "das Drama aus dem Grunde
zu verderben. Wir haben von den Alten die volle praechtige Versifikation
beibehalten, die sich doch nur fuer Sprachen von sehr abgemessenen
Quantitaeten und sehr merklichen Akzenten, nur fuer weitlaeufige Buehnen, nur
fuer eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so
wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespraeche,
und die Wahrheit ihrer Gemaelde haben wir fahren lassen."

Diderot haette noch einen Grund hinzufuegen koennen, warum wir uns den
Ausdruck der alten Tragoedien nicht durchgaengig zum Muster nehmen duerfen.
Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien,
oeffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie
muessen also fast immer mit Zurueckhaltung und Ruecksicht auf ihre Wuerde
sprechen; sie koennen sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den
ersten den besten Worten entladen; sie muessen sie abmessen und waehlen.
Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen
groesstenteils zwischen ihren vier Waenden lassen: was koennen wir fuer
Ursache haben, sie demohngeachtet immer eine so geziemende, so
ausgesuchte, so rhetorische Sprache fuehren zu lassen? Sie hoert niemand,
als dem sie es erlauben wollen, sie zu hoeren; mit ihnen spricht niemand
als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also
selbst im Affekte sind und weder Lust noch Musse haben, Ausdruecke zu
kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er
auch in das Stueck eingeflochten war, dennoch niemals misshandelte und
stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale
wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den hoehern
Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdruecken gelernt
als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhoerlich, sich
besser auszudruecken als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jede
ihre eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die
in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut
verstehet, als der Polierteste.

Bei einer gesuchten, kostbaren, schwuelstigen Sprache kann niemals
Empfindung sein. Sie zeugt von keiner Empfindung, und kann keine
hervorbringen. Aber wohl vertraegt sie sich mit den simpelsten,
gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten.

Wie ich Banks' Elisabeth sprechen lasse, weiss ich wohl, hat noch keine
Koenigin auf dem franzoesischen Theater gesprochen. Den niedrigen
vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhaelt, wuerde man
in Paris kaum einer guten adligen Landfrau angemessen finden. "Ist dir
nicht wohl?--Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich.--Nur unruhig;
ein wenig unruhig bin ich.--Erzaehle mir doch.--Nicht wahr, Nottingham? Tu
das! Lass hoeren!--Gemach, gemach!--Du eiferst dich aus dem Atem.--Gift und
Blattern auf ihre Zunge!--Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen
habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auf den Kopf schlagen.--Wie ist's? Sei
munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.--Wie kannst
du so reden?--Du sollst es schon sehen.--Sie hat mich recht sehr geaergert.
Ich konnte sie nicht laenger vor Augen sehen.--Komm her, meine Liebe; lass
mich an deinen Busen mich lehnen.--Ich dacht' es!--Das ist nicht laenger
auszuhalten."--Jawohl ist es nicht auszuhalten! wuerden die feinen
Kunstrichter sagen--

Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen.--Denn leider gibt
es Deutsche, die noch weit franzoesischer sind, als die Franzosen. Ihnen
zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne
ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlaessigkeiten, die ihr
zaertliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu
finden waren, die er mit so vieler Ueberlegung dahin und dorthin streuete,
um den Dialog geschmeidig zu machen und den Reden einen wahrern Anschein
der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig
zusammen auf einen Faden und wollen sich krank darueber lachen. Endlich
folgt ein mitleidiges Achselzucken: "Man hoert wohl, dass der gute Mann die
grosse Welt nicht kennet; dass er nicht viele Koeniginnen reden gehoert;
Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe."

Demohngeachtet wuerde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer fuer die
Koeniginnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen
duerfen. Ich habe es lange schon geglaubt, dass der Hof der Ort eben nicht
ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette
aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen
Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Koeniginnen moegen so
gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Koeniginnen muessen
natuerlich sprechen. Er hoere der Hekuba des Euripides nur fleissig zu; und
troeste sich immer, wenn er schon sonst keine Koeniginnen gesprochen hat.

Nichts ist zuechtiger und anstaendiger als die simple Natur. Grobheit und
Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem
Erhabnen. Das naemliche Gefuehl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt,
wird sie auch hier bemerken. Der schwuelstige Dichter ist daher unfehlbar
auch der poebelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine
Gattung gibt mehrere Gelegenheit, in beide zu verfallen, als
die Tragoedie.

Gleichwohl scheinet die Englaender vornehmlich nur der eine in ihrem Banks
beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die
poebelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so
glaenzende Personen fuehren lasse; und wuenschten lange, dass sein Stueck von
einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe,
moechte umgearbeitet werden.[2] Dieses geschah endlich auch. Fast zu
gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darueber. Heinrich Jones, von
Geburt ein Irlaender, war seiner Profession nach ein Maurer und vertauschte,
wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon
einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen
Mann von grossem Genie bekannt machten, brachte er seinen "Essex" 1753
aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den
von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook liess seinen erst einige
Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, dass er, wie man ihm
Schuld gibt, ebensowohl den "Essex" des Jones als den vom Banks, genutzt
hat. Auch muss noch ein "Essex" von einem James Ralph vorhanden sein. Ich
gestehe, dass ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten
Tagebuechern kenne. Von dem "Essex" des Brook sagt ein franzoesischer
Kunstrichter, dass er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der
schoenen Poesie des Jones zu verbinden gewusst habe. Was er ueber die Rolle
der Rutland und ueber derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres
Gemahls hinzufuegt,[3] ist merkwuerdig; man lernt auch daraus das Pariser
Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.

Aber einen spanischen "Essex" habe ich gelesen, der viel zu sonderbar
ist, als dass ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte.--


----Fussnote

[1] Zweite Unterredung hinter dem "Natuerlichen Sohne". S.d. Uebers. 247.

[2] ("Companion to the Theatre", Vol. II. p. 105.)--The Diction is every
where very bad, and in some Places so low, that it even becomes
unnatural.--And I think, there cannot be a greater Proof of the little
Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest
of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to
adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression
befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters
are perhaps the greatest the World ever produced.

[3] ("Journal Encycl.", Mars 1761.) Il a aussi fait tomber en demence la
Comtesse de Rutland au moment que cet illustre epoux est conduit a
l'echafaud; ce moment ou cette Comtesse est un objet bien digne de pitie,
a produit une tres grande sensation, et a ete trouve admirable a Londres:
en France il eut paru ridicule, il aurait ete siffle et l'on aurait
envoye la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons.

----Fussnote




Sechzigstes Stueck
Den 27. November 1767

Er ist von einem Ungenannten und fuehret den Titel: "Fuer seine Gebieterin
sterben"[1]. Ich finde ihn in einer Sammlung von Komoedien, die Joseph
Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vierundsiebzigste
Stueck ist. Wenn er verfertiget worden, weiss ich nicht; ich sehe auch
nichts, woraus es sich ungefaehr abnehmen liesse. Das ist klar, dass sein
Verfasser weder die franzoesischen und englischen Dichter, welche die
naemliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen
gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner
Leser nicht vorgreifen.

Essex kommt von seiner Expedition wider die Spanier zurueck und will der
Koenigin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hoert er, dass
sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen,
namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf
diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche
Zusammenkuenfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin und bedient
sich des Schluessels, den er noch von der Gartentuere bewahret, durch die
er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natuerlich, dass er sich seiner Geliebten
eher zeigen will, als der Koenigin. Als er durch den Garten nach ihren
Zimmern schleichet, wird er an dem schattichten Ufer eines durch
denselben geleiteten Armes der Themse ein Frauenzimmer gewahr, (es ist
ein schwueler Sommerabend), das mit den blossen Fuessen in dem Wasser sitzt
und sich abkuehlet. Er bleibt voller Verwunderung ueber ihre Schoenheit
stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um
nicht erkannt zu werden. (Diese Schoenheit, wie billig, wird weitlaeuftig
beschrieben, und besonders werden ueber die allerliebsten weissen Fuesse in
dem klaren Wasser sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, dass der
entzueckte Graf zwei kristallene Saeulen in einem fliessenden Kristalle
stehen sieht; er weiss vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall
ihrer Fuesse ist, welcher in Fluss geraten, oder ob ihre Fuesse der Kristall
des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.[2]) Noch
verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weissen Gesichte:
er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so goettliches
Monstrum gebildet und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so
glaenzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr
zur Verspottung?[3] Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet,
als, unter der Ausrufung: Stirb, Tyrannin! ein Schuss auf sie geschieht,
und gleich darauf zwei maskierte Maenner mit blossem Degen auf sie
losgehen, weil der Schuss sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex
besinnt sich nicht lange, ihr zu Hilfe zu eilen. Er greift die Moerder an,
und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurueck und
bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, dass er
verwundet ist, knuepft ihre Schaerpe los und gibt sie ihm, sich die Wunde
damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schaerpe dienen, mich
Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muss ich mich entfernen,
ehe ueber den Schuss mehr Laermen entsteht; ich moechte nicht gern, dass die
Koenigin den Zufall erfuehre, und ich beschwoere Euch daher um Eure
Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen ueber diese
sonderbare Begebenheit, ueber die er mit seinem Bedienten, namens Cosme,
allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des
Stuecks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen,
und hatte den Schuss zwar gehoert, aber ihm doch nicht zu Hilfe kommen
duerfen. Die Furcht hielt an der Tuere Schildwache und versperrte ihm den
Eingang. Furchtsam ist Cosme fuer viere;[4] und das sind die spanischen
Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, dass er sich unfehlbar in die
schoene Unbekannte verliebt haben wuerde, wenn Blanca nicht schon so voellig
Besitz von seinem Herzen genommen haette, dass sie durchaus keiner andern
Leidenschaft darin Raum lasse. "Aber", sagt er, "wer mag sie wohl gewesen
sein? Was duenkt dich, Cosme?"--"Wer wird's gewesen sein", antwortet
Cosme, "als des Gaertners Frau, die sich die Beine gewaschen?"[5] Aus
diesem Zuge kann man leicht auf das uebrige schliessen. Sie gehen endlich
beide wieder fort; es ist zu spaet geworden; das Haus koennte ueber den
Schuss in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt
zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal.

Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermaedchen.
(Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die
vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der
Koenig von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem
juengsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist,
unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese
Verbindung zustande zu bringen. Es laesst sich alles, sowohl von seiten des
Parlaments als der Koenigin, sehr wohl dazu an: aber indes erblickt er die
Blanca und verliebt sich in sie. Itzt koemmt er und bittet Floren, ihm in
seiner Liebe behilflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er
zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit,
in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloss, Blanca
suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne,
dessen Stand so weit ueber den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung
machen koenne, so duerfte sie schwerlich seiner Liebe Gehoer geben.--(Man
erwartet, dass der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner
Absichten beteuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier sind in
diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er
hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora uebergeben soll. Er
wuenscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief fuer Eindruck auf sie
machen werde. Er schenkt Floren eine gueldne Kette, und Flora versteckt
ihn in eine anstossende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt,
welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet.

Essex koemmt. Nach den zaertlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den
teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich wuerdig
zu zeigen wuensche, muessen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca
bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit
welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie
ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben und ihn,
unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentuemer ihrer Ehre gemacht.
(Te hice dueno de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig
viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien
obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist
nichts in Abrede und fuegt hinzu, dass, nach dem Tode ihres Vaters und
Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen
gekommen sei. Nun aber habe er diese gluecklich vollendet; nun wolle er
unverzueglich die Koenigin um Erlaubnis zu ihrer Vermaehlung antreten.--"Und
so kann ich dir denn", sagt Blanca, "als meinem Geliebten, als meinem
Braeutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher
anvertrauen."[6]--


----Fussnote

[1] "Dar la vida por su Dama o el Conde de Sex"; de un Ingenio de esta
Corte.

[2]
    Las dos columnas bellas
    Metio dentro del rio, y como al verlas
    Vi un cristal en el rio desatado,
    Y vi cristal en ellas condensado,
    No supe si las aguas que se vian
    Eran sus pies, que liquidos corrian,
    O si sus dos columnas se formaban
    De las aguas, que alli se conjelaban.

Diese Aehnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben
will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand
geschoepft und nach dem Munde gefuehrt habe. Diese Hand, sagt er, war dem
klaren Wasser so aehnlich, dass der Fluss selbst fuer Schrecken zusammenfuhr,
weil er befuerchtete, sie moechte einen Teil ihrer eignen Hand mittrinken.

    Quiso probar a caso
    El agua, y fueron cristalino vaso
    Sus manos, acercolas a los labios,
    Y entonces el arroyo lloro agravios,
    Y como tanto, en fin, se parecia
    A sus manos aquello que bebia,
    Temi con sobresalto (y no fue en vano)
    Que se bebiera parte de la mano.

[3]
    Yo, que al principio vi, ciego, y turbado,
    A una parte nevado
    Y en otra negro el rostro,
    Juzgue, mirando tan divino monstruo,
    Que la naturaleza cuidadosa
    Desigualdad uniendo tau hermosa,
    Quiso hacer por asombro, o por ultraje,
    De azabache y marfil un maridaie.

[4]
    Ruido de armas en la Quinta,
    Y dentro el Conde? Que aguardo,
    Que no voy a socorrerle?
    Que aguardo? Lindo recado:
    Aguardo a que quiera el miedo
    Dejarme entrar:--
    ------
    Cosme, que ha temido un miedo
    Que puede valer por cuatro.

[5]
    La mujer del hortelano,
    Que se lavaba las piernas.

[6]
    Bien podre seguramente
    Revelarte intentos mios,
    Como a galan, como a dueno,
    Como a esposo, y como a amigo.

----Fussnote




Einundsechzigstes Stueck
Den 1. Dezember 1767

Hierauf beginnt sie eine lange Erzaehlung von dem Schicksale der Maria von
Schottland. Wir erfahren (denn Essex selbst muss alles das, ohne Zweifel,
laengst wissen), dass ihr Vater und Bruder dieser ungluecklichen Koenigin
sehr zugetan gewesen; dass sie sich geweigert, an der Unterdrueckung der
Unschuld teilzunehmen; dass Elisabeth sie daher gefangensetzen und in dem
Gefaengnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, dass Blanca die
Elisabeth hasst; dass sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu raechen.
Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen und sie
ihres ganzen Vertrauens gewuerdiget. Aber Blanca ist unversoehnlich.
Umsonst waehlte die Koenigin, nur kuerzlich, vor allen andern das Landgut
der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu geniessen.
--Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen
lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es
moechte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland
geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen;
und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Koenigin in dem Garten
ermorden wollen. Nun weiss Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der
er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiss nicht, dass es Essex ist,
welcher ihren Anschlag vereiteln muessen. Sie rechnet vielmehr auf die
unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht
bloss zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm voellig die
gluecklichere Vollziehung ihrer Rache zu uebertragen. Er soll sogleich an
ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben und
gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin muesse sterben; ihr
Name sei allgemein verhasst; ihr Tod sei eine Wohltat fuer das Vaterland,
und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu
verschaffen.

Essex ist ueber diesen Antrag aeusserst betroffen. Blanca, seine teure
Blanca, kann ihm eine solche Verraeterei zumuten? Wie sehr schaemt er sich
in diesem Augenblicke seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr,
wie es billig waere, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum
weniger bei ihren schaendlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Koenigin
die Sache hinterbringen? Das ist unmoeglich: Blanca, seine ihm noch immer
teure Blanca, laeuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen,
von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er muesste nicht wissen, was fuer
ein rachsuechtiges Geschoepf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich
durch Flehen erweichen und durch Gefahr abschrecken laesst. Wie leicht
koennte sie seine Abratung, sein Zorn zur Verzweiflung bringen, dass sie
sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht waere und ihr
zuliebe alles unternaehme?[1]--Dieses in der Geschwindigkeit ueberlegt,
fasst er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heisst der
Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhaengern in die Falle zu locken.

Blanca wird ungeduldig, dass ihr Essex nicht sogleich antwortet. "Graf",
sagt sie, "wenn du erst lange mit dir zu Rate gehst, so liebst du mich
nicht. Auch nur zweifeln ist Verbrechen. Undankbarer!"[2]--"Sei ruhig,
Blanca!" erwidert Essex: "ich bin entschlossen."--"Und wozu?"--"Gleich
will ich dir es schriftlich geben."

Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der
Herzog aus der Galerie naeher. Er ist neugierig, zu sehen, wer sich mit
der Blanca so lange unterhaelt; und erstaunt, den Grafen von Essex zu
erblicken. Aber noch mehr erstaunt er ueber das, was er gleich darauf zu
hoeren bekoemmt. Essex hat an den Roberto geschrieben und sagt der Blanca
den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken
will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen;
Essex will ihn mit seinen Leuten unterstuetzen; Essex hat die Gunst des
Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Koenigin zu bemaechtigen;
sie ist schon so gut als tot.--"Erst muesst' ich sterben!" ruft auf einmal
der Herzog und koemmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen ueber
diese ploetzliche Erscheinung; und das Erstaunen des letztern ist nicht
ohne Eifersucht. Er glaubt, dass Blanca den Herzog bei sich verborgen
gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca und versichert, dass sie von
seiner Anwesenheit nichts gewusst; er habe die Galerie offen gefunden und
sei von selbst hereingegangen, die Gemaelde darin zu betrachten.[3]

"Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern
Leben der Koenigin, bei--Aber genug, dass ich es sage: Blanca ist
unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklaerung zu danken.
Auf Sie ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie
Sie, machen Leute, wie ich--

Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?--

Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich
kenne Sie nun. Ich hielt Sie fuer einen ganz andern Mann: und ich
finde, Sie sind ein Verraeter.

Der Graf. Wer darf das sagen?

Der Herzog. Ich!--Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hoeren,
Graf!

Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein--

Der Herzog. Denn kurz: ich bin ueberzeugt, dass ein Verraeter kein Herz
hat. Ich treffe Sie als einen Verraeter: ich muss Sie fuer einen Mann
ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils
ueber Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen
verlustig sind. Waeren Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt,
so wuerde ich Sie zu zuechtigen wissen.

Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand
begegnen duerfen, als der Bruder des Koenigs von Frankreich.

Der Herzog. Wenn ich auch der nicht waere, der ich bin; wenn nur Sie
der waeren, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl
empfinden, mit wem Sie zu tun haetten.--Sie, der Graf von Essex? Wenn
Sie dieser berufene Krieger sind: wie koennen Sie so viele grosse Taten
durch eine so unwuerdige Tat vernichten wollen?--"


----Fussnote

[1]
    Ay tal traicion! vive el Cielo,
    Que de amarla estoy corrido.
    Blanca, que es mi dulce dueno,
    Blanca, a quien quiero, y estimo,
    Me propone tal traicion!
    Que hare, porque si ofendido,
    Respondiendo, como es justo,
    Contra su traicion me irrito,
    No por eso ha de evitar
    So resuelto desatino.
    Pues darle cuenta a la Reina
    Es imposible, pues quiso
    Mi suerte, que tenga parte
    Blanca en aqueste delito.
    Pues si procuro con ruegos
    Disuadirla, es desvario,
    Que es una mujer resuelta
    Animal tan vengativo,
    Que no se dobla a los riesgos:
    Antes con afecto impio,
    En el mismo rendimiento
    Suelen aguzar los filos;
    Y quiza desesperada
    De mi enojo, o mi desvio,
    Se declarara con otro
    Menos leal, menos fino,
    Que quiza por ella intente
    Lo que yo hacer no he querido.

[2]
    Si estas consultando, Conde,
    Alla dentro de ti mismo
    Lo que has de hacer, no me quieres,
    Ya el dudarlo fue delito.
    Vive Dios, que eres ingrato!

[3]
      Por vida del Rey mi hermano,
      Y por la que mas estimo,
      De la Reina mi senora,
      Y por--pero yo lo digo,
      Que en mi es el mayor empeno
      De la verdad del decirlo,
      Que no tiene Blanca parte
      De estar yo aqui--
    ------
      Y estad muy agradecido
      A Blanca, de que yo os de,
      No satisfaccion, aviso
      De esta verdad, porque a vos,
      Hombres como yo--Cond. Imagino
      Que no me conoceis bien.
    Duq. No os habia conocido
      Hasta aqui; mas ya os conozco,
      Pues ya tan otro os he visto
      Que os reconozco traidor.
    Cond. Quien dijere--Duq. Yo lo digo
      No pronuncieis algo, Conde,
      Que ya no puedo sufriros.
    Cond. Cualquier cosa que yo intente--
    Duq. Mirad que estoy persuadido
      Que hace la traicion cobardes;
      Y asi cuando os he cogido
      En un lance que me da
      De que sois cobarde indicios,
      No he de aprovecharme de esto,
      Y asi os perdona mi brio
      Ese rato que teneis
      El valor desminuido;
      Que a estar todo vos entero,
      Supiera daros castigo.
    Cond. Yo soy el Conde de Sex
      Y nadie se me ha atrevido
      Sino el hermano del Rey
      De Francia. Duq. Yo tengo brio
      Para que sin ser quien soy,
      Pueda mi valor invicto
      Castigar, no digo yo
      Solo a vos, mas a vos mismo,
      Siendo leal, que es lo mas
      Con que queda encarecido.
      Y pues sois tan gran Soldado,
      No echeis a perder, os pido
      Tantas heroicas hazanas
      Con un hecho tan indigno--

----Fussnote




Zweiundsechzigstes Stueck
Den 4. Dezember 1767

Der Herzog faehrt hierauf fort, ihm sein Unrecht in einem etwas gelindern
Tone vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines Bessern zu besinnen; er will
es vergessen, was er gehoert habe; er ist versichert, dass Blanca mit dem
Grafen nicht einstimmen und dass sie selbst ihm eben das wuerde gesagt
haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen waere. Er schliesst
endlich: "Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so
schaendlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber
meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, dass Sie einen Kopf haben,
und London einen Henker!"[1]--Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist
in der aeussersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich fuer einen Verraeter
gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen
den Herzog zu rechtfertigen; er muss sich gedulden, bis es der Ausgang
lehre, dass er da seiner Koenigin am getreuesten gewesen sei, als er es am
wenigsten zu sein geschienen.[2] So spricht er mit sich selbst: zur
Blanca aber sagt er, dass er den Brief sogleich an ihren Oheim senden
wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern
verwuenscht, sich aber noch damit getroestet, dass es kein Schlimmerer als
der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse.

Die Koenigin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was
ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, dass ihre Leibwache alle Zugaenge
wohl besetzt; und morgen will sie nach London zurueckkehren. Der Kanzler
ist der Meinung, die Meuchelmoerder aufsuchen zu lassen und durch ein
oeffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche
Belohnung zu verheissen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein.
"Denn da es ihrer zwei waren", sagt er, "die den Anfall taten, so kann
leicht einer davon ein ebenso treuloser Freund sein, als er ein treuloser
Untertan ist."[3] Aber die Koenigin missbilliget diesen Rat; sie haelt es
fuer besser, den ganzen Vorfall zu unterdruecken und es gar nicht bekannt
werden zu lassen, dass es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat
erkuehnen duerfen. "Man muss", sagt sie, "die Welt glauben machen, dass die
Koenige so wohl bewacht werden, dass es der Verraeterei unmoeglich ist, an
sie zu kommen. Ausserordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen,
als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der
Suende unzertrennlich; und dieses kann oft ebensosehr anreizen, als jenes
abschrecken."[4]

Indem wird Essex gemeldet und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem
gluecklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Koenigin
sagt ihm auf eine sehr verbindliche Weise: "Da ich Euch wieder erblicke,
weiss ich von dem Ausgange des Krieges schon genug."[5] Sie will von
keinen naehern Umstaenden hoeren, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und
befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von
England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Koenigin und Essex sind
allein; das Gespraech wird vertraulicher; Essex hat die Schaerpe um; die
Koenigin bemerkt sie, und Essex wuerde es aus dieser blossen Bemerkung
schliessen, dass er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca
nicht schon geschlossen haette. Die Koenigin hat den Grafen schon laengst
heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.[6] Es
kostet ihr alle Muehe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne
Fragen, ihn auszulocken und zu hoeren, ob sein Herz schon eingenommen, und
ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte
gibt er ihr durch seine Antworten gewissermassen zu verstehen, und zugleich,
dass er fuer ebendiese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken
sich erkuehnen duerfe. Die Koenigin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen
zu geben: doch siegt noch ihr Stolz ueber ihre Liebe. Ebensosehr hat der
Graf mit seinem Stolze zu kaempfen: er kann sich des Gedankens nicht
entwehren, dass ihn die Koenigin liebe, ob er schon die Vermessenheit
dieses Gedankens erkennet. (Dass diese Szene groesstenteils aus Reden
bestehen muesse, die jedes seitab fuehret, ist leicht zu erachten.) Sie
heisst ihn gehen und heisst ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm
das Patent bringe. Er bringt es; sie ueberreicht es ihm; er bedankt sich,
und das Seitab faengt mit neuem Feuer an.

"Die Koenigin. Toerichte Liebe!--

Essex. Eitler Wahnsinn!--

Die Koenigin. Wie blind!--

Essex. Wie verwegen!--

Die Koenigin. So tief willst du, dass ich mich herabsetze?--

Essex. So hoch willst Du, dass ich mich versteige?--

Die Koenigin. Bedenke, dass ich Koenigin bin!

Essex. Bedenke, dass ich Untertan bin!

Die Koenigin. Du stuerzest mich bis in den Abgrund,--

Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne,--

Die Koenigin. Ohne auf meine Hoheit zu achten.

Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwaegen.

Die Koenigin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert:--

Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemaechtiget:--

Die Koenigin. So stirb da, und komm' nie auf die Zunge!

Essex. So stirb da, und komm' nie ueber die Lippen!"[7]

(Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden
miteinander und reden auch nicht miteinander. Der eine hoert, was der
andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehoert hat. Sie
nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele.
Man sage jedoch nicht, dass man ein Spanier sein muss, um an solchen
unnatuerlichen Kuensteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreissig
Jahre fanden wir Deutsche ebensoviel Geschmack daran; denn unsere
Staats-und Heldenaktionen wimmelten davon, die in allem nach den
spanischen Mustern zugeschnitten waren.)

Nachdem die Koenigin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald
wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab und machen dem
ersten Aufzuge ein Ende.--Die Stuecke der Spanier, wie bekannt, haben
deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre
alleraeltesten Stuecke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf
allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von
Komoedien. Virves war der erste, welcher die vier Aufzuege auf drei
brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stuecke seiner
Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte.
Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern "Neuen Kunst, Komoedien
zu machen"[8]; mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch
finde[9], wo sich dieser den Ruhm anmasst, die spanische Komoedie von fuenf
Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der
spanische Literator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich
dabei nicht aufhalten.


----Fussnote

[1]
    Miradlo mejor, dejad
    Un intento tan indigno,
    Corresponded a quien sois,
    Y sino bastan avisos,
    Mirad que hay Verdugo en Londres,
    Y en vos cabeza, harto os digo.

[2]
    No he de responder al Duque
    Hasta que el suceso mismo
    Muestre como fueron falsos
    De mi traicion los indicios,
    Y que soy mas leal, cuando
    Mas traidor he parecido.

[3]
    Y pues son dos los culpados
    Podra ser, que alguno de ellos
    Entregue al otro; que es llano,
    Que sera traidor amigo
    Quien fue desleal vasallo.

[4]
    Y es gran materia de estado
    Dar a entender, que los Reyes
    Estan en si tan guardados
    Que aunque la traicion los busque,
    Nunca ha de poder hallarlos;
    Y asi el secreto averiguee
    Enormes delitos, cuando
    Mas que el castigo, escarmientos
    De ejemplares el pecado.

[5]
    Que ya solo con miraros
    Se el suceso de la guerra.

[6]
    No bastaba, amor tirano,
    Una inclinacion tan fuerte,
    Sin que te hayas ayudado
    Del deberle yo la vida?

[7]
    Rein. Loco Amor--Cond. Necio imposible--
    Rein. Que ciego--Cond. Que temerario--
    Rein. Me abates a tal bajeza--
    Cond. Me quieres subir tan alto--
    Rein. Advierte, que soy la Reina--
    Cond. Advierte, que soy vasallo--
    Rein. Pues me humillas al abismo--
    Cond. Pues me acercas a los rayos--
    Rein. Sin reparar mi grandeza--
    Cond. Sin mirar mi humilde estado--
    Rein. Ya que te miro aca dentro--
    Cond. Ya que en mi te vas entrando--
    Rein. Muere entre el pecho, y la voz.
    Cond. Muere entre el alma, y los labios.

[8]
"Arte nuevo de hazer Comedias", die sich hinter des Lope "Rimas"
befindet.
    El Capitan Virues; insigne ingenio,
    Puso en tres actos la Comedia, que antes
    Andaba en cuatro, como pies de nino,
    Que eran entonces ninas las Comedias,
    Y yo las escribi de once, y doce anos,
    De a cuatro actos, y de a cuatro pliegos,
    Porque cada acto un pliego contenia.

[9] In der Vorrede zu seinen Komoedien: Donde me atrevi a reducir las
Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenian.

----Fussnote




Dreiundsechzigstes Stueck
Den 8. Dezember 1767

Die Koenigin ist von dem Landgute zurueckgekommen; und Essex gleichfalls.
Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen
Augenblick vermissen zu lassen. Er eroeffnet mit seinem Cosme den zweiten
Akt, der in dem koeniglichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des
Grafen, sich mit Pistolen versehen muessen; der Graf hat heimliche Feinde;
er besorgt, wenn er des Nachts spaet vom Schlosse gehe, ueberfallen zu
werden. Er heisst den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der
Blanca zu tragen und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet
er die Schaerpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist
eifersuechtig; die Schaerpe koennte ihr Gedanken machen; sie koennte sie
haben wollen; und er wuerde sie ihr abschlagen muessen. Indem er sie dem
Cosme zur Verwahrung uebergibt, koemmt Blanca dazu. Cosme will sie
geschwind verstecken: aber es kann so geschwind nicht geschehen, dass es
Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Koenigin;
und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schaerpe reinen Mund zu
halten und sie niemanden zu zeigen.

Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, dass er
ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er
fuerchtet ein Geschwaer im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des
Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, dass er sich dieser Gefahr
bereits sechsunddreissig Stunden ausgesetzt habe.[1] Er gibt Floren die
Pistolen und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte von
der maskierten Dame und der Schaerpe zu erzaehlen. Doch eben besinnt er
sich, dass es wohl eine wuerdigere Person sein muesse, der er sein Geheimnis
zuerst mitteile. Es wuerde nicht lassen, wenn sich Flora ruehmen koennte,
ihn dessen defloriert zu haben.[2] (Ich muss von allerlei Art des
spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.)

Cosme darf auf diese wuerdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von
ihrer Neugierde viel zu sehr gequaelt, dass sie sich nicht, sobald als
moeglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme
vorhin so hastig vor ihr zu verbergen gesucht. Sie koemmt also sogleich
zurueck, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach
Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr
geantwortet, dass er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu
wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn; doch Cosme laesst
nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schaerpe
weiss; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines
Geheimnisses entlediget, ist aeusserst ekel. Sein Magen will es nicht
laenger bei sich behalten; es stoesst ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den
Finger in den Hals; er gibt es von sich, und um einen bessern Geschmack
wieder in den Mund zu bekommen, laeuft er geschwind ab, eine Quitte oder
Olive darauf zu kauen.[3] Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwaetze
zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, dass
die Schaerpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden
koennte, wenn er es nicht schon sei. "Denn er ist doch nur ein Mann", sagt
sie. "Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste
ist noch so schlimm! "[4]--Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie
ihn je eher je lieber heiraten.

Die Koenigin tritt herein und ist aeusserst niedergeschlagen. Blanca fragt,
ob sie die uebrigen Hofdamen rufen soll: aber die Koenigin will lieber
allein sein; nur Irene soll kommen und vor dem Zimmer singen. Blanca geht
auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern koemmt der Graf.

Essex liebt die Blanca: aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber
der Koenigin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er
bestraft sich deswegen; sein Herz gehoert der Blanca; eigennuetzige
Absichten muessen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Konvenienz muss
keinen echten Affekt besiegen.[5] Er will sich also lieber wieder
entfernen, als er die Koenigin gewahr wird: und die Koenigin, als sie ihn
erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem
faengt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein
kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: "Sollten meine
verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: oh, so lass das Mitleid,
welches sie verdienen, den Unwillen ueberwaeltigen, den du darueber
empfindest, dass ich es bin, der sie fuehret." Der Koenigin gefaellt das
Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte
Weise, seine Liebe zu erklaeren. Er sagt, er habe es glossieret[6] und
bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu duerfen. In dieser
Glosse beschreibt er sich als den zaertlichsten Liebhaber, dem es aber die
Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die
Koenigin lobt seine Poesie: aber sie missbilliget seine Art zu lieben.
"Eine Liebe", sagt sie unter andern, "die man verschweigt, kann nicht
gross sein; denn Liebe waechst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe
macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig."


----Fussnote

[1]
    --Yo no me acordaba
    De decirlo, y lo callaba.
    Y como me lo entrego,
    Ya por decirlo reviento,
    Que tengo tal propiedad,
    Que en un hora, o la mitad,
    Se me hace postema un cuento.

[2]
    Alla va Flora; mas no,
    Sera persona mas grave--
    No es bien que Flora se alabe
    Que el cuento me desfloro.

[3]
    Ya se me viene a la boca
    La purga.--
    O que regueeldos tan secos
    Me vienen! terrible aprieto.--
    Mi estomago no lo lleva;
    Protesto que es gran trabajo,
    Meto los dedos.--
    Y pues la purga he trocado,
    Y el secreto he vomitado
    Desde el principio hasta el fin,
    Y sin dejar cosa alguna,
    Tal asco me dio al decillo,
    Voy a probar de en membrillo,
    O a morder de una accituna.--

[4]
    Es hombre al fin, y ay! de aquella
    Que a un hombre fio su honor,
    Siendo tan malo, el mejor.

[5]
    Abate, abate las alas
    No subas tanto, busquemos
    Mas proporcionada esfera
    A tan limitado vuelo.
    Blanca me quiere, y a Blanca
    Adoro yo ya en mi dueno;
    Pues como de amor tan noble
    Por una ambicion me alejo?
    No conveniencia bastarda
    Venza un legitimo afecto.

[6] Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche sie Glosas nennen.
Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte und erklaeren oder
umschreiben diesen Text so, dass sie die Zeilen selbst in diese Erklaerung
oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heissen sie Mote oder
Letra, und die Auslegung insbesondere Glosa, welches denn aber auch der
Name des Gedichts ueberhaupt ist. Hier laesst der Dichter den Essex das Lied
der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in
einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile
schliesst. Das Ganze sieht so aus:

      Mote.

      Si acaso mis desvarios
      Llegaren a tus umbrales,
      La lastima de ser males
      Quite el horror de ser mios.

      Glosa.

      Aunque el dolor me provoca
      Decir mis quejas no puedo,
      Que es mi osadia tan poca,
      Que entre el respeto, y el miedo
      Se me mueren en la boca;
      Y asi no llegan tan mios
      Mis males a tus orejas,
      Porque no han de ser oidos
      Si acaso digo mis quejas,
    Si acaso mis desvarios.
      El ser tan mal explicados
      Sea su mayor indicio,
      Que trocando en mis cuidados
      El silencio, y vos su oficio,
      Quedaran mas ponderados:
      Desde hoy por estas senales
      Sean de ti conocidos,
      Que sin duda son mis males
      Si algunos mal repetidos
    Llegaren a tus umbrales.
      Mas ay Dies! que mis cuidados
      De tu crueldad conocidos,
      Aunque mas acreditados,
      Seran menos adquiridos.
      Que con los otros mezclados:
      Porque no sabiendo a cuales
      Mas tu ingratitud se deba
      Viendolos todos iguales
      Fuerza es que en comun te mueva
    La lastima de ser males.
      En mi este afecto violento
      Tu hermoso desden le causa;
      Tuyo, y mio es mi tormento;
      Tuyo, porque eres la causa;
      Y mio, porque yo le siento:
      Sepan, Laura, tus desvios
      Que mis males son tan suyos,
      Y en mis cuerdos desvarios
      Esto que tienen de tuyos
    Quite el horror de ser mios.

Es muessen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein als diese.
Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote
schliesst, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht
alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschraenken
und diese mehr als einmal wiederholen. uebrigens gehoeren diese Glossen
unter die aelteren Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan
und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen.


----Fussnote




Vierundsechzigstes Stueck
Den 11. Dezember 1767

Der Graf versetzt, dass die vollkommenste Liebe die sei, welche keine
Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen
selbst mache sein Glueck: denn solange er seine Liebe verschweige, sei sie
noch unverworfen, koenne er sich noch von der suessen Vorstellung taeuschen
lassen, dass sie vielleicht duerfe genehmiget werden. Der Unglueckliche sei
gluecklich, solange er noch nicht wisse, wie ungluecklich er sei.[1] Die
Koenigin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran
gelegen ist, dass Essex nicht laenger darnach handle: und Essex, durch
diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen,
von welchem die Koenigin behauptet, dass es ein Liebhaber auf alle Weise
wagen muesse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese
Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten
Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schaerpe um, die sie dem Cosme
abgenommen, welches zwar die Koenigin, aber nicht Essex gewahr wird.[2]

"Essex. So sei es gewagt!--Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum
will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hilfsmittel sterben
kann? Was fuerchte ich noch?--Koenigin, wann denn also,--

Blanca. Der Herzog, Ihre Majestaet,--

Essex. Blanca koennte nicht ungelegener kommen.

Blanca. Wartet in dem Vorzimmer,--

Die Koenigin. Ah! Himmel!

Blanca. Auf Erlaubnis,--

Die Koenigin. Was erblicke ich?

Blanca. Hereintreten zu duerfen.

Die Koenigin. Sag ihm--Was seh' ich!--Sag ihm, er soll warten.--Ich
komme von Sinnen!--Geh, sag ihm das.

Blanca. Ich gehorche.

Die Koenigin. Bleib! Komm her! naeher!

Blanca. Was befehlen Ihro Majestaet?--

Die Koenigin. Oh, ganz gewiss!--Sage ihm--Es ist kein Zweifel mehr!--
Geh, unterhalte ihn einen Augenblick,--Weh, mir!--Bis ich selbst zu
ihm herauskomme. Geh, lass mich!

Blanca. Was ist das?--Ich gehe.

Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren,--

Die Koenigin. Ha, Eifersucht!

Essex. Mich zu erklaeren.--Was ich wage, wage ich auf ihre eigene
Ueberredung.

Die Koenigin. Mein Geschenk in fremden Haenden! Bei Gott!--Aber ich
muss mich schaemen, dass eine Leidenschaft so viel ueber mich vermag!

Essex. Wenn denn also,--wie Ihre Majestaet gesagt, und wie ich
einraeumen muss,--das Glueck, welches man durch Furcht erkauft,--sehr
teuer zu stehen koemmt; wenn man viel edler stirbt:--so will auch
ich,--

Die Koenigin. Warum sagen Sie das, Graf?

Essex. Weil ich hoffe, dass, wann ich--Warum fuerchte ich mich noch?--
wann ich Ihre Majestaet meine Leidenschaft bekannte,--dass einige
Liebe--

Die Koenigin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie?
Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin?
Und wer Sie sind? Ich muss glauben, dass Sie den Verstand verloren.--"

Und so fahren Ihre Majestaet fort, den armen Grafen auszufenstern, dass es
eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel ueber
alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, dass der
Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurueckbrausen
muesse? Ob er nicht wisse, dass die Duenste, welche sich zur Sonne erhueben,
von ihren Strahlen zerstreuet wuerden?--Wer vom Himmel gefallen zu sein
glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschaemt zurueck und bittet um Verzeihung.
Die Koenigin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder
zu betreten und sich gluecklich zu schaetzen, dass sie ihm den Kopf lasse,
in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen koennen.[3] Er entfernt sich;
und die Koenigin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie
wenig ihr Herz mit ihren Reden uebereinstimme.

Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Buehne zu fuellen. Blanca
hat dem Herzog es frei gestanden, auf welchem Fusse sie mit dem Grafen
stehe; dass er notwendig ihr Gemahl werden muesse, oder ihre Ehre sei
verloren. Der Herzog fasst den Entschluss, den er wohl fassen muss; er will
sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht
er sogar, sich bei der Koenigin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die
Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle.

Die Koenigin kommt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurueck. Sie ist mit
sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er
scheine. Vielleicht, dass es eine andere Schaerpe war, die der ihrigen nur
so aehnlich ist.--Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine
Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde
sich naeher darueber erklaeren; er wolle sie zusammen allein lassen: und so
laesst er sie.

Die Koenigin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschliesst sich
Blanca, zu reden. Sie will nicht laenger von dem veraenderlichen Willen
eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht laenger
anheimstellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die
Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau, nicht die Koenigin. Denn
da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen muesse: so suche sie in
ihr nicht die Koenigin, sondern nur die Frau.[4]


----Fussnote

[1]
    --El mas verdadero amor
    Es el que en si mismo quieto
    Descansa, sin atender
    A mas paga, o mas intento:
    La correspondencia es paga,
    Y tener por blanco el precio
    Es querer per granjeria.--
    ------
    Dentro esta del silencio, y del respeto
    Mi amor, y asi mi dicha esta segura,
    Presumiendo tal vez (dulce locura!)
    Que es admitido del mayor suieto.
    Dejandome enganar de este concepto,
    Dura mi bien, porque mi engano dura;
    Necia sera la lengua, si aventura
    Un bien que esta seguro en el secreto.--
    Que es feliz quien no siendo venturoso
    Nunca llega a saber, que es desdichado.

    [2]
    Por no morir de mal, cuando
    Puedo morir de remedio,
    Digo pues, ea, osadia,
    Ella me alento, que temo?--
    Que sera bien que a tu Alteza--
    (Sale Blanca con la banda puesta.)
    Bl. Senora, el duque--Cond. A mal tiempo
      Viene Blanca. Bl. Esta aguardando
      En la antecamara--Rein. Ay, cielo!
    Bl. Para entrar--Rein. Que es lo que miro!
    Bl. Licencia. Rein. Decid;--que veo!--
      Decid que espere;--estoy loca!
      Decid, andad. Bl. Ya obedezco.
    Rein. Venid aca, volved. Bl. Que manda
      Vuestra Alteza? Rein. Ei dano es cierto.
      Decidle--no hay que dudar--
      Entretenedle un momento--
      Ay de mi!--mientras yo salgo--
      Y dejadme. Bl. Que es aquesto?
      Y voy. Cond. Ya Blanca se fue,
      Quiero pues volver--Rein. Ha celos!
    Cond. A declararme atrevido,
      Pues si me atrevo, me atrevo
      En fe de sus pretensiones.
    Rein. Mi prenda en poder ajeno?
      Vive Dios, pero es vergueenza
      Que pueda tanto un afecto
      En mi. Cond. Segun lo que dijo
      Vuestra Alteza aqui, y supuesto,
      Que cuesta cara la dicha,
      Que se compra con el miedo,
      Quiero morir noblemente.
    Rein. Porque lo decis? Cond. Que espero
      Si a vuestra Alteza (que dudo!)
      Le declarase mi afecto,
      Algun amor--Rein. Que decis?
      A mi? como, loco, necio,
      Conoceisme? Quien soy yo?
      Decid, quien soy? que sospecho,
      Que se os huyo la memoria.--

    [3]
    --No me veais,
    Y agradeced el que os dejo
    Cabeza, en que se engendraron
    Tan livianos pensamientos.

    [4]
    --Ya estoy resuelta;
    No a la voluntad mudable
    De un hombre este yo sujeta,
    Que aunque no se que me olvide,
    Es necedad, que yo quiera
    Dejar a su cortesia
    Lo que puede hacer la fuerza.
    Gran Isabela, escuchadme,
    Y al escucharme tu Alteza,
    Ponga aun mas que la atencion,
    La piedad con las orejas.
    Isabela os he llamado
    En esta ocasion, no Reina,
    Que cuando vengo a deciros
    Del honor una flaqueza
    Que he hecho como mujer,
    Porque mejor os parezca,
    No Reina, mujer os busco.
    Solo mujer os quisiera.--

----Fussnote




Fuenfundsechzigstes Stueck
Den 15. Dezember 1767

Du? mir eine Schwachheit? fragt die Koenigin.

"Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Traenen,
sind vermoegend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer
koemmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf--

Die Koenigin. Der Graf? Was fuer ein Graf?--

Blanca. Von Essex.

Die Koenigin. Was hoere ich?

Blanca. Seine verfuehrerische Zaertlichkeit--

Die Koenigin. Der Graf von Essex?

Blanca. Er selbst, Koenigin.--

Die Koenigin (beiseite). Ich bin des Todes!--Nun? weiter!

Blanca. Ich zittere.--Nein, ich darf es nicht wagen--"

Die Koenigin macht ihr Mut und lockt ihr nach und nach mehr ab, als
Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hoeren wuenscht.
Sie hoeret, wo und wie der Graf gluecklich gewesen;[1] und als sie
endlich auch hoeret, dass er ihr die Ehe versprochen, und dass Blanca auf
die Erfuellung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange
zurueckgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhoehnet das leichtglaeubige
Maedchen auf das empfindlichste und verbietet ihr schlechterdings, an
den Grafen weiter zu denken. Blanca erraet ohne Muehe, dass dieser Eifer
der Koenigin Eifersucht sein muesse: und gibt es ihr zu verstehen.

"Die Koenigin. Eifersucht?--Nein; bloss deine Auffuehrung entruestet mich.
--Und gesetzt,--ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich,--ich ihn
liebte, und eine andere waere so vermessen, so toericht, ihn neben mir
zu lieben,--was sage ich, zu lieben?--ihn nur anzusehen,--was sage
ich, anzusehen?--sich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu
lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten?--Du siehest,
wie sehr mich eine bloss vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht
aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun wuerde. Itzt
stelle ich mich nur eifersuechtig. Huete dich, mich es wirklich zu
machen!"[2]

Mit dieser Drohung geht die Koenigin ab und laesst die Blanca in der
aeussersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, ueber
die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Koenigin hat ihr Vater
und Bruder und Vermoegen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen
nehmen. Die Rache war schon beschlossen: aber warum soll Blanca noch
erst warten, bis sie ein anderer fuer sie vollzieht? Sie will sie selbst
bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Koenigin muss
sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr
an Gelegenheit nicht fehlen.--Sie sieht die Koenigin mit dem Kanzler
wiederkommen und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefasst zu machen.

Der Kanzler haelt verschiedne Briefschaften, die ihm die Koenigin nur auf
einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch
durchsehen. Der Kanzler erhebt die ausserordentliche Wachsamkeit, mit der
sie ihren Reichsgeschaeften obliege; die Koenigin erkennt es fuer ihre
Pflicht und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein und setzt sich zu
den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und
anstaendigern Sorgen ueberlassen. Aber das erste Papier, was sie in die
Haende nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muss
es denn eben", sagt sie, "von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkoemmt!"
Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen
Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine
Liebe zu Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur
Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem
Bruder des Todes Linderung suchen: und so faellt sie in Schlaf.

Indem tritt Blanca herein und hat eine von den Pistolen des Grafen, die
sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses
Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Koenigin allein
und entschlafen: was fuer einen bequemem Augenblick koennte sie sich
wuenschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht und sie in ihrem
Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel erraet man, was nun geschieht. Er
koemmt also, sie hier zu suchen; und koemmt eben noch zurecht, der Blanca
in den moerderischen Arm zu fallen und ihr die Pistole, die sie auf die
Koenigin schon gespannt hat, zu entreissen. Indem er aber mit ihr ringt,
geht der Schuss los: die Koenigin erwacht, und alles koemmt aus dem Schlosse
herzugelaufen.

"Die Koenigin (im Erwachen). Ha! Was ist das?

Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das fuer ein Knall in dem Zimmer
der Koenigin? Was geschieht hier?

Essex (mit der Pistole in der Hand). Grausamer Zufall!

Die Koenigin. Was ist das, Graf?

Essex. Was soll ich tun?

Die Koenigin. Blanca, was ist das?

Blanca. Mein Tod ist gewiss!

Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich!

Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verraeter?

Essex (beiseite). Wozu soll ich mich entschliessen? Schweige ich: so
faellt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich
der nichtswuerdige Verklaeger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner
teuersten Blanca.

Die Koenigin. Sind Sie der Verraeter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer
von euch war mein Retter? wer mein Moerder? Mich duenkt, ich hoerte im
Schlafe euch beide rufen: Verraeterin! Verraeter! Und doch kann nur
eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben
suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig,
Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt?--Wohl, schweigt nur! Ich
will in dieser Ungewissheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht
wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht duerfte es mich
ebensosehr schmerzen, meinen Beschuetzer zu erfahren, als meinen Feind.
Ich will der Blanca gern ihre Verraeterei vergeben, ich will sie ihr
verdanken: wenn dafuer der Graf nur unschuldig war."[3]

Aber der Kanzler sagt: wenn es die Koenigin schon hierbei wolle bewenden
lassen, so duerfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu gross; sein Amt
erfodere, es zu ergruenden; besonders da aller Anschein sich wider den
Grafen erklaere.

"Die Koenigin. Der Kanzler hat recht; man muss es untersuchen.--Graf,--

Essex. Koenigin!--

Die Koenigin. Bekennen Sie die Wahrheit.--(Beiseite.) Aber wie sehr
fuerchtet meine Liebe, sie zu hoeren! War es Blanca?

Essex. Ich Ungluecklicher!

Die Koenigin. War es Blanca, die meinen Tod wollte?

Essex. Nein, Koenigin; Blanca war es nicht.

Die Koenigin. Sie waren es also?

Essex. Schreckliches Schicksal!--Ich weiss nicht.

Die Koenigin. Sie wissen es nicht?--Und wie koemmt dieses moerderische
Werkzeug in Ihre Hand?--"

Der Graf schweigt, und die Koenigin befiehlt, ihn nach dem Tower zu
bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer
bewacht werden. Sie werden abgefuehrt, und der zweite Aufzug schliesst.


----Fussnote

[1]
    bl. le llame una noche obscura--
    rein. y vino a verte? bl. pluguiera
      a dios, que no fuera tanta
      mi desdicha, y su fineza.
      vino mas galan que nunca,
      y yo que dos veces ciega,
      por mi mal, estaba entonces
      del amor, y las tinieblas--

[2]
    rein. este es celo, blanca. bl. celos,
      anadiendole una letra.
    rein. que decis? bl. senora, que
      si acaso posible fuera,
      a no ser vos la que dice
      esas palabras, dijera,
      que eran celos. rein. que son celos?
      no son celos, es ofensa
      que me estais haciendo vos.
      supongamos, que quisiera
      al conde en esta ocasion;
      pues si yo al conde quisiera
      y alguna atrevida, loca
      presumida, descompuesta
      le quisiera, que es querer?
      que le mirara, o le viera;
      que es verle? no se que diga.
      no hay cosa que menos sea--
      no la quitara la vida?
      la sangre no le bebiera?--
      los celos, aunque fingidos,
      me arrebataron la lengua,
      y dispararon mi enojo--
      mirad que no me deis celos,
      que si fingidos se altera
      tanto mi enojo, ved vos,
      si fuera verdad, que hiciera--
      escarmentad en las burlas,
      no me deis celos de veras.

    conde, vos traidor? vos, blanca?
    el juicio esta indiferente,
    cual me libra, cual me mata.
    conde, bianca, respondedme!
    tu a la reina? tu a la reina?
    oid, aunque confusamente:
    ha, traidora, dijo el conde.
    blanca, dijo: traidor eres.
    estas razones de entrambos
    a entrambas cosas convienen:
    uno de los dos me libra,
    otro de los me ofende.
    conde, cual me daba vida?
    blanca, cual me daba muerte?
    decidme!--no lo digais,
    que neutral mi valor quiere,
    per no saber el traidor,
    no saber el inocente.
    mejor es quedar confusa,
    en duda mi juicio quede,
    porque cuando mire a alguno,
    y de la traicion me acuerde,
    a pensar, que es el traidor,
    que es el leal tambien piense.
    yo le agradeciera a blanca,
    que ella la traidora fuese,
    solo a trueque de que el conde
    fuera el, que estaba inocente.--

----Fussnote




Sechsundsechzigstes Stueck
Den 18. Dezember 1767

Der dritte Aufzug faengt sich mit einer langen Monologe der Koenigin an,
die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu
finden. Die Vielleicht werden nicht gesparet, um ihn weder als ihren
Moerder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu duerfen. Besonders
geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit;
sie denkt ueber diesen Punkt ueberhaupt lange so zaertlich und sittsam
nicht, als wir es wohl wuenschen moechten, und als sie auf unsern Theatern
denken muesste.[1]

Es kommen der Herzog und der Kanzler: jener, ihr seine Freude ueber die
glueckliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen
Beweis, der sich wider den Essex aeussert, vorzulegen. Auf der Pistole, die
man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehoert ihm; und wem
sie gehoert, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen.

Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was
nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewussten Briefe
nach Schottland abgehen wollen und ist angehalten worden. Seine Reise
sieht einer Flucht sehr aehnlich, und solche Flucht laesst vermuten, dass er
an dem Verbrechen seines Herrn Anteil koenne gehabt haben. Er wird also
vor den Kanzler gebracht, und die Koenigin befiehlt, ihn in ihrer
Gegenwart zu verhoeren. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann
man leicht erraten. Er weiss von nichts; und als er sagen soll, wo er
hingewollt, laesst er sich um die Wahrheit nicht lange noetigen. Er zeigt
den Brief, den ihm sein Graf an einen andern Grafen nach Schottland zu
ueberbringen befohlen: und man weiss, was dieser Brief enthaelt. Er wird
gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hoert, wohin es damit
abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er ueber den Schluss desselben,
worin der Ueberbringer ein Vertrauter heisst, durch den Roberto seine
Antwort sicher bestellen koenne. "Was hoere ich?" ruft Cosme. "Ich ein
Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin
niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein.--Habe
ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich moechte doch wissen, was
mein Herr an mir gefunden haette, um mich dafuer zu nehmen. Ich, ein
Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiss zum
Exempel, dass Blanca und mein Herr einander lieben, und dass sie heimlich
miteinander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdruecken
wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie huebsch sehen, meine
Herren, was fuer ein Vertrauter ich bin. Schade, dass es nicht etwas viel
Wichtigeres ist: ich wuerde es ebensowohl sagen."[2] Diese Nachricht
schmerzt die Koenigin nicht weniger, als die Ueberzeugung, zu der sie durch
den ungluecklichen Brief von der Verraeterei des Grafen gelangt. Der Herzog
glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu muessen und der Koenigin
nicht laenger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufaelligerweise
angehoert habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verraeters, und
sobald die Koenigin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestaet,
als gekraenkte Liebe, des Grafen Tod zu beschliessen.

Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm in das Gefaengnis. Der Kanzler koemmt
und eroeffnet dem Grafen, dass ihn das Parlament fuer schuldig erkannt und
zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen
werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld.

"Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber so
viele Beweise wider Sie!--Haben Sie den Brief an den Roberto nicht
geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhaendiger Name?

Essex. Allerdings ist er es.

Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca,
nicht ausdruecklich den Tod der Koenigin beschliessen hoeren?

Essex. Was er gehoert hat, hat er freilich gehoert.

Der Kanzler. Sahe die Koenigin, als sie erwachte, nicht die Pistole in
Ihrer Hand? Gehoert die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht
Ihnen?

Essex. Ich kann es nicht leugnen.

Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig.

Essex. Das leugne ich.

Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, dass Sie den Brief an den
Roberto schrieben?

Essex. Ich weiss nicht.

Der Kanzler. Wie kam es denn, dass der Herzog den verraeterischen
Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen musste?

Essex. Weil es der Himmel so wollte.

Der Kanzler. Wie kam es denn, dass sich das moerderische Werkzeug in
Ihren Haenden fand?

Essex. Weil ich viel Unglueck habe.

Der Kanzler. Wenn alles das Unglueck, und nicht Schuld ist: wahrlich,
Freund, so spielst Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie
werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen muessen.

Essex. Schlimm genug."[3]

"Wissen Ihre Gnaden nicht", fragt Cosme, der dabei ist, "ob sie mich etwa
mit haengen werden?" Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr
hinlaenglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu
verstatten, dass er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen duerfe. Der
Kanzler bedauert, dass er, als Richter, ihm diese Bitte versagen muesse;
weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich, als moeglich,
geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er
vielleicht sowohl unter den Grossen, als unter dem Poebel in Menge haben
moechte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf
wuenschte bloss deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu
ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht muendlich tun
duerfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein
Leben fuer sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf
der Zunge fuehren, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er
sie beschwoeren, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er
setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er
ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca
einzuhaendigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen.


----Fussnote

[1]
    No pudo ser que mintiera
    Blanca en lo que me conto
    De gozarla el Conde? No,
    Que Blanca no lo fingiera:
    No pudo haberla gozado,
    Sin estar enamorado,
    Y cuando tierno y rendido,
    Entonces la haya querido,
    No puede haberla olvidado?
    No le vieron mis antoios
    Entre acogimientos sabios,
    Muy callando con los labios,
    Muy bachiller con los ojos,
    Cuando al decir sus enojos
    Yo su despecho reni?

    [2]
    Que escucho? Senores mios,
    Dos mil demonios me lleven,
    Si yo confidente soy,
    Si lo he sido, o si lo fuere,
    Ni tengo intencion de serlo.
    --Tengo yo
    Cara de ser confidente?
    Yo no se que ha visto en mi
    Mi amo para tenerme
    En esta opinion; y a fe,
    Que me holgara de que fuese
    Cosa de mas importancia
    Un secretillo muy leve,
    Que rabio ya per decirlo,
    Que es que el Conde a Blanca quiere,
    Que estan casados los dos
    En secreto--

    [3]
    Con. Solo el descargo que tengo
      Es el estar inocente.
    Senescal. Aunque yo quiera creerlo
      No me dejan los indicios,
      Y advertid, que ya no es tiempo
      De dilacion, que manana
      Habeis de morir. Con. Yo muero
      Inocente. Sen. Pues decid:
      No escribisteis a Roberto
      Esta carta? Aquesta firma
      No es la vuestra? Con. No lo niego.
    Sen. El gran duque de Alanzon
      No os oyo en el aposento
      De Blanca trazar la muerte
      De la Reina? Con. Aqueso es cierto.
    Sen. Cuando desperto la Reina
      No os hallo, Conde, a vos mesmo
      Con la pistola en la mano?
      Y la pistola que vemos
      Vuestro nombre alli gravado
      No es vuestro? Con. Os lo concedo.
    Sen. Luego vos estais culpado.
    Con. Eso solamente niego.
    Sen. Pues como escribisteis, Conde,
      La carta al traidor Roberto?
    Con. No lo se. Sen. Pues como el Duque,
      Que escucho vuestros intentos,
      Os convence en la traicion?
    Con. Porque asi lo quiso el cielo.
    Sen. Como hallado en vuestra mano
      Os culpa el vil instrumento?
    Con. Porque tengo poca dicha.--
    Sen. Pues sabed, que si es desdicha
      Y no culpa, en tanto aprieto
      Os pone vuestra fortuna,
      Conde amigo, que supuesto
      Que no dais otro descargo,
      En fe de indicios tan ciertos,
      Manana vuestra cabeza
      Ha de pagar--

----Fussnote




Siebenundsechzigstes Stueck
Den 22. Dezember 1767

Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet haette. Alles ist
ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem
ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf
dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das
Gefaengnis hereintritt. Es ist die Koenigin. "Der Graf", sagt sie vor sich
im Hereintreten, "hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafuer
verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um
Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genuege
geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!"[1] Indem sie
naeher kommt, wird sie gewahr, dass der Graf schreibt. "Ohne Zweifel", sagt
sie, "an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der
feurigsten, uneigennuetzigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht!--Graf!"
--Der Graf hoert sich rufen, sieht hinter sich und springt voller Erstaunen
auf. "Was seh' ich!"--"Keinen Traum", faehrt die Koenigin fort, "sondern die
Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu ueberzeugen, und lassen Sie uns kostbare
Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren.--Sie erinnern sich doch meiner?
Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich hoere, dass Sie morgen sterben
sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben fuer Leben
zu geben. Ich habe den Schluessel des Gefaengnisses zu bekommen gewusst.
Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die
Pforte in den Park oeffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben,
das mir so teuer ist."--

"Essex. Teuer? Ihnen, Madame?

Die Koenigin. Wuerde ich sonst soviel gewagt haben, als ich wage?

Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet
einen Weg, mich durch mein Glueck selbst ungluecklich zu machen. Ich
scheine gluecklich, weil die mich zu befreien koemmt, die meinen Tod
will: aber ich bin um so viel ungluecklicher, weil die meinen Tod will,
die meine Freiheit mir anbietet."[2]--

Die Koenigin verstehet hieraus genugsam, dass sie Essex kennet. Er
verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gaenzlich; aber er
bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.

"Die Koenigin. Und mit welcher?

Essex. Mit der, Madame, von der ich weiss, dass sie in Ihrem Vermoegen
steht,--mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Koenigin sehen zu
lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie
an das zu erinnern, was ich fuer Sie getan habe. Bei dem Leben, das
ich Ihnen gerettet, beschwoere ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu
erzeigen.

Die Koenigin (vor sich). Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich
sieht, dass er sich rechtfertiget! Das wuensche ich ja nur.

Essex. Verzoegern Sie mein Glueck nicht, Madame.

Die Koenigin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber
nehmen Sie erst diesen Schluessel; von ihm haengt Ihr Leben ab. Was ich
itzt fuer Sie tun darf, koennte ich hernach vielleicht nicht duerfen.
Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.[3]

Essex (indem er den Schluessel nimmt). Ich erkenne diese Vorsicht mit
Dank.--Und nun, Madame,--ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte
der Koenigin, oder dem Ihrigen zu lesen.

Die Koenigin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehoert doch nur das,
welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun
erblicken, (indem sie die Maske abnimmt) ist der Koenigin. Jenes, mit
welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.

Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des
koeniglichen Antlitzes, dass es jeden Schuldigen begnadigen muss, der
es erblickt; und auch mir muesste diese Wohltat des Gesetzes zustatten
kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht
nehmen. Ich will es wagen, meine Koenigin an die Dienste zu erinnern,
die ich ihr und dem Staate geleistet--.[4]

Die Koenigin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr
Verbrechen, Graf, ist groesser als Ihre Dienste.

Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Koenigin zu
versprechen?

Die Koenigin. Nichts.

Essex. Wenn die Koenigin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der
ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl guetiger mit mir
verfahren?

Die Koenigin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat
Ihnen den Weg geoeffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir ihr
Leben schuldig ist?

Die Koenigin. Sie haben schon gehoert, dass ich diese Dame nicht bin.
Aber gesetzt, ich waere es: gebe ich Ihnen nicht ebensoviel wieder, als
ich von Ihnen empfangen habe?

Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, dass Sie mir den Schluessel
gegeben?

Die Koenigin. Dadurch allerdings.

Essex. Der Weg, den mir dieser Schluessel eroeffnen kann, ist weniger
der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll,
muss nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt
die Koenigin, mich mit diesem Schluessel fuer die Reiche, die ich ihr
erfochten, fuer das Blut, das ich um sie vergossen, fuer das Leben, das
ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schluessel fuer alles das
abzulohnen?[5] Ich will mein Leben einem anstaendigem Mittel zu danken
haben, oder sterben (indem er nach dem Fenster geht).

Die Koenigin. Wo gehen Sie hin?

Essex. Nichtwuerdiges Werkzeug meines Lebens und meiner Entehrung!
Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in
ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! (Er eroeffnet das
Fenster und wirft den Schluessel durch das Gitter in den Kanal.) Durch
die Flucht waere mein Leben viel zu teuer erkauft.[6]

Die Koenigin. Was haben Sie getan, Graf?--Sie haben sehr uebel getan.

Essex. Wenn ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, dass ich
eine undankbare Koenigin hinterlasse.--Will sie aber diesen Vorwurf
nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses
unanstaendigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf
meine Dienste: es steht bei ihr, sie zu belohnen oder mit dem Andenken
derselben ihren Undank zu verewigen.

Die Koenigin. Ich muss das letztere Gefahr laufen.--Denn wahrlich, mehr
konnte ich, ohne Nachteil meiner Wuerde, fuer Sie nicht tun.

Essex. So muss ich denn sterben?

Die Koenigin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Koenigin muss
dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen muessen Sie sterben; und es ist
schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir
das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Koenige, dass sie
viel weniger nach ihren Empfindungen handeln koennen, als andere.
--Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!--"


----Fussnote

[1]
    el conde me dio la vida
    y asi obligada me veo;
    el conde me daba muerte,
    y asi ofendida me quejo.
    pues ya que con la sentencia
    esta parte he satisfecho,
    pues compli con la justicia,
    con el amor cumplir quiero.--

[2]
    ingeniosa mi fortuna
    hallo en la dicha mas nuevo
    modo de hacerme infeliz,
    pues cuando dichoso veo,
    que me libra quien me mata,
    tambien desdichado advierto,
    que me mata quien me libra.

[3]
    pues si esto ha de ser, primero
    tomad, conde, aquesta llave,
    que si ha de ser instrumento
    de vuestra vida, quiza
    tan otra, quitando el velo,
    sere, que no pueda entonces
    hacer lo que ahora puedo,
    y como a daros la vida
    me empene por lo que os debo,
    por si no puedo despues,
    de esta suerte me prevengo.

[4]
    morire yo consolado.
    aunque si por privilegio
    en viendo la cara al rey
    queda perdonado el reo;
    yo de este indulto, senora
    vida por ley me prometo:
    esto es en comun, que es
    lo que a todos da el derecho;
    pero si en particular
    merecer el perdon quiero,
    oid, vereis que me ayuda
    mayor indulto en mis hechos.
    mis hazanas--

[5]
    luego esta, que asi camino
    abrira a mi vida, abriendo,
    tambien lo abrira a mi infamia;
    luego esta, que instrumento
    de mi libertad, tambien
    lo habra de ser de mi miedo.
    esta, que solo me sirve
    de huir, es el desempeno
    de reinos, que os he ganado,
    de servicios, que os he hecho.
    y en fin, de esa vida, de esa,
    que teneis hoy por mi esfuerzo?
    en esta se cifra tanto?--

[6]
    vil instrumento
    de mi vida, y de mi infamia,
    por esta reja cayendo
    del parque, que bate el rio,
    entre sus cristales quiero,
    si sois mi esperanza, hundiros;
    caed al humido centro,
    donde el tamasis sepulte
    mi esperanza, y mi remedio.

----Fussnote




Achtundsechzigstes Stueck
Den 25. Dezember 1767

Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der
Stille: und beide, der Graf und die Koenigin, gehen ab; jedes von einer
besondern Seite. Im Herausgehen, muss man sich einbilden, hat Essex Cosmen
den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick
darauf koemmt dieser damit herein und sagt, dass man seinen Herrn zum Tode
fuehre; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es
versprochen, uebergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine
Neugierde. "Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung?
die kaeme ein wenig zu spaet. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er
doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch
wohl nicht. Nun was denn?" Er wird immer begieriger; zugleich faellt ihm
ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet haette, dass er nicht
gewusst, was in dem Briefe seines Herrn stuende. "Waere ich nicht", sagt er,
"bei einem Haare zum Vertrauten darueber geworden? Hol' der Geier die
Vertrautschaft! Nein, das muss mir nicht wieder begegnen!" Kurz, Cosme
beschliesst den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natuerlich, dass ihn
der Inhalt aeusserst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige
und gefaehrliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu koennen;
er zittert ueber den blossen Gedanken, dass man es in seinen Haenden finden
koenne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der
Koenigin zu bringen.

Eben koemmt die Koenigin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler
nur erst abfertigen lassen; und tritt beiseite. Die Koenigin erteilt dem
Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich
und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon
erfahren, bis der gekoepfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und
Gehorsam zurufe.[1] Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen und,
nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die
Grossen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu
zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern und
ihnen einzuschaerfen, dass ihre Koenigin ebenso strenge zu sein wisse, als
sie gnaedig sein zu koennen wuensche: und das alles, wie sie der Dichter
sagen laesst, nach Gebrauch und Sitte des Landes.[2]

Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Koenigin an.
"Diesen Brief", sagt er, "hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode
der Blanca einzuhaendigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiss selbst nicht
warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestaet wissen muessen, und
die dem Grafen vielleicht noch zustatten kommen koennen: so bringe ich ihn
Ihro Majestaet, und nicht der Blanca." Die Koenigin nimmt den Brief und
lieset: "Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir
nicht vergoennen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung
schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verraeter
gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der
bewussten Sache behilflich zu sein, bloss um der Koenigin desto nachdrueck-
licher zu dienen und den Roberto, nebst seinen Anhaengern, nach London zu
locken. Urteile, wie gross meine Liebe ist, da ich demohngeachtet eher
selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung:
stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich
nun nicht mehr; und es moechte sich nicht alle Tage einer finden, der dich
so sehr liebte, dass er den Tod des Verraeters fuer dich sterben wollte. "[3]--

"Mensch!" ruft die bestuerzte Koenigin, "was hast du mir da gebracht?"
"Nun?" sagt Cosme, "bin ich noch ein Vertrauter?"--"Eile, fliehe, deinen
Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten!--Holla, Wache! bringt ihn
augenblicklich vor mich,--den Grafen,--geschwind!"--Und eben wird er
gebracht: sein Leichnam naemlich. So gross die Freude war, welche die
Koenigin auf einmal ueberstroemte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so
gross sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie
verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und
Blanca mag zittern!--

So schliesst sich dieses Stueck, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu
lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den
dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wuesste kein einziges,
welches man uns uebersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilet haette.
Denn die "Virginia" des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch
geschrieben; aber kein spanisches Stueck. ein blosser Versuch in der
korrekten Manier der Franzosen, regelmaessig, aber frostig. Ich bekenne sehr
gern, dass ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich
wohl ehedem muss gedacht haben.[4] Wenn das zweite Stueck des naemlichen
Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation,
welche ebendiesen Weg betreten wollen, ihn nicht gluecklicher betreten haben:
so moegen sie mir es nicht uebelnehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem
alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen.

Die echten spanischen Stuecke sind vollkommen nach der Art dieses "Essex".
In allen einerlei Fehler, und einerlei Schoenheiten: mehr oder weniger;
das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den
Schoenheiten duerfte man mich fragen.--Eine ganze eigne Fabel; eine sehr
sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue
Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl
angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Wuerde
und Staerke im Ausdrucke.--

Das sind allerdings Schoenheiten: ich sage nicht, dass es die hoechsten
sind; ich leugne nicht, dass sie zum Teil sehr leicht bis in das
Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatuerliche koennen getrieben werden, dass
sie bei den Spaniern von dieser Uebertreibung selten frei sind. Aber man
nehme den meisten franzoesischen Stuecken ihre mechanische Regelmaessigkeit:
und sage mir, ob ihnen andere, als Schoenheiten solcher Art, uebrig
bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung und
Theaterstreiche und Situationen?

Anstaendigkeit: wird man sagen.--Nun ja; Anstaendigkeit. Alle ihre
Verwicklungen sind anstaendiger, und einfoermiger; alle ihre
Theaterstreiche anstaendiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen
anstaendiger, und gezwungner. Das koemmt von der Anstaendigkeit!

Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der
poebelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des
Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so beruechtiget
ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloss mit
der Anstaendigkeit stritte,--man versteht schon, welche Anstaendigkeit ich
meine;--wenn sie weiter keinen Fehler haette, als dass sie die Ehrfurcht
beleidigte, welche die Grossen verlangen, dass sie der Lebensart, der
Etikette, dem Zeremoniell und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die
man den groessern Teil der Menschen bereden will, dass es einen kleinern
gaebe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so wuerde mir die unsinnigste
Abwechslung von Niedrig auf Gross, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf
Weiss, willkommner sein, als die kalte Einfoermigkeit, durch die mich der
gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten
mehr heissen, unfehlbar einschlaefert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier
in Betrachtung.


----Fussnote

[1]
    Hasta que el tronco cadaver
    Le sirva de muda lengua.

[2]
    Y asi al salon de palacio
    Hareis que llamados vengan
    Los Grandes y los Milordes,
    Y para que alli le vean,
    Debajo de una cortina
    Hareis poner la cabeza
    Con el sangriento cuchillo,
    Que amenaza junto a ella,
    Por simbolo de justicia,
    Costumbre de Inglaterra:
    Y en estando todos juntos,
    Monstrandome justiciera,
    Exhortandolos primero
    Con amor a la obediencia,
    Les mostrare luego al Conde,
    Para que todos atiendan,
    Que en mi hay rigor que los rinda,
    Si hay piedad que los atreva.

[3]
    Blanca, en el ultimo trance,
    Porque hablarte no me dejan,
    He de escribirte un consejo,
    Y tambien una advertencia;
    La advertencia es, que yo nunca
    Fui traidor, que la promesa
    De ayudar en lo que sabes,
    Fue por servir a la Reina,
    Cogiendo a Roberto en Londres,
    Y a los que seguirle intentan;
    Para aquesto fue la carta:
    Esto he querido que sepas,
    Porque adviertas el prodigio
    De mi amor, que asi se deja
    Morir, por guardar tu vida.
    Esta ha sido la advertencia:
    (Valgame dios!) el consejo
    Es, que desistas la empresa
    A que Roberto te incita.
    Mira que sin mi te quedas
    Y no ha de haber cada dia
    Quien, por mucho que te quiera,
    Por conservarte la vida
    Por traidor la suya pierda.--

[4] "Theatralische Bibliothek", erstes Stueck, S. 117.

----Fussnote




Neunundsechzigstes Stueck
Den 29. Dezember 1767

Lope de Vega, ob er schon als der Schoepfer des spanischen Theaters
betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einfuehrte. Das
Volk war bereits so daran gewoehnt, dass er ihn wider Willen mit anstimmen
musste. In seinem Lehrgedichte ueber "die Kunst, neue Komoedien zu machen",
dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darueber. Da er sahe, dass
es nicht moeglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten fuer seine
Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit
wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er
dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so
muesse er doch seine Grundsaetze haben; und es sei besser, auch nur nach
diesen mit einer bestaendigen Gleichfoermigkeit zu handeln, als nach gar
keinen. Stuecke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, koennen
doch noch immer Regeln beobachten und muessen dergleichen beobachten,
wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem blossen Nationalgeschmacke
hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des
Ernsthaften und Laecherlichen die erste.

"Auch Koenige", sagt er, "koennet ihr in euern Komoedien auftreten lassen.
Ich hoere zwar, dass unser weiser Monarch (Philipp der Zweite) dieses nicht
gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, dass es wider die Regeln laufe,
oder weil er es der Wuerde eines Koeniges zuwider glaubte, so mit unter den
Poebel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, dass dieses wieder zur
aeltesten Komoedie zurueckkehren heisst, die selbst Goetter einfuehrte; wie
unter andern in dem "Amphitruo" des Plautus zu sehen: und ich weiss gar
wohl, dass Plutarch, wenn er von Menandern redet, die aelteste Komoedie
nicht sehr lobt. Es faellt mir also freilich schwer, unsere Mode zu
billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst
entfernen: so muessen die Gelehrten schon auch hierueber schweigen. Es ist
wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz
zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus
der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefaellt nun einmal; man will
nun einmal keine andere Stuecke sehen, als die halb ernsthaft und halb
lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der
sie einen Teil ihrer Schoenheit entlehnet."[1]

Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anfuehre. Ist es
wahr, dass uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und
Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen,
zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope
mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloss die Fehler seiner
Buehne beschoeniget; er hat eigentlich erwiesen, dass wenigstens dieser
Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung
der Natur ist.

"Man tadelt", sagt einer von unsern neuesten Skribenten, "an Shakespeare
--demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Koenige
bis zum Bettler, und von Julius Caesar bis zu Jack Fa1staff am besten
gekannt und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch
gesehen hat--dass seine Stuecke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften
unregelmaessigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; dass Komisches und
Tragisches darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist und oft
ebendieselbe Person, die uns durch die ruehrende Sprache der Natur Traenen in
die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgendeinen
seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht
zu lachen macht, doch dergestalt abkuehlt, dass es ihm hernach sehr schwer
wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben moechte.--Man
tadelt das und denkt nicht daran, dass seine Stuecke eben darin natuerliche
Abbildungen des menschlichen Lebens sind."

"Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen duerfen) der
Lebenslauf der grossen Staatskoerper selbst, insofern wir sie als
ebensoviel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und
Staatsaktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, dass
man beinahe auf die Gedanken kommen moechte, die Erfinder dieser Letztern
waeren klueger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und haetten, wofern sie
nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben laecherlich
zu machen, wenigstens die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die
Griechen sich angelegen sein liessen, sie zu verschoenern. Um itzt nichts
von der zufaelligen Aehnlichkeit zu sagen, dass in diesen Stuecken, sowie im
Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten
Akteurs gespielt werden,--was kann aehnlicher sein, als es beide Arten der
Haupt-und Staatsaktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und
Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen?
Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum
sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft
ueberraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten
vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten,
ohne dass sich begreifen laesst, warum sie kamen, oder warum sie wieder
verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall ueberlassen? Wie oft
sehen wir die groessesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen
hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer
leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit laecherlicher Gravitaet
behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so klaeglich verworren und
durcheinander geschlungen ist, dass man an der Moeglichkeit der Entwicklung
zu verzweifeln anfaengt: wie gluecklich sehen wir durch irgendeinen unter
Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch
einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgeloeset,
aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, dass auf
die eine oder die andere Art das Stueck ein Ende hat und die Zuschauer
klatschen oder zischen koennen, wie sie wollen oder--duerfen. Uebrigens weiss
man, was fuer eine wichtige Person in den komischen Tragoedien, wovon wir
reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen
Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt
des deutschen Reiches, erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, dass er
seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wieviel grosse
Aufzuege auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten
mit Hanswurst--oder, welches noch ein wenig aerger ist, durch Hanswurst
--auffuehren gesehen? Wie oft haben die groessesten Maenner, dazu geboren, die
schuetzenden Genii eines Throns, die Wohltaeter ganzer Voelker und Zeitalter
zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen
schnakischen Streich von Hanswurst oder solchen Leuten vereitelt sehen
muessen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen,
doch gewiss seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in
beiden Arten der Tragikomoedien die Verwicklung selbst lediglich daher,
dass Hanswurst durch irgendein dummes und schelmisches Stueckchen von
seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh' sie sich's versehen koennen, ihr
Spiel verderbt?"--

Wenn in dieser Vergleichung des grossen und kleinen, des urspruenglichen
und nachgebildeten heroischen Possenspiels--(die ich mit Vergnuegen aus
einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten
unsers Jahrhunderts gehoert, aber fuer das deutsche Publikum noch viel zu
frueh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England wuerde es das
aeusserste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers wuerde auf
aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere
Grossen lernen vors erste an den kauen; und freilich ist der Saft aus
einem franzoesischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiss
schaerfer und ihr Magen staerker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt
haben, so kommen sie auch wohl einmal ueber den "Agathon"[2]. Dieses ist
das Werk, von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem
schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich
es bewundere: da ich mit der aeussersten Befremdung wahrnehme, welches
tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darueber beobachten, oder in
welchem kalten und gleichgueltigen Tone sie davon sprechen. Es ist der
erste und einzige Roman fuer den denkenden Kopf, von klassischem
Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht,
dass es einige Leser mehr dadurch bekoemmt. Die wenigen, die es darueber
verlieren moechte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.)


----Fussnote

[1]
    Eligese el sujeto, y no se mire,
    (Perdonen los preceptos) si es de Reyes,
    Aunque por esto entiendo, que el prudente,
    Filipo Rey de Espana, y Senor nuestro,
    En viendo un Rey en ellos se enfadaba,
    O fuese el ver, que al arte contradice,
    O que la autoridad real no debe
    Andar fingida entre la humilde plebe,
    Esto es volver a la Comedia antigua,
    Donde vemos que Plauto puso Dioses,
    Como en su Anfitrion lo muestra Jupiter.
    Sabe Dios, que me pesa de aprobarlo,
    Porque Plutarco hablando de Menandro,
    No siente bien de la Comedia antigua,
    Mas pues del arte vamos tan remotos,
    Y en Espana le hacemos mil agravios,
    Cierren los Doctos esta vez los labios.
    Lo Tragico, y lo Comico mezclado,
    Y Terencio con Seneca, aunque sea,
    Como otro Minotauro de Pasife,
    Haran grave una parte, otra ridicula,
    Que aquesta variedad deleita mucho,
    Buen ejemplo nos da naturaleza,
    Que por tal variedad tiene belleza.

[2] Zweiter Teil (S. 192).

----Fussnote




Siebzigstes Stueck
Den 1. Januar 1768

Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satirische Laune nicht zu sehr
vorstaeche: so wuerde man sie fuer die beste Schutzschrift des komisch-
tragischen, oder tragisch-komischen Drama (Mischspiel habe ich es einmal
auf irgendeinem Titel genannt gefunden), fuer die geflissentlichste
Ausfuehrung des Gedankens beim Lope halten duerfen. Aber zugleich wuerde sie
auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie wuerde zeigen, dass eben das
Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit
der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, ebensogut jedes
dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschen-
verstand hat, rechtfertigen koenne. Die Nachahmung der Natur muesste
folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es
doch bliebe, wuerde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhoeren;
wenigstens keine hoehere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern
des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er
will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, dass er nicht natuerlich
scheinen koennte; bloss und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich
zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmass und Verhaeltnis, zu viel von dem zeiget,
was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der kuenstlichste in diesem
Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste.

Als Kritikus duerfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so
sinnreich aufstuetzen zu wollen scheinet, wuerde er ohne Zweifel als eine
Missgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die
ersten Versuche der unter ungeschlachteten Voelkern wieder auflebenden
Kunst vorstellen, an deren Form irgendein Zusammenfluss gewisser
aeusserlichen Ursachen oder das Ohngefaehr den meisten, Vernunft und
Ueberlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte.
Er wuerde schwerlich sagen, dass die ersten Erfinder des Mischspiels (da das
Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) "die Natur ebenso
getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie
zu verschoenern".

Die Worte getreu und verschoenert, von der Nachahmung und der Natur, als
dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Missdeutungen
unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche
man zu getreu nachahmen koenne; selbst was uns in der Natur missfalle,
gefalle in der getreuen Nachahmung, vermoege der Nachahmung. Es gibt
andere, welche die Verschoenerung der Natur fuer eine Grille halten; eine
Natur, die schoener sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur.
Beide erklaeren sich fuer Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene
finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also
muesste notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Muehe haben
wuerden, an den Meisterstuecken der Alten Geschmack zu finden.

Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so grosse Bewunderer sie
auch von der gemeinsten und alltaeglichsten Natur sind, sich dennoch wider
die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklaerten? Wann diese,
so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schoener sein will als
die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten
Anstoss von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen
Widerspruch erklaeren?

Wir wuerden notwendig zurueckkommen und das, was wir von beiden Gattungen
erst behauptet, widerrufen muessen. Aber wie muessten wir widerrufen, ohne
uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen
Haupt-und Staatsaktion, ueber deren Guete wir streiten, mit dem menschlichen
Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig!

Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gruendlich genug
sind, doch gruendlichere veranlassen koennen.--Der Hauptgedanke ist dieser:
Es ist wahr, und auch nicht wahr, dass die komische Tragoedie, gotischer
Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Haelfte
getreu nach und vernachlaessiget die andere Haelfte gaenzlich; sie ahmet die
Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer
Empfindungen und Seelenkraefte dabei zu achten.

In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles
wechselt mit allem, alles veraendert sich eines in das andere. Aber nach
dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel fuer einen
unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil
nehmen zu lassen, mussten diese das Vermoegen erhalten, ihr Schranken zu
geben, die sie nicht hat; das Vermoegen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit
nach Gutduenken lenken zu koennen.

Dieses Vermoegen ueben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe
wuerde es fuer uns gar kein Leben geben; wir wuerden vor allzu verschiedenen
Empfindungen nichts empfinden; wir wuerden ein bestaendiger Raub des
gegenwaertigen Eindruckes sein; wir wuerden traeumen, ohne zu wissen, was
wir traeumten.

Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schoenen dieser
Absonderung zu ueberheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu
erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer
Verbindung verschiedener Gegenstaende, es sei der Zeit oder dem Raume
nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu koennen wuenschen,
sondert sie wirklich ab und gewaehrt uns diesen Gegenstand, oder diese
Verbindung verschiedener Gegenstaende, so lauter und buendig, als es nur
immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.

Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und ruehrenden Begebenheit sind, und
eine andere von nichtigem Belange laeuft quer ein: so suchen wir der
Zerstreuung, die diese uns drohet, moeglichst auszuweichen. Wir
abstrahieren von ihr; und es muss uns notwendig ekeln, in der Kunst das
wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwuenschten.

Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen
des Interesse annimmt, und eine nicht bloss auf die andere folgt, sondern
so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die
Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, dass uns
die Abstraktion des einen oder des andern unmoeglich faellt: nur alsdenn
verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiss aus dieser
Unmoeglichkeit selbst Vorteil zu ziehen.--

Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.--

Den fuenfundvierzigsten Abend (freitags, den 17. Julius) wurden "Die
Brueder" des Herrn Romanus, und "Das Orakel" vom Saint-Foix gespielt.

Das erstere Stueck kann fuer ein deutsches Original gelten, ob es schon
groesstenteils aus den "Bruedern" des Terenz genommen ist. Man hat gesagt,
dass auch Moliere aus dieser Quelle geschoepft habe; und zwar seine
"Maennerschule". Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen ueber dieses
Vorgeben: und ich fuehre Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern
an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon
nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er haette sagen
sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere (wo dieses
Spruechelchen steht, will mir nicht gleich beifallen); und ich wuesste
keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen koennte,
ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von
Voltaire: aber daher auch keinen, der uns, die zweite zu ersteigen,
weniger behilflich sein koennte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer
Schriftsteller, duenkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach
diesem Spruechelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er
streiten kann: so koemmt er nach und nach in die Materie, und das uebrige
findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es
aufrichtig, nun einmal die franzoesischen Skribenten vornehmlich erwaehlet,
und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach
einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan
mehr mutwillig, als gruendlich scheinen wollte: der soll wissen, dass
selbst der gruendliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat.
Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand
liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere et
casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum
opinionibus, usw. O des Pedanten! wuerde der Herr von Voltaire rufen.
--Ich bin es bloss aus Misstrauen in mich selbst.

"'Die Brueder' des Terenz", sagt der Herr von Voltaire, "koennen hoechstens
die Idee zu der Maennerschule, gegeben haben. In den 'Bruedern' sind zwei
Alte von verschiedner Gemuetsart, die ihre Soehne ganz verschieden
erziehen; ebenso sind in der 'Maennerschule' zwei Vormuender, ein sehr
strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Aehnlichkeit. In den
'Bruedern' ist fast ganz und gar keine Intrige: die Intrige in der
'Maennerschule' hingegen ist fein und unterhaltend und komisch. Eine von
den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle
spielen muesste, erscheinet bloss auf dem Theater, um niederzukommen. Die
Isabelle des Moliere ist fast immer auf der Szene und zeigt sich immer
witzig und reizend und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem
Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung In den 'Bruedern' ist
ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, dass ein Alter, der sechzig
Jahre aergerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und
hoeflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der 'Maennerschule'
aber ist die beste von allen Entwicklungen des Moliere; wahrscheinlich,
natuerlich, aus der Intrige selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht
das Schlechteste daran ist, aeusserst komisch."





Einundsiebzigstes Stueck
Den 5. Januar 1768

Es scheinet nicht, dass der Herr von Voltaire, seitdem er aus der Klasse
bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er
spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur
noch sowas davon im Gedaechtnisse; und das schreibt er auf gut Glueck so
hin, unbekuemmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht
aufmutzen, was er von der Pamphila des Stuecks sagt, "dass sie bloss auf dem
Theater erscheine, um niederzukommen". Sie erscheinet gar nicht auf dem
Theater; sie kommt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloss ihre
Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle
spielen muesste, das laesst sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und
Roemern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes
Maedchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen und
Gefahr laeuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem
sehr ungeschickt.--

Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft
die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der muerrische strenge
Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal voellig veraendern. Das
ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet
seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam
fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus usw. Was geht mich Donatus
an? duerfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche
nur glauben duerfen, dass Donatus den Terenz fleissiger gelesen und besser
verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stuecke die
Rede; es ist noch da; man lese selbst.

Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu
besaenftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines
Aergernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich
bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber
morgen, bei frueher Tageszeit, muss der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da
will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen,
wo er es heute gelassen hat; die Saengerin, die diesem der Vetter gekauft,
will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und
eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen,
sie soll kochen und backen. In der darauffolgenden vierten Szene des
fuenften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte
nur so obenhin nimmt, als ob er voellig von seiner alten Denkungsart
abgehen und nach den Grundsaetzen des Micio zu handeln anfangen wolle.[1]
Doch die Folge zeigt es, dass man alles das nur von dem heutigen Zwange,
den er sich antun soll, verstehen muss. Denn auch diesen Zwang weiss er
hernach so zu nutzen, dass er zu der foermlichsten haemischsten Verspottung
seines gefaelligen Bruders ausschlaegt. Er stellt sich lustig, um die
andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht
in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwuerfe; er wird nicht
freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder
von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er
Verschwenden nennt, laecherlich zu machen. Dieses erhellet unwider-
sprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den
Anschein betriegen laesst, und ihn wirklich veraendert glaubt.[2] Hic
ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores,
quam mutavisse.

Ich will aber nicht hoffen, dass der Herr von Voltaire meinet, selbst
diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts
als geschmaelt und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere
mehr Gelassenheit und Kaelte, als man dem Demea zutrauen duerfe. Auch
hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich
motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet,
bei dem geringsten Uebergange so feine Schattierungen in acht genommen,
dass man nicht aufhoeren kann, ihn zu bewundern.

Nur ist oefters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe
sehr noetig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses
schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen
Kuenstler, und in dem uebrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die
Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschaefte ein sehr
ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die
Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre
Stuecke ueberhaupt nicht eher bekannt werden liessen, als bis sie gespielt
waren, als bis man sie gesehen und gehoert hatte: so konnten sie es um so
mehr ueberhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu
unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermassen mit
unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber
einbildet, dass die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen,
in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebaerde, jede Miene, jede
besondere Abaenderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten
gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzaehlige Stellen
vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur
zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der
wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte
gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene
ausdruecken muss.

Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesaenderung des Demea
vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anfuehren will, weil auf
ihnen gewissermassen die Missdeutung beruhet, die ich bestreite. Demea weiss
nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, dass es sein
ehrbarer frommer Sohn ist, fuer den die Saengerin entfuehret worden, und
stuerzt mit dem unbaendigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und
der Erde und dem Meere; und eben bekommt er den Micio zu Gesicht.

"Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt meine Soehne, mir sie
beide zugrunde richtet! Micio. Oh, so maessige dich, und komm wieder
zu dir!

Demea. Gut, ich maessige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes
Wort entfahren. Lass uns bloss bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins
geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte,
dass sich ein jeder nur um den seinen bekuemmern sollte? Antworte."[3] usw.

Wer sich hier nur an die Worte haelt und kein so richtiger Beobachter ist,
als es der Dichter war, kann leicht glauben, dass Demea viel zu geschwind
austobe, viel zu geschwind diesen gelassenem Ton anstimme. Nach einiger
Ueberlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, dass jeder Affekt, wenn er
aufs aeusserste gekommen, notwendig wieder sinken muesse; dass Demea, auf den
Verweis seines Bruders, sich des ungestuemen Jachzorns nicht anders als
schaemen koenne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht
das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei
vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius
destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam
juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der
Zornige ganz offenbar recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, dass
sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er
sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den
Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Ueberzeugung zu
demuetigen. Doch da er ueber die Wallungen seines kochenden Gebluets nicht
so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der ueberfuehren will, doch noch
immer Zorn bleibt, so macht Donatus die zweite Anmerkung: Non quid
dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse
iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagte zwar: "Ich maessige
mich, ich bin wieder bei mir": aber Gesicht und Gebaerde und Stimme
verraten genugsam, dass er sich noch nicht gemaessiget hat, dass er noch
nicht wieder bei sich ist. Er bestuermt den Micio mit einer Frage ueber die
andere, und Micio hat alle seine Kaelte und gute Laune noetig, um nur zum
Worte zu kommen.


----Fussnote

[1]
    --Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc,
    Prope jam excurso spatio mitto--

[2]
    Mi. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos?
    Quod prolubium, quae istaec subita est largitas? De. Dicam tibi:
    Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant,
    Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono,
    Sed ex assentando, indulgendo et largiendo, Micio.
    Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine,
    Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor;
    Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet!


[3]
    --De. Eccum adest
      Communis corruptela nostrum liberum.
    Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi.
    De. Repressi, redii, mitto maledicta omnia:
      Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit,
      Et ex te adeo est ortum, ne te curares meum,
      Neve ego tuum? responde!--

----Fussnote




Zweiundsiebzigstes Stueck
Den 8. Januar 1768

Als er endlich dazukommt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im
geringsten nicht ueberzeugt. Aller Vorwand, ueber die Lebensart seiner
Kinder unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch faengt er wieder von
vorne an, zu nergeln. Micio muss auch nur abbrechen und sich begnuegen, dass
ihm die muerrische Laune, die er nicht aendern kann, wenigstens auf heute
Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen laesst,
sind meisterhaft.[1]

"Demea. Nun gib nur acht, Micio, wie wir mit diesen schoenen
Grundsaetzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht am Ende fahren werden.

Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest.--Und nun genug davon!
Heute schenke dich mir. Komm, klaere dich auf.

Demea. Mag's doch nur heute sein! Was ich muss, das muss ich.--Aber
morgen, sobald es Tag wird, geh' ich wieder aufs Dorf, und der Bursche
geht mit.

Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; daechte ich. Sei nur heute
lustig!

Demea. Auch das Mensch von einer Saengerin muss mit heraus.

Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiss nicht weg wuenschen.
Nur halte sie auch gut.

Demea. Da lass mich vor sorgen! Sie soll in der Muehle und vor dem
Ofenloche Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu
soll sie mir am heissen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so
schwarz geworden, als ein Loeschbrand.

Micio. Das gefaellt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege!--Und
alsdenn, wenn ich wie du waere, muesste mir der Sohn bei ihr schlafen, er
moechte wollen oder nicht.

Demea. Lachst du mich aus?--Bei so einer Gemuetsart freilich kannst du
wohl gluecklich sein. Ich fuehl' es, leider--

Micio. Du faengst doch wieder an?

Demea. Nu, nu; ich hoere ja auch schon wieder auf."

Bei dem "Lachst du mich aus?" des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum
vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus
EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller
Ernst es war, dass er die Saengerin nicht als Saengerin, sondern als eine
gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muss ueber den Einfall des Micio
lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich
stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: "Lachst du mich aus?"
und muss sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeissen. Er verbeisst
es auch bald, denn das "Ich fuehl' es leider" sagt er wieder in einem
aergerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch
ist: so grosse Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat
man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann.
Je seltner ihm diese wohltaetige Erschuetterung ist, desto laenger haelt sie
innerlich an; nachdem er laengst alle Spur derselben auf seinem Gesichte
vertilgt, dauert sie noch fort, ohne dass er es selbst weiss, und hat auf
sein naechstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluss.--

Aber wer haette wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht?
Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken.
Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war
ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns
gekommen, verdient daher nicht bloss wegen der Sprache studiert zu werden.
Nur muss man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Dass aber
dieser Donatus (Aelius) so vorzueglich reich an Bemerkungen ist, die
unsern Geschmack bilden koennen, dass er die verstecktesten Schoenheiten
seines Autors mehr als irgendein anderer zu enthuellen weiss: das koemmt
vielleicht weniger von seinen groessern Gaben, als von der Beschaffenheit
seines Autors selbst. Das roemische Theater war, zur Zeit des Donatus,
noch nicht gaenzlich verfallen; die Stuecke des Terenz wurden noch
gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Ueberlieferungen
gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des roemischen Geschmacks
herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hoerte; er
brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu
machen, dass ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst
schwerlich duerfte ausgegruebelt haben. Ich wuesste daher auch kein Werk, aus
welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen koennte, als diesen
Kommentar des Donatus ueber den Terenz: und bis das Latein unter unsern
Schauspielern ueblicher wird, wuenschte ich sehr, dass man ihnen eine gute
Uebersetzung davon in die Haende geben wollte. Es versteht sich, dass der
Dichter dabei sein und aus dem Kommentar alles wegbleiben muesste, was die
blosse Worterklaerung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den
Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Uebersetzung des Textes ist waessrig
und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der
Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr
gaenzlich;[2] und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die
Dacier zu brauchen fuer gut befunden. Es waere also keine getane Arbeit,
was ich vorschlage: aber wer soll sie tun? Die nichts Bessers tun
koennten, koennen auch dieses nicht: und die etwas Bessers tun koennten,
werden sich bedanken.

Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen--es ist doch
sonderbar, dass auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire
gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, dass am Ende mit dem
Charakter des Demea eine gaenzliche Veraenderung vorgehe; wenigstens laesst
er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. "Je, Kinder", laesst er
ihn rufen, "schweigt doch! Ihr ueberhaeuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn,
Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloss weil ich einmal ein
bisschen freundlich aussehe. Bin ich's denn, oder bin ich's nicht? Ich
werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch huebsch, wenn man geliebt
wird. Ich will auch gewiss so bleiben. Ich wuesste nicht, wenn ich so eine
vergnuegte Stunde gehabt haette." Und Frontin sagt: "Nun, unser Alter
stirbt gewiss bald.[3] Die Veraenderung ist gar zu ploetzlich." Jawohl; aber
das Sprichwort und der gemeine Glaube von den unvermuteten Veraenderungen,
die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier
etwas rechtfertigen?


----Fussnote

[1]
    --De. Ne nimium modo
      Bonae tuae istae nos rationes, Micio,
      Et tuus iste animus aequus subvertat. Mi. Tace;
      Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi:
      Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert,
      Faciendum est: ceterum rus cras cum filio
      Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte censeo:
      Hodie modo hilarum fac te. De. Et istam psaltriam
      Una illuc mecum hinc abstraham. Mi. Pugnaveris.
      Eo pacto prorsum illic alligaris filium.
      Modo facito, ut illam serves. De. Ego istuc videro,
      Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis,
      Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec
      Meridie ipso faciam ut stipulam colligat:
      Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est. Mi. Placet,
      Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium,
      Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet.
    De. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies:
      Ego sentio. Mi. Ah pergisne? De. Jam jam desino.

[2]
Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir, die Stelle daraus anzufuehren,
die ich eben itzt uebersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen,
ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch
ungefaehr daraus sehen koennen, worin das Verdienst besteht, das ich dieser
Uebersetzung absprechen muss.

"Demea. Aber mein lieber Bruder, dass uns nur nicht deine schoenen
Gruende, und dein gleichgueltiges Gemuete sie ganz und gar ins Verderben
stuerzen.

Micio. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Lass das
immer sein. Ueberlass dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von
der Stirne.

Demea. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muss es wohl tun.
Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land.

Micio. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder
gehn wil1st; sei doch heute nur einmal froehlich!

Demea. Die Saengerin will ich zugleich mit herausschleppen.

Micio. Da tust du wohl; dadurch wirst du machen, dass dein Sohn ohne
sie nicht wird leben koennen. Aber sorge auch, dass du sie gut
verhaeltst!

Demea. Dafuer werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch,
Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Ausserdem soll sie
mir in der groessten Mittagshitze gehen und Aehren lesen, und dann will
ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, ueberliefern.

Micio. Das gefaellt mir; nun seh' ich recht ein, dass du weislich
hande1st; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, dass
er sie mit zu Bette nimmt.

Demea. Lachst du mich etwa aus? Du bist gluecklich, dass du ein
solches Gemuet hast; aber ich fuehle.

Micio. Ach! haeltst du noch nicht inne?

Demea. Ich schweige schon."

So soll es ohne Zweifel heissen, und nicht: stirbt ohnmoeglich bald.
Fuer viele von unsern Schauspielern ist es noetig, auch solche
Druckfehler anzumerken.

----Fussnote




Dreiundsiebzigstes Stueck
Den 12. Januar 1768

Die Schlussrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone.
"Wenn euch nur das gefaellt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um
nichts mehr bekuemmern!" Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der
Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise
kuenftig zu bequemen versprechen.--Aber wie koemmt es, duerfte man fragen,
dass die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen "Bruedern" bei
der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der
bestaendige Rueckfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie
komisch: aber bei diesem haette es auch bleiben muessen.--Ich verspare das
Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stuecks.

"Das Orakel" vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluss machte,
ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.

Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward "Miss
Sara"[1], und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, "Nanine"[2]
wiederholt. Auf die "Nanine" folgte "Der unvermutete Ausgang" vom
Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es woertlicher und besser heissen wuerde: "Die unvermutete
Entwicklung". Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den
Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen
vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen
Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen
Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern
schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, dass es
fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen moechte sie ihn doch noch
lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben,
die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser
koemmt; aber zum Gluecke ist es ein so schoener liebenswuerdiger Mann, dass
sie gar bald ihre Verstellung vergisst und in aller Geschwindigkeit mit
ihm einig wird. Man gebe dem Stuecke einen andern Titel, und alle Leser
und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen
Knoten, den man in zehn Szenen so muehsam geschuerzt hat, in einer einzigen
nicht zu loesen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler
in dem Titel selbst angekuendiget, und durch diese Ankuendigung
gewissermassen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen
Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden koennen? Er
sahe ja in der Wirklichkeit einer Komoedie so aehnlich: und sollte er denn
eben deswegen um so unschicklicher zur Komoedie sein?--Nach der Strenge,
allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre
Komoedien nennet, findet man in der Komoedie wahren Begebenheiten nicht
sehr gleich; und darauf kaeme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus?
Nicht voellig. Der Ausgang ist, dass Jungfer Argante den Erast und nicht
den Dorante heiratet, und dieser ist hinlaenglich vorbereitet. Denn ihre
Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterlaeunisch; sie liebt ihn, weil
sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie
ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es koemmt; hat sie
ihn lange nicht gesehen, so koemmt er ihr liebenswuerdig genug vor; sieht
sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stossen ihr dann
und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so
unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz
von ihm abzubringen, als dass Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein
solches Gesicht ist? Dass sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet,
dass es vielmehr sehr unerwartet sein wuerde, wenn sie bei jenem bliebe.
Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete
Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von
der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu
bekuemmern, in der er einen Teil seiner Personen laesst. Und so ist es hier:
Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt
sich ihm.

Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das
Trauerspiel des Herrn Weisse "Richard der Dritte" aufgefuehrt: zum
Beschlusse "Herzog Michel".

Dieses Stueck ist ohnstreitig eines von unsern betraechtlichsten
Originalen; reich an grossen Schoenheiten, die genugsam zeigen, dass, die
Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht
ueber die Kraefte des Dichters gewesen waere, wenn er sich diese Kraefte nur
selbst haette zutrauen wollen.

Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf
die Buehne gebracht: aber Herr Weisse erinnerte sich dessen nicht eher, als
bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also", sagt er, "bei der
Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden,
dass ich kein Plagium begangen habe;--aber vielleicht waere es ein
Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen."

Vorausgesetzt, dass man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem
Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm
ein Vers abringen, das laesst sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen.
Auf die geringste von seinen Schoenheiten ist ein Stempel gedruckt,
welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der
fremden Schoenheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!

Shakespeare will studiert, nicht gepluendert sein. Haben wir Genie, so muss
uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura
ist: er sehe fleissig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen
Faellen auf eine Flaeche projektieret; aber er borge nichts daraus.

Ich wuesste auch wirklich in dem ganzen Stuecke des Shakespeares keine
einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weisse so haette
brauchen koennen, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim
Shakespeare, sind nach den grossen Massen des historischen Schauspiels
zugeschnitten, und dieses verhaelt sich zu der Tragoedie franzoesischen
Geschmacks ungefaehr wie ein weitlaeuftiges Freskogemaelde gegen ein
Miniaturbildchen fuer einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen,
als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, hoechstens eine kleine Gruppe,
die man sodann als ein eigenes Ganze ausfuehren muss? Ebenso wuerden aus
einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen
ganze Aufzuege werden muessen. Denn wenn man den Aermel aus dem Kleide eines
Riesen fuer einen Zwerg recht nutzen will, so muss man ihm nicht wieder
einen Aermel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.

Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des
Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke
nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst
verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, dass ein Goldkorn so
kuenstlich kann getrieben sein, dass der Wert der Form den Wert der Materie
bei weitem uebersteiget.

Ich fuer mein Teil bedauere es also wirklich, dass unserm Dichter
Shakespeares Richard so spaet beigefallen. Er haette ihn koennen gekannt
haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er haette
ihn koennen genutzt haben, ohne dass eine einzige uebergetragene Gedanke
davon gezeugt haette.

Waere mir indes eben das begegnet, so wuerde ich Shakespeares Werk
wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle
die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen
nicht vermoegend gewesen waere.--Aber woher weiss ich, dass Herr Weisse dieses
nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?

Kann es nicht ebenso wohl sein, dass er das, was ich fuer dergleichen
Flecken halte, fuer keine haelt? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass
er mehr recht hat, als ich? Ich bin ueberzeugt, dass das Auge des Kuenstlers
groesstenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner
Betrachter. Unter zwanzig Einwuerfen, die ihm diese machen, wird er sich
von neunzehn erinnern, sie waehrend der Arbeit sich selbst gemacht und sie
auch schon sich selbst beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu
hoeren: denn er hat es gern, dass man ueber sein Werk urteilet; schal oder
gruendlich, links oder rechts, gutartig oder haemisch, alles gilt ihm
gleich; und auch das schalste, linkste, haemischste Urteil ist ihm lieber,
als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in
seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was faengt er mit dieser an?
Verachten moechte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn fuer so
etwas Ausserordentliches halten: und doch muss er die Achseln ueber sie
zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz
moechte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes
Lob auf sich sitzen lassen.--

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will.--
Wenigstens nicht bei dem Verfasser,--hoechstens nur bei einem oder dem
andern Mitsprecher. Ich weiss nicht, wo ich es juengst gedruckt lesen
musste, dass ich die "Amalia" meines Freundes auf Unkosten seiner uebrigen
Lustspiele gelobt haette.[3]--Auf Unkosten? aber doch wenigstens der
fruehern? Ich goenne es Ihnen, mein Herr, dass man niemals Ihre aeltern Werke
so moege tadeln koennen. Der Himmel bewahre Sie vor dem tueckischen Lobe:
dass Ihr letztes immer Ihr bestes ist!--


----Fussnote

[1] S. den 11. Abend.

[2] S. den 27. und 33. und 37. Abend.

[3] Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids "Zusaetzen zu
seiner Theorie der Poesie", S. 45.

----Fussnote




Vierundsiebzigstes Stueck
Den 15. Januar 1768

Zur Sache.--Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worueber ich
mir die Erklaerung des Dichters wuenschte.

Aristoteles wuerde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur
auch mit seinen Gruenden zu werden wuesste.

Die Tragoedie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus
folgert er, dass der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch
ein voelliger Boesewicht sein muesse. Denn weder mit des einen noch mit des
andern Ungluecke lasse sich jener Zweck erreichen.

Raeume ich dieses ein: so ist "Richard der Dritte" eine Tragoedie, die
ihres Zweckes verfehlt. Raeume ich es nicht ein: so weiss ich gar nicht
mehr, was eine Tragoedie ist.

Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weisse geschildert hat, ist
unstreitig das groesste, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Buehne
getragen. Ich sage, die Buehne: dass es die Erde wirklich getragen habe,
daran zweifle ich.

Was fuer Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das
soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind
ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenstaenden unsers
Mitleids gemacht hat.

Aber Schrecken?--Sollte dieser Boesewicht, der die Kluft, die sich
zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefuellet, mit
Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt haetten sein muessen; sollte
dieser blutduerstige, seines Blutdurstes sich ruehmende, ueber seine
Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Masse erwecken?

Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen ueber
unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen ueber Bosheiten, die unsern
Begriff uebersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns
bei Erblickung vorsaetzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden,
ueberfaellt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes
Teil empfinden lassen.

Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels,
dass es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn
ihre Personen irgendein grosses Verbrechen begehen mussten. Sie schoben
oefters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber
zu einem Verhaengnisse einer raechenden Gottheit, verwandelten lieber den
freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der graesslichen Idee
wollten verweilen lassen, dass der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis
faehig sei.

Bei den Franzosen fuehrt Crebillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich
fuerchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragoedie nicht
sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der
Tragoedie rechnet.

Und dieses--haette man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort,
welches Aristoteles braucht, heisst Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er,
soll die Tragoedie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr,
das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine ploetzliche,
ueberraschende Furcht. Aber eben dieses Ploetzliche, dieses Ueberraschende,
welches die Idee desselben einschliesst, zeiget deutlich, dass die, von
welchen sich hier die Einfuehrung des Wortes "Schrecken", anstatt des
Wortes "Furcht" herschreibet, nicht eingesehen haben, was fuer eine Furcht
Aristoteles meine.--Ich moechte dieses Weges sobald nicht wieder kommen:
man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.

"Das Mitleid", sagt Aristoteles, "verlangt einen, der unverdient leidet:
und die Furcht einen unsersgleichen. Der Boesewicht ist weder dieses noch
jenes: folglich kann auch sein Unglueck weder das erste noch das andere
erregen."[1]

Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Uebersetzer
Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem
Philosophen die seltsamsten Haendel von der Welt zu machen.

"Man hat sich", sagt einer aus der Menge,[2] "ueber die Erklaerung des
Schreckens nicht vereinigen koennen; und in der Tat enthaelt sie in jeder
Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert
und sie allzusehr einschraenkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz
'unsersgleichen' nur bloss die Aehnlichkeit der Menschheit verstanden hat,
weil naemlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind,
gesetzt auch, dass sich unter ihrem Charakter, ihrer Wuerde und ihrem Range
ein unendlicher Abstand befaende: so war dieser Zusatz ueberfluessig; denn
er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, dass nur
tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich
haetten, Schrecken erregen koennten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft
und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt
ohnstreitig aus einem Gefuehl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist
ihm unterworfen, und jeder Mensch erschuettert sich, vermoege dieses
Gefuehls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl
moeglich, dass irgend jemand einfallen koennte, dieses von sich zu leugnen:
allein dieses wuerde allemal eine Verleugnung seiner natuerlichen
Empfindungen, und also eine blosse Prahlerei aus verderbten Grundsaetzen,
und kein Einwurf sein.--Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die
wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall
zustoesst, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen
bloss den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes ueberhaupt macht
uns traurig, und die ploetzliche traurige Empfindung, die wir sodann
haben, ist das Schrecken."

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider
den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht,
wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglueck unsersgleichen
setzen koenne. Dieses Schrecken, welches uns bei der ploetzlichen
Erblickung eines Leidens befaellt, das einem andern bevorstehet, ist ein
mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen.
Aristoteles wuerde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der
Furcht weiter nichts als eine blosse Modifikation des Mitleids verstuende.

"Das Mitleid", sagt der Verfasser der Briefe ueber die Empfindungen,[3]
"ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande,
und aus der Unlust ueber dessen Unglueck zusammengesetzt ist. Die
Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den
einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden,
denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese
Erscheinung werden! Man aendre nur in dem bedauerten Unglueck die einzige
Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere
Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die ueber die Urne ihres
Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie haelt das
Unglueck fuer geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei
den Schmerzen des Philoktets fuehlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber
von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte
auszustehen hat, ist gegenwaertig und ueberfaellt ihn vor unsern Augen.
Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das grosse Geheimnis sich ploetzlich
entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersuechtigen Mithridates
sich entfaerben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fuerchtet, da
sie ihren sonst zaertlichen Othello so drohend mit ihr reden hoeret: was
empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen,
mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden,
allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Faellen einerlei.
Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die
Stelle des Geliebten zu setzen: so muessen wir alle Arten von Leiden mit
der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdruecklich Mitleiden
nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht,
Rachbegier, und ueberhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar
den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen koennen?--Man sieht
hieraus, wie gar ungeschickt der groesste Teil der Kunstrichter die
tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken
und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Fuer
wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch
ziehet? Gewiss nicht fuer sich, sondern fuer den Aegisth, dessen Erhaltung
man so sehr wuenschet, und fuer die betrogne Koenigin, die ihn fuer den
Moerder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust ueber das
gegenwaertige Uebel eines andern Mitleiden nennen: so muessen wir nicht nur
das Schrecken, sondern alle uebrige Leidenschaften, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."--


----Fussnote

[1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst".

[2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35.

[3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter
Teil, S. 4.

----Fussnote




Fuenfundsiebzigstes Stueck
Den 19. Januar 1768

Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, dass uns duenkt,
ein jeder haette sie haben koennen und haben muessen. Gleichwohl will ich
die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht
unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten
Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu
danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch
Aristoteles im ganzen ungefaehr empfunden haben: wenigstens ist es
unleugbar, dass Aristoteles entweder muss geglaubt haben, die Tragoedie
koenne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust
ueber das gegenwaertige Uebel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich
zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften ueberhaupt, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte
Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht
hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch uebersetzt. Er spricht von
Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht
ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines
andern, fuer diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus
unserer Aehnlichkeit mit der leidenden Person fuer uns selbst entspringt;
es ist die Furcht, dass die Ungluecksfaelle, die wir ueber diese verhaengst
sehen, uns selbst treffen koennen; es ist die Furcht, dass wir der
bemitleidete Gegenstand selbst werden koennen. Mit einem Worte: diese
Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Aristoteles will ueberall aus sich selbst erklaert werden. Wer uns einen
neuen Kommentar ueber seine "Dichtkunst" liefern will, welcher den
Dacierschen weit hinter sich laesst, dem rate ich, vor allen Dingen die
Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird
Aufschluesse fuer die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten
vermutet; besonders muss er die Buecher der "Rhetorik" und "Moral"
studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschluesse muessten die
Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wussten,
laengst gefunden haben. Doch die "Dichtkunst" war gerade diejenige von
seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekuemmerten. Dabei fehlten
ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschluesse wenigstens nicht
fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstuecke
desselben nicht.

Die authentische Erklaerung dieser Furcht, welche Aristoteles dem
tragischen Mitleid beifueget, findet sich in dem fuenften und achten
Kapitel des zweiten Buchs seiner "Rhetorik". Es war gar nicht schwer,
sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner
seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon
gemacht, der sich davon machen laesst. Denn auch die, welche ohne sie
einsahen, dass diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, haetten
noch ein wichtiges Stueck aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache naemlich,
warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht,
warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften
beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich moechte
wohl hoeren, was sie aus ihrem Kopfe antworten wuerden, wenn man sie fragte:
warum z.E. die Tragoedie nicht ebensowohl Mitleid und Bewunderung, als
Mitleid und Furcht, erregen koenne und duerfe?

Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem
Mitleiden gemacht hat. Er glaubte naemlich, dass das Uebel, welches der
Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der
Beschaffenheit sein muesse, dass wir es auch fuer uns selbst, oder fuer eines
von den Unsrigen, zu befuerchten haetten. Wo diese Furcht nicht sei, koenne
auch kein Mitleiden stattfinden. Denn weder der, den das Unglueck so tief
herabgedrueckt habe, dass er weiter nichts fuer sich zu fuerchten saehe, noch
der, welcher sich so vollkommen gluecklich glaube, dass er gar nicht
begreife, woher ihm ein Unglueck zustossen koenne, weder der Verzweifelnde
noch der Uebermuetige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erklaeret
daher auch das Fuerchterliche und das Mitleidswuerdige, eines durch das
andere. Alles das, sagt er, ist uns fuerchterlich, was, wenn es einem
andern begegnet waere, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken
wuerde:[1] und alles das finden wir mitleidswuerdig, was wir fuerchten
wuerden, wenn es uns selbst bevorstuende. Nicht genug also, dass der
Unglueckliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglueck nicht
verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen:
seine gequaelte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld,
sei fuer uns verloren, sei nicht vermoegend, unser Mitleid zu erregen, wenn
wir keine Moeglichkeit saehen, dass uns sein Leiden auch treffen koenne.
Diese Moeglichkeit aber finde sich alsdenn und koenne zu einer grossen
Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache,
als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken
und handeln lasse, als wir in seinen Umstaenden wuerden gedacht und
gehandelt haben, oder wenigstens glauben, dass wir haetten denken und
handeln muessen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne
schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, dass unser Schicksal
gar leicht dem seinigen ebenso aehnlich werden koenne, als wir ihm zu sein
uns selbst fuehlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam
zur Reife bringe.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre
Ursache begreiflich, warum er in der Erklaerung der Tragoedie, naechst dem
Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier
eine besondere, von dem Mitleiden unabhaengige Leidenschaft sei, welche
bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr,
erreget werden koenne; welches die Missdeutung des Corneille war: sondern
weil, nach seiner Erklaerung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig
einschliesst; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere
Furcht erwecken kann.

Corneille hatte seine Stuecke schon alle geschrieben, als er sich
hinsetzte, ueber die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren[2]. Er
hatte funfzig Jahre fuer das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung
wuerde er uns unstreitig vortreffliche Dinge ueber den alten dramatischen
Kodex haben sagen koennen, wenn er ihn nur auch waehrend der Zeit seiner
Arbeit fleissiger zu Rate gezogen haette. Allein dieses scheinet er
hoechstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst getan zu
haben. In den wesentlichem liess er sich um ihn unbekuemmert, und als er am
Ende fand, dass er wider ihn verstossen, gleichwohl nicht wider ihn
verstossen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und
liess seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie
gedacht hatte.

Corneille hatte Maertyrer auf die Buehne gebracht und sie als die
vollkommensten und untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die
abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra
aufgefuehrt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, dass sie zur
Tragoedie unschicklich waeren, weil beide weder Mitleid noch Furcht
erwecken koennten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie faengt er es an,
damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des
Aristoteles leiden moege? "Oh", sagte er, "mit dem Aristoteles koennen wir
uns hier leicht vergleichen.[3] Wir duerfen nur annehmen, er habe eben
nicht behaupten wollen, dass beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als
Mitleid, noetig waeren, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken,
die er zu dem letzten Endzwecke der Tragoedie macht: sondern nach seiner
Meinung sei auch eines zureichend.--Wir koennen diese Erklaerung", faehrt
er fort, "aus ihm selbst bekraeftigen, wenn wir die Gruende recht erwaegen,
welche er von der Ausschliessung derjenigen Begebenheiten, die er in den
Trauerspielen missbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes
schickt sich in die Tragoedie nicht, weil es bloss Mitleiden und keine
Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unertraeglich, weil es bloss die
Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft
sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege
bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, dass sie ihm deswegen nicht
gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und dass er
ihnen seinen Beifall nicht versagen wuerde, wenn sie nur eines von
beiden wirkten."


----Fussnote

[1] [Greek: Os d' aplos eipein, phobera estin, osa eph' eteron
gignomena, ae mellonta, eleeina estin.] Ich weiss nicht, was dem
Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598)
eingekommen ist, dieses zu uebersetzen: Denique ut simpliciter loquar,
formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt,
vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muss schlechtweg heissen:
quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt.

[2] Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la
scene, sagt er in seiner Abhandlung ueber das Drama. Sein erstes Stueck
"Melite" war von 1625, und sein letztes "Surena" von 1675; welches
gerade die funfzig Jahr ausmacht, so dass es gewiss ist, dass er bei den
Auslegungen des Aristoteles auf alle seine Stuecke ein Auge haben
konnte und hatte.

[3] Il est aise de nous accommoder avec Aristote etc.

----Fussnote




Sechsundsiebzigstes Stueck
Den 22. Januar 1768

Aber das ist grundfalsch!--Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier,
der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche
Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen
suchte, diese groesste von allen uebersehen koennen. Zwar, wie konnte er sie
nicht uebersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklaerung vom
Mitleid zu Rate zu ziehen?--Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich
Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man
muesste glauben, dass er seine eigene Erklaerungen vergessen koennen, man
muesste glauben, dass er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen
koennen. Wenn, nach seiner Lehre, kein Uebel eines andern unser Mitleid
erreget, was wir nicht fuer uns selbst fuerchten: so konnte er mit keiner
Handlung in der Tragoedie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine
Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst fuer unmoeglich; dergleichen
Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu
erwecken faehig waeren, glaubte er, muessten sie auch Furcht fuer uns
erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid.
Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragoedie vorstellen,
welche Furcht fuer uns erregen koenne, ohne zugleich unser Mitleid zu
erwecken: denn er war ueberzeugt, dass alles, was uns Furcht fuer uns selbst
errege, auch unser Mitleid erwecken muesse, sobald wir andere damit
bedrohet oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der
Tragoedie, wo wir alle das Uebel, welches wir fuerchten, nicht uns, sondern
anderen begegnen sehen.

Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die
Tragoedie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von
ihnen, dass sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer,
wenn sich Corneille durch dieses weder noch verfuehren lassen. Diese
disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren
laesst. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie
verneinen, so koemmt es darauf an, ob sich diese Dinge ebensowohl in der
Natur voneinander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und
durch den symbolischen Ausdruck trennen koennen, wenn die Sache
demohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere
von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z.E. von einem Frauenzimmer sagen, sie
sei weder schoen noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir wuerden
zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden waere; denn Witz und
Schoenheit lassen sich nicht bloss in Gedanken trennen, sondern sie sind
wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen: "dieser Mensch glaubt weder
Himmel noch Hoelle", wollen wir damit auch sagen: dass wir zufrieden sein
wuerden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und
keine Hoelle, oder nur die Hoelle und keinen Himmel glaubte? Gewiss nicht:
denn wer das eine glaubt, muss notwendig auch das andere glauben; Himmel
und Hoelle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch
das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen;
wenn wir sagen, dieses Gemaelde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung
noch Kolorit: wollen wir damit sagen, dass ein gutes Gemaelde sich mit
einem von beiden begnuegen koenne?--Das ist so klar!

Allein, wie, wenn die Erklaerung, welche Aristoteles von dem Mitleiden
gibt, falsch waere? Wie, wenn wir auch mit Uebeln und Ungluecksfaellen
Mitleid fuehlen koennten, die wir fuer uns selbst auf keine Weise zu
besorgen haben?

Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust ueber das
physikalische Uebel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese
Unlust entstehet bloss aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie
unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus
dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte
Empfindung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig
aufgeben zu muessen.

Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht fuer uns selbst, Mitleid fuer andere
empfinden koennen: so ist es doch unstreitig, dass unser Mitleid, wenn jene
Furcht dazukommt, weit lebhafter und staerker und anzueglicher wird, als es
ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, dass die vermischte
Empfindung ueber das physikalische Uebel eines geliebten Gegenstandes nur
allein durch die dazukommende Furcht fuer uns zu dem Grade erwaechst, in
welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?

Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht
nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloss als Affekt. Ohne
jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme.
Mitleidige Regungen, ohne Furcht fuer uns selbst, nennt er Philanthropie:
und nur den staerkere Regungen dieser Art, welche mit Furcht fuer uns
selbst verknuepft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er
zwar, dass das Unglueck eines Boesewichts weder unser Mitleid noch unsere
Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Ruehrung ab. Auch der
Boesewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen
moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behaelt, um sein
Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas
Mitleidaehnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden.
Aber, wie schon gesagt, diese mitleidaehnliche Empfindung nennt er nicht
Mitleid, sondern Philanthropie. "Man muss", sagt er, "keinen Boesewicht aus
ungluecklichen in glueckliche Umstaende gelangen lassen; denn das ist das
untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben
sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch
muss es kein voelliger Boesewicht sein, der aus gluecklichen Umstaenden in
unglueckliche verfaellt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar
Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Ich kenne nichts
Kahleres und Abgeschmackteres, als die gewoehnlichen Uebersetzungen dieses
Wortes Philanthropie. Sie geben naemlich das Adjektivum davon im
Lateinischen durch hominibus gratum; im Franzoesischen durch ce que peut
faire quelque plaisir; und im Deutschen durch "was Vergnuegen machen
kann". Der einzige Goulston, soviel ich finde, scheinet den Sinn des
Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das [Greek: philanthropon]
durch quod humanitatis sensu tangat uebersetzt. Denn allerdings ist unter
dieser Philanthropie, auf welche das Unglueck auch eines Boesewichts
Anspruch macht, nicht die Freude ueber seine verdiente Bestrafung, sondern
das sympathetische Gefuehl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, trotz
der Vorstellung, dass sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem
Augenblicke des Leidens in uns sich fuer ihn reget. Herr Curtius will zwar
diese mitleidige Regungen fuer einen ungluecklichen Boesewicht nur auf eine
gewisse Gattung der ihn treffenden Uebel einschraenken. "Solche Zufaelle des
Lasterhaften", sagt er, "die weder Schrecken noch Mitleiden in uns
wirken, muessen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufaellig,
oder wohl gar unschuldig, so behaelt er in dem Herzen der Zuschauer die
Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden
Gottlosen ihr Mitleid nicht versaget." Aber er scheinet dieses nicht
genug ueberlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglueck, welches
den Boesewicht befaellt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist,
koennen wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Ungluecks mit ihm
zu leiden.

"Seht jene Menge", sagt der Verfasser der "Briefe ueber die Empfindungen",
"die sich um einen Verurteilten in dichten Haufen draenget. Sie haben alle
Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel
und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt
und ohnmaechtig auf das entsetzliche Schaugerueste. Man arbeitet sich durch
das Gewuehl, man stellt sich auf die Zehen, man klettert die Daecher hinan,
um die Zuege des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist
gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein Schicksal
entscheiden. Wie sehnlich wuenschen itzt aller Herzen, dass ihm verziehen
wuerde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick
vorher selbst zum Tode verurteilet haben wuerden? Wodurch wird itzt ein
Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die
Annaeherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen
Uebel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussoehnen und ihm
unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe koennten wir unmoeglich mitleidig mit
seinem Schicksale sein."

Und ebendiese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter
keinerlei Umstaenden ganz verlieren koennen, die unter der Asche, mit
welcher sie andere staerkere Empfindungen ueberdecken, unverloeschlich
fortglimmet und gleichsam nur einen guenstigen Windstoss von Unglueck und
Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen;
ebendiese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie
verstehet. Wir haben recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids
begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht unrecht, wenn er ihr einen
eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem hoechsten Grade der
mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer
wahrscheinlichen Furcht fuer uns selbst, Affekt werden, zu
unterscheiden.




Siebenundsiebzigstes Stueck
Den 26. Januar 1768

Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff
von dem Affekte des Mitleids hatte, dass er notwendig mit der Furcht fuer
uns selbst verknuepft sein muesse: was war es noetig, der Furcht noch
insbesondere zu erwaehnen? Das Wort Mitleid schloss sie schon in sich, und
es waere genug gewesen, wenn er bloss gesagt haette: die Tragoedie soll durch
Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn
der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll,
noch dazu schwankend und ungewiss.

Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloss haette lehren wollen, welche
Leidenschaften die Tragoedie erregen koenne und solle, so wuerde er sich den
Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen koennen, und ohne Zweifel sich
wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein groesserer
Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche
Leidenschaften, durch die in der Tragoedie erregten, in uns gereiniget
werden sollten; und in dieser Absicht musste er der Furcht insbesondere
gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids weder in noch
ausser dem Theater ohne Furcht fuer uns selbst sein kann; ob sie schon ein
notwendiges Ingrediens des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch
umgekehrt, und das Mitleid fuer andere ist kein Ingrediens der Furcht fuer
uns selbst. Sobald die Tragoedie aus ist, hoeret unser Mitleid auf, und
nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurueck als die
wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Uebel fuer uns selbst
schoepfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des
Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine
vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um
anzuzeigen, dass sie dieses tun koenne und wirklich tue, fand es
Aristoteles fuer noetig, ihrer insbesondere zu gedenken.

Es ist unstreitig, dass Aristoteles ueberhaupt keine strenge logische
Definition von der Tragoedie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloss
wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschraenken, hat er verschiedene
zufaellige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht
hatte. Diese indes abgerechnet, und die uebrigen Merkmale ineinander
reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklaerung uebrig: die naemlich,
dass die Tragoedie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid
erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so
wie die Epopee und die Komoedie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung
einer mitleidswuerdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich
vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form
ist daraus zu bestimmen.

An dem letztern duerfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wuesste ich
keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen waere, es zu
versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragoedie als etwas
Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so
laesst, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache
ergruendet, aber sie bei seiner Erklaerung mehr vorausgesetzt, als deutlich
angegeben. "Die Tragoedie", sagt er, "ist die Nachahmung einer
Handlung,--die nicht vermittelst der Erzaehlung, sondern vermittelst des
Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen
Leidenschaften bewirket." So drueckt er sich von Wort zu Wort aus. Wem
sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, "nicht vermittelst der
Erzaehlung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht", befremden?
Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragoedie braucht, um ihre
Absicht zu erreichen: und die Erzaehlung kann sich nur auf die Art und
Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen oder nicht zu bedienen.
Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet
hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzaehlung, welches die
dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Uebersetzer bei dieser
Luecke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere fuellt sie, aber
nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlaessigte
Wortfuegung, an die sie sich nicht halten zu duerfen glauben, wenn sie nur
den Sinn des Philosophen liefern. Dacier uebersetzt: d'une action--qui,
sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la
terreur usw.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch die
Erzaehlung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst)
uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der
vorgestellten Leidenschaften reiniget". Oh, sehr recht! Beide sagen, was
Aristoteles sagen will, nur dass sie es nicht so sagen, wie er es sagt.
Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine
bloss vernachlaessigte Wortfuegung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles
bemerkte, dass das Mitleid notwendig ein vorhandenes Uebel erfodere; dass
wir laengst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Uebel
entweder gar nicht oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden
koennen, als ein anwesendes; dass es folglich notwendig sei, die Handlung,
durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist,
nicht in der erzaehlenden Form, sondern als gegenwaertig, das ist, in der
dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, dass unser Mitleid durch
die Erzaehlung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch
die gegenwaertige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in
der Erklaerung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu
setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form faehig ist. Haette er es
fuer moeglich gehalten, dass unser Mitleid auch durch die Erzaehlung erreget
werden koenne: so wuerde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen
sein, wenn er gesagt haette, "nicht durch die Erzaehlung, sondern durch
Mitleid und Furcht". Da er aber ueberzeugt war, dass Mitleid und Furcht in
der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so
konnte er sich diesen Sprung, der Kuerze wegen, erlauben.--Ich verweise
desfalls auf das naemliche achte Kapitel des zweiten Buchs seiner
Rhetorik.[1]

Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der
Tragoedie gibt, und den er mit in die Erklaerung derselben bringen zu
muessen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten,
darueber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, dass alle,
die sich dawider erklaert, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie
haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiss wussten,
welches seine waeren. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und
bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen,
indem sie ihr eigenes Hirngespinste zuschanden machen. Ich kann mich in
die naehere Eroerterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch
nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei
Anmerkungen machen.

1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tragoedie solle uns, vermittelst
des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten
Leidenschaften reinigen". Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch
Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn ungluecklich wird: so ist
es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die
Tragoedie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen.
Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt
Windmuehlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges,
darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als
gesunden Menschenverstand hat und ihnen auf seinem bedaechtlichern Pferde
hinten nachruft, sich nicht zu uebereilen, und doch nur erst die Augen
recht aufzusperren: [Greek: Ton toiouton pathaematon], sagt Aristoteles:
und das heisst nicht "der vorgestellten Leidenschaften"; das haetten sie
uebersetzen muessen durch "dieser und dergleichen" oder "der erweckten
Leidenschaften". Das [Greek: toiouton] bezieht sich lediglich auf das
vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragoedie soll unser Mitleid und
unsere Furcht erregen, bloss um diese und dergleichen Leidenschaften,
nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt
aber [Greek: toiouton] und nicht [Greek: touton], er sagt "dieser und
dergleichen" und nicht bloss "dieser": um anzuzeigen, dass er unter dem
Mitleid nicht bloss das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern ueberhaupt
alle philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloss die
Unlust ueber ein uns bevorstehendes Uebel, sondern auch jede damit verwandte
Unlust, auch die Unlust ueber ein gegenwaertiges, auch die Unlust ueber ein
vergangenes Uebel, Betruebnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange
soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragoedie erweckt, unser
Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und
keine andere Leidenschaften. Zwar koennen sich in der Tragoedie auch zur
Reinigung der andern Leidenschaften nuetzliche Lehren und Beispiele finden;
doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und
Komoedie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung
ueberhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragoedie, die Nachahmung einer
mitleidswuerdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle
Gattungen der Poesie; es ist klaeglich, wenn man dieses erst beweisen muss;
noch klaeglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln.
Aber alle Gattungen koennen nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so
vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann,
worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist
ihre eigentliche Bestimmung.


----Fussnote

[1] [Greek: Epei d' eggys phainomena ta pathae, eleeina eisi, ta de
myrioston etos genomena, ae esomena, out' elpizontes, oute memnaemenoi,
ae olos ouch eleousin, ae ouch' dmoios, anankae tous synapergazomenous
schaemasi kai onais, kai esti, kai olos tae hypochrisei,
eleeinoterous einai.]

----Fussnote




Achtundsiebzigstes Stueck
Den 29. Januar 1768

2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was fuer
Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der
Tragoedie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natuerlich, dass sie
sich auch mit der Reinigung selbst irren mussten. Aristoteles verspricht
am Ende seiner "Politik", wo er von der Reinigung der Leidenschaften
durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst
weitlaeuftiger zu handeln. "Weil man aber", sagt Corneille, "ganz und gar
nichts von dieser Materie darin findet, so ist der groesste Teil seiner
Ausleger auf die Gedanken geraten, dass sie nicht ganz auf uns gekommen
sei." Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von
seiner Dichtkunst noch uebrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu
finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz
unbekannt ist, ueber diese Sache zu sagen fuer noetig halten konnte.
Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung,
Licht genug geben koenne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die
Reinigung der Leidenschaften in der Tragoedie geschehe: naemlich die, wo
Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und
die Furcht einen unsersgleichen". Diese Stelle ist auch wirklich sehr
wichtig, nur dass Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und
nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der
Leidenschaften ueberhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Ungluecke",
sagt er, "von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns
die Furcht, dass uns ein aehnliches Unglueck treffen koenne; diese Furcht
erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben,
die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr
Unglueck vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu maessigen, zu bessern,
ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, dass man die
Ursache abschneiden muesse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber
dieses Raisonnement, welches die Furcht bloss zum Werkzeuge macht, durch
welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch
und kann unmoeglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die
Tragoedie gerade alle Leidenschaften reinigen koennte, nur nicht die zwei,
die Aristoteles ausdruecklich durch sie gereiniget wissen will. Sie koennte
unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Hass
und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft
ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglueck zugezogen. Nur
unser Mitleid und unsere Furcht muesste sie ungereiniget lassen. Denn
Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragoedie wir,
nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften,
durch welche die handelnden Personen uns ruehren, nicht aber die, durch
welche sie sich selbst ihre Unfaelle zuziehen. Es kann ein Stueck geben,
in welchem sie beides sind: das weiss ich wohl. Aber noch kenne ich kein
solches Stueck: ein Stueck naemlich, in welchem sich die bemitleidete Person
durch ein uebelverstandenes Mitleid oder durch eine uebelverstandene Furcht
ins Unglueck stuerze. Gleichwohl wuerde dieses Stueck das einzige sein, in
welchem, so wie es Corneille versteht, das geschaehe, was Aristoteles
will, dass es in allen Tragoedien geschehen soll: und auch in diesem
einzigen wuerde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt.
Dieses einzige Stueck wuerde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei
gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in
alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen.--So gar sehr konnte Dacier
den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte
seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, dass
unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der
Tragoedie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, dass
der Nutzen der Tragoedie sehr gering sein wuerde, wenn er bloss hierauf
eingeschraenkt waere: so liess er sich verleiten, nach der Erklaerung des
Corneille, ihr die ebenmaessige Reinigung auch aller uebrigen Leidenschaften
beizulegen. Wie nun Corneille diese fuer sein Teil leugnete und in
Beispielen zeigte, dass sie mehr ein schoener Gedanke, als eine Sache sei,
die gewoehnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so musste er sich mit ihm
in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand,
dass er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen musste, um seinen
Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn
der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu beduerfen.
Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leiden-
schaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragoedie reinigen
solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr
gleichgueltig, ob die Tragoedie zur Reinigung der uebrigen Leidenschaften
viel oder wenig beitraegt. An jene Reinigung haette sich Dacier allein
halten sollen: aber freilich haette er sodann auch einen vollstaendigem
Begriff damit verbinden muessen. "Wie die Tragoedie", sagt er, "Mitleid und
Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu
erklaeren. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglueck vor Augen stellet, in
das unsersgleichen durch nicht vorsaetzliche Fehler gefallen sind; und sie
reiniget sie, indem sie uns mit diesem naemlichen Ungluecke bekannt macht
und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fuerchten, noch allzusehr
davon geruehrt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte.--Sie
bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufaelle mutig zu ertragen, und
macht die Allerelendesten geneigt, sich fuer gluecklich zu halten, indem
sie ihre Ungluecksfaelle mit weit groessern vergleichen, die ihnen die
Tragoedie vorstellet. Denn in welchen Umstaenden kann sich wohl ein Mensch
finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests
nicht erkennen muesste, dass alle Uebel, die er zu erdulden, gegen die,
welche diese Maenner erdulden muessen, gar nicht in Vergleichung gekommen?"
Nun das ist wahr; diese Erklaerung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens
gemacht haben. Er fand sie fast mit den naemlichen Worten bei einem
Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes
einzuwenden, dass das Gefuehl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid
neben sich duldet; dass folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu
erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betruebnis durch das
Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt,
gelten lassen. Nur fragen muss ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im
geringsten mehr damit gesagt, als, dass das Mitleid unsere Furcht reinige?
Gewiss nicht: und das waere doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des
Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, dass die Tragoedie Mitleid
und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht,
dass dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklaeren fuer gut befunden? Denn,
nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muss
der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschoepfen will, stueckweise
zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische
Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und
4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen koenne und wirklich
reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch
diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Haelfte erlaeutert. Denn
wer sich um einen richtigen und vollstaendigen Begriff von der
Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemueht hat, wird finden, dass
jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schliesset. Da
naemlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei
jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits
ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muss die Tragoedie,
wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis
des Mitleids zu reinigen vermoegend sein; welches auch von der Furcht zu
verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids,
die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fuehlet, sondern auch
desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muss nicht
allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich
ganz und gar keines Ungluecks befuerchtet, sondern auch desjenigen, den ein
jedes Unglueck, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in
Angst setzet. Gleichfalls muss das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht,
dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die
tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat
nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugrosse Furcht maessige: und
noch nicht einmal, wie es dem gaenzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie
in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade
erhoehe; geschweige, dass er auch das uebrige sollte gezeigt haben. Die nach
ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergaenzet;
aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragoedie voellig ausser
Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte ueberhaupt, aber
keinesweges der Tragoedie, als Tragoedie, insbesondere zukommen; z.E. dass sie
die Triebe der Menschlichkeit naehren und staerken; dass sie Liebe zur Tugend
und Hass gegen das Laster wirken solle usw.[1] Lieber! welches Gedicht sollte
das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende
Kennzeichen der Tragoedie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten.


----Fussnote

[1] Hr. Curtius in seiner "Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels",
hinter der Aristotelischen Dichtkunst".

----Fussnote




Neunundsiebzigstes Stueck
Den 2. Februar 1768

Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen.--Richard also erweckt
ebensowenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemissbrauchten
Verstande, fuer die ploetzliche Ueberraschung des Mitleids; noch in dem
eigentlichen Verstande des Aristoteles, fuer heilsame Furcht, dass uns ein
aehnliches Unglueck treffen koenne. Denn wenn er diese erregte, wuerde er
auch Mitleid erregen; so gewiss er hinwiederum Furcht erregen wuerde, wenn
wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten wuerdig faenden. Aber er ist so
ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so
voellig keinen einzigen aehnlichen Zug mit uns selbst finden, dass ich
glaube, wir koennten ihn vor unsern Augen den Martern der Hoelle uebergeben
sehen, ohne das geringste fuer ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu
fuerchten, dass, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie
auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglueck, die Strafe, die ihn
trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen muessen, hoeren wir,
dass er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Koenigin dieses
erzaehlt wird, laesst sie der Dichter sagen:

"Dies ist etwas!"--

Ich habe mich nie enthalten koennen, bei mir nachzusprechen: nein, das ist
gar nichts! Wie mancher gute Koenig ist so geblieben, indem er seine Krone
wider einen maechtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als
ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich fuer den
Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stueck durch ueber den Triumph
seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die
einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen ueber das Glueck
eines Boesewichts auszudruecken: [Greek: nemesis, nemesan.][1]) Sein Tod
selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte,
unterhaelt noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich:
aber gut, dass es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische!

Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das
Stueck heisst zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben,
nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragoedie erreicht wird; er
hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid fuer andere zu erregen. Die
Koenigin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?--

Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es fuer eine fremde,
herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid fuer diese Personen mischt? die
da macht, dass ich mir dieses Mitleid ersparen zu koennen wuenschte? Das
wuensche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile
gern dabei; und danke dem Dichter fuer eine so suesse Qual.

Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiss sein! Er
spricht von einem [Greek: miaron], von einem Graesslichen, das sich bei dem
Ungluecke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die
Koenigin, Elisabeth, die Prinzen vollkommen solche Personen? Was haben sie
getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, dass sie in den Klauen dieser
Bestie sind? Ist es ihre Schuld, dass sie ein naeheres Recht auf den Thron
haben als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch
kaum rechts und links unterscheiden koennen! Wer wird leugnen, dass sie
unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit
Schaudern an die Schicksale der Menschen denken laesst, dem Murren wider
die Vorsehung sich zugesellet und Verzweiflung von weiten nachschleicht,
ist dieser Jammer--ich will nicht fragen, Mitleid?--Er heisse, wie er
wolle--Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?

Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gruendet er sich doch auf
etwas, das wirklich geschehen ist.--Das wirklich geschehen ist? es sei:
so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange
aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Guete, was uns in den
wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und
Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes
machen, das voellig sich rundet, wo eines aus dem andern sich voellig
erklaeret, wo keine Schwierigkeit aufstoesst, derenwegen wir die Befriedigung
nicht in seinem Plane finden, sondern sie ausser ihm, in dem allgemeinen
Plane der Dinge suchen muessen; das Ganze dieses sterblichen Schoepfers
sollte ein Schattenriss von dem Ganzen des ewigen Schoepfers sein; sollte
uns an den Gedanken gewoehnen, wie sich in ihm alles zum Besten aufloese,
werde es auch in jenem geschehen: und er vergisst diese seine edelste
Bestimmung so sehr, dass er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in
seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darueber
erregt?--O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt
habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese
kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft
in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen
und froehlichen Mut behalten sollen: so ist es hoechst noetig, dass wir an
die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhaengnisse
so wenig als moeglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Buehne! Weg,
wenn es sein koennte, aus allen Buechern mit ihnen!--

Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige die erforderlichen
Eigenschaften hat, die sie haben muessten, falls er wirklich das sein
sollte, was er heisst: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes
Stueck geworden, wofuer ihn unser Publikum haelt? Wenn er nicht Mitleid und
Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muss er doch haben und
hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese
oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschaeftiget, wenn er sie
vergnuegt: was will man denn mehr? Muessen sie denn notwendig nur nach den
Regeln des Aristoteles beschaeftiget und vergnuegt werden?

Das klingt so unrecht nicht: aber es ist darauf zu antworten. Ueberhaupt:
wenn Richard schon keine Tragoedie waere, so bleibt er doch ein dramatisches
Gedicht; wenn ihm schon die Schoenheiten der Tragoedie mangelten, so koennte
er doch sonst Schoenheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden;
kuehne Gesinnungen; einen feurigen hinreissenden Dialog; glueckliche
Veranlassungen fuer den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den
mannigfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Staerke in der
Pantomime zu zeigen usw.

Von diesen Schoenheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die
den eigentlichen Schoenheiten der Tragoedie naeher kommen.

Richard ist ein abscheulicher Boesewicht: aber auch die Beschaeftigung
unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnuegen; besonders in der
Nachahmung.

Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen,
welche Groesse und Kuehnheit in uns erwecken.

Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in
Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und ueberall, wo wir einen Plan
wahrnehmen, wird unsere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er
ausgefuehrt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das
Zweckmaessige so sehr, dass es uns, auch unabhaengig von der Moralitaet des
Zweckes, Vergnuegen gewaehret.

Wir wollten, dass Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, dass er
ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Missvergnuegen ueber
ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so
viel Blut voellig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist,
moechten wir es nicht gern, auch noch bloss vor langer Weile, vergossen
finden. Hinwiederum waere dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit;
nichts hoeren wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu
erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht waere, wuerden wir nichts
als das Abscheuliche derselben erblicken, wuerden wir wuenschen, dass sie
nicht erreicht waere; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert
vor der Erreichung.

Die guten Personen des Stuecks lieben wir; eine so zaertliche feurige
Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese
Gegenstaende gefallen immer, erregen immer die suessesten sympathetischen
Empfindungen, wir moegen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld
leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar fuer unsere Ruhe, zu unserer
Besserung kein sehr erspriessliches Gefuehl: aber es ist doch immer Gefuehl.

Und sonach beschaeftiget uns das Stueck durchaus, und vergnuegt durch diese
Beschaeftigung unserer Seelenkraefte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht
wahr, die man daraus zu ziehen meinet: naemlich, dass wir also damit
zufrieden sein koennen.

Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben.
Nicht genug, dass sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muss auch die haben,
die ihm, vermoege der Gattung, zukommen; es muss diese vornehmlich haben,
und alle andere koennen den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen;
besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit und
Kostbarkeit ist, dass alle Muehe und aller Aufwand vergebens waere, wenn sie
weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine
leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung ebensowohl zu
erhalten waeren. Ein Bund Stroh aufzuheben, muss man keine Maschinen in
Bewegung setzen; was ich mit dem Fusse umstossen kann, muss ich nicht mit
einer Mine sprengen wollen; ich muss keinen Scheiterhaufen anzuenden, um
eine Muecke zu verbrennen.


----Fussnote

[1] Arist. Rhet., lib. II. cap. 9.

----Fussnote




Achtzigstes Stueck
Den 5. Februar 1768

Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet,
Maenner und Weiber verkleidet, Gedaechtnisse gemartert, die ganze Stadt auf
einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Auffuehrung
desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen,
die eine gute Erzaehlung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen,
ungefaehr auch hervorbringen wuerde.

Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht
erregen laesst; wenigstens koennen in keiner andern Form diese Leidenschaften
auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle
andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem
andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzueglich geschickt ist.

Das Publikum nimmt vorlieb.--Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man
sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muss.

Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und roemische Volk auf die
Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgueltig,
wie kalt dagegen unser Volk fuer das Theater! Woher diese Verschiedenheit,
wenn sie nicht daher koemmt, dass die Griechen vor ihrer Buehne sich mit so
starken, so ausserordentlichen Empfindungen begeistert fuehlten, dass sie
den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu
haben: dahingegen wir uns vor unserer Buehne so schwacher Eindruecke bewusst
sind, dass wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu
verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode,
aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft
zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus
anderer Absicht.

Ich sage, wir, unser Volk, unsere Buehne: ich meine aber nicht bloss, uns
Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, dass wir noch kein
Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses
Bekenntnis mit einstimmen und grosse Verehrer des franzoesischen Theaters
sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich
weiss wohl, was ich dabei denke. Ich denke naemlich dabei: dass nicht allein
wir Deutsche; sondern, dass auch die, welche sich seit hundert Jahren ein
Theater zu haben ruehmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben
prahlen,--dass auch die Franzosen noch kein Theater haben.

Kein tragisches gewiss nicht! Denn auch die Eindruecke, welche die
franzoesische Tragoedie macht, sind so flach, so kalt!--Man hoere einen
Franzosen selbst davon sprechen.

"Bei den hervorstechenden Schoenheiten unsers Theaters", sagt der Herr von
Voltaire, "fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte,
weil das Publikum von selbst keine hoehere Ideen haben konnte, als ihm die
grossen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremond
hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt naemlich, dass unsere Stuecke nicht
Eindruck genug machten, dass das, was Mitleid erwecken solle, aufs hoechste
Zaertlichkeit errege, dass Ruehrung die Stelle der Erschuetterung, und
Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, dass unsere Empfindungen
nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremond hat mit
dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des franzoesischen Theaters
getroffen. Man sage immerhin, dass Saint-Evremond der Verfasser der elenden
Komoedie 'Sir Politik Wouldbe' und noch einer andern ebenso elenden, 'Die
Opern' genannt, ist: dass seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das
Kahlste und Gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; dass er nichts
als ein Phrasendrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben und
gleichwohl viel Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war
unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern
Stuecken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem
Grade von Waerme gefehlt: das andere hatten wir alles."

Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere
Tragoedien waren vortrefflich, nur dass es keine Tragoedien waren. Und woher
kam es, dass sie das nicht waren?

"Diese Kaelte aber", faehrt er fort, "diese einfoermige Mattigkeit,
entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals
unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte und die Tragoedie in eine
Folge von verliebten Gespraechen verwandelte, nach dem Geschmacke des
'Cyrus' und der 'Clelie'. Was fuer Stuecke sich hiervon noch etwa
ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements,
dergleichen den 'Sertorius' so verdorben, den 'Otho' so kalt, und den
'Surena' und 'Attila' so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch
eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene
zurueckhielt und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und
diese war das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen.
--Was liess sich auf einem paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit
Zuschauern angefuellt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen
Zuruestungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln,
taeuschen? Welche grosse tragische Aktion liess sich da auffuehren? Welche
Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stuecke
mussten aus langen Erzaehlungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespraeche
als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glaenzen, und ein
Stueck, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen.--Bei dieser Form fiel
alle theatralische Handlung weg; fielen alle die grossen Ausdruecke der
Leidenschaften, alle die kraeftigen Gemaelde der menschlichen
Ungluecksfaelle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele
dringende Zuege weg; man ruehrte das Herz nur kaum, anstatt es zu
zerreissen."

Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie und
Politik laesst immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt
gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden.
Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hoeren: und
diese fodern, dass wir nichts als den Menschen hoeren sollen.

Aber die zweite Ursache?--Sollte es moeglich sein, dass der Mangel eines
geraeumlichen Theaters und guter Verzierungen einen solchen Einfluss auf
das Genie der Dichter gehabt haette? Ist es wahr, dass jede tragische
Handlung Pomp und Zuruestungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht
vielmehr sein Stueck so einrichten, dass es auch ohne diese Dinge seine
voellige Wirkung hervorbraechte.

Nach dem Aristoteles sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid", sagt
der Philosoph, "laesst sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch
aus der Verknuepfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches
letztere vorzueglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die
Fabel muss so eingerichtet sein, dass sie, auch ungesehen, den, der den
Verlauf ihrer Begebenheiten bloss anhoert, zu Mitleid und Furcht ueber diese
Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhoeren
darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht
erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die
Vorstellung des Stuecks uebernommen."

Wie entbehrlich ueberhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon
will man mit den Stuecken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung
gehabt haben. Welche Stuecke brauchten, wegen ihrer bestaendigen
Unterbrechung und Veraenderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der
ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war
eine Zeit, wo die Buehnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts
bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn
er aufgezogen war, die blossen blanken, hoechstens mit Matten oder Tapeten
behangenen Waende zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem
Verstaendnisse des Zuschauers und der Ausfuehrung des Spielers zu Hilfe
kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stuecke des
Shakespeares ohne alle Szenen verstaendlicher, als sie es hernach mit
denselben gewesen sind.[1]

Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekuemmern hat;
wenn die Verzierung, auch wo sie noetig scheinet, ohne besondere Nachteil
seines Stuecks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten
Theater gelegen haben, dass uns die franzoesischen Dichter keine ruehrendere
Stuecke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst.

Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine
schoenere, geraeumlichere Buehne; keine Zuschauer werden mehr darauf
geduldet; die Kulissen sind leer; der Dekorateur hat freies Feld; er malt
und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber wo sind sie
denn, die waermern Stuecke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt
sich der Herr von Voltaire, dass seine "Semiramis" ein solches Stueck ist?
Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst obendarein: und doch kenne
ich nichts Kaelteres, als seine "Semiramis".


----Fussnote

[1] ("Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir." Vol. II. p. 78.
79.)--Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting.
--In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain
of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared
either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with
tapestry; so that for the place originally represented, and all the
successive changes, in which the poets of those times freely indulged
themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or
to assist the actor's performance, but bare imagination.--The spirit and
judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would
insinuate, plays more intelligible without scenes than they afterwards
were with them.

----Fussnote




Einundachtzigstes Stueck
Den 9. Februar 1768

Will ich denn nun aber damit sagen, dass kein Franzose faehig sei, ein
wirklich ruehrendes tragisches Werk zu machen? dass der volatile Geist der
Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei?--Ich wuerde mich schaemen,
wenn mir das nur eingekommen waere. Deutschland hat sich noch durch keinen
Bouhours laecherlich gemacht. Und ich, fuer mein Teil, haette nun gleich die
wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr ueberzeugt, dass kein Volk in der
Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzueglich vor andern Voelkern erhalten
habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Englaender, der witzige Franzose.
Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiss nicht, die alles
unter alle gleich verteilet. Es gibt ebensoviel witzige Englaender als
witzige Franzosen, und ebensoviel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige
Englaender: der Prass von dem Volke aber ist keines von beidem.--

Was will ich denn? Ich will bloss sagen, was die Franzosen gar wohl haben
koennten, dass sie das noch nicht haben: die wahre Tragoedie. Und warum noch
nicht haben?--Dazu haette sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen
muessen, wenn er es haette treffen wollen.

Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu
haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas
bestaerkt, das sie vorzueglich vor allen Voelkern haben; aber es ist keine
Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzelnen Menschen.--Gottsched (man
wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle) galt in seiner
Jugend fuer einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter
noch nicht zu unterscheiden wusste. Philosophie und Kritik setzten nach
und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem
Jahrhunderte nur haette fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und
sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines
Zeitalters haetten verbreiten und laeutern wollen: so haette er vielleicht
wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden koennen. Aber da er sich
schon so oft den groessten Dichter hatte nennen hoeren, da ihn seine
Eitelkeit ueberredet hatte, dass er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte
unmoeglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je aelter er
ward, desto hartnaeckiger und unverschaemter ward er, sich in diesem
traeumerischen Besitze zu behaupten.

Gerade so, duenkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riss Corneille
ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der
Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand
angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar
auch nie gewesen), ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch
ruehrender sein koenne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward fuer
unmoeglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter musste
sich darauf einschraenken, dem einen oder dem andern so aehnlich zu werden
als moeglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre
Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer und sage ihnen das, und hoere,
was sie antworten!

Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet
und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluss gehabt hat.
Denn Racine hat nur durch seine Muster verfuehrt; Corneille aber durch
seine Muster und Lehren zugleich.

Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei
Pedanten, einen Hedelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wussten,
was sie wollten) als Orakelsprueche angenommen, von allen nachherigen
Dichtern befolgt: haben--ich getraue mich, es Stueck vor Stueck zu
beweisen,--nichts anders, als das kahlste, waessrigste, untragischste Zeug
hervorbringen koennen.

Die Regeln des Aristoteles sind alle auf die hoechste Wirkung der Tragoedie
kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er traegt sie falsch und
schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so
sucht er, bei einer nach der andern, quelque moderation, quelque favorable
interpretation; entkraeftet und verstuemmelt, deutelt und vereitelt eine
jede,--und warum? pour n'etre pas obliges de condamner beaucoup de poemes
que nous avons vu reussir sur nos theatres; um nicht viele Gedichte
verwerfen zu duerfen, die auf unsern Buehnen Beifall gefunden. Eine schoene
Ursache!

Ich will die Hauptpunkte geschwind beruehren. Einige davon habe ich schon
beruehrt; ich muss sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen.

1. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen.--
Corneille sagt: o ja, aber wie es koemmt; beides zugleich ist eben nicht
immer noetig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne
Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb' ich, ich der
grosse Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten
Kinder erwecken Mitleid; und sehr grosses Mitleid: aber Furcht wohl
schwerlich. Und wiederum: wo blieb' ich sonst mit meiner Kleopatra, mit
meinem Prusias, mit meinem Phokas? Wer kann Mitleid mit diesen
Nichtswuerdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch.--So glaubte Corneille:
und die Franzosen glaubten es ihm nach.

2. Aristoteles sagt: die Tragoedie soll Mitleid und Furcht erregen;
beides, versteht sich, durch eine und ebendieselbe Person.--Corneille
sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es
eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen
bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen; so wie ich in meiner
"Rodogune" getan habe.--Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun
es ihm nach.

3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die
Tragoedie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen
anhaengig, gereiniget werden.--Corneille weiss davon gar nichts und bildet
sich ein, Aristoteles habe sagen wollen. Die Tragoedie erwecke unser
Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die
Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete
Gegenstand sein Unglueck zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht
nicht sprechen: genug, dass es nicht die Aristotelische ist; und dass, da
Corneille seinen Tragoedien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig
seine Tragoedien selbst ganz andere Werke werden mussten, als die waren,
von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahieret hatte; es mussten
Tragoedien werden, welches keine wahre Tragoedien waren. Und das sind nicht
allein seine, sondern alle franzoesische Tragoedien geworden; weil ihre
Verfasser alle nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des
Corneille sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, dass Dacier beide
Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese blosse Verbindung
wird die erstere geschwaecht, und die Tragoedie muss unter ihrer hoechsten
Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur
einen sehr unvollstaendigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich
daher einbildete, dass die franzoesischen Tragoedien seiner Zeit noch eher
die erste, als die zweite Absicht erreichten. "Unsere Tragoedie", sagt er,
"ist, zufolge jener, noch so ziemlich gluecklich, Mitleid und Furcht zu
erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die
doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die uebrigen
Leidenschaften nur sehr wenig, oder da sie gemeiniglich nichts als
Liebesintrigen enthaelt, wenn sie ja eine davon reinigte, so wuerde es
einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, dass ihr
Nutzen nur sehr klein ist.[1] Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher
franzoesische Tragoedien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht
ein Genuege leisten. Ich kenne verschiedene franzoesische Stuecke, welche
die ungluecklichen Folgen irgendeiner Leidenschaft recht wohl ins Licht
setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend,
ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade
erregte, in welchem die Tragoedie es erregen sollte, in welchem ich, aus
verschiedenen griechischen und englischen Stuecken gewiss weiss, dass sie es
erregen kann. Verschiedene franzoesische Tragoedien sind sehr feine, sehr
unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, dass es keine
Tragoedien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr
gute Koepfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen
geringen Rang: nur dass sie keine tragische Dichter sind; nur dass ihr
Corneille und Racine, ihr Crebillon und Voltaire von dem wenig oder gar
nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum
Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit
den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene
desto oefterer. Denn nur weiter--


----Fussnote

[1] (Poet. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragedie peut reussir
assez dans la premiere partie, c'est-a-dire, qu'elle peut exciter et
purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement a la
derniere, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres
passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour,
si elle en purgeait quelqu'une, ce serait celle-la seule, et par la il
est aise de voir qu'elle ne fait que peu de fruit.

----Fussnote




Zweiundachtzigstes Stueck
Den 12. Februar 1768

4. Aristoteles sagt: man muss keinen ganz guten Mann, ohne alle sein
Verschulden, in der Tragoedie ungluecklich werden lassen; denn so was sei
graesslich.--"Ganz recht", sagt Corneille; "ein solcher Ausgang erweckt
mehr Unwillen und Hass gegen den, welcher das Leiden verursacht, als
Mitleid fuer den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht
die eigentliche Wirkung der Tragoedie sein soll, wuerde, wenn sie nicht
sehr fein behandelt waere, diese ersticken, die doch eigentlich
hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer wuerde missvergnuegt weggehen,
weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm
gefallen haette, wenn er es allein mit wegnehmen koennen. Aber", koemmt
Corneille hintennach; denn mit einem Aber muss er nachkommen--"aber, wenn
diese Ursache wegfaellt, wenn es der Dichter so eingerichtet, dass der
Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid fuer sich, als Widerwillen gegen
den erweckt, der ihn leiden laesst: alsdenn?--Oh, alsdenn", sagt Corneille,
"halte ich dafuer, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den
tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Ungluecke zu zeigen."[1]
--Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag
hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu
verstehen, indem man ihn Dinge sagen laesst, an die er nie gedacht hat.
Das gaenzlich unverschuldete Unglueck eines rechtschaffenen Mannes, sagt
Aristoteles, ist kein Stoff fuer das Trauerspiel; denn es ist graesslich.
Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine
blosse Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhoert. Aristoteles
sagt: es ist durchaus graesslich, und eben daher untragisch. Corneille aber
sagt: es ist untragisch, insofern es graesslich ist. Dieses Graessliche
findet Aristoteles in dieser Art des Unglueckes selbst: Corneille aber
setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht.
Er sieht nicht, oder will nicht sehen, dass jenes Graessliche ganz etwas
anders ist als dieser Unwille; dass, wenn auch dieser ganz wegfaellt, jenes
doch noch in seinem vollen Masse vorhanden sein kann: genug, dass vors
erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stuecken
gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des
Aristoteles will gemacht haben, dass er vielmehr vermessen genug ist, sich
einzubilden, es habe dem Aristoteles bloss an dergleichen Stuecken gefehlt,
um seine Lehre darnach naeher einzuschraenken und verschiedene Manieren
daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglueck des ganz
rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden koenne. En voici,
sagt er, deux ou trois manieres que peut-etre Aristote n'a su prevoir,
parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les theatres de son temps.
Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst?
Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind
sehen.--"Die erste", sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch
einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkoemmt, und
so, dass der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der
'Rodogune' und im 'Heraklius' geschiehet, wo es ganz unertraeglich wuerde
gewesen sein, wenn in dem ersten Stuecke Antiochus und Rodogune, und in
dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen waeren, Kleopatra
und Phokas aber triumphieret haetten. Das Unglueck der erstern erweckt ein
Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben,
nicht erstickt wird, weil man bestaendig hofft, dass sich irgendein
gluecklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse." Das
mag Corneille sonst jemanden weismachen, dass Aristoteles diese Manier
nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, dass er sie, wo nicht
gaenzlich verworfen, wenigstens mit ausdruecklichen Worten fuer angemessener
der Komoedie als Tragoedie erklaert hat. Wie war es moeglich, dass Corneille
dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache
zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehoert diese Manier auch gar
nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht
ungluecklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Ungluecke; welches
gar wohl mitleidige Besorgnisse fuer ihn erregen kann, ohne graesslich zu
sein.--Nun, die zweite Manier! "Auch kann es sich zutragen", sagt
Corneille, "dass ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl
eines andern umkoemmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen
allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den
Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix
seinen Eidam Polyeukt umkommen laesst, so ist es nicht aus wuetendem Eifer
gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswuerdig machen wuerde,
sondern bloss aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn
in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in
Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und
missbilliget sein Verfahren; doch ueberwiegt dieser Unwille nicht das
Mitleid, welches wir fuer den Polyeukt empfinden, und verhindert auch
nicht, dass ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stuecks, nicht
voellig wieder mit den Zuhoerern aussoehnen sollte." Tragische Stuemper,
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum
sollte es also dem Aristoteles an einem Stuecke von aehnlicher Einrichtung
gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille?
Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie
Felix, sind in dergleichen Stuecken ein Fehler mehr und machen sie noch
obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im
geringsten weniger graesslich zu machen. Denn, wie gesagt, das Graessliche
liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in
dem Ungluecke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so
unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger moegen boese oder
schwach sein, moegen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der
Gedanke ist an und fuer sich selbst graesslich, dass es Menschen geben kann,
die ohne alle ihr Verschulden ungluecklich sind. Die Helden haetten diesen
graesslichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als moeglich:
und wir wollten ihn naehren? wir wollten uns an Schauspielen vergnuegen,
die ihn bestaetigen? wir? die Religion und Vernunft ueberzeuget haben
sollte, dass er ebenso unrichtig als gotteslaesterlich ist?--Das naemliche
wuerde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille
nicht selbst naeher anzugeben vergessen haette.

5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz
Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglueck weder Mitleid
noch Furcht erregen koenne, bringt Corneille seine Laeuterungen bei.
Mitleid zwar, gesteht er zu, koenne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster
desselben faehig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglueck nicht
zu befuerchten habe: so koenne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern
aehnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den
zwar proportionierten, aber doch noch immer ungluecklichen Folgen
derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gruendet
sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von
der Reinigung der in der Tragoedie zu erweckenden Leidenschaften hatte,
und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, dass die
Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und
dass der Boesewicht, wenn es moeglich waere, dass er unsere Furcht erregen
koenne, auch notwendig unser Mitleid erregen muesste. Da er aber dieses, wie
Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und
bleibt gaenzlich ungeschickt, die Absicht der Tragoedie erreichen zu
helfen. Ja, Aristoteles haelt ihn hierzu noch fuer ungeschickter als den
ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdruecklich, falls man den Held aus
der mittlere Gattung nicht haben koenne, dass man ihn eher besser als
schlimmer waehlen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut
sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler
begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglueck stuerzet, das uns mit
Mitleid und Wehmut erfuellet, ohne im geringsten graesslich zu sein, weil es
die natuerliche Folge seines Fehlers ist.--Was Dubos[2] von dem Gebrauche
der lasterhaften Personen in der Tragoedie sagt, ist das nicht, was
Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloss zu
Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloss zur
Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen
lassen, so wie in der "Rodogune": und das ist eigentlich, was mit der
Absicht der Tragoedie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch
sehr richtig an, dass das Unglueck dieser subalternen Boesewichter keinen
Eindruck auf uns mache. "Kaum", sagt er, "dass man den Tod des Narciss im
Britannicus bemerkt." Aber also sollte sich der Dichter auch schon
deswegen ihrer so viel als moeglich enthalten. Denn wenn ihr Unglueck die
Absicht der Tragoedie nicht unmittelbar befoerdert, wenn sie blosse
Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern
Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, dass das Stueck noch
besser sein wuerde, wenn es die naemliche Wirkung ohne sie haette. Je
simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Raeder und Gewichte sie
hat, desto vollkommener ist sie.


----Fussnote

[1] J'estime qu'il ne faut point faire de difficulte d'exposer sur la
scene des hommes tres vertueux.

[2] Reflexions cr. T. I. Sect. XV.

----Fussnote




Dreiundachtzigstes Stueck
Den 16. Februar 1768

6. Und endlich, die Missdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft,
welche Aristoteles fuer die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie
sollen gut sein, die Sitten. "Gut?" sagt Corneille. "Wenn gut hier so
viel als tugendhaft heissen soll: so wird es mit den meisten alten und
neuen Tragoedien uebel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte,
wenigstens mit einer Schwachheit, die naechst der Tugend so recht nicht
bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen." Besonders ist ihm fuer
seine Kleopatra in der "Rodogune" bange. Die Guete, welche Aristoteles
fodert, will er also durchaus fuer keine moralische Guete gelten lassen;
es muss eine andere Art von Guete sein, die sich mit dem moralisch Boesen
ebensowohl vertraegt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet
Aristoteles schlechterdings eine moralische Guete: nur dass ihm tugendhafte
Personen, und Personen, welche in gewissen Umstaenden tugendhafte Sitten
zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche
Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proaeresis ist, durch welche
allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder boesen
Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in
einen weitlaeuftigen Beweis einlassen; er laesst sich nur durch den
Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen
Kunstrichters einleuchtend genug fuehren. Ich verspare ihn daher auf eine
andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankoemmt, zu
zeigen, was fuer einen ungluecklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des
richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: dass Aristoteles
unter der Guete der Sitten den glaenzenden und erhabnen Charakter
irgendeiner tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, sowie sie der
eingefuehrten Person entweder eigentuemlich zukomme oder ihr schicklich
beigeleget werden koenne: le caractere brillant et eleve d'une habitude
vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable a la
personne qu'on introduit. "Kleopatra in der 'Rodogune'", sagt er, "ist
aeusserst boese: da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er
sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt
vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind
mit einer gewissen Groesse der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat,
dass man, indem man ihre Handlungen verdammt, doch die Quelle, woraus sie
entspringen, bewundern muss. Ebendieses getraue ich mir von dem 'Luegner'
zu sagen. Das Luegen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein
Dorant bringt seine Luegen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so
vieler Lebhaftigkeit vor, dass diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl
laesst und die Zuschauer gestehen muessen, dass die Gabe, so zu luegen, ein
Laster sei, dessen kein Dummkopf faehig ist."--Wahrlich, einen
verderblichern Einfall haette Corneille nicht haben koennen! Befolget ihn
in der Ausfuehrung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Taeuschung, um
allen sittlichen Nutzen der Tragoedie getan! Denn die Tugend, die immer
bescheiden und einfaeltig ist, wird durch jenen glaenzenden Charakter eitel
und romantisch: das Laster aber mit einem Firnis ueberzogen, der uns
ueberall blendet, wir moegen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus
welchem wir wollen. Torheit, bloss durch die ungluecklichen Folgen von dem
Laster abschrecken wollen, indem man die innere Haesslichkeit desselben
verbirgt! Die Folgen sind zufaellig; und die Erfahrung lehrt, dass sie
ebensooft gluecklich als ungluecklich fallen. Dieses bezieht sich auf die
Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir
sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht
mit jenem truegerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem
Laster untergelegt wird, macht, dass ich Vollkommenheiten erkenne, wo
keine sind; macht, dass ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte.
Zwar hat schon Dacier dieser Erklaerung widersprochen, aber aus
untriftigern Gruenden; und es fehlt nicht viel, dass die, welche er mit dem
Pater Le Bossu dafuer annimmt, nicht ebenso nachteilig ist, wenigstens den
poetischen Vollkommenheiten des Stuecks ebenso nachteilig werden kann. Er
meinet naemlich, "die Sitten sollen gut sein", heisse nichts mehr als, sie
sollen gut ausgedrueckt sein, qu'elles soient bien marquees. Das ist
allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle aller
Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters wuerdig ist. Aber wenn es die
franzoesischen Muster nur nicht bewiesen, dass man "gut ausdruecken" fuer
stark ausdruecken genommen haette. Man hat den Ausdruck ueberladen, man hat
Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen personifierte
Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe
von Lastern und Tugenden geworden sind.--

Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die
Anwendung auf unsern "Richard" selbst machen.

Vom "Herzog Michel", welcher auf den "Richard" folgte, brauche ich wohl
nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat
ihn nicht gesehen oder gelesen? Krueger hat indes das wenigste Verdienst
darum; denn er ist ganz aus einer Erzaehlung in den Bremischen Beitraegen
genommen. Die vielen guten satirischen Zuege, die er enthaelt, gehoeren
jenem Dichter, sowie der ganze Verfolg der Fabel. Kruegern gehoert nichts,
als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Buehne an Kruegern viel
verloren. Er hatte Talent zum Niedrig-Komischen, wie seine "Kandidaten"
beweisen. Wo er aber ruehrend und edel sein will, ist er frostig und
affektiert. Hr. Loewen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man
jedoch "Die Geistlichen auf dem Lande" vermisst. Dieses war der erste
dramatische Versuch, welchen Krueger wagte, als er noch auf dem Grauen
Kloster in Berlin studierte.

Den neunundvierzigsten Abend (donnerstags, den 23. Julius) ward das
Lustspiel des Hrn. von Voltaire "Die Frau, die recht hat" gespielt, und
zum Beschlusse des L'Affichard "Ist er von Familie?"[1] wiederholt.

"Die Frau, die recht hat" ist eines von den Stuecken, welche der Hr. von
Voltaire fuer sein Haustheater gemacht hat. Dafuer war es nun auch gut
genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht
zu Paris; soviel ich weiss. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine
schlechtern Stuecke gespielt haetten: denn dafuer haben die Marins und
Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil--ich weiss selbst nicht. Denn ich
wenigstens moechte doch noch lieber einen grossen Mann in seinem Schlafrocke
und seiner Nachtmuetze, als einen Stuemper in seinem Feierkleide sehen.

Charaktere und Interesse hat das Stueck nicht; aber verschiedne
Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem
allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Inkognito, auf
Verkennungen und Missverstaendnisse gruendet. Doch die Lacher sind nicht
ekel; am wenigsten wuerden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das
Fremde der Sitten und die elende Uebersetzung das mot pour rire nur nicht
meistens so unverstaendlich machte.

Den funfzigsten Abend (freitags, den 24. Julius) ward Gressets "Sidney"
wiederholt. Den Beschluss machte "Der sehende Blinde".

Dieses kleine Stueck ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat
Titel und Intrige und alles einem alten Stuecke des De Brosse abgeborgt.
Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in
die er verliebt ist, als er Ordre bekoemmt, sich zur Armee zu verfuegen. Er
verlaesst seine Versprochene mit den wechselseitigen Versicherungen der
aufrichtigsten Zaertlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die
Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben
macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zunutze und nimmt
einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte
Intrige wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu ueberzeugen,
ihnen schreiben laesst, dass er sein Gesicht verloren habe. Die List
gelingt; er koemmt wieder nach Paris, und mit Hilfe eines Bedienten, der
um den Betrug weiss, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die
Entwicklung laesst sich erraten; da der Offizier an der Unbestaendigkeit der
Witwe nicht laenger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu
heiraten, und der Tochter gibt er die naemliche Erlaubnis, sich mit ihrem
Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des
Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe
versichert, dass ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, dass sie ihn
aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem
Liebhaber, einen Wink mit den Augen oder bezeugt ihm sonst ihre
Zaertlichkeit durch Gebaerden. Das ist der Inhalt des alten Stueckes vom De
Brosse,[2] und ist auch der Inhalt von dem neuen Stuecke des Le Grand. Nur
dass in diesem die Intrige mit der Tochter weggeblieben ist, um jene fuenf
Akte desto leichter in einen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel
geworden, und was sonst dergleichen kleine Veraenderungen mehr sind. Es
mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefaellt sehr. Die
Uebersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten, die wir
haben; sie ist wenigstens sehr fliessend und hat viele drollige Zeilen.


----Fussnote

[1] S. den 17. Abend.

[2] Hist. du Th. Fr., Tome VII. p. 226.

----Fussnote




Vierundachtzigstes Stueck
Den 19. Februar 1768

Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der
Hausvater" des Hrn. Diderot aufgefuehrt.

Da dieses vortreffliche Stueck, welches den Franzosen nur so so gefaellt,
--wenigstens hat es mit Mueh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem
Pariser Theater erscheinen duerfen--sich, allem Ansehen nach, lange, sehr
lange, und warum nicht immer? auf unsern Buehnen erhalten wird; da es auch
hier nicht oft genug wird koennen gespielt werden: so hoffe ich, Raum und
Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl ueber das
Stueck selbst, als ueber das ganze dramatische System des Verfassers, von
Zeit zu Zeit angemerkt habe.

Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natuerlichen Sohne", in den
beigefuegten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat
Diderot sein Missvergnuegen mit dem Theater seiner Nation geaeussert. Bereits
verschiedne Jahre vorher liess er es sich merken, dass er die hohen
Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute taeuschen
und Europa sich von ihnen taeuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche,
in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in
welchem der persiflierende Ton so herrschet, dass den meisten Lesern auch
das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Hoehnerei
zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit
seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen
wollte: ein kluger Mann sagt oefters erst mit Lachen, was er hernach im
Ernste wiederholen will.

Dieses Buch heisst "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt
durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber
doch hat er es geschrieben und muss es geschrieben haben, wenn er nicht
ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiss, dass nur ein solcher junger
Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schaemen wuerde, es
geschrieben zu haben.

Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch
kennen. Ich will mich auch wohl hueten, es ihnen weiter bekannt zu machen,
als es hier in meinen Kram dienet.--

Ein Kaiser--was weiss ich, wo und welcher?--hatte mit einem gewissen
magischen Ringe gewisse Kleinode so viel haessliches Zeug schwatzen lassen,
dass seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hoeren wollte. Sie haette
lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darueber brechen moegen; wenigstens
nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf
des Sultans Majestaet und ein paar witzige Koepfe einzuschraenken. Diese
waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied
der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und
ein grosser Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen
unterhaelt sich die Favoritin einsmals, und das Gespraech faellt auf den
elenden Ton der akademischen Reden, ueber den sich niemand mehr ereifert
als der Sultan selbst, weil es ihn verdriesst, sich nur immer auf Unkosten
seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hoeren, und er wohl
voraussieht, dass die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme
seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in
allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung ueber das Theater
an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile.

"Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim.
"Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre
schoensten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir
nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen koennten. Unser Theater ward
fuer das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafuer
gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es
verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es
ist das klare Altertum!"

"Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans
gesehen und gleichfalls den Faden des Stuecks sehr richtig gefuehret, den
Dialog sehr zierlich und das Anstaendige sehr wohl beobachtet gefunden."

"Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem
Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genaehret, und
dem groessten Teile unsrer Neuern!"

"Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker ueber die Klinge
springen lassen, sind doch bei weitem so veraechtlich nicht, als Sie
vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer,
keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was
bekuemmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnuegen macht? Es sind
wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten
Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle
nicht gelesen habe, welche es machen, dass ich die Stuecke des Aboulcazem,
des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre!
Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und
haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?"

"Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in
verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich
schoen. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das muessen wir aus den Werken
lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die
gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgaenger
gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt
man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner
Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens
alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt
worden. Sonst liesse sich behaupten, dass eine Wissenschaft ihren Ursprung,
ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken
haben koenne; welches doch wider alle Erfahrung ist."

"Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als
dass die Neuern, welche sich alle die Schaetze zunutze machen koennen, die
bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein muessen, als die Alten:
oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefaellt, dass sie auf den
Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig muessen weiter
sehen koennen, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre,
ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in
Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit
und Poesie nicht ebensowohl ueberlegen sein?"

"Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist gross, und Riccaric
kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklaeren. Er mag Ihnen sagen,
warum unsere Tragoedien schlechter sind, als der Alten ihre; aber dass sie
es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich
will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "dass Sie die Alten nicht
gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schoene Kenntnisse beworben, als
dass Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie
gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebraeuche, auf ihre Sitten, auf ihre
Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstoessig sind, weil sich
die Umstaende geaendert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff
nicht immer edel, wohlgewaehlt und interessant ist? ob sich die Handlung
nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem
Natuerlichen nicht sehr nahe koemmt? ob die Entwicklungen im geringsten
gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit
Episoden ueberladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel
Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hoeren Sie alles, was von
dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti
ans Land stiegen, da gesagt ward; naehern Sie sich der Hoehle des
ungluecklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und
sagen Sie mir, ob das Geringste vorkoemmt, was Sie in der Taeuschung stoeren
koennte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stueck, welches die naemliche
Pruefung aushalten, welches auf den naemlichen Grad der Vollkommenheit
Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben."

"Beim Brahma!" rief der Sultan und gaehnte; "Madame hat uns da eine
vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!"

"Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch
weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefasst hat. Aber ich
weiss, dass nur das Wahre gefaellt und ruehret. Ich weiss auch, dass die
Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer
Handlung bestehet, dass der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der
Handlung selbst gegenwaertig zu sein glaubt. Findet sich aber in den
Tragoedien, die Sie uns so ruehmen, nur das geringste, was diesem
aehnlich saehe?"




Fuenfundachtzigstes Stueck
Den 23. Februar 1768

"Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und
verwickelt, dass es ein Wunder sein wuerde, wenn wirklich so viel Dinge in
so kurzer Zeit geschehen waeren. Der Untergang oder die Erhaltung eines
Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das
geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Koemmt es auf eine
Verschwoerung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie
beisammen; im dritten werden alle Massregeln genommen, alle Hindernisse
gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit naechstem wird es
einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer
foermlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut gefuehrt, interessant,
warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben,
der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige
zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen
Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen
geht."

"Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stuecke sind ein wenig
ueberladen; aber das ist ein notwendiges Uebel; ohne Hilfe der Episoden
wuerden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen."

"Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muss
man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein
sollte. Kann etwas Laecherlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es
waere denn etwa dieses, dass man die Geigen ein lebhaftes Stueck, eine
muntere Sonate spielen laesst, waehrend dass die Zuhoerer um den Prinzen
bekuemmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen
Thron und sein Leben zu verlieren.

"Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien
muesste man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen
gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die
Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.

"Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, dass,
wenn die Episoden uns aus der Taeuschung herausbringen, der Dialog uns
wieder hereinsetzt. Ich wuesste nicht, wer das besser verstuende, als unsere
tragische Dichter."

"Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte,
das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend
Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu
verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn
unaufhoerlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia
sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei
unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn
Sie wollen, einige Stellen daraus uebersetzen; und Sie werden die blosse
Natur hoeren, die sich durch den Mund derselben ausdrueckt. Ich moechte gar
zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt dass ihr euern
Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in
Umstaende zu setzen, die ihnen welchen geben.'"

"Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge
unserer dramatischen Stuecke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte
Selim, "dass Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen."

"Nein, gewiss nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte
fuer eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich
durch ein Wunder. Weiss der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die
er von Szene zu Szene ganze fuenf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll:
geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstosse ab; die ganze Welt
faengt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll waere. Hernach,
hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die
Prinzen und Koenige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut
geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn
Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man
nimmt durchgaengig an, dass wir die Tragoedie zu einem hohen Grade der
Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast fuer
erwiesen, dass von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die
Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die
unvollkommenste geblieben ist."

Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische
Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir
einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe
mich darauf, eine Dichtkunst abzukuerzen, wenn ich sie zu lang finde."

"Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es kaeme
einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele
etwas gehoert haette; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle;
der ungefaehr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlaegen der
Hoeflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber
nicht ganz unbekannt waere, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein
Freund, es aeussern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der
Fuerst, der mit seinem Sohne missvergnuegt ist, weil er ihn im Verdacht hat,
dass er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich fuer faehig halte, an
beiden die grausamste Rache zu ueben. Diese Sache muss, allem Ansehen nach,
sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, dass Sie
von allem, was vorgeht, Zeuge sein koennen.' Er nimmt mein Anerbieten an,
und ich fuehre ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das
Theater sieht, welches er fuer den Palast des Sultans haelt. Glauben Sie
wohl, dass trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemuehte, die
Taeuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern koennte? Muessen Sie nicht
vielmehr gestehen, dass er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer
wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebaerden, bei dem
seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend
andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen wuerden, gleich in der ersten
Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen wuerde, dass ich ihn
entweder zum Besten haben wollte, oder dass der Fuerst mitsamt seinem Hofe
nicht wohl bei Sinnen sein muessten."

"Ich bekenne", sagte Selim, "dass mich dieser angenommene Fall verlegen
macht; aber koennte man Ihnen nicht zu bedenken geben, dass wir in das
Schauspiel gehen, mit der Ueberzeugung, der Nachahmung einer Handlung,
nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen."

"Und sollte denn diese Ueberzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die
Handlung auf die allernatuerlichste Art vorzustellen?"--

Hier koemmt das Gespraech nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts
angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den
klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den
Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem franzoesischen
Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit
Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der
geruegten Maengel zu entfernen und den Weg der Natur und Taeuschung besser
einzuschlagen bemueht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es
klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der
Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum
er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstuecken desselben fand: bloss
und allein, um seinen Stuecken Platz zu schaffen. Er musste die Methode
seiner Vorgaenger verschrien haben, weil er empfand, dass in Befolgung der
naemlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben wuerde. Er musste ein
elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein
Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots ueber seine
Stuecke her.

Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natuerlichen Sohne", manche
Bloesse gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der
"Hausvater" ist. Zu viel Einfoermigkeit in den Charakteren, das
Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog,
ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen:
alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche
Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heisst), die so
philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie
nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu
erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen,
dass die Einkleidung, welche Diderot den beigefuegten Unterredungen gab,
dass der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompoes war; dass
verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen
wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; dass
andere Anmerkungen die Gruendlichkeit nicht hatten, die sie in dem
blendenden Vortrage zu haben schienen.




Sechsundachtzigstes Stueck
Den 26. Februar 1768

z.E. Diderot behauptete,[1] dass es in der menschlichen Natur aufs
hoechste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gaebe, die grosser
Zuege faehig waeren; und dass die kleinen Verschiedenheiten unter den
menschlichen Charakteren nicht so gluecklich bearbeitet werden koennten,
als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr
die Charaktere, sondern die Staende auf die Buehne zu bringen; und wollte
die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschaefte der ernsthaften Komoedie
machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komoedie der Charakter das
Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufaelliges: nun aber muss
der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufaellige werden. Aus dem
Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgaengig die Umstaende,
in welchen er sich am besten aeussert, und verband diese Umstaende
untereinander. Kuenftig muss der Stand, muessen die Pflichten, die Vorteile,
die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese
Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit groesserm Umfange, von weit
groesserm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein
wenig uebertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin
ich nicht. Das aber kann er unmoeglich leugnen, dass der Stand, den man
spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmoeglich verkennen. Er
muss das, was er hoert, notwendig auf sich anwenden."

Was Palissot hierwider erinnert,[2] ist nicht ohne Grund. Er leugnet es,
dass die Natur so arm an urspruenglichen Charakteren sei, dass sie die
komischen Dichter bereits sollten erschoepft haben. Moliere sahe noch
genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil
von denen behandelt zu haben, die er behandeln koenne. Die Stelle, in
welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so
merkwuerdig als lehrreich, indem sie vermuten laesst, dass der Misanthrop
schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen duerfte geblieben
sein, wann er laenger gelebt haette.[3] Palissot selbst ist nicht
ungluecklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung
beizufuegen: den dummen Maezen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an
seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekuenstelte Anschlaege
immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den
Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den
Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler
ziemlich aus der Mode sei.--Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten,
die sich einem Auge, das gut in die Ferne traegt, bis ins Unendliche
erweitern. Das ist noch Ernte genug fuer die wenigen Schnitter, die sich
daran wagen duerfen!

Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so
wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet waeren: wuerden
die Staende denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man waehle einmal einen; z.
E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen
Charakter geben muessen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder
leichtsinnig, leutselig oder stuermisch sein muessen? Wird es nicht bloss
dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte
heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich
die Grundlage der Intrige und die Moral des Stuecks wiederum auf dem
Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das
Zufaellige sein?

Zwar koennte Diderot hierauf antworten: Freilich muss die Person, welche
ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen
Charakter haben; aber ich will, dass es ein solcher sein soll, der mit den
Pflichten und Verhaeltnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs
beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es
mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder
stuermisch machen will: er muss notwendig ernsthaft und leutselig sein, und
jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschaefte erfodert.

Dieses, sage ich, koennte Diderot antworten: aber zugleich haette er sich
einer andern Klippe genaehert; naemlich der Klippe der vollkommnen
Charaktere. Die Personen seiner Staende wuerden nie etwas anders tun, als
was sie nach Pflicht und Gewissen tun muessten; sie wuerden handeln, voellig
wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komoedie? Koennen
dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den
wir davon hoffen duerfen, gross genug sein, dass es sich der Muehe verlohnt,
eine neue Gattung dafuer festzusetzen und fuer diese eine eigene Dichtkunst
zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot ueberhaupt
nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stuecken steuert er ziemlich
gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich
durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den
Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei
Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Bruedern" des
Terenz sagt.[4] "Die zwei kontrastierten Vaeter darin sind mit so gleicher
Staerke gezeichnet, dass man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann,
die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Faellt
er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so duerfte er leicht mit
Erstaunen wahrnehmen, dass der, den er ganzer fuenf Aufzuege hindurch fuer
einen verstaendigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und dass
der, den er fuer einen Narren gehalten hat, wohl gar der verstaendige Mann
sein koennte. Man sollte zu Anfange des fuenften Aufzuges dieses Drama fast
sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen
worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stuecks
umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, dass man gar nicht mehr
weiss, fuer wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man fuer
den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man fuer keinen von
beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel
zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten."

Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem
naemlichen Stuecke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen,
wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege duenken wir uns alle: wir
verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet
zu werden.

Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloss verschieden,
als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder
natuerlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den
dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Fuer eine Gesellschaft
im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend
zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend
finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist
ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise haelt, das ihm
Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung?
Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in
welchen man Vaeter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder voellig
entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater
aufweisen koennte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der
naemliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich
sind. Folglich werden die Stuecke, die den wahren Vater ins Spiel bringen,
nicht allein jedes vor sich unnatuerlicher, sondern auch untereinander
einfoermiger sein, als es die sein koennen, welche Vaeter von verschiednen
Grundsaetzen einfuehren. Auch ist es gewiss, dass die Charaktere, welche in
ruhigen Gesellschaften bloss verschieden scheinen, sich von selbst
kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja
es ist natuerlich, dass sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander
entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und
Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue
wird kalt wie Eis, um jenem soviel Uebereilungen begehen zu lassen, als
ihm nur immer nuetzlich sein koennen.


----Fussnote

[1] S. die Unterredungen hinter dem "Natuerlichen Sohne", S. 321-322 d.
Uebers.

[2] "Petites Lettres sur de grands Philosophes", Lettr. II.

[3] ("Impromptu de Versailles", Sc. 3.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui
(a Moliere) fournirons toujours assez de matiere, et nous ne prenons
guere le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce
qu'il dit. Crois-tu qu'il ait epuise dans ses Comedies tous les ridicules
des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt
caracteres de gens, ou il n'a pas touche? N'a-t-il pas, par exemple, ceux
qui se font les plus grandes amities du monde, et qui, le dos tourne,
font galanterie de se dechirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs
a outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les
louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur
fade qui fait mal au coeur a ceux qui les ecoutent? N'a-t-il pas ces
laches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune,
qui vous encensent dans la prosperite, et vous accablent dans la
disgrace? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mecontents de la Cour, ces
suivants inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour
services ne peuvent compter que des importunites, et qui veulent qu'on
les recompense d'avoir obsede le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux
qui caressent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilites a
droite, a gauche, et courent a tous ceux qu'ils voyent avec les memes
embrassades, et les memes protestations d'amitie?--Va, va, Marquis,
Moliere aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il
a touche n'est que bagatelle au prix de ce qui reste.

[4] In der dr. Dichtkunst hinter dem "Hausvater", S. 258 d. Uebers.

----Fussnote




Siebenundachtzig-und achtundachtzigstes Stueck
Den 4. Maerz 1768

Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz
richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit
seiner Lanze stossen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens
verrueckt die Lanze, und er stoesst den Ring gerade vorbei.

So sagt er ueber den "Natuerlichen Sohn" unter andern: "Welch ein seltsamer
Titel! der natuerliche Sohn! Warum heisst das Stueck so? Welchen Einfluss hat
die Geburt des Dorval? Was fuer einen Vorfall veranlasst sie? Zu welcher
Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Luecke fuellt sie auch nur? Was kann
also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein paar Betrachtungen
ueber das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwaermen? Welcher
vernuenftige Mensch weiss denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches
Vorurteil ist?"

Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur
Verwickelung meiner Fabel noetig; ohne ihn wuerde es weit unwahrscheinlicher
gewesen sein, dass Dorval seine Schwester nicht kennet und seine Schwester
von keinem Bruder weiss; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen,
und ich haette den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen koennen.
--Wenn Diderot dieses antwortete, sag' ich, waere Palissot nicht ungefaehr
widerlegt?

Gleichwohl ist der Charakter des natuerlichen Sohnes einem ganz andern
Einwurfe blossgestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schaerfer
haette zusetzen koennen. Diesem naemlich: dass der Umstand der unehelichen
Geburt und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher
sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu
eigentuemlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung
seines Charakters viel zuviel Einfluss gehabt hat, als dass dieser
diejenige Allgemeinheit haben koenne, welche nach der eignen Lehre des
Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muss.--Die Gelegenheit
reizt mich zu einer Ausschweifung ueber diese Lehre: und welchem Reize von
der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen?

"Die komische Gattung", sagt Diderot,[1] "hat Arten, und die tragische
hat Individua. Ich will mich erklaeren. Der Held einer Tragoedie ist der
und der Mensch. es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein
anderer. Die vornehmste Person einer Komoedie hingegen muss eine grosse
Anzahl von Menschen vorstellen. Gaebe man ihr von ohngefaehr eine so eigene
Physiognomie, dass ihr nur ein einziges Individuum aehnlich waere, so wuerde
die Komoedie wieder in ihre Kindheit zuruecktreten.--Terenz scheinet mir
einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein
Vater, der sich ueber den gewaltsamen Entschluss graemet, zu welchem er
seinen Sohn durch uebermaessige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen
nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kuemmerlich
haelt, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft und das Feld mit
eigenen Haenden bauet. Man kann gar wohl sagen, dass es so einen Vater
nicht gibt. Die groesste Stadt wuerde kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein
Beispiel einer so seltsamen Betruebnis aufzuweisen haben."

Zuerst von der Instanz des "Heautontimorumenos". Wenn dieser Charakter
wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als
den Menander. Menander war der Schoepfer desselben, der ihn, allem Ansehen
nach, in seinem Stuecke noch weit ausfuehrlichere Rolle spielen lassen, als
er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphaere, wegen der
verdoppelten Intrige, wohl sehr einziehen muessen.[2] Aber dass er von
Menandern herruehrt, dieses allein schon haette, mich wenigstens,
abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das [Greek: o Menandre
kai bie, poteros ar' ymon poteron emimaesato]; ist zwar frostiger, als
witzig gesagt: doch wuerde man es wohl ueberhaupt von einem Dichter gesagt
haben, der Charaktere zu schildern imstande waere, wovon sich in der
groessten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel
zeiget? Zwar in hundert und mehr Stuecken koennte ihm auch wohl ein solcher
Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und
wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen Gegenstaende der
Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches
denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt
haben, dass schon Horaz, der einen so besonders zaertlichen Geschmack
hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen und im Vorbeigehen,
aber fast unmerklich, getadelt habe.

Die Stelle soll die in der zweiten Satire des ersten Buchs sein, wo Horaz
zeigen will, "dass die Narren aus einer Uebertreibung in die andere
entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius", sagt er, "fuerchtet fuer
einen Verschwender gehalten zu werden. Wisst ihr, was er tut? Er leihet
monatlich fuer fuenf Prozent und macht sich im voraus bezahlt. Je noetiger
der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiss die Namen
aller jungen Leute, die von gutem Hause sind und itzt in die Welt treten,
dabei aber ueber harte Vaeter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr,
dass dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkuenften
entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in
der Komoedie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann
sich nicht schlechter quaelen: non se pejus cruciaverit."--Dieses schlechter,
dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal
soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen
beilaeufige Hiebe, meinet er, waeren dem Charakter des Horaz vollkommen
gemaess.

Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu
lassen. Denn hier, duenkt mich, wuerde die beilaeufige Anspielung dem
Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so grosser Narr, wenn
es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz ebenso
abgeschmackt peinigte, wenn er ebensowenig Ursache haette, sich zu
peinigen, als Fufidius, so teilt er das Laecherliche mit ihm, und Fufidius
ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius, ohne
alle Ursache, ebenso hart und grausam gegen sich selbst ist, als der
Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut,
was dieser aus Reu und Betruebnis tat: nur alsdenn wird uns jener
unendlich laecherlicher und veraechtlicher, als mitleidswuerdig wir
diesen finden.

Und allerdings ist jede grosse Betruebnis von der Art, wie die Betruebnis
dieses Vaters: die sich nicht selbst vergisst, die peiniget sich selbst.
Es ist wider alle Erfahrung, dass kaum alle hundert Jahre sich ein
Beispiel einer solchen Betruebnis finde: vielmehr handelt jede ungefaehr
ebenso; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veraenderung. Cicero
hatte auf die Natur der Betruebnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem
Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betruebte, nicht
bloss von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kaelterm Gebluete
fortsetzen zu muessen glauben.[3] Haec omnia recta, vera, debita putantes,
faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri,
quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt
humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad
moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros
vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed
etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est,
aut dictum: plorare cogunt.--Quid ille Terentianus ipse se puniens? usw.

Menedemus aber, so heisst der Selbstpeiniger bei dem Terenz, haelt sich
nicht allein so hart aus Betruebnis; sondern, warum er sich auch jeden
geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich
dieses: um desto mehr fuer den abwesenden Sohn zu sparen und dem einmal
ein desto gemaechlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein
so ungemaechliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Vaeter
tun wuerden? Meint aber Diderot, dass das Eigene und Seltsame darin
bestehe, dass Menedemus selbst hackt, selbst graebt, selbst ackert: so hat
er wohl in der Eil' mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten
gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit wuerde das freilich nicht so
leicht tun: denn die wenigsten wuerden es zu tun verstehen. Aber die
wohlhabensten, vornehmsten Roemer und Griechen waren mit allen laendlichen
Arbeiten bekannter und schaemten sich nicht, selbst Hand anzulegen.

Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des
Selbstpeinigers sei wegen des Allzueigentuemlichen, wegen dieser ihm fast
nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so
ungeschickt, als er nur will. Waere Diderot nicht in eben den Fehler
gefallen? Denn was kann eigentuemlicher sein, als der Charakter seines
Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein
zukoemmt, als der Charakter dieses natuerlichen Sohnes? "Gleich nach meiner
Geburt", laesst er ihn von sich selbst sagen, "ward ich an einen Ort
verschleudert, der die Grenze zwischen Einoede und Gesellschaft heissen
kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die
mich mit den Menschen verknuepften, konnte ich kaum einige Truemmern davon
erblicken. Dreissig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und
verabsaeumet umher, ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden,
noch irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht
haette." Dass ein natuerliches Kind sich vergebens nach seinen Eltern,
vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die naehern Bande des
Bluts verknuepfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen
begegnen. Aber dass es ganze dreissig Jahre in der Welt herumirren koenne,
ohne die Zaertlichkeit irgendeines Menschen empfunden zu haben, ohne
irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht haette:
das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmoeglich. Oder wenn es
moeglich waere, welche Menge ganz besonderer Umstaende muessten von beiden
Seiten, von seiten der Welt und von seiten dieses so lange insulierten
Wesens zusammengekommen sein, diese traurige Moeglichkeit wirklich zu
machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfliessen, ehe sie wieder
einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, dass ich mir je das
menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wuenschte ich sonst, ein
Baer geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter
Menschen so lange verlassen sein! Man schleudere ihn hin, wohin man will:
wenn er noch unter Menschen faellt, so faellt er unter Wesen, die, ehe er
sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn
anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht
glueckliche, so sind es unglueckliche Menschen! Menschen sind es doch
immer. So wie ein Tropfen nur die Flaeche des Wassers beruehren darf, um
von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfliessen: das Wasser
heisse, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean.

Gleichwohl soll diese dreissigjaehrige Einsamkeit unter den Menschen den
Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun
aehnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in
ihm erkennen?

Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er
sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: "In der ernsthaften Gattung
werden die Charaktere oft ebenso allgemein sein, als in der komischen
Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der
tragischen." Er wuerde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein
komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte
Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komoedie und Tragoedie
fuellen soll, so muessen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen
den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so
allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so voellig individuell
sind, als diese; und solcher Art duerfte doch wohl der Charakter des
Dorval sein.

Also waeren wir gluecklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen.
Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, dass die Tragoedie Individua, die
Komoedie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, dass die Personen der
Komoedie eine grosse Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen
muessten; dahingegen der Held der Tragoedie nur der und der Mensch, nur
Regulus oder Brutus oder Cato sei und sein solle. Ist es wahr, so hat
auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er
die ernsthafte Komoedie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter
seines Dorval waere so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so faellt
auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natuerlichen Sohnes kann
aus einer so ungegruendeten Einteilung keine Rechtfertigung zufliessen.


----Fussnote

[1] Unterred., S. 292 d. Uebers.

[2] Falls naemlich die 6. Zeile des Prologs

Duplex quae ex argumento facta est simplici,

von dem Dichter wirklich so geschrieben und nicht anders zu verstehen
ist, als die Dacier und nach ihr der neue englische Uebersetzer des
Terenz, Colman, sie erklaeren. Terence only meant to say, that he had
doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one
mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very
properly: novam esse ostendi,--which certainly could not have been
implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon
Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius,
hatte das duplex nicht anders verstanden; propter senes et juvenes sagt
diese; und jener schreibt: nam in hac latina senes duo, adolescentes item
duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil
ich gar nicht einsehe, was von dem Stuecke uebrigbleibt, wenn man die
Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte
verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie
Menander diesen Stoff ohne den Chremes und ohne den Clitipho habe
behandeln koennen; beide sind so genau hineingeflochten, dass ich mir weder
Verwicklung noch Aufloesung ohne sie denken kann. Einer andern Erklaerung,
durch welche sich Julius Scaliger laecherlich gemacht hat, will ich gar
nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom
Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit
haben die Kritici bald das duplex, bald das simplici in der Zeile zu
veraendern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermassen berechtigten.
Einige haben gelesen:

Duplex quae ex Argumente facta est duplici.

Andere:

Simplex quae ex argumento facta est duplici.

Was bleibt noch uebrig, als dass nun auch einer lieset:

Simplex quae ex argumento facta est simplici?

Und in allem Ernste: so moechte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle
im Zusammenhange, und ueberlege meine Gruende:

    Ex integra Graeca integram comoediam
    Hodie sum acturus Heautontimorumenon:
    Simplex quae ex argumento facta est simplici.

[3] Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern
am Theater vorgeworfen ward:

    Multas contaminasse graecas, dum facit
    Paucas latinas--

[4] Er schmelzte naemlich oefters zwei Stuecke in eines und machte aus zwei
griechischen Komoedien eine einzige lateinische. So setzte er seine
"Andria" aus der "Andria" und "Perinthia" des Menanders zusammen; seinen
"Eunuchus" aus dem "Eunuchus" und dem "Colax" eben dieses Dichters; seine
"Brueder" aus den "Bruedern" des naemlichen und einem Stuecke des Diphilus.
Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des
"Heautontimorumenos". Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit
nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm
getan haetten.

    --Id esse factum hic non negat
    Neque se pigere, et deinde factum iri autumat.
    Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi
    Licere id facere, quod illi fecerunt putat.

[5] Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, dass ich es noch oefterer
tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stuecke, und nicht auf das
gegenwaertige, den "Heautontimorumenos". Denn dieser war nicht aus zwei
griechischen Stuecken, sondern nur aus einem einzigen gleichen Namens
genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile
sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

So einfach, will Terenz sagen, als das Stueck des Menanders ist, ebenso
einfach ist auch mein Stueck; ich habe durchaus nichts aus andern Stuecken
eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stuecke
genommen, und das griechische Stueck ist ganz in meinem lateinischen;
ich gebe also

Ex integra Graeca integram Comoediam.

Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben
fand, dass es soviel sein sollte als a nullo tacta, ist hier offenbar
falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das
zweite integram schicken wuerde.--Und so glaube ich, dass sich meine
Vermutung und Auslegung wohl hoeren laesst! Nur wird man sich an die gleich
folgende Zeile stossen:

Novam esse ostendi, et quae esset--

Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, dass er das ganze Stueck aus einem
einzigen Stuecke des Menanders genommen habe, wie kann er eben durch
dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, dass sein Stueck neu sei,
novam esse? Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar
durch eine Erklaerung ebendieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten
getraue, dass sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur
mir zugehoert, und kein Ausleger, soviel ich weiss, sie nur von weitem
vermutet hat. Ich sage naemlich: die Worte,

Novam esse ostendi, et quae esset--

beziehen sich keinesweges auf das, was Terenz den Vorredner in dem
vorigen sagen lassen; sondern man muss darunter verstehen, apud Aediles;
novus aber heisst hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen,
sondern bloss, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Dass mein
Stueck, will er sagen, ein neues Stueck sei, das ist, ein solches Stueck,
welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem
Griechischen uebersetzt, das habe ich den Aedilen, die mir es abgekauft,
bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an
den Streit erinnern, welchen er wegen seines "Eunuchus" vor den Aedilen
hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen
uebersetztes Stueck verkauft; aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den
Aedilen ueberreden, dass er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei
alten Stuecken des Naevius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der
"Eunuchus" mit diesen Stuecken vieles gemein; aber doch war die
Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der
griechischen Quelle geschoepft, aus welcher, ihm unwissend, schon Naevius
und Plautus vor ihm geschoepft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen
bei seinem "Heautontimorumenos" vorzubauen, was war natuerlicher, als dass
er den Aedilen das griechische Original vorgezeigt und sie wegen des
Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Aedilen konnten das leicht selbst von
ihm gefodert haben. Und darauf geht das

Novam esse ostendi, et quae esset.

[6] Tusc. Quaest., lib. III. c. 27.

----Fussnote




Neunundachtzigstes Stueck
Den 8. Maerz 1768

Zuerst muss ich anmerken, dass Diderot seine Assertion ohne allen Beweis
gelassen hat. Er muss sie fuer eine Wahrheit angesehen haben, die kein
Mensch in Zweifel ziehen werde, noch koenne; die man nur denken duerfe, um
ihren Grund zugleich mitzudenken. Und sollte er den wohl gar in den
wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles
und Alexander und Cato und Augustus heissen und Achilles, Alexander, Cato,
Augustus wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus
geschlossen haben, dass sonach alles, was der Dichter in der Tragoedie sie
sprechen und handeln laesst, auch nur diesen einzeln so genannten Personen,
und keinem in der Welt zugleich mit, muesse zukommen koennen? Fast scheint
es so. Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zweitausend Jahren
widerlegt und auf die ihr entgegenstehende Wahrheit den wesentlichen
Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, sowie den groessern Nutzen
der letztern vor der ersten gegruendet. Auch hat er es auf eine so
einleuchtende Art getan, dass ich nur seine Worte anfuehren darf, um keine
geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein
Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein koenne.

"Aus diesen also", sagt Aristoteles,[1] nachdem er die wesentlichen
Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet
klar, dass des Dichters Werk nicht ist, zu erzaehlen, was geschehen,
sondern zu erzaehlen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene und was
nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei moeglich gewesen.
Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die
gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Buecher des Herodotus in
gebundene Rede bringen kann und sie darum doch nichts weniger in
gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener
waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, dass jener erzaehlet, was
geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene
gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nuetzlicher
als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die
Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein
Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln
wuerde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das
Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan oder gelitten hat. Bei der
Komoedie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die
Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefasst ist, legt man die etwanigen
Namen sonach bei und macht es nicht wie die jambischen Dichter, die bei
dem Einzeln bleiben. Bei der Tragoedie aber haelt man sich an die schon
vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Moegliche glaubwuerdig ist und wir
nicht moeglich glauben, was nie geschehen, dahingegen was geschehen
offenbar moeglich sein muss, weil es nicht geschehen waere, wenn es nicht
moeglich waere. Und doch sind auch in den Tragoedien, in einigen nur ein
oder zwei bekannte Namen, und die uebrigen sind erdichtet; in einigen auch
gar keiner, so wie in der >Blume< des Agathon. Denn in diesem Stuecke sind
Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefaellt es darum
nichts weniger."

In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Uebersetzung anfuehre, mit
welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als moeglich, sind
verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen
koennen, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier
zur Sache gehoert, muss ich mitnehmen.

Das ist unwidersprechlich, dass Aristoteles schlechterdings keinen
Unterschied zwischen den Personen der Tragoedie und Komoedie, in Ansehung
ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst
die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der
poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln,
nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen koennte, sondern so wie ein
jeder von ihrer Beschaffenheit in den naemlichen Umstaenden sprechen oder
handeln wuerde und muesste. In diesem [Greek: katholou], in dieser
Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer
und folglich lehrreicher ist als die Geschichte; und wenn es wahr ist,
dass derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene
Physiognomien geben wollte, dass ihnen nur ein einziges Individuum in der
Welt aehnlich waere, die Komoedie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre
Kindheit zuruecksetzen und in Satire verkehren wuerde: so ist es auch
ebenso wahr, dass derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den
Menschen, nur den Caesar, nur den Cato, nach allen den Eigentuemlichkeiten,
die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie
alle diese Eigentuemlichkeiten mit dem Charakter des Caesar und Cato
zusammengehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, dass, sage ich,
dieser die Tragoedie entkraeften und zur Geschichte erniedrigen wuerde.

Aber Aristoteles sagt auch, dass die Poesie auf dieses Allgemeine der
Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele ([Greek: ou
stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]); welches sich besonders
bei der Komoedie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die
Ausleger dem Aristoteles nachzusagen sich begnuegt, im geringsten aber
nicht erlaeutert haben. Wohl aber haben verschiedene sich so darueber
ausgedrueckt, dass man klar sieht, sie muessen entweder nichts, oder etwas
ganz Falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie,
wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser
Personen? und wie ist diese ihre Ruecksicht auf das Allgemeine der Person,
besonders bei der Komoedie, schon laengst sichtbar gewesen?

Die Worte: [Greek: esti de katholou men, to poio ta poi atta symbainei
legein, ae prattein kata to eikos, ae io anankaion, ou stochazetai ae
poiaesis onomata epitithemenae], uebersetzt Dacier: Une chose generale,
c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractere a du dire, ou
faire vraisemblablement ou necessairement, ce qui est le but de la poesie
lors meme, qu'elle impose les noms a ses personnages. Vollkommen so
uebersetzt sie auch Herr Curtius: "Das Allgemeine ist, was einer, vermoege
eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
redet oder tut. Dieses Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch
wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.--Auch in ihrer Anmerkung
ueber diese Worte stehen beide fuer einen Mann; der eine sagt vollkommen
eben das, was der andere sagt. Sie erklaeren beide, was das Allgemeine
ist; sie sagen beide, dass dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei:
aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht,
davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors
meme, sowie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, dass sie nichts
davon zu sagen gewusst, ja, dass sie gar nicht einmal verstanden, was
Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors meme, dieses auch wenn, heisst
bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach
bloss sagen, dass ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln
Personen beilege, sie demohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser
Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des
Dacier, die ich in der Note anfuehren will,[2] zeigen dieses deutlich. Nun
ist es wahr, dass dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es
erschoepft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, dass
die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das
Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, dass sie mit diesen Namen selbst
auf das Allgemeine ziele, [Greek: ou stochazetai]. Ich sollte doch wohl
meinen, dass beides nicht einerlei waere. Ist es aber nicht einerlei: so
geraet man notwendig auf die Frage: wie zielt sie darauf? Und auf diese
Frage antworten die Ausleger nichts.


----Fussnote

[1] Dichtk., 9. Kapitel.

[2] Aristote previent ici une objection, qu'on pouvait lui faire, sur la
definition qu'il vient de donner d'une chose generale: car les ignorants
n'auraient pas manque de lui dire qu'Homere, par exemple, n'a point en
vue d'ecrire une action generale et universelle, mais une action
particuliere, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes comme
Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par consequent, il n'y a aucune
difference entre Homere et un Historien, qui aurait ecrit les actions
d'Achille. Le Philosophe va au-devant de cette objection, en faisant voir
que les Poetes, c'est-a-dire, les Auteurs d'une Tragedie ou d'un Poeme
Epique lors meme qu'ils imposent les noms a leurs personnages ne pensent
en aucune maniere a les faire parler veritablement, ce qu'ils seraient
obliges de faire, s'ils ecrivaient les actions particulieres et
veritables d'un certain homme, nomme Achille ou Edipe, mais qu'ils se
proposent de les faire parler et agir necessairement ou vraisemblablement;
c'est-a-dire, de leur faire dire et faire tout ce que des hommes de ce meme
caractere doivent faire et dire en cet etat, ou par necessite, ou au moins
selon les regles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que
ce sont des actions generales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr
Curtius in seiner Anmerkung; nur dass er das Allgemeine und Einzelne noch an
Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, dass er auf den
Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zufolge wuerden es nur personifierte
Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln liesse, da es doch
charakterisierte Personen sein sollen.

----Fussnote




Neunzigstes Stueck
Den 11. Maerz 1768

Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe ich schon laengst an
der Komoedie deutlich gezeigt: [Greek: Hepi men oun taes komodias aedae
touto daelon gegonen sustaesantes gar ton mython dia ton eikoton, outo ta
tychonta onomata epititheasi, chai ouch osper oi iambopoioi peri ton
kath' ekaston poiousin]. Ich muss auch hiervon die Uebersetzungen des
Dacier und Curtius anfuehren. Dacier sagt: C'est ce qui est deja rendu
sensible dans la comedie, car les poetes comiques, apres avoir dresse
leur sujet sur la vraisemblance, imposent apres cela a leurs personnages
tels noms qu'il leur plait, et n'imitent pas les poetes satyriques, qui
ne s'attachent qu'aux choses particulieres. Und Curtius: "In dem
Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die
Komoedienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit
entworfen haben, legen sie den Personen willkuerliche Namen bei und setzen
sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum
Ziele." Was findet man in diesen Uebersetzungen von dem, was Aristoteles
hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als
dass die komischen Dichter es nicht machten wie die jambischen, (das ist,
satirischen Dichter) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das
Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkuerliche Namen, tels
noms qu'il leur plait, beilegten. Gesetzt nun auch, dass [Greek: ta
tychonta onomata] dergleichen Namen bedeuten koennten: wo haben denn beide
Uebersetzer das "[Greek: outo]" gelassen? Schien ihnen denn dieses
"[Greek: outo]" gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn
diesem "[Greek: outo]" zufolge legten die komischen Dichter ihren
Personen nicht allein willkuerliche Namen bei, sondern sie legten ihnen
diese willkuerliche Namen "so", [Greek: outo], bei. Und wie "so"? So, dass
sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: [Greek: ou
stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]. Und wie geschah das?
Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius!

Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die
Komoedie gab ihren Personen Namen, welche, vermoege ihrer grammatischen
Ableitung und Zusammensetzung oder auch sonstigen Bedeutung die
Beschaffenheit dieser Personen ausdrueckten: mit einem Worte, sie gab
ihnen redende Namen; Namen, die man nur hoeren durfte, um sogleich zu
wissen, von welcher Art die sein wuerden, die sie fuehren. Ich will eine
Stelle des Donatus hierueber anziehen. Nomina personarum, sagt er bei
Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der "Brueder", in
comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim
absurdum est, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen personae
incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum.[1] Hinc servus
fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraso vel Polemon:
juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo
et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum poetae
vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque
protulerit, nisi per [Greek: antiorasin] nomen imposuerit joculariter, ut
Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr
Beispiele hiervon ueberzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus
und Terenz untersuchen. Da ihre Stuecke alle aus dem Griechischen genommen
sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs und
haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die
Denkungsart oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein
haben koennen; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und
sicher angeben koennen.

Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern
muss ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles sich ihrer gleichwohl da
nicht erinnern koennen, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie
verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klaerer sein, als was
der Philosoph von der Ruecksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der
Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als dass
[Greek: epi men taes komodias aedae touto daelon gegonen], dass sich
diese Ruecksicht bei der Komoedie besonders laengst offenbar gezeigt habe?
Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die jambischen Dichter
von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der
beleidigenden Satire die unterrichtende Komoedie entstand: suchte man
jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der grosssprecherische
feige Soldat hiess nicht wie dieser oder jener Anfuehrer aus diesem oder
jenem Stamme: er hiess Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende
Schmarutzer, der diesem um das Maul ging, hiess nicht, wie ein gewisser
armer Schlucker in der Stadt: er hiess Artotrogus, Brockenschroeter. Der
Juengling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater
in Schulden setzte, hiess nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln
Buergers: er hiess Phidippides, Junker Sparross.

Man koennte einwenden, dass dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine
Erfindung der neuern griechischen Komoedie sein duerften, deren Dichtern
es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; dass aber
Aristoteles diese neuere Komoedie nicht gekannt habe und folglich bei
seinen Regeln keine Ruecksicht auf sie nehmen koennen. Das letztere
behauptet Hurd;[2] aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, dass die
aeltere griechische Komoedie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in
denjenigen Stuecken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine
gewisse bekannte Person laecherlich und verhasst zu machen, waren, ausser
dem wahren Namen dieser Person, die uebrigen fast alle erdichtet, und mit
Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet.


----Fussnote

[1] Diese Periode koennte leicht sehr falsch verstanden werden. Naemlich
wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das fuer etwas
Ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist
doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es wuerde
ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar
erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen oder Beschaeftigungen
beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff
ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein
bei ihm, was er seinen Personen fuer Namen beilegen, oder was er mit diesen
Namen fuer einen Stand oder fuer eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach
duerfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrueckt
haben; und mit Veraenderung einer einzigen Silbe ist dieser Anstoss vermieden.
Man lese naemlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum
confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere
et nomen personae u.s.w.

[2] Hurd in seiner Abhandlung ueber die verschiedenen Gebiete des Drama:
From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of
this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who
defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking
ridicule. His notion was taken from the state and practice of the
Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to
this description. The great revolution, which the introduction of the new
comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses
nimmt Hurd bloss an, damit seine Erklaerung der Komoedie mit der
Aristotelischen nicht so geradezu zu streiten scheine. Aristoteles hat
die Neue Komoedie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in
der Moral an den Nikomachus, wo er von dem anstaendigen und unanstaendigen
Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14.) [Greek: Idoi d' an tis kai ek ton
komodion ton palaion kai ton kainon. Tois men gar aen geloion ae
aischrologia, tois de mallon ae hyponoia]. Man koennte zwar sagen, dass
unter der Neuen Komoedie hier die Mittlere verstanden werde; denn als noch
keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heissen muessen.
Man koennte hinzusetzen, dass Aristoteles in eben der Olympiade gestorben,
in welcher Menander sein erstes Stueck auffuehren lassen, und zwar noch das
Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat
unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komoedie von dem Menander rechnet;
Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach,
aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazugehoert schrieb viel frueher,
und der Uebergang von der Mittleren zur Neuen Komoedie war so unmerklich,
dass es dem Aristoteles unmoeglich an Mustern derselben kann gefehlt haben.
Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; sein
"Kokalos" war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen
Veraenderungen zueignen konnte: Kokalon heisst es in dem "Leben des
Aristophanes", [Greek: en ho eisagei phthoran kai anagnorismon, kai
talla panta a ezaelose Menandros]. Wie nun also Aristophanes Muster von
allen verschiedenen Abaenderungen der Komoedie gegeben, so konnte auch
Aristoteles seine Erklaerung der Komoedie ueberhaupt auf sie alle
einrichten. Das tat er denn; und die Komoedie hat nachher keine
Erweiterung bekommen, fuer welche diese Erklaerung zu enge geworden waere.
Hurd haette sie nur recht verstehen duerfen, und er wuerde gar nicht noetig
gehabt haben, um seine an und fuer sich richtigen Begriffe von der Komoedie
ausser allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu
der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen.

----Fussnote




Einundneunzigstes Stueck
Den 15. Maerz 1768

Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf
das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte
Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich
mit Erziehung junger Leute bemengten, laecherlich und verdaechtig machen.
Der gefaehrliche Sophist ueberhaupt war sein Gegenstand, und er nannte
diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher
eine Menge Zuege, die auf den Sokrates gar nicht passten; so dass Sokrates
in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben
konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komoedie, wenn man diese
nicht treffende Zuege fuer nichts als mutwillige Verleumdungen erklaert und
sie durchaus dafuer nicht erkennen will, was sie doch sind, fuer
Erweiterungen des einzeln Charakters, fuer Erhebungen des Persoenlichen zum
Allgemeinen!

Hier liesse sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen
Komoedie ueberhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch
nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es liesse sich
anmerken, dass dieser Gebrauch keinesweges in der aeltern griechischen
Komoedie allgemein gewesen,[1] dass sich nur der und jener Dichter
gelegentlich desselben erkuehnet,[2] dass er folglich nicht als ein
unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komoedie zu betrachten. [3]
Es liesse sich zeigen, dass, als er endlich durch ausdrueckliche Gesetze
untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser
Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch
stillschweigend fuer ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stuecken des
Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt
und laecherlich gemacht.[4] Doch ich muss mich nicht aus einer
Ausschweifung in die andere verlieren.

Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragoedie machen.
So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens
vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal
einer eiteln und gefaehrlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates
bekam, weil Sokrates als ein solcher Taeuscher und Verfuehrer zum Teil
bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloss der
Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband
und noch naeher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens
bestimmte: so ist auch bloss der Begriff des Charakters, den wir mit den
Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum
der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er fuehrt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen
Begegnissen dieser Maenner bekanntzumachen, nicht um das Gedaechtnis
derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu
unterhalten, die Maennern von ihrem Charakter ueberhaupt begegnen koennen
und muessen. Nun ist zwar wahr, dass wir diesen ihren Charakter aus ihren
wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht,
dass uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurueckfuehren muesse;
er kann uns nicht selten weit kuerzer, weit natuerlicher auf ganz andere
bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als dass
sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und
ueber Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen
schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen
lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon
gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in
seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch
wirkliche Begebenheiten anzuhaengen scheinen und alles, was einmal
geschehen, glaubwuerdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser
Ursachen fliesst aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe
ueberhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht noetig, sich
umstaendlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer
von anderwaerts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt ausser
meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger
missverstanden als jene.

Nun also auf die Behauptung des Diderot zurueckzukommen. Wenn ich die
Lehre des Aristoteles richtig erklaert zu haben glauben darf: so darf ich
auch glauben, durch meine Erklaerung bewiesen zu haben, dass die Sache
selbst unmoeglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die
Charaktere der Tragoedie muessen ebenso allgemein sein, als die Charaktere
der Komoedie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder
Diderot muss unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders
verstehen, als Aristoteles darunter verstand.


----Fussnote

[1] Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komoedie von dem Margites
des Homer, [Greek: ou psogon alla to geloion dramatopoiaesantos], genommen
worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die
erdichteten Namen mit eingefuehrt haben. Denn Margites war wohl nicht der
wahre Name einer gewissen Person, indem [Greek: Margeitaes] wohl eher von
[Greek: margaes] gemacht worden, als dass [Greek: margaes] von [Greek:
Margeitaes] sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten
Komoedie finden wir es auch ausdruecklich angemerkt, dass sie sich aller
Anzueglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht moeglich gewesen
waere. z.E. von dem Pherekrates.

[2] Die persoenliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche
Eigenschaft der alten Komoedie, dass man vielmehr denjenigen ihrer Dichter
gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkuehnet. Es war Cratinus, welcher
zuerst [Greek: to charienti taes komodias to ophelimon prosethaeke,
tous kakos prattontas diaballon, kai osper daemosia mastigi tae
komodia kolazon]. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine,
verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befuerchten hatte.
Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, dass er es sei,
welcher sich zuerst an die Grossen des Staats gewagt habe (Ir. v. 750.):
[Greek: Ouch idiotas anthropischous komodon, oude gynaikas, All'
Haerakleous orgaen tin' echon toisi megistois epicheirei].

[3] Ja er haette lieber gar diese Kuehnheit als sein eigenes Privilegium
betrachten moegen. Er war hoechst eifersuechtig, als er sahe, dass ihm so
viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten.

[4] Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und
will behaupten, dass mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten
verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil
gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et
Phormis inventerent les sujets de leurs pieces, puisque l'un et l'autre
ont ete des Poetes de la vieille Comedie, ou il n'y avait rien de feint,
et que ces aventures feintes ne commencerent a etre mises sur le theatre,
que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-a-dire dans la nouvelle Comedie.
(Remarque sur le Chap. V. de la Poet. d'Arist.) Man sollte glauben, wer
so etwas sagen koenne, muesste nie auch nur einen Blick in den Aristophanes
getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komoedie, war
ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer
sein konnten. Kein einziges von den uebriggebliebenen Stuecken des
Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen waere;
und wie kann man sagen, dass sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil
sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als
ausgemacht annimmt, [Greek: oti ton poiaetaen mallon ton mython einai dei
poiaetaen ae ton metron]: wuerde er nicht schlechterdings die Verfasser
der alten griechischen Komoedie aus der Klasse der Dichter haben
ausschliessen muessen, wenn er geglaubt haette, dass sie die Argumente ihrer
Stuecke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragoedie gar wohl
mit der poetischen Erfindung bestehen kann, dass Namen und Umstaende aus
der wahren Geschichte entlehnt sind: so muss es, seiner Meinung nach, auch
in der Komoedie bestehen koennen. Es kann unmoeglich seinen Begriffen gemaess
gewesen sein, dass die Komoedie dadurch, dass sie wahre Namen brauche und
auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmaehsucht
zurueckfalle; vielmehr muss er geglaubt haben, dass sich das [Greek: katholou
poiein logous ae mythous] gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den
aeltesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und
wird es gewiss dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wusste,
wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles
und Sokrates namentlich mitgenommen.

[5] Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komoedie
laecherlich zu machen, in seiner "Republik" einfuehren wollte ([Greek:
maete logo, maete eichoni, maete thymo, maete aneu thymou, maedamno
maedena ton politon komodein]) ist in der wirklichen Republik niemals
darueber gehalten worden. Ich will nicht anfuehren, dass in den Stuecken des
Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit
Namen genennt ward; man koennte antworten, dass dieser Abschaum von
Menschen nicht zu den Buergern gehoert. Aber Ktesippus, der Sohn des
Chabrias, war doch gewiss atheniensischer Buerger so gut wie einer, und man
sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.)

----Fussnote




Zweiundneunzigstes Stueck
Den 18. Maerz 1768

Und warum koennte das letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen
andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast ebenso
ausdrueckt als Diderot, fast ebenso geradezu dem Aristoteles zu
widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht,
dass ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern fuer denjenigen erkennen
muss, der noch das meiste Licht ueber diese Materie verbreitet hat.

Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd;
ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Uebersetzungen bei uns
immer am spaetesten bekannt werden. Ich moechte ihn aber hier nicht gern
anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der
Deutsche, der ihr gewachsen waere, sich noch nicht gefunden hat: so
duerften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen
daran gelegen waere. Der fleissige Mann, voll guten Willens, uebereile sich
also lieber damit nicht und sehe, was ich von einem noch unuebersetzten
guten Buche hier sage, ja fuer keinen Wink an, den ich seiner allezeit
fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung "Ueber die verschiednen Gebiete
des Drama" beigefuegt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, dass bisher nur
die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwaegung gezogen worden,
ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen.
Gleichwohl muesse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste
einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu faellen. Nachdem
er also die Absicht des Drama ueberhaupt, und der drei Gattungen
desselben, die er vor sich findet, der Tragoedie, der Komoedie und des
Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener
allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen
Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in
welchen sie voneinander unterschieden sein muessen.

Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komoedie und Tragoedie, auch
diese, dass der Tragoedie eine wahre, der Komoedie hingegen eine erdichtete
Begebenheit zutraeglicher sei. Hierauf faehrt er fort: The same genius in
the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy
makes all its characters general; tragedy, particular. The Avare of
Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of
covetousness itself. Racine's Nero on the other hand, is not a picture of
cruelty, but of a cruel man. d.I.: "In dem naemlichen Geiste schildern
die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komoedie macht alle
ihre Charaktere general; die Tragoedie partikulaer. Der Geizige des Moliere
ist nicht so eigentlich das Gemaelde eines geizigen Mannes, als des Geizes
selbst. Racines Nero hingegen ist nicht das Gemaelde der Grausamkeit,
sondern nur eines grausamen Mannes."

Hurd scheinet so zu schliessen: wenn die Tragoedie eine wahre Begebenheit
erfodert, so muessen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen
sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die
Komoedie sich mit erdichteten Begebenheiten begnuegen kann, wenn ihr
wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allem
ihrem Umfange zeigen koennen, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so
weiten Spielraum nicht erlauben, so duerfen und muessen auch ihre
Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren;
angesehen dem Allgemeinen selbst in unserer Einbildungskraft eine Art von
Existenz zukoemmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben
wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhaelt.

Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schliessen nicht ein
blosser Zirkel ist: ich will die Schlussfolge bloss annehmen, so wie sie da
liegt und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu
widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloss, welches aus
der weitern Erklaerung des Hurd erhellet.

"Es wird aber", faehrt er fort, "hier dienlich sein, einer doppelten
Verstossung vorzubauen, welche der eben angefuehrte Grundsatz zu
beguenstigen scheinen koennte.

Die erste betrifft die Tragoedie, von der ich gesagt habe, dass sie
partikulaere Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind
partikulaerer, als die Charaktere der Komoedie. Das ist: die Absicht der
Tragoedie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, dass der Dichter von den
charakteristischen Umstaenden, durch welche sich die Sitten schildern, so
viele zusammenzieht, als die Komoedie. Denn in jener wird von dem
Charakter nicht mehr gezeigt, als soviel der Verlauf der Handlung
unumgaenglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Zuege, durch die er
sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiss aufgesucht und angebracht.

Es ist fast wie mit dem Portraetmalen. Wenn ein grosser Meister ein
einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die
er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der naemlichen Art nur so
weit aehnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentuemlichen
Zuges geschehen kann. Soll ebenderselbe Kuenstler hingegen einen Kopf
ueberhaupt malen, so wird er alle die gewoehnlichen Mienen und Zuege
zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesamten Gattung bemerkt
hat, dass sie die Idee am kraeftigsten ausdruecken, die er sich itzt in
Gedanken gemacht hat und in seinem Gemaelde darstellen will.

Ebenso unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des
Drama: woraus denn erhellet, dass, wenn ich den tragischen Charakter
partikular nenne, ich bloss sagen will, dass er die Art, zu welcher er
gehoeret, weniger vorstellig macht als der komische; nicht aber, dass das,
was man von dem Charakter zu zeigen fuer gut befindet, es mag nun so wenig
sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als
wovon ich das Gegenteil anderwaerts behauptet und umstaendlich
erlaeutert habe.[1]

Was zweitens die Komoedie anbelangt, so habe ich gesagt, dass sie generale
Charaktere geben muesse, und habe zum Beispiele den Geizigen des Moliere
angefuehrt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen
Mannes entspricht. Doch auch hier muss man meine Worte nicht in aller
ihrer Strenge nehmen. Moliere duenkt mich in diesem Beispiele selbst
fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklaerung, nicht
ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen.

Da die komische Buehne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine
ich, kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese
Charaktere so allgemein macht, als moeglich. Denn indem auf diese Weise
die in dem Stuecke aufgefuehrte Person gleichsam der Repraesentant aller
Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der
Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur moeglich. Es muss aber
sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den
moeglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken,
sondern nur bis auf die wirkliche Aeusserung seiner Kraefte, so wie sie von
der Erfahrung gerechtfertiget werden und im gemeinen Leben stattfinden
koennen. Hierin haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der
Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige
Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine
grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich
nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer
einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter
und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben
erteilen koennte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung
verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder
herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen;
und diese Vermischung muss sich in jedem dramatischen Gemaelde von Sitten
finden, weil es zugestanden ist, dass das Drama vornehmlich das wirkliche
Leben abbilden soll. Doch aber muss die Zeichnung der herrschenden
Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den
andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende
Charakter sich desto kraeftiger ausdruecke."


----Fussnote

[1] Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae
morumque jubebo Doctum imitatorum, et veras hinc ducere voces, wo Hurd
zeigt, dass die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen
Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist;
Falschheit hingegen das heisse, was zwar dem vorhabenden besondern Falle
angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur uebereinstimmend sei.

----Fussnote




Dreiundneunzigstes Stueck
Den 22. Maerz 1768

"Alles dieses laesst sich abermals aus der Malerei sehr wohl erlaeutern. In
charakteristischen Portraeten, wie wir diejenigen nennen koennen, welche
eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann
von wirklicher Faehigkeit ist, nicht auf die Moeglichkeit einer abstrakten
Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein,
dass irgendeine Eigenschaft die herrschende ist; diese drueckt er stark,
und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden
Leidenschaft am sichtbarsten aeussern. Und wenn er dieses getan hat, so
duerfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein
Kompliment gegen seine Kunst, gar wohl von einem solchen Portraete sagen,
dass es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade
so wie die Alten von der beruehmten Bildsaeule des Apollodorus vom Silanion
angemerkt haben, dass sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die
Leidenschaft des Zornes vorstelle.[1] Dieses aber muss bloss so verstanden
werden, dass er die hauptsaechlichen Zuege der vorgebildeten Leidenschaft
gut ausgedrueckt habe. Denn im uebrigen behandelt er seinen Vorwurf ebenso,
wie er jeden andern behandeln wuerde: das ist, er vergisst die
mitverbundenen Eigenschaften nicht und nimmt das allgemeine Ebenmass und
Verhaeltnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht.
Und das heisst denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von
einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft
verwandelt waere. Keine Metamorphosis koennte seltsamer und unglaublicher
sein. Gleichwohl sind Portraete, in diesem tadelhaften Geschmacke
verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer
Sammlung das Gemaelde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewoehnlicheres gibt
es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede
Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und ueberladen finden,
sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darueber zu
aeussern.--Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit wuerde Le Bruns Buch
von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen
Portraete enthalten: und die Charaktere des Theophrasts muessten, in Absicht
auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein.

Ueber das erstere dieser Urteile wuerde jeder Virtuose in den bildenden
Kuensten unstreitig lachen. Das letztere aber, fuerchte ich, duerften wohl
nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener
unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu
urteilen, welchen dergleichen Stuecke gemeiniglich gefunden haben. Es
liessen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komoedien Beispiele
anfuehren. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten
Ideen auszufuehren, in ihrem voelligen Lichte sehen will, der darf nur Ben
Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein
charakteristisches Stueck sein soll, in der Tat aber nichts als eine
unnatuerliche und, wie es die Maler nennen wuerden, harte Schilderung einer
Gruppe von fuer sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild
in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komoedie immer
ihre Bewunderer gehabt; und besonders muss Randolph von ihrer Einrichtung
sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse'
ausdruecklich nachgeahmet zu haben scheint.

Auch hierin, muessen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern
noch wesentlichern Schoenheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer
seine Komoedien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden,
dass seine auch noch so kraeftig gezeichneten Charaktere, den groessten Teil
ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdruecken und ihre
wesentlichen und herrschenden Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die
Umstaende eine ungezwungene Aeusserung veranlassen, an den Tag legen. Diese
besondere Vortrefflichkeit seiner Komoedien entstand daher, dass er die
Natur getreulich kopierte und sein reges und feuriges Genie auf alles
aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen Dienliches aufstossen
konnte: dahingegen Nachahmung und geringere Faehigkeiten kleine Skribenten
verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen
Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der aengstlichen Sorgfalt
ihre Lieblingscharaktere in bestaendigem Spiele und ununterbrochner
Taetigkeit zu erhalten. Man koennte ueber diese ungeschickte Anstrengung
ihres Witzes sagen, dass sie mit den Personen ihres Stuecks nicht anders
umgehen, als gewisse spasshafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit
ihren Hoeflichkeiten so zusetzen, dass sie ihren Anteil an der allgemeinen
Unterhaltung gar nicht nehmen koennen, sondern nur immer, zum Vergnuegen
der Gesellschaft, Spruenge und Maennerchen machen muessen."


----Fussnote

[1] Non hominem ex aere iecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8.

[2] Beim B. Jonson sind zwei Komoedien, die er vom Humor benennt hat;
die eine "Every Man in his Humour" und die andere "Every Man out of
his Humour". Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen und wurde
auf die laecherlichste Weise gemissbraucht. Sowohl diesen Missbrauch als
den eigentlichen Sinn desselben bemerkt er in folgender Stelle selbst:

    As when some one peculiar quality
    Doth so possess a Man, that it doth draw
    All his affects, his spirits, and his powers,
    In their constructions, all to run one way.
    This may be truly said to be a humour.
    But that a rook by wearing a py'd feather,
    The cable hatband, or the three-pil'd ruff,
    A yard of shoe-tye, or the Switzer's knot
    On bis French garters, should affect a humour!
    O, it is more than most rediculous.

[3] In der Geschichte des Humors sind beide Stuecke des Jonson also sehr
wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der
Humor, den wir den Englaendern itzt so vorzueglich zuschreiben, war damals
bei ihnen grossenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation
laecherlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen,
muesste auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand
der Komoedie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen,
sich durch etwas Eigentuemliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine
menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie
waehlt, sehr laecherlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber,
wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende zur Natur gewordene
Gewohnheit einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel
zu speziell, als dass es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht
des Drama vertragen koennte. Der ueberhaeufte Humor in vielen englischen
Stuecken duerfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere
derselben sein. Gewiss ist es, dass sich in dem Drama der Alten keine Spur
von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wussten das Kunststueck,
ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren, ja die alten Dichter
ueberhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann
und wann Humor: wenn naemlich die historische Wahrheit oder die Aufklaerung
eines gewissen Fakti diese genaue Schilderung kaJ' ekaston erfodert. Ich
habe Exempel davon fleissig gesammelt, die ich auch bloss darum in Ordnung
bringen zu koennen wuenschte, um gelegentlich einen Fehler
wiedergutzumachen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir uebersetzen
naemlich itzt fast durchgaengig Humor durch Laune; und ich glaube mir
bewusst zu sein, dass ich der erste bin, der es so uebersetzt hat. Ich habe
sehr unrecht daran getan, und ich wuenschte, dass man mir nicht gefolgt
waere. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu koennen, dass Humor
und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade
entgegengesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist,
ausser diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich haette die Abstammung unsers
deutschen Worts und den gewoehnlichen Gebrauch desselben besser
untersuchen und genauer erwaegen sollen. Ich schloss zu eilig, weil Laune
das franzoesische Humeur ausdruecke, dass es auch das englische Humour
ausdrucken koennte; aber die Franzosen selbst koennen Humour nicht durch
Humeur uebersetzen.--Von den genannten zwei Stuecken des Jonson hat das
erste, "Jedermann in seinem Humor", den vom Hurd hier geruegten Fehler
weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so
individuell, noch so ueberladen, dass er mit der gewoehnlichen Natur nicht
bestehen koennte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung
so ziemlich verbunden. In dem zweiten hingegen, "Jedermann aus seinem
Humor", ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der
wunderlichsten Narren nacheinander auf, man weiss weder wie noch warum;
und ihr Gespraech ist ueberall durch ein paar Freunde des Verfassers
unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingefuehrt sind und Betrachtung
ueber die Charaktere der Personen und ueber die Kunst des Dichters, sie zu
behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an,
dass alle die Personen in Umstaende geraten, in welchen sie ihres Humors
satt und ueberdruessig werden.


----Fussnote




Vierundneunzigstes Stueck
Den 25. Maerz 1768

Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere und den
Grenzen dieser Allgemeinheit nach der Idee des Hurd!--Doch es wird noetig
sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklaert zu haben
versichert, inwieweit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur
partikular waeren, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluss
ueberhaupt machen koennen, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem
Aristoteles uebereinstimmen.

"Wahrheit", sagt er, "heisst in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der
allgemeinen Natur der Dinge gemaess ist; Falschheit hingegen ein solcher,
als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit
jener allgemeinen Natur uebereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdrucks in
der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz[1] zwei Dinge:
einmal, die Sokratische Philosophie fleissig zu studieren; zweitens, sich
um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil
es der eigentuemliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius
accedere;[2] dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere
Aehnlichkeit erteilen zu koennen. Sich hiervon zu ueberzeugen, darf man nur
erwaegen, dass man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau
halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der
Kuenstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu aengstlich
befleissigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten,
und so die allgemeine Idee der Gattung auszudruecken verfehlen. Oder er
kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemueht, sie aus zu
vielen Faellen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange,
zusammensetzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich
bloss in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses
letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der niederlaendischen
Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und
nicht, wie die italienische, von dem geistigen Ideale der Schoenheit
entlehnet. [3] Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man
gleichfalls den niederlaendischen Meistern vorwirft und der dieser ist,
dass sie lieber die besondere, seltsame und groteske als die allgemeine
und reizende Natur sich zum Vorbilde waehlen.

Wir sehen also, dass der Dichter, indem er sich von der eigenen und
besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit
nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen
Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegruebelt hatte und nicht ohne
Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Naemlich, dass die poetische
Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen koenne. Denn, der
poetische Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das Abbild von des Dichters
eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge;
und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem goettlichen
Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild
von dem Bilde eines Bildes und liefert uns urspruengliche Wahrheit nur
gleichsam aus der dritten Hand. [4] Aber alle diese Vernuenftelei faellt
weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehoerig fasset und
fleissig in Ausuebung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles
absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet,
ueberspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden
besondern Gegenstaende und erhebt sich, soviel moeglich, zu dem goettlichen
Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus
lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewoehnliche Lob,
welches der grosse Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; dass
sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere
Studium sei: [Greek: philosophoteron kai spoudaioteron poiaesis historias
estin]. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nun gleichfalls sehr
begreiflich: [Greek: ae men gar poiaesis mallon ta katholou, ae d'
historia ta kath' ekaston legei].[5] Ferner wird hieraus ein
wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den
zwei grossen Nebenbuhlern der griechischen Buehne soll befunden haben. Wenn
man dem Sophocles vorwarf, dass es seinen Charakteren an Wahrheit fehle,
so pflegte er sich damit zu verantworten, dass er die Menschen so
schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie waeren:
[Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi
eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen
ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschraenkte enge Vorstellung,
welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen
vollstaendigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische
Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht
hatte und von da aus das Leben uebersehen wollte, hielt seinen Blick zu
sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet,
versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den
vorhabenden Gegenstaenden nach, seine Charaktere zwar natuerlich und wahr,
aber auch dann und wann ohne die hoehere allgemeine Aehnlichkeit, die zur
Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7]

Ein Einwurf stoesst gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen
muessen. Man koennte sagen, 'dass philosophische Spekulationen die Begriffe
eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das
Individuelle einschraenken muessten. Das letztere sei ein Mangel, welcher
aus der kleinen Anzahl von Gegenstaenden entspringe, die den Menschen zu
betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch
abzuhelfen, dass man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin
die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, dass man ueber die
allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen
Buechern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Buecher haetten ihren
allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer
ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben
koennen, ohne welche ihre Buecher sonst von keinem Werte sein wuerden.' Die
Antwort hierauf, duenkt mich, ist diese. Durch Erwaegung der allgemeinen
Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein
muss, die aus dem Uebergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften
entspringet: das ist, er lernet das Betragen ueberhaupt, welches der
beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlaessig zu wissen,
wieweit und in welchem Grade von Staerke sich dieser oder jener Charakter,
bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise aeussern wuerde, das ist
einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Dass
Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis bei einem Dichter, wie Euripides
war, sehr haeufig sollten gewesen sein, laesst sich nicht wohl annehmen:
auch werden, wo sich dergleichen in seinen uebriggebliebenen Stuecken etwa
finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, dass sie auch einem
gemeinen Leser in die Augen fallen muessten. Es koennen nur Feinheiten sein,
die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermoegend ist; und
auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit
der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im
Grunde eine Schoenheit ist. Es wuerde also ein sehr gefaehrliches
Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche
Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein geglaubt hatte. Aber
gleichwohl will ich es wagen, eine anzufuehren, die, wenn ich sie auch
schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine
Meinung zu erlaeutern dienen kann."


----Fussnote

[1] De arte poet. v. 310. 317. 318.

[2] De Orat. I. 51.

[3] Nach Massgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis
formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret:
sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam
intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum
dirigebat. (Cic. Or. 2.)

[4] Plato de Repl., L. X.

[5] "Dichtkunst", Kap. 9.

[6] "Dichtkunst", Kap. 25.

[7] Diese Erklaerung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles
gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Uebersetzung scheinet Dacier
zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisait ses Heros,
comme ils devaient etre et qu'Euripide les faisait comme ils etaient.
Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd
versteht unter dem Wie sie sein sollten die allgemeine abstrakte Idee des
Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr als nach ihren
individuellen Verschiedenheiten schildern muesse. Dacier aber denkt sich
dabei eine hoehere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu
erreichen faehig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese,
sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewoehnlicherweise beigelegt:
Sophocle tachait de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours
bien plus ce qu'une belle Nature etait capable de faire, que ce qu'elle
faisait. Allein diese hoehere moralische Vollkommenheit gehoeret gerade zu
jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht
dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt,
schildert gerade umgekehrt mehr in der Manier des Euripides als des
Sophokles. Die weitere Ausfuehrung hiervon verdienet mehr als eine Note.

----Fussnote




Fuenfundneunzigstes Stueck
Den 29. Maerz 1768

"Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte in dem
Charakter dieser Prinzessin ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll
erfuelltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Haerte, mit der man
sich gegen sie selbst betrug, erbittert war und durch noch weit staerkere
Bewegungsgruende angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu raechen. Eine
solche heftige Gemuetsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl
schliessen, muss immer sehr bereit sein, sich zu aeussern. Elektra, kann er
wohl einsehen, muss, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren
Groll an den Tag legen, und die Ausfuehrung ihres Vorhabens beschleunigen
zu koennen wuenschen. Aber zu welcher Hoehe dieser Groll steigen darf? d.I.
wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdruecken darf, ohne dass ein Mann, der
mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften
im ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: Das ist unwahrscheinlich?
Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein.
Sogar eine nur maessige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben ist hier
nicht hinlaenglich, uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt
haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf
das Aeusserste getrieben haette, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die
Geschichte duerfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine
tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es
der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die
eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig
und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Faelle als moeglich; einzig
und allein vermittelst der ausgebreitetsten Kenntnis, wieviel eine solche
Erbitterung ueber dergleichen Charaktere unter dergleichen Umstaenden im
wirklichen Leben gewoehnlicherweise vermag. So verschieden diese Kenntnis
in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der
Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter
von dem Euripides wirklich behandelt worden.

In der schoenen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes
vorfaellt, von dem sie aber noch nicht weiss, dass er ihr Bruder ist, koemmt
die Unterredung ganz natuerlich auf die Ungluecksfaelle der Elektra und auf
den Urheber derselben, die Klytaemnestra, sowie auch auf die Hoffnung,
welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu
werden. Das Gespraech, wie es hierauf weitergehet, ist dieses:

Orestes. Und Orestes? Gesetzt, er kaeme nach Argos zurueck--

Elektra. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals
zurueckkommen wird?

Orestes. Aber gesetzt, er kaeme! Wie muesste er es anfangen, um den Tod
seines Vaters zu raechen?

Elektra. Sich eben des erkuehnen, wessen die Feinde sich gegen seinen
Vater erkuehnten.

Orestes. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen?

Elektra. Sie mit dem naemlichen Eisen umbringen, mit welchem sie
meinen Vater mordete!

Orestes. Und darf ich das, als deinen festen Entschluss, deinem Bruder
vermelden?

Elektra. 'Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!'

Das Griechische ist noch staerker:

[Greek: Thanoimi, maetros aim' episphaxas' emaes].

'Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht
habe!'

Nun kann man nicht behaupten, dass diese letzte Rede schlechterdings
unnatuerlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug ereignet, wo
unter aehnlichen Umstaenden die Rache sich ebenso heftig ausgedrueckt hat.
Gleichwohl, denke ich, kann uns die Haerte dieses Ausdrucks nicht anders
als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht fuer gut,
ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umstaenden nur
das: 'Jetzt sei dir die Ausfuehrung ueberlassen! Waere ich aber allein
geblieben, so glaube mir nur: beides haette mir gewiss nicht misslingen
sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!'

Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, insofern sie aus
einer ausgebreitetem Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen
Natur ueberhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemaesser ist, als die
Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen ueberlassen, die
es zu beurteilen faehig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere
sein, als die ich angenommen: dass naemlich Sophokles seine Charaktere so
geschildert, als er, unzaehligen von ihm beobachteten Beispielen der
naemlichen Gattung zufolge, glaubte, dass sie sein sollten; Euripides aber
so, als er in der engeren Sphaere seiner Beobachtungen erkannt hatte, dass
sie wirklich waeren<--".

Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen
Stellen des Hurd angefuehret habe, enthalten sie unstreitig so viel feine
Bemerkungen, dass es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen
Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, dass er meine
Absicht selbst darueber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu
zeigen, dass auch Hurd, so wie Diderot, der Tragoedie besondere, und nur
der Komoedie allgemeine Charaktere zuteile und demohngeachtet dem
Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen
poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen, verlanget.
Hurd erklaert sich naemlich so: der tragische Charakter muesse zwar
partikulaer oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er muesse
die Art, zu welcher er gehoere, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber
muesse das wenige, was man von ihm zu zeigen fuer gut finde, nach dem
Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere.[1]

Und nun waere die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen
wolle?--Warum nicht, wenn ihm daran gelegen waere, sich nirgends in
Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem
daran gelegen ist, dass zwei denkende Koepfe von der naemlichen Sache nicht
Ja und Nein sagen, koennte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung
unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen.

Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort!--Mich duenkt, es ist
eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort allgemein wird offenbar
darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die
eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter
verneinen, ist nicht die naemliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet.
Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: aber wie, wenn die eine die
andere schlechterdings ausschloesse?

In der ersten Bedeutung heisst ein allgemeiner Charakter ein solcher, in
welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat,
zusammennimmt; es heisst mit einem Worte, ein ueberladener Charakter; es
ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine
charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heisst ein
allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern
oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine
mittlere Proportion angenommen; es heisst mit einem Worte, ein
gewoehnlicher Charakter, nicht zwar insofern der Charakter selbst, sondern
nur insofern der Grad, das Mass desselben gewoehnlich ist.

Hurd hat vollkommen recht, das [Greek: katholou] des Aristoteles von der
Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklaeren. Aber wenn denn nun
Aristoteles diese Allgemeinheit ebensowohl von den komischen als
tragischen Charakteren erfodert: wie ist es moeglich, dass der naemliche
Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es
moeglich, dass er zugleich ueberladen und gewoehnlich sein kann? Und gesetzt
auch, er waere so ueberladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem
getadelten Stuecke des Jonson sind; gesetzt, er liesse sich noch gar wohl
in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, dass er sich wirklich
in mehrern Menschen ebenso stark, ebenso ununterbrochen geaeussert habe:
wuerde er demohngeachtet nicht auch noch viel ungewoehnlicher sein, als
jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet?

Das ist die Schwierigkeit!--Ich erinnere hier meine Leser, dass diese
Blaetter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich
bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzuloesen, die ich
mache. Meine Gedanken moegen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar
sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei
welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als
Fermenta cognitionis ausstreuen.


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[1] In calling the tragic character particular, I suppose it only less
representative of the kind than the comic; not that the draught of so
much character as it is concerned to represent should not be general.

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Sechsundneunzigstes Stueck
Den 1. April 1768

Den zweiundfunfzigsten Abend (dienstags, den 28. Julius) wurden des Herrn
Romanus "Brueder" wiederholt.

Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: "Die Brueder" des Herrn Romanus?
Nach einer Anmerkung naemlich, welche Donatus bei Gelegenheit der "Brueder"
des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi
nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti
Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta; quam de poetae nomine
fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komoedien zwar ohne seinen
Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden.
Noch itzt sind diejenigen Stuecke, die sich auf unserer Buehne von ihm
erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen
Deutschlands genannt wird, wo er ohne sie wohl nie waere gehoeret worden.
Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit
seinen Arbeiten fuer das Theater so lange fortzufahren, bis die Stuecke
aufgehoert haetten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafuer die
Stuecke empfohlen haette?

Das meiste, was wir Deutsche noch in der schoenen Literatur haben, sind
Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, dass
es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Maenner, sagt
man, haben ernsthaftere Studia oder wichtigere Geschaefte, zu welchen sie
die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komoedien heissen
Spielwerke; allenfalls nicht unnuetzliche Voruebungen, mit welchen man sich
hoechstens bis in sein fuenfundzwanzigstes Jahr beschaeftigen darf. Sobald
wir uns dem maennlichen Alter naehern, sollen wir fein alle unsere Kraefte
einem nuetzlichen Amte widmen; und laesst uns dieses Amt einige Zeit, etwas
zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der
Gravitaet und dem buergerlichen Range desselben bestehen kann; ein huebsches
Kompendium aus den hoehern Fakultaeten, eine gute Chronike von der lieben
Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen.

Daher koemmt es denn auch, dass unsere schoene Literatur, ich will nicht
bloss sagen gegen die schoene Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen
aller neuern polierten Voelker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches
Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an
Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kraefte und Nerven, Mark
und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein
Mann, der im Denken geuebt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner
Erholung und Staerkung, einmal ausser dem einfoermigen ekeln Zirkel seiner
alltaeglichen Beschaeftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann
wohl z.E. in unsern hoechst trivialen Komoedien finden? Wortspiele,
Sprichwoerter, Spaesschen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hoert:
solches Zeug macht zwar das Parterre zu lachen, das sich vergnuegt so gut
es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschuettern will, wer
zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal dagewesen und
koemmt nicht wieder.

Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst
in die Welt tritt, kann unmoeglich die Welt kennen und sie schildern. Das
groesste komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und
leer; selbst von den ersten Stuecken des Menanders sagt Plutarch,[1] dass
sie mit seinen spaetern und letztern Stuecken gar nicht zu vergleichen
gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, koenne man schliessen, was er
noch wuerde geleistet haben, wenn er laenger gelebt haette. Und wie jung
meint man wohl, dass Menander starb? Wieviel Komoedien meint man wohl, dass
er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundertundfuenfe; und nicht
juenger als zweiundfunfzig.

Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es
sich noch der Muehe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von
den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte
Teil so viel Stuecke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben
das zu sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand?--Sie wage es
aber nur, und spreche!

Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hoeren. Wir
haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern,
deren beste Kritik darin besteht,--alle Kritik verdaechtig zu machen.
"Genie! Genie!" schreien sie. "Das Genie setzt sich ueber alle Regeln
hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!" So schmeicheln sie dem Genie:
ich glaube, damit wir sie auch fuer Genies halten sollen. Doch sie
verraten zu sehr, dass sie nicht einen Funken davon in sich spueren, wenn
sie in einem und ebendemselben Atem hinzusetzen: "Die Regeln unterdruecken
das Genie!"--Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdruecken
liesse! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm
hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist
ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es
begreift und behaelt und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in
Worten ausdruecken. Und diese seine in Worten ausgedrueckte Empfindung
sollte seine Taetigkeit verringern koennen? Vernuenftelt darueber mit ihm, so
viel ihr wollt; es versteht euch nur, insofern es eure allgemeinen Saetze
den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von
diesem einzeln Falle bleibt Erinnerung in ihm zurueck, die waehrend der
Arbeit auf seine Kraefte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die
Erinnerung eines gluecklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen
gluecklichen Erfahrung auf sie zu wirken imstande ist. Behaupten also, dass
Regeln und Kritik das Genie unterdruecken koennen: heisst mit andern Worten
behaupten, dass Beispiele und Uebung eben dieses vermoegen; heisst, das Genie
nicht allein auf sich selbst, heisst es sogar lediglich auf seinen ersten
Versuch einschraenken.

Ebensowenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie ueber die
nachteiligen Eindruecke, welche die Kritik auf das geniessende Publikum
mache, so lustig wimmern! Sie moechten uns lieber bereden, dass kein Mensch
einen Schmetterling mehr bunt und schoen findet, seitdem das boese
Vergroesserungsglas erkennen lassen, dass die Farben desselben nur
Staub sind.

"Unser Theater", sagen sie, "ist noch in einem viel zu zarten Alter, als
dass es den monarchischen Szepter der Kritik ertragen koenne.--Es ist fast
noetiger, die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als
darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind.--Die Buehne
muss durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden.--Raisonnieren
ist leichter als selbst erfinden."

Heisst das, Gedanken in Worte kleiden: oder heisst es nicht vielmehr,
Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen?--Und wer sind sie denn,
die so viel von Beispielen und vom Selbsterfinden reden? Was fuer
Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden?
--Schlaue Koepfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so
wuenschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so
moechten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen,
dass sie falsch ist, beweisen sie, dass sie zu strenge ist; und glauben
vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an,
dass Erfinden schwerer ist als Raisonnieren; und glauben widerlegt
zu haben!

Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muss
raisonnieren koennen. Nur die glauben, dass sich das eine von dem andern
trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind.

Doch was halte ich mich mit diesen Schwaetzern auf? Ich will meinen Gang
gehen und mich unbekuemmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren.
Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel.
Ihr Sommer ist so leicht abgewartet!

Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei
Gelegenheit der ersten Vorstellung der "Brueder" des Herrn Romanus[2]
annoch ueber dieses Stueck versprach!--Die vornehmsten derselben werden die
Veraenderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu muessen
geglaubet, um sie unsern Sitten naeher zu bringen.

Was soll man ueberhaupt von der Notwendigkeit dieser Veraenderungen sagen?
Wenn wir so wenig Anstoss finden, roemische oder griechische Sitten in der
Tragoedie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komoedie? Woher die
Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein
entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber in
unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter
aufbuerden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine
Handlung vorgehen laesst, so genau als moeglich zu schildern; da wir in
dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen?
"Dieses", sagt Pope an einem Orte, "scheinet dem ersten Ansehen nach
blosser Eigensinn, blosse Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten
Grund in der Natur. Das Hauptsaechlichste, was wir in der Komoedie suchen,
ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber
nicht so leicht versichert sein koennen, wenn wir es in fremde Moden und
Gebraeuche verkleidet finden. In der Tragoedie hingegen ist es die
Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen
einheimischen Vorfall aber fuer die Buehne bequem zu machen, dazu muss man
sich mit der Handlung groessere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte
Geschichte verstattet."


----Fussnote

[1] "Epit, [Greek: taes synkriseos] Arist. [Greek: kai Menan]",
p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

[2] Dreiundsiebzigstes Stueck.

----Fussnote




Siebenundneunzigstes Stueck
Den 5. April 1768

Diese Aufloesung, genau betrachtet, duerfte wohl nicht in allen Stuecken
befriedigend sein. Denn zugegeben, dass fremde Sitten der Absicht der
Komoedie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer
die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der
Tragoedie ein besseres Verhaeltnis haben, als fremde? Diese Frage ist
wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne
allzumerkliche und anstoessige Veraenderungen fuer die Buehne bequem zu
machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch
einheimische Vorfaelle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragoedie am
leichtesten und gewissesten ihren Zweck erreichte, so muesste es ja doch
wohl besser sein, sich ueber alle Schwierigkeiten, welche sich bei
Behandlung dieser finden, wegzusetzen als in Absicht des Wesentlichsten
zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht
alle einheimische Vorfaelle so merklicher und anstoessiger Veraenderungen
beduerfen; und die deren beduerfen, ist man ja nicht verbunden zu
bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, dass es gar wohl
Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so ereignet haben,
als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat
er auch schon entschieden, dass sich der Dichter um den wenigern Teil
seiner Zuschauer, der von den wahren Umstaenden vielleicht unterrichtet
ist, lieber nicht bekuemmern, als seiner Pflicht minder Genuege
leisten muesse.

Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komoedie haben, beruhet
auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter
braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu noetigen
Beschreibungen und Winke ueberhoben; er kann seine Personen sogleich nach
ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig
zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit und
befoerdern bei dem Zuschauer die Illusion.

Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten
Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als
moeglich zu erleichtern, seine Kraefte nicht an Nebenzwecke zu
verschwenden, sondern sie ganz fuer den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm
koemmt auf die Illusion des Zuschauers alles an.--Man wird vielleicht
hierauf antworten, dass die Tragoedie der Sitten nicht gross beduerfe; dass
sie ihrer ganz und gar entuebriget sein koenne. Aber sonach braucht sie
auch keine fremde Sitten; und von dem wenigen, was sie von Sitten haben
und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von
einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden.

Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht
bloss in der Komoedie, sondern auch in der Tragoedie, zum Grunde gelegt. Ja
sie haben fremden Voelkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer
Tragoedie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten
leihen, als die Wirkungen der Buehne durch unverstaendliche barbarische
Sitten entkraeften wollen. Auf das Kostuem, welches unsern tragischen
Dichtern so aengstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der
Beweis hiervon koennen vornehmlich die "Perser" des Aeschylus sein: und
die Ursache, warum sie sich so wenig an das Kostuem binden zu duerfen
glaubten, ist aus der Absicht der Tragoedie leicht zu folgern.

Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt
gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, dass einheimische
Sitten auch in der Tragoedie zutraeglicher sein wuerden, als fremde: so
setze ich schon als unstreitig voraus, dass sie es wenigstens in der
Komoedie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, dass sie es sind:
so kann ich auch die Veraenderungen, welche Herr Romanus in Absicht
derselben mit dem Stuecke des Terenz gemacht hat, ueberhaupt nicht anders
als billigen.

Er hatte recht, eine Fabel, in welche so besondere griechische und
roemische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhaelt
seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch
nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewoehnlichsten ist. Alle Anwendung
faellt weg, wo wir uns erst mit Muehe in fremde Umstaende versetzen muessen.
Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je
vollkommener die Fabel ist, desto weniger laesst sich der geringste Teil
veraendern, ohne das Ganze zu zerruetten. Und schlimm! wenn man sich sodann
nur mit Flicken begnuegt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen.

Das Stueck heisst "Die Brueder", und dieses bei dem Terenz aus einem
doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea,
sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind
Brueder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den
Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif' ich nicht, warum
unserm Verfasser diese Adoption missfallen. Ich weiss nicht anders, als dass
die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebraeuchlich und vollkommen
auf dem naemlichen Fuss gebraeuchlich ist, wie sie es bei den Roemern war.
Demohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten
Brueder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art
erziehet. Aber desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch
die zwei Alten wirkliche Vaeter; und das Stueck ist wirklich eine Schule
der Vaeter, d.i. solcher, denen die Natur die vaeterliche Pflicht
aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar uebernommen, die sich
ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen
Gemaechlichkeit bestehen kann.

    Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt!

Sehr wohl! Nur schade, dass durch Aufloesung dieses einzigen Knoten,
welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide
mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine auseinander
faellt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene
entstehen, die bloss die Konvenienz des Dichters, und keineswegs ihre
eigene Natur zusammenhaelt!

Denn ist Aeschinus nicht bloss der angenommene, sondern der leibliche Sohn
des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekuemmern? Der Sohn eines
Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, dass
jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschaehe es auch in der besten
Absicht von der Welt, so habe ich recht, diesem gutherzigen Verfuehrer mit
aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem
Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn
des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als dass ich
diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn oefters und
ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhaeltnisse, in
welchem er bei dem Terenz stehet, aber er laesst ihm die naemliche
Ungestuemheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhaeltnis berechtigen
konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit aerger, als bei dem
Terenz. Er will aus der Haut fahren, "dass er an seines Bruders Kinde
Schimpf und Schande erleben muss". Wenn ihm nun aber dieser antwortete:
"Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du koenntest an
meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und
bleibt, so wird, wie das Unglueck, also auch der Schimpf nur meine sein.
Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er
beleidiget mich. Falls du mich nur immer so aergern wil1st, so komm mir
lieber nicht ueber die Schwelle! usw." Wenn Micio, sage ich, dieses
antwortete: nicht wahr, so waere die Komoedie auf einmal aus? Oder koennte
Micio etwa nicht so antworten? Ja, muesste er wohl eigentlich nicht so
antworten?

Wieviel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er
ein so liederliches Leben zu fuehren glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob
ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet
der roemische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast
mir, sagt er, deinen Sohn einmal ueberlassen; bekuemmere dich um den, der
dir noch uebrig ist;

    --nam ambos curare; propemodum
    Reposcere illum est, quem dedisti--

Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurueckzugeben, ist es auch, die
ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, dass sie
alle vaeterliche Empfindungen bei ihm unterdruecken soll. Es muss den Micio
zwar verdriessen, dass Demea auch in der Folge nicht aufhoert, ihm immer die
naemlichen Vorwuerfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht
verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gaenzlich will verderben lassen.
Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der fuer das Wohl dessen besorgt
ist, fuer den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die
unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea
unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zaenker, der sich aus
Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf
keine Weise an dem blossen Bruder dulden muesste.




Achtundneunzigstes Stueck
Den 8. April 1768

Ebenso schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten
Bruederschaft, auch das Verhaeltnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke
es dem deutschen Aeschinus, dass er[1] "vielmals an den Torheiten des
Ktesipho Anteil nehmen zu muessen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der
Gefahr und oeffentlichen Schande zu entreissen". Was Vetter? Und schickt es
sich wohl fuer den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: "Ich billige
deine hierbei bezeugte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch
inskuenftige nicht?" Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den
Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das
sollte er ihm verwehren. "Suche deinen Vetter", muesste er ihm hoechstens
sagen, "soviel moeglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest,
dass er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter
Name muss dir wertet sein, als seiner."

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an
leiblichen Bruedern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern ruehmet:

    --Illius opera nunc vivo! Festivum caput,
    Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo:
    Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit.

Denn der bruederlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen
gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, dass unser Verfasser seinem Aeschinus
die Torheit ueberhaupt zu ersparen gewusst hat, die der Aeschinus des
Terenz fuer seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entfuehrung hat er in
eine kleine Schlaegerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Juengling
weiter keinen Teil hat, als dass er sie gern verhindern wollen. Aber
gleichwohl laesst er diesen wohlgezognen Juengling fuer einen ungezognen
Vetter noch viel zuviel tun. Denn muesste es jener wohl auf irgendeine
Weise gestatten, dass dieser ein Kreatuerchen, wie Citalise ist, zu ihm in
das Haus braechte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner
tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verfuehrerische Damis, diese Pest
fuer junge Leute,[2] dessentwegen der deutsche Aeschinus seinem
liederlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die blosse
Konvenienz des Dichters.

Wie vortrefflich haengt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und
notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus
nimmt einem Sklavenhaendler ein Maedchen mit Gewalt aus dem Hause, in das
sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung
seines Bruders zu willfahren, als um einem groessern Uebel vorzubauen. Der
Sklavenhaendler will mit diesem Maedchen unverzueglich auf einen auswaertigen
Markt: und der Bruder will dem Maedchen nach; will lieber sein Vaterland
verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.[3]
Noch erfaehrt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluss. Was soll er tun?
Er bemaechtiget sich in der Geschwindigkeit des Maedchens und bringt sie in
das Haus seines Oheims, um diesem guetigen Manne den ganzen Handel zu
entdecken. Denn das Maedchen ist zwar entfuehrt, aber sie muss ihrem
Eigentuemer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand und
freuet sich nicht sowohl ueber die Tat der jungen Leute, als ueber die
bruederliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und ueber das Vertrauen,
welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das Groesste ist geschehen; warum
sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufuegen, ihnen einen vollkommen
vergnuegten Tag zu machen?

    --Argentum adnumeravit illico:
    Dedit praeterea in sumptum dimidium minae.

Hat er dem Ktesipho das Maedchen gekauft, warum soll er ihm nicht
verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnuegen? Da ist nach den
alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit
widerspraeche.

Aber nicht so in unsern "Bruedern"! Das Haus des guetigen Vaters wird auf
das ungeziemendste gemissbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich
gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanstaendigere Person,
als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn
das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt haette, so
wuerde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen
haben. Er wuerde Citalisen die Tuere gewiesen und mit dem Vater die
kraeftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so straeflich
emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten.

Ueberhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfang viel zu verderbt
geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster
abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem
Vetter ueber seinen Vater unterhaelt.[4]

"Leander. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe,
die du deinem Vater schuldig bist?

Lykast. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir
verlangen.

Leander. Er sollte sie nicht verlangen?

Lykast. Nein, gewiss nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb.
Ich muesste es luegen, wenn ich es sagen wollte.

Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst.
Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst
du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal;
hernach will ich dich fragen.

Lykast. Hm! Ich weiss nun eben nicht, was da geschehen wuerde. Auf
allen Fall wuerde ich wohl auch so gar unrecht nicht tun. Denn ich
glaube, er wuerde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast
taeglich zu mir: 'Wenn ich dich nur los waere! wenn du nur weg waerest!'
Heisst das Liebe? Kannst du verlangen, dass ich ihn wieder lieben soll?"

Auch die strengste Zucht muesste ein Kind zu so unnatuerlichen Gesinnungen
nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgendeiner Ursache, faehig ist,
verdienst nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des
ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so
muessen jenes Ausschweifungen kein grundboeses Herz verraten; es muessen
nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche
Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach
diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert.
So streng ihn sein Vater haelt, so entfaehrt ihm doch nie das geringste
boese Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen koennte, macht
er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er moechte seiner Liebe gern
wenigstens ein paar Tage ruhig geniessen; er freuet sich, dass der Vater
wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist; und wuenscht, dass er sich
damit so abmatten,--so abmatten moege, dass er ganze drei Tage nicht aus
dem Bette koenne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze:

    --utinam quidem
    Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim,
    Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere.

Quod cum salute ejus fiat! Nur muesste es ihm weiter nicht schaden!--So
recht! so recht, liebenswuerdiger Juengling! Immer geh, wohin dich Freunde
und Liebe rufen! Fuer dich druecken wir gern ein Auge zu! Das Boese, das du
begehst, wird nicht sehr boese sein! Du hast einen strengern Aufseher in
dir, als selbst dein Vater ist!--Und so sind mehrere Zuege in der Szene,
aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein
abgefeimter Bube, dem Luegen und Betrug sehr gelaeufig sind: der roemische
hingegen ist in der aeussersten Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch
den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen koennte.

      Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die.
      Quid dicam? SY. Nil ne in mentem venit? CT. Nunquam quicquam.
    SY. Tanto nequior.
      Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis? CT. Sunt, quid postea?
    SY. Hisce opera ut data sit? CT. Quae non data sit? Non potest
    fieri!

Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Juengling sucht
einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlaegt ihm eine Luege vor. Eine
Luege! Nein, das geht nicht: non potest fieri!


----Fussnote

[1] Aufz. I., Auftr. 3. S. 18.

[2] Seite 30.

[3] Act. II. Sc. 4.

    Ae. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum
      Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier.
    Ct. Pudebat. Ae. Ah, stultitia est istaec; non pudor, tam ob
    parvulam
      Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant.

1. Erster Aufz., 6. Auftr.

----Fussnote




Neunundneunzigstes Stueck
Den 12. April 1768

Sonach hatte Terenz auch nicht noetig, uns seinen Ktesipho am Ende des
Stuecks beschaemt, und durch die Beschaemung auf dem Wege der Besserung, zu
zeigen. Wohl aber musste dieses unser Verfasser tun. Nur fuerchte ich, dass
der Zuschauer die kriechende Reue und die furchtsam Unterwerfung eines so
leichtsinnigen Buben nicht fuer sehr aufrichtig halten kann. Ebensowenig
als die Gemuetsaenderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in
ihrem Charakter gegruendet, dass man das Beduerfnis des Dichters, sein Stueck
schliessen zu muessen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu
schliessen, ein wenig zu sehr darin empfindet.--Ich weiss ueberhaupt nicht,
woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, dass der Boese
notwendig am Ende des Stuecks entweder bestraft werden oder sich bessern
muesse. In der Tragoedie moechte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns
da mit dem Schicksale versoehnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der
Komoedie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt
vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und
kalt und einfoermig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine
Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie
nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muss die Handlung sodann in
etwas mehr, als in einer blossen Kollision der Charaktere bestehen. Diese
kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veraenderung des
einen Teiles dieser Charaktere geendet werden; und ein Stueck, das wenig
oder nichts mehr hat als sie, naehert sich nicht sowohl seinem Ziele,
sondern schlaeft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision,
die Handlung mag sich ihrem Ende naehern soviel als sie will, dennoch
gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, dass das Ende ebenso
lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das
ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz
und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hoeren,
dass der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so koennen wir uns das
uebrige alles an den Fingern abzaehlen; denn es ist der fuenfte Akt. Er wird
anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besaenftigen lassen,
wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, dass er nie wieder zu
einer solchen Komoedie den Stoff geben kann: desgleichen wird der
ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen;
kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich
sehen, der in dem fuenften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters
erraten kann! Die Intrige ist laengst zu Ende, aber das fortwaehrende Spiel
der Charaktere laesst es uns kaum bemerken, dass sie zu Ende ist. Keiner
veraendert sich; sondern jeder schleift nur dem andern ebensoviel ab, als
noetig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der
freigebige Micio wird durch das Manoever des geizigen Demea dahin
gebracht, dass er selbst das Uebermass in seinem Bezeigen erkennst,
und fragt:

Quod proluvium? quae istaec subita est largitas?

So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manoever des nachsichtsvollen
Micio endlich erkennet, dass es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und
zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco.--

Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser
Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenen Nachteile, von seinem
Muster entfernt hat.

Terenz sagt es selbst, dass er in die "Brueder" des Menanders eine Episode
aus einem Stuecke des Diphilus uebertragen, und so seine "Brueder"
zusammengesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entfuehrung der
Psaltria durch den Aeschinus: und das Stueck des Diphilus hiess: "Die
miteinander Sterbenden".

    Synapothnescontes Diphili comoedia est--
    In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit
    Meretricem in prima fabula--
    --eum hic locum sumpsit sibi
    In Adelphos--

Nach diesen beiden Umstaenden zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar
Verliebte aufgefuehret haben, die fest entschlossen waren, lieber
miteinander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiss, was
geschehen waere, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel
geschlagen und das Maedchen fuer den Liebhaber mit Gewalt entfuehrt haette?
Den Entschluss, miteinander zu sterben, hat Terenz in den blossen Entschluss
des Liebhabers, dem Maedchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie
zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdruecklich: Menander mori
illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note
des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heissen? Ganz gewiss; wie Peter
Nannius dieses schon angemerkt hat.[1] Denn der Dichter, wie wir gesehen,
sagt es ja selbst, dass er diese ganze Episode von der Entfuehrung nicht
aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stueck
des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel.

Indes muss freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten
Entfuehrung, in dem Stuecke des Menanders eine andere Intrige gewesen sein,
an der Aeschinus gleicherweise fuer den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch
er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende
ihre Verbindung so gluecklich beschleunigte. Worin diese eigentlich
bestanden, duerfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben,
worin sie will: so wird sie doch gewiss ebensowohl gleich vor dem Stuecke
vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafuer gebrauchte Entfuehrung. Denn
auch sie muss es gewesen sein, wovon man noch ueberall sprach, als Demea in
die Stadt kam; auch sie muss die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein,
worueber Demea gleich anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in
welchem sich beider Gemuetsarten so vortrefflich entwickeln.

    --Nam illa, quae antehac facta sunt
    Omitto: modo quid designavit?--
    Fores effregit, atque in aedes irruit
    Alienas--
    --clamant omnes, indignissime
    Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio,
    Dixere? in ore est omni populo--

Nun habe ich schon gesagt, dass unser Verfasser diese gewaltsame
Entfuehrung in eine kleine Schlaegerei verwandelt hat. Er mag auch seine
guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlaegerei selbst
nicht so spaet haette geschehen lassen. Auch sie sollte und muesste das sein,
was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe
sie geschieht, und man weiss gar nicht worueber? Er tritt auf und zankt,
ohne den geringsten Anlass. Er sagt zwar: "Alle Leute reden von der
schlechten Auffuehrung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuss in die
Stadt setzen, so hoere ich mein blaues Wunder." Aber was denn die Leute
eben itzt reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt
gehoert und worueber er ausdruecklich mit seinem Bruder zu zanken koemmt, das
hoeren wir nicht und koennen es auch aus dem Stuecke nicht erraten. Kurz,
unser Verfasser haette den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar
veraendern koennen, aber er haette ihn nicht versetzen muessen! Wenigstens,
wenn er ihn versetzen wollen, haette er den Demea im ersten Akte seine
Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach
muessen aeussern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen.--

Moechten wenigstens nur diejenigen Stuecke des Menanders auf uns gekommen
sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenderes
denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den
lateinischen Kopien sein wuerde.

Denn gewiss ist es, dass Terenz kein blosser sklavischer Uebersetzer gewesen.
Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stueckes voellig beibehalten,
hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstaerkung oder
Schwaechung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne
Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur schade, dass sich Donatus immer
so kurz und oefters so dunkel darueber ausdrueckt (weil zu seiner Zeit die
Stuecke des Menanders noch selbst in jedermanns Haenden waren), dass es
schwer wird, ueber den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Kuensteleien
etwas Zuverlaessiges zu sagen. In den "Bruedern" findet sich hiervon ein
sehr merkwuerdiges Exempel.


----Fussnote

[1] Sylloge v. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro
Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius
argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est.--Ita
cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur
adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino
adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex
eo commoriendi cum puella studio [Greek: synapothnaeskontes] nomen
fabulae inditum esse.--

----Fussnote




Hundertstes Stueck
Den 15. April 1768

Demea, wie schon angemerkt, will im fuenften Akte dem Micio eine Lektion
nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre
Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den
Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er
moechte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnuegen
zu haben, ihm am Ende sagen zu koennen: "Nun sieh, was du von deiner
Gutherzigkeit hast!" Solange der ehrliche Micio nur von seinem Vermoegen
dabei zusetzt, lassen wir uns den haemischen Spass ziemlich gefallen. Aber
nun koemmt es dem Verraeter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten
verlebten Muetterchen zu verkoppeln. Der blosse Einfall macht uns anfangs
zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, dass es Ernst damit wird, dass sich
Micio wirklich die Schlinge ueber den Kopf werfen laesst, der er mit einer
einzigen ernsthaften Wendung haette ausweichen koennen: wahrlich, so wissen
wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea,
oder auf den Micio.[1]

"Demea. Jawohl ist das mein Wille! Wir muessen von nun an mit diesen
guten Leuten nur eine Familie machen; wir muessen ihnen auf alle Weise
aufhelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden.--

Aeschinus. Das bitte ich, mein Vater.

Micio. Ich bin gar nicht dagegen.

Demea. Es schickt sich auch nicht anders fuer uns.--Denn erst ist sie
seiner Frauen Mutter--

Micio. Nun dann?

Demea. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar--

Micio. So hoere ich.

Demea. Bei Jahren ist sie auch.

Micio. Jawohl.

Demea. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist
niemand, der sich um sie bekuemmerte; sie ist ganz verlassen.

Micio. Was will der damit?

Demea. Die musst du billig heiraten, Bruder. Und du (zum Aeschinus)
musst ja machen, dass er es tut.

Micio. Ich? sie heiraten?

Demea. Du!

Micio. Ich?

Demea. Du! wie gesagt, du!

Micio. Du bist nicht klug.

Demea (zum Aeschinus). Nun zeige, was du kannst! Er muss!

Aeschinus. Mein Vater--

Micio. Wie?--Und du, Geck, kannst ihm noch folgen?

Demea. Du straeubest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders
sein.

Micio. Du schwaermst.

Aeschinus. Lass dich erbitten, mein Vater.

Micio. Rasest du? Geh!

Demea. Oh, so mach dem Sohne doch die Freude!

Micio. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fuenfundsechzigsten
Jahre noch heiraten? Und ein altes, verlebtes Weib heiraten? Das
koennet ihr mir zumuten?

Aeschinus. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen.

Micio. Versprochen gar?--Buerschchen, versprich fuer dich, was du
versprechen wil1st!

Demea. Frisch! Wenn es nun etwas Wichtigeres waere, warum er dich
baete?

Micio. Als ob etwas Wichtigeres sein koennte, wie das?

Demea. So willfahre ihm doch nur!

Aeschinus. Sei uns nicht zuwider!

Demea. Fort, versprich!

Micio. Wie lange soll das waehren?

Aeschinus. Bis du dich erbitten lassen.

Micio. Aber das heisst Gewalt brauchen.

Demea. Tu ein uebriges, guter Micio.

Micio. Nun dann;--ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt
finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft noch mit meiner
Lebensart reimet:--weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!"


"Nein", sagt die Kritik; "das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht
zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen
koennte, waere dieses, dass er die nachteiligen Folgen einer uebermaessigen
Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so
liebenswuerdig bewiesen, er hat so viel Verstand, so viele Kenntnis der
Welt gezeigt, dass diese seine letzte Ausschweifung wider alle
Wahrscheinlichkeit ist und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen
muss. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise
zu tadeln!"

Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide?--Der neue
englische Uebersetzer des Terenz, Colman, will den groessern Teil des Tadels
auf den Menander zurueckschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des
Donatus beweisen zu koennen, dass Terenz die Ungereimtheit seines Originals
in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt naemlich:
Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius euretikon.

"Es ist sehr sonderbar", erklaert sich Colman, "dass diese Anmerkung des
Donatus so gaenzlich von allen Kunstrichtern uebersehen worden, da sie, bei
unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit
verdienet. Unstreitig ist es, dass Terenz in dem letzten Akte dem Plane
des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den
Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch
vom Donatus, dass dieser Umstand ihm selber anstoessig gewesen, und er sein
Original dahin verbessert, dass er den Micio alle den Widerwillen gegen
eine solche Verbindung aeussern lassen, den er in dem Stuecke des Menanders,
wie es scheinet, nicht geaeussert hatte."

Es ist nicht unmoeglich, dass ein roemischer Dichter nicht einmal etwas
besser koenne gemacht haben, als ein griechischer. Aber der blossen
Moeglichkeit wegen moechte ich es gern in keinem Falle glauben.

Colman meinet also, die Worte des Donatus. Apud Menandrum senex de
nuptiis non gravatur, hiessen so viel als: beim Menander straeubet sich der
Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hiessen? Wenn
sie vielmehr zu uebersetzen waeren: beim Menander faellt man dem Alten mit
der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari wuerde zwar allerdings
jenes heissen: aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird
gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja
wohl das eigentliche Passivum und kann also meine Auslegung nicht allein
leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie.

Waere aber dieses: wie stuende es dann um den Terenz? Er haette sein
Original so wenig verbessert, dass er es vielmehr verschlimmert haette; er
haette die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die
Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden.
Terentius euretikon! Aber nur, dass es mit den Erfindungen der Nachahmer
nicht weit her ist!


----Fussnote

[1] Act. v. Sc. VIII.

    De. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus,
      Quam maxime unam facere nos hanc familiam;
      Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quaeso pater.
    Mi. Haud aliter censeo. De. Imo hercle ita nobis decet.
      Primum hujus uxoris est mater. Mi. Quid postea?
    De. Proba, et modesta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior.
    Mi. Scio. De. Parere jam diu haec per annos non potest:
      Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est. Mi. Quam hic rem
    agit?
    De. Hanc te aequum est ducere: et te operam, ut fiat, dare.
    Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi.
    Ineptis. De. Si tu sis homo,
      Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, asine,
    auscultas. De. Nihil agis,
      Fieri aliter non potest. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi
    pater.
    Mi. Insanis, aufer. De. Age, da veniam filio. Mi. Satin' sanus es?
      Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo
      Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi?
    Aes. Fac; promisi ego illis. Mi. Promisti autem? de te largitor
    puer.
    De. Age, quid, si quid te majus oret? Mi. Quasi non hoc sit maximum.
    De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non
    omittis?
    Aes. Non; nisi te exorem. Mi. Vis est haec quidem. De. Age
    prolixe Micio.
    Mi. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea
      Videtur: si vos tantopere istuc vultis. Fiat.--

----Fussnote




Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stueck
Den 19. April 1768

Hundert und erstes bis viertes?--Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang
dieser Blaetter nur aus hundert Stuecken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig
Wochen, und die Woche zwei Stueck, geben zwar allerdings hundertundviere.
Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen woechentlichen
Schriftsteller kein Feiertag zustatten kommen? Und in dem ganzen Jahre
nur viere: ist ja so wenig!

Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen,
ausdruecklich hundert und vier Stueck versprochen. Ich werde die guten
Leute schon nicht zu Luegnern machen muessen.

Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an?--Der Zeug ist schon
verschnitten: ich werde einflicken oder recken muessen.--Aber das klingt
so stuempermaessig. Mir faellt ein,--was mir gleich haette einfallen sollen:
die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines
Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will,
und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu
stehen.--So ein Nachspiel dann mag die Blaetter nun fuellen, die ich mir
ganz ersparen wollte.

Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel
einen Prolog haben duerfen, der sich mit einem Poeta, cum primum animum ad
scribendum appulit, anfinge?

Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen
Versuch zu machen, ob nicht fuer das deutsche Theater sich etwas mehr tun
lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Prinzipals geschehen
koenne: so weiss ich nicht, wie man auf mich dabei fiel und sich traeumen
liess, dass ich bei diesem Unternehmen wohl nuetzlich sein koennte?--Ich
stand eben am Markte und war muessig; niemand wollte mich dingen: ohne
Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wusste; bis gerade auf diese
Freunde!--Noch sind mir in meinem Leben alle Beschaeftigungen sehr
gleichgueltig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur
erboten; aber auch die geringfuegigste nicht von der Hand gewiesen, zu der
ich mich aus einer Art von Praedilektion erlesen zu sein glauben konnte.

Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters konkurrieren wolle? darauf war
also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es
koenne? und wie ich es am besten koenne?

Ich bin weder Schauspieler noch Dichter.

Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich fuer den letztern zu
erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen
Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern.
Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist
ein Maler. Die aeltesten von jenen Versuchen sind in den Jahren
hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern fuer Genie
haelt. Was in den neuerern Ertraegliches ist, davon bin ich mir sehr
bewusst, dass ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich
fuehle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich
emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen
Strahlen aufschiesst: ich muss alles durch Druckwerk und Roehren aus mir
heraufpressen. Ich wuerde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich
nicht einigermassen gelernt haette, fremde Schaetze bescheiden zu borgen, an
fremdem Feuer mich zu waermen und durch die Glaeser der Kunst mein Auge zu
staerken. Ich bin daher immer beschaemt oder verdruesslich geworden, wenn ich
zum Nachteil der Kritik etwas las oder hoerte. Sie soll das Genie
ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem
Genie sehr nahe koemmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaehschrift auf die
Kruecke unmoeglich erbauen kann.

Doch freilich; wie die Kruecke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte
zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Laeufer machen kann: so auch die
Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser
ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen wuerde: so kostet
es mich so viel Zeit, ich muss von andern Geschaeften so frei, von
unwillkuerlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muss meine ganze
Belesenheit so gegenwaertig haben, ich muss bei jedem Schritte alle
Bemerkungen, die ich jemals ueber Sitten und Leidenschaften gemacht, so
ruhig durchlaufen koennen; dass zu einem Arbeiter, der ein Theater mit
Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein
kann, als ich.

Was Goldoni fuer das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit
dreizehn neuen Stuecken bereicherte, das muss ich fuer das deutsche zu tun
folglich bleiben lassen. Ja, das wuerde ich bleiben lassen, wenn ich es
auch koennte. Ich bin misstrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la
Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch
schon nicht fuer Eingebungen des boesen Feindes, weder des eigentlichen
noch des allegorischen, halte:[1] so denke ich doch immer, dass die ersten
Gedanken die ersten sind, und dass das Beste auch nicht einmal in allen
Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine erste Gedanken sind gewiss kein
Haar besser, als jedermanns erste Gedanken: und mit jedermanns Gedanken
bleibt man am kluegsten zu Hause.

--Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen,
oder, wie es meinen ruestigem Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht,
selbst das an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee
zu diesem Blatte.

Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der
Griechen, d.I. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles
von den Stuecken der griechischen Buehne zu schreiben der Muehe wert
gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal ueber den
grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer
Hochachtung fuer das Solide in den Wissenschaften, einbildete, dass es dem
Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen
Didaskalien zu tun gewesen.[2]--Wahrhaftig, es waere auch eine ewige
Schande fuer den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der
Stuecke, mehr um ihren Einfluss auf die Sitten, mehr um die Bildung des
Geschmacks darin bekuemmert haette, als um die Olympiade, als um das Jahr
der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst
aufgefuehret worden!

Ich war schon willens, das Blatt selbst "Hamburgische Didaskalien" zu
nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir sehr
lieb, dass ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie
bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte
mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine
Didaskalie aussehen muesse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch
nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz waere, die eben dieser
Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust,
meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere
itztlebende Casauboni wuerden die Koepfe trefflich geschuettelt haben, wenn
sie gefunden haetten, wie selten ich irgendeines chronologischen Umstandes
gedenke, der kuenftig einmal, wenn Millionen anderer Buecher
verlorengegangen waeren, auf irgendein historisches Faktum einiges Licht
werfen koennte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs
des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der
Prinzen vom Gebluete, oder nicht der Prinzen vom Gebluete, dieses oder
jenes franzoesische Meisterstueck zuerst aufgefuehret worden: das wuerden sie
bei mir gesucht und zu ihrem grossen Erstaunen nicht gefunden haben.

Was sonst diese Blaetter werden sollten, darueber habe ich mich in der
Ankuendigung erklaeret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser
wissen. Nicht voellig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas
anderes; aber doch, denk' ich, nichts Schlechteres.

"Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters
als des Schauspielers hier tun wuerde."

Die letztere Haelfte bin ich sehr bald ueberdruessig geworden. Wir haben
Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche
Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muss
ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwaetze darueber hat
man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann
erkannte, mit Deutlichkeit und Praezision abgefasste Regeln, nach welchen
der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen
sei, deren wuesste ich kaum zwei oder drei. Daher koemmt es, dass alles
Raisonnement ueber diese Materie immer so schwankend und vieldeutig
scheinet, dass es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts
als eine glueckliche Routine hat, sich auf alle Weise dadurch beleidiget
findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zuviel
glauben: ja oefters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln
oder loben wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung schon laengst gemacht,
dass die Empfindlichkeit der Kuenstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem
Verhaeltnisse steigt, in welchem die Gewissheit und Deutlichkeit und Menge
der Grundsaetze ihrer Kuenste abnimmt.--So viel zu meiner, und selbst zu
deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen haette.

Aber die erstere Haelfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das
Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen,--und wie haette es
auch koennen? Die Schranken sind noch kaum geoeffnet, und man wollte die
Wettlaeufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen
alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das
Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem hoehnischen
Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum: und was hat denn das
Publikum getan, damit etwas geschehen koennte? Auch nichts; ja noch etwas
Schlimmers, als nichts. Nicht genug, dass es das Werk nicht allein nicht
befoerdert: es hat ihm nicht einmal seinen natuerlichen Lauf gelassen.
--Ueber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu
verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von
der politischen Verfassung, sondern bloss von dem sittlichen Charakter.
Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir
sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Auslaendischen, besonders
noch immer die untertaenigen Bewunderer der nie genug bewunderten
Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine koemmt, ist schoen,
reizend, allerliebst, goettlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehoer,
als dass wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit fuer
Ungezwungenheit, Frechheit fuer Grazie, Grimasse fuer Ausdruck, ein
Geklingle von Reimen fuer Poesie, Geheule fuer Musik uns einreden lassen,
als im geringsten an der Superioritaet zweifeln, welche dieses
liebenswuerdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst
sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schoen und erhaben
und anstaendig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile
erhalten hat.--

Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die naehere Anwendung
desselben koennte leicht so bitter werden, dass ich lieber davon abbreche.

Ich war also genoetiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des
dramatischen Dichters hier wirklich koennte getan haben, mich bei denen zu
verweilen, die sie vorlaeufig tun muesste, um sodann mit eins ihre Bahn mit
desto schnellern und groessern zu durchlaufen. Es waren die Schritte,
welche ein Irrender zurueckgehen muss, um wieder auf den rechten Weg zu
gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.

Seines Fleisses darf sich jedermann ruehmen: ich glaube, die dramatische
Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig,
die sie ausueben. Auch habe ich sie so weit ausgeuebet, als es noetig ist,
um mitsprechen zu duerfen: denn ich weiss wohl, so wie der Maler sich von
niemanden gern tadeln laesst, der den Pinsel ganz und gar nicht zu fuehren
weiss, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er
bewerkstelligen muss, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen
vermag, doch urteilen, ob es sich machen laesst. Ich verlange auch nur eine
Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmasst, der, wenn er nicht dem
oder jenem Auslaender nachplaudern gelernt haette, stummer sein wuerde, als
ein Fisch.

Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was
mich also versichert, dass mir dergleichen nicht begegnet sei, dass ich das
Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, dass ich es
vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzaehligen
Meisterstuecken der griechischen Buehne abstrahieret hat. Ich habe von dem
Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine
eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitlaeufigkeit nicht aeussern koennte.
Indes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen
erleuchteten Zeiten auch darueber ausgelacht werden!), dass ich sie fuer ein
ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer
sind. Ihre Grundsaetze sind ebenso wahr und gewiss, nur freilich nicht so
fasslich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt, als alles, was diese
enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragoedie, als ueber die uns
die Zeit so ziemlich alles daraus goennen wollen, unwidersprechlich zu
beweisen, dass sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt
entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu
entfernen.


----Fussnote

[1] An opinion John de la Casa, archbishop of Benevento, was afflicted
with--which opinion was,--that whenever a Christian was writing a book
(not for his private amusement, but) where his intent and purpose was
bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were
always the temptations of the evil one.--My father was hugely pleased
with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little
in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the
Shandy estate, to have been the broacher of it;--but as he could not have
the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with
the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil
etc. ("Life and Op. of Tristram Shandy", Vol. V. p. 74.)

[2] ("Animadv. in Athenaeum Libr." VI. cap. 7.) Didaskalia accipitur pro
eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula
aliqua fuerit acta.--Quantum critici hac diligentia veteres chronologos
adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia
praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi
animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem,
cum Didaskalias suas componeret.--

----Fussnote




Nach dieser Ueberzeugung nahm ich mir vor, einige der beruehmtesten Muster
der franzoesischen Buehne ausfuehrlich zu beurteilen. Denn diese Buehne soll
ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man
uns Deutsche bereden wollen, dass sie nur durch diese Regeln die Stufe der
Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Buehnen aller neuern
Voelker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest
geglaubt, dass bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel
gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.

Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefuehl bestehen. Dieses
ward, gluecklicherweise, durch einige englische Stuecke aus seinem
Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, dass die
Tragoedie noch einer ganz andern Wirkung faehig sei, als ihr Corneille und
Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem ploetzlichen
Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes
zurueck. Den englischen Stuecken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln,
mit welchen uns die franzoesischen so bekannt gemacht hatten. Was schloss
man daraus? Dieses: dass sich auch ohne diese Regeln der Zweck der
Tragoedie erreichen lasse; ja, dass diese Regeln wohl gar schuld sein
koennten, wenn man ihn weniger erreiche.

Und das haette noch hingehen moegen!--Aber mit diesen Regeln fing man an,
alle Regeln zu vermengen und es ueberhaupt fuer Pedanterei zu erklaeren, dem
Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun muesse. Kurz, wir
waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig
zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, dass jeder die
Kunst aufs neue fuer sich erfinden solle.

Ich waere eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen,
wenn ich glauben duerfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese
Gaerung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich
mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen,
als den Wahn von der Regelmaessigkeit der franzoesischen Buehne zu
bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr
verkannt, als die Franzosen. Einige beilaeufige Bemerkungen, die sie ueber
die schicklichste aeussere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles
fanden, haben sie fuer das Wesentliche angenommen und das Wesentliche
durch allerlei Einschraenkungen und Deutungen dafuer so entkraeftet, dass
notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit
unter der hoechsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln
kalkuliert hatte.

Ich wage es, hier eine Aeusserung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofuer
man will!--Man nenne mir das Stueck des grossen Corneille, welches ich
nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?--

Doch nein; ich wollte nicht gern, dass man diese Aeusserung fuer Prahlerei
nehmen koenne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es
zuverlaessig besser machen,--und doch lange kein Corneille sein,--und doch
lange noch kein Meisterstueck gemacht haben. Ich werde es zuverlaessig
besser machen;--und mir doch wenig darauf einbilden duerfen. Ich werde
nichts getan haben, als was jeder tun kann,--der so fest an den
Aristoteles glaubet, wie ich.

Eine Tonne, fuer unsere kritische Walfische! Ich freue mich im voraus, wie
trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein fuer sie
ausgeworfen; besonders fuer den kleinen Walfisch in dem Salzwasser
zu Halle!--

Und mit diesem Uebergange,--sinnreicher muss er nicht sein,--mag denn der
Ton des ernsthaftem Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu
ich diese letztern Blaetter bestimmte. Wer haette mich auch sonst erinnern
koennen, dass es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben
der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Gemeimerat
Klotz den Inhalt desselben bereits angekuendiget hat?[1]--

Aber was bekoemmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jaeckchen, dass er
so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, dass ich
ihm etwas dafuer versprochen haette. Er mag wohl bloss zu seinem Vergnuegen
trommeln; und der Himmel weiss, wo er alles her hat, was die liebe Jugend
auf den Gassen, die ihm mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der
ersten Hand von ihm zu erfahren bekommt. Er muss einen Wahrsagergeist
haben, trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer haette es ihm
sonst sagen koennen, dass der Verfasser der Dramaturgie auch mit der
Verleger derselben ist? Wer haette ihm sonst die geheimen Ursachen
entdecken koennen, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme
beigelegt und das Probestueck einer andern so erhoben habe? Ich war
freilich damals in beide verliebt: aber ich haette doch nimmermehr
geglaubt, dass es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen koennen es
ihm auch unmoeglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem
Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern,
wenn unsere hochgebietende Herren, die Journalisten und
Zeitungsschreiber, mit solchen Kaelbern pfluegen wollen! Wenn sie zu ihren
Beurteilungen, ausser ihrer gewoehnlichen Gelehrsamkeit und
Scharfsinnigkeit, sich aus noch solcher Stueckchen aus der geheimsten
Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen?

"Ich wuerde", schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolds, "auch
den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen koennen, wenn nicht die
Abhandlung wider die Buchhaendler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als
dass er das Werk bald beschliessen koennte."

Man muss auch einen Kobold nicht zum Luegner machen wollen, wenn er es
gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das boese Ding dem
guten Stl. hier eingeblasen. Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich
wollte meinen Lesern erzaehlen, warum dieses Werk so oft unterbrochen
worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Muehe, so viel davon
fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich ueber
den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen,
es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte ueber die nachteiligen Folgen
des Nachdrucks ueberhaupt einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das
einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. Aber, das waere ja sonach
keine Abhandlung wider die Buchhaendler geworden? Sondern vielmehr, fuer
sie: wenigstens, der rechtschaffenen Maenner unter ihnen; und es gibt
deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolde also nicht immer so
ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiss des boesen Feindes von der Zukunft
noch etwa weiss, das weiss es nur halb.--

Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich
nicht weise duenke. Denn eben dieser Mund sagt: Antworte dem Narren nicht
nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist:
antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, dass die Sache selbst darueber
vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden wuerdest. Und so wende
ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen
ernstlich um Vergebung bitte.

Es ist die lautere Wahrheit, dass der Nachdruck, durch den man diese
Blaetter gemeinnuetziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich
ihre Ausgabe bisher so verzoegert hat, und warum sie nun gaenzlich
liegenbleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierueber sage, erlaube man mir, den
Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die
Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen
ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts
dabei, dass diese Hoffnung fehlschlaegt. Auch bin ich gar nicht ungehalten
darueber, dass ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an
den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge ebenso gern
wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wuenschen ohnedem, dass
ich sie nie angelegt haette; und es wird sich leicht einer unter ihnen
finden, der das Tageregister einer misslungenen Unternehmung bis zu Ende
fuehret und mir zeiget, was fuer einen periodischen Nutzen ich einem
solchen periodischen Blatte haette erteilen koennen und sollen.

Denn ich will und kann es nicht bergen, dass diese letzten Bogen fast ein
Jahr spaeter niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der suesse
Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gruenden, ist schon wieder
verschwunden: und soviel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, duerfte er
auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spaetesten in Erfuellung
gehen wird.

Aber auch das kann mir sehr gleichgueltig sein!--Ich moechte ueberhaupt
nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es fuer ein grosses Unglueck
hielte, dass Bemuehungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen.
Sie koennen von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil
daran genommen. Doch wie, wenn Bemuehungen von weiterm Belange durch die
naemlichen Undienste scheitern koennten, durch welche meine gescheitert
sind? Die Welt verliert nichts, dass ich, anstatt fuenf und sechs Baende
Dramaturgie, nur zwei an das Licht der Welt bringen kann. Aber sie koennte
verlieren, wenn einmal ein nuetzlicheres Werk eines bessern
Schriftstellers ebenso ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gaebe,
die einen ausdruecklichen Plan darnach machten, dass auch das nuetzlichste,
unter aehnlichen Umstaenden unternommene Werk verungluecken sollte
und muesste.

In diesem Betracht stehe ich nicht an und halte es fuer meine
Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplott zu denunzieren. Eben
diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken
erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und
geschrieben, bei den Buchhaendlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort
so lautet:

Nachricht an die Herren Buchhaendler

Wir haben uns mit Beihilfe verschiedener Herren Buchhaendler entschlossen,
kuenftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften
in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die
neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen
mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen
nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise allezeit um die Haelfte zu
verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhaendler,
welche wohl eingesehen, dass eine solche unbefugte Stoerung fuer alle
Buchhaendler zum groessten Nachteil gereichen muesse, haben sich
entschlossen, zu Unterstuetzung dieses Vorhabens eine Kasse aufzurichten,
und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen
vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu
unterstuetzen. Von den uebrigen gutgesinnten Herren Buchhaendlern erwarten
wir demnach zur Vermehrung der Kasse desgleichen und ersuchen, auch
unsern Verlag bestens zu rekommandieren. Was den Druck und die Schoenheit
des Papiers betrifft, so werden wir der ersten nichts nachgeben; uebrigens
aber uns bemuehen, auf die unzaehlige Menge der Schleichhaendler genau
achtzugeben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu hoecken und zu
stoeren anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende
Herren Mitkollegen, dass wir keinem rechtmaessigen Buchhaendler ein Blatt
nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, sobald
jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht
allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufuegen, sondern auch
nicht weniger denenjenigen Buchhaendlern, welche ihren Nachdruck zu
verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren
Buchhaendler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer
Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhaendler-
Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich loszumachen oder zu
erwarten, ihren besten Verlag fuer die Haelfte des Preises oder noch weit
geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhaendlern von unsre
Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir
nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Verguetung
widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, dass sich auch
die uebrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihilfe gutgesinnter
Herren Buchhaendler in kurzer Zeit legen werden.

Wenn die Umstaende erlauben, so kommen wir alle Ostermessen selbst nach
Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir
empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen
Mitkollegen,

J. Dodsley und Compagnie.

Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern
Verbindung der Buchhaendler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu
steuern, so wuerde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen.
Aber wie hat es vernuenftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen koennen,
diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein paar armen
Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Strassenraeuber werden?
"Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt." Das moechte sein; wenn
es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu
raechen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind
die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren
wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das
Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein?
Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmaelern, aus seinem
eigentuemlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er moeglicherweise
daraus ziehen kann? "Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen
Eigenschaften in die Buchhandlung." Was sind das fuer erforderliche
Eigenschaften? Dass man fuenf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden
gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf
sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine
Innung? Welches sind seine ausschliessenden Privilegien? Wer hat sie
ihm erteilt?

Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so
bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstuemmeln, sondern auch
das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Dass
sie ihre Verteidigung beifuegen--wenn anders eine Verteidigung fuer sie
moeglich ist--werde ich ihnen nicht verdenken. Sie moegen sie auch in einem
Tone abfassen oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen
seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen:
selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei
Histoerchen und Anekdoetchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache.
Nur erklaere ich im voraus die geringste Insinuation, dass es gekraenkter
Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, fuer eine Luege.
Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen und werde es
schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, mehr als
einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhaendlern, dessen Vermittelung
ich ein solches Geschaeft gern ueberlasse. Aber keiner von ihnen muss mir es
auch veruebeln, dass ich meine Verachtung und meinen Hass gegen Leute
bezeigen in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich
nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen
coup de main fuer sich: Dodsley und Compagnie aber wollen
bandenweise rauben.

Das beste ist, dass ihre Einladung wohl von den wenigsten duerfte angenommen
werden. Sonst waere es Zeit, dass die Gelehrten mit Ernst darauf daechten,
das bekannte Leibnizische Projekt auszufuehren.

Ende des zweiten Bandes


----Fussnote

[1] Neuntes Stueck, S. 56.

----Fussnote




Verzeichnis der Theaterstuecke

geordnet nach Autorennamen

John Banks: Der Graf von Essex
Augustin David de Brueys: Der Advokat Patelin
Giovanni Maria Cecchi: Die Mitgift
Chevalier de Cerou: Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter
Pierre Corneille: Rodogune
Thomas Corneille: Der Graf von Essex
Johann Friedrich Cronegk: Olint und Sophronia
Philippe Nericault Destouches: Das Gespenst mit der Trommel
Philippe Nericault Destouches: Das unvermutete Hindernis
Philippe Nericault Destouches: Der poetische Dorfjunker
Philippe Nericault Destouches: Der verborgene Schatz
Philippe Nericault Destouches: Der verheiratete Philosoph
Denis Diderot: Der Hausvater
Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy: Zelmire
Frederik Duim: Zaire
Charles Simon Favart: Soliman der Zweite
Christian Fuerchtegott Gellert: Die kranke Frau
Luise Adelgunde Gottsched: Die Hausfranzoesin
Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny: Cenie
Jean Baptiste Louis Gresset: Sidney
Franz Heufeld: Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe
Theodor Gottlieb von Hippel: Der Mann nach der Uhr
Johann Christian Krueger: Herzog Michel
Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Die Muetterschule
Pierre Claude Nivelle de la Chaussee: Melanide
Thomas l'Affichard: Ist er von Familie?
Marc Antoine le Grand: Der sehende Blinde
Marc Antoine le Grand: Der Triumph der vergangenen Zeit
Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist
Gotthold Ephraim Lessing: Der Schatz
Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson
Johann Friedrich Loewen: Die neue Agnese
Johann Friedrich Loewen: Das Raetsel
Francesco Scipione Maffei: Merope
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der Bauer mit der Erbschaft
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der unvermutete Ausgang
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Die falschen Vertraulichkeiten
Moliere: Die Frauenschule
Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Schatz
Philemon von Syrakus: Der Schatz
Plautus: Trinummus
Philippe Quinault: Die kokette Mutter
Jean Francois Regnard: Demokrit
Jean Francois Regnard: Der Spieler
Jean Francois Regnard: Der Zerstreute
Karl Franz Romanus: Die Brueder
Germain Francois Poullain de Saint-Foix: Der Finanzpachter
Johann Elias Schlegel: Der Triumph der guten Frauen
Johann Elias Schlegel: Die stumme Schoenheit
Voltaire: Das Kaffeehaus
Voltaire: Die Frau, die recht hat
Voltaire: Merope
Voltaire: Nanine
Voltaire: Semiramis
Voltaire: Zaire
Christian Felix Weisse: Amalia
Christian Felix Weisse: Richard der Dritte





Verzeichnis der Theaterstuecke

geordnet nach Titeln


Amalia (Christian Felix Weisse)
Cenie (Francoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny)
Das Gespenst mit der Trommel (Philippe Nericault Destouches)
Das Kaffeehaus (Voltaire)
Das Raetsel (Johann Friedrich Loewen)
Das unvermutete Hindernis (Philippe Nericault Destouches)
Demokrit (Jean Francois Regnard)
Der Advokat Patelin (Augustin David de Brueys)
Der Bauer mit der Erbschaft (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der Finanzpachter (Germain Francois Poullain de Saint-Foix)
Der Freigeist (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Graf von Essex (John Banks)
Der Graf von Essex (Thomas Corneille)
Der Hausvater (Denis Diderot)
Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter (Chevalier de Cerou)
Der Mann nach der Uhr (Theodor Gottlieb von Hippel)
Der poetische Dorfjunker (Philippe Nericault Destouches)
Der Schatz (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Schatz (Gottlieb Konrad Pfeffel)
Der Schatz (Philemon von Syrakus)
Der sehende Blinde (Marc Antoine le Grand)
Der Spieler (Jean Francois Regnard)
Der Triumph der guten Frauen (Johann Elias Schlegel)
Der Triumph der vergangenen Zeit (Marc Antoine le Grand)
Der unvermutete Ausgang (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der verborgene Schatz (Philippe Nericault Destouches)
Der verheiratete Philosoph (Philippe Nericault Destouches)
Der Zerstreute (Jean Francois Regnard)
Die Brueder (Karl Franz Romanus)
Die falschen Vertraulichkeiten (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Die Frau, die recht hat (Voltaire)
Die Frauenschule (Moliere)
Die Hausfranzoesin (Luise Adelgunde Gottsched)
Die kokette Mutter (Philippe Quinault)
Die kranke Frau (Christian Fuerchtegott Gellert)
Die Mitgift (Giovanni Maria Cecchi)
Die Muetterschule (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee)
Die neue Agnese (Johann Friedrich Loewen)
Die stumme Schoenheit (Johann Elias Schlegel)
Herzog Michel (Johann Christian Krueger)
Ist er von Familie? (Thomas l'Affichard)
Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe (Franz Heufeld)
Melanide (Pierre Claude Nivelle de la Chaussee)
Merope (Francesco Scipione Maffei)
Merope (Voltaire)
Miss Sara Sampson (Gotthold Ephraim Lessing)
Nanine (Voltaire)
Olint und Sophronia (Johann Friedrich Cronegk)
Richard der Dritte (Christian Felix Weisse)
Rodogune (Pierre Corneille)
Semiramis (Voltaire)
Sidney (Jean Baptiste Louis Gresset)
Soliman der Zweite (Charles Simon Favart)
Trinummus (Plautus)
Zaire (Frederik Duim)
Zaire (Voltaire)
Zelmire (Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy)


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Hamburgische Dramaturgie, von
Gotthold Ephraim Lessing.













End of the Project Gutenberg EBook of Hamburgische Dramaturgie
by Gotthold Ephraim Lessing

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HAMBURGISCHE DRAMATURGIE ***

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providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
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or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

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