Die Leute von Seldwyla — Band 1

By Gottfried Keller

The Project Gutenberg EBook of Die Leute von Seldwyla, Vol. 1, by Gottfried Keller

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Title: Die Leute von Seldwyla, Vol. 1

Author: Gottfried Keller

Release Date: October, 2004  [EBook #6696]
[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
[This file was first posted on January 16, 2003]

Edition: 10

Language: German


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE LEUTE VON SELDWYLA, VOL. 1 ***




Delphine Lettau and the Online Distributed Proofreading Team.



GOTTFRIED KELLER

DIE LEUTE VON SELDWYLA

Erster Band




INHALT

Einleitung von Felix Rosenberg

Pankraz, der Schmoller

Romeo und Julia auf dem Dorfe

Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

Die drei gerechten Kammacher

Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen




EINLEITUNG

Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen
Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen
irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten
Ringmauern und Türmen, wie vor dreihundert Jahren, und ist also immer
das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird
durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine
gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum
deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie
gelegen mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen
sind, so daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen.
Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte
Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen
sich hinziehen, welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist
das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Gemeinde
reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu
Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten
eigentlich leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten
die Gemütlichkeit für ihre besondere Kunst und, wenn sie irgendwo
hinkommen, wo man anderes Holz brennt, so kritisieren sie zuerst die
dortige Gemütlichkeit und meinen, ihnen tue es doch niemand zuvor in
dieser Hantierung.

Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von
etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren, und diese sind es,
welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von
Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters üben sie das Geschäft,
das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, d. h. sie
lassen, solange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen
ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehres,
der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der
Herren von Seldwyla bildet und mit einer ausgezeichneten
Gegenseitigkeit und Verständnisinnigkeit gewahrt wird; aber
wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend. Denn sowie
einer die Grenze der besagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer
anderer Städtlein etwa anfangen, erst recht in sich zu gehen und zu
erstarken, so ist er in Seldwyla fertig; er muß fallen lassen und hält
sich, wenn er ein ganz gewöhnlicher Seldwyler ist, ferner am Orte auf,
als ein Entkräfteter und aus dem Paradies des Kredites Verstoßener,
oder wenn noch etwas in ihm steckt, das noch nicht verbraucht ist, so
geht er in fremde Kriegsdienste und lernt dort für einen fremden
Tyrannen, was er für sich selbst zu üben verschmäht hat, sich
einzuknöpfen und steif aufrechtzuhalten. Diese kehren als tüchtige
Kriegsmänner nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu
den besten Exerziermeistern der Schweiz, welche die junge Mannschaft
zu erziehen wissen, daß es eine Lust ist. Andere ziehen noch
anderwärts auf Abenteuer aus gegen das vierzigste Jahr hin, und in den
verschiedensten Weltteilen kann man Seldwyler treffen, die sich alle
dadurch auszeichnen, daß sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen,
in Australien, in Kalifornien, in Texas, wie in Paris oder
Konstantinopel.

Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann
nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tausend
kleinen Dingen, die man eigentlich nicht gelernt, für den täglichen
Kreuzer, und die alternden verarmten Seldwyler mit ihren Weibern und
Kindern sind die emsigsten Leutchen von der Welt, nachdem sie das
erlernte Handwerk aufgegeben, und es ist rührend anzusehen, wie tätig
sie dahinter her sind, sich die Mittelchen zu einem guten Stückchen
Fleisch von ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle und
die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Teil, woraus die große
Armut unterstützt und genährt wird, und so steht das alte Städtchen in
unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer sind sie im
ganzen zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele
trübt, wenn etwa eine allzu hartnäckige Geldklemme über der Stadt
weilt, so vertreiben sie sich die Zeit und ermuntern sich durch ihre
große politische Beweglichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der
Seldwyler ist. Sie sind nämlich leidenschaftliche Parteileute,
Verfassungsrevisoren und Antragsteller, und wenn sie eine recht
verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großratsmitglied
stellen lassen, oder wenn der Ruf nach Verfassungsänderung in Seldwyla
ausgeht, so weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld
zirkuliert. Dabei lieben sie die Abwechselung der Meinungen und
Grundsätze und sind stets den Tag darauf, nachdem eine Regierung
gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe. Ist es ein radikales
Regiment, so scharen sie sich, um es zu ärgern, um den konservativen
frömmlichen Stadtpfarrer, den sie noch gestern gehänselt, und machen
ihm den Hof, indem sie sich mit verstellter Begeisterung in seine
Kirche drängen, seine Predigten preisen und mit großem Geräusch seine
gedruckten Traktätchen und Berichte der Baseler Missionsgesellschaft
umherbieten, natürlich ohne ihm einen Pfennig beizusteuern. Ist aber
ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs konservativ aussieht,
stracks drängen sie sich um die Schullehrer der Stadt und der Pfarrer
hat genug an den Glaser zu zahlen für eingeworfene Scheiben. Besteht
hingegen die Regierung aus liberalen Juristen, die viel auf die Form
halten, und aus häcklichen Geldmännern, so laufen sie flugs dem
nächstwohnenden Sozialisten zu und ärgern die Regierung, indem sie
denselben in den Rat wählen mit dem Feldgeschrei: Es sei nun genug des
politischen Formenwesens und die materiellen Interessen seien es,
welche allein das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen sie das Veto
haben und sogar die unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter
Volksversammlung, wozu freilich die Seldwyler am meisten Zeit hätten,
morgen stellen sie sich übermüdet und blasiert in öffentlichen Dingen
und lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer, die vor dreißig
Jahren falliert und sich seither stillschweigend rehabilitiert haben,
die Wahlen besorgen; alsdann sehen sie behaglich hinter den
Wirtshausfenstern hervor die Stillständer in die Kirche schleichen und
lachen sich in die Faust, wie jener Knabe, welcher sagte: Es geschieht
meinem Vater schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum
kauft er mir keine Handschuhe! Gestern schwärmten sie allein für das
eidgenössische Bundesleben und waren höchlich empört, daß man Anno
achtundvierzig nicht gänzliche Einheit hergestellt habe; heute sind
sie ganz versessen auf die Kantonalsouveränität und haben nicht mehr
in den Nationalrat gewählt.

Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Motionen der Landesmehrheit
störend und unbequem wird, so schickt ihnen die Regierung gewöhnlich
als Beruhigungsmittel eine Untersuchungskommission auf den Hals,
welche die Verwaltung des Seldwyler Gemeindegutes regulieren soll;
dann haben sie vollauf mit sich selbst zu tun und die Gefahr ist
abgeleitet.

Alles dies macht ihnen großen Spaß, der nur überboten wird, wenn sie
allherbstlich ihren jungen Wein trinken, den gärenden Most, den sie
Sauser nennen; wenn er gut ist, so ist man des Lebens nicht sicher
unter ihnen, und sie machen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet
nach jungem Wein und die Seldwyler taugen dann auch gar nichts. Je
weniger aber ein Seldwyler zu Hause was taugt, um so besser hält er
sich sonderbarerweise, wenn er ausrückt, und ob sie einzeln oder in
Kompanie ausziehen, wie z.B. in früheren Kriegen, so haben sie sich
doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant und Geschäftsmann hat
schon mancher sich rüstig umgetan, wenn er nur erst aus dem warmen
sonnigen Tale herauskam, wo er nicht gedieh.

In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an allerhand
seltsamen Geschichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müßiggang
aller Laster Anfang ist. Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem
beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in
diesem Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare Abfällsel, die so
zwischendurch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch
gerade nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten.

*       *       *       *       *




PANKRAZ, DER SCHMOLLER

Auf einem stillen Seitenplätzchen, nahe an der Stadtmauer, lebte die
Witwe eines Seldwylers, der schon lange fertig geworden und unter dem
Boden lag. Dieser war keiner von den schlimmsten gewesen, vielmehr
fühlte er eine so starke Sehnsucht, ein ordentlicher und fester Mann
zu sein, daß ihn der herrschende Ton, dem er als junger Mensch nicht
entgehen konnte, angriff; und als seine Glanzzeit vorübergegangen und
er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatz der Taten, da
erschien ihm alles wie ein wüster Traum und wie ein Betrug um das
Leben, und er bekam davon die Auszehrung und starb unverweilt.

Er hinterließ seiner Witwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen
Kartoffelacker vor dem Tore und zwei Kinder, einen Sohn und eine
Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente sie Milch und Butter, um die
Kartoffeln zu kochen, die sie pflanzte, und ein kleiner Witwengehalt,
den der Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal
einige Wochen über den Termin hinaus in seinem Geschäfte benutzt,
reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen anderen kleinen
Ausgaben hin. Dieses Geld wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem
die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten Wochen
zu früh gänzlich schadhaft waren und der Buttertopf überall seinen
Grund durchblicken ließ. Dieses Durchblicken des grünen Topfbodens war
eine so regelmäßige jährliche Erscheinung, wie irgendeine am Himmel,
und verwandelte ebenso regelmäßig eine Zeitlang die kühle, kümmerlich-
stille Zufriedenheit der Familie in eine wirkliche Unzufriedenheit.
Die Kinder plagten die Mutter um besseres und reichlicheres Essen;
denn sie hielten sie in ihrem Unverstande für mächtig genug dazu, weil
sie ihr ein und alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige
Oberbehörde war. Die Mutter war unzufrieden, daß die Kinder nicht
entweder mehr Verstand, oder mehr zu essen, oder beides zusammen
erhielten.

Besagte Kinder aber zeigten verschiedene Eigenschaften. Der Sohn war
ein unansehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und
ernsthaften Gesichtszügen, welcher des Morgens lang im Bette lag, dann
ein wenig in einem zerrissenen Geschichts- und Geographiebuche las,
und alle Abend, Sommers wie Winters, auf den Berg lief, um dem
Sonnenuntergang beizuwohnen, welches die einzige glänzende und
pomphafte Begebenheit war, welche sich für ihn zutrug. Sie schien für
ihn etwa das zu sein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börse;
wenigstens kam er mit ebenso abwechselnder Stimmung von diesem Vorgang
zurück, und wenn es recht rotes und gelbes Gewölk gegeben, welches
gleich großen Schlachtheeren in Blut und Feuer gestanden und
majestätisch manövriert hatte, so war er eigentlich vergnügt zu
nennen.

Dann und wann, jedoch nur selten, beschrieb er ein Blatt Papier mit
seltsamen Listen und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bündel
legte, das durch ein Endchen alte Goldtresse zusammengehalten wurde.
In diesem Bündelchen stak hauptsächlich ein kleines Heft, aus einem
zusammengefalteten Bogen Goldpapier gefertigt, dessen weiße Rückseiten
mit allerlei Linien, Figuren und aufgereihten Punkten, dazwischen
Rauchwolken und fliegende Bomben, gefüllt und beschrieben waren. Dies
Büchlein betrachtete er oft mit großer Befriedigung und brachte neue
Zeichnungen darin an, meistens um die Zeit, wenn das Kartoffelfeld in
voller Blüte stand. Er lag dann im blühenden Kraut unter dem blauen
Himmel, und wenn er eine weiße beschriebene Seite betrachtet hatte, so
schaute er dreimal so lange in das gegenüberstehende glänzende
Goldblatt, in welchem sich die Sonne brach. Im übrigen war es ein
eigensinniger und zum Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte
und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte.

Seine Schwester war zwölf Jahre alt und ein bildschönes Kind mit
langem und dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der
allerweißesten Hautfarbe. Dies Mädchen war sanft und still, ließ sich
vieles gefallen und murrte weit seltener als sein Bruder. Es besaß
eine helle Stimme und sang gleich einer Nachtigall; doch obgleich es
mit alle diesem freundlicher und lieblicher war, als der Knabe, so gab
die Mutter doch diesem scheinbar den Vorzug und begünstigte ihn in
seinem Wesen, weil sie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts lernen und
es ihm wahrscheinlicherweise einmal recht schlecht ergehen konnte,
während nach ihrer Ansicht das Mädchen nicht viel brauchte und schon
deshalb unterkommen würde.

Dieses mußte daher unaufhörlich spinnen, damit das Söhnlein desto mehr
zu essen bekäme und recht mit Muße sein einstiges Unheil erwarten
könne. Der Junge nahm dies ohne weiteres an und gebärdete sich wie ein
kleiner Indianer, der die Weiber arbeiten läßt, und auch seine
Schwester empfand hiervon keinen Verdruß und glaubte, das müsse so
sein.

Die einzige Entschädigung und Rache nahm sie sich durch eine
allerdings arge Unzukömmlichkeit, welche sie sich beim Essen mit List
oder Gewalt immer wieder erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden
Mittag einen dicken Kartoffelbrei, über welchen sie eine fette Milch
oder eine Brühe von schöner brauner Butter goß. Diesen Kartoffelbrei
aßen sie alle zusammen aus der Schüssel mit ihren Blechlöffeln, indem
jeder vor sich eine Vertiefung in das feste Kartoffelgebirge
heineingrub. Das Söhnlein, welches bei aller Seltsamkeit in
Eßangelegenheiten einen strengen Sinn für militärische Regelmäßigkeit
beurkundete und streng daraufhielt, daß jeder nicht mehr noch weniger
nahm, als was ihm zukomme, sah stets darauf, daß die Milch oder die
gelbe Butter, welche am Rande der Schüssel umherfloß, gleichmäßig in
die abgeteilten Gruben laufe; das Schwesterchen hingegen, welches viel
harmloser war, suchte, sobald ihre Quellen versiegt waren, durch
allerhand künstliche Stollen und Abzugsgräben die wohlschmeckenden
Bächlein auf ihre Seite zu leiten, und wie sehr sich auch der Bruder
dem widersetzte und ebenso künstliche Dämme aufbaute und überall
verstopfte, wo sich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, so wußte sie
doch immer wieder eine geheime Ader des Breies zu eröffnen oder langte
kurzweg in offenem Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit lachenden
Augen in des Bruders gefüllte Grube. Alsdann warf er den Löffel weg,
lamentierte und schmollte, bis die gute Mutter die Schüssel zur Seite
neigte und ihre eigene Brühe voll in das Labyrinth der Kanäle und
Dämme ihrer Kinder strömen ließ. So lebte die kleine Familie einen Tag
wie den andern, und indem dies immer so blieb, während doch die Kinder
sich auswuchsen, ohne daß sich eine günstige Gelegenheit zeigte, die
Welt zu erfassen und irgend etwas zu werden, fühlten sich alle immer
unbehaglicher und kümmerlicher in ihrem Zusammensein. Pankraz, der
Sohn, tat und lernte fortwährend nichts, als eine sehr ausgebildete
und künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine
Schwester und sich selbst quälte. Es ward dies eine ordentliche und
interessante Beschäftigung für ihn, bei welcher er die müßigen
Seelenkräfte fleißig übte im Erfinden von hundert kleinen häuslichen
Trauerspielen, die er veranlaßte und in welchen er behende und
meisterlich den steten Unrechtleider zu spielen wußte. Estherchen, die
Schwester, wurde dadurch zu reichlichem Weinen gebracht, durch welches
aber die Sonne ihrer Heiterkeit schnell wieder hervorstrahlte. Diese
Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann den Pankraz so, daß er
immer längere Zeiträume hindurch schmollte und aus selbstgeschaffenem
Ärger selbst heimlich weinte.

Doch nahm er bei dieser Lebensart merklich zu an Gesundheit und
Kräften, und als er diese in seinen Gliedern anwachsen fühlte,
erweiterte er seinen Wirkungskreis und strich mit einer tüchtigen
Baumwurzel oder einem Besenstiel in der Hand durch Feld und Wald, um
zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht auftreiben und
erleiden könne. Sobald sich ein solches zur Not dargestellt und
entwickelt, prügelte er unverweilt seine Widersacher auf das
jämmerlichste durch, und er erwarb sich und bewies in dieser seltsamen
Tätigkeit eine solche Gewandtheit, Energie und feine Taktik, sowohl im
Ausspüren und Aufbringen des Feindes, als im Kampfe, daß er sowohl
einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge als ganze Trupps
derselben entweder besiegte, oder wenigstens einen ungestraften
Rückzug ausführte.

War er von einem solchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, so
schmeckte ihm das Essen doppelt gut und die Seinigen erfreuten sich
dann einer heitern Stimmung. Eines Tages aber war es ihm doch
begegnet, daß er, statt welche auszuteilen, beträchtliche Schläge
selbst geerntet hatte, und als er voll Scham, Verdruß und Wut nach
Hause kam, hatte Estherchen, welche den ganzen Tag gesponnen, dem
Gelüste nicht widerstehen können und sich noch einmal über das für
Pankraz aufgehobene Essen hergemacht und davon einen Teil gegessen,
und zwar, wie es ihm vorkam, den besten. Traurig und wehmütig, mit
kaum verhaltenen Tränen in den Augen, besah er das unansehnliche,
kaltgewordene Restchen, während die schlimme Schwester, welche schon
wieder am Spinnrädchen saß, unmäßig lachte. Das war zu viel und nun
mußte etwas Gründliches geschehen. Ohne zu essen, ging Pankraz hungrig
in seine Kammer, und als ihn am Morgen seine Mutter wecken wollte, daß
er doch zum Frühstück käme, war er verschwunden und nirgends zu
finden. Der Tag verging, ohne daß er kam, und ebenso der zweite und
dritte Tag. Die Mutter und Estherchen gerieten in große Angst und Not;
sie sahen wohl, daß er vorsätzlich davongegangen, indem er seine
Habseligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klagten unaufhörlich, wenn
alle Bemühungen fruchtlos blieben, eine Spur von ihm zu entdecken, und
als nach Verlauf eines halben Jahres Pankrazius verschwunden war und
blieb, ergaben sie sich mit trauriger Seele in ihr Schicksal, das
ihnen nun doppelt einsam und arm erschien.

Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß,
wo diejenigen, die man liebt, jetzt stehn und gehn, wenn eine solche
Stille darüber durch die Welt herrscht, hab allnirgends auch nur der
leiseste Hauch von ihrem Namen ergeht, und man weiß doch, sie sind da
und atmen irgendwo.

So erging es der Mutter und dem Estherlein fünf Jahre, zehn Jahre und
fünfzehn Jahre, einen Tag wie den andern, und sie wußten nicht, ob ihr
Pankrazius tot oder lebendig sei. Das war ein langes und gründliches
Schmollen, und Estherchen, welches eine schöne Jungfrau geworden,
wurde darüber zu einer hübschen und feinen alten Jungfer, welche nicht
nur aus Kindestreue bei der alternden Mutter blieb, sondern ebensowohl
aus Neugierde, um ja in dem Augenblicke da zu sein, wo der Bruder sich
endlich zeigen würde, und zu sehen, wie die Sache eigentlich verlaufe.
Denn sie war guter Dinge und glaubte fest, daß er eines Tages
wiederkäme und daß es dann etwas Rechtes auszulachen gäbe. Übrigens
fiel es ihr nicht schwer, ledig zu bleiben, da sie klug war und wohl
sah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahintersteckte an dauerhaftem
Lebensglücke und sie dagegen mit ihrer Mutter unveränderlich in einem
kleinen Wohlständchen lebte, ruhig und ohne Sorgen; denn sie hatten ja
einen tüchtigen Esser weniger und brauchten für sich fast gar nichts.

Da war es einst ein heller schöner Sommernachmittag, mitten in der
Woche, wo man so an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen
Städten fleißig arbeiten. Der Glanz von Seldwyla befand sich sämtlich
mit dem Sonnenschein auf den übergrünten Kegelbahnen vor dem Tore oder
auch in kühlen Schenkstuben in der Stadt. Die Falliten und Alten aber
hämmerten, näheten, schusterten, klebten, schnitzelten und bastelten
gar emsig darauf los, um den langen Tag zu benutzen und einen
vergnügten Abend zu erwerben, den sie nunmehr zu würdigen verstanden.
Auf dem kleinen Platze, wo die Witwe wohnte, war nichts als die stille
Sommersonne auf dem begrasten Pflaster zu sehen; an den offenen
Fenstern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und spielten die
Kinder. Hinter einem blühenden Rosmaringärtchen auf einem Brette saß
die Witwe und spann, und ihr gegenüber Estherchen und nähete. Es waren
schon einige Stunden seit dem Essen verflossen und noch hatte niemand
eine Zwiesprache gehalten von der ganzen Nachbarschaft. Da fand der
Schuhmacher wahrscheinlich, daß es Zeit sei, eine kleine
Erholungspause zu eröffnen, und nieste so laut und mutwillig: Hupschi!
daß alle Fenster zitterten und der Buchbinder gegenüber, der
eigentlich kein Buchbinder war, sondern nur so aus dem Stegreif
allerhand Pappkästchen zusammenleimte und an der Türe ein verwittertes
Glaskästchen hängen hatte, in welchem eine Stange Siegellack an der
Sonne krumm wurde, dieser Buchbinder rief: Zur Gesundheit! und alle
Nachbarsleute lachten. Einer nach dem andern steckte den Kopf durch
das Fenster, einige traten sogar vor die Türe und gaben sich Prisen,
und so war das Zeichen gegeben zu einer kleinen Nachmittagsunterhaltung
und zu einem fröhlichen Gelächter während des Vesperkaffees, der schon
aus allen Häusern duftete und zichorierte. Diese hatten endlich gelernt,
sich aus wenigem einen Spaß zu machen. Da kam in dies Vergnügen
herein ein fremder Leiermann mit einem schönpolierten Orgelkasten, was
in der Schweiz eine ziemliche Seltenheit ist, da sie keine eingeborenen
Leiermänner besitzt. Er spielte ein sehnsüchtiges Lied von der Ferne und
ihren Dingen, welches die Leute über die Maßen schön dünkte und
besonders der Witwe Tränen entlockte, da sie ihres Pankräzchens
gedachte, das nun schon viele Jahre verschwunden war. Der
Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer, er zog ab und das Plätzchen
wurde wieder still. Aber nicht lange nachher kam ein anderer Herumtreiber
 mit einem großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich
zwischen dem Gitter durch mit einem Stäbchen anstach und erklärte, so daß
der traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und die
fernen blauesten Länder, über denen er in seiner Freiheit geschwebt, kamen
der Witwe in den Sinn und machten sie um so trauriger, als sie gar nicht
wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen sei. Um den
Vogel zu sehen, hatten die Nachbarn auf das Plätzchen hinaustreten
müssen, und als er nun fort war, bildeten sie eine Gruppe, steckten die
Nasen in die Luft und lauerten auf noch mehr Merkwürdigkeiten, da sie nun
doch die Lust ankam, den übrigen Tag zu vertrödeln.

Diese Lust wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange, bis das
allergrößte Spektakel sich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf
aller Kinder des Städtchens. Denn ein mächtiges Kamel schwankte auf
den Platz, von mehreren Affen bewohnt; ein großer Bär wurde an seinem
Nasenringe herbeigeführt; zwei oder drei Männer waren dabei, kurz ein
ganzer Bärentanz führte sich auf und der Bär tanzte und machte seine
possierlichen Künste, indem er von Zeit zu Zeit unwirsch brummte, daß
die friedlichen Leute sich fürchteten und in scheuer Entfernung dem
wilden Wesen zuschauten. Estherchen lachte und freute sich unbändig
über den Bären, wie er so zierlich umherwatschelte mit seinem Stecken,
über das Kamel mit seinem selbstvergnügten Gesicht und über die Affen.
Die Mutter dagegen mußte fortwährend weinen; denn der böse Bär
erbarmte sie, und sie mußte wiederum ihres verschollenen Sohnes
gedenken.

Als endlich auch dieser Aufzug wieder verschwunden und es wieder still
geworden, indem die aufgeregten Nachbarn sich mit seinem Gefolge
ebenfalls aus dem Staube gemacht, um da oder dort zu einem
Abendschöppchen unterzukommen, sagte Estherchen: „Mir ist es nun
zumute, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch kommen würde, da
schon so viele unerwartete Dinge geschehen und solche Kamele, Affen
und Bären dagewesen sind!" Die Mutter ward böse darüber, daß sie den
armen Pankraz mit diesen Bestien sozusagen zusammenzählte und
auslachte, und hieß sie schweigen, nicht innewerdend, daß sie ja
selbst das gleiche getan in ihren Gedanken. Dann sagte sie seufzend:
„Ich werde es nicht erleben, daß er wiederkommt!"

Indem sie dies sagte, begab sich die größte Merkwürdigkeit dieses
Tages und ein offener Reisewagen mit einem Extrapostillion fuhr mit
Macht auf das stille Plätzchen, das von der Abendsonne noch halb
bestreift war. In dem Wagen saß ein Mann, der eine Mütze trug wie die
französischen Offiziere sie tragen, und ebenso trug er einen Schnurr-
und Kinnbart und ein gänzlich gebräuntes und ausgedörrtes Gesicht zur
Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln und Säbelhieben zeigte.
Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es französische
Militärs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße stemmte er
gegen eine kolossale Löwenhaut, welche auf dem Boden des Wagens lag;
auf dem Rücksitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabische
Pfeife neben anderen fremdartigen Gegenständen.

Dieser Mann sperrte ungeachtet des ernsten Gesichtes, das er machte,
die Augen weit auf und suchte mit denselben rings auf dem Platze ein
Haus, wie einer, der aus einem schweren Traume erwacht. Beinahe
taumelnd, sprang er aus dem Wagen, der von ungefähr auf der Mitte des
Plätzchens stillhielt; doch ergriff er die Löwenhaut und seinen Säbel
und ging sogleich sicheren Schrittes in das Häuschen der Witwe, als ob
er erst vor einer Stunde aus demselben gegangen wäre. Die Mutter und
Estherchen sahen dies voll Verwunderung und Neugierde und horchten
auf, ob der Fremde die Treppe heraufkäme; denn obgleich sie kaum noch
von Pankrazius gesprochen, hatten sie in diesem Augenblick keine
Ahnung, daß er es sein könnte, und ihre Gedanken waren von der
überraschten Neugierde himmelweit von ihm weggeführt. Doch urplötzlich
erkannten sie ihn an der Art, wie er die obersten Stufen übersprang
und über den kurzen Flur weg fast gleichzeitig die Klinke der
Stubentür ergriff, nachdem er wie der Blitz vorher den lose steckenden
Stubenschlüssel fester ins Schloß gestoßen, was sonst immer die Art
des Verschwundenen gewesen, der in seinem Müßiggange eine seltsame
Ordnungsliebe bewährt hatte. Sie schrien laut auf und standen
festgebannt vor ihren Stühlen, mit offenem Munde nach der aufgehenden
Türe sehend. Unter dieser stand der fremde Pankrazius mit dem dürren
und harten Ernste eines fremden Kriegsmannes, nur zuckte es ihm
seltsam um die Augen, indessen die Mutter erzitterte bei seinem
Anblick und sich nicht zu helfen wußte und selbst Estherchen zum
erstenmal gänzlich verblüfft war und sich nicht zu regen wagte. Doch
alles dies dauerte nur einen Augenblick; der Herr Oberst, denn nichts
Geringeres war der verlorene Sohn, nahm mit der Höflichkeit und
Achtung, welche ihn die wilde Not des Lebens gelehrt, sogleich die
Mütze ab, was er nie getan, wenn er früher in die Stube getreten; eine
unaussprechliche Freundlichkeit, wenigstens wie es den Frauen vorkam,
die ihn nie freundlich gesehen noch also denken konnten, verbreitete
sich über das gefurchte und doch noch nicht alte Soldatengesicht und
ließ schneeweiße Zähne sehen, als er auf sie zueilte und beide mit
ausbrechendem Herzensweh in die Arme schloß.

Hatte die Mutter erst vor dem martialischen und vermeintlich immer
noch bösen Sohne sonderbar gezittert, so zitterte sie jetzt erst recht
in scheuer Seligkeit, da sie sich in den Armen dieses wiedergekehrten
Sohnes fühlte, dessen achtungsvolles Mützenabnehmen und dessen
aufleuchtende nie gesehene Anmut, wie sie nur die Rührung und die Reue
gibt, sie schon wie mit einem Zauberschlage berührt hatten. Denn noch
ehe das Bürschchen sieben Jahre alt gewesen, hatte es schon
angefangen, sich ihren Liebkosungen zu entziehen und seither hatte
Pankraz in bitterer Sprödigkeit und Verstockung sich gehütet, seine
Mutter auch nur mit der Hand zu berühren, abgesehen davon, daß er
unzählige Male schmollend zu Bett gegangen war, ohne Gutenacht zu
sagen. Daher bedünkte es sie nun ein unbegreiflicher und wundersamer
Augenblick, in welchem ein ganzes Leben lag, als sie jetzt nach wohl
dreißig Jahren sozusagen zum erstenmal sich von dem Sohne umfangen
sah. Aber auch Estherchen bedünkte dieses veränderte Wesen so
ernsthaft und wichtig, daß sie, die den Schmollenden tausendmal
ausgelacht hatte, jetzt nicht im mindesten den bekehrten Freundlichen
anzulachen vermochte, sondern mit klaren Tränen in den Augen nach
ihrem Sesselchen ging und den Bruder unverwandt anblickte.

Pankraz war der erste, der sich nach mehreren Minuten wieder
zusammennahm und als ein guter Soldat einen Übergang und Ausweg
dadurch bewerkstelligte, daß er sein Gepäck heraufbeförderte. Die
Mutter wollte mit Estherchen helfen; aber er führte sie äußerst
holdselig zu ihrem Sitze zurück und duldete nur, daß Estherchen zum
Wagen herunterkam und sich mit einigen leichten Sachen belud. Den
weiteren Verlauf führte indessen Estherchen herbei, welche bald ihren
guten Humor wiedergewann und nicht länger unterlassen konnte, die
Löwenhaut an dem langen gewaltigen Schwanze zu packen und auf dem
Boden herumzuziehen, indem sie sich kranklachen wollte und einmal über
das andere rief: „Was ist dies nur für ein Pelz? Was ist dies für ein
Ungeheuer?"

„Dies ist," sagte Pankraz, seinen Fuß auf das Fell stoßend, „vor drei
Monaten noch ein lebendiger Löwe gewesen, den ich getötet habe. Dieser
Bursche war mein Lehrer und Bekehrer und hat mir zwölf Stunden lang so
eindringlich gepredigt, daß ich armer Kerl endlich von allem Schmollen
und Bössein für immer geheilt wurde. Zum Andenken soll seine Haut
nicht mehr aus meiner Hand kommen. Das war eine schöne Geschichte!"
setzte er mit einem Seufzer hinzu.

In der Voraussicht, daß seine Leutchen, im Fall er sie noch lebendig
anträfe, jedenfalls nicht viel Kostbares im Hause hätten, hatte er in
der letzten größeren Stadt, wo er durchgereist, einen Korb guten
Weines eingekauft, sowie einen Korb mit verschiedenen guten Speisen,
damit in Seldwyla kein Gelaufe entstehen sollte und er in aller Stille
mit der Mutter und der Schwester ein Abendbrot einnehmen konnte. So
brauchte die Mutter nur den Tisch zu decken und Pankraz trug auf,
einige gebratene Hühner, eine herrliche Sülzpastete und ein Paket
feiner kleiner Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege hatte er bedacht,
wie dunkel einst das armselige Tranlämpchen gebrannt und wie oft er
sich über die kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum seine
müßigen Siebensachen handhaben gekonnt, ungeachtet die Mutter, die
doch ältere Augen hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Nase
geschoben, wiederum zum großen Ergötzen Estherchens, die bei jeder
Gelegenheit ihm die Leuchte wieder wegzupraktizieren verstanden. Ach,
einmal hatte er sie zornig weinend ausgelöscht, und als die Mutter sie
bekümmert wieder angezündet, blies sie Estherchen lachend wieder aus,
worauf er zerrissenen Herzens ins Bett gerannt. Dies und noch anderes
war ihm auf dem Wege eingefallen, und indem er schmerzlich und bang
kaum erleben mochte, ob er die Verlassenen wiedersehen würde, hatte er
auch noch einige Wachskerzen eingekauft, und zündete jetzo zwei
derselben an, so daß die Frauensleute sich nicht zu lassen wußten vor
Verwunderung ob all der Herrlichkeit.

Dergestalt ging es wie aus einer kleinen Hochzeit in dem Häuschen der
Witwe, nur viel stiller, und Pankraz benutzte das helle Licht der
Kerzen, die gealterten Gesichter seiner Mutter und Schwester zu sehen,
und dies Sehen rührte ihn stärker, als alle Gefahren, denen er ins
Gesicht geschaut. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sinnen über die
menschliche Art und das menschliche Leben, und wie gerade unsere
kleineren Eigenschaften, eine freundliche oder herbe Gemütsart, nicht
nur unser Schicksal und Glück machen, sondern auch dasjenige der uns
Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges Schuldverhältnis zu
bringen vermögen, ohne daß wir wissen wie es zugegangen, da wir uns ja
unser Gemüt nicht selbst gegeben. In diesen Betrachtungen ward er
jedoch gestört durch die Nachbarn, welche jetzt ihre Neugierde nicht
länger unterdrücken konnten und einer nach dem andern in die Stube
drangen, um das Wundertier zu sehen, da sich schon in der ganzen Stadt
das Gerücht verbreitet hatte, der verschollene Pankrazius sei
erschienen, und zwar als ein französischer General in einem
vierspännigen Wagen.

Dies war nun ein höchst verwickelter Fall für die in ihren
Vergnügungslokalen versammelten Seldwyler, sowohl für die Jungen als
wie für die Alten, und sie kratzten sich verdutzt hinter den Ohren.
Denn dies war gänzlich wider die Ordnung und wider den Strich zu
Seldwyl, daß da einer wie vom Himmel geschneit als ein gemachter Mann
und General herkommen sollte gerade in dem Alter, wo man zu Seldwyl
sonst fertig war. Was wollte der denn nun beginnen? Wollte er wirklich
am Orte bleiben, ohne ein Herabgekommener zu sein die übrige Zeit
seines Lebens hindurch, besonders wenn er etwa alt würde? Und wie
hatte er es angefangen? Was zum Teufel hatte der unbeachtete und
unscheinbare junge Mensch betrieben die lange Jugend hindurch, ohne
sich aufzubrauchen? Das war die Frage, die alle Gemüter bewegte, und
sie fanden durchaus keinen Schlüssel, das Rätsel zu lösen, weil ihre
Menschen- oder Seelenkunde zu klein war, um zu wissen, daß gerade die
herbe und bittere Gemütsart, welche ihm und seinen Angehörigen so
bittere Schmerzen bereitet, sein Wesen im übrigen wohl konserviert,
wie der scharfe Essig ein Stück Schöpfenfleisch, und ihm über das
gefährliche Seldwyler Glanzalter hinweggeholfen hatte. Um die Frage zu
lösen, stellte man überhaupt die Wahrheit des Ereignisses in Frage und
bestritt dessen Möglichkeit, und um diese Auffassung zu bestätigen,
wurden verschiedene alte Falliten nach dem Plätzchen abgesandt, so daß
Pankraz, dessen schon versammelte Nachbarn ohnehin diesem Stande
angehörten, sich von einer ganzen Versammlung neugieriger und
gemütlicher Falliten umgeben sah, wie ein alter Heros in der Unterwelt
von den herbeieilenden Schatten.

Er zündete nun seine türkische Pfeife an und erfüllte das Zimmer mit
dem fremden Wohlgeruch des morgenländischen Tabaks; die Schatten oder
Falliten witterten immer neugieriger in den blauen Duftwolken umher,
und Estherchen und die Mutter bestaunten unaufhörlich die
Leutseligkeit und Geschicklichkeit des Pankraz, mit welcher er die
Leute unterhielt, und zuletzt die freundliche, aber sichere
Gewandtheit, mit welcher er die Versammlung endlich entließ, als es
ihm Zeit dazu schien.

Da aber die Freuden, welche auf dem Familienglück und auf frohen
Ereignissen unter Blutsverwandten beruhen, auch nach den längsten
Leiden die Beteiligten plötzlich immer jung und munter machen, statt
sie zu erschöpfen, wie die Aufregungen der weitern Welt es tun, so
verspürte die alte Mutter noch nicht die geringste Müdigkeit und
Schlaflust, so wenig als ihre Kinder, und von dem guten Weine erwärmt,
den sie mit Zufriedenheit genossen, verlangte sie endlich mit ihrer
noch viel ungeduldigeren Tochter etwas Näheres von Pankrazens
Schicksal zu wissen.

„Ausführlich," erwiderte dieser, „kann ich jetzt meine trübselige
Geschichte nicht mehr beginnen und es findet sich wohl die Zeit, wo
ich euch nach und nach meine Erlebnisse im einzelnen vorsagen werde.
Für heute will ich euch aber nur einige Umrisse angeben, soviel als
nötig ist, um auf den Schluß zu kommen, nämlich auf meine Wiederkehr
und die Art, wie diese veranlaßt wurde, da sie eigentlich das rechte
Seitenstück bildet zu meiner ehemaligen Flucht und aus dem gleichen
Grundtone geht. Als ich damals auf so schnöde Weise entwich, war ich
von einem unvertilgbaren Groll und Weh erfüllt; doch nicht gegen euch,
sondern gegen mich selbst, gegen diese Gegend hier, diese unnütze
Stadt, gegen meine ganze Jugend. Dies ist mir seither erst deutlich
geworden. Wenn ich hauptsächlich immer des Essens wegen bös wurde und
schmollte, so war der geheime Grund hiervon das nagende Gefühl, daß
ich mein Essen nicht verdiente, weil ich nichts lernte und nichts tat,
ja weil mich gar nichts reizte zu irgendeiner Beschäftigung und also
keine Hoffnung war, daß es je anders würde; denn alles was ich andere
tun sah, kam mir erbärmlich und albern vor; selbst euer ewiges Spinnen
war mir unerträglich und machte mir Kopfweh, obgleich es mich Müßigen
erhielt. So rannte ich davon in einer Nacht in der bittersten
Herzensqual und lief bis zum Morgen, wohl sieben Stunden weit von
hier. Wie die Sonne aufging, sah ich Leute, die auf einer großen Wiese
Heu machten; ohne ein Wort zu sagen oder zu fragen, legte ich mein
Bündel an den Rand, ergriff einen Rechen oder eine Heugabel und
arbeitete wie ein Besessener mit den Leuten und mit der größten
Geschicklichkeit; denn ich hatte mir während meines Herumlungerns hier
alle Handgriffe und Übungen derjenigen, welche arbeiteten,
wohlgemerkt, sogar öfter dabei gedacht, wie sie dies und jenes
ungeschickt in die Hand nähmen und wie man eigentlich die Hände ganz
anders müßte fliegen lassen, wenn man erst einmal ein Arbeiter heißen
wolle.

„Die Leute sahen mir erstaunt zu und niemand hinderte mich an meiner
Arbeit; als sie das Morgenbrot aßen, wurde ich dazu eingeladen; dieses
hatte ich bezweckt und so arbeitete ich weiter, bis das Mittagessen
kam, welches ich ebenfalls mit großem Appetit verzehrte. Doch nun
erstaunten die Bauersleute noch viel mehr und sandten mir ein
verdutztes Gelächter nach, als ich, anstatt die Heugabel wieder zu
ergreifen, plötzlich den Mund wischte, mein Bündelchen wieder ergriff
und ohne ein Wort weiter zu verlieren, meines Weges weiterzog. In
einem dichten kühlen Buchenwäldchen legte ich mich hin und schlief bis
zur Abenddämmerung; dann sprang ich auf, ging aus dem Wäldchen hervor
und guckte am Himmel hin und her, an welchem die Sterne hervorzutreten
begannen. Die Stellung der Sterne gehörte auch zu den wenigen Dingen,
die ich während meines Müßigganges gemerkt, und da ich darin eine
große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir immer
wohlgefallen, und zwar um so mehr, als diese glänzenden Geschöpfe
solche Pünktlichkeit nicht um Taglohn und um eine Portion
Kartoffelsuppe zu üben schienen, sondern damit nur taten, was sie
nicht lassen konnten, wie zu ihrem Vergnügen, und dabei wohl
bestanden. Da ich nun durch das allmähliche Auswendiglernen unsres
Geographiebuches, so einfach dieses war, auch auf dem Erdboden
Bescheid wußte, so verstand ich meine Richtung wohl zu nehmen und
beschloß in diesem Augenblick, nordwärts durch ganz Deutschland zu
laufen, bis ich das Meer erreichte. Also lief ich die Nacht hindurch
wieder acht gute Stunden und kam mit der Morgensonne an eine wilde und
entlegene Stelle am Rhein, wo eben vor meinen Augen ein mit Kornsäcken
beladenes Schiff an einer Untiefe aufstieß, indessen doch das Wasser
über einen Teil der Ladung wegströmte. Da sich nur drei Männer bei dem
Schiffe befanden und weit und breit in dieser Frühe und in dieser
Wildnis niemand zu ersehen war, so kam ich sehr willkommen, als ich
sogleich Hand anlegte und den Schiffern die schwere Ladung ans Ufer
bringen und das Fahrzeug wieder flottmachen half. Was von dem Korne
naßgeworden, schütteten wir auf Bretter, die wir an die Sonne legten,
und wandten es fleißig um, und zuletzt beluden wir das Schiff wieder.
Doch nahm dies alles den größten Teil des Tages weg, und ich fand
dabei Gelegenheit, mit den Schiffsleuten unterschiedliche tüchtige
Mahlzeiten zu teilen; ja, als wir fertig waren, gaben sie mir sogar
noch etwas Geld und setzten mich auf mein Verlangen an das andere Ufer
über mittelst des kleinen Kähnchens, das sie hinter dem großen Kahne
angebunden hatten.

Drüben befand ich mich in einem großen Bergwald und schlief sofort bis
es Nacht wurde, worauf ich mich abermals auf die Füße machte und bis
zum Tagesanbruch lief. Mit wenig Worten zu sagen: auf diese nämliche
Art gelangte ich in wenig mehr als zwei Monaten nach Hamburg, indem
ich, ohne je viel mit den Leuten zu sprechen, überall des Tages
zugriff, wo sich eine Arbeit zeigte, und davonging, sobald ich
gesättigt war, um die Nacht hindurch wiederum zu wandern. Meine Art
überraschte die Leute immer, so daß ich niemals einen Widerspruch
fand, und bis sie sich etwa widerhaarig oder neugierig zeigen wollten,
war ich schon wieder weg. Da ich zugleich die Städte vermied und
meinen Arbeitsverkehr immer im freien Felde, auf Bergen und in Wäldern
betrieb, wo nur ursprüngliche und einfache Menschen waren, so reisete
ich wirklich wie zu der Zeit der Patriarchen. Ich sah nie eine Spur
von dem Regiment der Staaten, über deren Boden ich hinlief, und mein
einziges Denken war, über eben diesen Boden wegzukommen, ohne zu
betteln oder für meine nötige Leibesnahrung jemandem verpflichtet sein
zu müssen, im übrigen aber zu tun, was ich wollte, und insbesondere zu
ruhen, wenn es mir gefiel, und zu wandern, wenn es mir beliebte.
Später habe ich freilich auch gelernt, mich an eine feste außer mir
liegende Ordnung und an eine regelmäßige Ausdauer zu halten, und wie
ich erst urplötzlich arbeiten gelernt, lernte ich auch dies sogleich
ohne weitere Anstrengung, sobald ich nur einmal eine erkleckliche
Notwendigkeit einsah.

Übrigens bekam mir dies Leben in der freien Luft, bei der steten
Abwechslung von schwerer Arbeit, tüchtigem Essen und sorgloser Ruhe
vortrefflich und meine Glieder wurden so geübt, daß ich als ein
kräftiger und rühriger Kerl in der großen Handelsstadt Hamburg
anlangte, wo ich alsbald dem Wasser zulief und mich unter die Seeleute
mischte, welche sich da umtrieben und mit dem Befrachten ihrer Schiffe
beschäftigt waren. Da ich überall zugriff und ohne albernes Gaffen
doch aufmerksam war, ohne ein Wort dabei zu sprechen, noch je den Mund
zu verziehen, so duldeten die einsilbigen derben Gesellen mich bald
unter sich und ich brachte eine Woche unter ihnen zu, worauf sie mich
auf einem englischen Kauffahrer einschmuggelten, dessen Kapitän mich
aufnahm unter der Bedingung, daß ich ihm in seinem Privatgeschäfte
helfe, das er während seiner Fahrten betrieb. Dieses bestand nämlich
im Zusammensetzen und Herstellen von allerhand Feuerwaffen und
Pistolen aus alten abgenutzten Bestandteilen, die er in großer Menge
zusammenkaufte, wenn er in der Alten Welt vor Anker ging. Es waren
seltsame und fabelhafte Todeswerkzeuge, die er so mit schrecklicher
Leidenschaft zusammenfügte und dann bei Gelegenheit an wilden Küsten
gegen wertvolle Friedensprodukte und sanfte Naturgegenstände
austauschte. Ich hielt mich still zu der Arbeit, übte mich ein und war
bald über und über mit Öl, Schmirgel und Feilenstaub beschmiert als
ein wilder Büchsenmacher, und wenn ein solches Pistolengeschütz
notdürftig zusammenhielt, so wurde es mit einem starken Knall
probiert; doch nie zum zweitenmal, dieses wurde dem rothäutigen oder
schwarzen Käufer überlassen auf den entlegenen Eilanden. Diesmal fuhr
er aber nur nach Neuyork und von da nach England zurück, wo ich, der
Büchsenmacherei nun genugsam kundig, mich von ihm entfernte und
sogleich in ein Regiment anwerben ließ, das nach Ostindien abgehen
sollte.

In Neuyork hatte ich zwar den Fuß an das Land gesetzt und auf einige
Stunden dies amerikanische Leben gesehen, welches mir eigentlich nun
recht hätte zusagen müssen, da hier jeder tat, was er wollte, und sich
gänzlich nach Bedürfnis und Laune rührte von einer Beschäftigung zur
andern abspringend, wie es ihm eben besser schien, ohne sich
irgendeiner Arbeit zu schämen, oder die eine für edler zu halten als
die andere. Doch weiß ich nicht wie es kam, daß ich mich schleunig
wieder auf unser Schiff sputete und so, statt in der Neuen Welt zu
bleiben, in den ältesten, träumerischen Teil unsrer Welt geriet, in
das uralte heiße Indien, und zwar in einem roten Rocke, als ein
stiller englischer Soldat. Und ich kann nicht sagen, daß mir das neue
Leben mißfiel, das schon auf dem großen Linienschiffe begann, auf
welchem das Regiment sich befand. Schon der Umstand, daß wir alle, so
viel wir waren, mit der größten Pünktlichkeit und Abgemessenheit
ernährt wurden, indem jeder seine Ration so sicher bekam, wie die
Sterne am Himmel gehen, keiner mehr noch minder als der andere, und
ohne daß einer den andern beeinträchtigen konnte, behagte mir
außerordentlich und um so mehr, als keiner dafür zu danken brauchte
und alles nur unserm bloßen wohlgeordneten Dasein gebührte. Wenn wir
Rekruten auch schon auf dem Schiffe eingeschult wurden und täglich
exerzieren mußten, so gefiel mir doch diese Beschäftigung über die
Maßen, da wir nicht das Bajonett herumschwenken mußten, um etwa mit
Gewandtheit eine Kartoffel daran zu spießen, sondern es war lediglich
eine reine Übung, welche mit dem Essen zunächst gar nicht
zusammenhing, und man brauchte nichts als pünktlich und aufmerksam
beim einen und dem andern zu sein und sich um weiter nichts zu
kümmern. Schon am zweiten Tage unserer Fahrt sah ich einen Soldaten
prügeln, der wider einen Vorgesetzten gemurrt, nachdem er schon
verschiedene Unregelmäßigkeiten begangen. Sogleich nahm ich mir vor,
daß dies mir nie widerfahren solle, und nun kam mir mein Schmollwesen
sehr gut zustatten, indem es mir eine vortreffliche lautlose
Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit erleichterte und es mir fortwährend
möglich machte, mir in keiner Weise etwas zu vergeben.

So wurde ich ein ganz ordentlicher und brauchbarer Soldat; es machte
mir Freude, alles recht zu begreifen und so zu tun, wie es als
mustergültig vorgeschrieben war, und da es mir gelang, so fühlte ich
mich endlich ziemlich zufrieden, ohne jedoch mehr Worte zu verlieren
als bisher. Nur selten wurde ich beinahe ein wenig lustig und beging
etwa einen närrischen halben Spaß, was mir vollends den Anstrich eines
Soldaten gab, wie er sein soll, und zugleich verhinderte, daß man mich
nicht leiden konnte, und so war kaum ein Jahr vergangen in dem heißen,
seltsamen Lande, als ich anfing, vorzurücken und zuletzt ein
ansehnlicher Unteroffizier wurde. Nach einem Verlauf von Jahren war
ich ein großes Tier in meiner Art, war meistenteils in den Bureaus des
Regimentskommandeurs beschäftigt und hatte mich als ein guter
Verwalter herausgestellt, indem ich die notwendigen Künste, die
Schreibereien und Rechnereien aus dem Gange der Dinge mir
augenblicklich aneignete ohne weiteres Kopfzerbrechen. Es ging mir
jetzt alles nach der Schnur und ich schien mir selbst zufrieden zu
sein, da ich ohne Mühe und Sorgen da sein konnte unter dem warmen
blauen Himmel; denn was ich zu verrichten hatte, geschah wie von
selbst, und ich fühlte keinen Unterschied, ob ich in Geschäften oder
müßig umherging. Das Essen war mir jetzt nichts Wichtiges mehr, und
ich beachtete kaum, wann und was ich aß. Zweimal während dieser Zeit
hatte ich Nachricht an euch abgesandt nebst einigen ersparten
Geldmitteln; allein beide Schiffe gingen sonderbarerweise mit Mann und
Maus zugrunde und ich gab die Sache auf, ärgerlich darüber, und nahm
mir vor, sobald als tunlich selber heimzukehren und meine erworbene
Arbeitsfähigkeit und feste Lebensart in der Heimat zu verwenden. Denn
ich gedachte damit etwas Besseres nach Seldwyla zu bringen, als wenn
ich eine Million dahin brächte, und malte mir schon aus, wie ich die
Haselanten und Fischesser da anfahren wollte, wenn sie mir über den
Weg liefen.

Doch damit hatte es noch gute Wege und ich sollte erst noch solche
Dinge erfahren und so in meinem Wesen verändert und aufgerüttelt
werden, daß mir die Lust verging, andere Leute anfahren zu wollen. Der
Kommandeur hatte mich gänzlich zu seinem Faktotum gemacht und ich
mußte fast die ganze Zeit bei ihm zubringen. Er war ein seltsamen Mann
von etwa fünfzig Jahren, dessen Gattin in Irland lebte auf einem alten
Turm, da sie womöglich noch wunderlicher sein mußte, als er; solange
sie zusammengelebt, hatten sie sich fortwährend angeknurrt, wie zwei
wilde Katzen, und sie litten beide an der fixen Idee, daß sie sich
gegenseitig ineinander getäuscht hätten, obwohl niemand besser
füreinander geschaffen war. Auch waren sie gesund und munter und
lebten behaglich in dieser Einbildung, ohne welche keines mehr hätte
die Zeit verbringen können, und wenn sie weit auseinander waren, so
sorgte eines für das andere mit rührender Aufmerksamkeit. Die einzige
Tochter, die sie hatten, und die Lydia heißt, lebte dagegen
meistenteils bei dem Vater und war ihm ergeben und zugetan, da der
Unterschied des Geschlechtes selbst zwischen Vater und Tochter diese
mehr zärtliches Mitleid für den Vater empfinden ließ, als für die
Mutter, obgleich diese ebenso wenig oder so viel taugen mochte als
jener in dem vermeintlich unglücklichen Verhältnis. Der Kommandeur
hatte eine reizvolle luftige Wohnung bezogen, die außerhalb der Stadt
in einem ganz mit Palmen, Zypressen, Sykomoren und anderen Bäumen
angefüllten Tale lag. Unter diesen Bäumen, rings um das leichte weiße
Haus herum, waren Gärten angelegt, in denen teils jederzeit frisches
Gemüse, teils eine Menge Blumen gezogen wurden, welche zwar hier in
allen Ecken wild wuchsen, die aber der Alte liebte beisammen zu haben
in nächster Nähe und in möglichster Menge, so daß in dem grünen
Schatten der Bäume es ordentlich leuchtete von großen purpurroten und
weißen Blumen. Wenn es nun im Dienste nichts mehr zu tun gab, so mußte
ich als ein militärischer zuverlässiger Vertrauensmann diese Gärten in
Ordnung halten, oder um darüber nicht etwa zu verweichlichen, mit dem
Oberst auf die Jagd gehen, und ich würde darüber zu einem gewandten
Jäger; denn gleich hinter dem Tale begann eine wilde, unfruchtbare
Landschaft, welche zuletzt gänzlich in eine Gebirgswildnis verlief,
die nicht nur Schwärme und Scharen unschuldigeren Gewildes, sondern
auch von Zeit zu Zeit reißende Tiere, besonders große Tiger
beherbergte. Wenn ein solcher sich spüren ließ, so gab es einen großen
Auszug gegen ihn, und ich lernte bei diesen Gelegenheiten die Gefahr
lange kennen, ehe ich in das Gefecht mit Menschen kam. War aber weiter
gar nichts zu tun, so mußte ich mit dem alten Herrn Schach spielen und
dadurch seine Tochter Lydia ersetzen, welche, da sie gar keinen Sinn
und Geschick dazu besaß und ganz kindisch spielte, ihm zu wenig
Vergnügen verschaffte. Ich hingegen hatte mich bald soweit eingeübt,
daß ich ihm einigermaßen die Stange halten konnte, ohne ihn des
öfteren Sieges zu berauben, und wenn mein Kopf nicht durch andere
Dinge verwirrt worden wäre, so würde ich dem grimmigen Alten bald
überlegen geworden sein.

Dergestalt war ich nun das merkwürdigste Institut von der Welt; ich
ging unter diesen Palmen einher gravitätisch und wortlos in meiner
Scharlachuniform, ein leichtes Schilfstöckchen in der Hand und über
dem Kopfe ein weißes Tuch zum Schutze gegen die heiße Sonne. Ich war
Soldat, Verwaltungsmann, Gärtner, Jäger, Hausfreund und
Zeitvertreiber, und zwar ein ganz sonderbarer, da ich nie ein Wort
sprach; denn obgleich ich jetzt nicht mehr schmollte und leidlich
zufrieden war, so hatte ich mir das Schweigen doch so angewöhnt, daß
meine Zunge durch nichts zu bewegen war, als etwa durch ein
Kommandowort oder einen Fluch gegen unordentliche Soldaten. Doch
diente gerade diese Weise dem Kommandeur, ich blieb so an die fünf
Jahre bei ihm einen Tag wie den andern und konnte, wenn ich freie Zeit
hatte, im übrigen tun, was mir beliebte. Diese Zeit benutzte ich dazu,
das Dutzend Bücher, so der alte Herr besaß, immer wieder durchzulesen
und aus denselben, da sie alle dickleibig waren, ein sonderbares Stück
von der Welt kennenzulernen. Ich war so ein eifriger und stiller
Leser, der sich eine Weisheit ausbildete, von der er nicht recht
wußte, ob sie in der Welt galt oder nicht galt, wie ich bald erfahren
sollte; denn obschon ich bereits vieles gesehen und erfahren, so war
dies doch nur gewissermaßen strichweise und das meiste, was es gab,
lag zur Seite des Striches, den ich passiert.

Mein Kommandeur wurde endlich zum Gouverneur des ganzen Landstriches
ernannt, wo wir bisher gestanden; er wünschte mich in seiner Nähe zu
behalten und veranlaßte meine Versetzung aus dem Regiment, welches
wieder nach England zurückging, in dasjenige, welches dafür ankam, und
so fand sich wieder Gelegenheit, daß ich als Militärperson sowohl wie
in allen übrigen Eigenschaften um ihn sein konnte, was mir ganz recht
war; denn so blieb ich ein auf mich selbst gestellter Mensch, der
keinen andern Herrn, als seine Fahne über sich hatte.

Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter aus dem alten irländischen
Turme an, um von nun an bei ihrem Vater, dem Gouverneur, zu leben. Es
war ein wohlgestaltetes Frauenzimmer von großer Schönheit; doch war
sie nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine Person, die in ihren
eigenen feinen Schuhen stand und ging und sogleich den Eindruck
machte, daß es für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht leicht
hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese gäbe, eben
weil es eine ganze und selbständige Person schien, die so nicht zum
zweiten Male vorkomme. Und zwar schien diese edle Selbständigkeit
gepaart mit der einfachsten Kindlichkeit und Güte des Charakters und
mit jener Lauterkeit und Rückhaltlosigkeit in dieser Güte, welche,
wenn sie so mit Entschiedenheit und Bestimmtheit verbunden ist, eine
wahre Überlegenheit verleiht und dem, was im Grunde nur ein
unbefangenes ursprüngliches Gemütswesen ist, den Schein einer
weihevollen und genialen Überlegenheit gibt. Indessen war sie sehr
gebildet in allen schönen Dingen, da sie nach Art solcher Geschöpfe
die Kindheit und bisherige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,
was irgend wohl ansteht, und sie kannte sogar fast alle neueren
Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß unwissende
Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Verlegenheit
gerieten, weniger zu verstehen, als ein müßiges Ziergewächs von
Jungfräulein. Überhaupt schien ein gesunder und wohldurchgebildeter
Sinn in ihr sich mehr dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden
kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenstände durchaus
treffend beurteilte und behandelte, und dabei waren ihre Gedanken und
Worte so einfach und lieblich und bestimmt, wie der Ton ihrer Stimme
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war sie, wie
gesagt, so kindlich, so wenig durchtrieben, daß sie nicht imstande
war, eine überlegte Partie Schach spielenzulernen, und dennoch mit der
fröhlichsten Geduld am Brette saß, um sich von ihrem Vater
unaufhörlich überrumpeln zu lassen. So ward es einem sogleich
heimatlich und wohl zumute in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, diese
wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine bessere gäbe es in
der Welt. Ihre schönen blonden Locken und die dunkelblauen Augen, die
fast immer ernst und frei in die Welt sahen, taten freilich auch das
ihrige dazu, ja um so mehr, als ihre Schönheit, so sehr sie auffiel,
von echt weiblicher Bescheidenheit und Sittsamkeit durchdrungen war
und dabei gänzlich den Eindruck von etwas Einzigem und Persönlichem
machte; es war eben kurz und abermals gesagt: eine Person. Das heißt,
ich sage es schien so, oder eigentlich, weiß Gott, ob es am Ende doch
so war und es nur an mir lag, daß es ein solcher trügerischer Schein
schien, kurz--"

Pankrazius vergaß hier weiterzureden und verfiel in ein schwermütiges
Nachdenken, wozu er ein ziemlich unkriegerisches und beinahe
einfältiges Gesicht machte. Die beiden Wachslichter waren über die
Hälfte heruntergebrannt, die Mutter und die Schwester hatten die Köpfe
gesenkt und nickten, schon nichts mehr sehend und hörend,
schlaftrunken mit ihren Köpfen, denn schon seit Pankrazius die
Schilderung seiner vermutlichen Geliebten begonnen, hatten sie
angefangen, schläfrig zu werden, ließen ihn jetzt gänzlich im Stich
und schliefen wirklich ein. Zum Glück für unsere Neugierde bemerkte
der Oberst dies nicht, hatte überhaupt vergessen, vor wem er erzählte,
und fuhr, ohne die niedergeschlagenen Augen zu erheben, fort, vor den
schlafenden Frauen zu erzählen, wie einer, der etwas lange
Verschwiegenes endlich mitzuteilen sich nicht mehr enthalten kann.

„Ich hatte," sagte er, „bis zu dieser Zeit noch kein Weib näher
angesehen und verstand oder wußte von ihnen ungefähr soviel, wie ein
Nashorn vom Zitherspiel. Nicht daß ich solche etwa nicht von jeher
gern gesehen hätte, wenn ich unbemerkt und ohne Aufwand von Mühe nach
ihnen schielen konnte; doch war es mir äußerst zuwider, mit
irgendeiner mich in den geringsten Wortwechsel einzulassen, da es mir
von jeher schien, als ob es sämtlichen Weibern gar nicht um eine
vernunftgemäße, klare und richtige Sache zu tun wäre, daß es ihnen
unmöglich sei, nur sechs Worte lang in guter Ordnung bei der Sache zu
bleiben, sondern daß sie einzig darauf ausgingen, wenn sie in diesem
Augenblicke etwas Zweckmäßiges und Gutes gesagt haben, gleich darauf
eine große Albernheit oder Verdrehtheit einzuwerfen, was sie dann als
ihre weibliche Anmut und Beweglichkeit ausgäben, im Grunde aber eine
Unredlichkeit sei, und um so abscheulicher, als sie halb und halb von
bewußter Absicht begleitet sei, um hinter diesem Durcheinander allen
schlechten Instinkten und Querköpfigkeiten desto bequemer zu frönen.
Deshalb schmollte und grollte ich von vornherein mit allem Weibervolk
und würdigte keines eines offenkundigen Blickes. In Indien, als ich
mehr zufrieden war und keinen Groll fürder hegte, gab es zwar viel
Frauensleute, sowohl indischen Geblütes, als auch eine Menge
englischer, da viele Kaufleute, Offiziere und Soldaten ihre Familie
bei sich hatten. Doch diese Indierinnen, die schön waren wie die
Blumen und gut wie Zucker aussahen und sprachen, waren eben nichts
weiter als dies und rührten mich nicht im mindesten, da Schönheit und
Güte ohne Salz und Wehrbarkeit, mir langweilig vorkamen, und es war
mir peinlich zu denken, wie eine solche Frau, wenn sie mein wäre, sich
auf keine Weise gegen meine etwaigen schlimmen Launen zu wehren
vermöchte. Die europäischen Weiber dagegen, die ich sah, welche
größtenteils aus Großbritannien herstammten, schienen schon eher
wehrhaft zu sein, jedoch waren sie weniger gut und selbst wenn sie es
waren, so betrieben sie die Güte und Ehrbarkeit wie ein abscheulich
nüchternes und hausbackenes Handwerk, und selbst die edle
Weiblichkeit, auf die sich diese selbstbewußten respektablen Weibsen
so viel zugute taten, handhabten sie eher als Würzkrämer, denn als
Weiber. Hier wird ein Quentchen ausgewogen und dort ein Quentchen
sorglich in die löschpapierne Düte der Philisterhaftigkeit gewickelt.
Überdies war mir immer, als ob durch das Innerste aller dieser
abendländischen Schönen und Unschönen ein tiefer Zug von Gemeinheit
zöge, die Krankheit unserer Zeit, welche sie zwar nur von unserem
Geschlechte, von uns Herren Europäern, überkommen konnten, aber die
gerade bei den anderen wieder zu einem neuen verdoppelten Übel wird.
Denn es sind üble Zeiten, wo die Geschlechter ihre Krankheiten
austauschen und eines dem andern seine angeborenen Schwachheiten
mitteilt. Dies waren so meine unwissenden hypochondrischen Gedanken
über die Weiber, welche meinem Verhalten gegen sie zugrunde lagen und
mit welchen ich meiner Wege ging, ohne mich um eine zu bekümmern.

Als nun die schöne Lydia bei uns anlangte und ich mich täglich in
ihrer Nähe befand, erhielt meine ganze Weisheit einen Stoß und fiel
zusammen. Es war mir gleich von Grund aus wohl zumute, wenn sie
zugegen war, und ich wußte nicht, was ich hieraus machen sollte.
Höchlich verwundert war ich, weder Groll noch Verachtung gegen diese
zu empfinden, weder Geringschätzung, noch jene Lust, doch verstohlen
nach ihr hinzuschielen; vielmehr freute ich mich ganz unbefangen über
ihr Dasein und sah sie ohne Unbescheidenheit, aber frei und offen an,
wenn ich in ihrer Nähe zu tun hatte. Dies fiel mir um so leichter, als
ich in meiner Stellung als armer Soldat kein Wort an sie zu richten
brauchte, ohne gefragt zu werden, und also kein anderes Benehmen zu
beobachten hatte, als dasjenige eines sich aufrechthaltenden
ernsthaften Unteroffiziers. Auch war mir das Schweigen, besonders
gegenüber den Weibern, so zur andern Natur geworden durch das
langjährige Kopfhängen, daß ich beim besten Willen jetzt nicht hätte
eine Ausnahme machen können, auch wenn es sich geschickt hätte.
Dennoch fühlte ich ein großes und ungewöhnliches Wohlwollen für diese
Person, war in meinem Herzen sehr gut auf sie zu sprechen und ihr zu
Gefallen veränderte ich meine schlechten Ansichten von den Frauen und
dachte mir, es müßte doch nicht so übel mit ihnen stehen, wenigstens
sollten sie um dieser einen willen von nun an mehr Gnade finden bei
mir. Ich war sehr froh, wenn Lydia zugegen war oder wenn ich
Veranlassung fand, mich dahin zu verfügen, wo sie eben war; doch tat
ich deswegen nicht einen Schritt mehr, als im natürlichen Gange der
Dinge lag; nicht einmal blickte oder ging ich, wenn ich mich im
gleichen Raume mit ihr befand, ohne einen bestimmten vernünftigen
Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine solche Ruhe in mir, wie
das kühle Meerwasser, wenn kein Wind sich regt und die Sonne obenhin
daraufscheint.

Dies verhielt sich so ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch
etwas darüber, ich weiß es nicht mehr genau; denn die ganze
Zeitrechnung von damals ist mir verlorengegangen, der ganze Zeitraum
schwebt mir nur noch wie ein schwüler von Träumen durchzogener
Sommertag vor. Während dieses Anfanges nun, dessen längere oder
kürzere Dauer ich nicht mehr weiß, ging so alles gut und ruhig
vonstatten. Die Dame, obgleich sie mich öfters sehen mußte, hatte
nicht besonders viel mit mir zu verkehren oder zu sprechen, wenn sie
es aber tat, so war sie außerordentlich freundlich und tat es nie,
ohne mit einem kindlichen harmlosen Lachen ihres schönen Gesichtes,
was ich dann dankbarst damit erwiderte, daß ich ein um so ehrbareres
Gesicht machte und den Mund nicht verzog, indem ich sagte: Sehr wohl,
mein Fräulein! oder auch unbefangen widersprach, wenn sie sich irrte,
was indes selten geschah. War sie aber nicht zugegen oder ich allein,
so dachte ich wohl vielfältig an sie, aber nicht im mindesten wie ein
Verliebter, sondern wie ein guter Freund oder Verwandter, welcher
aufrichtig um sie bekümmert war, ihr alles Wohlergehen wünschte und
allerlei gute Dinge für sie ausdachte. Kaum ging eine leise
Veränderung dadurch mit mir vor, wenn ich mich recht entsinne, daß ich
gegenüber dem Gouverneur ein wenig mehr auf mich hielt, ein wenig mehr
den Soldaten hervorkehrte, der nichts als seine Pflicht kennt, und in
meinen übrigen Dienstleistungen mehr den Schein der Unabhängigkeit
wahrte, wie ich denn auch in keinerlei Lohnverhältnis zu ihm stand
und, nachdem die eigentliche Arbeit auf seinem Bureau getan, wofür ich
besoldet war, alles übrige als ein guter Vertrauter mitmachte und nur,
da es die Gelegenheit mit sich brachte, etwa mit ihm aß und trank. Und
so war ich, wie schon gesagt, vollkommen ruhig und zufrieden, was sich
freilich auf meine besondere Weise ausnehmen mochte.

Da geschah es eines Tages, als ich unter den schattigen Bäumen mir zu
tun machte, daß die Lydia innerhalb einer kurzen Stunde dreimal
herkam, ohne daß sie etwas da zu tun oder auszurichten hatte. Das
erstemal setzte sie sich auf einen umgestürzten Korb und aß ein
kleines Körbchen voll roter Kirschen auf, indem sie fortwährend mit
mir plauderte und mich zum Reden veranlaßte. Das andere Mal kam sie
und rückte den Korb ganz nahe an das Rosenbäumchen, das ich eben
säuberte, setzte sich abermals darauf und nähte ein weißes seidenes
Band auf ein zierliches Nachthäubchen oder was es war; denn genau
konnte ich es nicht unterscheiden, da ich diesmal kaum hinsah und ihr
nur wenig Bescheid gab, indem ich etwas verlegen wurde. Sie ging bald
wieder fort und kam zum dritten Male mit einem feinen kunstvoll in
Elfenbein gearbeiteten Geduldspiel aus China, packte den alten Korb
und schleppte ihn wieder weg, indem sie sich in einiger Entfernung
daraufsetzte, mir den Rücken zuwendend, und ganz still das Spiel zu
lösen versuchte. Ich blickte jetzt unverwandt nach ihr hin, bis sie,
das Spielzeug in die Tasche steckend, unversehens sich erhob und einen
seltsamen wohllautenden Triller singend davonging, ohne sich wieder
nach mir umzusehen. Dies alles wollte mir nicht klar sein noch
einleuchten, und meine Seele rümpfte leise die Nase zu diesem Tun;
aber von Stund an war ich verliebt in Lydia.

In der wunderbarsten gelinden Aufregung ließ ich mein Bäumchen stehen,
holte die Doppelbüchse und streifte in den Abend hinaus weit in die
Wildnis. Viele Tiere sah ich wohl, aber alle vergaß ich zu schießen;
denn wie ich auf eines anschlagen wollte, dachte ich wieder an das
Benehmen dieser Dame und verlor so das Tier aus den Augen.

Was will sie von dir, dachte ich, und was soll das heißen? Indem ich
aber hierüber hin und her sann, entstand und lohete schon eine große
Dankbarkeit in mir für alles mögliche und unmögliche, was irgend in
dem Vorfalle liegen mochte, wogegen mein Ordnungssinn und das
Bewußtsein meiner geringen und wenig anmutigen Person den
widerwärtigsten Streit erhob. Als ich hieraus nicht klug wurde,
verfielen meine Gedanken plötzlich auf den Ausweg, daß diese scheinbar
so schöne und tüchtige Frau am Ende ganz einfach ein leichtfertiges
und verbuhltes Wesen sei, das sich zu schaffen mache, mit wem es sei,
und selbst mit einem armen Unteroffizier eine schlechte Geschichte
anzuheben nicht verschmähe. Diese verwünschte Ansicht tat mir so weh
und traf mich so unvermutet, daß ich wutentbrannt einen ungeheuren
rauhen Eber niederschoß, der eben durch die hohen Bergkräuter
heranbrach, und meine Kugel saß fast gleichzeitig und ebenso
unvermutet und unwillkommen in seinem Gehirn, wie jener
niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und schon war mir zumute, als
ob das wilde Tier noch zu beneiden wäre um seine Errungenschaft im
Vergleich zu der meinigen. Ich setzte mich auf die tote Bestie; vor
meinen Gedanken ging die schöne Gestalt vorüber und ich sah sie
deutlich, wie sie die drei Male gekommen war, mit jeder ihrer
Bewegungen, und jedes Wort tönte noch nach. Aber merkwürdigerweise
ging dies gute Gedächtnis noch über diesen Tag hinaus und zurück
überhaupt bis auf den ersten Tag, wo ich sie gesehen, den ganzen
Zeitraum hindurch, wo ich doch gänzlich ruhig gewesen. Wie man bei
ganz durchsichtiger Luft, wenn es Regen geben will, an entfernten
Bergen viele Einzelheiten deutlich sieht, die man sonst nicht
wahrnimmt, und in stiller Nacht die fernsten Glocken schlagen hört, so
entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus jenem ganzen Zeitraume
jede Art und Wendung ihrer Erscheinung, jedes einzelne Auftreten sich
ohne mein Wissen mir eingeprägt hatte, und fast jedes ihrer Worte,
selbst das gleichgültigste und vorübergehendste, hörte ich mit klar
vernehmlichem Ausdruck in der Stille dieser Wildnis wieder tönen.
Diese sämtliche Herrlichkeit hatte also gleichsam schlafend oder
heimlicherweise sich in mir aufgehalten und der heutige Vorgang hatte
nur den Riegel davor weggeschoben oder eine Fackel in ein Bund Stroh
geworfen. Ich vergaß über diesen Dingen wieder meinen schlechten Zorn
und beschäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten
Gedächtnisses und schenkte demselben nicht den kleinsten Zug, den es
mir von dem Bilde Lydias irgend liefern konnte. Auf diese Weise
schlenderte ich denn auch wieder der Behausung zu und überließ mich
allein diesen angenehmen Vorstellungen; jedoch vermochte ich nun nicht
mehr so unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu sein, und da ich nichts
anderes anzufangen wußte noch gesonnen war, so vermied ich möglichst
jeden Verkehr mit ihr, um desto eifriger an sie zu denken. So
vergingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas weiteres vorfiel, als
daß ich bemerkte, daß sie bei aller Zurückhaltung, die sie nun
beobachtete, dennoch keine Gelegenheit versäumte, irgend etwas zu
meinen Gunsten zu tun oder zu sagen, und sie fing an, mir völlig nach
dem Munde oder zu Gefallen zu sprechen, da sie Ausdrücke brauchte,
welche ich etwa gebraucht, und die Dinge so beurteilte, wie ich es zu
tun gewohnt war. Dies schien nun erst nichts Besonderes, weil es mich
eben von jeher angenehm dünkte, in ihr ganz dieselben Ansichten vom
Zweckmäßigen oder vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich selber
befleißigte; auch lachte sie über dieselben Dinge, über welche ich
lachen mußte, oder ärgerte sich über die nämlichen Unschicklichkeiten,
so etwa vorfielen. Aber zuletzt ward es so auffällig, daß sie mir, da
ich kaum ein Wort mit ihr zu sprechen hatte, zu Gefallen zu leben
suchte, und zwar nicht wie eine schelmische Kokette, sondern wie ein
einfaches argloses Kind, daß ich in die größte Verwirrung geriet und
vollends nicht mehr wußte, wie ich mich stellen sollte. So fand ich
denn, um mich zu salvieren, unverfänglich mein Heil in meiner alten
wohlhergestellten Schmollkunst und verhärtete mich vollkommen in
derselben, zumal ich mich nichts weniger als glücklich fühlte in
diesem sonderbaren Verhältnis. Nun schien sie wahrhaft bekümmert und
niedergeschlagen, kleinlaut und schüchtern zu werden, was zu ihrem
sonstigen resoluten und tüchtigen Wesen eine verführerische Wirkung
hervorbrachte, da man an den gewöhnlichen Weibern und, je kleinlicher
sie sind, desto weniger gewohnt ist, sie durch solche schüchterne
Bescheidenheit glänzen und bestechen zu sehen. Vielmehr glauben sie,
nichts stehe ihnen besser zu Gesicht, als eine schreckliche Sicherheit
und Unverschämtheit. Da nun sogar noch der alte Gouverneur anfing, in
einer mir unverständlichen und wenig delikaten Laune zu sticheln und
zu scherzen und zehnmal des Tages sagte: ‚Wahrhaftig, Lydia, du bist
verliebt in den Pankrazius!' so ward mir das Ding zu bunt; denn ich
hielt das für einen sehr schlechten Spaß, in betreff auf seine Tochter
für geschmacklos und vom ordinärsten Tone, in bezug auf mich aber für
gewissenlos und roh, und ich war oft im Begriff, es ihm offen zu sagen
und mich den Teufel um ihn weiter zu kümmern. Letzteres tat ich auch
insofern, als ich mich nun gänzlich zusammennahm und in mich selber
verschloß. Lydia wurde eintönig, ja sie schien nun sogar bleich und
leidend zu werden, was mich tief bekümmerte, ohne daß ich daraus etwas
Kluges zu machen wußte. Als sie aber trotz meines Verhaltens wieder
anfing, mir nachzugehen und sich fortwährend zu schaffen machte, wo
ich mich aufhielt, geriet ich in Verzweiflung und in der Verzweiflung
begann ich, abgebrochene und ungeschickte Unterhaltungen mit ihr zu
pflegen. Es war gar nichts, was wir sprachen, ganz unartikuliertes
jämmerliches Zeug, als ob wir beide blödsinnig wären; allein beide
schienen gar nicht hieran zu denken, sondern lachten uns an wie
Kinder; denn auch ich vergaß darüber alles andere und war endlich
froh, nur diese kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein das Glück
dauerte nie länger als zwei Minuten, da wir den Faden aus Mangel an
Ruhe und Besonnenheit sogleich wieder verloren und dann zwei Kindern
glichen, die ein Perlenband aufgezettelt haben und mit Betrübnis die
schönen Perlen entgleiten sehen. Alsdann dauerte es wieder wochenlang,
bis eine dieser großen Unternehmungen wieder gelang, und nie tat ich
den ersten Schritt dazu, da ich gleich darauf wieder nur bedacht war,
mir nichts zu vergeben und keine Dummheiten zu begehen bei diesen
etwas ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war ich entschlossen, auf und
davonzugehen, allein die Zeit verging mir so eilig, daß ich die Tat
immer wieder hinausschieben mußte. Denn meine Gedanken waren jetzt
ausschließlich mit dieser Sache beschäftigt und es ging mir dabei
äußerst seltsam.

Mit den Büchern des Gouverneurs war ich endlich so ziemlich fertig
geworden und wußte nichts mehr aus denselben zu lernen. Lydia, welche
mich so oft lesen sah, benutzte diese Gelegenheit und gab mir von den
ihrigen. Darunter war ein dicker Band wie eine Handbibel und er sah
auch ganz geistlich aus, denn er war in schwarzes Leder gebunden und
vergoldet. Es waren aber lauter Schauspiele und Komödien darin mit der
kleinsten englischen Schrift gedruckt. Dies Buch nannte man den
Shakespeare, welches der Verfasser desselben und dessen Kopf auch
vorne drin zu sehen war. Dieser verführerische falsche Prophet führte
mich schön in die Patsche. Er schildert nämlich die Welt nach allen
Seiten hin durchaus einzig und wahr wie sie ist, aber nur wie sie es
in den ganzen Menschen ist, welche im Guten und im Schlechten das
Metier ihres Daseins und ihrer Neigungen vollständig und
charakteristisch betreiben und dabei durchsichtig wie Kristall, jeder
vom reinsten Wasser in seiner Art, so daß, wenn schlechte Skribenten
die Welt der Mittelmäßigkeit und farblosen Halbheit beherrschen und
malen und dadurch Schwachköpfe in die Irre führen und mit tausend
unbedeutenden Täuschungen anfüllen, dieser hingegen eben die Welt des
Ganzen und Gelungenen in seiner Art, d. h. wie es sein soll,
beherrscht, und dadurch gute Köpfe in die Irre führt, wenn sie in der
Welt dies wesentliche Leben zu sehen und wiederzufinden glauben. Ach
es ist schon in der Welt, aber nur niemals da, wo wir eben sind oder
dann, wann wir leben. Es gibt noch verwegene schlimme Weiber genug,
aber ohne den schönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange
Reiben der kleinen Hand. Die Giftmischerinnen, die wir treffen, sind
nur frech und reulos und schreiben gar noch ihre Geschichte oder legen
einen Kramladen an, wenn sie ihre Strafe überstanden. Es gibt noch
Leute genug, die wähnen Hamlet zu sein, und sie rühmen sich dessen,
ohne eine Ahnung zu haben von den großen Herzensgründen eines wahren
Hamlet. Hier ist ein Blutmensch, ohne Macbeths dämonische und doch
wieder so menschliche Mannhaftigkeit, und dort ein Richard der Dritte,
ohne dessen Witz und Beredsamkeit. Hier ist eine Porzia, die nicht
schön, dort eine, die nicht geistreich, dort wieder eine, die
geistreich, aber nicht klug ist und wohl versteht, Leute unglücklich
zu machen, nicht aber sich selbst zu beglücken. Unsere Shylocks
möchten uns wohl das Fleisch ausschneiden, aber sie werden nun und
nimmer eine Barauslage zu diesem Behuf wagen, und unsere Kaufleute von
Venedig geraten nicht wegen eines lustigen Habenichts von Freund in
Gefahr, sondern wegen einfältigen Aktienschwindels und halten dann
nicht im mindesten so schöne melancholische Reden, sondern machen ein
ganz dummes Gesicht dazu. Doch eigentlich sind, wie gesagt, alle
solche Leute wohl in der Welt, aber nicht so hübsch beisammen, wie in
jenen Gedichten; nie trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen
wehrbaren Mann, nie ein vollständiger Narr auf einen unbedingt klugen
Fröhlichen, so daß es zu keinem rechten Trauerspiel und zu keiner
guten Komödie kommen kann.

Ich aber las nun die ganze Nacht in diesem Buche und verfing mich ganz
in demselben, da es mir gar so gründlich und sachgemäß geschrieben
schien und mir außerdem eine solche Arbeit ebenso neu als
verdienstlich vorkam. Weil nun alles übrige so trefflich, wahr und
ganz erschien und ich es für die eigentliche und richtige Welt hielt,
so verließ ich mich insbesondere auch bei den Weibern, die es
vorbrachte, ganz auf ihn, verlockt und geleitet von dem schönen Sterne
Lydia, und ich glaubte, hier ginge mir ein Licht auf und sei die
Lösung meiner zweifelvollen Verwirrung und Qual zu finden.

Gut! dachte ich, wenn ich diese schönen Bilder der Desdemona, der
Helena, der Imogen und anderer sah, die alle aus der hohen
Selbstherrlichkeit ihres Frauentums heraus so seltsamen Käuzen
nachgingen und anhingen, rückhaltlos wie unschuldige Kinder, edel,
stark und treu wie Helden, unwandelbar und treu wie die Sterne des
Himmels: gut! hier haben wir unsern Fall! Denn nichts anderes als ein
solches festes, schöngebautes und gradausfahrendes Frauenfahrzeug ist
diese Lydia, die ihren Anker nur einmal und dann in eine
unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß, was sie will. Diese
Meinung ging gleich einer strahlenden heißen Sonne in mir auf und in
deren Licht sah ich nun jede Bewegung und jede kleinste Handlung,
jedes Wort des schönen Geschöpfes, und es dauerte nicht lange, so
überbot sie in meinen Augen alles, was der gute Dichter mit seiner
mächtigen Einbildungskraft erfunden, da dies lebendige Gedicht im
Lichte der Sonne umherging in Fleisch und Blut, mit wirklichen
Herzschlägen und einem tatsächlichen Nacken voll goldener Locken.

Das unheimliche Rätsel war nun gelöst und ich hatte nichts weiter zu
tun, als mich in diese mit dem Shakespeare in die Wette
zusammengedichtete Seligkeit zu finden und mit Mühe meine geringfügige
und unliebliche Person für eine solche Laune des Schicksals oder des
königlich großmütigen Frauengemütes einigermaßen leidlich
zurechtzustutzen mittelst hundertfacher Pläne und Aussichten, welche
sich an das große schöne Luftschloß anbaueten. Die unendliche
Dankbarkeit und Verehrung, welche ich solchergestalt gegen die
Geliebte empfand, hatte allerdings zum guten Teil ihren Grund in
meiner sich geschmeichelt fühlenden Eigenliebe; aber gewiß auch zum
noch größeren Teile darin, daß diese Erklärungsweise die einzige war,
welche mir möglich schien, ohne dies teuerste Wesen verachten und
bemitleiden zu müssen; denn eine hohe Achtung, die ich für sie
empfand, war mir zum Lebensbedürfnis geworden und mein Herz zitterte
vor ihr, das noch vor keinem Menschen und vor keinem wilden Tiere
gezittert hatte.

So ging ich wohl ein halbes Jahr lang herum wie ein Nachtwandler, von
Träumen so vollhängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles, ohne mit Lydia
um einen Schritt weiterzukommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinsten
möglichen Ereignis, etwa wie ein guter Christ vor dem Tode, den er
zagend scheut, obgleich er durch selbigen in die ewige Seligkeit
einzugehen gewiß ist. Desto bunter ging es in meinem Gehirn zu und die
Ereignisse und aufregendsten Geschichten, alles aufs schönste und
unzweifelhafteste sich begebend, drängten und blühten da
durcheinander. Ich versäumte meine Geschäfte und war zu nichts zu
gebrauchen. Das Ärgste war mir, wenn ich stundenlang mit dem Alten
Schach spielen mußte, wo ich dann gezwungen war, meine Aufmerksamkeit
an das Spiel zu fesseln, und die einzige Muße für meine schweren
Liebesgedanken gewährte mir die kurze Zeit, wenn ein Spiel zu Ende war
und die Figuren wieder aufgestellt wurden. Ich ließ mich daher sobald
als immer möglich, ohne daß es zu sehr auffiel, matt machen und hielt
mich so lange mit dem Aufstellen des Königs und der Königin, der
Läufer, Springer und Bauern auf und rückte so lange an den Türmen hin
und her, daß der Gouverneur glaubte, ich sei kindisch geworden und
tändle mit den Figürchen zu meinem Vergnügen.

Endlich aber drohete meine ganze Existenz sich in müßige
Traumseligkeit aufzulösen, und ich lief Gefahr, ein Tollhäusler zu
werden. Zudem war ich trotz aller dieser goldenen Luftschlösser
unsäglich kleinmütig und traurig, da, ehe das letzte Wort gesprochen
ist, die solchen wuchernden Träumen gegenüber immer zurückstehende
Wirklichkeit niederdrückt und die leibhafte Gegenwart etwas
Abkühlendes und Abwehrendes behält. Es ist das gewissermaßen die
schützende Dornenrüstung, womit sich die schöne Rose des körperlichen
Lebens umgibt. Je freundlicher und zutunlicher Lydia wurde, desto
ungewisser und zweifelhafter wurde ich, weil ich an mir selbst
entnahm, wie schwer es einem möglich wird, eine wirkliche Liebe zu
zeigen, ohne sie ganz bei ihrem Namen zu nennen. Nur wenn sie streng,
traurig und leidend schien, schöpfte ich wieder einen halben Grund zu
einer vernünftigen Hoffnung, aber dies quälte mich alsdann noch viel
tiefer und ich hielt mich nicht wert, daß sie nur eine schlimme Minute
um meinetwillen erleiden sollte, der ich gern den Kopf unter ihre Füße
gelegt hätte. Dann ärgerte ich mich wieder, daß sie, um guter Dinge zu
sein, verlangte, ich sollte etwa aussehen wie ein verliebter
närrischer Schneider, da ich doch kein solcher war und ich auf meine
Weise schon gedachte, beweglich zu werden zu ihrem Wohlgefallen. Kurz,
ich ging einer gänzlichen Verwirrung entgegen, war nicht mehr
imstande, ein einziges Geschäft ordnungsgemäß zu verrichten, und lief
Gefahr, als Soldat rückwärts zu kommen oder gar verabschiedet zu
werden, wenn ich nicht als ein abhängiger dienstbarer Lückenbüßer, der
zu weiter nichts zu brauchen, mich an das Haus des Gouverneurs hängen
wollte.

Als daher die Engländer in bedenkliche Feindseligkeiten mit indischen
Völkern gerieten und ein Feldzug eröffnet wurde, der nachher ziemlich
blutig für sie ausfiel, entschloß ich mich kurz und trat wieder in
meine Kompanie als guter Kombattant, vom Gouverneur meinen Abschied
nehmend. Derselbe wollte zwar nichts davon wissen, sondern polterte,
bat und schmeichelte mir, daß ich bleiben möchte, wie alle solche
Leute, die glauben, alles stehe mit seinem Leib und Leben, mit seinem
Wohl und Wehe nur zu ihrer Verfügung da, um ihnen die Zeit zu
vertreiben und zur Bequemlichkeit zu dienen. Lydia hingegen ließ sich
während der drei oder vier Tage, während welcher von meinem Abzug die
Rede war, kaum sehen. Geschah es aber, so sah sie mich nicht an oder
warf einen kurzen Blick voll Zornes auf mich, wie es schien; aber nur
das Auge schien zornig, ihr Gang und die übrigen Bewegungen waren
dabei so still, edel und an sich haltend, daß dieser schöne Zorn mir
das Herz zerriß. Auch hörte ich, daß sie des Morgens sehr spät zum
Vorschein käme und daß man sich darüber den Kopf zerbräche; denn es
deutete darauf, daß sie des Nachts nicht schlafe, und als ich sie am
letzten Tage zufällig hinter ihrem Fenster sah, glaubte ich zu
bemerken, daß sie ganz verweinte Augen hatte; auch zog sie sich
schnell zurück, als ich vorüberging. Nichtsdestominder schritt ich
meinen steifen Feldwebelsgang ruhig fort und verrichtete alles, weder
rechts noch links sehend. So ging ich auch gegen Abend mit einem
Burschen noch einmal durch die Pflanzungen, um ihm die Obhut derselben
einigermaßen zu zeigen und ihn, so gut es ging, zu einem
provisorischen Gärtner zuzustutzen, bis sich ein tauglicheres Subjekt
zeigen würde. Wir standen eben in einem schlanken Rosenwäldchen, das
ich gezogen hatte; die Bäumen ragten just in die Höhe des Gesichtes
und waren so dicht, daß, wenn man darin herumging, die Rosen einem an
der Nase streiften, was sehr artig und bequem war und wozu der
Gouverneur sehr gelacht hatte, da er sich nun nicht mehr zu bücken
brauchte, um an den Rosen zu riechen. Als ich dem Burschen meine
Anweisungen erteilte, kam Lydia herbei und schickte ihn mit
irgendeinem Auftrage weg, und indem sie gleich mitzugehen willens
schien, zögerte sie doch eine kurze Zeit, einige Rosen brechend, bis
der Diener weg war. Ich zerrte ebenfalls noch ein Weilchen an einem
Zweige herum und wie ich mich umdrehte, um zu gehen, sah ich, daß ihr
Tränen aus den Augen fielen. Ich hatte Mühe, mich zu bezwingen, doch
tat ich, als ob ich nichts gesehen, und eilte hinweg. Doch kaum war
ich zehn Schritte gegangen, als ich hörte und fühlte, wie sie, bald
laufend, bald stehenbleibend, hinter mir herkam, und so eine ganze
Strecke weit. Ich hielt dies nicht mehr aus, wandte mich plötzlich um
und sagte zu ihr, die kaum noch drei Schritte von mir entfernt war:
‚Warum gehen Sie mir nach, Fräulein?'

Sie stand still, wie von einer Schlange erschreckt, und wurde, den
Blick zur Erde gesenkt, glühendrot im Gesicht; dann wurde sie bleich
und weiß und zitterte am ganzen Leibe, während sie die großen blauen
Augen zu mir aufschlug und nicht ein Wort hervorbrachte. Endlich sagte
sie mit einer Stimme, in welcher empörter Stolz mit gern ertragener
Demütigung rang: ‚Ich denke, ich kann in meinem Besitztume herumgehen,
wo ich will!'

‚Gewiß!' erwiderte ich kleinlaut und setzte meinen Weg fort. Sie war
jetzt an meiner Seite und ging neben mir her. Ich ging aber in meiner
heftigen Aufregung mit so langen und raschen Schritten, daß sie trotz
ihrer kräftigen Bewegungen mir mit Mühe folgen konnte, und doch tat
sie es. Ich sah sie mehrmals groß an von der Seite und sah, daß ihr
die Augen wieder voll Wasser standen, indessen dieselben wie
kummervoll und demütig auf den Boden gerichtet waren. Mir brannte es
ebenfalls siedendheiß im Gesicht und meine Augen wurden auch naß. Die
Sache stand jetzt dergestalt auf der Spitze, daß ich entweder eine
Dummheit oder eine Gewissenlosigkeit zu begehen im Begriffe stand,
wovon ich weder das eine noch das andere zu tun gesonnen war. Doch
dachte ich, indem ich so neben ihr herschritt, in meinen armen
Gedanken: Wenn dies Weib dich liebt und du jemals mit Ehren an ihre
Hand gelangest, so sollst du ihr auch dienen bis in den Tod, und wenn
sie der Teufel selbst wäre!

Indem erreichten wir eine Stätte, wo ein oder zwei Dutzend
Orangenbäume standen und die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, während
ein süßer frischer Lufthauch durch die reinlichen edelgeformten Stämme
wehte. Ich glaube diesen betörenden Hauch und Duft noch jetzt zu
fühlen, wenn ich daran denke, wahrscheinlich übte er eine ähnliche
Wirkung auf das Geschöpf, das neben mir ging, daß es seine wundersame
Leidenschaft, welche die Liebe zu sich selbst war, so aufs äußerste
empfand und darstellte, als ob es eine wirkliche Liebe zu einem Manne
wäre; denn sie ließ sich auf eine Bank unter den Orangen nieder und
senkte das schöne Haupt auf die Hände; die goldenen Haare fielen
darüber und reiche Tränen quollen durch ihre Finger.

Ich stand vor ihr still und sagte mit versagender Stimme: ‚Was wollen
Sie denn, was ist Ihnen, Fräulein Lydia?'

‚Was wollen Sie denn!' sagte sie, ‚ist es je erhört, eine schöne und
feine Dame so zu quälen und zu mißhandeln! Aus welchem barbarischen
Lande kommen Sie denn? Was tragen Sie für ein Stück Holz in der
Brust?'

‚Wie quäle, wie mißhandle ich denn?' erwiderte ich unschlüssig und
betreten; denn obgleich sie einen guten Sinn haben konnte, schien mir
diese Sprache dennoch nicht die rechte zu sein.

‚Sie sind ein grober und übermütiger Mensch!' sagte sie, ohne
aufzublicken.

Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und erwiderte, ‚Sie würden
dies nicht sagen, mein Fräulein, wenn Sie wüßten, wie wenig grob und
übermütig ich in meinem Herzen gegen Sie gesinnt bin! Und es ist
gerade meine große Höflichkeit und Demut, welche--'

Sie blickte, als ich wieder verstummte, auf, und das Gesicht mit einem
schmerzlichen, bittenden Lächeln aufgehellt, sagte sie hastig: ‚Nun?'
Wobei sie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt um den letzten Rest
von Überlegung brachte. Ich, der ich es nie für möglich gehalten
hätte, selbst dem geliebtesten Weibe zu Füßen zu fallen, da ich
solches für eine Torheit und Ziererei ansah, ich wußte jetzt nicht,
wie ich dazu kam, plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz
hinzugeben und zerknirscht in den Saum ihres Gewandes zu verbergen,
den ich mit heißen Tränen benetzte. Sie stieß mich jedoch
augenblicklich zurück und hieß mich aufstehen; doch als ich dies tat,
hatte sich ihr Lächeln noch vermehrt und verschönert und ich rief nun:
‚Ja--so will ich es Ihnen nur sagen', und so weiter, und erzählte ihr
meine ganze Geschichte mit einer Beredsamkeit, die ich mir kaum je
zugetraut. Sie horchte begierig auf, während ich ihr gar nichts
verschwieg vom Anfang bis zu dieser Stunde und besonders ihr auch aus
überströmendem Herzen das Bild entwarf, das von ihr in meiner Seele
lebte und wie ich es seit einem halben Jahre oder mehr so emsig und
treu ausgearbeitet und vollendet. Sie lachte, vor sich niedersehend
und voll Zufriedenheit lauschend, die Hand unter das Kinn stützend,
und sah immer mehr einem seligen Kinde gleich, dem man ein gewünschtes
Spielzeug gegeben, als sie hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer
Vorzüge und Reize und nicht eines ihrer Worte bei mir verlorengegangen
war. Dann reichte sie mir die Hand hin und sagte, freundlich errötend,
doch mit zufriedener Sicherheit: ‚Ich danke Ihnen sehr, mein Freund,
für Ihre herzliche Zuneigung! Glauben Sie, es schmerzt mich, daß Sie
um meinetwillen so lange besorgt und eingenommen waren; aber Sie sind
ein ganzer Mann und ich muß Sie achten, da Sie einer so schönen und
tiefen Neigung fähig sind!'

Diese ruhige Rede fiel zwar wie ein Stück Eis in mein heißes Blut;
doch gedachte ich sogleich, es ihr wohl und von Herzen zu gönnen, wenn
sie jetzt die gefaßte und sich zierende Dame machen wolle, und mich in
alles zu ergeben, was sie auch vornehmen und welchen Ton sie auch
anschlagen würde.

Doch erwiderte ich bekümmert: ‚Wer spricht denn von mir, schöne,
schöne Lydia! Was hat alles, was ich leide oder nicht leide, erlitten
habe oder noch erleiden werde, zu sagen, gegenüber auch nur einer
unmutigen oder gequälten Minute, die Sie erleiden? Wie kann ich
unwerter und ungefüger Geselle eine solche je ersetzen oder vergüten?'

‚Nun,' sagte sie, immer vor sich niederblickend und immer noch
lächelnd, doch schon in einer etwas veränderten Weise, ‚nun, ich muß
allerdings gestehen, daß mich Ihr schroffes und ungeschicktes Benehmen
sehr geärgert und sogar gequält hat; denn ich war an so etwas nicht
gewöhnt, vielmehr daß ich überall, wo ich hinkam, Artigkeit und
Ergebenheit um mich verbreitete. Ihre scheinbare grobe Fühllosigkeit
hat mich ganz schändlich geärgert, sage ich Ihnen, und um so mehr, als
mein Vater und ich viel von Ihnen hielten. Um so lieber ist es mir
nun, zu sehen, daß Sie doch auch ein bißchen Gemüt haben, und
besonders, daß ich an meinem eigenen Werte nicht länger zu zweifeln
brauche; denn was mich am meisten kränkte, war tiefer Zweifel an mir
selbst, an meinem persönlichen Wesen, der in mir sich zu regen begann.
Übrigens, bester Freund, empfinde ich keine Neigung zu Ihnen, so wenig
als zu jemand anderm, und hoffe, daß Sie sich mit aller Hingebung und
Artigkeit, die Sie soeben beurkundet, in das Unabänderliche fügen
werden, ohne mir gram zu sein!'

Wenn sie geglaubt, daß ich nach dieser unbefangenen Eröffnung gänzlich
rat- und wehrlos vor ihr darniederliegen werde, so hatte sie sich
getäuscht. Vor dem vermeintlich guten und liebevollen Weibe hatte mein
Herz gezittert, vor dem wilden Tiere dieser falschen gefährlichen
Selbstsucht zitterte ich so wenig mehr, als ich es vor Tigern und
Schlangen zu tun gewohnt war. Im Gegenteil, anstatt verwirrt und
verzweifelt zu sein und die Täuschung nicht aufgeben zu wollen, wie es
sonst wohl geschieht in dergleichen Auftritten, war ich plötzlich so
kalt und besonnen, wie nur ein Mann es sein sonnte, der auf das
schmählichste beleidigt und beschimpft worden ist, oder wie ein Jäger
es sein kann, der statt eines edlen scheuen Rehes urplötzlich eine
wilde Sau vor sich sieht. Ein seltsam gemischtes, unheimliches Gefühl
von Kälte freilich, wenn ich bei alledem die Schönheit ansehen mußte,
die da vor mir glänzte. Doch dieses ist das unheimliche Geheimnis der
Schönheit.

Indessen, wäre ich nicht von der Sonne ganz braungebrannt gewesen, so
würde ich jetzt dennoch so weiß ausgesehen haben, wie die
Orangenblüten über mir, als ich ihr nach einigem Schweigen erwiderte.
‚Und also um Ihren edlen Glauben an Ihre Persönlichkeit herzustellen,
war es Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und tiefen Liebe und
Selbstentäußerung zu verwenden? Zu diesem Zwecke gingen Sie mir nach,
wie ein unschuldiges Kind, das seine Mutter sucht, redeten Sie mir
fortwährend nach dem Munde, wurden Sie bleich und leidend, vergossen
Sie Tränen und zeigten eine so goldene und rückhaltlose Freude, wenn
ich mit Ihnen nur ein Wort sprach?'

‚Wenn es so ausgesehen hat, was ich tat,' sagte sie noch immer
selbstzufrieden, ‚so wird es wohl so sein. Sie sind wohl ein wenig
böse, eitler Mann! daß Sie nun doch nicht der Gegenstand einer gar so
demutvollen und grenzenlosen weiblichen Hingebung sind?' ‚Daß ich
Ärmste nicht das sehnlich blökende Lämmlein bin, für das Sie mich in
Ihrer Vergnügtheit gehalten?'

‚Ich war nicht vergnügt, Fräulein!' erwiderte ich. ‚Indessen wenn die
Götter, wenn Christus selbst einer unendlichen Liebe zu den Menschen
vielfach sich hingaben und wenn die Menschheit von jeher ihr höchstes
Glück darin fand, dieser rückhaltlosen Liebe der Götter wert zu sein
und ihr nachzugehen: warum sollte ich mich schämen, mich ähnlich
geliebt gewähnt zu haben? Nein, Fräulein Lydia! Ich rechne es mir
sogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fangen ließ, daß ich eher an
die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemütes glaubte, bei so
klaren und entschiedenen Zeichen, als daß ich verdorbenerweise nichts
als eine einfältige Komödie dahinter gefürchtet. Denn einfältig ist
die Geschichte! Welche Garantie haben Sie denn nun für Ihren Glauben
an sich selbst, da Sie solche Mittel angewendet, um nur den ärmsten
aller armen Kriegsleute zu gewinnen, Sie, die schöne und vornehme
englische Dame?'

‚Welche Garantie?' antwortete Lydia, die nun allmählich blaß und
verlegen wurde, ‚ei! Ihre verliebte Neigung, zu deren Erklärung ich
Sie endlich gezwungen habe! Sie werden mir doch nicht leugnen wollen,
daß Sie hingerissen waren und mir soeben erzählten, wie ich Ihnen von
jeher gefallen? Warum ließen Sie das in Ihrer Grobheit nicht ein klein
weniges merken, so wie es dem schlichtesten und anspruchslosesten
Menschen wohl ansteht, und wenn er ein Schafhirt wäre, so wurde uns
diese ganze Komödie, wie Sie es nennen, erspart worden sein und ich
hätte mich begnügt!'

‚Hätten Sie mich in meiner Ruhe gelassen, meine Schöne', erwiderte
ich, ‚so hätten Sie mehr gewonnen. Denn Sie scheinen zu vergessen, daß
dies Wohlgefallen sich jetzt notwendig in sein Gegenteil verkehren
muß, zu meinen eigenen Schmerzen!'

‚Hilft Ihnen nichts,' sagte sie, ‚ich weiß einmal, daß ich Ihnen
wohlgefallen habe und in Ihrem Blute wohne! Ich habe Ihr Geständnis
angehört und bin meiner Eroberung versichert. Alles übrige ist
gleichgültig; so geht es zu, bester Herr Pankrazius, und so werden
diejenigen bestraft, die sich vergehen im Reiche der Königin
Schönheit!' ‚Das heißt,' sagte ich, ‚es scheint dies Reich eher einer
Zigeunerbande zu gleichen. Wie können Sie eine Feder auf den Hut
stecken, die Sie gestohlen haben, wie eine gemeine Ladendiebin? gegen
den Willen des Eigentümers?'

Sie antwortete: ‚Auf diesem Felde, bester Herr Eigentümer, gereicht
der Diebstahl der Diebin zum Ruhm, und Ihr Zorn beweist nur aufs neue,
wie gut ich Sie getroffen habe!'

So zankten wir noch eine gute halbe Stunde herum in dem süßen
Orangenhaine, aber mit bittern harten Worten, und ich suchte
vergeblich ihr begreiflich zu machen, wie diese abgestohlene und
erschlichene Liebesgeschichte durchaus nicht den Wert für sie haben
könnte, den sie ihr beilegte. Ich führte diesen Beweis nicht nur aus
philisterhafter Verletztheit und Dummheit, sondern auch um irgendeinen
Funken vom Gefühl ihres Unrechtes und der Unsittlichkeit ihrer
Handlungsweise in ihr zu erwecken. Aber umsonst! Sie wollte nicht
einsehen, daß eine rechte Gemütsverfassung erst dann in der vollen und
rückhaltlosen Liebe aufflammt, wenn sie Grund zur Hoffnung zu haben
glaubt; und also diesen Grund zu geben, ohne etwas zu fühlen, immer
ein grober und unsittlicher Betrug bleibt, und um so gewissenloser,
als der Betrogene einfacher, ehrlicher und argloser Art ist. Immer kam
sie auf das Faktum meiner Liebeserklärung zurück, und zwar warf sie,
die sonst ein so gesundes Urteil zu haben schien, die unsinnigsten,
kleinlichsten und unanständigsten Reden und Argumente durcheinander
und tat einen wahren Kindskopf kund. Während der ganzen Jahre unsers
Zusammenseins hatte ich nicht so viel mit ihr gesprochen, wie in
dieser letzten zänkischen Stunde, und nun sah ich, o gerechter Gott!
daß es ein Weib war von einem großangelegten Wesen, mit den Manieren,
Bewegungen und Kennzeichen eines wirklich edeln und seltenen Weibes,
und bei alledem mit dem Gehirn--einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie
ich sie nachmalen zu Dutzenden gesehen habe auf den Vaudevilletheatern
zu Paris! Während dieses Zankes aber verschlang ich sie dennoch
fortwährend mit den Augen und ihre unbegreifliche grundlose, so
persönlich scheinende Schönheit quälte mein Herz in die Wette mit dem
Wortwechsel, den wir führten. Als sie aber zuletzt ganz sinnlose und
unverschämte Dinge sagte, rief ich, in bittere Tränen ausbrechend: ‚O
Fräulein! Sie sind ja der größte Esel, den ich je gesehen habe!'

Sie schüttelte heftig die Wucht ihrer Locken und sah bleich und
erstaunt zu mir auf, wobei ein wilder schiefer Zug um ihren sonst so
schönen Mund schwebte. Es sollte wohl ein höhnisches Lächeln sein,
ward aber zu einem Zeichen seltsamer Verlegenheit.

‚Ja,' sagte ich, mit den Fäusten meine Tränen zerreibend, ‚nur wir
Männer können sonst Esel sein, dies ist unser Vorrecht, und wenn ich
Sie auch so nenne, so ist es noch eine Art Auszeichnung und Ehre für
Sie. Wären Sie nur ein bißchen gewöhnlicher und geringer, so würde ich
Sie einfach eine schlechte Gans schelten!'

Mit diesen Worten wandte ich mich endlich von ihr ab und ging, ohne
ferner nach ihr hinzublicken, aber mit dem Gefühle, daß ich das, was
mir jemals in meinem Leben von reinem Glück beschieden sein mochte,
jetzt für immer hinter mir lasse, und daß es jetzt vorbei wäre mit
meiner gläubigen Frömmigkeit in solchen Dingen.

Das hast du nun von deinem unglückseligen Schmollwesen! sagte ich zu
mir selbst, hättest du von Anbeginn zuweilen nur halb so lange mit ihr
freundlich gesprochen, so hätte es dir nicht verborgen bleiben können,
wes Geistes Kind sie ist, und du hättest dich nicht so gröblich
getäuscht! Fahr hin und zerfließe denn, du schönes Luftgebilde!

Als ich mich nun mit zerrissenen Gedanken vom Gouverneur
verabschiedete, sah mich derselbe vergnüglich und verschmitzt an und
blinzelte spöttisch mit den Augen. Ich merkte, daß er meine Affäre
wohl kannte, überhaupt dieselbe von jeher beobachtet hatte und eine
Art von schadenfrohem Spaß darüber empfand. Da er sonst ein ganz
biederer und honetter Mann war, so konnte das nichts anderes sein, als
die einfältige Freude aller Philister an grausamen und schlechten
Bratenspäßen. Im vorigen Jahrhundert belustigten sich große Herren
daran, ihre Narren, Zwerge und sonstigen Untergebenen betrunken zu
machen und dann mit Wasser zu begießen oder körperlich zu mißhandeln.
Heutzutage wird dies bei den Gebildeten nicht mehr beliebt; dagegen
unterhält man sich mit Vorliebe damit, allerlei feine Verwirrungen
anzuzetteln, und je weniger solche Philisterseelen selber einer
starken und gründlichen Leidenschaft fähig sind, desto mehr fühlen sie
das Bedürfnis, dergleichen mit mehr oder weniger plumpen Mitteln in
denen zu erwecken, die sich dazu eignen, in solche herzlos
aufgestellte Mausefallen zu geraten. Wenn nun der Gouverneur
seinerseits es nicht verschmähte, seine eigene Tochter als gebratenen
Speck zu verwenden, so war hiergegen nichts weiter zu sagen, und ich
nahm, obschon noch ein guter Gepäckwagen abfuhr, eigensinnig meinen
schweren Tornister und die Muskete auf den Rücken und führte einen
zurückgebliebenen Trupp in die Nacht hinaus dem Regimente nach, das
schon in der Frühe abmarschiert war.

Ich sah mich nach einem mühseligen und heißen Marsch nun in eine neue
Welt versetzt, als die Kampagne eröffnet war und die Truppen der
ostindischen Kompanie sich mit den wilden Bergstämmen an der äußersten
Grenze des indo-britischen Reiches herumschlugen. Einzelne Kompanien
unseres Regimentes waren fortwährend vorgeschoben; eines Tages aber
wurde die meinige so mörderisch umzingelt, daß wir uns mitten in einem
Knäuel von banditenähnlichen Reitern, Elefanten und sonderbar bemalten
und vergoldeten Wagen befanden, auf denen stille schöne hindostanische
Scheinfürsten saßen, von den wilden Häuptlingen als Puppen mitgeführt.
Unsere sämtlichen Offiziere fielen an diesen Tagen und die Kompanie
schmolz auf ein Drittel zusammen. Da ich mich ordentlich hielt und
einige Dienste leistete, so erlangte ich das Patent des ersten
Leutnants der Kompanie und nach Beendigung des Feldzuges war ich deren
Kapitän.

Als solcher hielt ich mit etwa hundertundfünfzig Mann zwei Jahre lang
einen kleinen Grenzbezirk besetzt, welcher zur Abrundung unseres
Gebietes erobert worden, und war während dieser Zeit der oberste
Machthaber in dieser heidnischen Wildnis. Ich war nun so einsam, als
ich je in meinem Leben gewesen, mißtrauisch gegen alle Welt und
ziemlich streng in meinem Dienstverkehr, ohne gerade böse oder
ungerecht zu sein. Meine Haupttätigkeit bestand darin, christliche
Polizei einzuführen und unsern Religionsleuten nachdrücklichen Schutz
zu gewähren, damit sie ungefährdet arbeiten konnten. Hauptsächlich
aber hatte ich das Verbrennen indischer Weiber zu verhüten, wenn ihre
Männer gestorben, und da die Leute eine förmliche Sucht hatten, unser
englisches Verbot zu übertreten und einander bei lebendigem Leibe zu
braten zu Ehren der Gattentreue, so mußten wir stets auf den Beinen
sein, um dergleichen zu hintertreiben. Sie waren dann ebenso mürrisch
und mißvergnügt, wie wenn hierzulande die Polizei ein unerlaubtes
Vergnügen stört. Einmal hatten sie in einem entfernten Dorfe die Sache
ganz schlau und heimlich soweit gebracht, daß der Scheiterhaufen schon
lichterloh brannte, als ich atemlos herzugeritten kam und das Völkchen
auseinanderjagte. Auf dem Feuer lag die Leiche eines uralten, gänzlich
vertrockneten Gockelhahns, welcher schon ein wenig brenzelte. Neben
ihm aber lag ein bildschönes Weibchen von kaum sechzehn Jahren,
welches mit lächelndem Munde und silberner Stimme seine Gebete sang.
Glücklicherweise hatte das Geschöpfchen noch nicht Feuer gefangen und
ich fand gerade noch Zeit, vom Pferde zu springen und sie bei den
zierlichen Füßchen zu packen und vom Holzstoß zu ziehen. Sie gebärdete
sich aber wie besessen und wollte durchaus verbrannt sein mit ihrem
alten Stänker, so daß ich die größte Mühe hatte, sie zu bändigen und
zu beschwichtigen. Freilich gewannen diese armen Witwen nicht viel
durch solche Rettung; denn sie fielen hernach unter den Ihrigen der
äußersten Schande und Verlassenheit anheim, ohne daß das Gouvernement
etwas dafür tat, ihnen das gerettete Leben auch leichtzumachen. Diese
Kleine gelang es mir indessen zu versorgen, indem ich ihr eine
Aussteuer verschaffte und an einen getauften Hindu verheiratete der
bei uns diente, dem sie auch getreulich anhing.

Allein diese wunderlichen Vorfälle beschäftigten meine Gedanken und
erweckten allmählich in mir den Wunsch nach dem Genusse solcher
unbedingten Treue, und da ich für diese Laune kein Weib zu meiner
Verfügung hatte, verfiel ich einer ganz weichlichen Sehnsucht, selber
so treu zu sein, und damit zugleich einer heißen Sehnsucht nach Lydia.
Da ich nun Rang und gute Aussichten besaß, schien es mir nicht
unmöglich, bei einem klugen Benehmen die schöne Person, falls sie noch
zu haben wäre, dennoch erlangen zu können, und in dieser tollen Idee
bestärkte mich noch der Umstand, daß sie sich doch so viel aufrichtige
und sorgenvolle Mühe gegeben, mir den Kopf zu verdrehen. Irgendeinen
Wert mußt du doch, dachte ich, in ihren Augen gehabt haben, sonst
hätte sie gewiß nicht so viel darangesetzt. Also gedacht, getan;
nämlich ich geriet jetzt auf die fixe Idee, die Lydia, wenn sie mich
möchte, zu heiraten, wie sie eben wäre, und ihr um ihrer schönen
Persönlichkeit willen, für die es nichts Ähnliches gab, treu und
ergeben zu sein ohne Schranken noch Ziel, auch ihre Verkehrtheit und
schlimmen Eigenschaften als Tugenden zu betrachten und dieselben zu
ertragen, als ob sie das süßeste Zuckerbrot wären. Ja, ich
phantasierte mich wieder so hinein, daß mir ihre Fehler, selbst ihre
teilweise Dummheit zum wünschbarsten aller irdischen Güter wurden, und
in tausend erfundenen Variationen wandte ich dieselben hin und her und
malte mir ein Leben aus, wo ein kluger und geschickter Mann die
Verkehrtheiten und Mängel einer liebenswürdigen Frau täglich und
stündlich in ebensoviel artige und erfreuliche Abenteuer zu verwandeln
und ihren Dummheiten mittels einer von Liebe und Treue getragenen
Einbildungskraft einen goldenen Wert zu verleihen wisse, so daß sie
lachend auf dieselben sich noch etwas zugut tun könne. Gott weiß, wo
ich diese geschäftige Einbildungskraft hernahm, wahrscheinlich immer
noch aus dem unglücklichen Shakespeare, den mir die Hexe gegeben und
womit sie mich doppelt vergiftet hatte. Es nimmt mich nur wunder, ob
sie auch selbst je mit Andacht darin gelesen hat!

Kurz, als ich hinlänglich wieder berauscht war von meinen Träumen und
von meinem entlegenen Posten zugleich abgelöst wurde, nahm ich Urlaub
und begab mich Hals über Kopf zu dem Gouverneur. Er lebte noch in den
alten Verhältnissen und empfing mich ganz gut und auch die Tochter war
noch bei ihm und empfing mich freundlicher, als ich erwartet. Kaum
hatte ich sie wieder gesehen und einige Worte sprechen gehört, so war
ich wieder ganz in sie vernarrt und in meiner fixen Idee vollends
bestärkt, und es schien mir unmöglich, ohne die Verwirklichung
derselben je frohzuwerden.

Allein sie betrieb nun das Geschäft in krankhafter Überreizung ganz
offen und großartig und frönte ihrer unglücklichen Selbstsucht ohne
allen Rückhalt. Sie war jetzt umgeben von einer Schar ziemlich roher
und eitler Offiziere, die ihr auf ganz ordinäre Weise den Hof machten
und sagten, was sie gern hören mochte, kam es auch heraus, wie es
wollte. Es war eine vollständige Hetzjagd von Trivialitäten und hohlem
Wesen, und die derbsten Zudringlichkeiten wurden am liebsten
angenommen, wenn sie nur aus gänzlicher Ergebenheit herzurühren
schienen und die Unglückliche in ihrem Glauben an sich selbst aufrecht
erhielten. Außerdem hatte sie zur Zeit einem armen Tambour mit einem
einzigen Blick den Kopf verdreht, der nun ganz aufgeblasen umherging
und sich ihr überall in den Weg stellte; und einen Schuster, der für
sie arbeitete, hatte sie dermaßen betört, daß er jedesmal, wenn er ihr
Schuhe brachte, auf dem Hausflur ein Bürstchen mit einem Spiegelchen
hervorzog und sich sorgfältig den Kopf putzte, wie eine Katze, da er
zuverlässig erwartete, es würde diesmal etwas vorgehen. Wenn man ihn
kommen sah, so begab sich die ganze Gesellschaft auf eine verdeckte
Galerie, um dem armen Teufel in seinem feierlichen Werke zuzusehen.
Das Sonderbarste war, daß niemand an diesem Wesen ein Ärgernis nahm,
man also nichts Besseres von Lydia zu erwarten schien und ihre
Aufführung ihrer würdig hielt und also ich der einzige war, der so
große Meinungen von ihr im Herzen trug, so daß alle diese Hausnarren,
die ich verachtete, die sie aber nahmen, wie sie war, klüger zu sein
schienen, als ich in meiner tiefsinnigen Leidenschaft. Aber nein! rief
ich, sie ist doch so, wie ich sie denke, und eben weil das alles
Strohköpfe sind, sind sie so frech gegen sie und wissen nicht, was an
ihr ist oder sein könnte! Und ich zitterte danach, ihr noch einmal den
Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr besseres Bild zurückstrahlte und
alles Wertlose um sie her wegblendete. Allein der äußere Anstand und
die Haltung, welche ich auch bei aller Anstrengung nicht aufgeben
konnte, machten es mir unmöglich, mich unter diese Affenschwänze zu
mischen und nur den kleinsten Schritt gegen Lydia zu tun. Ich ward
abermals konfus, ungeduldig, nahm plötzlich meinen Abschied aus der
indischen Armee und machte mich davon, um heimzukehren und die
Unselige zu vergessen.

So gelangte ich nach Paris und hielt mich daselbst einige Wochen auf.
Da ich eine große Menge schöner und kluger Weiber sah, dachte ich, es
wäre das beste Mittel, meine unglückliche Geschichte loszuwerden, in
recht viele hübsche Frauengesichter zu blicken, und ging daher von
Theater zu Theater, und an alle Orte, wo dergleichen beisammen waren;
ließ mich auch in verschiedene gute Häuser und Gesellschaften
einführen. Ich sah in der Tat viele tüchtige Gestalten von edlem
Schwung und Zuschnitt und in deren Augen nicht unebene Gedanken lagen;
aber alles was ich sah, führte mich nur auf Lydia zurück und diente zu
deren Gunsten. Sie war nicht zu vergessen und ich war und blieb aufs
neue elend verliebt in sie. Ich hatte das allerunheimlichste,
sonderbarste Gefühl, wenn ich an sie dachte. Es war mir zumute, als ob
notwendigerweise ein weibliches Wesen in der Welt sein müßte, welches
genau das Äußere und die Manieren dieser Lydia, kürz deren bessere
Hälfte besäße, dazu aber auch die entsprechende andere Hälfte, und daß
ich nur dann würde zur Ruhe kommen, wenn ich diese ganze Lydia fände;
oder es war mir, als ob ich verpflichtet wäre, die rechte Seele zu
diesem schönen halben Gespenste zu suchen; mit einem Worte, ich wurde
abermals krank vor Sehnsucht nach ihr, und da es doch nicht anging,
zurückzukehren, suchte ich neue Sonnenglut, Gefahr und Tätigkeit und
nahm Dienste in der französisch-afrikanischen Armee. Ich begab mich
sogleich nach Algier und befand mich bald am äußersten Saume der
afrikanischen Provinz, wo ich im Sonnenbrand und auf dem glühenden
Sande mich herumtummelte und mit den Kabylen herumschlug."

Da in diesem Augenblick das schlafende Estherchen, das immer einen
Unfug machen mußte, träumte, es falle eine Treppe hinunter, und
demgemäß auf seinem Stuhle ein plötzliches Geräusch erregte, blickte
der erzählende Pankrazius endlich auf und bemerkte, daß seine
Zuhörerinnen schliefen. Zugleich entdeckte er erst jetzt, daß er
denselben eigentlich nichts als eine Liebesgeschichte erzählt, schämte
sich dessen und wünschte, daß sie gar nichts davon gehört haben
möchten. Er weckte die Frauen auf und hieß sie ins Bett gehen, und er
selbst suchte ebenfalls das Lager auf, wo er mit einem langen, aber
gemütlichen Seufzer einschlief. Er lag wohl so lange im Bette, wie
einst, als er der faule und unnütze Pankräzlein gewesen, so daß ihn
die Mutter wie ehedem wecken mußte. Als sie nun zusammen beim
Frühstück saßen und Kaffee tranken, sagte er, mit seinem Bericht
fortfahrend: „Wenn ihr nicht geschlafen hättet, so würdet ihr gehört
haben, wie ich in Ostindien im Begriffe war, aus einem Murrkopf ein
äußerst zutunlicher und wohlwollender Mensch zu werden um eines
schönen Frauenzimmers willen, wie aber eben meine Schmollerei mir
einen argen Streich gespielt hat, da sie mich verhinderte, besagtes
Frauenzimmer näher zu kennen und mich blindlings in selbe verlieben
ließ; wie ich dann betrogen wurde und als ein neugestählter Schmoller
aus Indien nach Afrika ging zu den Franzosen, um dort den
Burnusträgern die lächerlichen turmartigen Strohhüte herunterzuschlagen
und ihnen die Köpfe zu zerbläuen, was ich mit so grimmigem Eifer tat,
daß ich auch bei den Franzosen avancierte und Oberst ward, was ich
geblieben bin bis jetzt. Ich war wieder so einsilbig und trübselig als
je und kannte nur zwei Arten, mich zu vergnügen: die Erfüllung meiner
Pflicht als Soldat und die Löwenjagd. Letztere betrieb ich ganz
allein, indem ich mit nichts als mit einer guten Büchse bewaffnet zu
Fuß ausging und das Tier aufsuchte, worauf es dann darauf ankam,
dasselbe sicher zu treffen, oder zugrunde zu gehen. Die stete
Wiederholung dieser einen großen Gefahr und das mögliche Eintreffen
eines endlichen Fehlschusses sagte meinem Wesen zu und nie war ich
behaglicher, als wenn ich so seelenallein auf den heißen Höhen
herumstreifte und einem starken wilden Burschen auf der Spur war, der
mich gar wohl bemerkte und ein ähnliches schmollendes Spiel trieb mit
mir, wie ich mit ihm. So war vor jetzt ungefähr vier Monaten ein
ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend erschienen, dieser, dessen Fell
hier liegt, und lichtete den Beduinen ihre Herden, ohne daß man ihm
beikommen konnte; denn er schien ein durchtriebener Geselle zu sein
und machte täglich große Märsche kreuz und quer, so daß ich bei meiner
Weise zu Fuß zu jagen lange Zeit brauchte, bis ich ihn nur von ferne
zu Gesicht bekam. Als ich ihn zwei- oder dreimal gesehen, ohne zum
Schuß zu kommen, kannte er mich schon und merkte, daß ich gegen ihn
etwas im Schilde führe. Er fing gewaltig an zu brüllen und verzog
sich, um mir an einer andern Stelle wieder zu begegnen, und wir gingen
so umeinander herum während mehreren Tagen wie zwei Kater, die sich
zausen wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit einem
zeitweiligen wilden Geknurre.

Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch
nie eingeschlagenen Richtung hingegangen, weil der Löwe tags vorher
sich auf der entgegengesetzten Seite herumgetrieben und einen
vergeblichen Raubversuch gemacht; da die dortigen Leute mit ihren
Tieren abgezogen waren, so vermutete ich, der hungrige Herr werde
vergangene Nacht wohl diesen Weg eingeschlagen haben, wie es sich denn
auch erwies. Als die Sonne aufging, schlenderte ich gemächlich über
ein hügeliges gold-gelbes Gefilde, dessen Unebenheiten lange
himmelblaue Schatten über den goldenen Boden hinstreckten. Der Himmel
war so dunkelblau wie Lydias Augen, woran ich unversehens dadurch
erinnert wurde; in weiter Ferne zogen sich blaue Berge hin, an welchen
das arabische Städtchen lag, das ich bewohnte, und am andern Rande der
Aussicht einige Wälder und grüne Fluren, auf denen man den Rauch und
selbst die Zelte der Beduinen wie schwarze Punkte sehen konnte. Es war
totenstill überall und kein lebendes Wesen zu erspähen. Da stieß ich
an den Rand einer Schlucht, welche sich durch die ganze steinige
Gegend hinzog und nicht zu sehen war, bis man dicht an ihr stand. Es
floß ein kühler, frischer Bach auf ihrem Grunde, und wo ich eben
stand, war die Vertiefung ganz mit glühendem Oleandergebüsch
angefüllt. Nichts war schöner zu sehen, als das frische Grün dieser
Sträucher und ihre tausendfältigen rosenroten Blüten und zu unterst
das fließende klare Wässerlein. Der Anblick ließ eine verjährte
Sehnsucht in mir aufsteigen und ich vergaß, warum ich hier
herumstrich. Ich wünschte, in den Oleander hinabzugehen und aus dem
Bach zu trinken, und in diesen zerstreuten Gedanken legte ich mein
Gewehr auf den Boden und kletterte eiligst in die Schlucht hinunter,
wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein Gesicht benetzte
und dabei an die schöne Lydia dachte. Ich grübelte, wo sie wohl sein
möchte, wo sie jetzt herumwandle und wie es ihr überhaupt gehen
möchte? Da hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstoßen,
daß der Boden zitterte. Wie besessen sprang ich auf und schwang mich
den Abhang hinauf, blieb aber wie angenagelt oben stehen, als ich sah,
daß das große Tier, kaum zehn Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr
angekommen war. Und wie ich dastand, so blieb ich auch stehen, die
Augen auf die Bestie geheftet. Denn als er mich erblickte, kauerte er
zum Sprunge nieder, gerade über meiner Doppelbüchse, daß sie quer
unter seinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde
er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand
und stand so einige lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden
und ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte sich gemächlich
nieder und betrachtete mich. Die Sonne stieg höher; aber während die
furchtbarste Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam,
wie die Ewigkeit der Hölle. Weiß Gott was mir alles durch den Kopf
ging: ich verwünschte die Lydia, deren bloßes Andenken mich abermals
in dieses Unheil gebracht, da ich darüber meine Waffe vergessen hatte.
Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und auf das
wilde Tier loszuspringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben
behielt die Oberhand und ich stand und stand wie das versteinerte Weib
des Loth oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schatten ging
mit den Stunden um mich herum, wurde ganz kurz und begann schon wieder
sich zu verlängern. Das war die bitterste Schmollerei, die ich je
verrichtet, und ich nahm mir vor und gelobte, wenn ich dieser Gefahr
entränne, so wolle ich umgänglich und freundlich werden, nach Hause
gehen und mir und andern das Leben so angenehm als möglich machen. Der
Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter
Anstrengung, um mich auf selbem Fleck unbeweglich aufrechtzuhalten,
leise an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrockneten Lippen
bewegte, so richtete sich der Löwe halb auf, wackelte mit seinem
Hintergestell, funkelte mit den Augen und brüllte, so daß ich den Mund
schnell wieder schloß und die Zähne aufeinander biß. Indem ich aber so
eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte,
verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen,
und je schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und
tapfer ertrug. Es würde aber, als endlich der Tag schon vorgerückt
war, doch nicht mehr lange gegangen sein, als eine unverhoffte Rettung
sich auftat. Das Tier und ich waren so ineinander vernarrt, daß keiner
von uns zwei Soldaten bemerkte, welche im Rücken des Löwen
hermarschiert kamen, bis sie auf höchstens dreißig Schritte nahe
waren. Es war eine Patrouille, die ausgesandt war, mich zu suchen, da
sich Geschäfte eingestellt hatten. Sie trugen ihre Ordonnanzgewehre
auf der Schulter und ich sah gleichzeitig dieselben vor mir aufblitzen
gleich einer himmlischen Gnadensonne, als auch mein Widersacher ihre
Schritte hörte in der Stille der Landschaft; denn sie hatten schon von
weitem etwas bemerkt und waren so leise als möglich gegangen.
Plötzlich schrien sie jetzt: ‚Schau die Bestie! Hilf dem Oberst!' Der
Löwe wandte sich um, sprang empor, sperrte wütend den Rachen auf,
erbost wie ein Satan, und war einen Augenblick lang unschlüssig, auf
wen er sich zuerst stürzen solle. Als aber die zwei Soldaten als brave
lustige Franzosen, ohne sich zu besinnen, auf ihn zusprangen, tat er
einen Satz gegen sie. Im gleichen Augenblick lag auch der eine unter
seinen Tatzen und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht der andere
im gleichen Augenblicke dem Tier, zugleich den Schuß abfeuernd, das
Bajonett ein halbes Dutzendmal in die Flanke gestoßen hätte. Aber auch
diesem würde es schließlich schlimm ergangen sein, wenn ich nicht
endlich auf meine Büchse zugesprungen, auf den Kampfplatz getaumelt
wäre und dem Löwen, ohne weitere Vorsicht, beide Kugeln in das Ohr
geschossen hätte. Er streckte sich aus und sprang wieder auf, es war
noch der Schuß aus der andern Muskete nötig, ihn abermals
hinzustrecken, und endlich zerschlugen wir alle drei unsere Kolben an
dem Tiere, so zäh und wild war sein Leben. Es hatte merkwürdigerweise
keiner Schaden genommen, selbst der nicht, der unter dem Löwen
gelegen, ausgenommen seinen zerrissenen Rock und einige tüchtige
Schrammen auf der Schulter. So war die Sache für diesmal glücklich
abgelaufen und wir hatten obenein den lange gesuchten Löwen erlegt.
Ein wenig Wein und Brot stellte meinen guten Mut vollends wieder her,
und ich lachte wie ein Narr mit den guten Soldaten, welche über die
Freundlichkeit und Gesprächigkeit ihres bösen Obersten sehr verwundert
und erbaut waren.

Noch in selber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine
Entlassung ein, und so bin ich nun hier." So lautete die Geschichte
von Pankrazens Leben und Bekehrung, und seine Leutchen waren höchlich
verwundert über seine Meinungen und Taten. Er verließ mit ihnen das
Städtchen Seldwyla und zog in den Hauptort des Kantons, wo er
Gelegenheit fand, mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Lande
nützlicher Mann zu sein und zu bleiben, und er ward sowohl dieser
Tüchtigkeit, als seiner unverwüstlichen ruhigen Freundlichkeit wegen
geachtet und beliebt; denn nie mehr zeigte sich ein Rückfall in das
frühere Wesen.

Nur ärgerten sich Estherchen und die Mutter, daß ihnen die Geschichte
mit der Lydia entgangen war, und wünschten unaufhörlich deren
Wiederholung. Allein Pankraz sagte, hätten sie damals nicht
geschlafen, so hätten sie dieselbe erfahren; er habe sie einmal
erzählt und werde es nie wieder tun, es sei das erste und letzte Mal,
daß er überhaupt gegen jemanden von diesem Liebeshandel gesprochen,
und damit Punktum. Die Moral von der Geschichte sei einfach, daß er in
der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des
Schmollens entwöhnt worden sei.

Nun wollten sie wenigstens den Namen jener Dame wissen, welcher ihnen
wegen seiner Fremdartigkeit wieder entfallen war, und fragten
unaufhörlich: „Wie hieß sie denn nur?" Aber Pankraz erwiderte ebenso
unaufhörlich: „Hättet ihr aufgemerkt! Ich nenne diesen Namen nicht
mehr!" Und er hielt Wort; niemand hörte ihn jemals wieder das Wort
aussprechen und er schien es endlich selbst vergessen zu haben.

*       *       *       *       *




ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE

Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Nachahmung sein, wenn
sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief
im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen
alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets
treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen
alsdann die Hand, sie festzuhalten.

An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl
vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert
sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße
liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die
sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Äcker
weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem
sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker,
und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit
langen Jahren brach und wüst zu liegen, denn er war mit Steinen und
hohem Unkraut bedeckt und eine Welt von geflügelten Tierchen summte
ungestört über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter
ihrem Pfluge gingen, waren lange, knochige Männer von ungefähr vierzig
Jahren und verkündeten auf den ersten Blick den sichern, gutbesorgten
Bauersmann. Sie trugen kurze Kniehosen von starkem Zwillich, an dem
jede Falte ihre unveränderliche Lage hatte und wie in Stein gemeißelt
aussah. Wenn sie, auf ein Hindernis stoßend, den Pflug fester faßten,
so zitterten die groben Hemdärmel von der leichten Erschütterung,
indessen die wohlrasierten Gesichter ruhig und aufmerksam, aber ein
wenig blinzelnd in den Sonnenschein vor sich hinschauten, die Furche
bemaßen, oben auch zuweilen sich umsahen, wenn ein fernes Geräusch die
Stille des Landes unterbrach. Langsam und mit einer gewissen
natürlichen Zierlichkeit setzten sie einen Fuß um den andern vorwärts
und keiner sprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte, der die
stattlichen Pferde antrieb, eine Anweisung gab. So glichen sie
einander vollkommen in einiger Entfernung; denn sie stellten die
ursprüngliche Art dieser Gegend dar, und man hätte sie auf den ersten
Blick nur daran unterscheiden können, daß der eine den Zipfel seiner
weißen Kappe nach vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen
hatte. Aber das wechselte zwischen ihnen ab, indem sie in der
entgegengesetzten Richtung pflügten; denn wenn sie oben auf der Höhe
zusammentrafen und aneinander vorüberkamen, so schlug dem, welcher
gegen den frischen Ostwind ging, die Zipfelkappe nach hinten über,
während sie bei dem andern, der den Wind im Rücken hatte, sich nach
vorne sträubte. Es gab auch jedesmal einen mittleren Augenblick, wo
die schimmernden Mützen aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei
weiße Flammen gen Himmel züngelten. So pflügten sie beide ruhevoll und
es war schön anzusehen in der stillen goldenen Septembergegend, wenn
sie so auf der Höhe aneinander vorbeizogen, still und langsam und sich
mählich voneinander entfernten, immer weiter auseinander, bis beide
wie zwei untergehende Gestirne hinter die Wölbung des Hügels
hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu
erscheinen. Wenn sie einen Stein in ihren Furchen fanden, so warfen
sie denselben auf den wüsten Acker in der Mitte mit lässig kräftigem
Schwunge, was aber nur selten geschah, da derselbe schon fast mit
allen Steinen belastet war, welche überhaupt auf den Nachbaräckern zu
finden gewesen. So war der lange Morgen zum Teil vergangen, als von
dem Dorfe her ein kleines artiges Fuhrwerklein sich näherte, welches
kaum zu sehen war, als es begann, die gelinde Höhe heranzukommen. Das
war ein grünbemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder der beiden
Pflüger, ein Knabe und ein kleines Ding von Mädchen, gemeinschaftlich
den Vormittagsimbiß heranfuhren. Für jeden Teil lag ein schönes Brot,
in eine Serviette gewickelt, eine Kanne Wein mit Gläsern und noch
irgendein Zutätchen in dem Wagen, welches die zärtliche Bäuerin für
den fleißigen Meister mitgesandt, und außerdem waren da noch verpackt
allerlei seltsam gestaltete angebissene Äpfel und Birnen, welche die
Kinder am Wege aufgelesen, und eine völlig nackte Puppe mit nur einem
Bein und einem verschmierten Gesicht, welches wie ein Fräulein
zwischen den Broten saß und sich behaglich fahren ließ. Dies Fuhrwerk
hielt nach manchem Anstoß und Aufenthalt endlich auf der Höhe im
Schatten eines jungen Lindengebüsches, welches da am Rande des Feldes
stand, und nun konnte man die beiden Fuhrleute näher betrachten. Es
war ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen von fünfen, beide
gesund und munter, und weiter war nichts Auffälliges an ihnen, als daß
beide sehr hübsche Augen hatten und das Mädchen dazu noch eine
bräunliche Gesichtsfarbe und ganz krause, dunkle Haare, welche ihm ein
feuriges und treuherziges Ansehen gaben. Die Pflüger waren jetzt auch
wieder oben angekommen, steckten den Pferden etwas Klee vor und ließen
die Pflüge in der halbvollendeten Furche stehen, während sie als gute
Nachbarn sich zu dem gemeinschaftlichen Imbiß begaben und sich da
zuerst begrüßten; denn bislang hatten sie sich noch nicht gesprochen
an diesem Tage.

Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühstück einnahmen, und mit
zufriedenem Wohlwollen den Kindern mitteilten, die nicht von der
Stelle wichen, solange gegessen und getrunken wurde, ließen sie ihre
Blicke in der Nähe und Ferne herumschweifen und sahen das Städtchen
räucherig glänzend in seinen Bergen liegen; denn das reichliche
Mittagsmahl, welches die Seldwyler alle Tage bereiteten, pflegte ein
weithin scheinendes Silbergewölk über ihre Dächer emporzutragen,
welches lachend an ihren Bergen hinschwebte.

„Die Lumpenhunde zu Seldwyl kochen wieder gut!" sagte Manz, der eine
der Bauern, und Marti, der andere, erwiderte: „Gestern war einer bei
mir wegen des Ackers hier." „Aus dem Bezirksrat? bei mir ist er auch
gewesen!" sagte Manz. „So? und meinte wahrscheinlich auch, du solltest
das Land benutzen und den Herren die Pacht zahlen?" „Ja, bis es sich
entschieden habe, wem der Acker gehöre und was mit ihm anzufangen sei.
Ich habe mich aber bedankt, das verwilderte Wesen für einen anderen
herzustellen, und sagte, sie sollten den Acker nur verkaufen und den
Ertrag aufheben, bis sich ein Eigentümer gefunden, was wohl nie
geschehen wird; denn was einmal auf der Kanzlei zu Seldwyl liegt, hat
da gute Weile, und überdem ist die Sache schwer zu entscheiden. Die
Lumpen möchten indessen gar zu gern etwas zu naschen bekommen
durch den Pachtzins, was sie freilich mit der Verkaufssumme auch tun
könnten; allein wir würden uns hüten, dieselbe zu hoch hinaufzutreiben,
und wir wüßten dann doch, was wir hätten und wem das Land gehört!"

„Ganz so meine ich auch und habe dem Steckleinspringer eine ähnliche
Antwort gegeben!"

Sie schwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an: „Schade ist es
aber doch, daß der gute Boden so daliegen muß, es ist nicht zum
Ansehen, das geht nun schon in die zwanzig Jahre so, und keine Seele
fragt danach; denn hier im Dorf ist niemand, der irgendeinen Anspruch
auf den Acker hat, und niemand weiß auch, wo die Kinder des
verdorbenen Trompeters hingekommen sind!"

„Hm!" sagte Marti, „das wäre so eine Sache! Wenn ich den schwarzen
Geiger ansehe, der sich bald bei den Heimatlosen aufhält, bald in den
Dörfern zum Tanz aufspielt, so möchte ich darauf schwören, daß er ein
Enkel des Trompeters ist, der freilich nicht weiß, daß er noch einen
Acker hat. Was täte er aber damit? Einen Monat lang sich besaufen und
dann nach wie vor! Zudem, wer dürfte da einen Wink geben, da man es
doch nicht sicher wissen kann!"

„Da könnte man eine schöne Geschichte anrichten!" antwortete Manz,
„wir haben so genug zu tun, diesem Geiger das Heimatsrecht in unserer
Gemeinde abzustreiten, da man uns den Fetzel fortwährend aufhalsen
will. Haben sich seine Eltern einmal unter die Heimatlosen begeben, so
mag er auch dableiben und dem Kesselvolk das Geigelein streichen. Wie
in aller Welt können wir wissen, daß er des Trompeters Sohnessohn ist?
Was mich betrifft, wenn ich den Alten auch in dem dunklen Gesicht
vollkommen zu erkennen glaube, so sage ich: Irren ist menschlich, und
das geringste Fetzchen Papier, ein Stücklein von einem Taufschein
würde meinem Gewissen besser tun als zehn sündhafte
Menschengesichter!"

„Eia, sicherlich!" sagte Marti, „er sagt zwar, er sei nicht schuld, daß man
ihn nicht getauft habe! Aber sollen wir unseren Taufstein tragbar machen
und in den Wäldern herumtragen? Nein, er steht fest in der Kirche, und
dafür ist die Totenbahre tragbar, die draußen an der Mauer hängt. Wir
sind schon übervölkert im Dorf und brauchen bald zwei Schulmeister!"

Hiermit war die Mahlzeit und das Zwiegespräch der Bauern geendet, und
sie erhoben sich, den Rest ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu
vollbringen. Die beiden Kinder hingegen, welche schon den Plan
entworfen hatten, mit den Vätern nach Hause zu ziehen, zogen ihr
Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Linden und begaben sich dann auf
einen Streifzug in dem wilden Acker, da derselbe mit seinen
Unkräutern, Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und merkwürdige
Wildnis darstellte. Nachdem sie in der Mitte dieser grünen Wildnis
einige Zeit hingewandert, Hand in Hand, und sich daran belustigt, die
verschlungenen Hände über die hohen Distelstauden zu schwingen, ließen
sie sich endlich im Schatten einer solchen nieder, und das Mädchen
begann, seine Puppe mit den langen Blättern des Wegekrautes zu
bekleiden, so daß sie einen schönen grünen und ausgezackten Rock
bekam; eine einsame rote Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als
Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase festgebunden, und nun
sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau, besonders nachdem sie
noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen roten Beerchen
erhalten. Dann wurde sie hoch in die Stengel der Distel gesetzt und
eine Weile mit vereinten Blicken angeschaut, bis der Knabe sie
genugsam besehen und mit einem Steine herunterwarf. Dadurch geriet
aber ihr Putz in Unordnung, und das Mädchen entkleidete sie
schleunigst, um sie aufs neue zu schmücken; doch als die Puppe eben
wieder nackt und bloß war und nur noch der roten Haube sich erfreute,
entriß der wilde Junge seiner Gefährtin das Spielzeug und warf es hoch
in die Luft. Das Mädchen sprang klagend danach, allein der Knabe fing
die Puppe zuerst wieder auf, warf sie aufs neue empor, und indem das
Mädchen sie vergeblich zu haschen bemühte, neckte er es auf diese
Weise eine gute Zeit. Unter seinen Händen aber nahm die fliegende
Puppe Schaden, und zwar am Knie ihres einzigen Beines, allwo ein
kleines Loch einige Kleiekörner durchsickern ließ. Kaum bemerkte der
Peiniger dies Loch, so verhielt er sich mäuschenstill und war mit
offenem Munde eifrig beflissen, das Loch mit seinen Nägeln zu
vergrößern und dem Ursprung der Kleie nachzuspüren. Seine Stille
erschien dem armen Mädchen höchst verdächtig, und es drängte sich
herzu und mußte mit Schrecken sein böses Beginnen gewahren. „Sieh
mal!" rief er und schlenkerte ihr das Bein vor der Nase herum, daß ihr
die Kleie ins Gesicht flog, und wie sie danach langen wollte und
schrie und flehte, sprang er wieder fort und ruhte nicht eher, bis das
ganze Bein dürr und leer herabhing als eine traurige Hülse. Dann warf
er das mißhandelte Spielzeug hin und stellte sich höchst frech und
gleichgültig, als die Kleine sich weinend auf die Puppe warf und
dieselbe in ihre Schürze hüllte. Sie nahm sie aber wieder hervor und
betrachtete wehselig die Ärmste, und als sie das Bein sah, fing sie
abermals an laut zu weinen, denn dasselbe hing an dem Rumpfe nicht
anders, denn das Schwänzchen an einem Molche. Als sie gar so unbändig
weinte, ward es dem Missetäter endlich etwas übel zumut, und er stand
in Angst und Reue vor der Klagenden, und als sie dies merkte, hörte
sie plötzlich auf und schlug ihn einigemal mit der Puppe, und er tat,
als ob es ihm weh täte, und schrie au! so natürlich, daß sie zufrieden
war und nun mit ihm gemeinschaftlich die Zerstörung und Zerlegung
fortsetzte. Sie bohrten Loch auf Loch in den Marterleib und ließen
aller Enden die Kleie entströmen, welche sie sorgfältig auf einem
flachen Steine zu einem Häufchen sammelten, umrührten und aufmerksam
betrachteten. Das einzige Feste, was noch an der Puppe bestand, war
der Kopf und mußte jetzt vorzüglich die Aufmerksamkeit der Kinder
erregen; sie trennten ihn sorgfältig los von dem ausgequetschten
Leichnam und guckten erstaunt in sein hohles Innere. Als sie die
bedenkliche Höhlung sahen und auch die Kleie sahen, war es der nächste
und natürlichste Gedankensprung, den Kopf mit der Kleie auszufüllen,
und so waren die Fingerchen der Kinder nun beschäftigt, um die Wette
Kleie in den Kopf zu tun, so daß zum erstenmal in seinem Leben etwas
in ihm steckte. Der Knabe mochte es aber immer noch für ein totes
Wissen halten, weil er plötzlich eine große blaue Fliege fing und, die
Summende zwischen beiden hohlen Händen haltend, dem Mädchen gebot, den
Kopf von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die Fliege
hineingesperrt und das Loch mit Gras verstopft. Die Kinder hielten den
Kopf an die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da
er noch mit der roten Mohnblume bedeckt war, so glich der Tönende
jetzt einem weissagenden Haupte, und die Kinder lauschten in tiefer
Stille seinen Kunden und Märchen, indessen sie sich umschlungen
hielten. Aber jeder Prophet erweckt Schrecken und Undank; das wenige
Leben in dem dürftig geformten Bilde erregte die menschliche
Grausamkeit in den Kindern, und es wurde beschlossen, das Haupt zu
begraben. So machten sie ein Grab und legten den Kopf, ohne die
gefangene Fliege um ihre Meinung zu befragen, hinein und errichteten
über dem Grabe ein ansehnliches Denkmal von Feldsteinen. Dann
empfanden sie einiges Grauen, da sie etwas Geformtes und Belebtes
begraben hatten und entfernten sich ein gutes Stück von der
unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten
Plätzchen legte sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und
begann in eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die
nämlichen, und der Junge kauerte daneben und half, indem er nicht
wußte, ob er auch vollends umfallen solle, so lässig und müßig war er.
Die Sonne schien dem singenden Mädchen in den geöffneten Mund,
beleuchtete dessen blendend weiße Zähnchen und durchschimmerte die
runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne, und dem Mädchen den Kopf
haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend, rief er: „Rate,
wieviel Zähne hat man?" Das Mädchen besann sich einen Augenblick, als
ob es reiflich nachzählte, und sagte dann aufs Geratewohl: „Hundert!"
„Nein, zweiunddreißig!" rief er, „wart', ich will einmal zählen!" Da
zählte er die Zähne des Kindes, und weil er nicht zweiunddreißig
herausbrachte, so fing er immer wieder von neuem an. Das Mädchen hielt
lange still, als aber der eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es
sich auf und rief: „Nun will ich deine zählen!" Nun legte sich der
Bursche hin ins Kraut, das Mädchen über ihn, umschlang seinen Kopf, er
sperrte das Maul auf, und es zählte: „Eins, zwei, sieben, fünf, zwei,
eins;" denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der Junge
verbesserte sie und gab ihr Anweisung, wie sie zählen solle, und so
fing auch sie unzähligemal von neuem an, und das Spiel schien ihnen am
besten zu gefallen von allem, was sie heut unternommen. Endlich aber
sank das Mädchen ganz auf den kleinen Rechenmeister nieder, und die
Kinder schliefen ein in der hellen Mittagssonne.

Inzwischen hatten die Väter ihre Äcker fertig gepflügt und in
frischduftende braune Fläche umgewandelt. Als nun, mit der letzten
Furche zu Ende gekommen, der Knecht des einen halten wollte, rief sein
Meister: „Was hältst du? Kehr' noch einmal um!" „Wir sind ja fertig!"
sagte der Knecht. „Halt's Maul, und tu, wie ich dir sage!" der
Meister. Und sie kehrten um und rissen eine tüchtige Furche in den
mittleren herrenlosen Acker hinein, daß Kraut und Steine flogen. Der
Bauer hielt sich aber nicht mit der Beseitigung derselben auf, er
mochte denken, hierzu sei noch Zeit genug vorhanden, und er begnügte
sich, für heute die Sache nur aus dem Gröbsten zu tun. So ging es
rasch die Höhe empor in sanftem Bogen, und als man oben angelangt und
das liebliche Windeswehen eben wieder den Kappenzipfel des Mannes
zurückwarf, pflügte auf der anderen Seite der Nachbar vorüber, mit dem
Zipfel nach vorn, und schnitt ebenfalls eine ansehnliche Furche vom
mittleren Acker, daß die Schollen nur so zur Seite flogen. Jeder sah
wohl, was der andere tat, aber keiner schien es zu sehen, und sie
entschwanden sich wieder, indem jedes Sternbild still am andern
vorüberging und hinter diese runde Welt hinabtauchte. So gehen die
Weberschiffchen des Geschickes aneinander vorbei, und „was er webt,
das weiß kein Weber!"

Es kam eine Ernte um die andere, und jede sah die Kinder größer und
schöner und den herrenlosen Acker schmäler zwischen seinen
breitgewordenen Nachbarn. Mit jedem Pflügen verlor er hüben und drüben
eine Furche, ohne daß ein Wort darüber gesprochen worden wäre und ohne
daß ein Menschenauge den Frevel zu sehen schien. Die Steine wurden
immer mehr zusammengedrängt und bildeten schon einen ordentlichen Grat
auf der ganzen Länge des Ackers, und das wilde Gesträuch darauf war
schon so hoch, daß die Kinder, obgleich sie gewachsen waren, sich
nicht mehr sehen konnten, wenn eines dies- und das andere jenseits
ging. Denn sie gingen nun nicht mehr gemeinschaftlich auf das Feld, da
der zehnjährige Salomon oder Sali, wie er genannt wurde, sich schon
wacker auf Seite der größeren Burschen und der Männer hielt; und das
braune Vrenchen, obgleich es ein feuriges Dirnchen war, mußte bereits
unter der Obhut seines Geschlechts gehen, sonst wäre es von den andern
als ein Bubenmädchen ausgelacht worden. Dennoch nahmen sie während
jeder Ernte, wenn alles auf den Äckern war, einmal Gelegenheit, den
wilden Steinkamm, der sie trennte, zu besteigen und sich gegenseitig
von demselben herunterzustoßen.

Wenn sie auch sonst keinen Verkehr mehr miteinander hatten, so schien
diese jährliche Zeremonie um so sorglicher gewahrt zu werden, als
sonst nirgends die Felder ihrer Väter zusammenstießen.

Indessen sollte der Acker doch endlich verkauft und der Erlös
einstweilen amtlich aufgehoben werden. Die Versteigerung fand an Ort
und Stelle statt, wo sich aber nur einige Gaffer einfanden außer den
Bauern Manz und Marti, da niemand Lust hatte, das seltsame Stückchen
zu erstehen und zwischen den zwei Nachbarn zu bebauen. Denn obgleich
diese zu den besten Bauern des Dorfes gehörten und nichts weiter getan
hatten, als was zwei Drittel der übrigen unter diesen Umständen auch
getan haben würden, so sah man sie doch jetzt stillschweigend darum
an, und niemand wollte zwischen ihnen eingeklemmt sein mit dem
geschmälerten Waisenfelde. Die meisten Menschen sind fähig oder
bereit, ein in den Lüften umgehendes Unrecht zu verüben, wenn sie mit
der Nase daraufstoßen; sowie es aber von einem begangen ist, sind die
übrigen froh, daß sie es doch nicht gewesen sind, daß die Versuchung
nicht sie betroffen hat, und sie machen nun den Auserwählten zu dem
Schlechtigkeitsmesser ihrer Eigenschaften und behandeln ihn mit zarter
Scheu als einen Ableiter des Übels, der von den Göttern gezeichnet
ist, während ihnen zugleich noch der Mund wässert nach den Vorteilen,
die er dabei genossen. Manz und Marti waren also die einzigen, welche
ernstlich auf den Acker boten; nach einem ziemlich hartnäckigen
Überbieten erstand ihn Manz, und er wurde ihm zugeschlagen. Die
Beamten und die Gaffer verloren sich vom Felde; die beiden Bauern,
welche sich auf ihren Äckern noch zu schaffen gemacht, trafen beim
Weggehen wieder zusammen, und Marti sagte: „Du wirst nun dein Land,
das alte und das neue, wohl zusammenschlagen und in zwei gleiche
Stücke teilen? Ich hätte es wenigstens so gemacht, wenn ich das Ding
bekommen hätte." „Ich werde es allerdings auch tun," antwortete Manz,
„denn als ein Acker würde mir das Stück zu groß sein. Doch was ich
sagen wollte: Ich habe bemerkt, daß du neulich noch am unteren Ende
dieses Ackers, der jetzt mir gehört, schräg hineingefahren bist und
ein gutes Dreieck abgeschnitten hast. Du hast es vielleicht getan in
der Meinung, du werdest das ganze Stück an dich bringen, und es sei
dann sowieso dein. Da es nun aber mir gehört, so, wirst du wohl
einsehen, daß ich eine solche ungehörige Einkrümmung nicht brauchen
noch dulden kann, und wirst nichts dagegen haben, wenn ich den Strich
wieder grad mache! Streit wird das nicht abgeben sollen!"

Marti erwiderte ebenso kaltblütig, als ihn Manz angeredet hatte: „Ich
sehe auch nicht, wo der Streit herkommen soll! Ich denke, du hast den
Acker gekauft, wie er da ist, wir haben ihn alle gemeinschaftlich
besehen, und er hat sich seit einer Stunde nicht um ein Haar
verändert!"

„Larifari!" sagte Manz, „was früher geschehen, wollen wir nicht
aufrühren! Was aber zu viel ist, ist zu viel, und alles muß zuletzt
eine ordentliche grade Art haben; diese drei Äcker sind von jeher so
gerade nebeneinander gelegen, wie nach dem Richtscheit gezeichnet; es
ist ein ganz absonderlicher Spaß von dir, wenn du nun einen solchen
lächerlichen und unvernünftigen Schnörkel dazwischen bringen willst,
und wir beide würden einen Übernamen bekommen, wenn wir den krummen
Zipfel da bestehen ließen. Er muß durchaus weg!"

Marti lachte und sagte: „Du hast ja auf einmal eine merkwürdige Furcht
vor dem Gespötte der Leute! Das läßt sich aber ja wohl machen; mich
geniert das Krumme gar nicht; ärgert es dich, gut, machen wir es grad,
aber nicht auf meiner Seite, das geb' ich dir schriftlich, wenn du
willst!"

„Rede doch nicht so spaßhaft," sagte Manz, „es wird wohl grad gemacht,
und zwar auf deiner Seite, darauf kannte du Gift nehmen!"

„Das werden wir ja sehen und erleben!" sagte Marti, und beide Männer
gingen auseinander, ohne sich weiter anzublicken; vielmehr starrten
sie nach verschiedener Richtung ins Blaue hinaus, als ob sie da wunder
was für Merkwürdigkeiten im Auge hätten, die sie betrachten müßten mit
Aufbietung aller ihrer Geisteskräfte.

Schon am nächsten Tage schickte Manz einen Dienstboten, ein
Tagelöhnermädchen und sein eigenes Söhnchen Sali auf den Acker hinaus,
um das wilde Unkraut und Gestrüpp auszureuten und auf Haufen zu
bringen, damit nachher die Steine um so bequemer weggefahren werden
konnten. Dies war eine Änderung in seinem Wesen, daß er den kaum
elfjährigen Jungen, der noch zu keiner Arbeit angehalten worden, nun
mit hinaussandte, gegen die Einsprache der Mutter. Es schien, da er es
mit ernsthaften und gesalbten Worten tat, als ob er mit dieser
Arbeitsstrenge gegen sein eigenes Blut das Unrecht betäuben wollte, in
dem er lebte, und welches nun begann, seine Folgen ruhig zu entfalten.
Das ausgesandte Völklein jätete inzwischen lustig an dem Unkraut und
hackte mit Vergnügen an den wunderlichen Stauden und Pflanzen aller
Art, die da seit Jahren wucherten. Denn da es eine außerordentliche
gleichsam wilde Arbeit war, bei der keine Regel und keine Sorgfalt
erheischt wurde, so galt sie als eine Lust. Das wilde Zeug, an der
Sonne gedörrt, wurde aufgehäuft und mit großem Jubel verbrannt, daß
der Qualm weithin sich verbreitete, und die jungen Leutchen dann
herumsprangen wie besessen. Dies war das letzte Freudenfest auf dem
Unglücksfelde, und das junge Vrenchen, Martis Tochter, kam auch
hinausgeschlichen und half tapfer mit. Das Ungewöhnliche dieser
Begebenheit und die lustige Aufregung gaben einen guten Anlaß, sich
seinem kleinen Jugendgespielen wieder einmal zu nähern, und die Kinder
waren recht glücklich und munter bei ihrem Feuer. Es kamen noch andere
Kinder hinzu, und es sammelte sich eine ganz vergnügte Gesellschaft;
doch immer, sobald sie getrennt wurden, suchte Sali alsobald wieder
neben Vrenchen zu gelangen, und dieses wußte desgleichen immer
vergnügt lächelnd zu ihm zu schlüpfen, und es war beiden Kreaturen,
wie wenn dieser herrliche Tag nie enden müßte und könnte. Doch der
alte Manz kam gegen Abend herbei, um zu sehen, was sie ausgerichtet,
und obgleich sie fertig waren, so schalt er doch ob dieser Lustbarkeit
und scheuchte die Gesellschaft auseinander. Zugleich zeigte sich Marti
auf seinem Grund und Boden und, seine Tochter gewahrend, pfiff er
derselben schrill und gebieterisch durch den Finger, daß sie
erschrocken hineilte, und er gab ihr, ohne zu wissen warum, einige
Ohrfeigen, also daß beide Kinder in großer Traurigkeit und weinend
nach Hause gingen, und sie wußten jetzt eigentlich so wenig, warum sie
so traurig waren, als warum sie vorhin so vergnügt gewesen; denn die
Rauheit der Väter, an sich ziemlich neu, war von den arglosen
Geschöpfen noch nicht begriffen und konnte sie nicht tiefer bewegen.
Die nächsten Tage war es schon eine härtere Arbeit, zu welcher
Mannsleute gehörten, als Manz die Steine aufnehmen und wegfahren ließ.
Es wollte kein Ende nehmen, und alle Steine der Welt schienen da
beisammen zu sein. Er ließ sie aber nicht ganz vom Felde wegbringen,
sondern jede Fuhre auf jenem streitigen Dreiecke abwerfen, welches von
Marti schon säuberlich umgepflügt war. Er hatte vorher einen geraden
Strich gezogen als Grenzscheide und belastete nun dies Fleckchen Erde
mit allen Steinen, welche beide Männer seit unvordenklichen Zeiten
herübergeworfen, so daß eine gewaltige Pyramide entstand, die
wegzubringen sein Gegner bleibenlassen würde, dachte er. Marti hatte
dies am wenigsten erwartet; er glaubte, der andere werde nach alter
Weise mit dem Pfluge zu Werke gehen wollen, und hatte daher
abgewartet, bis er ihn als Pflüger ausziehen sähe. Erst als die Sache
schon beinahe fertig, hörte er von dem schönen Denkmal, welches Manz
da errichtet, rannte voll Wut hinaus, sah die Bescherung, rannte
zurück und holte den Gemeindeammann, um vorläufig gegen den
Steinhaufen zu protestieren und den Fleck gerichtlich in Beschlag
nehmen zu lassen, und von diesem Tage an lagen die zwei Bauern im
Prozeß miteinander und ruhten nicht, ehe sie beide zugrunde gerichtet
waren.

Die Gedanken der sonst so wohlweisen Männer waren nun so kurz
geschnitten wie Häcksel; der beschränkteste Rechtssinn von der Welt
erfüllte jeden von ihnen, indem keiner begreifen konnte noch wollte,
wie der andere so offenbar unrechtmäßig und unwillkürlich den
fraglichen unbedeutenden Ackerzipfel an sich reißen könne. Bei Manz
kam noch ein wunderbarer Sinn für Symmetrie und parallele Linien
hinzu, und er fühlte sich wahrhaft gekränkt durch den aberwitzigen
Eigensinn, mit welchem Marti auf dem Dasein des unsinnigsten und
mutwilligsten Schnörkels beharrte. Beide aber trafen zusammen in der
Überzeugung, daß der andere, den anderen so frech und plump
übervorteilend, ihn notwendig für einen verächtlichen Dummkopf halten
müsse, da man dergleichen etwa einem armen haltlosen Teufel, nicht
aber einem aufrechten, klugen und wehrhaften Manne gegenüber sich
erlauben könne, und jeher sah sich in seiner wunderlichen Ehre
gekränkt und gab sich rückhaltlos der Leidenschaft des Streites und
dem daraus erfolgenden Verfalle hin, und ihr Leben glich fortan der
träumerischen Qual zweier Verdammten, welche auf einem schmalen Brette
einen dunklen Strom hinabtreibend sich befehden, in die Luft hauen und
sich selber anpacken und vernichten, in der Meinung, sie hätten ihr
Unglück gefaßt. Da sie eine faule Sache hatten, so gerieten beide in
die allerschlimmsten Hände von Tausendkünstlern, welche ihre
verdorbene Phantasie auftrieben zu ungeheuren Blasen, die mit den
nichtsnutzigsten Dingen angefüllt wurden. Vorzüglich waren es die
Spekulanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieser Handel ein
gefundenes Essen war, und bald hatte jeder der Streitenden einen
Anhang von Unterhändlern, Zuträgern und Ratgebern hinter sich, die
alles bare Geld auf hundert Wegen abzuziehen wußten. Denn das
Fleckchen Erde mit dem Steinhaufen darüber, auf welchem bereits wieder
ein Wald von Nesseln und Disteln blühte, war nur noch der erste Keim
oder der Grundstein einer verworrenen Geschichte und Lebensweise, in
welcher die zwei Fünfzigjährigen noch neue Gewohnheiten und Sitten,
Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld
sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und
je weniger sie besaßen, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden
und es dem andern zuvorzutun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel
verleiten und setzten auch jahraus, jahrein in alle fremden Lotterien,
deren Lose massenhaft in Seldwyla zirkulierten. Aber nie bekamen sie
einen Taler Gewinn zu Gesicht, sondern hörten nur immer vom Gewinnen
anderer Leute und wie sie selbst beinahe gewonnen hätten, indessen
diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen
machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne ihr Wissen, am
gleichen Lose teilnehmen zu lassen, so daß beide die Hoffnung auf
Unterdrückung und Vernichtung des andern auf ein und dasselbe Los
setzten. Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo jeder
in einer Spelunke sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf heißmachen
und zu den lächerlichsten Ausgaben und einem elenden und ungeschickten
Schlemmen verleiten ließ, bei welchem ihm heimlich doch selber das
Herz blutete, also daß beide, welche eigentlich nur in diesem Hader
lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun solche von der besten
Sorte darstellten und von jedermann dafür angesehen wurden. Die andere
Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen ihrer Arbeit
nach, wobei sie dann durch ein tolles böses Überhasten und Antreiben
das Versäumte einzuholen suchten und damit jeden ordentlichen und
zuverlässigen Arbeiter verscheuchten. So ging es gewaltig rückwärts
mit ihnen, und ehe zehn Jahre vorüber, steckten sie beide von Grund
aus in Schulden und standen wie die Störche auf einem Beine auf der
Schwelle ihrer Besitztümer, von der jeder Lufthauch sie herunterwehte.
Aber wie es ihnen auch erging, der Haß zwischen ihnen wurde täglich
größer, da jeder den andern als den Urheber seines Unsterns
betrachtete, als seinen Erbfeind und ganz unvernünftigen Widersacher,
den der Teufel absichtlich in die Welt gesetzt habe, um ihn zu
verderben. Sie spien aus, wenn sie sich nur von weitem sahen; kein
Glied ihres Hauses durfte mit Frau, Kind oder Gesinde des andern ein
Wort sprechen, bei Vermeidung der gröbsten Mißhandlung. Ihre Weiber
verhielten sich verschieden bei dieser Verarmung und Verschlechterung
des ganzen Wesens. Die Frau des Marti, welche von guter Art war, hielt
den Verfall nicht aus, härmte sich ab und starb, ehe ihre Tochter
vierzehn Jahre alt war. Die Frau des Manz hingegen bequemte sich der
veränderten Lebensweise an, und um sich als eine schlechte Genossin zu
entfalten, hatte sie nichts zu tun, als einigen weiblichen Fehlern,
die ihr von jeher angehaftet, den Zügel schießen zu lassen und
dieselben zu Lastern auszubilden. Ihre Naschhaftigkeit wurde zu wilder
Begehrlichkeit, ihre Zungenfertigkeit zu einem grundfalschen und
verlogenen Schmeichel- und Verleumdungewesen, mit welchem sie jeden
Augenblick das Gegenteil von dem sagte, was sie dachte, alles
hintereinanderhetzte, und ihrem eigenen Manne ein X für ein U
vormachte; ihre ursprüngliche Offenheit, mit der sie sich der
unschuldigeren Plauderei erfreut, ward nun zur abgehärteten
Schamlosigkeit, mit der sie jenes falsche Wesen betrieb, und so, statt
unter ihrem Manne zu leiden, drehte sie ihm eine Nase; wenn er es arg
trieb, so machte sie es bunt, ließ sich nichts abgehen und gedieh zu
der dicksten Blüte einer Vorsteherin des zerfallenden Hauses. So war
es nun schlimm bestellt um die armen Kinder, welche weder eine gute
Hoffnung für ihre Zukunft fassen konnten, noch sich auch nur einer
lieblich frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge
war. Vrenchen hatte anscheinend einen schlimmeren Stand als Sali, da
seine Mutter tot und es einsam in einem wüsten Hause der Tyrannei
eines verwilderten Vaters anheimgegeben war. Als es sechzehn Jahre
zählte, war es schon ein schlank gewachsenes, ziervolles Mädchen;
seine dunkelbraunen Haare ringelten sich unablässig fast bis über die
blitzenden braunen Augen, dunkelrotes Blut durchschimmerte die Wangen
des bräunlichen Gesichtes und glänzte als tiefer Purpur auf den
frischen Lippen, wie man es selten sah und was dem dunklen Kinde ein
eigentümliches Ansehen und Kennzeichen gab. Feurige Lebenslust und
Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieses Wesens; es lachte und war
aufgelegt zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter nur im mindesten
lieblich war, d. h. wenn es nicht zu sehr gequält wurde und nicht zu
viel Sorgen ausstand. Diese plagten es aber häufig genug; denn nicht
nur hatte es den Kummer und das wachsende Elend des Hauses mit zu
tragen, sondern es mußte noch sich selber in acht nehmen und mochte
sich gern halbwegs ordentlich und reinlich kleiden, ohne daß der Vater
ihm die geringsten Mittel dazu geben wollte. So hatte Vrenchen die
größte Not, ihre anmutige Person einigermaßen auszustaffieren, sich
ein allerbescheidenstes Sonntagskleid zu erobern und einige bunte,
fast wertlose Halstüchelchen zusammenzuhalten. Darum war das schöne
wohlgemute junge Blut in jeder Weise gedemütigt und gehemmt und konnte
am wenigsten der Hoffart anheimfallen. Überdies hatte es bei schon
erwachendem Verstande das Leiden und den Tod seiner Mutter gesehen,
und dies Andenken war ein weiterer Zügel, der seinem lustigen und
feurigen Wesen angelegt war, so daß es nun höchst lieblich,
unbedenklich und rührend sich ansah, wenn trotz alledem das gute Kind
bei jedem Sonnenblick sich ermunterte und zum Lächeln bereit war. Sali
erging es nicht so hart auf den ersten Anschein; denn er war nun ein
hübscher und kräftiger junger Bursche, der sich zu wehren wußte und
dessen äußere Haltung wenigstens eine schlechte Behandlung von selbst
unzulässig machte. Er sah wohl die üble Wirtschaft seiner Eltern und
glaubte sich erinnern zu können, daß es einst nicht so gewesen; ja er
bewahrte noch das frühere Bild seines Vaters wohl in seinem
Gedächtnisse als eines festen, klugen und ruhigen Bauers, desselben
Mannes, den er jetzt als einen grauen Narren, Händelführer und
Müßiggänger vor sich sah, der mit Toben und Prahlen auf hundert
törichten und verfänglichen Wegen wandelte und mit jeder Stunde
rückwärts ruderte, wie ein Krebs. Wenn ihm nun dies mißfiel und ihn
oft mit Scham und Kummer erfüllte, während es seiner Unerfahrenheit
nicht klar war, wie die Dinge so gekommen, so wurden seine Sorgen
wieder betäubt durch die Schmeichelei, mit der ihn die Mutter
behandelte. Denn um in ihrem Unwesen ungestörter zu sein und einen
guten Parteigänger zu haben, auch um ihrer Großtuerei zu genügen, ließ
sie ihm zukommen, was er wünschte, kleidete ihn sauber und prahlerisch
und unterstützte ihn in allem, was er zu seinem Vergnügen vornahm. Er
ließ sich dies gefallen ohne viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel
zu viel dazu schwatzte und log; und indem er so wenig Freude daran
empfand, tat er lässig und gedankenlos, was ihm gefiel, ohne daß dies
jedoch etwas Übles war, weil er für jetzt noch unbeschädigt war von
dem Beispiele der Alten und das jugendliche Bedürfnis fühlte, im
ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu sein. Er war ziemlich
genau so, wie sein Vater in diesem Alter gewesen war, und dieses
flößte demselben eine unwillkürliche Achtung vor dem Sohne ein, in
welchem er mit verwirrtem Gewissen und gepeinigter Erinnerung seine
eigene Jugend achtete. Trotz dieser Freiheit, welche Sali genoß, ward
er seines Lebens doch nicht froh und fühlte wohl, wie er nichts
Rechtes vor sich hatte und ebensowenig etwas Rechtes lernte, da von
einem zusammenhängenden und vernunftgemäßen Arbeiten in Manzens Hause
längst nicht mehr die Rede war. Sein bester Trost war daher, stolz auf
seine Unabhängigkeit und einstweilige Unbescholtenheit zu sein, und in
diesem Stolze ließ er die Tage trotzig verstreichen und wandte die
Augen von der Zukunft ab. Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war
die Feindschaft seines Vaters gegen alles, was Marti hieß und an
diesen erinnerte. Doch wußte er nichts anderes, als daß Marti seinem
Vater Schaden zugefügt und daß man in dessen Hause ebenso feindlich
gesinnt sei, und es fiel ihm daher nicht schwer, weder den Marti noch
seine Tochter anzusehen und seinerseits auch einen angehenden, doch
ziemlich zahmen Feind vorzustellen. Vrenchen hingegen, welches mehr
erdulden mußte als Sali und in seinem Hause viel verlassener war,
fühlte sich weniger zu einer förmlichen Feindschaft aufgelegt und
glaubte sich nur verachtet von dem wohlgekleideten und scheinbar
glücklicheren Sali; deshalb verbarg sie sich vor ihm, und wenn er
irgendwo nur in der Nähe war, so entfernte sie sich eilig, ohne daß er
sich die Mühe gab, ihr nachzublicken. So kam es, daß er das Mädchen
schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe gesehen und gar
nicht wußte, wie es aussah, seit es herangewachsen. Und doch wunderte
es ihn zuweilen ganz gewaltig, und wenn überhaupt von den Martis
gesprochen wurde, so dachte er unwillkürlich nur an die Tochter, deren
jetziges Aussehen ihm nicht deutlich und deren Andenken ihm gar nicht
verhaßt war.

Doch war sein Vater Manz nun der erste von den beiden Feinden, der
sich nicht mehr halten konnte und von Haus und Hof springen mußte.
Dieser Vortritt rührte daher, daß er eine Frau besaß, die ihm
geholfen, und einen Sohn, der doch auch einiges mit brauchte, während
Marti der einzige Verzehrer war in seinem wackeligen Königreich, und
seine Tochter durfte wohl arbeiten wie ein Haustierchen, aber nichts
gebrauchen. Manz aber wußte nichts anderes anzufangen, als auf den Rat
seiner Seldwyler Gönner in die Stadt zu ziehen und da sich als Wirt
aufzutun. Es ist immer betrüblich anzusehen, wenn ein ehemaliger
Landmann, der auf dem Felde alt geworden ist, mit den Trümmern seiner
Habe in eine Stadt zieht und da eine Schenke oder Kneipe auftut, um
als letzten Rettungsanker den freundlichen und gewandten Wirt zu
machen, während es ihm nichts weniger als freundlich zumut ist. Als
die Manzen vom Hofe zogen, sah man erst, wie arm sie bereits waren;
denn sie luden lauter alten und zerfallenden Hausrat auf, dem man es
ansah, daß seit vielen Jahren nichts erneuert und angeschafft worden
war. Die Frau legte aber nichtsdestominder ihren besten Staat an, als
sie sich oben auf die Gerümpelfuhre setzte, und machte ein Gesicht
voller Hoffnungen, als künftige Stadtfrau schon mit Verachtung auf die
Dorfgenossen herabsehend, welche voll Mitleid hinter den Hecken hervor
dem bedenklichen Zuge zuschauten. Denn sie nahm sich vor, mit ihrer
Liebenswürdigkeit und Klugheit die ganze Stadt zu bezaubern, und was
ihr versimpelter Mann nicht machen könne, das wolle sie schon
ausrichten, wenn sie nur erst einmal als Frau Wirtin in einem
stattlichen Gasthofe säße. Dieser Gasthof bestand aber in einer
trübseligen Winkelschenke in einem abgelegenen schmalen Gäßchen, auf
der eben ein anderer zugrunde gegangen war und welche die Seldwyler
dem Manz verpachteten, da er noch einige hundert Taler einzuziehen
hatte. Sie verkauften ihm auch ein paar Fäßchen angemachten Weines und
das Wirtschaftsmobiliar, das aus einem Dutzend weißen geringen
Flaschen, ebensoviel Gläsern und einigen tannenen Tischen und Bänken
bestand, welche einst blutrot angestrichen gewesen und jetzt
vielfältig abgescheuert waren. Vor dem Fenster knarrte ein eiserner
Reifen in einem Haken, und in dem Reifen schenkte eine blecherne Hand
Rotwein aus einem Schöppchen in ein Glas. Überdies hing ein verdorrter
Busch von Stechpalme über der Haustüre, was Manz alles mit in die
Pacht bekam. Um deswillen war er nicht so wohlgemut wie seine Frau,
sondern trieb mit schlimmer Ahnung und voll Ingrimm die magern Pferde
an, welche er vom neuen Bauern geliehen. Das letzte schäbige
Knechtchen, das er gehabt, hatte ihn schon seit einigen Wochen
verlassen. Als er solcherweise abfuhr, sah er wohl, wie Marti voll
Hohn und Schadenfreude sich unfern der Straße zu schaffen machte,
fluchte ihm und hielt denselben für den alleinigen Urheber seines
Unglückes. Sali aber, sobald das Fuhrwerk im Gange war, beschleunigte
seine Schritte, eilte voraus und ging allein auf Seitenwegen nach der
Stadt.

„Da wären wir!" sagte Manz, als die Fuhre vor dem Spelunkelein
anhielt. Die Frau erschrak darüber, denn das war in der Tat ein
trauriger Gasthof. Die Leute traten eilfertig unter die Fenster und
vor die Häuser, um sich den neuen Bauernwirt anzusehen, und machten
mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig spöttische Gesichter.
Zornig und mit nassen Augen kletterte die Manzin vom Wagen herunter
und lief, ihre Zunge vorläufig wetzend, in das Haus, um sich heute
vornehm nicht wieder blicken zu lassen; denn sie schämte sich des
schlechten Gerätes und der verdorbenen Betten, welche nun abgeladen
wurden. Sali schämte sich auch, aber er mußte helfen und machte mit
seinem Vater einen seltsamen Verlag in dem Gäßchen, auf welchem
alsbald die Kinder der Falliten herumsprangen und sich über das
verlumpte Bauernpack lustig machten. Im Hause aber sah es noch
trübseliger aus, und es glich einer vollkommenen Räuberhöhle. Die
Wände waren schlechtgeweißtes, feuchtes Mauerwerk, außer der dunklen,
unfreundlichen Gaststube mit ihren ehemals blutroten Tischen waren nur
noch ein paar schlechte Kämmerchen da, und überall hatte der
ausgezogene Vorgänger den trostlosesten Schmutz und Kehricht
zurückgelassen.

So war der Anfang, und so ging es auch fort. Während der ersten Woche
kamen, besonders am Abend, wohl hin und wieder ein Tisch voll Leute
aus Neugierde, den Bauernwirt zu sehen, und ob es da vielleicht
einigen Spaß absetzte. Am Wirt hatten sie nicht viel zu betrachten,
denn Manz war ungelenk, starr, unfreundlich und melancholisch und
wußte sich gar nicht zu benehmen, wollte es auch nicht wissen. Er
füllte langsam und ungeschickt die Schöppchen, stellte sie mürrisch
vor die Gäste und versuchte etwas zu sagen, brachte aber nichts
heraus. Desto eifriger warf sich nun seine Frau ins Geschirr und hielt
die Leute wirklich einige Tage zusammen, aber in einem ganz anderen
Sinne, als sie meinte. Die ziemlich dicke Frau hatte sich eine eigene
Haustracht zusammengesetzt, in der sie unwiderstehlich zu sein
glaubte. Zu einem leinenen, ungefärbten Landrock trug sie einen alten,
grünseidenen Spenzer, eine baumwollene Schürze und einen schlimmen,
weißen Halskragen. Von ihrem nicht mehr dichten Haar hatte sie an den
Schläfen possierliche Schnecken gewickelt und in das Zöpfchen hinten
einen hohen Kamm gesteckt. So schwänzelte und tänzelte sie mit
angestrengter Anmut herum, spitzte lächerlich das Maul, daß es süß
aussehen sollte, hüpfte elastisch an die Tische hin, und das Glas oder
den Teller mit gesalzenem Käse hinsetzend, sagte sie lächelnd: „So so?
so soli! herrlich, herrlich, ihr Herren!" und solches dummes Zeug
mehr; denn obwohl sie sonst eine geschliffene Zunge hatte, so wußte
sie jetzt doch nichts Gescheites vorzubringen, da sie fremd war und
die Leute nicht kannte. Die Seldwyler von der schlechtesten Sorte, die
da hockten, hielten die Hand vor den Mund, wollten vor Lachen
ersticken, stießen sich unter dem Tisch mit den Füßen und sagten:
„Potz tausig! Das ist ja eine Herrliche!" „Eine Himmlische!" sagte ein
anderer, „beim ewigen Hagel! Es ist der Mühe wert, hierherzukommen, so
eine haben wir lang nicht gesehen!" Ihr Mann bemerkte das wohl mit
finsterem Blicke; er gab ihr einen Stoß in die Rippen und flüsterte:
„Du alte Kuh! Was machst du denn?" „Störe mich nicht," sagte sie
unwillig, „du alter Tolpatsch! Siehst du nicht, wie ich mir Mühe gebe
und mit den Leuten umzugehen weiß? Das sind aber nur Lumpen von deinem
Anhang! Laß mich nur machen, ich will bald vornehmere Kundschaft hier
haben!" Dies alles war beleuchtet von einem oder zwei dünnen
Talglichten; Sali, der Sohn, aber ging hinaus in die dunkle Küche,
setzte sich auf den Herd und weinte über Vater und Mutter.

Die Gäste hatten aber das Schauspiel bald satt, welches ihnen die gute
Frau Manz gewährte, und blieben wieder, wo es ihnen wohler war und sie
über die wunderliche Wirtschaft lachen konnten; nur dann und wann
erschien ein einzelner, der ein Glas trank und die Wände angähnte,
oder es kam ausnahmsweise eine ganze Bande, die armen Leute mit einem
vorübergehenden Trubel und Lärm zu täuschen. Es ward ihnen angst und
bange in dem engen Mauerwinkel, wo sie kaum die Sonne sahen; und Manz,
welcher sonst gewohnt war, tagelang in der Stadt zu liegen, fand es
jetzt unerträglich zwischen diesen Mauern. Wenn er an die freie Weite
der Felder dachte, so stierte er finster brütend an die Decke oder auf
den Boden, lief unter die enge Haustüre und wieder zurück, da die
Nachbarn den bösen Wirt, wie sie ihn schon nannten, angafften. Nun
dauerte es aber nicht mehr lange und sie verarmten gänzlich und hatten
gar nichts mehr in der Hand; sie mußten, um etwas zu essen, warten,
bis einer kam und für wenig Geld etwas von dem noch vorhandenen Wein
verzehrte, und wenn er eine Wurst oder dergleichen begehrte, so hatten
sie oft die größte Angst und Sorge, dieselbe beizutreiben. Bald hatten
sie auch den Wein nur noch in einer großen Flasche verborgen, die sie
heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen, und so sollten sie nun
die Wirte machen ohne Wein und Brot und freundlich sein, ohne
ordentlich gegessen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur niemand
kam, und hockten so in ihrem Kneipchen, ohne leben noch sterben zu
können. Als die Frau diese traurigen Erfahrungen machte, zog sie den
grünen Spenzer wieder aus und nahm abermals eine Veränderung vor,
indem sie nun, wie früher die Fehler, so nun einige weibliche Tugenden
aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Not an den Mann ging. Sie übte
Geduld und suchte den Alten aufrechtzuhalten und den Jungen zum Guten
anzuweisen; sie opferte sich vielfältig in allerlei Dingen, kurz sie
übte in ihrer Weise eine Art von wohltätigem Einfluß, der zwar nicht
weit reichte und nicht viel besserte, aber immerhin besser war als gar
nichts oder als das Gegenteil und die Zeit wenigstens verbringen half,
welche sonst viel früher hätte brechen müssen für diese Leute. Sie
wußte manchen Rat zu geben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ihrem
Verstande, und wenn der Rat nichts zu taugen schien und fehlschlug, so
ertrug sie willig den Grimm der Männer, kurzum, sie tat jetzt alles,
da sie alt war, was besser gedient hätte, wenn sie es früher geübt.

Um wenigstens etwas Beißbares zu erwerben und die Zeit zu verbringen,
verlegten sich Vater und Sohn auf die Fischerei, d. h. mit der
Angelrute, soweit es für jeden erlaubt war, sie in den Fluß zu hängen.
Dies war auch eine Hauptbeschäftigung der Seldwyler, nachdem sie
falliert hatten. Bei günstigem Wetter, wenn die Fische gern anbissen,
sah man sie dutzendweise hinauswandern mit Rute und Eimer, und wenn
man an den Ufern des Flusses wandelte, hockte alle Spanne lang einer,
der angelte, der eine in einem langen, braunen Bürgerrock, die bloßen
Füße im Wasser, der andere in einem spitzen, blauen Frack auf einer
alten Weide stehend, den alten Filz schief auf dem Ohre; weiterhin
angelte gar einer im zerrissenen, großblumigen Schlafrock, da er
keinen andern mehr besaß, die lange Pfeife in der einen, die Rute in
der andern Hand, und wenn man um eine Krümmung des Flusses bog, stand
ein alter, kahlköpfiger Dickbauch faselnackt auf einem Stein und
angelte; dieser hatte, trotz des Aufenthaltes am Wasser, so schwarze
Füße, daß man glaubte, er habe die Stiefel anbehalten. Jeder hatte ein
Töpfchen oder ein Schächtelchen neben sich, in welchem Regenwürmer
wimmelten, nach denen sie zu andern Stunden zu graben pflegten. Wenn
der Himmel mit Wolken bezogen und es ein schwüles, dämmeriges Wetter
war, welches Regen verkündete, so standen diese Gestalten am
zahlreichsten an dem ziehenden Strome, regungslos gleich einer Galerie
von Heiligen, oder Prophetenbildern. Achtlos zogen die Landleute mit
Vieh und Wagen an ihnen vorüber, und die Schiffer auf dem Flusse sahen
sie nicht an, während sie leise murrten über die störenden Schiffe.

Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem schönen Gespann
pflügte auf dem Hügel über dem Ufer, geweissagt hätte, er würde sich
einst zu diesen wunderlichen Heiligen gesellen und gleich ihnen Fische
fangen, so wäre er nicht übel aufgefahren. Auch eilte er jetzt hastig
an ihnen vorüber hinter ihrem Rücken und eilte stromaufwärts gleich
einem eigensinnigen Schatten der Unterwelt, der sich zu seiner
Verdammnis ein bequemes, einsames Plätzchen sucht an den dunkeln
Wässern. Mit der Angelrute zu stehen hatten er und sein Sohn indessen
keine Geduld, und sie erinnerten sich der Art, wie die Bauern auf
manche andere Weise etwa Fische fangen, wenn sie übermütig sind,
besonders mit den Händen in den Bächen; daher nahmen sie die Ruten nur
zum Schein mit und gingen an den Borden der Bäche hinauf, wo sie
wußten, daß es teure und gute Forellen gab.

Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es inzwischen auch
immer schlimmer, und es war ihm höchst langweilig dabei, so daß er,
anstatt auf seinem vernachlässigten Felde zu arbeiten, ebenfalls auf
das Fischen verfiel und tagelang im Wasser herumplätscherte. Vrenchen
durfte nicht von seiner Seite und mußte ihm Eimer und Geräte
nachtragen durch nasse Wiesengründe, durch Bäche und Wassertümpel
aller Art, bei Regen und Sonnenschein, indessen sie das Notwendigste
zu Hause liegenlassen mußte. Denn es war sonst keine Seele mehr da und
wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiste Land schon verloren
hatte und nur noch wenige Äcker besaß, die er mit seiner Tochter
liederlich genug oder gar nicht bebaute.

So kam es, daß, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und
reißenden Bach entlang ging, in welchem die Forellen fleißig sprangen,
da der Himmel voll Gewitterwolken hing, er unverhofft auf seinen Feind
Manz traf, der an dem andern Ufer daherkam. Sobald er ihn sah, stieg
ein schrecklicher Groll und Hohn in ihm auf; sie waren sich seit
Jahren nicht so nahe gewesen, ausgenommen vor den Gerichtsschranken,
wo sie nicht schelten durften, und Marti rief jetzt voll Grimm: „Was
tust du hier, du Hund? Kannst du nicht in deinem Lotterneste bleiben,
du Seldwyler Lumpenhund?"

„Wirst nächstens wohl auch ankommen, du Schelm!" rief Manz. „Fische
fängst du ja auch schon und wirst deshalb nicht viel mehr zu versäumen
haben!"

„Schweig, du Galgenhund!" schrie Marti, da hier die Wellen des Baches
stärker rauschten, „du hast mich ins Unglück gebracht!" Und da jetzt
auch die Weiden am Bache gewaltig zu rauschen anfingen im aufgehenden
Wetterwind, so mußte Manz noch lauter schreien: „Wenn dem nur so wäre,
so wollte ich mich freuen, du elender Tropf!" „O du Hund!" schrie
Marti herüber und Manz hinüber: „O du Kalb, wie dumm tust du!" Und
jener sprang wie ein Tiger den Bach entlang und suchte herüberzukommen.
Der Grund, warum er der Wütendere war, lag in seiner Meinung, daß Manz
als Wirt wenigstens genug zu essen und zu trinken hätte und
gewissermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es
ungerechterweise ihm so langweilig wäre auf seinem zertrümmerten Hofe.
Manz schritt indessen auch grimmig genug an der andern Seite hin,
hinter ihm sein Sohn, welcher, statt auf den bösen Streit zu hören,
neugierig und verwundert nach Vrenchen hinübersah, welche hinter ihrem
Vater ging, vor Scham in die Erde sehend, daß ihr die braunen, krausen
Haare ins Gesicht fielen. Sie trug einen hölzernen Fischeimer in der
einen Hand, in der andern hatte sie Schuh und Strümpfe getragen und
ihr Kleid der Nässe wegen aufgeschürzt. Seit aber Sali auf der andern
Seite ging, hatte sie es schamhaft sinken lassen und war nun dreifach
belästigt und gequält, da sie all das Zeug tragen, den Rock
zusammenhalten und des Streites wegen sich grämen mußte. Hätte sie
aufgesehen und nach Sali geblickt, so würde sie entdeckt haben, daß er
weder vornehm noch sehr stolz mehr aussah und selbst bekümmert genug
war. Während Vrenchen so ganz beschämt und verwirrt auf die Erde sah
und Sali nur diese in allem Elende schlanke und anmutige Gestalt im
Auge hatte, die so verlegen und demütig dahinschritt, beachteten sie
dabei nicht, wie ihre Väter stillgeworden, aber mit verstärkter Wut
einem hölzernen Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den
Bach führte und eben sichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und
erleuchtete seltsam die dunkle, melancholische Wassergegend; es
donnerte auch in den grauschwarzen Wolken mit dumpfem Grolle, und
schwere Regentropfen fielen, als die verwilderten Männer gleichzeitig
auf die schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten, sich
gegenseitig packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem
Kummer bleichen, zitternden Gesichter schlugen. Es ist nichts
Anmutiges und nichts weniger als artig, wenn sonst gesetzte Menschen
noch in den Fall kommen, aus Übermut, Unbedacht oder Notwehr unter
allerhand Volk, das sie nicht näher berührt, Schläge auszuteilen oder
welche zu bekommen; allein dies ist eine harmlose Spielerei gegen das
tiefe Elend, das zwei alte Menschen überwältigt, die sich wohl kennen
und seit lange kennen, wenn diese aus innerster Feindschaft und aus
dem Gange einer ganzen Lebensgeschichte heraus sich mit nackten Händen
anfassen und mit Fäusten schlagen. So taten jetzt diese beiden
ergrauten Männer; vor fünfzig Jahren vielleicht hatten sie sich als
Buben zum letztenmal gerauft, dann aber fünfzig lange Jahre mit keiner
Hand mehr berührt, ausgenommen in ihrer guten Zeit, wo sie sich etwa
zum Gruße die Hände geschüttelt, und auch dies nur selten bei ihrem
trockenen und sicheren Wesen. Nachdem sie ein= oder zweimal
geschlagen, hielten sie inne und rangen still zitternd miteinander,
nur zuweilen aufstöhnend und elendiglich knirschend, und einer suchte
den andern über das knackende Geländer ins Wasser zu werfen. Jetzt
waren aber auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den erbärmlichen
Auftritt. Sali sprang eines Satzes heran, um seinem Vater beizustehen
und ihm zu helfen, dem gehaßten Feinde den Garaus zu machen, der
ohnehin der schwächere schien und eben zu unterliegen drohte: Aber
auch Vrenchen sprang, alles wegwerfend, mit einem langen Aufschrei
herzu und umklammerte ihren Vater, um ihn zu schützen, während sie ihn
dadurch nur hinderte und beschwerte. Tränen strömten aus ihren Augen,
und sie sah flehend den Sali an, der im Begriff war, ihren Vater
ebenfalls zu fassen und vollends zu überwältigen. Unwillkürlich legte
er aber seine Hand an seinen eigenen Vater und suchte denselben mit
festem Arm von dem Gegner loszubringen und zu beruhigen, so daß der
Kampf eine kleine Weile ruhte oder vielmehr die ganze Gruppe unruhig
hin und her drängte, ohne auseinander zu kommen. Darüber waren die
jungen Leute, sich mehr zwischen die Alten schiebend, in dichte
Berührung gekommen, und in diesem Augenblicke erhellte ein Wolkenriß,
der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des Mädchens,
und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch so viel anders und
schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblicke auch
sein Erstaunen, und es lächelte ganz kurz und geschwind mitten in
seinem Schrecken und seinen Tränen ihn an. Doch ermannte sich Sali,
geweckt durch die Anstrengungen seines Vaters, ihn abzuschütteln, und
brachte ihn mit eindringlich bittenden Worten und fester Haltung
endlich ganz von seinem Feinde weg. Beide alten Gesellen atmeten hoch
auf und begannen jetzt wieder zu schelten und zu schreien, sich
voneinander abwendend; ihre Kinder aber atmeten kaum und waren still
wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden und Trennen, ungesehen von
den Alten, schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen
feucht und kühl waren.

Als die grollenden Parteien ihrer Wege gingen, hatten die Wolken sich
wieder geschlossen, es dunkelte mehr und mehr und der Regen goß nun in
Bächen durch die Luft. Manz schlenderte voraus auf den dunklen, nassen
Wegen, er duckte sich, beide Hände in den Taschen, unter den
Regengüssen, zitterte noch in seinen Gesichtszügen und mit den Zähnen,
und ungesehene Tränen rieselten ihm in den Stoppelbart, die er fließen
ließ, um sie durch das Wegwischen nicht zu verraten. Sein Sohn hatte
aber nichts gesehen, weil er in glückseligen Bildern verloren
daherging. Er merkte weder Regen noch Sturm, weder Dunkelheit, noch
Elend; sondern leicht, hell und warm war es ihm innen und außen, und
er fühlte sich so reich und wohlgeborgen wie ein Königssohn. Er sah
fortwährend das sekundenlange Lächeln des nahen schönen Gesichtes und
erwiderte dasselbe erst jetzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem
er voll Liebe in Nacht und Wetter hinein und das liebe Gesicht
anlachte, das ihm allerwegen aus dem Dunkel entgegentrat, so daß er
glaubte, Vrenchen müsse auf seinen Wegen dies Lachen notwendig sehen
und seiner innewerden.

Sein Vater war des andern Tags wie zerschlagen und wollte nicht aus
dem Hause. Der ganze Handel und das vieljährige Elend nahm heute eine
neue, deutlichere Gestalt an und breitete sich dunkel aus in der
drückenden Luft der Spelunke, also daß Mann und Frau matt und scheu um
das Gespenst herumschlichen, aus der Stube in die dunklen Kämmerchen,
von da in die Küche und aus dieser wieder sich in die Stube
schleppten, in welcher kein Gast sich sehen ließ. Zuletzt hockte jedes
in einem Winkel und begann den Tag über ein müdes, halbtotes Zanken
und Vorhalten mit dem andern, wobei sie zeitweise einschliefen, von
unruhigen Tagträumen geplagt, welche aus dem Gewissen kamen und sie
wieder weckten. Nur Sali sah und hörte nichts davon, denn er dachte
nur an Vrenchen. Es war ihm immer noch zumut, nicht nur als ob er
unsäglich reich wäre, sondern auch was Rechtes gelernt hätte und
unendlich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun so deutlich und
bestimmt um das wußte, was er gestern gesehen. Diese Wissenschaft war
ihm wie vom Himmel gefallen, und er war in einer unaufhörlichen
glücklichen Verwunderung darüber; und doch war es ihm, als ob er es
eigentlich von jeher gewußt und gekannt hätte, was ihn jetzt mit so
wundersamer Süßigkeit erfüllte. Denn nichts gleicht dem Reichtum und
der Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Menschen herantritt in
einer so klaren und deutlichen Gestalt, vom Pfäfflein getauft und
wohlversehen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt wie andere Namen.

Sali fühlte sich an diesem Tage weder müßig noch unglücklich, weder
arm noch hoffnungslos; vielmehr war er vollauf beschäftigt, sich
Vrenchens Gesicht und Gestalt vorzustellen, unaufhörlich, eine Stunde
wie die andere; über dieser aufgeregten Tätigkeit aber verschwand ihm
der Gegenstand derselben fast vollständig, das heißt, er bildete sich
endlich ein, nun doch nicht zu wissen, wie Vrenchen recht genau
aussehe, er habe wohl ein allgemeines Bild von ihr im Gedächtnis, aber
wenn er sie beschreiben sollte, so könnte er das nicht. Er sah
fortwährend dies Bild, als ob es vor ihm stände, und fühlte seinen
angenehmen Eindruck, und doch sah er es nur, wie etwas, das man eben
nur einmal gesehen, in dessen Gewalt man liegt und das man doch noch
nicht kennt. Er erinnerte sich genau der Gesichtszüge, welche das
kleine Dirnchen einst gehabt, mit großem Wohlgefallen, aber nicht
eigentlich derjenigen, welche er gestern gesehen. Hätte er Vrenchen
nie wieder zu sehen bekommen, so hätten sich seine Erinnerungskräfte
schon behelfen müssen und das liebe Gesicht säuberlich wieder
zusammengetragen, daß nicht ein Zug daran fehlte. Jetzt aber versagten
sie schlau und hartnäckig ihren Dienst, weil die Augen nach ihrem
Recht und ihrer Lust verlangten, und als am Nachmittage die Sonne warm
und hell die oberen Stockwerke der schwarzen Häuser beschien, strich
Sali aus dem Tore und seiner alten Heimat zu, welche ihm jetzt erst
ein himmlisches Jerusalem zu sein schien mit zwölf glänzenden Pforten,
und die sein Herz klopfen machte, als er sich ihr näherte.

Er stieß auf dem Wege auf Vrenchens Vater, welcher nach der Stadt zu
gehen schien. Der sah sehr wild und liederlich aus, sein
graugewordener Bart war seit Wochen nicht geschoren, und er sah aus
wie ein recht böser, verlorener Bauersmann, der sein Feld verscherzt
hat und nun geht, um andern Übles zuzufügen. Dennoch sah ihn Sali, als
sie sich vorübergingen, nicht mehr mit Haß, sondern voll Furcht und
Scheu an, als ob sein Leben in dessen Hand stände und er es lieber von
ihm erflehen als ertrotzen möchte. Marti aber maß ihn mit einem bösen
Blicke von oben bis unten und ging seines Weges. Das war indessen dem
Sali recht, welchem es nun, da er den Alten das Dorf verlassen sah,
deutlicher wurde, was er eigentlich da wolle, und er schlich sich auf
altbekannten Pfaden so lange um das Dorf herum und durch dessen
verdeckte Gäßchen, bis er sich Martis Haus und Hof gegenüber befand.
Seit mehreren Jahren hatte er diese Stätte nicht mehr so nah gesehen;
denn auch als sie noch hier wohnten, hüteten sich die verfeindeten
Leute gegenseitig, sich ins Gehege zu kommen. Deshalb war er nun
erstaunt über das, was er doch an seinem eigenen Vaterhause erlebt,
und starrte voll Verwunderung in die Wüstenei, die er vor sich sah.
Dem Marti war ein Stück Ackerland um das andere abgepfändet worden, er
besaß nichts mehr als das Haus und den Platz davor nebst etwas Garten
und dem Acker auf der Höhe am Flusse, von welchem er hartnäckig am
längsten nicht lassen wollte.

Es war aber keine Rede mehr von einer ordentlichen Bebauung, und auf
dem Acker, der einst so schön im gleichmäßigen Korne gewogt, wenn die
Ernte kam, waren jetzt allerhand abfällige Samenreste gesät und
aufgegangen, aus alten Schachteln und zerrissenen Tüten
zusammengekehrt, Rüben, Kraut und dergleichen und etwas Kartoffeln, so
daß der Acker aussah wie ein recht übel gepflegter Gemüseplatz, und
eine wunderliche Musterkarte war, dazu angelegt, um von der Hand in
den Mund zu leben, hier eine Handvoll Rüben auszureißen, wenn man
Hunger hatte und nichts Besseres wußte, dort eine Tracht Kartoffeln
oder Kraut, und das übrige fortwuchern oder verfaulen zu lassen, wie
es mochte. Auch lief jedermann darin herum, wie es ihm gefiel, und das
schöne breite Stück Feld sah beinahe so aus, wie einst der herrenlose
Acker, von dem alles Unheil herkam. Deshalb war um das Haus nicht eine
Spur von Ackerwirtschaft zu sehen. Der Stall war leer, die Türe hing
nur in einer Angel, und unzählige Kreuzspinnen, den Sommer hindurch
halbgroß geworden, ließen ihre Fäden in der Sonne glänzen vor dem
dunklen Eingang. An dem offenstehenden Scheunentor, wo einst die
Früchte des festen Landes eingefahren, hing schlechtes Fischergeräte,
zum Zeugnis der verkehrten Wasserpfuscherei; auf dem Hofe war nicht
ein Huhn und nicht eine Taube, weder Katze noch Hund zu sehen; nur der
Brunnen war noch als etwas Lebendiges da, aber er floß nicht mehr
durch die Röhre, sondern sprang durch einen Riß nahe am Boden über
diesen hin und setzte überall kleine Tümpel an, so daß er das beste
Sinnbild der Faulheit abgab. Denn während mit wenig Mühe des Vaters
das Loch zu verstopfen und die Röhre herzustellen gewesen wäre, mußte
sich Vrenchen nun abquälen, selbst das lautere Wasser dieser
Verkommenheit abzugewinnen und seine Wäscherei in den seichten
Sammlungen am Boden vorzunehmen, statt in dem vertrockneten und
zerspellten Troge. Das Haus selbst war ebenso kläglich anzusehen; die
Fenster waren vielfältig zerbrochen und mit Papier verklebt, aber doch
waren sie das Freundlichste an dem Verfall; denn sie waren, selbst die
zerbrochenen Scheiben, klar und sauber gewaschen, ja förmlich poliert
und glänzten so hell, wie Vrenchens Augen, welche ihm in seiner Armut
ja auch allen übrigen Staat ersetzen mußten. Und wie die krausen Haare
und die rotgelben Kattunhalstücher zu Vrenchens Augen, stand zu diesen
blinkenden Fenstern das wilde grüne Gewächs, was da durcheinander
rankte um das Haus, flatternde Bohnenwäldchen und eine ganze duftende
Wildnis von rotgelbem Goldlack. Die Bohnen hielten sich, sogut sie
konnten, hier an einem Harkenstiel, oben an einem verkehrt in die Erde
gesteckten Stumpfbesen, dort an einer von Rost zerfressenen Helbarte
oder Sponton, wie man es nannte, als Vrenchens Großvater das Ding als
Wachtmeister getragen, welches es jetzt aus Not in die Bohnen
gepflanzt hatte; dort kletterten sie wieder lustig eine verwitterte
Leiter empor, die am Hause lehnte seit undenklichen Zeiten, und hingen
von da an in die klaren Fensterchen hinunter wie Vrenchens
Kräuselhaare in seine Augen. Dieser mehr malerische als wirtliche Hof
lag etwas beiseit und hatte keine näheren Nachbarhäuser, auch ließ
sich in diesem Augenblicke nirgends eine lebendige Seele wahrnehmen;
Sali lehnte daher in aller Sicherheit an einem alten Scheunchen, etwa
dreißig Schritte entfernt, und schaute unverwandt nach dem stillen,
wüsten Hause hinüber. Eine geraume Zeit lehnte und schaute er so, als
Vrenchen unter die Haustür kam und lange vor sich hinblickte, wie mit
allen ihren Gedanken an einem Gegenstande hängend. Sali rührte sich
nicht und wandte kein Auge von ihr. Als sie endlich zufällig in dieser
Richtung hinsah, fiel er ihr in die Augen. Sie sahen sich eine Weile
an, herüber und hinüber, als ob sie eine Lufterscheinung betrachteten,
bis sich Sali endlich aufrichtete und langsam über die Straße und über
den Hof ging auf Vrenchen los. Als er dem Mädchen nahe war, streckte
es seine Hände gegen ihn aus und sagte: „Sali!" Er ergriff die Hände
und sah ihr immerfort ins Gesicht. Tränen stürzten aus ihren Augen,
während sie unter seinen Blicken vollends dunkelrot wurde, und sie
sagte: „Was willst du hier?" „Nur dich sehen!" erwiderte er, „wollen
wir nicht wieder gute Freunde sein?" „Und unsere Eltern?" fragte
Vrenchen, sein weinendes Gesicht zur Seite neigend, da es die Hände
nicht frei hatte, um es zu bedecken. „Sind wir schuld an dem, was sie
getan und geworden sind?" sagte Sali, „vielleicht können wir das Elend
nur gutmachen, wenn wir zwei zusammenhalten und uns recht lieb sind!"
„Es wird nie gut kommen," antwortete Vrenchen mit einem tiefen
Seufzer, „geh in Gottes Namen deiner Wege, Sali!" „Bist du allein?"
fragte dieser, „kann ich einen Augenblick hineinkommen?" „Der Vater
ist zur Stadt, wie er sagte, um deinem Vater irgend etwas anzuhängen;
aber hereinkommen kannst du nicht, weil du später vielleicht nicht so
ungesehen weggehen kannst wie jetzt. Noch ist alles still und niemand
um den Weg, ich bitte dich, geh jetzt!" „Nein, so geh' ich nicht! Ich
mußte seit gestern immer an dich denken, und ich geh' nicht so fort,
wir müssen miteinander reden, wenigstens eine halbe Stunde lang oder
eine Stunde, das wird uns gut tun!" Vrenchen besann sich ein Weilchen
und sagte dann: „Ich geh' gegen Abend auf unsern Acker hinaus, du
weißt welchen, wir haben nur noch den, und hole etwas Gemüse. Ich
weiß, daß niemand weiter dort sein wird, weil die Leute anderswo
schneiden; wenn du willst, so komm dorthin, aber jetzt geh und nimm
dich in acht, daß dich niemand sieht! Wenn auch kein Mensch hier mehr
mit uns umgeht, so würden sie doch ein solches Gerede machen, daß es
der Vater sogleich vernähme." Sie ließen sich jetzt die Hände frei,
ergriffen sie aber auf der Stelle wieder, und beide sagten
gleichzeitig: „Und wie geht es dir auch?" Aber statt sich zu
antworten, fragten sie das gleiche aufs neue, und die Antwort lag nur
in den beredten Augen, da sie nach Art der Verliebten die Worte nicht
mehr zu lenken wußten und ohne sich weiter etwas zu sagen, endlich
halb selig und halb traurig auseinanderhuschten. „Ich komme recht bald
hinaus, geh nur gleich hin!" rief Vrenchen noch nach.

Sali ging auch alsobald auf die stille, schöne Anhöhe hinaus, über
welche die zwei Äcker sich erstreckten, und die prächtige, stille
Junisonne, die fahrenden, weißen Wolken, welche über das reife,
wallende Kornfeld wegzogen, der glänzende, blaue Fluß, der unten
vorüberwallte, alles dies erfüllte ihn zum ersten Male seit langen
Jahren wieder mit Glück und Zufriedenheit, statt mit Kummer, und er
warf sich der Länge nach in den durchsichtigen Halbschatten des
Kornes, wo dasselbe Martis wilden Acker begrenzte, und guckte
glückselig in den Himmel.

Obgleich es kaum eine Viertelstunde währte, bis Vrenchen nachkam und
er an nichts anderes dachte, als an sein Glück und dessen Namen, stand
es doch plötzlich und unverhofft vor ihm, auf ihn niederlächelnd, und
froh erschreckt sprang er auf. „Vreeli!" rief er, und dieses gab ihm
still und lächelnd beide Hände, und Hand in Hand gingen sie nun das
flüsternde Korn entlang bis gegen den Fluß hinunter und wieder zurück,
ohne viel zu reden; sie legten zwei- oder dreimal den Hin- und Herweg
zurück, still, glückselig und ruhig, so daß dieses einige Paar nun
auch einem Sternbilde glich, welches über die sonnige Rundung der
Anhöhe und hinter derselben niederging, wie einst die sichergehenden
Pflugzüge ihrer Väter. Als sie aber einsmals die Augen von den blauen
Kornblumen aufschlugen, an denen sie gehaftet, sahen sie plötzlich
einen andern dunkeln Stern vor sich hergehen, einen schwärzlichen
Kerl, von dem sie nicht wußten, woher er so unversehens gekommen. Er
mußte im Korne gelegen haben; Vrenchen zuckte zusammen, und Sali sagte
erschreckt: „Der schwarze Geiger!" In der Tat trug der Kerl, der vor
ihnen herstrich, eine Geige mit dem Bogen unter dem Arm und sah
übrigens schwarz genug aus; neben einem schwarzen Filzhütchen und
einem schwarzen, rußigen Kittel, den er trug, war auch sein Haar
pechschwarz, so wie der ungeschorene Bart, das Gesicht und die Hände
aber ebenfalls geschwärzt; denn er trieb allerlei Handwerk, meistens
Kesselflicken, half auch den Kohlenbrennern und Pechsiedern in den
Wäldern und ging mit der Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn
die Bauern irgendwo lustig waren und ein Fest feierten. Sali und
Vrenchen gingen mäuschenstill hinter ihm drein und dachten, er würde
vom Felde gehen und verschwinden, ohne sich umzusehen, und so schien
es auch zu sein, denn er tat, als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu
waren sie in einem seltsamen Bann, daß sie nicht wagten, den schmalen
Pfad zu verlassen, und dem unheimlichen Gesellen unwillkürlich
folgten, bis an das Ende des Feldes, wo jener ungerechte Steinhaufen
lag, der das immer noch streitige Ackerzipfelchen bedeckte. Eine
zahllose Menge von Mohnblumen oder Klatschrosen hatte sich darauf
angesiedelt, weshalb der kleine Berg feuerrot aussah zurzeit.
Plötzlich sprang der schwarze Geiger mit einem Satze auf die
rotgekleidete Steinmasse hinauf, kehrte sich und sah ringsum. Das
Pärchen blieb stehen und sah verlegen zu dem dunklen Burschen hinauf;
denn vorbei konnten sie nicht gehen, weil der Weg in das Dorf führte,
und umkehren mochten sie auch nicht vor seinen Augen. Er sah sie
scharf an und rief: „Ich kenne euch, ihr seid die Kinder derer, die
mir den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen, wie gut
ihr gefahren seid, und werde gewiß noch erleben, daß ihr vor mir den
Weg alles Fleisches geht! Seht mich nur an, ihr zwei Spatzen! Gefällt
euch meine Nase, wie?" In der Tat besaß er eine schreckbare Nase,
welche wie ein großes Winkelmaß aus dem dürren, schwarzen Gesicht
ragte oder eigentlich mehr einem tüchtigen Knebel oder Prügel glich,
welcher in dies Gesicht geworfen worden war, und unter dem ein
kleines, rundes Löchelchen von einem Munde sich seltsam stutzte und
zusammenzog, aus dem er unaufhörlich pustete, pfiff und zischte. Dazu
stand das kleine Filzhütchen ganz unheimlich, welches nicht rund und
nicht eckig und so sonderlich geformt war, daß es alle Augenblicke
seine Gestalt zu verändern schien, obgleich es unbeweglich saß, und
von den Augen des Kerls war fast nichts als das Weiße zu sehen, da die
Sterne unaufhörlich auf einer blitzschnellen Wanderung begriffen waren
und wie zwei Hasen im Zickzack umhersprangen. „Seht mich nur an," fuhr
er fort, „eure Väter kennen mich wohl, und jedermann in diesem Dorfe
weiß, wer ich bin, wenn er nur meine Nase sieht. Da haben sie vor
Jahren ausgeschrieben, daß ein Stück Geld für den Erben dieses Ackers
bereitliege; ich habe mich zwanzigmal gemeldet, aber ich habe keinen
Taufschein und keinen Heimatschein, und meine Freunde, die
Heimatlosen, die meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugnis,
und so ist die Frist längst verlaufen, und ich bin um den blutigen
Pfennig gekommen, mit dem ich hätte auswandern können! Ich habe eure
Väter angefleht, daß sie mir bezeugen möchten, sie müßten mich nach
ihrem Gewissen für den rechten Erben halten; aber sie haben mich von
ihren Höfen gejagt, und nun sind sie selbst zum Teufel gegangen! Item,
das ist der Welt Lauf, mir kann's recht sein, ich will euch doch
geigen, wenn ihr tanzen wollt!" Damit sprang er auf der andern Seite
von den Steinen hinunter und machte sich dem Dorfe zu, wo gegen Abend
der Erntesegen eingebracht wurde und die Leute guter Dinge waren. Als
er verschwunden, ließ sich das Paar ganz mutlos und betrübt auf die
Steine nieder; sie ließen ihre verschlungenen Hände fahren und
stützten die traurigen Köpfe darauf; denn die Erscheinung des Geigers
und seine Worte hatten sie aus der glücklichen Vergessenheit gerissen,
in welcher sie wie zwei Kinder auf und ab gewandelt; und wie sie nun
auf dem harten Grund ihres Elendes saßen, verdunkelte sich das heitere
Lebenslicht, und ihre Gemüter wurden so schwer wie Steine.

Da erinnerte sich Vrenchen unversehens der wunderlichen Gestalt und
der Nase des Geigers, es mußte plötzlich hell auslachen und rief: „Der
arme Kerl sieht gar zu spaßhaft aus! Was für eine Nase!" und eine
allerliebste, sonnenhelle Lustigkeit verbreitete sich über des
Mädchens Gesicht, als ob sie nur geharrt hätte, bis des Geigers Nase
die trüben Wolken wegstieße. Sali sah Vrenchen an und sah diese
Fröhlichkeit. Es hatte die Ursache aber schon wieder vergessen und
lachte nur noch auf eigene Rechnung dem Sali ins Gesicht. Dieser,
verblüfft und erstaunt, starrte unwillkürlich mit lachendem Munde auf
die Augen, gleich einem Hungrigen, der ein süßes Weizenbrot erblickt,
und rief: „Bei Gott, Vreeli! Wie schön bist du!" Vrenchen lachte ihn
nur noch mehr an und hauchte dazu aus klangvoller Kehle einige kurze,
mutwillige Lachtöne, welche dem armen Sali nicht anders dünkten, als
der Gesang einer Nachtigall. „O du Hexe!" rief er, „wo hast du das
gelernt? Welche Teufelskünste treibst du da?" „Ach du lieber Gott!"
sagte Vrenchen mit schmeichelnder Stimme und nahm Salis Hand, „das
sind keine Teufelskünste! Wie lange hätte ich gern einmal gelacht! Ich
habe wohl zuweilen, wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen
müssen, aber es war nichts Rechtes dabei; jetzt aber möchte ich dich
immer und ewig anlachen, wenn ich dich sehe, und ich möchte dich wohl
immer und ewig sehen! Bist du mir auch ein bißchen recht gut?" „O
Vreeli!" sagte er und sah ihr ergeben und treuherzig in die Augen,
„ich habe noch nie ein Mädchen angesehen, es war mir immer, als ob ich
dich einst liebhaben müßte, und ohne daß ich wollte oder wußte, hast
du mir doch immer im Sinn gelegen!" „Und du mir auch," sagte Vrenchen,
„und das noch viel mehr; denn du hast mich nie angesehen und wußtest
nicht, wie ich geworden bin; ich aber habe dich zuzeiten aus der Ferne
und sogar heimlich aus der Nähe recht gut betrachtet und wußte immer,
wie du aussiehst! Weißt du noch, wie oft wir als Kinder
hierhergekommen sind? Denkst du noch des kleinen Wagens? Wie kleine
Leute sind wir damals gewesen und wie lang ist es her! Man sollte
denken, wir wären recht alt." „Wie alt bist du jetzt?" fragte Sali
voll Vergnügen und Zufriedenheit, „du mußt ungefähr siebzehn sein?"
„Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt!" erwiderte Vrenchen, „und
wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig?" „Woher
weißt du das?" fragte Sali. „Gelt, wenn ich es sagen wollte!" „Du
willst es nicht sagen?" „Nein!" „Gewiß nicht?" „Nein, nein!" „Du
sollst es sagen!" „Willst du mich etwa zwingen?" „Das wollen wir
sehen!" Diese einfältigen Reden führte Sali, um seine Hände zu
beschäftigen und mit ungeschickten Liebkosungen, welche wie eine
Strafe aussehen sollten, das schöne Mädchen zu bedrängen. Sie führte
auch, sich wehrend, mit vieler Langmut den albernen Wortwechsel fort,
der trotz seiner Leerheit beide witzig und süß genug dünkte, bis Sali
erbost und kühn genug war, Vrenchens Hände zu bezwingen und es in die
Mohnblumen zu drücken. Da lag es nun und zwinkerte in der Sonne mit
den Augen; seine Wangen glühten wie Purpur und sein Mund war halb
geöffnet und ließ zwei Reihen weiße Zähne durchschimmern. Fein und
schön flossen die dunklen Augenbrauen ineinander und die junge Brust
hob und senkte sich mutwillig unter sämtlichen vier Händen, welche
sich kunterbunt darauf streichelten und bekriegten. Sali wußte sich
nicht zu lassen vor Freuden, das schlanke schöne Geschöpf vor sich zu
sehen, es sein eigen zu wissen, und es dünkte ihm ein Königreich.
„Alle deine weißen Zähne hast du noch!" lachte er, „weißt du noch, wie
oft wir sie einst gezählt haben? Kannst du jetzt zählen?" „Das sind ja
nicht die gleichen, du Kind!" sagte Vrenchen, „jene sind längst
ausgefallen!" Sali wollte nun in seiner Einfalt jenes Spiel wieder
erneuern und die glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verschloß
plötzlich den roten Mund, richtete sich auf und begann einen Kranz von
Mohnrosen zu winden, den es sich auf den Kopf setzte. Der Kranz war
voll und breit und gab der bräunlichen Dirne ein fabelhaftes,
reizendes Ansehen, und der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche
Leute teuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden
hätten sehen können. Jetzt sprang sie aber empor und rief: „Himmel,
wie heiß ist es hier! Da sitzen wir wie die Narren und lassen uns
versengen! Komm, mein Lieber! laß uns ins hohe Korn sitzen!" Sie
schlüpften hinein so geschickt und sachte, daß sie kaum eine Spur
zurückließen, und bauten sich einen engen Kerker in den goldenen
Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drin saßen, so daß
sie nur den tiefblauen Himmel über sich sahen und sonst nichts von der
Welt. Sie umhalsten sich und küßten sich unverweilt und so lange, bis
sie einstweilen müde waren, oder wie man es nennen will, wenn das
Küssen zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten sich selbst
überlebt und die Vergänglichkeit alles Lebens mitten im Rausche der
Blütezeit ahnen läßt. Sie hörten die Lerchen singen hoch über sich und
suchten dieselben mit ihren scharfen Augen, und wenn sie glaubten,
flüchtig eine in der Sonne aufblitzen zu sehen, gleich einem plötzlich
aufleuchtenden oder hinschießenden Stern am blauen Himmel, so küßten
sie sich wieder zur Belohnung und suchten einander zu übervorteilen
und zu täuschen, soviel sie konnten. „Siehst du, dort blitzt eine!"
flüsterte Sali und Vrenchen erwiderte ebenso leise: „Ich höre sie
wohl, aber ich sehe sie nicht!" „Doch, paß nur auf, dort, wo das weiße
Wölkchen steht, ein wenig rechts davon!" Und beide sahen eifrig hin
und sperrten vorläufig ihre Schnäbel auf, wie die jungen Wachteln im
Neste, um sie unverzüglich aufeinanderzuheften, wenn sie sich
einbildeten, die Lerche gesehen zu haben. Auf einmal hielt Vrenchen
inne und sagte: „Dies ist also eine ausgemachte Sache, daß jedes von
uns einen Schatz hat, dünkt es dich nicht so?" „Ja," sagte Sali, „es
scheint mir auch so!" „Wie gefällt dir denn dein Schätzchen," sagte
Vrenchen, „was ist es für ein Ding, was hast du von ihm zu melden?"
„Es ist ein gar feines Ding," sagte Sali, „es hat zwei braune Augen,
einen roten Mund und läuft auf zwei Füssen; aber seinen Sinn kenn' ich
weniger, als den Papst zu Rom! Und was kannst du von deinem Schatz
berichten?" „Er hat zwei blaue Augen, einen nichtsnutzigen Mund und
braucht zwei verwegene starke Arme; aber seine Gedanken sind mir
unbekannter, als der türkische Kaiser!" „Es ist eigentlich wahr,"
sagte Sali, „daß wir uns weniger kennen, als wenn wir uns nie gesehen
hätten, so fremd hat uns die lange Zeit gemacht, seit wir groß
geworden sind! Was ist alles vorgegangen in deinem Köpfchen, mein
liebes Kind?" „Ach, nicht viel! Tausend Narrenspossen haben sich
wollen regen, aber es ist mir immer so trübselig ergangen, daß sie
nicht aufkommen konnten!" „Du armes Schätzchen," sagte Sali, „ich
glaube aber, du hast es hinter den Ohren, nicht?" „Das kannst du ja
nach und nach erfahren, wenn du mich recht lieb hast!" „Wenn du einst
meine Frau bist?" Vrenchen zitterte leis bei diesem letzten Worte und
schmiegte sich tiefer in Salis Arme, ihn von neuem lange und zärtlich
küssend. Es traten ihr dabei Tränen in die Augen und beide wurden auf
einmal traurig, da ihnen ihre hoffnungsarme Zukunft in den Sinn kam
und die Feindschaft ihrer Eltern. Vrenchen seufzte und sagte: „Komm,
ich muß nun gehen!" und so erhoben sie sich und gingen Hand in Hand
aus dem Kornfeld, als sie Vrenchens Vater spähend vor sich sahen. Mit
dem kleinlichen Scharfsinn des müßigen Elends hatte dieser, als er dem
Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der wohl allein im Dorfe zu
suchen ginge, und sich des gestrigen Vorfalles erinnernd, verfiel er,
immer nach der Stadt zu schlendernd, endlich auf die richtige Spur,
rein aus Groll und unbeschäftigter Bosheit, und nicht so bald gewann
der Verdacht eine bestimmte Gestalt, als er mitten in den Gassen von
Seldwyla umkehrte und wieder in das Dorf hinaustrollte, wo er seine
Tochter in Haus und Hof und rings in den Hecken vergeblich suchte. Mit
wachsender Neugier rannte er auf den Acker hinaus, und als er da
Vrenchens Korb liegen sah, in welchem es die Früchte zu holen pflegte,
das Mädchen selbst aber nirgends erblickte, spähte er eben am Korne
des Nachbars herum, als die erschrockenen Kinder herauskamen. Sie
standen wie versteinert und Marti stand erst auch da und beschaute sie
mit bösen Blicken, bleich wie Blei; dann fing er fürchterlich an zu
toben in Gebärden und Schimpfworten und langte zugleich grimmig nach
dem jungen Burschen, um ihn zu würgen; Sali wich aus und floh einige
Schritte zurück, entsetzt über den wilden Mann, sprang aber sogleich
wieder zu, als er sah, daß der Alte statt seiner nun das zitternde
Mädchen faßte, ihm eine Ohrfeige gab, daß der rote Kranz herunterflog,
und seine Haare um die Hand wickelte, um es mit sich fortzureißen und
weiter zu mißhandeln. Ohne sich zu besinnen, raffte er einen Stein auf
und schlug mit demselben den Alten gegen den Kopf, halb in Angst um
Vrenchen und halb im Jähzorn. Marti taumelte erst ein wenig, sank dann
bewußtlos auf den Steinhaufen nieder und zog das erbärmlich
aufschreiende Vrenchen mit. Sali befreite noch dessen Haare aus der
Hand des Bewußtlosen und richtete es auf; dann stand er da wie eine
Bildsäule, ratlos und gedankenlos. Das Mädchen, als es den wie tot
daliegenden Vater sah, fuhr sich mit den Händen über das erbleichende
Gesicht, schüttelte sich und sagte: „Hast du ihn erschlagen?" Sali
nickte lautlos und Vrenchen schrie: „O Gott, du lieber Gott! Es ist
mein Vater! Der arme Mann!" und sinnlos warf es sich über ihn und hob
seinen Kopf auf, an welchem indessen kein Blut floß. Es ließ ihn
wieder sinken; Sali ließ sich auf der andern Seite den Mannes nieder,
und beide schauten, still wie das Grab und mit erlahmten, reglosen
Händen in das leblose Gesicht. Um nur etwas anzufangen, sagte endlich
Sali: „Er wird doch nicht gleich tot sein müssen? Das ist gar nicht
ausgemacht!" Vrenchen riß ein Blatt von einer Klatschrose ab und legte
es auf die erblaßten Lippen und es bewegte sich schwach. „Er atmet
noch," rief es, „so lauf doch ins Dorf und hol' Hilfe." Als Sali
aufsprang und laufen wollte, streckte es ihm die Hand nach und rief
ihn zurück: „Komm aber nicht mit zurück und sage nichts, wie es
zugegangen, ich werde auch schweigen, man soll nichts aus mir
herausbringen!" sagte es und sein Gesicht, das es dem armen, ratlosen
Burschen zuwandte, überfloß von schmerzlichen Tränen. „Komm, küß' mich
noch einmal! Nein, geh, mach' dich fort! Es ist aus, es ist ewig aus,
wir können nicht zusammenkommen!" Es stieß ihn fort und er lief
willenlos dem Dorfe zu. Er begegnete einem Knäbchen, das ihn nicht
kannte; diesem trug er auf, die nächsten Leute zu holen, und beschrieb
ihm genau, wo die Hilfe nötig sei. Dann machte er sich verzweifelt
fort und irrte die ganze Nacht im Gehölze herum. Am Morgen schlich er
in die Felder, um zu spähen, wie es gegangen sei, und hörte von frühen
Leuten, welche miteinander sprachen, daß Marti noch lebe, aber nichts
von sich wisse, und wie das eine seltsame Sache wäre, da kein Mensch
wisse, was ihm zugestoßen. Erst jetzt ging er in die Stadt zurück und
verbarg sich in dem dunkeln Elend des Hauses.

Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als daß
es selbst den Vater so gefunden habe, und da er am andern Tage sich
wieder tüchtig regte und atmete, freilich ohne Bewußtsein, und
überdies kein Kläger da war, so nahm man an, er sei betrunken gewesen
und auf die Steine gefallen, und ließ die Sache auf sich beruhen.
Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von seiner Seite, außer um die
Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa für sich selbst eine
schlechte Suppe zu kochen; denn es lebte beinahe von nichts, obgleich
es Tag und Nacht wach sein mußte und niemand ihm half. Es dauerte
beinahe sechs Wochen, bis der Kranke allmählich zu seinem Bewußtsein
kam, obgleich er vorher schon wieder aß und in seinem Bette ziemlich
munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtsein, das er jetzt
erlangte, sondern es zeigte sich immer deutlicher, je mehr er sprach,
daß er blödsinnig geworden, und zwar auf die wunderlichste Weise. Er
erinnerte sich nur dunkel an das Geschehene und wie an etwas sehr
Lustiges, was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und
war guter Dinge. Noch im Bette liegend, brachte er hundert närrische,
sinnlos mutwillige Redensarten und Einfälle zum Vorschein, schnitt
Gesichter und zog sich die schwarzwollene Zipfelmütze in die Augen und
über die Nase herunter, daß diese aussah, wie ein Sarg unter einem
Bahrtuch. Das bleiche und abgehärmte Vrenchen hörte ihm geduldig zu,
Tränen vergießend über das törichte Wesen, welches die arme Tochter
noch mehr ängstigte, als die frühere Bosheit; aber wenn der Alte
zuweilen etwas gar zu Drolliges anstellte, so mußte es mitten in
seiner Qual laut auflachen, da sein unterdrücktes Wesen immer zur Lust
aufzuspringen bereit war, wie ein gespannter Bogen, worauf dann eine
um so tiefere Betrübnis erfolgte. Als der Alte aber aufstehen konnte,
war gar nichts mehr mit ihm anzustellen; er machte nichts als
Dummheiten, lachte und stöberte um das Haus herum, setzte sich in die
Sonne und streckte die Zunge heraus oder hielt lange Reden in die
Bohnen hinein.

Um die gleiche Zeit aber war es auch aus mit den wenigen Überbleibseln
seines ehemaligen Besitzes und die Unordnung so weit gediehen, daß
auch sein Haus und der letzte Acker, seit geraumer Zeit verpfändet,
nun gerichtlich verkauft wurden. Denn der Bauer, welcher die zwei
Äcker des Manz gekauft, benutzte die gänzliche Verkommenheit Martis
und seine Krankheit und führte den alten Streit wegen des streitigen
Steinfleckes kurz und entschlossen zu Ende, und der verlorene Prozeß
trieb Martis Faß vollends den Boden aus, indessen er in seinem
Blödsinne nichts mehr von diesen Dingen wußte. Die Versteigerung fand
statt; Marti wurde von der Gemeinde in einer Stiftung für dergleichen
arme Tröpfe auf öffentliche Kosten untergebracht. Diese Anstalt befand
sich in der Hauptstadt des Ländchens; der gesunde und eßbegierige
Blödsinnige wurde noch gut gefüttert, dann auf ein mit Ochsen
bespanntes Wägelchen geladen, das ein ärmlicher Bauersmann nach der
Stadt führte, um zugleich einen oder zwei Säcke Kartoffeln zu
verkaufen, und Vrenchen setzte sich zu dem Vater auf das Fuhrwerk, um
ihn auf diesem letzten Gange zu dem lebendigen Begräbnis zu begleiten.
Es war eine traurige und bittere Fahrt, aber Vrenchen wachte
sorgfältig über seinen Vater und ließ es ihm an nichts fehlen, und es
sah sich nicht um und ward nicht ungeduldig, wenn durch die Kapriolen
des Unglücklichen die Leute aufmerksam wurden und dem Wägelchen
nachliefen, wo sie durchfuhren. Endlich erreichten sie das weitläufige
Gebäude in der Stadt, wo die langen Gänge, die Höfe und ein
freundlicher Garten von einer Menge ähnlicher Tröpfe belebt waren, die
alle in weiße Kittel gekleidet waren und dauerhafte Lederkäppchen auf
den harten Köpfen trugen. Auch Marti wurde noch vor Vrenchens Augen in
diese Tracht gekleidet, und er freute sich wie ein Kind darüber und
tanzte singend umher. „Gott grüß euch, ihr geehrten Herren!" rief er
seine neuen Genossen an, „ein schönes Haus habt ihr hier! Geh heim,
Vrenggel, und sag' der Mutter, ich komme nicht mehr nach Haus, hier
gefällt's mir bei Gott! Juchhei! Es kreucht ein Igel über den Hag, ich
hab' ihn hören bellen! O Meitli, küß' kein' alten Knab', küß' nur die
jungen Gesellen! Alle die Wässerlein laufen in Rhein, die mit dem
Pflaumenaug', die muß es sein! Gehst du schon, Vreeli? Du siehst ja
aus wie der Tod im Häfelein und geht es mir doch so erfreulich! Die
Füchsin schreit im Felde: Halleo, halleo! Das Herz tut ihr weho!
hoho!" Ein Aufseher gebot ihm Ruhe und führte ihn zu einer leichten
Arbeit, und Vrenchen ging das Fuhrwerk aufzusuchen. Es setzte sich auf
den Wagen, zog ein Stückchen Brot hervor und aß dasselbe; dann schlief
es, bis der Bauer kam und mit ihm nach dem Dorfe zurückfuhr. Sie kamen
erst in der Nacht an. Vrenchen ging nach dem Hause, in dem es geboren
und nur zwei Tage bleiben durfte, und es war jetzt zum erstenmal in
seinem Leben ganz allein darin. Es machte ein Feuer, um das letzte
Restchen Kaffee zu kochen, das es noch besaß, und setzte sich auf den
Herd, denn es war ihm ganz elendiglich zumut. Es sehnte sich und
härmte sich ab, den Sali nur ein einziges Mal zu sehen, und dachte
inbrünstig an ihn; aber die Sorgen und der Kummer verbitterten seine
Sehnsucht und diese machten die Sorgen wieder viel schwerer. So saß es
und stützte den Kopf in die Hände, als jemand durch die offenstehende
Tür hereinkam. „Sali!" rief Vrenchen, als es aufsah, und fiel ihm um
den Hals; dann sahen sich aber beide erschrocken an und riefen: „Wie
siehst du elend aus!" Denn Sali sah nicht minder als Vrenchen bleich
und abgezehrt aus. Alles vergessend, zog es ihn zu sich auf den Herd
und sagte: „Bist du krank gewesen, oder ist es dir auch so schlimm
gegangen?" Sali antwortete: „Nein, ich bin gerade nicht krank, außer
vor Heimweh nach dir! Bei uns geht es jetzt hoch und herrlich zu; der
Vater hat einen Einzug und Unterschleif von auswärtigem Gesindel und
ich glaube, soviel ich merke, ist er ein Diebeshehler geworden.
Deshalb ist jetzt einstweilen Hülle und Fülle in unserer Taverne,
solang es geht und bis es ein Ende mit Schrecken nimmt. Die Mutter
hilft dazu, aus bitterlicher Gier, nur etwas im Hause zu sehen, und
glaubt den Unfug noch durch eine gewisse Aufsicht und Ordnung
annehmlich und nützlich zu machen! Mich fragt man nicht und ich konnte
mich nicht viel darum kümmern; denn ich kann nur an dich denken Tag
und Nacht. Da allerhand Landstreicher bei uns einkehren, so haben wir
alle Tage gehört, was bei euch vorgeht, worüber mein Vater sich freut
wie ein kleines Kind. Daß dein Vater heute nach dem Spittel gebracht
wurde, haben wir auch vernommen; ich habe gedacht, du werdest jetzt
allein sein, und bin gekommen, um dich zu sehen!" Vrenchen klagte ihm
jetzt auch alles, was sie drückte und was sie erlitt, aber mit so
leichter, zutraulicher Zunge, als ob sie ein großes Glück beschriebe,
weil sie glücklich war, Sali neben sich zu sehen. Sie brachte
inzwischen notdürftig ein Becken voll warmen Kaffee zusammen, welchen
mit ihr zu teilen sie den Geliebten zwang. „Also übermorgen mußt du
hier weg?" sagte Sali, „was soll denn ums Himmels willen werden?" „Das
weiß ich nicht," sagte Vrenchen, „ich werde dienen müssen und in die
Welt hinaus! Ich werde es aber nicht aushalten ohne dich, und doch
kann ich dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, bloß
weil du meinen Vater geschlagen und um dem Verstand gebracht hast!
Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer Ehe sein und wir
beide nie sorglos werden, nie!" Sali seufzte und sagte: „Ich wollte
auch schon hundertmal Soldat werden oder mich in einer fremden Gegend
als Knecht verdingen, aber ich kann noch nicht fortgehen, solange du
hier bist, und hernach wird es mich aufreiben. Ich glaube, das Elend
macht meine Liebe zu dir stärker und schmerzhafter, so daß es um Leben
und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine Ahnung gehabt!" Vrenchen
sah ihn liebevoll lächelnd an; sie lehnten sich an die Wand zurück und
sprachen nichts mehr, sondern gaben sich schweigend der glückseligen
Empfindung hin, die sich über allen Gram erhob, daß sie sich im
größten Ernste gut wären und geliebt wüßten. Darüber schliefen sie
friedlich ein auf dem unbequemen Herde, ohne Kissen und Pfühl, und
schliefen so sanft und ruhig wie zwei Kinder in einer Wiege. Schon
graute der Morgen, als Sali zuerst erwachte; er weckte Vrenchen, so
sacht er konnte; aber es duckte sich immer wieder an ihn,
schlaftrunken, und wollte sich nicht ermuntern. Da küßte er es heftig
auf den Mund und Vrenchen fuhr empor, machte die Augen weit auf, und
als es Sali erblickte, rief es: „Herrgott! Ich habe eben noch von dir
geträumt! Es träumte mir, wir tanzten miteinander auf unserer
Hochzeit, lange, lange Stunden! und waren so glücklich, sauber
geschmückt und es fehlte uns an nichts. Da wollten wir uns endlich
küssen und dürsteten danach, aber immer zog uns etwas auseinander und
nun bist du es selbst gewesen, der uns gestört und gehindert hat! Aber
wie gut, daß du gleich da bist!" Gierig fiel es ihm um den Hals und
küßte ihn, als ob es kein Ende nehmen sollte. „Und was hast du denn
geträumt?" fragte sie und streichelte ihm Wangen und Kinn. „Mir
träumte, ich ginge endlos auf einer langen Straße durch einen Wald und
du in der Ferne immer vor mir her; zuweilen sahest du nach mir um,
winktest mir und lachtest und dann war ich wie im Himmel. Das ist
alles!" Sie traten unter die offengebliebene Küchentüre, die
unmittelbar ins Freie führte, und mußten lachen, als sie sich ins
Gesicht sahen. Denn die rechte Wange Vrenchens und die linke Salis,
welche im Schlafe aneinandergelehnt hatten, waren von dem Drucke ganz
rotgefärbt, während die Blässe der andern durch die kühle Nachtluft
noch erhöht war. Sie rieben sich zärtlich die kalte bleiche Seite
ihrer Gesichter, um sie auch rot zu machen; die frische Morgenluft,
der tauige stille Frieden, der über der Gegend lag, das junge
Morgenrot machten sie fröhlich und selbstvergessen und besonders in
Vrenchen schien ein freundlicher Geist der Sorglosigkeit gefahren zu
sein. „Morgen abend muß ich also aus diesem Hause fort," sagte es,
„und ein anderes Obdach suchen. Vorher aber möchte ich einmal, nur
einmal recht lustig sein, und zwar mit dir; ich möchte recht herzlich
und fleißig mit dir tanzen irgendwo, denn das Tanzen aus dem Traume
steckt mir immerfort im Sinn!" „Jedenfalls will ich dabei sein und
sehen, wo du unterkommst," sagte Sali, „und tanzen wollte ich auch
gerne mit dir, du herziges Kind! Aber wo?" „Es ist morgen Kirchweih an
zwei Orten nicht sehr weit von hier," erwiderte Vrenchen, „da kennt
und beachtet man uns weniger; draußen am Wasser will ich auf dich
warten und dann können wir gehen, wohin es uns gefällt, um uns lustig
zu machen, einmal, Einmal nur! Aber je, wir haben ja gar kein Geld!"
setzte es traurig hinzu, „da kann nichts daraus werden!" „Laß nur,"
sagte Sali, „ich will schon etwas mitbringen!" „Doch nicht von deinem
Vater, von--von dem Gestohlenen?" „Nein, sei nur ruhig! Ich habe noch
meine silberne Uhr bewahrt bis dahin, die will ich verkaufen." „Ich
will dir nicht abraten," sagte Vrenchen errötend, „denn ich glaube,
ich müßte sterben, wenn ich nicht morgen mit dir tanzen könnte." „Es
wäre das beste, wir beide könnten sterben!" sagte Sali; sie umarmten
sich wehmütig und schmerzlich zum Abschied, und als sie
voneinanderließen, lachten sie sich doch freundlich an in der sicheren
Hoffnung auf den nächsten Tag. „Aber wann willst du denn kommen?" rief
Vrenchen noch. „Spätestens um elf Uhr mittags," erwiderte er, „wir
wollen recht ordentlich zusammen Mittag essen!" „Gut, gut! Komm lieber
um halb elf schon!" Doch als Sali schon im Gehen war, rief sie ihn
noch einmal zurück und zeigte ein plötzlich verändertes
verzweiflungsvolles Gesicht. „Es wird doch nichts daraus," sagte sie
bitterlich weinend, „ich habe keine Sonntagsschuhe mehr. Schon gestern
habe ich diese groben hier anziehen müssen, um nach der Stadt zu
kommen! Ich weiß keine Schuhe aufzubringen!" Sali stand ratlos und
verblüfft. „Keine Schuhe!" sagte er, „da mußt du halt in diesen
kommen!" „Nein, nein, in denen kann ich nicht tanzen!" „Nun, so müssen
wir welche kaufen!" „Wo, mit was?" „Ei, in Seldwyl da gibt es
Schuhläden genug! Geld werde ich in minder als zwei Stunden haben."
„Aber, ich kann doch nicht mit dir in Seldwyl herumgehen, und dann
wird das Geld nicht langen, auch noch Schuhe zu kaufen!" „Es muß! Und
ich will die Schuhe kaufen und morgen mitbringen!" „O du Närrchen, sie
werden ja nicht passen, die du kaufst!" „So gib mir einen alten Schuh
mit, oder halt, noch besser, ich will dir das Maß nehmen, das wird
doch kein Hexenwerk sein!" „Das Maß nehmen? Wahrhaftig, daran hab' ich
nicht gedacht! Komm, komm, ich will dir ein Schnürchen suchen!" Sie
setzte sich wieder auf den Herd, zog den Rock etwas zurück und
streifte den Schuh vom Fuße, der noch von der gestrigen Reise her mit
einem weißen Strumpfe bekleidet war. Sali kniete nieder und nahm, so
gut er es verstand, das Maß, indem er den zierlichen Fuß der Länge und
Breite nach umspannte mit dem Schnürchen und sorgfältig Knoten in
dasselbe knüpfte. „Du Schuhmacher!" sagte Vrenchen und lachte errötend
und freundschaftlich zu ihm nieder. Sali wurde aber auch rot und hielt
den Fuß fest in seinen Händen, länger als nötig war, so daß Vrenchen
ihn noch tiefer errötend zurückzog, den verwirrten Sali aber noch
einmal stürmisch umhalste und küßte, dann aber fortschickte.

Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der
ihm sechs oder sieben Gulden dafür gab; für die silberne Kette bekam
er auch einige Gulden, und er dünkte sich nun reich genug, denn er
hatte, seit er groß war, nie so viel Geld besessen auf einmal. Wenn
nur erst der Tag vorüber und der Sonntag angebrochen wäre, um das
Glück damit zu erkaufen, das er sich von dem Tage versprach, dachte
er; denn wenn das Übermorgen auch um so dunkler und unbekannter
hereinragte, so gewann die ersehnte Lustbarkeit von morgen nur einen
seltsamern erhöhten Glanz und Schein. Indessen brachte er die Zeit
noch leidlich hin, indem er ein Paar Schuhe für Vrenchen suchte, und
dies war ihm das vergnügteste Geschäft, das er je betrieben. Er ging
von einem Schuhmacher zum andern, ließ sich alle Weiberschuhe zeigen,
die vorhanden waren, und endlich handelte er ein leichtes und feines
Paar ein, so hübsch, wie sie Vrenchen noch nie getragen. Er verbarg
die Schuhe unter seiner Weste und tat sie die übrige Zeit des Tages
nicht mehr von sich; er nahm sie sogar mit ins Bett und legte sie
unter das Kopfkissen. Da er das Mädchen heute früh noch gesehen und
morgen wieder sehen sollte, so schlief er fest und ruhig, war aber in
aller Frühe munter und begann seinen dürftigen Sonntagsstaat
zurechtzumachen und auszuputzen, so gut es gelingen wollte. Es fiel
seiner Mutter auf und sie fragte verwundert, was er vorhabe, da er
sich schon lange nicht mehr so sorglich angezogen. Er wolle einmal
über Land gehen und sich ein wenig umtun, erwiderte er, er werde sonst
krank in diesem Hause. „Das ist mir die Zeit her ein merkwürdiges
Leben," murrte der Vater, „und ein Herumschleichen!" „Laß ihn nur
gehen," sagte aber die Mutter, „es tut ihm vielleicht gut, es ist ja
ein Elend, wie er aussieht!" „Hast du Geld zum Spazierengehen? Woher
hast du es?" fragte der Alte. „Ich brauche keines!" sagte Sali. „Da
hast du einen Gulden!" versetzte der Alte und warf ihm denselben hin.
„Du kannst im Dorf ins Wirtshaus gehen und ihn dort verzehren, damit
sie nicht glauben, wir seien hier so übel dran." „Ich will nicht ins
Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet ihn nur!" „So hast du ihn
gehabt, es wäre schad, wenn du ihn haben müßtest, du Starrkopf!" rief
Manz und schob seinen Gulden wieder in die Tasche. Seine Frau aber,
welche nicht wußte, warum sie heute ihres Sohnes wegen so wehmütig und
gerührt war, brachte ihm ein großes schwarzes Mailänder Halstuch mit
rotem Rande, das sie nur selten getragen und er schon früher gern
gehabt hätte. Er schlang es um den Hals und ließ die langen Zipfel
fliegen; auch stellte er zum erstenmal den Hemdkragen, den er sonst
immer umgeschlagen, ehrbar und männlich in die Höhe, bis über die
Ohren hinauf, in einer Anwandlung ländlichen Stolzes, und machte sich
dann, seine Schuhe in der Brusttasche des Rockes, schon nach sieben
Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ, drängte ihn ein seltsames
Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben, und auf der Straße sah er
sich noch einmal nach dem Hause um. „Ich glaube am Ende," sagte Manz,
„der Bursche streicht irgendeinem Weibsbild nach; das hätten wir
gerade noch nötig!" Die Frau sagte: „O wollte Gott! daß er vielleicht
ein Glück machte! Das täte dem armen Buben gut!" „Richtig!" sagte der
Mann, „das fehlt nicht! Das wird ein himmlisches Glück geben, wenn er
nur erst an eine solche Maultasche zu geraten das Unglück hat! Das
täte dem armen Bübchen gut! Natürlich!"

Sali richtete seinen Schritt erst nach dem Flusse zu, wo er Vrenchen
erwarten wollte; aber unterwegs ward er anderen Sinnes und ging
geradezu ins Dorf, um Vrenchen im Hause selbst abzuholen, weil es ihm
zu lang währte bis halb elf! „Was kümmern uns die Leute!" dachte er.
„Niemand hilft uns und ich bin ehrlich und fürchte niemand!" So trat
er unerwartet in Vrenchens Stube und ebenso unerwartet fand er es
schon vollkommen angekleidet und geschmückt dasitzen und der Zeit
harren, wo es gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm noch. Aber Sali
stand mit offenem Munde still in der Mitte der Stube, als er das
Mädchen erblickte, so schön sah es aus. Es hatte nur ein einfaches
Kleid an von blaugefärbter Leinwand, aber dasselbe war frisch und
sauber und saß ihm sehr gut um den schlanken Leib. Darüber trug es ein
schneeweißes Musselinehalstuch und dies war der ganze Anzug. Das
braune gekräuselte Haar war sehr wohl geordnet und die sonst so wilden
Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf; da Vrenchen seit
vielen Wochen fast nicht aus dem Hause gekommen, so war seine Farbe
zarter und durchsichtiger geworden, so wie auch vom Kummer; aber in
diese Durchsichtigkeit goß jetzt die Liebe und die Freude ein Rot um
das andere, und an der Brust trug es einen schönen Blumenstrauß von
Rosmarin, Rosen und prächtigen Astern. Es saß am offenen Fenster und
atmete still und hold die frischdurchsonnte Morgenluft; wie es aber
Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide hübsche Arme entgegen,
welche vom Ellbogen an bloß waren, und rief: „Wie recht hast du, daß
du schon jetzt und hierher kommst! Aber hast du mir Schuhe gebracht?
Gewiß? Nun steh' ich nicht auf, bis ich sie anhabe!" Er zog die
ersehnten aus der Tasche und gab sie dem begierigen schönen Mädchen;
es schleuderte die alten von sich, schlüpfte in die neuen und sie
paßten sehr gut. Erst jetzt erhob es sich vom Stuhl, wiegte sich in
den neuen Schuhen und ging eifrig einigemal auf und nieder. Es zog das
lange, blaue Kleid etwas zurück und beschaute wohlgefällig die roten
wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten, während Sali
unaufhörlich die feine reizende Gestalt betrachtete, welche da in
lieblicher Aufregung vor ihm sich regte und freute. „Du beschaust
meinen Strauß?" sagte Vrenchen, „hab' ich nicht einen schönen
zusammengebracht? Du mußt wissen, dies sind die letzten Blumen, die
ich noch aufgefunden in dieser Wüstenei. Hier war noch ein Röschen,
dort eine Aster, und wie sie nun gebunden sind, würde man es ihnen
nicht ansehen, daß sie aus einem Untergange zusammengesucht sind! Nun
ist es aber Zeit, daß ich fortkomme, nicht ein Blümchen mehr im Garten
und das Haus auch leer!" Sali sah sich um und bemerkte erst jetzt, daß
alle Fahrhabe, die noch dagewesen, weggebracht war. „Du armes Vreeli!"
sagte er, „haben sie dir schon alles genommen?" „Gestern," erwiderte
es, „haben sie's weggeholt, was sich von der Stelle bewegen ließ, und
mir kaum mehr als mein Bett gelassen. Ich hab's aber auch gleich
verkauft und hab' jetzt auch Geld, sieh!" Es holte einige neue
glänzende Talerstücke aus der Tasche seines Kleides und zeigte sie
ihm. „Damit," fuhr es fort, „sagte der Waisenvogt, der auch hier war,
solle ich mir einen Dienst suchen in einer Stadt und ich solle mich
heute gleich auf den Weg machen!" „Da ist aber auch gar nichts mehr
vorhanden," sagte Sali, nachdem er in die Küche geguckt hatte, „ich
sehe kein Hölzchen, kein Pfännchen, kein Messer! Hast du denn auch
nicht zu Morgen gegessen?" „Nichts!" sagte Vrenchen, „ich hätte mir
etwas holen können, aber ich dachte, ich wolle lieber hungrig bleiben,
damit ich recht viel essen könne mit dir zusammen, denn ich freue mich
so sehr darauf, du glaubst nicht, wie ich mich freue!" „Wenn ich dich
nur anrühren dürfte," sagte Sali, „so wollte ich dir zeigen, wie es
mir ist, du schönes, schönes Ding!" „Du hast recht, du würdest meinen
ganzen Staat verderben, und wenn wir die Blumen ein bißchen schonen,
so kommt es zugleich meinem armen Kopf zugut, den du mir übel
zuzurichten pflegst!" „So komm, jetzt wollen wir ausrücken!" „Noch
müssen wir warten, bis das Bett abgeholt wird; denn nachher schließe
ich das leere Haus zu und gehe nicht mehr hierher zurück! Mein
Bündelchen gebe ich der Frau aufzuheben, die das Bett gekauft hat."
Sie setzten sich daher einander gegenüber und warteten; die Bäuerin
kam bald, eine vierschrötige Frau mit lautem Mundwerk, und hatte einen
Burschen bei sich, welcher die Bettstelle tragen sollte. Als diese
Frau Vrenchens Liebhaber erblickte und das geputzte Mädchen selbst,
sperrte sie Mund und Augen auf, stemmte die Arme unter und schrie:
„Ei, sieh da, Vreeli! Du treibst es ja schon gut! Hast einen Besucher
und bist gerüstet wie eine Prinzeß?" „Gelt aber!" sagte Vrenchen
freundlich lachend, „wißt Ihr auch, wer das ist?" „Ei, ich denke, das
ist wohl der Sali Manz? Berg und Tal kommen nicht zusammen, sagt man,
aber die Leute! Aber nimm dich doch in acht, Kind, und denk, wie es
euren Eltern ergangen ist!" „Ei, das hat sich jetzt gewendet und alles
ist gut geworden," erwiderte Vrenchen lächelnd und freundlich
mitteilsam, ja beinahe herablassend, „seht, Sali ist mein Hochzeiter!"
„Dein Hochzeiter! Was du sagst!" „Ja und er ist ein reicher Herr, er
hat hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen! Denket einmal,
Frau!" Diese tat einen Sprung, schlug ganz erschrocken die Hände
zusammen und schrie: „Hund--hunderttausend Gulden!" „Hunderttausend
Gulden!" versicherte Vrenchen ernsthaft. „Herr du meines Lebens! Es
ist aber nicht wahr, du lügst mich an, Kind!" „Nun, glaubt was Ihr
wollt!" „Aber, wenn es wahr ist und du heiratest ihn, was wollt ihr
denn machen mit dem Gelde? Willst du wirklich eine vornehme Frau
werden?" „Versteht sich, in drei Wochen halten wir die Hochzeit!" „Geh
mir weg, du bist eine häßliche Lügnerin!" „Das schönste Haus hat er
schon gekauft in Seldwyl mit einem großen Garten und Weinberg; Ihr
müßt mich auch besuchen, wenn wir eingerichtet sind, ich zähle
darauf!" „Allweg, du Teufelshexlein, was du bist!" „Ihr werdet sehen,
wie schön es da ist! Einen herrlichen Kaffee werde ich machen und Euch
mit seinem Eierbrot aufwarten, mit Butter und Honig!" „O du
Schelmenkind! Zähl' drauf, daß ich komme!" rief die Frau mit lüsternem
Gesicht und der Mund wässerte ihr. „Kommt Ihr aber um die Mittagszeit
und seid ermüdet vom Markt, so soll Euch eine kräftige Fleischbrühe
und ein Glas Wein immer bereitstehen!" „Das wird mir baß tun!" „Und an
etwas Zuckerwerk oder weißen Wecken für die lieben Kinder zu Hause
soll es Euch auch nicht fehlen!" „Es wird mir ganz schmachtend!" „Ein
artiges Halstüchelchen oder ein Restchen Seidenzeug oder ein hübsches
altes Band für Eure Röcke, oder ein Stück Zeug zu einer neuen Schürze
wird gewiß auch zu finden sein, wenn wir meine Kisten und Kasten
durchmustern in einer vertrauten Stunde!" Die Frau drehte sich auf den
Hacken herum und schüttelte jauchzend ihre Röcke. „Und wenn Euer Mann
ein vorteilhaftes Geschäft machen könnte mit einem Land- oder
Viehhandel, und er mangelt des Geldes, so wißt Ihr, wo Ihr anklopfen
sollt. Mein lieber Sali wird froh sein, jederzeit ein Stück Bares
sicher und erfreulich anzulegen! Ich selbst werde auch etwa einen
Sparpfennig haben, einer vertrauten Freundin beizustehen!" Jetzt war
der Frau nicht mehr zu helfen, sie sagte gerührt: „Ich habe immer
gesagt, du seiest ein braves und gutes und schönes Kind! Der Herr
wolle es dir wohlergehen lassen immer und ewiglich und es dir
gesegnen, was du an mir tust!" „Dagegen verlange ich aber auch, daß
Ihr es gut mit mir meint!" „Allweg kannst du das verlangen!" „Und daß
Ihr jederzeit Eure Ware, sei es Obst, seien es Kartoffeln, sei es
Gemüse, erst zu mir bringet und mir anbietet, ehe Ihr auf den Markt
gehet, damit ich sicher sei, eine rechte Bäuerin an der Hand zu haben,
auf die ich mich verlassen kann! Was irgendeiner gibt für die Ware,
werde ich gewiß auch geben mit tausend Freuden, Ihr kennt mich ja!
Ach, es ist nichts Schöneres, als wenn eine wohlhabende Stadtfrau, die
so ratlos in ihren Mauern sitzt und doch so vieler Dinge benötigt ist,
und eine rechtschaffene ehrliche Landfrau, erfahren in allem Wichtigen
und Nützlichen, eine gute und dauerhafte Freundschaft zusammen haben!
Es kommt einem zugut in hundert Fällen, in Freud und Leid, bei
Gevatterschaften und Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden
und konfirmiert, wenn sie in die Lehre kommen und wenn sie in die
Fremde sollen! Bei Mißwachs und Überschwemmungen, bei Feuersbrünsten
und Hagelschlag, wofür uns Gott behüte!" „Wofür uns Gott behüte!"
sagte die gute Frau schluchzend und trocknete mit ihrer Schürze die
Augen; „welch ein verständiges und tiefsinniges Bräutlein bist du, ja,
dir wird es gut gehen, da müßte keine Gerechtigkeit in der Welt sein!
Schön, sauber, klug und weise bist du, arbeitsam und geschickt zu
allen Dingen! Keine ist feiner und besser als du, in und außer dem
Dorfe, und wer dich hat, der muß meinen, er sei im Himmelreich, oder
er ist ein Schelm und hat es mit mir zu tun. Hör', Sali! Daß du nur
recht artlich bist mit meinem Vreeli, oder ich will dir den Meister
zeigen, du Glückskind, das du bist, ein solches Röslein zu brechen!"
„So nehmt jetzt auch hier noch mein Bündel mit, wie Ihr mir
versprochen habt, bis ich es abholen lassen werde! Vielleicht komme
ich aber selbst in der Kutsche und hole es ab, wenn Ihr nichts dagegen
habt! Ein Töpfchen Milch werdet Ihr mir nicht abschlagen alsdann, und
etwa eine schöne Mandeltorte dazu werde ich schon selbst mitbringen!"
„Tausendskind! Gib her den Bündel!" Vrenchen lud ihr auf das
zusammengebundene Bett, das sie schon auf dem Kopfe trug, einen langen
Sack, in welchen es sein Plunder und Habseliges gestopft, so daß die
arme Frau mit einem schwankenden Turme auf dem Haupte dastand. „Es
wird mir doch fast zu schwer auf einmal," sagte sie, „könnte ich nicht
zweimal dran machen?" „Nein, nein! Wir müssen jetzt augenblicklich
gehen, denn wir haben einen weiten Weg, um vornehme Verwandte zu
besuchen, die sich jetzt gezeigt haben, seit wir reich sind! Ihr wißt
ja, wie es geht!" „Weiß wohl! So behüt' dich Gott, und denk' an mich
in deiner Herrlichkeit!"

Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelturme, mit Mühe das Gleichgewicht
behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das sich in
Vrenchens einst buntbemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf gegen
den mit verblichenen Sternen bedeckten Himmel derselben stemmte und,
ein zweiter Simson, die zwei vorderen zierlich geschnitzten Säulen
faßte, welche diesen Himmel trugen. Als Vrenchen, an Sali gelehnt, dem
Zuge nachschaute und den wandelnden Tempel zwischen den Gärten sah,
sagte es: „Das gäbe noch ein artiges Gartenhäuschen oder eine Laube,
wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tischchen und ein Bänklein
dreinstellte und Winden drum herumsäte! Wolltest du mit darin sitzen,
Sali?" „Ja, Vreeli! Besonders wenn die Winden aufgewachsen wären!"
„Was stehen wir noch?" sagte Vrenchen, „nichts hält uns mehr zurück!"
„So komm und schließ das Haus zu!" „Wem willst du denn den Schlüssel
übergeben?" Vrenchen sah sich um. „Hier an die Helbart wollen wir ihn
hängen; sie ist über hundert Jahr in diesem Hause gewesen, habe ich
den Vater oft sagen hören, nun steht sie da als der letzte Wächter!"
Sie hingen den rostigen Hausschlüssel an einen rostigen Schnörkel der
alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und gingen davon. Vrenchen
wurde aber bleicher und verhüllte ein Weilchen die Augen, daß Sali es
führen mußte, bis sie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es sah aber
nicht zurück. „Wo gehen wir nun zuerst hin?" fragte es. „Wir wollen
ordentlich über Land gehen," erwiderte Sali, „wo es uns freut den
ganzen Tag, uns nicht übereilen, und gegen Abend werden wir dann schon
einen Tanzplatz finden!" „Gut!" sagte Vrenchen, „den ganzen Tag werden
wir beisammensein und gehen, wo wir Lust haben. Jetzt ist mir aber
elend, wir wollen gleich im andern Dorf einen Kaffee trinken!"
„Versteht sich!" sagte Sali, „mach' nur, daß wir aus diesem Dorf
wegkommen!" Bald waren sie auch im freien Felde und gingen still
nebeneinander durch die Fluren; es war ein schöner Sonntagmorgen im
September, keine Wolke stand am Himmel, die Höhen und die Wälder waren
mit einem zarten Duftgewebe bekleidet, welches die Gegend
geheimnisvoller und feierlicher machte, und von allen Seiten tönten
die Kirchenglocken herüber, hier das harmonische tiefe Geläute einer
reichen Ortschaft, dort die geschwätzigen zwei Bimmelglöcklein eines
kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar vergaß, was am Ende dieses
Tages werden sollte, und gab sich einzig der hochaufatmenden wortlosen
Freude hin, sauber gekleidet und frei, wie zwei Glückliche, die sich
von Rechts wegen angehören, in den Sonntag hineinzuwandeln. Jeder in
der Sonntagsstille verhallende Ton oder ferne Ruf klang ihnen
erschütternd durch die Seele; denn die Liebe ist eine Glocke, welche
das Entlegenste und Gleichgültigste widertönen läßt und in eine
besondere Musik verwandelt. Obgleich sie hungrig waren, dünkte sie die
halbe Stunde Weges bis zum nächsten Dorfe nur ein Katzensprung lang zu
sein und sie betraten zögernd das Wirtshaus am Eingange des Ortes.
Sali bestellte ein gutes Frühstück, und während es bereitet wurde,
sahen sie mäuschenstill der sichern und freundlichen Wirtschaft in der
großen reinlichen Gaststube zu. Der Wirt war zugleich ein Bäcker, das
eben Gebackene durchduftete angenehm das ganze Haus, und Brot aller
Art wurde in gehäuften Körben herbeigetragen, da nach der Kirche die
Leute hier ihr Weißbrot holten oder ihren Frühschoppen tranken. Die
Wirtin, eine artige und saubere Frau, putzte gelassen und freundlich
ihre Kinder heraus, und sowie eines entlassen war, kam es zutraulich
zu Vrenchen gelaufen, zeigte ihm seine Herrlichkeiten und erzählte von
allem, dessen es sich erfreute und rühmte. Wie nun der wohlduftende
starke Kaffee kam, setzten sich die zwei Leutchen schüchtern an den
Tisch, als ob sie da zu Gast gebeten wären. Sie ermunterten sich
jedoch bald und flüsterten bescheiden, aber glückselig miteinander;
ach, wie schmeckte dem aufblühenden Vrenchen der gute Kaffee, der
fette Rahm, die frischen noch warmen Brötchen, die schöne Butter und
der Honig, der Eierkuchen und was alles noch für Leckerbissen da
waren! Sie schmeckten ihm, weil es den Sali dazu ansah, und es aß so
vergnügt, als ob es ein Jahr lang gefastet hätte. Dazu freute es sich
über das feine Geschirr, über die silbernen Kaffeelöffelchen; denn die
Wirtin schien sie für rechtliche junge Leutchen zu halten, die man
anständig bedienen müsse, und setzte sich auch ab und zu plaudernd zu
ihnen, und die beiden gaben ihr verständigen Bescheid, welches ihr
gefiel. Es war dem guten Vrenchen so wählig zumut, daß es nicht wußte,
mochte es lieber wieder ins Freie, um allein mit seinem Schatz
herumzuschweifen durch Auen und Wälder, oder mochte es lieber in der
gastlichen Stube bleiben, um wenigstens auf Stunden sich an einem
stattlichen Orte zu Hause zu träumen. Doch Sali erleichterte die Wahl,
indem er ehrbar und geschäftig zum Aufbruch mahnte, als ob sie einen
bestimmten und wichtigen Weg zu machen hätten. Die Wirtin und der Wirt
begleiteten sie bis vor das Haus und entließen sie auf das
wohlwollendste wegen ihres guten Benehmens, trotz der durchscheinenden
Dürftigkeit, und das arme junge Blut verabschiedete sich mit den
besten Manieren von der Welt und wandelte sittig und ehrbar von
hinnen. Aber auch als sie schon wieder im Freien waren und einen
stundenlangen Eichwald betraten, gingen sie noch in dieser Weise
nebeneinander her, in angenehme Träume vertieft, als ob sie nicht aus
zank- und elenderfüllten vernichteten Häusern herkämen, sondern guter
Leute Kinder wären, welche in lieblicher Hoffnung wandelten. Vrenchen
senkte das Köpfchen tiefsinnig gegen seine blumengeschmückte Brust und
ging, die Hände sorglich an das Gewand gelegt, einher auf dem glatten
feuchten Waldboden; Sali dagegen schritt schlank aufgerichtet, rasch
und nachdenklich, die Augen auf die festen Eichenstämme geheftet wie
ein Bauer, der überlegt, welche Bäume er am vorteilhaftesten fällen
soll. Endlich erwachten sie aus diesen vergeblichen Träumen, sahen
sich an und entdeckten, daß sie immer noch in der Haltung gingen, in
welcher sie das Gasthaus verlassen, erröteten und ließen traurig die
Köpfe hängen. Aber Jugend hat keine Tugend, der Wald war grün, der
Himmel blau und sie allein in der weiten Welt, und sie überließen sich
alsbald wieder diesem Gefühle. Doch blieben sie nicht lange mehr
allein, da die schöne Waldstraße sich belebte mit lustwandelnden
Gruppen von jungen Leuten, sowie mit einzelnen Paaren, welche
schäkernd und singend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn die
Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder,
wie die Städter, nur mit dem Unterschied, daß dieselben keine
Unterhaltung kosten und noch schöner sind; sie spazieren nicht nur mit
einem besonderen Sinn des Sonntags durch ihre blühenden und reifenden
Felder, sondern sie machen sehr gewählte Gänge durch Gehölze und an
grünen Halden entlang, setzen sich hier auf eine anmutige,
fernsichtige Höhe, dort an einen Waldrand, lassen ihre Lieder ertönen
und die schöne Wildnis ganz behaglich auf sich einwirken; und da sie
dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz tun, sondern zu ihrem Vergnügen,
so ist wohl anzunehmen, daß sie Sinn für die Natur haben, auch
abgesehen von ihrer Nützlichkeit. Immer brechen sie was Grünes ab,
junge Bursche wie alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer Jugend
aufsuchen, und selbst steife Landmänner in den besten Geschäftsjahren,
wenn sie über Land gehen, schneiden sich gern eine schlanke Gerte,
sobald sie durch einen Wald gehen, und schälen die Blätter ab, von
denen sie nur oben ein grünes Büschel stehenlassen. Solche Rute tragen
sie wie ein Zepter vor sich hin; wenn sie in eine Amtsstube oder
Kanzlei treten, so stellen sie die Gerte ehrerbietig in einen Winkel,
vergessen aber auch nach den ernstesten Verhandlungen nie, dieselbe
säuberlich wieder mitzunehmen und unversehrt nach Hause zu tragen, wo
es erst dem kleinsten Söhnchen gestattet ist, sie zugrunde zu
richten.--Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger sahen,
lachten sie ins Fäustchen und freuten sich, auch gepaart zu sein,
schlüpften aber seitwärts auf engere Waldpfade, wo sie sich in tiefen
Einsamkeiten verloren. Sie hielten sich auf, wo es sie freute, eilten
vorwärts und ruhten wieder, und wie keine Wolke am reinen Himmel
stand, trübte auch keine Sorge in diesen Stunden ihr Gemüt; sie
vergaßen, woher sie kamen und wohin sie gingen, und benahmen sich so
fein und ordentlich dabei, daß trotz aller frohen Erregung und
Bewegung Vrenchens niedlicher einfacher Aufputz so frisch und
unversehrt blieb, wie er am Morgen gewesen war. Sali betrug sich auf
diesem Wege nicht wie ein beinahe zwanzigjähriger Landbursche oder der
Sohn eines verkommenen Schenkwirtes, sondern wie wenn er einige Jahre
jünger und sehr wohlerzogen wäre, und es war beinahe komisch, wie er
nur immer sein feines lustiges Vrenchen ansah, voll Zärtlichkeit,
Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen mußten an diesem einen
Tage, der ihnen vergönnt war, alle Manieren und Stimmungen der Liebe
durchleben und sowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit nachholen
als das leidenschaftliche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres
Lebens.

So liefen sie sich wieder hungrig und waren erfreut, von der Höhe
eines schattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen, wo
sie Mittag halten wollten. Sie stiegen rasch hinunter, betraten dann
ebenso sittsam diesen Ort, wie sie den vorigen verlassen. Es war
niemand um den Weg, der sie erkannt hätte; denn besonders Vrenchen war
die letzten Jahre hindurch gar nicht unter die Leute und noch weniger
in andere Dörfer gekommen. Deshalb stellten sie ein wohlgefälliges
ehrsames Pärchen vor, das irgendeinen angelegentlichen Gang tut. Sie
gingen ins erste Wirtshaus des Dorfes, wo Sali ein erkleckliches Mahl
bestellte; ein eigener Tisch wurde ihnen sonntäglich gedeckt, und sie
saßen wieder still und bescheiden daran und beguckten die
schöngetäfelten Wände von gebohntem Nußbaumholz, das ländliche aber
glänzende und wohlbestellte Büfett von gleichem Holze, und die klaren
weißen Fenstervorhänge. Die Wirtin trat zutulich herzu und setzte ein
Geschirr voll frischer Blumen auf den Tisch. „Bis die Suppe kommt",
sagte sie, „könnt ihr, wenn es euch gefällig ist, einstweilen die
Augen sättigen an dem Strauße. Allem Anschein nach, wenn es erlaubt
ist zu fragen, seit ihr ein junges Brautpaar, das gewiß nach der Stadt
geht, um sich morgen kopulieren zu lassen?" Vrenchen wurde rot und
wagte nicht aufzusehen, Sali sagte auch nichts, und die Wirtin fuhr
fort: „Nun, ihr seid freilich beide noch wohl jung, aber jung
geheiratet lebt lang, sagt man zuweilen, und ihr seht wenigstens
hübsch und brav aus und braucht euch nicht zu verbergen. Ordentliche
Leute können etwas zuwege bringen, wenn sie so jung zusammenkommen und
fleißig und treu sind. Aber das muß man freilich sein, denn die Zeit
ist kurz und doch lang, und es kommen viele Tage, viele Tage! Je nun,
schön genug sind sie und amüsant dazu, wenn man gut haushält damit!
Nichts für ungut, aber es freut mich, euch anzusehen, so ein schmuckes
Pärchen seid ihr!" Die Kellnerin brachte die Suppe, und da sie einen
Teil dieser Worte noch gehört und lieber selbst geheiratet hätte, so
sah sie Vrenchen mit scheelen Augen an, welches nach ihrer Meinung so
gedeihliche Wege ging. In der Nebenstube ließ die unliebliche Person
ihren Unmut frei und sagte zur Wirtin, welche dort zu schaffen hatte,
so laut, daß man es hören konnte: „Das ist wieder ein rechtes
Hudelvölkchen, das wie es geht und steht nach der Stadt läuft und sich
kopulieren läßt, ohne einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Aussteuer und
ohne Aussicht, als auf Armut und Bettelei! Wo soll das noch hinaus,
wenn solche Dinger heiraten, die die Jüppe noch nicht allein anziehen
und keine Suppe kochen können? Ach, der hübsche junge Mensch kann mich
nur dauern, der ist schön petschiert mit seiner jungen Gungeline!"
„Bscht! Willst du wohl schweigen, du gehässiges Ding!" sagte die
Wirtin, „denen lasse ich nichts geschehen! Das sind gewiß zwei recht
ordentliche Leutlein aus den Bergen, wo die Fabriken sind; dürftig
sind sie gekleidet, aber sauber, und wenn sie sich nur gernhaben und
arbeitsam sind, so werden sie weiter kommen, als du mit deinem bösen
Maul! Du kannst freilich noch lang warten, bis dich einer abholt, wenn
du nicht freundlicher bist, du Essighafen!"

So genoß Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset:
die wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer sehr vernünftigen
Frau, den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger
den Geliebten lobte und bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an der
Seite eben dieses Geliebten. Es glühte im Gesicht, wie eine rote
Nelke, das Herz klopfte ihm, aber es aß und trank nichtsdestominder
mit gutem Appetit und war mit der aufwartenden Kellnerin nur um so
artiger, konnte aber nicht unterlassen, dabei den Sali zärtlich
anzusehen und mit ihm zu lispeln, so daß es diesem auch ganz kraus im
Gemüt wurde. Sie saßen indessen lang und gemächlich am Tische, wie
wenn sie zögerten und sich scheuten, aus der halben Täuschung
herauszugehen. Die Wirtin brachte zum Nachtisch süßes Backwerk, und
Sali bestellte feineren und stärkeren Wein dazu, welcher Vrenchen
feurig durch die Adern rollte, als es ein wenig davon trank; aber es
nahm sich in acht, nippte bloß zuweilen und saß so züchtig und
verschämt da, wie eine wirkliche Braut. Halb spielte es aus Schalkheit
diese Rolle und aus Lust, zu versuchen, wie es tue, halb war es ihm in
der Tat so zumut und vor Bangigkeit und heißer Liebe wollte ihm das
Herz brechen, so daß es ihm zu eng ward innerhalb der vier Wände und
es zu gehen begehrte. Es war, als ob sie sich scheuten, auf dem Wege
wieder so abseits und allein zu sein; denn sie gingen unverabredet auf
der Hauptstraße weiter, mitten durch die Leute und sahen weder rechts
noch links. Als sie aber aus dem Dorfe waren und auf das
nächstgelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing sich Vrenchen an Salis
Arm und flüsterte mit zitternden Worten: „Sali! warum sollen wir uns
nicht haben und glücklich sein!" „Ich weiß auch nicht warum!"
erwiderte er und heftete seine Augen an den milden Herbstsonnenschein,
der auf den Auen webte, und er mußte sich bezwingen und das Gesicht
ganz sonderbar verziehen. Sie standen still, um sich zu küssen; aber
es zeigten sich Leute und sie unterließen es und zogen weiter. Das
große Kirchdorf, in dem Kirchweih war, belebte sich schon von der Lust
des Volkes; und aus dem stattlichen Gasthofe tönte eine pomphafte
Tanzmusik, da die jungen Dörfler bereits um Mittag den Tanz angehoben,
und auf dem Platz vor dem Wirtshause war ein kleiner Markt
aufgeschlagen, bestehend aus einigen Tischen mit Süßigkeiten und
Backwerk und ein paar Buden mit Flitterstaat, um welche sich die
Kinder und dasjenige Volk drängten, welches sich einstweilen mehr mit
Zusehen begnügte. Sali und Vrenchen traten auch zu den Herrlichkeiten
und ließen ihre Augen darüberfliegen; denn beide hatten zugleich die
Hand in der Tasche und jedes wünschte dem andern etwas zu schenken, da
sie zum ersten und einzigen Male miteinander zu Markt waren; Sali
kaufte ein großes Haus von Lebkuchen, das mit Zuckerguß freundlich
geweißt war, mit einem grünen Dach, auf welchem weiße Tauben saßen und
aus dessen Schornstein ein Amörchen guckte als Kaminfeger; an den
offenen Fenstern umarmten sich pausbäckige Leutchen mit winzig kleinen
roten Mündchen, die sich recht eigentlich küßten, da der flüchtige
praktische Maler mit einem Kleckschen gleich zwei Mündchen gemacht,
die so ineinander verflossen. Schwarze Pünktchen stellten muntere
Äuglein vor. Auf der rosenroten Haustür aber waren diese Verse zu
lesen:

  Tritt in mein Haus, o Liebste!
  Doch sei dir unverhehlt:
  Drin wird allein nach Küssen
  Gerechnet und gezählt!

  Die Liebste sprach: „O Liebster,
  Mich schrecket nichts zurück!
  Hab' alles wohl erwogen:
  In dir nur lebt mein Glück!

  Und wenn ich's recht bedenke,
  Kam ich deswegen auch!"
  Nun denn, spazier' mit Segen
  Herein und üb' den Brauch!

Ein Herr in einem blauen Frack und eine Dame mit einem sehr hohen
Busen komplimentierten sich diesen Versen gemäß in das Haus hinein,
links und rechts an die Mauer gemalt. Vrenchen schenkte Sali dagegen
ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:

  Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier,
  Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb' zu dir!

Und auf der andern Seite:

  Wenn du dies Herz gegessen, vergiß dies Sprüchlein nicht!
  Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!

Sie lasen eifrig die Sprüche und nie ist etwas Gereimtes und
Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden worden, als diese
Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer
Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. „Ach,"
seufzte Vrenchen, „du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines
und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus,
darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die
Schnecken! Andere haben wir nicht!" „Dann sind wir aber zwei
Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt!" sagte Sali,
und Vrenchen erwiderte: „Desto weniger dürfen wir voneinander gehen,
damit jedes seiner Wohnung nahbleibt!" Doch wußten sie nicht, daß sie
in ihren Reden ebensolche Witze machten, als auf den vielfach
geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort, diese süße
einfache Liebesliteratur zu studieren, die da ausgebreitet lag und
besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war.
Alles dünkte sie schön und einzig zutreffend; als Vrenchen auf einem
vergoldeten Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten bespannt war, las:
Mein Herz ist wie ein Zitherspiel, rührt man es viel, so tönt es viel!
ward ihm so musikalisch zumut, daß es glaubte, sein eigenes Herz
klingen zu hören. Ein Napoleonsbild war da, welches aber auch der
Träger eines verliebten Spruches sein mußte, denn es stand darunter
geschrieben: Groß war der Held Napoleon, sein Schwert von Stahl, sein
Herz von Ton; meine Liebe trägt ein Röslein frei, doch ist ihr Herz
wie Stahl so treu!--Während sie aber beiderseitig in das Lesen
vertieft schienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen
Einkauf zu machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes Ringelchen
mit einem grünen Glassteinchen, und Vrenchen einen Ring von schwarzem
Gemshorn, auf welchem ein goldenes Vergißmeinnicht eingelegt war.
Wahrscheinlich hatten sie die gleichen Gedanken, sich diese armen
Zeichen bei der Trennung zu geben.

Während sie in diese Dinge sich versenkten, waren sie so vergessen,
daß sie nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter Ring sich um sie
gebildet hatte von Leuten, die sie aufmerksam und neugierig
betrachteten. Denn da viele junge Burschen und Mädchen aus ihrem Dorfe
hier waren, so waren sie erkannt worden, und alles stand jetzt in
einiger Entfernung um sie herum und sah mit Verwunderung auf das
wohlgeputzte Paar, welches in andächtiger Innigkeit die Welt um sich
her zu vergessen schien. „Ei seht!" hieß es, „das ist ja wahrhaftig
das Vrenchen Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben sich ja
säuberlich gefunden und verbunden! Und welche Zärtlichkeit und
Freundschaft, seht doch, seht! Wo die wohl hinauswollen?" Die
Verwunderung dieser Zuschauer war ganz seltsam gemischt aus Mitleid
mit dem Unglück, aus Verachtung der Verkommenheit und Schlechtigkeit
der Eltern und aus Neid gegen das Glück und die Einigkeit des Paares,
welches auf eine ganz ungewöhnliche und fast vornehme Weise verliebt
und aufgeregt war und in dieser rückhaltlosen Hingebung und
Selbstvergessenheit dem rohen Völkchen ebenso fremd erschien, wie in
seiner Verlassenheit und Armut. Als sie daher endlich aufwachten und
um sich sahen, erschauten sie nichts als gaffende Gesichter von allen
Seiten; niemand grüßte sie und sie wußten nicht, sollten sie jemand
grüßen, und diese Verfremdung und Unfreundlichkeit war von beiden
Seiten mehr Verlegenheit als Absicht. Es wurde Vrenchen bang und heiß,
es wurde bleich und rot, Sali nahm es aber bei der Hand und führte das
arme Wesen hinweg, das ihm mit seinem Haus in der Hand willig folgte,
obgleich die Trompeten im Wirtshause lustig schmetterten und Vrenchen
so gern tanzen wollte. „Hier können wir nicht tanzen!" sagte Sali, als
sie sich etwas entfernt hatten, „wir würden hier wenig Freude haben,
wie es scheint!" „Jedenfalls," sagte Vrenchen traurig, „es wird auch
am besten sein, wir lassen es ganz bleiben und ich sehe, wo ich ein
Unterkommen finde!" „Nein," rief Sali, „du sollst einmal tanzen, ich
habe dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk
sich lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da werden sie uns
nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt, wenn
hier Kirchweih ist, da es in die Kirchgemeinde gehört, und dorthin
wollen wir gehen, dort kannst du zur Not auch übernachten." Vrenchen
schauerte zusammen bei dem Gedanken, nun zum erstenmal an einem
unbekannten Ort zu schlafen; doch folgte es willenlos seinem Führer,
der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein
war ein schöngelegenes Wirtshaus an einer einsamen Berghalde, das weit
über das Land wegsah, in welchem aber an solchen Vergnügungstagen nur
das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und
sogar mancherlei fahrendes Gesinde verkehrte. Vor hundert Jahren war
es als ein kleines Landhaus von einem reichen Sonderling gebaut
worden, nach welchem niemand mehr da wohnen mochte, und da der Platz
sonst zu nichts zu gebrauchen war, so geriet der wunderliche Landsitz
in Verfall und zuletzt in die Hände eines Wirtes, der da sein Wesen
trieb. Der Name und die demselben entsprechende Bauart waren aber dem
Hause geblieben. Es bestand nur aus einem Erdgeschoß, über welchem ein
offener Estrich gebaut war, dessen Dach an den vier Ecken von Bildern
aus Sandstein getragen wurde, so die vier Erzengel vorstellten und
gänzlich verwittert waren. Auf dem Gesimse des Daches saßen ringsherum
kleine musizierende Engel mit dicken Köpfen und Bäuchen, den Triangel,
die Geige, die Flöte, Zimbel und Tamburin spielend, ebenfalls aus
Sandstein, und die Instrumente waren ursprünglich vergoldet gewesen.
Die Decke inwendig, sowie die Brustwehr des Estrichs und das übrige
Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen Freskomalereien bedeckt,
welche lustige Engelscharen, sowie singende und tanzende Heilige
darstellten. Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und
überdies reichlich mit Weinreben übersponnen, und blaue reifende
Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum standen
verwilderte Kastanienbäume, und knorrige starke Rosenbüsche, auf
eigene Hand fortlebend, wuchsen da und dort so wild herum, wie
anderswo die Holunderbäume. Der Estrich diente zum Tanzsaal; als Sali
mit Vrenchen daherkam, sahen sie schon von weitem die Paare unter dem
offenen Dache sich drehen und rund um das Haus zechten und lärmten
eine Menge lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig und wehmütig
sein Liebeshaus trug, glich einer heiligen Kirchenpatronin auf alten
Bildern, welche das Modell eines Domes oder Klosters auf der Hand
hält, so sie gestiftet; aber aus der frommen Stiftung, die ihr im
Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber die wilde Musik hörte,
welche vom Estrich ertönte, vergaß es sein Leid und verlangte endlich
nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten sich durch die Gäste, die
vor dem Hause saßen und in der Stube, verlumpte Leute aus Seldwyla,
die eine billige Landpartie machten, armes Volk von allen Enden, und
stiegen die Treppe hinauf, und sogleich drehten sie sich im Walzer
herum, keinen Blick voneinander abwendend. Erst als der Walzer zu
Ende, sahen sie sich um, Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt und
zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es noch mehr
erschrak über den schwarzen Geiger, in dessen Nähe sie standen. Er saß
auf einer Bank, die auf einem Tische stand, und sah so schwarz aus wie
gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen Tannenbusch auf sein
Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte er eine Flasche Rotwein und
ein Glas stehen, welche er nie umstieß, obgleich er fortwährend mit
den Beinen strampelte, wenn er geigte, und so eine Art von Eiertanz
damit vollbrachte. Neben ihm saß noch ein schöner aber trauriger
junger Mensch mit einem Waldhorn, und ein Buckliger stand an einer
Baßgeige. Sali erschrak auch, als er den Geiger erblickte; dieser
grüßte sie aber auf das freundlichste und rief: „Ich habe doch gewußt,
daß ich euch noch einmal aufspielen werde! So macht euch nur recht
lustig, ihr Schätzchen, und tut mir Bescheid!" Er bot Sali das volle
Glas und Sali trank und tat ihm Bescheid. Als der Geiger sah, wie
erschrocken Vrenchen war, suchte er ihm freundlich zuzureden und
machte einige fast anmutige Scherze, die es zum Lachen brachten. Es
ermunterte sich wieder, und nun waren sie froh, hier einen Bekannten
zu haben und gewissermaßen unter dem besonderen Schutze des Geigers zu
stehen. Sie tanzten nun ohne Unterlaß, sich und die Welt vergessend in
dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer dem Hause rumorte
und vom Berge weit in die Gegend hinausschallte, welche sich
allmählich in den silbernen Duft des Herbstabends hüllte. Sie tanzten,
bis es dunkelte und der größere Teil der lustigen Gäste sich
schwankend und johlend nach allen Seiten entfernte. Was noch
zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen, welches nirgends zu
Hause war und sich zum guten Tag auch noch eine gute Nacht machen
wollte. Unter diesen waren einige, welche mit dem Geiger gut bekannt
schienen und fremdartig aussahen in ihrer zusammengewürfelten Tracht.
Besonders ein junger Bursche fiel auf, der eine grüne Manchesterjacke
trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von
Ebereschen oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte. Dieser führte eine
wilde Person mit sich, die einen Rock von kirschrotem, weißgetüpfeltem
Kattun trug und sich einen Reifen von Rebenschossen um den Kopf
gebunden, so daß an jeder Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar
war das ausgelassenste von allen, tanzte und sang unermüdlich und war
in allen Ecken zugleich. Dann war noch ein schlankes hübsches Mädchen
da, welches ein schwarzseidenes abgeschossenes Kleid trug und ein
weißes Tuch um den Kopf, daß der Zipfel über den Rücken fiel. Das Tuch
zeigte rote, eingewobene Streifen und war eine gute leinene Handzwehle
oder Serviette. Darunter leuchteten aber ein Paar veilchenblaue Augen
hervor. Um den Hals und auf der Brust hing eine sechsfache Kette von
Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und ersetzte die schönste
Korallenschnur. Diese Gestalt tanzte fortwährend allein mit sich
selbst und verweigerte hartnäckig, mit einem der Gesellen zu tanzen.
Nichtsdestominder bewegte sie sich anmutig und leicht herum und
lächelte jedesmal, wenn sie sich an dem traurigen Waldhornbläser
vorüberdrehte, wozu dieser immer den Kopf abwandte. Noch einige andere
vergnügte Frauensleute waren da mit ihren Beschützern, alle von
dürftigem Aussehen, aber sie waren um so lustiger und in bester
Eintracht untereinander. Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirt
keine Lichter anzünden, da er behauptete, der Wind lösche sie aus,
auch ginge der Vollmond sogleich auf und für das, was ihm diese
Herrschaften einbrächten, sei das Mondlicht gut genug. Diese Eröffnung
wurde mit großem Wohlgefallen aufgenommen; die ganze Gesellschaft
stellte sich an die Brüstung des luftigen Saales und sah dem Aufgange
des Gestirnes entgegen, dessen Röte schon am Horizonte stand; und
sobald der Mond aufging und sein Licht quer durch den Estrich des
Paradiesgärtels warf, tanzten sie im Mondschein weiter, und zwar so
still, artig und seelenvergnügt, als ob sie im Glanze von hundert
Wachskerzen tanzten. Das seltsame Licht machte alle vertrauter und so
konnten Sali und Vrenchen nicht umhin, sich unter die gemeinsame
Lustbarkeit zu mischen und auch mit andern zu tanzen. Aber jedesmal,
wenn sie ein Weilchen getrennt gewesen, flogen sie zusammen und
feierten ein Wiedersehen, als ob sie sich jahrelang gesucht und
endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmutiges Gesicht,
wenn er mit einer andern tanzte, und drehte fortwährend das Gesicht
nach Vrenchen hin, welches ihn nicht ansah, wenn es vorüberschwebte,
glühte wie eine Purpurrose und überglücklich schien, mit wem es auch
tanzte. „Bist du eifersüchtig, Sali?" fragte es ihn, als die
Musikanten müde waren und aufhörten. „Gott bewahre!" sagte er, „ich
wüßte nicht, wie ich es anfangen sollte!" „Warum bist du denn so bös,
wenn ich mit andern tanze?" „Ich bin nicht darüber bös, sondern weil
ich mit andern tanzen muß! Ich kann kein anderes Mädchen ausstehen, es
ist mir, als wenn ich ein Stück Holz im Arm habe, wenn du es nicht
bist! Und du? Wie geht es dir?" „Oh, ich bin immer wie im Himmel, wenn
ich nur tanze und weiß, daß du zugegen bist! Aber ich glaube, ich
würde sogleich tot umfallen, wenn du weggingest und mich daließest!"
Sie waren hinabgegangen und standen vor dem Hause! Vrenchen umschloß
ihn mit beiden Armen, schmiegte seinen schlanken zitternden Leib an
ihn, drückte seine glühende Wange, die von heißen Tränen feucht war,
an sein Gesicht und sagte schluchzend: „Wir können nicht zusammensein
und doch kann ich nicht von dir lassen, nicht einen Augenblick mehr,
nicht eine Minute!" Sali umarmte und drückte das Mädchen heftig an
sich und bedeckte es mit Küssen. Seine verwirrten Gedanken rangen nach
einem Ausweg, aber er sah keinen. Wenn auch das Elend und die
Hoffnungslosigkeit seiner Herkunft zu überwinden gewesen wären, so war
seine Jugend und unerfahrene Leidenschaft nicht beschaffen, sich eine
lange Zeit der Prüfung und Entsagung vorzunehmen und zu überstehen,
und dann wäre erst noch Vrenchens Vater dagewesen, welchen er
zeitlebens elend gemacht. Das Gefühl, in der bürgerlichen Welt nur in
einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu können,
war in ihm ebenso lebendig wie in Vrenchen, und in beiden verlassenen
Wesen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren Zeiten in
ihren Häusern geglüht hatte und welche die sich sicher fühlenden Väter
durch einen unscheinbaren Mißgriff ausgeblasen und zerstört hatten,
als sie, eben diese Ehre zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres
Eigentums, so gedankenlos sich das Gut eines Verschollenen aneigneten,
ganz gefahrlos, wie sie meinten. Das geschieht nun freilich alle Tage;
aber zuweilen stellt das Schicksal ein Exempel auf und läßt zwei
solche Äufner ihrer Hausehre und ihres Gutes zusammentreffen, die sich
dann unfehlbar aufreiben und auffressen wie zwei wilde Tiere. Denn die
Mehrer des Reiches verrechnen sich nicht nur auf den Thronen, sondern
zuweilen auch in den niedersten Hütten und langen ganz am
entgegengesetzten Ende an, als wohin sie zu kommen trachteten, und der
Schild der Ehre ist im Umsehen eine Tafel der Schande. Sali und
Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hauses gesehen in zarten
Kinderjahren und erinnerten sich, wie wohlgepflegte Kinderchen sie
gewesen und daß ihre Väter ausgesehen wie andere Männer, geachtet und
sicher. Dann waren sie auf lange getrennt worden, und als sie sich
wiederfanden, sahen sie in sich zugleich das verschwundene Glück des
Hauses, und beider Neigung klammerte sich nur um so heftiger
ineinander. Sie mochten so gern fröhlich und glücklich sein, aber nur
auf einem guten Grund und Boden, und dieser schien ihnen unerreichbar,
während ihr wallendes Blut am liebsten gleich zusammengeströmt wäre.
„Nun ist es Nacht," rief Vrenchen, „und wir sollen uns trennen!" „Ich
soll nach Hause gehen und dich allein lassen?" rief Sali, „nein, das
kann ich nicht!" „Dann wird es Tag werden und nicht besser um uns
stehen!"

„Ich will euch einen Rat geben, ihr närrischen Dinger!" tönte eine
schrille Stimme hinter ihnen, und der Geiger trat vor sie hin. „Da
steht ihr," sagte er, „wißt nicht wo hinaus und hättet euch gern. Ich
rate euch, nehmt euch, wie ihr seid, und säumet nicht. Kommt mit mir
und meinen guten Freunden in die Berge, da brauchet ihr keinen
Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre, kein Bett, nichts als
eueren guten Willen! Es ist gar nicht so übel bei uns, gesunde Luft
und genug zu essen, wenn man tätig ist; die grünen Wälder sind unser
Haus, wo wir uns liebhaben, wie es uns gefällt, und im Winter machen
wir uns die wärmsten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern ins warme
Heu. Also kurz entschlossen, haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit
uns, dann seid ihr aller Sorgen los und habt euch für immer und
ewiglich, solang es euch gefällt wenigstens; denn alt werdet ihr bei
unserem freien Leben, das könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, daß ich
euch nachtragen will, was eure Alten an mir getan! Nein! Es macht mir
zwar Vergnügen, euch da angekommen zu sehen, wo ihr seid; allein damit
bin ich zufrieden und werde euch behilflich und dienstfertig sein,
wenn ihr mir folgt." Er sagte das wirklich in einem aufrichtigen und
gemütlichen Tone. „Nun, besinnt euch ein bißchen, aber folget mir,
wenn ich euch gut zum Rat bin! Laßt fahren die Welt und nehmet euch
und fraget niemandem was nach! Denkt an das luftige Hochzeitbett im
tiefen Wald oder auf einem Heustock, wenn es euch zu kalt ist!" Damit
ging er ins Haus. Vrenchen zitterte in Salis Armen und dieser sagte:
„Was meinst du dazu? Mich dünkt, es wäre nicht übel, die ganze Welt in
den Wind zu schlagen und uns dafür zu lieben ohne Hindernis und
Schranken!" Er sagte es aber mehr als einen verzweifelten Scherz, denn
im Ernst. Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küßte ihn:
„Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht nach
meinem Sinne zu. Der junge Mensch mit dem Waldhorn und das Mädchen mit
dem seidenen Rocke gehören auch so zueinander und sollen sehr verliebt
gewesen sein. Nun sei letzte Woche die Person ihm zum erstenmal untreu
geworden, was ihm nicht in den Kopf wolle, und deshalb sei er so
traurig und schmolle mit ihr und mit den andern, die ihn auslachen.
Sie aber tut eine mutwillige Buße, indem sie allein tanzt und mit
niemandem spricht, und lacht ihn auch nur aus damit. Dem armen
Musikanten sieht man es jedoch an, daß er sich noch heute mit ihr
versöhnen wird. Wo es aber so hergeht, möchte ich nicht sein, denn nie
möcht' ich dir untreu werden, wenn ich auch sonst noch alles ertragen
würde, um dich zu besitzen !" Indessen aber fieberte das arme Vrenchen
immer heftiger an Salis Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene
Wirtin es für eine Braut gehalten und es eine solche ohne Widerrede
vorgestellt, lohte ihm das Brautwesen im Blute, und je hoffnungsloser
es war, um so wilder und unbezwinglicher. Dem Sali erging es ebenso
schlimm, da die Reden des Geigers, so wenig er ihnen folgen mochte,
dennoch seinen Kopf verwirrten, und er sagte mit ratlos stockender
Stimme: „Komm herein, wir müssen wenigstens noch was essen und
trinken." Sie gingen in die Gaststube, wo niemand mehr war, als die
kleine Gesellschaft der Heimatlosen, welche bereits um einen Tisch saß
und eine spärliche Mahlzeit hielt. „Da kommt unser Hochzeitpaar!" rief
der Geiger, „jetzt seid lustig und fröhlich und laßt euch
zusammengeben!" Sie wurden an den Tisch genötigt und flüchteten sich
vor sich selbst an denselben hin; sie waren froh, nur für den
Augenblick unter Leuten zu sein. Sali bestellte Wein und reichlichere
Speisen, und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende hatte
sich mit der Untreuen versöhnt, und das Paar liebkoste sich in
begieriger Seligkeit; das andere wilde Paar sang und trank und ließ es
ebenfalls nicht an Liebesbezeigungen fehlen, und der Geiger nebst dem
buckligen Baßgeiger lärmten ins Blaue hinein. Sali und Vrenchen waren
still und hielten sich umschlungen; auf einmal gebot der Geiger Stille
und führte eine spaßhafte Zeremonie auf, welche eine Trauung
vorstellen sollte. Sie mußten sich die Hände geben und die
Gesellschaft stand auf und trat der Reihe nach zu ihnen, um sie zu
beglückwünschen und in ihrer Verbrüderung willkommen zu heißen. Sie
ließen es geschehen, ohne ein Wort zu sagen, und betrachteten es als
einen Spaß, während es sie doch kalt und heiß durchschauerte.

Die kleine Versammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter,
angefeuert durch den stärkeren Wein, bis plötzlich der Geiger zum
Aufbruch mahnte. „Wir haben weit," rief er, „und Mitternacht ist
vorüber! Auf! Wir wollen dem Brautpaar das Geleit geben und ich will
vorausgeigen, daß es eine Art hat!" Da die ratlosen Verlassenen nichts
Besseres wußten und überhaupt ganz verwirrt waren, ließen sie abermals
geschehen, daß man sie voranstellte und die übrigen zwei Paare einen
Zug hinter ihnen formierten, welchen der Bucklige abschloß mit seiner
Baßgeige über der Schulter. Der Schwarze zog voraus und spielte auf
seiner Geige wie besessen den Berg hinunter, und die andern lachten,
sangen und sprangen hintendrein. So strich der tolle nächtliche Zug
durch die stillen Felder und durch das Heimatdorf Salis und Vrenchens,
dessen Bewohner längst schliefen.

Als sie durch die stillen Gassen kamen und an ihren verlorenen
Vaterhäusern vorüber, ergriff sie eine schmerzhaft wilde Laune und sie
tanzten mit den andern um die Wette hinter dem Geiger her, küßten
sich, lachten und weinten. Sie tanzten auch den Hügel hinauf, über
welchen der Geiger sie führte, wo die drei Äcker lagen, und oben
strich der schwärzliche Kerl die Geige noch einmal so wild, sprang und
hüpfte wie ein Gespenst, und seine Gefährten blieben nicht zurück in
der Ausgelassenheit, so daß es ein wahrer Blocksberg war auf der
stillen Höhe; selbst der Bucklige sprang keuchend mit seiner Last
herum und keines schien mehr das andere zu sehen. Sali faßte Vrenchen
fester in den Arm und zwang es, stillzustehen; denn er war zuerst zu
sich gekommen. Er küßte es, damit es schweige, heftig auf den Mund, da
es sich ganz vergessen hatte und laut sang. Es verstand ihn endlich,
und sie standen still und lauschend, bis ihr tobendes Hochzeitsgeleite
das Feld entlang gerast war und, ohne sie zu vermissen, am Ufer des
Stromes hinauf sich verzog. Die Geige, das Gelächter der Mädchen und
die Jauchzer der Burschen tönten aber noch eine gute Zeit durch die
Nacht, bis zuletzt alles verklang und still wurde.

„Diesen sind wir entflohen," sagte Sali, „aber wie entfliehen wir uns
selbst? Wie meiden wir uns?"

Vrenchen war nicht imstande zu antworten und lag hochaufatmend an
seinem Halse. „Soll ich dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und
Leute wecken, daß sie dich aufnehmen? Morgen kannst du ja dann deinen
Weges ziehen und gewiß wird es dir wohlgehen, du kommst überall fort!"

„Fortkommen, ohne dich!"

„Du mußt mich vergessen!"

„Das werde ich nie! Könntest denn du es tun?"

„Darauf kommt's nicht an, mein Herz!" sagte Sali und streichelte ihm
die heißen Wangen, je nachdem es sie leidenschaftlich an seiner Brust
herumwarf, „es handelt sich jetzt nur um dich; du bist noch so ganz
jung und es kann dir noch auf allen Wegen gut gehen!"

„Und dir nicht auch, du alter Mann?"

„Komm!" sagte Sali und zog es fort. Aber sie gingen nur einige
Schritte und standen wieder still, um sich bequemer zu umschlingen und
zu herzen. Die Stille der Welt sang und musizierte ihnen durch die
Seelen, man hörte nur den Fluß unten sacht und lieblich rauschen im
langsamen Ziehen.

„Wie schön ist es da ringsherum! Hörst du nicht etwas tönen, wie ein
schöner Gesang oder ein Geläute!"

„Es ist das Wasser, das rauscht! Sonst ist alles still."

„Nein, es ist noch etwas anderes, hier, dort, hinaus überall tönt's!"

„Ich glaube, wir hören unser eigenes Blut in unsern Ohren rauschen!"

Sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen
Töne, welche von der großen Stille herrührten, oder welche sie mit den
magischen Wirkungen des Mondlichtes verwechselten, welches nah und
fern über die weißen Herbstnebel wallte, welche tief auf den Gründen
lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein: es suchte in seinem
Brustgewand und sagte: „Ich habe dir noch ein Andenken gekauft, das
ich dir geben wollte!" Und es gab ihm den einfachen Ring und steckte
ihm denselben selbst an den Finger. Sali nahm sein Ringlein auch
hervor und steckte ihn an Vrenchens Hand, indem er sagte: „So haben
wir die gleichen Gedanken gehabt!" Vrenchen hielt seine Hand in das
bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring. „Ei, wie ein feiner
Ring!" sagte es lachend; „nun sind wir aber doch verlobt und
versprochen, du bist mein Mann und ich deine Frau, wir wollen es
einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelstreif am Mond
vorüber ist, oder bis wir zwölf gezählt haben! Küsse mich zwölfmal!"

Sali liebte gewiß ebenso stark als Vrenchen, aber die Heiratsfrage war
in ihm doch nicht so leidenschaftlich lebendig, als ein bestimmtes
Entweder--Oder, als ein unmittelbares Sein oder Nichtsein, wie in
Vrenchen, welches nur das eine zu fühlen fähig war und mit
leidenschaftlicher Entschiedenheit unmittelbar Tod oder Leben darin
sah. Aber jetzt ging ihm endlich ein Licht auf und das weibliche
Gefühl des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden
und heißen Verlangen und eine glühende Klarheit erhellte ihm die
Sinne. So heftig er Vrenchen schon umarmt und liebkost hatte, tat er
es jetzt doch ganz anders und stürmischer und übersäte es mit Küssen.
Vrenchen fühlte trotz aller eigenen Leidenschaft auf der Stelle diesen
Wechsel und ein heftiges Zittern durchfuhr sein ganzes Wesen, aber ehe
jener Nebelstreif am Monde vorüber war, war es auch davon ergriffen.
Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich ihre
ringgeschmückten Hände und faßten sich fest, wie von selbst eine
Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte
halb wie mit Hämmern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte
leise: „Es gibt eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser
Stunde und gehen dann aus der Welt--dort ist das tiefe Wasser--dort
scheidet uns niemand mehr und wir sind zusammengewesen--ob kurz oder
lang, das kann uns dann gleich sein."--

Vrenchen sagte sogleich: „Sali--was du da sagst, habe ich schon lang
bei mir gedacht und ausgemacht, nämlich, daß wir sterben könnten und
dann alles vorbei wäre--so schwöre mir es, daß du es mit mir tun
willst!"

„Es ist schon so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner
Hand, als der Tod!" rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch
auf, Tränen der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf
und sprang leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter.
Sali eilte ihm nach; denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und
Vrenchen glaubte, er wolle es zurückhalten, so sprangen sie einander
nach und Vrenchen lachte wie ein Kind, welches sich nicht will fangen
lassen. „Bereust du es schon?" rief eines zum andern, als sie am
Flusse angekommen waren und sich ergriffen; „nein, es freut mich immer
mehr!" erwiderte ein jedes. Aller Sorgen ledig, gingen sie am Ufer
hinunter und überholten die eilenden Wasser, so astig suchten sie eine
Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah jetzt nur
den Rausch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze
Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen;
was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts,
und sie dachten weniger daran, als ein Leichtsinniger denkt, wie er
den anderen Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.

„Meine Blumen gehen mir voraus," rief Vrenchen, „sieh, sie sind ganz
dahin und verwelkt!" Es nahm sie von der Brust, warf sie ins Wasser
und sang laut dazu: „Doch süßer als ein Mandelkern ist meine Lieb' zu
dir!"

„Halt!" rief Sali, „hier ist dein Brautbett!"

Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluß
führte, und hier war eine Landungsstelle, wo ein großes Schiff, hoch
mit Heu beladen, angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt
die starken Seile loszubinden, Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm
und rief: „Was willst du tun? Wollen mir den Bauern ihr Heuschiff
stehlen zu guter Letzt?" „Das soll die Aussteuer sein, die sie uns
geben, eine schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie noch keine Braut
gehabt! Sie werden überdies ihr Eigentum unten wieder finden, wo es ja
dochhin soll, und werden nicht wissen, was damit geschehen ist. Sieh,
schon schwankt es und will hinaus!"

Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tieferen Wasser.
Sali hob Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt durch das
Wasser gegen das Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungebärdig
und zappelte wie ein Fisch, daß er im ziehenden Wasser keinen Stand
halten konnte. Es strebte Gesicht und Hände ins Wasser zu tauchen und
rief: „Ich will auch das kühle Wasser versuchen! Weißt du noch, wie
kalt und naß unsere Hände waren, als wir sie uns zum erstenmal gaben?
Fische fingen wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein und zwei
schöne große!" „Sei ruhig, du lieber Teufel!" sagte Sali, der Mühe
hatte, zwischen dem tobenden Liebchen und den Wellen sich
aufrechtzuhalten, „es zieht mich sonst fort!" Er hob seine Last in das
Schiff und schwang sich nach; er hob sie auf die hochgebettete weiche
und duftende Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie oben
saßen, trieb das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und
schwamm dann, sich langsam drehend, zu Tal.

Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten,
bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an
einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen
See glich und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen
und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die
Morgenröte auf stieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus
dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte
eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff
langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im
Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest
umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.

Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke
und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen
fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu
lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde
gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten,
hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag
herzlich miteinander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih.
Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem
Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffsleute in der Stadt
gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff
entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu
halten, abermals ein Zeichen von der umsichgreifenden Entsittlichung
und Verwilderung der Leidenschaften.

*       *       *       *       *


FRAU REGEL AMRAIN UND IHR JÜNGSTER

Regula Amrain war die Frau eines abwesenden Seldwylers; dieser hatte
einen großen Steinbruch hinter dem Städtchen besessen und eine
Zeitlang ausgebeutet, und zwar auf Seldwyler Art. Das ganze Nest war
beinahe aus dem guten Sandstein gebaut, aus welchem der Berg bestand;
aber das Schuldenwesen, das auf den Häusern ruhte, hatte von jeher
recht eigentlich schon mit den Steinen begonnen, aus denen sie gebaut
waren; denn nichts schien den Seldwylern so wohlgeeignet, als Stoff
und Gegenstand eines muntern Verkehrs, als ein solcher Steinbruch, und
derselbe glich einer in Felsen gehauenen römischen Schaubühne, über
welche die Besitzer emsig hinwegliefen, einer den andern jagend.

Herr Amrain, ein ansehnlicher Mann, der eine ansehnliche Menge
Fleisch, Fische und Wein verzehren mußte und mächtige Stücke
Seidenzeug zu seinen breiten schönen Westen brauchte, himmelblaue,
kirschrote und großartig gewürfelte, war ursprünglich ein Knopfmacher
gewesen und hatte auch die eine und andere Stunde des Tages Knöpfe
besponnen. Als er aber mit den Jahren gar so fest und breit wurde,
sagte ihm die sitzende Lebensart nicht mehr zu, und als er überhaupt
den rechten Phäakenaufschwung genommen: die rote Sammetweste, die
goldene Uhrkette und den Siegelring, liquidierte er die Knopfmacherei
und übernahm in einer wichtigen Hauptsitzung der Seldwyler Spekulanten
jenen Steinbruch. Nun hatte er die angemessene bewegliche Lebensweise
gefunden, indem er mit einer roten Brieftasche voll Papiere und einem
eleganten Spazierstock, auf welchem mit silbernen Stiften ein Zollmaß
angebracht war, etwa in den Steinbruch hinaus lustwandelte, wenn das
Wetter lieblich war, und dort mit dem besagten Stocke an den
verpfändeten Steinlagern herumstocherte, den Schweiß von der Stirn
wischte, in die schöne Gegend hinausschaute und dann schleunigst in
die Stadt zurückkehrte, um den eigentlichen Geschäften nachzugehen,
dem Umsatz der verschiedenen Papiere in der Brieftasche, was in den
kühlen Gaststuben auf das beste vor sich ging. Kurz, er war ein
vollkommener Seldwyler, bis auf die politische Veränderlichkeit,
welche aber die Ursache seines zu frühen Falles wurde. Denn ein
konservativer Kapitalist aus einer Finanzstadt, welcher keinen Spaß
verstand, hatte auf den Steinbruch einiges Geld hergegeben und damit
geglaubt, einem wackern Parteigenossen unter die Arme zu greifen. Als
daher Herr Amrain in einem Anfall gänzlicher Gedankenlosigkeit eines
Tages höchst verfängliche liberale Redensarten vernehmen ließ, welche
ruchbar wurden, erzürnte sich jener Herr mit Recht; denn nirgends ist
politische Gesinnungslosigkeit widerwärtiger, als an einem großen
dicken Manne, der eine bunte Sammetweste trägt! Der erboste Gönner zog
daher jählings sein Geld zurück, als kein Mensch daran dachte, und
trieb dadurch vor der Zeit den bestürzten Amrain vom Steinbruch in die
Welt hinaus.

Man wird selten sehen, daß es großen schweren Männern schlecht ergeht,
weil sie eine durchgreifende und überzeugende Gabe besitzen, für ihren
anspruchsvollen Körperbau zu sorgen, und die Nahrungsmittel können
sich demselben nicht lange entziehen, sondern werden von dem
Magnetgebirge des Bauches mächtig angezogen. So fraß sich der
landflüchtige Amrain auch glücklich durch die Fernen; und obgleich er
nichts Großes mehr wurde, aß und trank er doch irgendwo in der Fremde
so weidlich wie zu Hause.

Doch den Seldwylern, welche jetzt ratschlagten, welcher von ihnen nun
am tauglichsten wäre, eine Zeitlang die Honneurs am Steinbruch zu
machen, wurde abermals ein Strich durch die Rechnung gezogen, als die
zurückgebliebene Ehefrau des Herrn Amrain unerwartet ihren Fuß auf den
Sandstein setzte und kraft ihres herzugebrachten Weibergutes den
Steinbruch an sich zog und erklärte, das Geschäft fortsetzen und
möglicherweise die Gläubiger ihres Mannes befriedigen zu wollen. Sie
tat dies erst, als derselbe schon jenseits des Atlantischen Weltmeers
war und nicht mehr zurückkommen konnte. Man suchte sie auf jede Weise
von diesem Vorhaben abzubringen und zu hindern; allein sie zeigte eine
solche Entschlossenheit, Rührigkeit und Besonnenheit, daß nichts gegen
sie auszurichten war und sie wirklich die Besitzerin des Steinbruches
wurde. Sie ließ fleißig und ordentlich darin arbeiten unter der
Leitung eines guten fremden Werkführers und gründete zum erstenmal die
Unternehmung, statt auf den Scheinverkehr, auf wirkliche Produktion.
Hieran wollte man sie nun erst recht behindern; allein, es war nicht
gegen sie aufzukommen, da sie als Frau und sparsame Mutter keine
Ausgaben hatte, im Vergleich zu den Herren von Seldwyla, und daher auf
die einfachste Weise imstande war, alle Stürme abzuschlagen und alle
begründeten Forderungen zu bezahlen. Aber dennoch hielt es schwer, und
sie mußte Tag und Nacht mit Mut, List und Kraft bei der Hand sein,
sinnen und sorgen, um sich zu behaupten.

Frau Regel hatte von auswärts in das Städtchen geheiratet und war eine
sehr frische, große und handfeste Dame mit kräftigen schwarzen
Haarflechten und einem festen, dunklen Blick. Von ihrem Manne hatte
sie drei Buben von ungefähr zehn, acht und fünf Jahren, welche sie
oftmals aufmerksam und ernsthaft betrachtete, darüber sinnend, ob
dieselben auch wert seien, daß sie das Haus für sie aufrechthalte, da
sie ja doch Seldwyler wären und bleiben würden. Doch weil die Burschen
einmal ihre Kinder waren, so ließ die Eigenliebe und die Mutterliebe
sie immer wieder einen guten Mut fassen, und sie traute sich zu, auch
in dieser Sache das Steuer am Ende anders zu lenken, als es zu Seldwyl
Mode war.

In solche Gedanken versunken, saß sie einst nach dem Nachtessen am
Tische und hatte das Geschäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor sich
liegen. Die Buben lagen im Bette und schliefen in der Kammer, deren
Türe offen stand, und sie hatte eben die drei schlafenden kleinen
Gesellen mit der Lampe in der Hand betrachtet und besonders den
kleinsten Kerl ins Auge gefaßt, der ihr am wenigsten glich. Er war
blond, hatte ein keckes Stumpfnäschen, während sie eine ernsthafte
gerade, lange Nase besaß, und statt ihres strenggeschnittenen Mundes
zeigte der kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, selbst wenn er
schlief. Dies hatte er alles vom Vater, und es war das gewesen, was
ihr eben so wohlgefallen hatte, als sie ihn heiratete, und was ihr
jetzt auch an dem kleinen Burschen so wohlgefiel und doch schwere
Sorgen machte. Wenn eine Gesichtsart einem einmal wohlgefällt, so
hilft hiergegen kein Kraut; deswegen war Frau Amrain froh, daß der
Alte weg war und sie ihn nicht mehr sah; aber er hatte ihr in dem
jüngsten Kinde ein treues Abbild seiner äußeren Art hinterlassen,
welches sie nie genug ansehen konnte. Über diesen Sorgen traf sie der
Werkführer oder oberste Arbeiter, der jetzt eintrat, um mit ihr die
Angelegenheiten und den Bestand der Geschäfte durchzusehen und manche
wichtige Dinge zu besprechen. Es war ein hübscher und unternehmender
Bursche von schlankem, kräftigem Körperbau, mäßig in seiner
Lebensweise, fleißig und ausdauernd und dabei in seinen Gedanken von
einer gewissen einfachen Schlauheit, welche zusammen mit den
erklecklichen Eigenschaften seiner Meisterin eben das Geschäft in
gutem Gange erhielt und die gedankenlosen Spitzfindigkeiten der
Seldwyler zu schanden werden ließ. Inzwischen war er aber ein Mensch
und dachte daher vor allem an sich selber und in diesem Denken hatte
er es nicht übel gefunden, selber der Herr und Meister hier zu sein
und sich eine bleibende Stätte zu gründen, daher auch in aller
Ehrerbietung der Frau Regula wiederholt nahegelegt, eine gesetzliche
Scheidung von ihrem abwesenden Manne herbeizuführen.

Sie hatte ihn wohl verstanden; doch widerstrebte es ihrem Stolz, sich
öffentlich und mit schimpflichen Beweisgründen von einem Manne zu
trennen, der ihr einmal wohlgefallen, mit dem sie gelebt und von dem
sie drei Kinder hatte; und in der Sorge für diese Kinder wollte sie
auch keinen fremden Mann über das Haus setzen und wenigstens die
äußere Einheit desselben bewahren, bis die Söhne herangewachsen wären
und ein unzersplittertes Erbe aus ihrer Hand empfangen könnten; denn
ein solches gedachte sie trotz aller Schwierigkeiten zusammenzubringen
und den Hiesigen zu zeigen, was da Brauch sei, wo sie hergekommen. Sie
hielt daher den Werkführer knapp im Zügel und brachte sich dadurch nur
in größere Verlegenheit; denn als derselbe ihren Widerstand und ihren
festen Charakter ersah, verliebte er sich förmlich in sie und gedachte
erst recht seine Wünsche zu erreichen. Er änderte sein Benehmen, also
daß er, statt wie bisher ehrbar um ihre Hand als Meisterin sich zu
bewerben, nun um ihre Person schmachtete, wo sie ging, und sie stets
mit verliebten Augen ansah, wo es immer tunlich war. Dies schien für
ihn eine zweckdienliche Veränderung, da die eigentliche Verliebtheit
in die Person eines Menschen denselben viel mehr besticht und
bezwingt, als alle noch so ehrbaren Heiratsabsichten. Wenn nun Frau
Regel auch nicht die Haltung verlor und sich in ihn nicht wieder
verliebte, so wurde es doch schwerer für sie, ihn abzuwehren, ohne mit
ihm zu brechen und ihn zu verlieren, und es ist bekanntlich eine
Hauptliebhaberei der Frauen, sich nützliche Freunde und Parteigänger
zu erhalten, wenn es immer geschehen kann, ohne große Opfer.

Als der Werkführer in die Stube trat, funkelten seine Augen mit
ungewöhnlichem Glanze, denn er hatte im Verkehr mit einigen
Geschäftsleuten, mit denen er sich zum Vorteil der Frau wacker
herumgeschlagen, eine Flasche kräftigen Wein getrunken. Während er ihr
Bericht erstattete und dann in den Papieren mit ihr rechnete, blickte
er sie oftmals unversehens an und wurde zerstreut und aufgeregt, wie
einer, der etwas vorhat. Sie rückte mit ihrem Sessel etwas zur Seite
und begann sich in acht zu nehmen, dabei kaum ein feines Lächeln
unterdrückend, wie aus Spott über die plötzliche Unternehmungslust des
jungen Mannes. Dieser aber faßte unversehens ihre beiden Hände und
suchte die hübsche Frau an sich zu ziehen, indem er sogleich in
demselben halblauten Tone, in welchem sie der schlafenden Kinder wegen
die ganze Verhandlung geführt hatten, so heftig und feurig anfing zu
schmeicheln und zuzureden, ihr Leben doch nicht so öde und unbenutzt
entfliehen zu lassen, sondern klug zu sein und sich seiner treuen
Ergebenheit zu erfreuen. Sie wagte keine rasche Bewegung und kein
lautes Wort, aus Furcht, die Kinder zur Unzeit zu wecken; doch
flüsterte sie voll Zorn, er solle ihre Hände freilassen und
augenblicklich hinausgehen. Er ließ sie aber nicht frei, sondern faßte
sie nur um so fester und hielt ihr mit eindringlichen Worten ihre
Jugend und schöne Gestalt vor und ihre Torheit, so gute Dinge
ungenossen vergehen zu lassen. Sie durchschaute ihren Feind wohl,
dessen Augen ebenso stark von Schlauheit als von Lebenslust glänzten,
und merkte, daß er auf diesem leidenschaftlich-sinnlichen Wege nur
beabsichtigte, sie sich zu unterwerfen und dienstbar zu machen, also
daß ihre Selbständigkeit ein schlimmes Ende nähme. Sie gab ihm dies
auch mit höhnischen Blicken zu verstehen, während sie fortfuhr, so
still als möglich sich von ihm loszumachen, was er nur mit vermehrter
Kraft und Eindringlichkeit erwiderte. Auf diese Weise rang sie mit dem
starken Gesellen eine gute Weile hin und her, ohne daß es dem einen
oder andern Teile gelang, weiter zu kommen, während nur zuweilen der
erschütterte Tisch oder ein unterdrückter zorniger Ausruf oder ein
Seufzer ein Geräusch verursachte, und so schwebte die brave Frau
peinvoll zwischen ihrer in der Kammer dreifach schlafenden Sorge und
zwischen dem heißen Anstürmen des wachen Lebens. Sie war kaum dreißig
Jahre alt und schon seit einigen Jahren von ihrem Manne verlassen und
ihr Blut floß so rasch und warm, wie eines; was Wunder, daß sie daher
endlich einen Augenblick innehielt und tief aufseufzte, und daß ihr in
diesem Augenblick der Zweifel durch den Kopf ging, ob es sich auch der
Mühe lohne, so treu und ausdauernd in Entbehrung und Arbeit zu sein,
und ob nicht das eigene Leben am Ende die Hauptsache und es klüger
sei, zu tun wie die andern und, nicht dem verwegenen und frechen
Andringling, sondern sich selbst zu gewähren, was ihr Lust und
Erfrischung bieten könne; die Dinge gingen zu Seldwyla vielleicht so
oder so ihren Weg! Indem sie einen Augenblick dies bedachte, zitterten
ihre Hände in denjenigen des Werkführers, und nicht sobald fühlte
dieser solche liebliche Änderung des Wetters, als er seine
Anstrengungen erneuerte und vielleicht trotz der abermaligen Gegenwehr
der tapfern Frau gesiegt haben würde, wenn nicht jetzt eine
unerwartete Hilfe erschienen wäre.

Denn mit dem bangen, zornigen Ausruf: „Mutter! Es ist ein Dieb da!"
sprang der jüngste Knabe, der kleine Fritzchen, in die Stube und glich
vollständig einem kleinen Sankt Georg. Seine goldenen Ringellocken
flogen um das vom Schlafe gerötete Gesicht; feurig blickten aber die
blauen Augen in lieblichem Zorn und mutig warf sich der trotzige Mund
auf. Das kurze schneeige Hemdchen flatterte wie die Tunika eines
Kreuzfahrers und in den nackten Ärmchen schwang der kleine Rittersmann
eine lange Gardinenstange mit dickem vergoldeten Knopf, den er auch
mit aller erdenklichen Kraft dem aufspringenden Werkmeister auf den
Kopf schlug, daß sich dieser die entstehende Beule verlegen rieb und
ihm ordentlich die Augen übergingen. Frau Amrain aber hielt den Knaben
auf, tief errötend, und rief: „Was ist dir denn, Fritzchen? Es ist ja
nur der Florian und tut uns nichts!" Der Knabe fing bitterlich an zu
weinen, sich voll Verlegenheit an die Knie der Mutter klammernd; diese
hob ihn auf den Arm und das Kind an sich drückend, entließ sie mit
einem kaum verhaltenen Lachen den verblüfften Florian, der, obgleich
er den Kleinen gern geohrfeigt hätte, gute Miene zum bösen Spiel
machte und sich verlegen zurückzog. Sie riegelte die Tür rasch hinter
ihm zu; dann stand sie tief aufatmend und nachdenklich mitten in der
Stube, das tapfere Kind auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um
ihren Hals schlang und mit dem rechten Händchen die lange Stange mit
dem glänzenden Knopf, die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Boden
stemmte. Dann sah sie aufmerksam in das nahe Gesicht des Kindes und
bedeckte es mit Küssen, und endlich ergriff sie abermals die Lampe und
ging in die Kammer, um nach den beiden ältesten Knaben zu sehen.
Dieselben schliefen wie Murmeltiere und hatten von allem nichts
gehört. Also schienen sie Nachtmützen zu sein, obschon sie ihr selbst
glichen; der Jüngste aber, der dem Vater glich, hatte sich als
wachsam, feinfühlend und mutvoll erwiesen, und schien das werden zu
wollen, was der Alte eigentlich sein sollte und was sie einst auch
hinter ihm gesucht. Indem sie über dies geheimnisvolle Spiel der Natur
nachdachte und nicht wußte, ob sie froh sein sollte, daß das Abbild
des einst geliebten Mannes besser schien, als ihre eigenen so träge
daliegenden Bilder, legte sie das Kind in sein Bettchen zurück, deckte
es zu und beschloß, von Stund an alle ihre Treue und Hoffnung auf den
kleinen Sankt Georg zu setzen und ihm seine junge Ritterlichkeit zu
vergelten. „Wenn die zwei Schlafkappen," dachte sie, „welche
nichtsdestominder meine Kinder sind, dann auch mitgehen wollen auf
einem guten Wege, so mögen sie es tun."

Am nächsten Morgen schien Fritzchen den Vorfall schon vergessen zu
haben, und so alt auch die Mutter und der Sohn wurden, so ward doch
nie mehr mit einer Silbe desselben erwähnt zwischen ihnen. Der Sohn
behielt ihn nichtsdestoweniger in deutlicher Erinnerung, obgleich er
viel spätere Erlebnisse mit der Zeit gänzlich vergaß. Er erinnerte
sich genau, schon bei dem Eintritte des Werkmeisters erwacht zu sein,
da er trotz eines gesunden Schlafes alles hörte und ein wachsames
Bürschchen war. Er hatte sodann jedes Wort der Unterredung, bis sie
bedenklich wurde, gehört, und ohne etwas davon zu verstehen, doch
etwas Gefährliches und Ungehöriges geahnt und war in eine heftige
Angst um seine Mutter verfallen, so daß er, als er das leise Ringen
mehr fühlte als hörte, aufsprang, um ihr zu helfen. Und dann, wer
verfolgt die geheimen Wege der Fähigkeiten, wie sie im Menschenkind
sich verlieren? Als er den Werkführer recht wohl erkannt: wer lehrte
den kleinen Bold die unbewußte blitzschnelle Heuchelei des
Zartgefühles, mit der er sich stellte, als ob er einen Dieb sähe, und
die ihn so unbefangen den Widersacher vor den Kopf schlagen ließ?

Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn so, daß er ein braver
Mann wurde in Seldwyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht
blieben, solange sie lebten. Wie sie dies eigentlich anfing und
bewirkte, wäre schwer zu sagen; denn sie erzog eigentlich so wenig als
möglich und das Werk bestand fast lediglich darin, daß das junge
Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs
und sich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben
immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, wie es
hinwieder einem Tölpel, der selbst nicht lesen kann, schwer fällt, ein
Kind lesen zu lehren. Im ganzen lief ihre Erziehungskunst darauf
hinaus, daß sie das Söhnchen ohne Empfindsamkeit merken ließ, wie sehr
sie es liebte, und dadurch dessen Bedürfnis, ihr immer zu gefallen,
erweckte und so erreichte, daß es bei jeder Gelegenheit an sie dachte.
Ohne dessen freie Bewegungen einzeln zu hindern, hatte sie den Kleinen
viel um sich, so daß er ihre Manieren und ihre Denkungsart annahm und
bald von selbst nichts tat, was nicht im Geschmack der Mutter lag. Sie
hielt ihn stets einfach, aber gut und mit einem gewissen gewählten
Geschmack in der Kleidung: dadurch fühlte er sich sicher, bequem und
zufrieden in seinem Anzuge und wurde nie veranlaßt, an denselben zu
denken, wurde mithin nicht eitel und lernte gar nie die Sucht kennen,
sich besser oder anders zu kleiden, als er eben war. Ähnlich hielt sie
es mit dem Essen; sie erfüllte alle billigen und unschädlichen Wünsche
aller drei Kinder und niemand bekam in ihrem Hause etwas zu essen,
wovon diese nicht auch ihren Teil erhielten; aber trotz aller
Regelmäßigkeit und Ausgiebigkeit behandelte sie die Nahrungsmittel mit
solcher Leichtigkeit und Geringschätzung, daß Fritzchen abermals von
selbst lernte, kein besonderes Gewicht auf dieselben zu legen und,
wenn er satt war, nicht von neuem an etwas unerhört Gutes zu denken.
Nur die entsetzliche Wichtigtuerei und Breitspurigkeit, mit welcher
die meisten guten Frauen die Lebensmittel und deren Bereitung
behandeln, erweckt gewöhnlich in den Kindern jene Gelüstigkeit und
Tellerleckerei, die, wenn sie groß werden, zum Hang nach Wohlleben und
zur Verschwendung wird. Sonderbarerweise gilt durch den ganzen
germanischen Völkerstrich diejenige für die beste und tugendhafteste
Hausfrau, welche am meisten Geräusch macht mit ihren Schüsseln und
Pfannen und nie zu sehen ist, ohne daß sie etwas Eßbares zwischen den
Fingern herumzerrt; was Wunder, daß die Herren Germanen dabei die
größten Esser werden, das ganze Lebensglück auf eine wohlbestellte
Küche gegründet wird und man ganz vergißt, welche Nebensache
eigentlich das Essen auf dieser schnellen Lebensfahrt sei. Ebenso
verfuhr sie mit dem, was sonst von den Eltern mit einer schrecklich
ungeschickten Heiligkeit behandelt wird, mit dem Gelde. Sobald als
tunlich ließ sie ihren Sohn ihren Vermögensstand mitwissen, für sie
Geldsummen zählen und in das Behältnis legen, und sobald er nur
imstande war, die Münzen zu unterscheiden, ließ sie ihm eine kleine
Sparbüchse zu gänzlich freier Verfügung. Wenn er nun eine Dummheit
machte oder eine arge Nascherei beging, so behandelte sie das nicht
wie ein Kriminalverbrechen, sondern wies ihm mit wenig Worten die
Lächerlichkeit und Unzweckmäßigkeit nach. Wenn er etwas entwendete
oder sich aneignete, was ihm nicht zukam, oder einen jener heimlichen
Ankäufe machte, welche die Eltern so sehr erschrecken, machte sie
keine Katastrophe daraus, sondern beschämte ihn einfach und offen als
einen törichten und gedankenlosen Burschen. Desto strenger war sie
gegen ihn, wenn er in Worten oder Gebärden sich unedel und kleinlich
betrug, was zwar nur selten vorkam; aber dann las sie ihm hart und
schonungslos den Text und gab ihm so derbe Ohrfeigen, daß er die
leidige Begebenheit nie vergaß. Dies alles pflegt sonst
entgegengesetzt behandelt zu werden. Wenn ein Kind mit Geld sich
vergeht oder gar etwas irgendwo wegnimmt, so befällt die Eltern und
Lehrer eine ganz sonderbare Furcht vor einer verbrecherischen Zukunft,
als ob sie selbst wüßten, wie schwierig es sei, kein Dieb oder
Betrüger zu werden! Was unter hundert Fällen in neunundneunzig nur die
momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüste des träumerisch
wachsenden Kindes sind, das wird zum Gegenstand eines furchtbaren
Strafgerichtes gemacht und von nichts als Galgen und Zuchthaus
gesprochen. Als ob alle diese lieben Pflänzchen bei erwachender
Vernunft nicht von selbst durch die menschliche Selbstliebe, sogar
bloß durch die Eitelkeit, davor gesichert würden, Diebe und Schelme
sein zu wollen. Dagegen wie milde und freundschaftlich werden da
tausend kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mißgunst, der
Eitelkeit, der Anmaßung, der moralischen Selbstsucht und
Selbstgefälligkeit behandelt und gehätschelt! Wie schwer merken die
wackern Erziehungsleute ein früh verlogenes und verblümtes inneres
Wesen an einem Kinde, während sie mit höllischem Zeter über ein
anderes herfahren, das aus Übermut oder Verlegenheit ganz naiv eine
vereinzelte derbe Lüge gesagt hat. Denn hier haben sie eine greifliche
bequeme Handhabe, um ihr donnerndes: Du sollst nicht lügen! dem
kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu schreien. Wenn
Fritzchen eine solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel
einfach, indem sie ihn groß ansah: „Was soll denn das heißen, du Affe?
Warum lügst du solche Dummheiten? Glaubst du die großen Leute zum
Narren halten zu können? Sei du froh, wenn dich niemand anlügt, und
laß dergleichen Späße!" Wenn er eine Notlüge vorbrachte, um eine
begangene Sünde zu vertuschen, zeigte sie ihm mit ernsten aber
liebevollen Worten, daß die Sache deswegen nicht ungeschehen sei, und
wußte ihm klarzumachen, daß er sich besser befinde, wenn er offen und
ehrlich einen begangenen Fehler eingestehe; aber sie baute keinen
neuen Strafprozeß auf die Lüge, sondern behandelte die Sache ganz
abgesehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, so, daß er das
Zwecklose und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und hierfür zu
stolz wurde. Wenn er dagegen nur die leiseste Neigung verriet, sich
irgend Eigenschaften beizulegen, die er nicht besaß, oder etwas zu
übertreiben, was ihm gut zu stehen schien, oder sich mit etwas zu
zieren, wozu er das Zeug nicht hatte, so tadelte sie ihn mit
schneidenden harten Worten und versetzte ihm selbst einige Knüffe,
wenn ihr die Sache zu arg und widerlich war. Ebenso, wenn sie
bemerkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog, um sich kleine
Vorteile zu erwerben, strafte sie ihn härter, als wenn er ein
erkleckliches Vergehen abgeleugnet hätte.

Diese ganze Erzieherei kostete indessen kaum soviel Worte, als hier
gebraucht wurden, um sie zu schildern, und sie beruhte allerdings mehr
im Charakter der Frau Amrain, als in einem vorbedachten oder gar
angelesenen System. Daher wird ein Teil ihres Verfahrens von Leuten,
die nicht ihren Charakter besitzen, nicht befolgt werden können,
während ein anderer Teil, wie z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern,
mit der Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen Leuten nicht kann
angewendet werden. Denn wo z. B. gar nichts zu essen ist, da wird
dieses natürlich jeden Augenblick zur nächsten Hauptsache, und
Kindern, unter solchen Umständen erzogen, wird man schwer die
Gelüstigkeit abgewöhnen können, da alles Sinnen und Trachten des
Hauses nach dem Essen gerichtet ist. Besonders während der kleineren
Jugend des Knaben war die Erziehungsmühe seiner Mutter sehr gering, da
sie, wie gesagt, weniger mit der Zunge, als mit ihrer ganzen Person
erzog, wie sie leibte und lebte, und es also in einem zu ging mit
ihrem sonstigen Dasein. Sollte man fragen, worin denn bei dieser
leichten Art und Mühelosigkeit ihre besondere Treue und ihr Vorsatz
bestand? so wäre zu antworten: lediglich in der zugewandten Liebe, mit
welcher sich das Wesen ihrer Person dem seinigen einprägte und sie
ihre Instinkte die seinigen werden ließ. Doch blieb die Zeit nicht
aus, wo sie allerdings einige vorsätzliche und kräftige
Erziehungsmaßregeln anwenden mußte, als nämlich der gute Fritz
herangewachsen war und sich für allbereits erzogen hielt, die Mutter
aber erst recht auf der Wacht stand, da es sich nun entscheiden
sollte, ob er in das gute oder schlechte Fahrwasser einlaufen würde.
Es waren nur wenige Momente, wo sie etwas Entscheidendes und
Energisches gegen seine junge Selbständigkeit unternahm, aber jedesmal
zur rechten Zeit und so plötzlich, einleuchtend und bedeutsam, daß es
nie seiner bleibenden Wirkung ermangelte.

Als Fritz bald achtzehn Jahre zählte, war er ein schönes junges
Bürschchen, fein anzusehen mit seinem blonden Haare und seinen blauen
Augen, und von einer großen Selbständigkeit und Sicherheit in allem
was er tat. Er hatte bereits die Leitung des Geschäftes übernommen,
was die Arbeit im Freien betraf, nachdem er schon vom vierzehnten
Jahre an im Steinbruch tüchtig gearbeitet. Er machte ein ernsthaftes
und kluges Gesicht und war dennoch aufgeräumt und guter Dinge, und was
seiner Mutter am besten gefiel, war seine Fähigkeit, mit allen Leuten
umzugehen, ohne ihre Art anzunehmen. Sie hielt ihn nicht ab
auszugehen, wenn es ihm langweilig war zu Hause, und mit anderen
jungen Burschen zu verkehren; aber die scharf Aufmerkende sah mit
Vergnügen, daß er an der Weise der jungen Seldwyler, mit denen er
abwechselnd verkehrte, bald mit diesem, bald mit jenem, keinen
sonderlichen Geschmack gewann, sie überschaute und nur sich etwas mit
ihnen die Zeit vertrieb, wie und solange er es für gut fand. Mit
Vergnügen sah sie auch, daß er sich nicht lumpen ließ und bei Gelagen
manche Flasche zum besten gab, ohne je für sich selbst schlimme Folgen
davonzutragen, und daß er nicht in einen schlimmen oder schimpflichen
Handel verwickelt wurde, obgleich er überall sich zu schaffen machte
und wußte, wie es zugegangen, ohne daß er übrigens ein Duckmäuser und
Aufpasser war. Auch hielt er was auf sich, ohne hochmütig zu sein, und
wußte s ich zu wehren, wenn es galt. Frau Regula war daher guten Mutes
und dachte, das wäre gerade die rechte Weise und ihr Söhnchen sei
nicht auf den Kopf gefallen. Da bemerkte sie, daß er anfing zu
erröten, wenn schöne Mädchen ihm in den Weg kamen, daß er selbst
häßliche Mädchen aufmerksam und kritisch betrachtete und daß er
verlegen wurde, wenn eine hübsche runde und muntere Frau in der Stube
war, während er dieselbe doch heimlicherweise mit den Augen
verschlang. Aus diesen drei Zeichen entnahm sie zwei Dinge: erstens,
daß noch nichts an ihm verdorben sei, zweitens aber, daß wenn eine
Gefahr für ihn vorhanden wäre, auf den breiten Weg der Stadt zu
tölpeln, diese Gefahr nur von seiten der Damen von Seldwyla herkommen
könne, und sie sagte sogleich in ihrem Herzen: Also da willst du
hinaus, du Schuft?

Die Schönen dieser Stadt waren nicht schlimmer gesinnt als ihre Männer
und sie hielten, wenn sie erst zu Jahren kamen, noch manches zusammen,
was diese lieber auch noch zerstreut hätten. Allein, da die Männer
sich gern lustig machten, so wollten sie, solange es ihnen gut erging,
auch nicht zurückbleiben, und bei dem schönen Geschlecht laufen
bekanntlich alle Abirrungen und Unzukömmlichkeiten zuletzt nur auf ein
und dasselbe Ende hinaus, jene alte Geschichte, welche vielfältige
Rückwirkungen auf das Wohl oder Weh der Herren Mitschuldigen mit sich
führt. Sonach ging es auch in dieser Hinsicht zu Seldwyla etwas
lustiger zu, als an anderen Orten.

Wie nun Frau Amrain ihre schwarzen Augen offenhielt und mit zorniger
Bangigkeit aufmerkte, wann und wie man etwa ihr Kind verderben wolle,
ergab sich bald eine Gelegenheit für ihr mütterliches Einschreiten. Es
wurde eine große Hochzeit gefeiert auf dem Rathause und das
neuvermählte Paar gehörte den geräuschvollsten und lustigsten Kreisen
an, die gerade im Flor waren. Wie an anderen Orten der Schweiz, gibt
es an den Hochzeiten zu Seldwyl, wenn Bankett und Ball am Abend
stattfinden, zweierlei Gäste: die eigentlichen geladenen
Hochzeitsgäste und dann die Freunde oder Verwandten dieser, welche
ihnen scherzhafte Hochzeit- oder Tafelgeschenke überbringen mit
allerlei Witzen, Gedichten und Anspielungen. Sie verkleiden sich zu
diesem Ende hin in allerhand lustige Trachten, welche dem zu
überbringenden Geschenk entsprechen, und sind maskiert, indem jeder
seinen Freund oder seine Verwandte aufsucht, sich hinter deren Stuhl
begibt, seine Gabe überreicht und seine Rede hält. Fritz Amrain hatte
sich schon vorgenommen, einem kleinen Bäschen einige Geschenke zu
bringen, und die Mutter nichts dagegen gehabt, da das Mädchen noch
sehr jung und sonst wohlgeartet war. Allein, weniger das Bäschen
lockte ihn, als ein dunkles Verlangen, sich unter den lustigen Damen
von Seldwyl einmal recht herumzutummeln, deren Fröhlichkeit, wenn
viele beisammen waren, ihm schon oft sehr anmutig geschildert worden.
Er war nur noch unschlüssig, welche Verkleidung er wählen sollte, um
auf der Hochzeit zu erscheinen, und erst am Abend entschloß er sich
auf den Rat einiger Bekannten, sich als Frauenzimmer zu kleiden. Seine
Mutter war eben ausgegangen, als er mit diesem lustigen Vorsatz nach
Hause gelaufen kam und denselben sogleich ins Werk setzte. Ohne
Schlimmes zu ahnen, geriet er über den Kleiderschrank seiner Mutter
und warf da so lange alles durcheinander, von einem lachenden
Dienstmädchen unterstützt, bis er die besten und buntesten
Toilettenstücke zusammengesucht und sich angeeignet hatte. Er zog das
schönste und beste Kleid der Mutter an, das sie selbst nur bei
feierlichen Gelegenheiten trug, und wühlte dazu aus den reichlichen
Schachteln Krausen, Bänder und sonstigen Putz hervor. Zum Überfluß
hing er sich noch die Halskette der Mutter um und zog so, aus dem
Gröbsten geputzt, zu seinen Genossen, die sich inzwischen ebenfalls
angekleidet. Dort vollendeten zwei muntere Schwestern seinen Anzug,
indem sie vornehmlich seinen blonden Kopf auf das zierlichste
frisierten und seine Brust mit einem sachgemäßen Frauenbusen
ausschmückten. Indem er so auf seinem Stuhle saß und diese Bemühungen
der wenig schüchternen Mädchen um sich geschehen ließ, errötete er
einmal um das andere und das Herz klopfte ihm vor erwartungsvollem
Vergnügen, während zugleich das böse Gewissen sich regte und ihm
anfing zuzuflüstern, die Sache mochte doch nicht so recht in der
Ordnung sein. Als er daher mit seiner Gesellschaft dem Rathause zuzog,
ein Körbchen mit den Geschenken tragend, sah er so verschämt und
verwirrt aus, wie ein wirkliches Mädchen, und schlug die Augen nieder,
und als er so auf der Hochzeit erschien, erregte er den allgemeinen
Beifall besonders der versammelten Frauen. Während der Zeit war aber
seine Mutter nach Hause zurückgekehrt und sah ihren offenstehenden
Kleiderschrank sowie die Verwüstung, die er in Schachteln und Kästen
angerichtet. Als sie vollends vernahm, zu welchem Ende hin dies
geschehen und daß ihre Hoffnung in Weiberkleidern, und noch dazu in
ihren besten, ausgezogen sei, überfiel sie erst ein großer Zorn, dann
aber eine noch größere Unruhe; denn nichts schien ihr geeigneter,
einen jungen Menschen in das Lotterleben zu bringen, als wenn er in
Weiberkleidern auf eine Seldwyler Hochzeit ging. Sie ließ daher ihr
Abendessen ungenossen stehen und ging eine Stunde lang in der größten
Unruhe umher, nicht wissend, wie sie ihren Sohn den drohenden Gefahren
entreißen sollte. Es widerstrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu lassen
und dadurch zu beschämen; auch fürchtete sie nicht mit Unrecht, daß er
würde zurückgehalten werden oder aus eigenem Willen nicht kommen
dürfte. Und dennoch fühlte sie wohl, wie er durch diese einzige Nacht
auf eine entscheidende Weise auf die schlechte Seite verschlagen
werden könne. Sie entschloß sich endlich kurz, da es ihr nicht Ruhe
ließ, ihren Sohn selbst wegzuholen, und da sie mannigfacher
Beziehungen wegen einen halben Vorwand hatte, selbst etwa ein
Stündchen auf der Hochzeit zu erscheinen, kleidete sie sich rasch um
und wählte einen Anzug, ein wenig besser als der alltägliche und doch
nicht festlich genug, um etwa zu hohe Achtung vor der lustigen
Versammlung zu verraten. So begab sie sich also nach dem Rathaus, nur
von dem Dienstmädchen begleitet, welches ihr eine Laterne vorantrug.
Sie betrat zuerst den Speisesaal; allein die erste Tafel und die
Lustbarkeit mit den Geschenken war schon vorüber und die Überbringer
derselben hatten ihre Masken abgenommen und sich unter die übrigen
Gäste gemischt. In dem Saale war nichts zu sehen als einige
Herrengesellschaften, die teils Karten spielten, teils zechten, und so
stieg sie die Treppe nach einer altertümlichen Galerie hinauf, von wo
man den Saal übersehen konnte, in welchem getanzt wurde. Diese Galerie
war mit allerlei Volk angefüllt, das nicht im Flor war und hier dem
Tanze zusehen durfte wie etwa die Einwohner einer Residenz einer
Fürstenhochzeit. Frau Regula konnte daher unbemerkt den Ball
übersehen, der so ziemlich feierlich vor sich ging und die allgemeine
Lüsternheit und Begehrlichkeit mit seinem steifen und lächerlichen
Zeremoniell zur Not verdeckte. Denn dies hätten die Seldwyler nicht
anders getan; sie huldigten vielmehr dem Spruch: Alles zu seiner Zeit!
und wenn sie mit wenig Mühe das Schauspiel eines nach ihren Begriffen
noblen Balles geben oder genießen konnten, warum sollten sie es
unterlassen?

Fritzchen Amrain aber war unter den Tanzenden nicht zu erblicken, und
je länger ihn seine Mutter mit den Augen suchte, desto weniger fand
sie ihn. Je länger sie ihn aber nicht fand, desto mehr wünschte sie
ihn zu sehen, nicht allein mehr aus Besorgnis, sondern auch um
wirklich zu schauen, wie er sich eigentlich ausnähme und ob er in
seiner Dummheit nicht noch die Lächerlichkeit zum Leichtsinn
hinzugefügt habe, indem er als eine ungeschickt angezogene schlottrige
Weibsperson sich weiß Gott wo herumtreibe? In diesen Untersuchungen
geriet sie auf einen Seitengang der hohen Galerie, welcher mit einem
Fenster endigte, das mit einem Vorhang versehen und bestimmt war,
Licht in eben diesen Gang einzulassen. Das Fenster aber ging in das
kleinere Ratszimmer, ein altes gotisches Gemach, und war hoch an
dessen Wand zu sehen. Wie sie nun jenen Vorhang ein wenig lüftete und
in das tiefe Gemach hinunterschaute, welches durch einen seltsamen
Firlefanz von Kronleuchtern ziemlich schwach erleuchtet war, erblickte
sie eine kleinere Gesellschaft, die da in aller Stille und
Fröhlichkeit sich zu unterhalten schien. Als Frau Regel genauer
hinsah, erkannte sie sieben bis acht verheiratete, Frauen, deren
Männer sie schon in dem Speisesaal hatte spielen sehen zu einem hohen
und prahlerischen Satze. Diese Frauen saßen in einem engen Halbkreise
und vor ihnen ebensoviel junge Männer, die ihnen den Hof machten.
Unter letzteren war Fritz abermals nicht zu finden und seine Mutter
hierüber sehr froh, da der Kreis dieser Damen nichts weniger als
beruhigend anzusehen war. Denn als sie dieselben einzeln musterte,
waren es lauter jüngere Frauen, welche jede auf ihre Weise für
gefährlich galt und in der Stadt, wenn auch nicht eines schlimmen,
doch eines geheimnisvollen Rufes genoß, was bei der herrschenden
Duldsamkeit immer noch genug war. Da saß erstens die nicht häßliche
Adele Anderau, welche üppig und verlockend anzusehen war, ohne daß man
recht wußte, woran es lag, und welche alle jungen Leute jezuweilen mit
halbgeschlossenen Augen so anzublicken wußte in einem windstillen
Augenblick, daß sie einen seltsamen Funken von hoffnungsreichem
Verlangen in ihr Herz schleuderte. Aber zehn derselben ließ sie
schonungslos und mit Aufsehen abziehen, um desto regelmäßiger den
elften in einer sichern Stunde zu beglücken. Da war ferner die
leidenschaftliche Julie Haider, welche ihren Mann öffentlich und vor
so vielen Zeugen als möglich stürmisch liebkoste, die glühendste
Eifersucht auf ihn an den Tag legte und fortwährend der Untreue
anklagte, dies alles solange, bis irgendein dritter den fühllosen
Gatten beneidete und solcher Leidenschaftlichkeit teilhaftig zu werden
trachtete. Da trauerte auch die sanfte Emmeline Ackerstein, welche
eine Dulderin war und von ihrem Manne mißhandelt wurde, weil sie gar
nichts gelernt hatte und das Hauswesen vernachlässigte; diese sah
bleich und schmachtend aus und sank mit Tränen dem in die Arme, der
sie trösten mochte. Auch die schlimme Lieschen Aufdermaur war da,
welche solange Klatschereien und Zänkereien anrichtete, bis irgendein
Aufgebrachter, den sie verleumdet, sie unter vier Augen in die Klemme
brachte und sich an ihr rächte. Dann folgte, außer zwei oder drei
aufgeweckten Wesen, welche ohne weitere Begründungen schlechtweg taten
was sie mochten, die stille Theresa Gut, welche äußerst teilnahmlos
weder rechts noch links sah, niemandem entgegenkam und kaum
antwortete, wenn man sie anredete, welche aber, zufällig in ein
Abenteuer verwickelt und angegriffen, unerwarteterweise lachte wie
eine Närrin und alles geschehen ließ. Endlich saß auch dort das
leichtsinnige Käthchen Amhag, welches immer eine Menge heimlicher
Schulden zu tragen hatte.

Nachdem Frau Amrain die Beschaffenheit dieses weiblichen Kreises
erkannt, wollte sie eben Gott danken, daß ihr Sohn wenigstens auch da
nicht zu erblicken sei, als sie noch eine weibliche Gestalt zwischen
ihnen entdeckte, die sie im ersten Augenblick nicht kannte, obgleich
sie dieselbe schon gesehen zu haben glaubte. Es war ein großes
prächtig gewachsenes Wesen von amazonenhafter Haltung und mit einem
kecken blonden Lockenkopfe, das aber hold verschämt und verliebt unter
den lustigen Frauen saß und von ihnen sehr aufmerksam behandelt wurde.
Beim zweiten Blick erkannte sie jedoch ihren Sohn und ihr violettes
Seidenkleid zugleich und sah, wie trefflich ihm dasselbe saß, und
mußte sich auch gestehen, daß er ganz geschickt und reizend ausgeputzt
sei. Aber im gleichen Augenblicke sah sie auch, wie ihn seine eine
Nachbarin küßte, infolge irgendeines Unterhaltungsspieles, das die
fröhliche Gesellschaft eben beschäftigte, und wie er gleichzeitig die
andere Nachbarin küßte, und nun hielt sie den Zeitpunkt für gekommen,
wo sie ihrem Sohne den Dienst, welchen er ihr als fünfjähriges
Knäblein geleistet, erwidern konnte.

Sie stieg ungesäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die
überraschte Gesellschaft bescheiden und höflich begrüßend. Alles erhob
sich verlegen; denn obgleich sie sattsam durchgehechelt wurde in der
Stadt, so flößte sie doch Achtung ein, wo sie erschien. Die jungen
Männer grüßten sie mit aufrichtig verlegener Ehrerbietung, und um so
aufrichtiger, je wilder sie sonst waren; von den Frauen aber wollte
keine scheinen, als ob sie mit der achtbarsten Frau der Stadt etwa
schlecht stände und nicht mit ihr umzugehen wüßte, weshalb sie sich
mit großem Geräusch um sie drängten, als sie sich von ihrer
Überraschung etwas erholt. Am verblüfftesten war jedoch Fritz, welcher
nicht mehr wußte, wie er sich in dem Kleide seiner Mutter zu gebärden
habe; denn dies war jetzt plötzlich sein erster Schrecken und er bezog
den ernsten Blick, den sie einstweilen auf ihn geworfen, nur auf die
gute Seide dieses Kleides. Andere Bedenken waren noch nicht ernstlich
in ihm aufgestiegen, da in der allgemeinen Lust der Scherz zu
gewöhnlich und erlaubt schien. Als alle sich wieder gesetzt hatten und
nachdem sich Frau Amrain ein Viertelstündchen freundlich mit den
jungen Leuten unterhalten, winkte sie ihren Sohn zu sich und sagte
ihm, er möchte sie nach Hause begleiten, da sie gehen wolle. Als er
sich dazu ganz bereit erklärte, flüsterte sie ihm aber mit strengem
Tone zu: „Wenn ich von einem Weibe will begleitet sein, so konnte ich
die Grete hier behalten, die mir hergeleuchtet hat! Du wirst so gut
sein und erst heimlaufen, um Kleider anzuziehen, die dir besser
stehen, als diese hier!"

Erst jetzt merkte er, daß die Sache nicht richtig sei; tief errötend
machte er sich fort, und als er über die Straße eilte und das
rauschende Kleid ihm so ungewohnt gegen die Füße schlug, während der
Nachtwächter ihm verdächtig nachsah, merkte er erst recht, daß das
eine ungeeignete Tracht wäre für einen jungen Republikaner, in der man
niemandem ins Gesicht sehen dürfe. Als er aber, zu Hause angekommen,
sich hastig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die Mutter allein
unter dem Volke auf dem Rathause sitze, und dieser Gedanke machte ihn
plötzlich und sonderbarerweise so zornig und besorgt um ihre Ehre, daß
er sich beeilte nur wieder hinzukommen und sie abzuholen. Auch glaubte
er ihr einen rechten Ritterdienst damit zu erweisen, daß er so
pünktlich wieder erschien, und alle etwaigen Unebenheiten dadurch aufs
schönste ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl sich der Gesellschaft
und ging ernst und schweigsam neben ihrem Sohne nach Hause. Dort
setzte sie sich seufzend auf ihren gewohnten Sessel und schwieg eine
Weile; dann aber stand sie auf, ergriff das daliegende Staatskleid und
zerriß es in Stücken, indem sie sagte: „Das kann ich nun wegwerfen,
denn tragen werde ich es nie mehr!"

„Warum denn?" sagte Fritz erstaunt und wieder kleinlaut. „Wie werde
ich," erwiderte sie, „ein Kleid ferner tragen, in welchem mein Sohn
unter liederlichen Weibern gesessen hat, selber einem gleichsehend?"
Und sie brach in Tränen aus und hieß ihn zu Bette gehen. „Hoho", sagte
er, als er ging, „das wird denn doch nicht so gefährlich sein." Er
konnte aber nicht einschlafen, da sein Kopf sowohl von der
unterbrochenen Lustbarkeit als auch von den Worten der Mutter
aufgeregt war; es gab also Muße, über die Sache nachzudenken, und er
fand, daß die Mutter einigermaßen recht habe, aber er fand dies nur
insofern, als er selbst die Leute verachtete, mit denen er sich eben
vergnügt hatte. Auch fühlte er sich durch diese Auslegung eher
geschmeichelt in seinem Stolze, und erst, als die Mutter am Morgen und
die folgenden Tage ernst und traurig blieb, kam er dem Grunde der
Sache näher. Es wurde kein Wort mehr darüber gesprochen; aber Fritz
war für einmal gerettet, denn er schämte sich vor seiner Mutter mehr,
als vor der ganzen übrigen Welt.

Während einiger Monate fand sie keine Ursache, neue Besorgnisse zu
hegen, bis eines Tages, als ein blühendes junges Landmädchen sich
einfand, um den Dienst bei ihr nachzusuchen, Fritz dasselbe unverwandt
betrachtete und endlich auf es zutrat und, alles andere vergessend,
ihm die Wangen streichelte. Er erschrak sogleich selbst darüber und
ging hinaus; die Mutter erschrak auch und das Mädchen wurde rot und
zornig und wandte sich, ohne weitern Aufenthalt zu gehen. Als Frau
Amrain dies sah, hielt sie es zurück und nahm es mit einiger
Überredung in ihren Dienst. Nun muß es biegen oder brechen, dachte sie
und fühlte gleichzeitig, daß auf dem bisherigen, bloß verneinenden
Wege dies Blut sich nicht länger meistern ließ. Sie näherte sich
deshalb noch am selben Tage ihrem Sohne, als er mit seinem Vesperbrote
sich unter eine schattige Rebenlaube gesetzt hatte hinter dem Hause,
von wo man zum Teil hinaus in die Ferne sah nach blauen Höhenstrichen,
wo andere Leute wohnten. Sie legte ihren Arm um seine Schultern, sah
ihm freundlich in die Augen und sagte: „Lieber Fritz! Sei mir jetzt
nur noch zwei oder drei Jährchen brav und gehorsam, und ich will dir
das schönste und beste Frauchen verschaffen aus meinem Ort, daß du dir
was darauf einbilden kannst!"

Fritz schlug errötend die Augen nieder, wurde ganz verlegen und
erwiderte mürrisch: „Wer sagt denn, daß ich eine Frau haben wolle?"
„Du sollst aber eine haben!" versetzte sie, „und wie ich sage, eine
von guter und schöner Art; aber nur, wenn du sie verdienst; denn ich
werde mich hüten, eine rechtschaffene Tochter hierher ins Elend zu
bringen!" Damit küßte sie ihren Sohn, wie sie seit undenklicher Zeit
nicht getan, und ging ins Haus zurück.

Es ward ihm aber auf einmal ganz seltsam zumute und von Stund an waren
seine Gedanken auf eine solche gute und schöne Frau gerichtet, und
diese Gedanken schmeichelten ihm so sehr und beschäftigten ihn so
anhaltend, daß er darüber keine Frauensperson in Seldwyla mehr ansah.
Die Zärtlichkeit, mit welcher die Mutter ihm solche Ideen beigebracht,
gab seinen Wünschen eine innigere und edlere Richtung, und er fühlte
sich wohlgeborgen, da man es so gut mit ihm meine. Er wartete aber die
zwei Jahre und die Anstalten seiner Mutter nicht ab, sondern fing
schon in der nächsten Zeit an, an schönen Sonntagen ins Land hinaus zu
gehen und insbesondere in der Heimat der Mutter herumzukreuzen. Er war
bis jetzt kaum einmal dort gewesen und wurde von den Verwandten und
Freunden seiner Mutter um so freundlicher aufgenommen, als sie großes
Wohlgefallen an dem hübschen Jüngling fanden und er zudem eine Art
Merkwürdigkeit war als ein wohlgeratener, fester und nicht
prahlerischer Seldwyler. Er machte sich ordentlich heimisch in jenen
Gegenden, was seine Mutter wohl merkte und geschehen ließ, aber sie
ahnte nicht, daß er, ehe sie es vermutete, schon in bester Form einen
Schatz hatte, der ihm allen von der Mutter ihm gemachten
Vorspiegelungen vollkommen zu entsprechen schien. Als sie davon
erfuhr, machte sie sich dahinter her, voll Besorgnis, wer es sein
möchte, und fand zu ihrer frohen Verwunderung, daß er nun gänzlich auf
einem guten Wege sei; denn sie mußte den Geschmack und das Urteil des
Sohnes nur loben und ebenso dessen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit,
mit welcher er dem erwählten Mädchen anhing, so daß sie sich aller
weitern Zucht und aller Listen endlich enthoben sah.

Diese Klippe war unterdessen kaum glücklich umschifft, als sich eine
andere zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte, und der Frau
Regula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die
Zeit war nun da, wo Fritz, der Sohn, anfing zu politisieren und damit
mehr als durch alles andere in die Gemeinschaft seiner Mitbürger
gezogen wurde. Er war ein liberaler Gesell, wegen seiner Jugend,
seines Verstandes, seines ruhigen Gewissens in Hinsicht seiner
persönlichen Pflichterfüllung und aus anererbtem Mutterwitz. Obgleich
man nach gewöhnlicher oberflächlicher Anschauungsweise etwa hätte
meinen können, Frau Amrain wäre aristokratischer Gesinnung gewesen,
weil sie die meisten Leute verachten mußte, unter denen sie lebte, so
war dem doch nicht also; denn höher und feiner als die Verachtung ist
die Achtung vor der Welt im ganzen. Wer freisinnig ist, traut sich und
der Welt etwas Gutes zu und weiß mannhaft von nichts anderem, als daß
man hierfür einzustehen vermöge, während der Unfreisinn oder der
Konservatismus auf Zaghaftigkeit und Beschränktheit gegründet ist.
Diese lassen sich aber schwer mit wahrer Männlichkeit vereinigen. Vor
tausend Jahren begann die Zeit, da nur derjenige für einen
vollkommenen Helden und Rittersmann galt, der zugleich ein frommer
Christ war; denn im Christentum lag damals die Menschlichkeit und
Aufklärung. Heute kann man sagen: sei einer so tapfer und resolut, als
er wolle, wenn er nicht vermag freisinnig zu sein, so ist er kein
ganzer Mann. Und die Frau Regula hatte, nachdem sie sich einmal an
ihrem Eheherrn so getäuscht, zu strenge Regeln in ihrem Geschmack
betreffs der Mannestugend angenommen, als daß sie eine feste und
sichere Freisinnigkeit daran vermissen wollte. Übrigens, als ihr Mann
um sie geworben, hatte er in allem Flor eines jugendlichen
Radikalismus geglänzt, welchen er freilich mehr in der Weise
handhabte, wie ein Lehrling die erste silberne Sackuhr.

Abgesehen von diesen Geschmacksgründen aber war sie aus einem Orte
gebürtig, wo seit unvordenklichen Zeiten jedermann freisinnig gewesen
und der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit sich als ein
entschlossenes, tatkräftiges und sich gleichbleibendes Bürgernest
hervorgetan, so daß, wenn es hieß: die von So und So haben dies gesagt
oder jenes getan! sie gleich einen ganzen Landstrich mitnahmen und
einen kräftigen Anstoß gaben. Wenn also Frau Amrain in den Fall kam,
ihre Meinung über einen Streit festzustellen, so hörte sie nicht auf
das, was die Seldwyler, sondern auf das, was die Leute ihrer
Jugendheimat sagten, und richtete ihre Gedanken dorthin.

Alles das waren Gründe genug für Fritz, ein guter Liberaler zu sein,
ohne absonderliche Studien gemacht zu haben. Was nun die nächste
Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und die rechtlichen
Handlungen frei sind und die Leute sich das Wetter selbst machen, für
einen politisch Aufgeregten entsteht, nämlich die Gefahr, ein
Müßiggänger und Schenkeläufer zu werden, so war dieselbe zu Seldwyla
allerdings noch größer, als an anderen Schweizerorten, welche mit der
ganzen Alten Welt noch an der gemütlichen ostländischen Weise
festhalten, das Wichtigste in breiter halbträumender Ruhe an den
Quellen des Getränkes oder bei irgendeinem Genusse zu verhandeln und
immer wieder zu verhandeln. Und doch sollte das nicht so sein; denn
ein gutes Glas in fröhlicher Ruhe zu trinken, ist ein Zweck, ein Lohn
oder eine Frucht, und, wenn man das in einem tiefern Sinne nimmt, das
Ausüben politischer Rechte bloß ein Mittel, dazu zu gelangen. Indessen
war für Fritz diese Gefahr nicht beträchtlich, weil er schon zu sehr
an Ordnung und Arbeit gewöhnt war und es ihn gerade zu Seldwyla nicht
reizte, den anderen nachzufahren. Größer war schon die Gefahr für ihn,
ein Schwätzer und Prahler zu werden, der immer das gleiche sagt und
sich selbst gern reden hört; denn in solcher Jugend verführt nichts so
leicht dazu, als das lebendige Empfinden von Grundsätzen und
Meinungen, welche man zur Schau stellen darf ohne Rückhalt, da sie
gemeinnützig sind und das Wohl aller betreffen.

Als er aber wirklich begann, Tag und Nacht von Politik zu sprechen,
ein und dieselbe Sache ewig herumzerrte und jene kindische Manier
annahm, durch blindes Behaupten sich selbst zu betäuben und zu tun,
als ob es wirklich so gehen müsse, wie man wünscht und behauptet, da
sagte seine Mutter ein einzigesmal, als er eben im schönsten Eifer
war, ganz unerwartet: „Was ist denn das für ein ewiges Schwatzen und
Kannegießern? Ich mag das nicht hören! Wenn du es nicht lassen kannst,
so geh auf die Gasse oder ins Wirtshaus, hier in der Stube will ich
den Lärm nicht haben!"

Dies war ein Wort zur rechten Zeit gesprochen; Fritz blieb in seiner
also durchschnittenen Rede ganz verblüfft stecken und wußte gar nichts
zu sagen. Er ging hinaus, und indem er über dies wunderliche Ereignis
nachgrübelte, fing er an sich zu schämen, so daß er erst eine gute
halbe Stunde nachher rot wurde bis hinter die Ohren, von Stund an
geheilt war und seine Politik mit weniger Worten und mehr Gedanken
abzumachen sich gewöhnte. So gut traf ihn der einmalige Vorwurf aus
Frauenmund, ein Schwätzer und Kannegießer zu sein.

Um so größer erwies sich nun die dritte, entgegengesetzte Gefahr, an
übel gewendeter Tatkraft zu verderben. So wetterwendisch nämlich sonst
die Seldwyler in ihren politischen Stimmungen waren, so beharrlich
blieben sie in der Teilnahme an allem Freischaren- und Zuzügerwesen,
und wenn irgendwo in der Nachbarschaft es galt, gewaltsam ein
widerstehendes Regiment zu sprengen, eine schwache Mehrheit
einzuschüchtern oder einer trotzigen ungefügigen Minderheit bewaffnet
beizuspringen, so zog jedesmal, mochte nun die herrschende Stimmung
sein, welche sie wollte, von Seldwyla ein Trupp bewaffneter Leute aus,
nach dem aufgeregten Punkte hin, bald bei Nacht und Nebel auf
Seitenwegen, bald am hellen Tage auf offener Landstraße, je nachdem
ihnen die Luft sicher schien. Denn nichts dünkte sie so ergötzlich,
als bei schönem Wetter einige Tage im Lande herumzustreichen, so
sechzig oder siebenzig, wohlbewaffnet mit feinen Zielgewehren,
versehen mit gewichtigen drohenden Bleikugeln und silbernen Talern,
mittelst letzterer sich in den besetzten Wirtshäusern gütlich zu tun
und mit tüchtigem Hallo, das Glas in der Hand, auf andere Zuzüge zu
stoßen, denen es ebenfalls mehr oder minder Ernst war. Da nun das
Gesetzliche und das Leidenschaftliche, das Vertragsmäßige und das
ursprünglich Naturwüchsige, der Bestand und das Revolutionäre zusammen
erst das Leben ausmachen und es vorwärts bringen, so war hiergegen
nichts zu sagen, als: seht euch vor, was ihr ausrichtet! Nun aber
erfuhren die Seldwyler den eigenen Unstern, daß sie bei ihren Auszügen
immerdar entweder zu früh oder zu spät und am unrechten Orte eintrafen
und gar nicht zum Schusse kamen, wenn sie nicht auf dem Heimwege, der
dann nach mannigfachem Hin- und Herreden und genugsamem Trinken
eingeschlagen wurde, zum Vergnügen wenigstens einige Patronen in die
Luft schossen. Doch dies genügte ihnen, sie waren gewissermaßen dabei
gewesen und es hieß im Lande, die Seldwyler seien auch ausgerückt in
schöner Haltung, lauter Männer mit gezogenen Büchsen und goldenen
Uhren in der Tasche.

Als es das erstemal begegnete, daß Fritz Amrain von einem solchen
Ausrücken hörte und zugleich seines Alters halber fähig war
mitzugehen, lief er, da es soweit eine gute Sache betraf, sogleich
nach Hause, denn es war eben die höchste Zeit und der Trupp im Begriff
aufzubrechen. Zu Hause zog er seine besten Kleider an, steckte
genugsam Geld zu sich, hing seine Patronentasche um und ergriff sein
wohl instand gehaltenes Infanteriegewehr, denn da er bereits ein
ordentlicher und handfester junger Flügelmann war, dachte er nicht
daran, mit einer kostbaren Schützenwaffe zu prahlen, die er nicht zu
handhaben verstand, sondern aufrichtig und emsig sein leichtes Gewehr
zu laden und loszubrennen, sobald er irgend vor den Mann kommen würde;
und er sah sehnsüchtig im Geiste schon nichts anderes mehr, als den
letzten Hügel, die letzte Straßenecke, um welche herumbiegend man den
verhaßten Gegner erblicken und es losgehen würde mit Puffen und
Knallen.

Er nahm nicht das geringste Gepäck mit und verabschiedete sich kaum
bei der Mutter, die ihm aufgebracht und mit klopfendem Herzen, aber
schweigend zusah. „Adieu!" sagte er, „morgen oder übermorgen früh
spätestens sind wir wieder hier!" und ging weg, ohne ihr nur die Hand
zu geben, als ob er nur in den Steinbruch hinausginge, um die Arbeiter
anzutreiben. So ließ sie ihn auch gehen ohne Einwendung, da es ihr
widerstand, den hübschen jungen Burschen von solcher ersten
Mutesäußerung abzuhalten, ehe die Zeit und die Erfahrung ihn selber
belehrt. Vielmehr sah sie ihm durch das Fenster wohlgefällig nach, als
er so leicht und froh dahinschritt. Doch ging sie nicht einmal ganz an
das Fenster, sondern blieb in der Mitte der Stube stehen und schaute
von da aus hin. Übrigens war sie selbst mutigen Charakters und hegte
nicht sonderliche Sorgen, zumal sie wohl wußte, wie diese Auszüge von
Seldwyla abzulaufen pflegten.

Fritz kam denn auch richtig schon am anderen Morgen ganz in der Frühe
wieder an und stahl sich ziemlich verschämt in das Haus. Er war
ermüdet, überwacht, von vielem Weintrinken abgespannt und schlechter
Laune und hatte nicht das mindeste erlebt oder ausgerichtet, außer daß
er seinen feinen Rock verdorben durch das Herumlungern und sein
Geldbeutel geleert war.

Als seine Mutter dies bemerkte und als sie überdies sah, daß er nicht
wie die anderen, die inzwischen auch gruppenweise zurückgeschlendert
kamen, nur die Kleider wechselte, neues Geld zu sich steckte und nach
dem Wirtshause eilte, um da den mißlungenen Feldzug
auseinanderzusetzen und sich nach den ermüdenden Nichttaten zu
stärken, sondern daß er eine Stunde lang schlief und dann schweigend
an seine Geschäfte ging, da ward sie in ihrem Herzen froh und dachte,
dieser merke von selber, was die Glocke geschlagen. Indessen dauerte
es kaum ein halbes Jahr, als sich eine neue Gelegenheit zeigte,
auszuziehen nach einer anderen Seite hin, und die Seldwyler auch
wirklich wieder auszogen. Eine benachbarte Regierung sollte gestürzt
werden, welche sich auf eine ganz kleine Mehrheit eines andächtigen
gutkatholischen Landvolkes stützte. Da aber dies Landvolk seine
andächtige Gesinnung und politische Meinung ebenso handlich, munter
und leidenschaftlich betrieb und bei den Wahlvorgängen ebenso
geschlossen und prügelfertig zusammenhielt, wie die aufgeklärten Gegner,
so empfanden diese einen heftigen und ungeduldigen Verdruß, und es
wurde beschlossen, jenen vernagelten Dummköpfen durch einen mutigen
 Handstreich zu zeigen, wer Meister im Lande sei, und zahlreiche
Parteigenossen umliegender Kantone hatten ihren Zuzug zugesagt, als ob
 ein Hering zu einem Lachs würde, wenn man ihm den Kopf abbeißt und
sagt: dies soll ein Lachs sein! Aber in Zeiten des Umschwunges, wenn ein
neuer Geist umgeht, hat die alte Schale des gewohnten Rechtes keinen
Wert mehr, da der Kern heraus ist, und ein neues Rechtsbewußtsein
muß erst erlernt und angewöhnt werden, damit „rechtlich am längsten
wäre", das heißt, solange der neue Geist lebt und währt, bis er wiederum
veraltet ist und das Auslegen und Zanken um die Schale des Rechtes von
neuem angeht. Als gewohnterweise wieder einige Dutzend Seldwyler
beisammen waren, um als ein tapferes Häuflein auszurücken und der
verhaßten Nachbarregierung vom Amte zu helfen, war Frau Regel Amrain
guter Laune, indem sie dachte, diese bewaffneten Kannegießer wären
diesmal recht angeführt, wenn sie glaubten, daß ihr Sohn mitginge; denn
nach ihren bisherigen Erfahrungen, laut welchen das wackere Blut stets
durch eine einmalige Lehre sich gebessert, mußte es ihm jetzt nicht
einfallen mitzugehen. Aber siehe da! Fritz erschien unversehens; als
sie ihn bei seinen Geschäften glaubte, im Hause, bürstete seine
starken Werkeltagskleider wohl aus und steckte die Bürste nebst
anderen Ausrüstungsgegenständen und einige Wäsche in eine
Reisetasche, welche er umhing, kreuzweise mit der wohlgefüllten
Patrontasche; dann ergriff er abermals sein Gewehr und senkte es zum
Gehen, nachdem er mit dem Daumen einige Male den Hahn hin und her
gezogen, um die Federkraft des Schlosses zu erproben.

„Diesmal", sagte er, „wollen wir die Sache anders angreifen, adieu!"
und so zog er ab, ungehindert von der Mutter, welcher es abermals
unmöglich war, ihn von seinem Tun abzuhalten, da sie Wohl sah, daß es
ihm Ernst war. Um so besorgter war sie jetzt plötzlich und sie
erbleichte einen Augenblick lang, während sie abermals mit
Wohlgefallen seine Entschlossenheit bemerkte. Die Seldwyler Schar
kehrte am nächsten Tage ganz in der alten Weise zurück, ohne noch zu
wissen, wie es auf dem Kampfplatze ergangen; denn da sie die Grenze
ein bißchen überschritten hatten, fanden sie das dasige Ländchen sehr
aufgeregt und die Bauern darüber erbost, daß man solchergestalt auf
ihrem Territorium erscheine, wie zu den Zeiten des Faustrechtes. Sie
stellten jedoch kein Hindernis entgegen, sondern standen nur an den
Wegen mit spöttischen Gesichtern, welche zu sagen schienen, daß sie
die Eindringlinge einstweilen vorwärts spazieren lassen, aber auf dem
Rückwege dann näher ansehen wollten. Dies kam den Seldwylern gar nicht
geheuer vor und sie beschlossen deshalb, das versprochene Eintreffen
anderer Zuzüge abzuwarten, ehe sie weiter gingen. Als diese aber nicht
kamen und ein Gerücht sich verbreitete, der Putsch sei schon vorüber
und günstig abgelaufen, machten sie sich endlich wieder auf den
Rückweg mit Ausnahme des Fritz Amrain, welcher seelenallein und
trotzig verwegen sich von ihnen trennte und mitten durch das
gegnerische Gebiet wegmarschierte auf dessen Hauptstadt zu. Denn er
hatte, indem er seine Gefährten zechen und schwatzen ließ, sich
erkundigt und vernommen, daß ein Häuflein Bursche aus dem Geburtsorte
seiner Mutter einige Stunden von da eintreffen würde, und zu diesen
gedachte er zu stoßen. Er erreichte sie auch ohne Gefährde, weil er
rasch und unbekümmert seinen Weg ging, und drang mit ihnen ungesäumt
vorwärts. Allein die Sache schlug fehl, jene schwankhafte Regierung
behauptete sich für diesmal wieder durch einige günstige Zufälle, und
sobald diese sich deutlich entwickelt, tat sich das Landvolk zusammen,
strömte der Hauptstadt zu in die Wette mit den Freizügern und
versperrte diesen die Wege, so daß Fritz und seine Genossen, noch ehe
sie die Stadt erreichten, zwischen zwei großen Haufen bewaffneter
Bauern gerieten, und, da sie sich mannlich durchzuschlagen gedachten,
ein Gefecht sich unverweilt entspann. So sah sich denn Fritz
angesichts fremder Dorfschaften und Kirchtürme ladend, schießend und
wieder ladend, indessen die Glocken stürmten und heulten über den
verwegenen Einbruch und den Verdruß des beleidigten Bodens auszuklagen
schienen. Wo sich die kleine Schar hinwandte, wichen die Landleute mit
großem Lärm etwas zurück; denn ihre junge Mannschaft war im
Soldatenrock schon nach der Stadt gezogen worden, und was sich hier
den Angreifern entgegenstellte, bestand mehr aus alten und ganz jungen
unerwachsenen Leuten, von Priestern, Küstern und selbst Weibern
angefeuert. Aber sie zogen sich dennoch immer dichter zusammen, und
nachdem erst einige unter ihnen verwundet waren, stellte gerade dieser
dunkle Saum erschreckter alter Menschen, Weiber und Priester, die sich
zusammen den Landsturm nannten, das aufgebrachte und beleidigte Gebiet
vor und die Glocken schrien den Zorn über alles Getöse hinweg weit in
das Land hinaus. Aber der drohende Saum zog sich immer enger und enger
um die fechtenden Parteigänger, einige entschlossene und erfahrene
Alte gingen voran, und es dauerte nicht mehr lange, so waren die
Freischärler gefangen. Sie ergaben sich ohne weiteres, als sie sahen,
daß sie alles gegen sich hatten, was hier wohnte. Wenn man im offenen
Kriege vom Reichsfeind gefangen wird, so ist das ein Unstern wie ein
anderer und kränkt den Mann nicht tiefer; aber von seinen Mitbürgern
als ein gewalttätiger politischer Widersacher gefangen zu werden, ist
so demütigend und kränkend, als irgend etwas auf Erden sein kann. Kaum
waren sie entwaffnet und von dem Volke umringt, als alle möglichen
Ehrentitel auf sie niederregneten: Landfriedenbrecher, Freischärler,
Räuber, Buben waren noch die mildesten Ausrufe, die sie zu hören
bekamen. Zudem wurden sie von vorn und hinten betrachtet wie wilde
Tiere, und je solider sie in ihrer Tracht und Haltung aussahen, desto
erboster schienen die Bauern darüber zu werden, daß solche Leute
solche Streiche machten.

So hatten sie nun nichts weiter zu tun, als zu stehen oder zu gehen,
wo und wie man ihnen befahl, hierhin, dorthin, wie es dem vielköpfigen
Souverän beliebte, welchem sie sein Recht hatten nehmen wollen. Und er
übte es jetzt in reichlichem Maße aus und es fehlte nicht an Knüffen
und Püffen, wenn die Herren Gefangenen sich trotzig zeigten oder nicht
gehorchen wollten. Jeder schrie ihnen eine gute Lehre zu: „Wäret ihr
zu Hause geblieben, so brauchtet ihr uns nicht zu gehorchen! Wer hat
euch hergerufen? Da ihr uns regieren wolltet, so wollen wir nun euch
auch regieren, ihr Spitzbuben! Was bezieht ihr für Gehalt für euer
Geschäft, was für Sold für euer Kriegswesen? Wo habt ihr eure
Kriegskasse und wo euren General? Pflegt ihr oft auszuziehen ohne
Trompeter, so in der Stille? Oder habt ihr den Trompeter
heimgeschickt, um euren Sieg zu verkünden? Glaubtet ihr, die Luft in
unserm Gebiet sei schlechter als eure, da ihr kamet, sie mit
Bleikugeln zu peitschen? Habt ihr schon gefrühstückt, ihr Herren? Oder
wollt ihr ins Gras beißen? Verdienen würdet ihr es wohl! Habt ihr
geglaubt, wir hätten hier keinen ordentlichen Staat, wir stellten gar
nichts vor in unserem Ländchen, daß ihr da rottenweise herumstreicht
ohne Erlaubnis? Wolltet ihr Füchse fangen oder Kaninchen? Schöne
Bundesgenossen, die uns mit dem Schießprügel in der Hand unser gutes
Recht stellen wollen! Ihr könnt euch bei denen bedanken, die euch
hergerufen; denn man wird euch eine schöne Mahlzeit anrichten! Ihr
dürfet einstweilen unsere Zuchthauskost versuchen; es ist eine ganz
entschiedene Majorität von gesunden Erbsen, gewürzt mit dem Salze
eines handlichen Strafgesetzes gegen Hochverrat, und wenn ihr Jahr und
Tag gesessen habt, so wird man euch erlauben, zur Feier eures
glorreichen Einzuges auch eine kleine Minorität von Speck zu
überwältigen, aber beißt euch alsdann die Zähne nicht daran aus! Es
geht allerdings nichts über einen gesunden Spaziergang und ist
zuträglich für die Gesundheit, insbesondere wenn man keine regelmäßige
Arbeit und Bewegung zu haben scheint; aber man muß sich doch immer in
acht nehmen, wo man spazieren geht, und es ist unhöflich, mit dem Hut
auf dem Kopfe in eine Kirche und mit dem Gewehr in der Hand in ein
friedfertiges Staatswesen hereinzuspazieren! Oder habt ihr geglaubt,
wir stellen keinen Staat vor, weil wir noch Religion haben und unsere
Pfaffen zu ehren belieben? Dieses gefällt uns einmal so, und wir
wohnen gerade so lang im Lande, als ihr, ihr Maulaffen, die ihr nun
dasteht und euch nicht zu helfen wißt!"

So tönte es unaufhörlich um sie her, und die Beredsamkeit der Sieger
war um so unerschöpflicher, als sie das gleiche, dessen sie ihre
Gegner nun anklagten, entweder selbst schon getan oder es jeden
Augenblick zu tun bereit waren, wenn die Umstände und die persönliche
Rüstigkeit es erlaubten, gleich wie ein Dieb die beredteste Entrüstung
verlauten läßt, wenn ein Kleinod, das er selbst gestohlen, ihm
abermals entfremdet wird. Denn der Mensch trägt die unbefangene
Schamlosigkeit des Tieres geradeswegs in das moralische Gebiet hinüber
und gebärdet sich da im guten Glauben an das nützliche Recht seiner
Willkür so naiv, wie die Hündlein auf den Gassen. Die gefangenen
Freischärler mußten indessen alles über sich ergehen lassen und waren
nur bedacht, durch keinerlei Herausforderung eine körperliche
Mißhandlung zu veranlassen. Dies war das einzige, was sie tun konnten
und die Älteren und Erfahreneren unter ihnen ertrugen das Übel mit
möglichstem Humor, da sie voraussahen, daß die Sache nicht so
gefährlich abliefe, als es schien. Der eine oder andere merkte sich
ein schimpfendes Bäuerlein, das in seinem Laden etwa eine Sense oder
ein Maß Kleesamen gekauft und schuldig geblieben war, und gedachte,
demselben seinerzeit seine beißenden Anmerkungen mit Zinsen
zurückzugeben, und wenn ein solches Bäuerlein solchen Blick bemerkte
und den Absender erkannte, so hörte es darum nicht plötzlich auf zu
schelten, aber richtete unvermerkt seine Augen und seine Worte
anderswohin in den Haufen und verzog sich allmählich hinter die Front;
so gemütlich und seltsam spielen die Menschlichkeiten durcheinander.
Fritz Amrain aber war im höchsten Grade niedergeschlagen und trostlos.
Zwei oder drei seiner Gefährten waren gefallen und lagen noch da,
andere waren verwundet und er sah den Boden um sich her mit Blut
gefärbt; sein Gewehr und seine Taschen waren ihm abgenommen, ringsum
erblickte er drohende Gesichter, und so war er plötzlich aus seiner
bedachtlosen und fieberhaften Aufregung erwacht, der Sonnenschein des
lustigen Kampftages war verwischt und verdunkelt, das lustige Knallen
der Schüsse und die angenehme Musik des kurzen Gefechtslärmens
verklungen, und als nun gar endlich die Behörden oder
Landesautoritäten sich hervortaten aus dem Wirrsal und eine trockene
geschäftliche Einteilung und Abführung der Gefangenen begann, war es
ihm zumute wie einem Schulknaben, welcher aus einer mutwilligen
Herrlichkeit, die ihm für die Ewigkeit gegründet und höchst rechtmäßig
schien, unversehens von dem häßlichsten Schulmeister aufgerüttelt und
beigesteckt wird, und der nun in seinem Gram alles verloren und das
Ende der Welt herbeigekommen wähnt. Er schämte sich, ohne zu wissen
vor wem, er verachtete seine Feinde und war doch in ihrer Hand. Er war
begeistert gewesen, gegen sie auszuziehen, und doch waren sie jetzt in
jeder Hinsicht in ihrem Rechte; denn selbst ihre Beschränktheit oder
ihre Dummheit war ihr gutes rechtliches Eigentum und es gab kein
Mandat dagegen, als dasjenige des Erfolges, der nun leider
ausgeblieben war. Die leidenschaftlich erbosten Gesichter aller dieser
bejahrten und gefurchten Landleute, welche auf ihren gefundenen Sieg
trotzten, traten ihm in seiner helldunklen Trostlosigkeit mit einer
seltsamen Deutlichkeit vor die Augen; überall, wo er durchgeführt
wurde, gab es neue Gesichter, die er nie gesehen, die er nicht einzeln
und nicht mit Willen ansah, und die sich ihm dennoch scharf und
trefflich beleuchtet einprägten als ebenso viele Vorwürfe,
Beleidigungen und Strafgerichte. Je näher der Zug der Gefangenen der
Stadt kam, desto lebendiger wurde es; die Stadt selbst war mit
Soldaten und bewaffneten Landleuten angefüllt, welche sich um die neu
befestigte Regierung scharten, und die Gefangenen wurden im Triumphe
durchgeführt. Von der Opposition, welche gestern noch so mächtig
gewesen, daß sie um die Herrschaft ringen konnte, und sich bewegte,
wie es ihr gefiel, war nicht die leiseste Spur mehr zu erblicken; es
war eine ganz andere grobe und widerstehende Welt, als sich Fritz
gedacht hatte, welche sich für unzweifelhaft und aufs beste begründet
ausgab und nur verwundert schien, wie man sie irgend habe in Frage
stellen und angreifen können. Denn jeder tanzt, wenn seine Geige
gestrichen wird, und wenn viele Menschen zusammen sich was einbilden,
so blähet sich eine Unendlichkeit in dieser Einbildung. Endlich aber
waren die Gefangenen in Türmen und andern Baulichkeiten untergebracht,
alle schon bewohnt von ähnlichen Unternehmungslustigen, und so befand
sich auch Fritz hinter Schloß und Riegel und war es erklärlich, daß er
nicht mit den Seldwylern zurückgekehrt war. Diese rächten sich für
ihren mißlungenen Zug dadurch, daß sie den sieghaften Gegnern auf der
Stelle die abscheulichste und rücksichtsloseste Rachsucht zuschrieben
und daß jeder, der entkommen war, es als für gewiß annahm, die
Gefangenen würden erschossen werden. Es gab Leute, die sonst nicht
ganz unklug waren, welche allen Ernstes glaubten und wieder sagten,
daß die fanatisierten Bauern gefangene Freischärler zwischen zwei
Bretter gebunden und entzweigesägt oder auch etliche derselben
gekreuzigt hätten.

Sobald Frau Regula diese Übertreibungen und dies unmäßige Mißtrauen
vernahm, verlor sie die Hälfte des Schreckens, welchen sie zuerst
empfunden, da die Torheit der Leute ihren Einfluß auf die
Wohlbestellten immer selbst reguliert und unschädlich macht. Denn
hätten die Seldwyler nur etwa die Befürchtung ausgesprochen, die
Gefangenen könnten vielleicht wohl erschossen werden nach dem
Standrecht, so wäre sie in tödlicher Besorgnis geblieben; als man aber
sagte, sie seien entzweigesägt und gekreuzigt, glaubte sie auch jenes
nicht mehr. Dagegen erhielt sie bald einen kurzen Brief von ihrem
Sohne, laut welchem er wirklich eingetürmt war und sie um die
sofortige Erlegung einer Geldbürgschaft bat, gegen welche er entlassen
würde. Mehrere Kameraden seien schon auf diese Weise freigegeben
worden. Denn die sieghafte Regierung war in großen Geldnöten und
verschaffte sich auf diese Weise einige willkommene außerordentliche
Einkünfte, da sie nachher nur die hinterlegten Summen in ebenso viele
Geldbußen zu verwandeln brauchte. Frau Amrain steckte den Brief ganz
vergnügt in ihren Busen und begann gemächlich und ohne sich zu
übereilen, die erforderlichen Geldmittel beizubringen und
zurechtzulegen, so daß wohl acht Tage vergingen, ehe sie Anstalt
machte, damit abzureisen. Da kam ein zweiter Brief, welchen der Sohn
Gelegenheit gefunden, heimlich abzuschicken und worin er sie beschwor,
sich ja zu eilen, da es ganz unerträglich sei, seinen Leib dergestalt
in der Gewalt verhaßter Menschen zu sehen. Sie wären eingesperrt wie
wilde Tiere, ohne frische Luft und Bewegung, und müßten Habermus und
Erbsenkost aus einer hölzernen Bütte gemeinschaftlich essen mit
hölzernen Löffeln. Da schob sie lächelnd ihre Abreise noch um einige
Tage auf, und erst als der eingepferchte Tatkräftige volle vierzehn
Tage gesessen, nahm sie ein Gefährt, packte die Erlösungsgelder nebst
frischer Wäsche und guten Kleidern ein und begab sich auf den Weg. Als
sie aber ankam, vernahm sie, daß ehestens eine Amnestie ausgesprochen
würde über alle, die nicht ausgezeichnete Rädelsführer seien, und
besonders über die Fremden, da man diese nicht unnütz zu füttern
gedachte und jetzt keine eingehenden Gelder mehr erwartete. Da blieb
sie noch zwei oder drei Tage in einem Gasthofe, bereit, ihren Sohn
jeden Augenblick zu erlösen, der übrigens seiner Jugend wegen nicht
sehr beachtet wurde. Die Amnestie würde auch wirklich verkündet, da
diesmal die siegende Partei aus Sparsamkeit die wahre Weise befolgte:
im Siege selbst, und nicht in der Rache oder Strafe, ihr Bewußtsein
und ihre Genugtuung zu finden. So fand denn der verzweifelte Fritz
seine Mutter an der Pforte des Gefängnisses seiner harrend. Sie
speiste und tränkte ihn, gab ihm neue Kleider und fuhr mit ihm nebst
der geretteten Bürgschaft von dannen. Als er sich nun wohlgeborgen und
gestärkt neben seiner Mutter sah, fragte er sie, warum sie ihn denn so
lange habe sitzen lassen? Sie erwiderte kurz und ziemlich vergnügt,
wie ihm schien, daß das Geld eben nicht früher wäre aufzutreiben
gewesen. Er kannte aber den Stand ihrer Angelegenheiten nur zu wohl
und wußte genau, wo die Mittel zu suchen und zu beziehen waren. Er
ließ also diese Ausflucht nicht gelten und fragte abermals. Sie
meinte, er möchte sich nur zufrieden geben, da er durch sein Sitzen in
dem Turme ein gutes Stück Geld verdient und überdies Gelegenheit
erhalten, eine schöne Erfahrung zu machen. Gewiß habe er diesen oder
jenen vernünftigen Gedanken zu fassen die Muße gehabt. „Du hast mich
am Ende absichtlich stecken lassen," erwiderte er und sah sie groß an,
„und hast mir in deinem mütterlichen Sinne das Gefängnis förmlich
zuerkannt?" Hierauf antwortete sie nichts, sondern lachte laut und
lustig in dem rollenden Wagen, wie er sie noch nie lachen gesehen. Als
er hierauf nicht wußte, welches Gesicht er machen sollte, und seltsam
die Nase rümpfte, umhalste sie ihn noch lauter lachend und gab ihm
einen Kuß. Er sagte aber kein Wort mehr, und es zeigte sich von nun
an, daß er in dem Gefängnis in der Tat etwas gelernt habe.

Denn er hielt sich in seinem Wesen jetzt viel ernster und
geschlossener zusammen und geriet nie wieder in Versuchung, durch eine
unrechtmäßige oder leichtsinnige Tatlust eine Gewalt herauszufordern
und seine Person in ihre Hand zu geben zu seiner Schmach und niemand
zu Nutzen. Er nahm sich nicht gerade vor, nie mehr auszuziehen, da die
Ereignisse nicht zum voraus gezählt werden können und niemand seinem
Blut gebieten kann, stille zu stehn, wenn es rascher fließt; aber er
war nun sicher vor jeder nur äußerlichen und unbedachten Kampflust.
Diese Erfahrung wirkte überhaupt dermaßen auf den jungen Mann, daß er
mit verdoppeltem Fortschritt an Tüchtigkeit in allen Dingen zuzunehmen
schien und den Sachen schon mit voller Männlichkeit vorstand, als er
kaum zwanzig Jahre alt war. Frau Amrain gab ihm deswegen nun die junge
Frau, welche er wünschte, und nach Verlauf eines Jahres, als er
bereits ein kleines hübsches Söhnchen besaß, war er zwar immer
wohlgemut, aber um so ernsthafter und gemessener in seinen fleißigen
Geschäften, als seine Frau lustig, voll Gelächter und guter Dinge war;
denn es gefiel ihr über die Maßen in diesem Hause und sie kam
vortrefflich mit ihrer Schwiegermutter aus, obgleich sie von dieser
verschieden und wieder eine andere Art von gutem Charakter war.

So schien nun das Erziehungswerk der Frau Regula auf das beste
gekrönt, um der Zukunft mit Ruhe entgegenzusehen; denn auch die beiden
älteren Söhne, welche zwar trägen Wesens, aber sonst gutartig waren,
hatte sie hinter dem wackeren Fritz her leidlich durchgeschleppt, und
als dieselben herangewachsen, die Vorsicht gebraucht, sie in anderen
Städten in die Lehre zu geben, wo sie denn auch blieben und ihr
ferneres Leben begründeten als ziemlich bequemliche, aber sonst
ordentliche Menschen, von denen nachher so wenig zu sagen war, wie
vorher.

Fritz aber, da er bereits ein würdiger Familienvater war, mußte doch
noch einmal in die Schule genommen werden von der Mutter, und zwar in
einer Sache, um die sich manche Mutter vom gemeinen Schlage wenig
bekümmert hätte. Der Sohn war ungefähr zwei Jahre schon verheiratet,
als das Ländchen, welchem Seldwyla angehörte, seinen obersten
maßgebenden Rat neu zu bestellen und deshalben die vierjährigen Wahlen
vorzunehmen hatte, infolge deren denn auch die verwaltenden und
richterlichen Behörden bestellt wurden. Bei den letzten Hauptwahlen
war Fritz noch nicht stimmfähig gewesen und es war jetzt das erstemal,
wo er dergleichen beiwohnen sollte. Es war aber eine große Stille im
Lande. Die Gegensätze hatten sich einigermaßen ausgeglichen und die
Parteien einander abgeschliffen; es wurde in allen Ecken fleißig
gearbeitet, man lichtete die alten Winkeleien in der Gesetzsammlung
und machte fleißig neue, gute und schlechte, bauete öffentliche Werke,
übte sich in einer geschickten Verwaltung ohne Unbesonnenheit, doch
auch ohne Zopf, und ging darauf aus, jeden an seiner Stelle zu
verwenden, die er verstand und treulich versah, und endlich gegen
jedermann artig und gerecht zu sein, der es in seiner Weise gut meinte
und selbst kein Zwinger und Hasser war. Dies alles war nun den
Seldwylern höchst langweilig, da bei solcher stillgewordenen
Entwicklung keine Aufregung stattfand. Denn Wahlen ohne Aufregung,
ohne Vorversammlungen, Zechgelage, Reden, Aufrufe, ohne Umtriebe und
heftige schwankende Krisen, waren ihnen so gut wie gar keine Wahlen,
und so war es diesmal entschieden schlechter Ton zu Seldwyla, von den
Wahlen nur zu sprechen, wogegen sie sehr beschäftigt taten mit
Errichtung einer großen Aktienbierbrauerei und Anlegung einer
Aktienhopfenpflanzung, da sie plötzlich auf den Gedanken gekommen
waren, eine solche stattliche Bieranstalt mit weitläufigen guten
Kellereien, Trinkhallen und Terrassen werde der Stadt einen neuen
Aufschwung geben und dieselbe berühmt und vielbesucht machen. Fritz
Amrain nahm an diesen Bestrebungen eben keinen Anteil, allein er
kümmerte sich auch wenig um die Wahlen, so sehr er sich vor vier
Jahren gesehnt hatte, daran teilzunehmen. Er dachte sich, da alles gut
ginge im Lande, so sei kein Grund, den öffentlichen Dingen
nachzugehen, und die Maschine würde deswegen nicht stille stehen, wenn
er schon nicht wähle. Es war ihm unbequem, an dem schönen Tage in der
Kirche zu sitzen mit einigen alten Leuten; und, wenn man es recht
betrachtete, schien sogar ein Anflug von philisterhafter
Lächerlichkeit zu kleben an den diesjährigen Wahlen, da sie eine gar
so stille und regelmäßige Pflichterfüllung waren. Fritz scheuete die
Pflicht nicht; wohl aber haßte er nach Art aller jungen Leute kleinere
Pflichten, welche uns zwingen, zu ungelegener Stunde den guten Rock
anzuziehen, den besseren Hut zu nehmen und uns an einen höchst
langweiligen oder trübseligen Ort hinzubegeben, als wie ein Taufstein,
ein Kirchhof oder ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt gerade
diese Weise der Seldwyler, die sie nun angenommen, für unerträglich
und unverschämt, und weil eben niemand hinging, so wünschte sie
doppelt, daß ihr Sohn es täte. Sie steckte es daher hinter seine Frau
und trug dieser auf, ihn zu überreden, daß er am Wahltage ordentlich
in die Versammlung ginge und einem tüchtigen Manne seine Stimme gebe,
und wenn er auch ganz allein stände mit derselben. Allein mochte nun
das junge Weibchen nicht die nötige Beredsamkeit besitzen in einer
Sache, die es selber nicht viel kümmerte, oder mochte der junge Mann
nicht gesonnen sein, sich in ihr eine neue Erzieherin zu nähren und
großzuziehen, genug, er ging an dem betreffenden Morgen in aller Frühe
in seinen Steinbruch hinaus und schaffte dort in der warmen Maisonne
so eifrig und ernsthaft herum, als ob an diesem einen Tage noch alle
Arbeit der Welt abgetan werden müßte und nie wieder die Sonne aufginge
hernach. Da ward seine Mutter ungehalten und setzte ihren Kopf darauf,
daß er dennoch in die Kirche gehen solle; und sie band ihre immer noch
glänzend schwarzen Zöpfe auf, nahm einen breiten Strohhut darüber und
Fritzens Rock und Hut an den Arm und wanderte rasch hinter das
Städtchen hinaus, wo der weitläufige Steinbruch an der Höhe lag. Als
sie den langen krummen Fahrweg hinanstieg, auf welchem die Steinlasten
herabgebracht wurden, bemerkte sie, wie tief der Bruch seit zwanzig
Jahren in den Berg hineingegangen, und überschlug das unzweifelhafte
gute Erbtum, das sie erworben und zusammengehalten. Auf verschiedenen
Abstufungen hämmerten zahlreiche Arbeiter, welchen Fritz längst ohne
Werkführer vorstand, und zu oberst, wo grünes Buchenholz die frischen
weißen Brüche krönte, erkannte sie ihn jetzt selbst an seinem weißeren
Hemde, da er Weste und Jacke weggeworfen, wie er mit einem Trüppchen
Leute die Köpfe zusammensteckte über einem Punkte. Gleichzeitig aber
sah man sie und rief ihr zu, sich in acht zu nehmen. Sie duckte sich
unter einen Felsen, worauf in der Höhe nach einer kleinen Stille ein
starker Schlag erfolgte und eine Menge kleiner Steine und Erde rings
herniederregneten. „Da glaubt er nun," sagte sie zu sich selbst, „was
er für Heldenwerk verrichtet, wenn er hier Steine gen Himmel sprengt,
statt seine Pflicht als Bürger zu tun!" Als sie oben ankam und
verschnaufte, schien er, nachdem er flüchtig auf den Rock und Hut
geschielt, den sie trug, sie nicht zu bemerken, sondern untersuchte
eifrig die Löcher, die er eben gesprengt, und fuhr mit dem Zollstock
an den Steinen herum. Als er sie aber nicht mehr vermeiden konnte,
sagte er: „Guten Tag, Mutter! Spazierest ein wenig? Schön ist das
Wetter dazu!" und wollte sich wieder wegmachen. Sie ergriff ihn aber
bei der Hand und führte ihn etwas zur Seite, indem sie sagte: „Hier
habe ich dir Rock und Hut gebracht, nun tu mir den Gefallen und geh zu
den Wahlen! Es ist eine wahre Schande, wenn niemand geht aus der
Stadt!" „Das fehlte auch noch," erwiderte Fritz ungeduldig, „jetzt
abermals bei diesem Wetter in der langweiligen Kirche zu sitzen und
Stimmzettel umherzubieten. Natürlich wirst du dann für den Nachmittag
schon irgendein Leichenbegängnis in Bereitschaft haben, wo ich wieder
mithumpeln soll, damit der Tag ja ganz verschleudert werde! Daß ihr
Weibsleute unsereinen immer an Begräbnisse und Kindertaufen
hinspediert, ist begreiflich; daß ihr euch aber so sehr um die Politik
bekümmert, ist mir ganz etwas Neues!"

„Schande genug," sagte sie, „daß die Frauen euch vermahnen sollen zu
tun, was sich gebührt und was eine verschworene Pflicht und
Schuldigkeit ist!"

„Ei so tue doch nicht so," erwiderte Fritz, „seit wann wird denn der
Staat stille stehn, wenn einer mehr oder weniger mitgeht, und seit
wann ist es denn nötig, daß ich gerade überall dabei bin?"

„Dies ist keine Bescheidenheit, die dies sagt," antwortete die Mutter,
„dies ist vielmehr verborgener Hochmut! Denn ihr glaubt wohl, daß ihr
müßt dabei sein, wenn es irgend darauf ankäme, und nur weil ihr den
gewohnten stillen Gang der Dinge verachtet, so haltet ihr euch für zu
gut, dabei zu sein!"

„Es ist aber in der Tat lächerlich, allein dahin zu gehen," sagte
Fritz, „jedermann sieht einen hingehen, wo dann niemand als die
Kirchenmaus zu sehen ist."

Frau Amrain ließ aber nicht nach und erwiderte: „Es genügt nicht, daß
du unterlassest, was du an den Seldwylern lächerlich findest! Du mußt
außerdem noch tun grade, was sie für lächerlich halten; denn was
diesen Eseln so vorkommt, ist gewiß etwas Gutes und Vernünftiges! Man
kennt die Vögel an den Federn, so die Seldwyler an dem, was sie für
lächerlich halten. Bei allen kleinen Angelegenheiten, bei allen
schlechten Geschichten, eitlen Vergnügungen und Dummheiten, bei allem
Gevatter- und Geschnatterwesen befleißigt man sich der größten
Pünktlichkeit; aber alle vier Jahre einmal sich pünktlich und
vollzählig zu einer Wahlhandlung einzufinden, welche die Grundlage
unsers ganzen öffentlichen Wesens und Regimentes ist, das soll
langweilig, unausstehlich und lächerlich sein! Das soll in dem
Belieben und in der Bequemlichkeit jedes einzelnen stehen, der immer
nach seinem Rechte schreit, aber sobald dies Recht nur ein bißchen
auch nach Pflicht riecht, sein Recht darin sucht, keines zu üben! Wie,
ihr wollt einen freien Staat vorstellen und seid zu faul, alle vier
Jahre einen halben Tag zu opfern, einige Aufmerksamkeit zu bezeigen
und eure Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit dem Regiment, das ihr
vertragsmäßig eingesetzt, zu offenbaren? Sagt nicht, daß ihr immer da
wäret, wenn es sein müßte! Wer nur da ist, wenn es ihn belustigt und
seine Leidenschaft kitzelt, der wird einmal ausbleiben und sich eine
Nase drehen lassen, grade wenn er am wenigsten daran denkt.

Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und so auch der, welcher für
das Wohl des Landes arbeitet und dessen öffentliche Dinge besorgt, die
in jedem Hause in Einrichtungen und Gesetzen auf das tiefste
eingreifen. Schon die alleräußerlichste Artigkeit und Höflichkeit
gegen die betrauten Männer erforderte es, wenigstens an diesem Tage
sich vollzählig einzufinden, damit sie sehen, daß sie nicht in der
Luft stehen. Der Anstand vor den Nachbarn und das Beispiel für die
Kinder verlangen es ebenfalls, daß diese Handlung mit Kraft und Würde
begangen wird, und da finden es diese Helden unbequem und lächerlich,
die gleichen, welche täglich die größte Pünktlichkeit innehalten, um
einer Kegelpartie oder einer nichtssagenden aberwitzigen Geschichte
beizuwohnen.

Wie, wenn nun die sämtlichen Behörden, über solche Unhöflichkeit
erbittert, euch den Sack vor die Tür würfen und auf einmal abtreten
würden? Sag' nicht, daß dies nie geschehen werde! Es wäre doch immer
möglich, und alsdann würde eure Selbstherrlichkeit dastehen, wie die
Butter an der Sonne; denn nur durch gute Gewöhnung, Ordnung und
regelrechte Ablösung oder kräftige Bestätigung ist in Friedenszeiten
diese Selbstherrlichkeit zu brauchen und bemerklich zu machen.
Wenigstens ist es die allerverkehrteste Anwendung oder Offenbarung
derselben, sich gar nicht zu zeigen, warum? weil es ihr so beliebt!

Nimm mir nicht übel, das sind Kindesgedanken und Weibernücken; wenn
ihr glaubt, daß solche Aufführung euch wohl anstehe, so seid ihr im
Irrtum. Aber ihr beneidet euch selbst um die Ruhe und um den Frieden,
und damit die Dinge, obgleich ihr nichts dagegen einzuwenden wißt, und
nur auf alle Fälle hin so ins Blaue hinein schlecht begründet
erscheinen, so wählt ihr nicht oder überlaßt die Handlung den
Nachtwächtern, damit, wie gesagt; vorkommendenfalls von eurem Neste
Seldwyla ausgeschrien werden könne, die öffentliche Gewalt habe keinen
festen Fuß im Volke. Bübisch ist aber dieses und es ist gut, daß eure
Macht nicht weiter reicht, als eure lotterige Stadtmauer!"

„Ihr und immer ihr!" sagte Fritz ungehalten, „was hab' ich denn mit
diesen Leuten zu schaffen? Wenn dieselben solche elende Launen und
Beweggründe haben, was geht das mich an?"

„Gut denn," rief Frau Regel, „so benimm dich auch anders als sie in
dieser Sache und geh' zu den Wahlen!"

„Damit", wandte ihr Sohn lächelnd ein, „man außerhalb sage, der
einzige Seldwyler, welcher denselben beigewohnt, sei noch von den
Weibern hingeschickt worden?"

Frau Amrain legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: „Wenn es
heißt, daß deine Mutter dich hingeschickt habe, so bringt dir dies
keine Schande und mir bringt es Ehre, wenn ein solcher tüchtiger
Gesell sich von seiner Mutter schicken läßt! Ich würde wahrhaftig
stolz darauf sein und du kannst mir am Ende den kleinen Gefallen zu
meinem Vergnügen erweisen, nicht so?"

Fritz wußte hiergegen nichts mehr vorzubringen und zog den Rock an und
setzte den Bürgerhut auf. Als er mit der trefflichen Frau den Berg
hinunterging, sagte er: „Ich habe dich in meinem Leben nie so viel
politisieren hören, wie soeben, Mutter! Ich habe dir so lange Reden
gar nicht zugetraut!"

Sie lachte, erwiderte dann aber ernsthaft: „Was ich gesagt, ist
eigentlich weniger politisch gemeint, als gut hausmütterlich. Wenn du
nicht bereits Frau und Kind hättest, so würde es mir vielleicht nicht
eingefallen sein, dich zu überreden; so aber, da ich ein
wohlerhaltenes Haus von meinem Geblüte in Aussicht sehe, so halte ich
es für ein gutes Erbteil solchen Hauses, wenn darin in allen Dingen
das rechte Maß gehalten wird. Wenn die Söhne eines Hauses beizeiten
sehen und lernen, wie die öffentlichen Dinge auf rechte Weise zu ehren
sind, so bewahrt sie vielleicht gerade dies vor unrechten und
unbesonnenen Streichen. Ferner, wenn sie das eine ehren und
zuverlässig tun, so werden sie es auch mit dem andern so halten, und
so, siehst du, habe ich am Ende nur als fürsichtige häusliche
Großmutter gehandelt, während man sagen wird, ich sei die ärgste alte
Kannegießerin!"

In der Kirche fand Fritz statt einer Zahl von sechs- oder
siebenhundert Männern kaum deren vier Dutzend, und diese waren beinahe
ausschließlich Landleute aus umliegenden Gehöften, welche mit den
Seldwylern zu wählen hatten. Diese Landleute hätten zwar auch eine
sechsmal stärkere Zahl zu stellen gehabt; aber da die Ausgebliebenen
wirklich im Schweiße ihres Angesichts auf den Feldern arbeiteten, so
war ihr Wegbleiben mehr eine harmlose Gedankenlosigkeit und ein
bäuerlicher Geiz mit dem schönen Wetter, und weil sie einen weiten Weg
zu machen hatten, erschien das Dasein der Anwesenden um so löblicher.
Aus der Stadt selbst war niemand da als der Gemeindepräsident, die
Wahlen zu leiten, der Gemeindeschreiber, das Protokoll zu führen, dann
der Nachtwächter und zwei oder drei arme Teufel, welche kein Geld
hatten, um mit den lachenden Seldwylern den Frühschoppen zu trinken.
Der Herr Präsident aber war ein Gastwirt, welcher vor Jahren schon
falliert hatte und seither die Wirtschaft auf Rechnung seiner Frau
fortbetrieb. Hierin wurde er von seinen Mitbürgern reichlich
unterstützt, da er ganz ihr Mann war, das große Wort zu führen wußte
und bei allen Händeln als ein erfahrener Wirt auf dem Posten war. Daß
er aber in Amt und Würden stand und hier den Wahlen präsidierte,
gehörte zu jenen Sünden der Seldwyler, die sich zeitweise so lange
anhäuften, bis ihnen die Regierung mit einer Untersuchung auf den Leib
rückte. Die Landleute wußten teilweise wohl, daß es nicht ganz richtig
war mit diesem Präsidenten, allein sie waren viel zu langsam und zu
häcklich, als daß sie etwas gegen ihn unternommen hätten, und so hatte
er sich bereits in einem Handumdrehen mit seinen drei oder vier
Mitbürgern das Geschäft des Tages zugeeignet, als Fritz ankam. Dieser,
als er das Häuflein rechtlicher Landleute sah, freute sich, wenigstens
nicht ganz allein da zu sein, und es fuhr plötzlich ein unternehmender
Geist in ihn, daß er unversehens das Wort verlangte und gegen den
Präsidenten protestierte, da derselbe falliert und bürgerlich tot sei.

Dies war ein Donnerschlag aus heiterm Himmel. Der ansehnliche Gastwirt
machte ein Gesicht, wie einer, der tausend Jahre begraben lag und
wieder auferstanden ist; jedermann sah sich nach dem kühnen Redner um;
aber die Sache war so kindlich einfach, daß auch nicht ein Laut
dagegen ertönen konnte, in keiner Weise; nicht die leiseste Diskussion
ließ sich eröffnen. Je unerhörter und unverhoffter das Ereignis war,
um so begreiflicher und natürlicher erschien es jetzt, und je
begreiflicher es erschien, um so zorniger und empörter waren die paar
Seldwyler gerade über diese Begreiflichkeit, über sich selbst, über
den jungen Amrain, über die heimtückische Trivialität der Welt, welche
das Unscheinbarste und Naheliegendste ergreift, um Große zu stürzen
und die Verhältnisse umzukehren. Der Herr Präsident Usurpator sagte
nach einer minutenlangen Verblüffung, nach welcher er wieder so klug
wie zu Anfang war, gar nichts, als: „Wenn--wenn man gegen meine Person
Einwendungen--allerdings, ich werde mich nicht aufdringen, so ersuche
ich die geehrte Versammlung, zu einer neuen Wahl des Präsidenten zu
schreiten, und die Stimmenzähler, die betreffenden Stimmzettel
auszuteilen."

„Ihr habt überhaupt weder etwas vorzuschlagen hier, noch den
Stimmenzählern etwas aufzutragen!" rief Fritz Amrain, und dem großen
Magnaten und Gastwirt blieb nichts anderes übrig, als das Unerhörte
abermals so begreiflich zu finden, daß es ans Triviale grenzte, und
ohne ein Wort weiter zu sagen, verließ er die Kirche, gefolgt von dem
bestürzten Nachtwächter und den andern Lumpen. Nur der Schreiber
blieb, um das Protokoll weiterzuführen, und Fritz Amrain begab sich in
dessen Nähe und sah ihm auf die Finger. Die Bauern aber erholten sich
endlich aus ihrer Verwunderung und benutzten die Gelegenheit, das
Wahlgeschäft rasch zu beendigen und statt der bisherigen zwei
Mitglieder zwei tüchtige Männer aus ihrer Gegend zu wählen, die sie
schon lange gerne im Rate gesehen, wenn die Seldwyler ihnen irgend
Raum gegönnt hätten. Dies lag nun am wenigsten im Plane der
nichterschienenen Seldwyler; denn sie hatten sich doch gedacht, daß
ihr Präsident und der Nachtwächter unfehlbar die alten zwei Popanze
wählen würden, wie es auch ausgemacht war in einer flüchtigen
Viertelstunde in irgendeinem Hinterstübchen. Wie erstaunten sie daher,
als sie nun, durch den heimgeschickten falschen Präsidenten
aufgeschreckt, in hellen Haufen dahergerannt kamen und das Protokoll
rechtskräftig geschlossen fanden samt dem Resultat. Ruhig lächelnd
gingen die Landleute auseinander; Fritz Amrain aber, welcher nach
seiner Behausung schritt, wurde von den Bürgern aufgebracht, verlegen
und wild höhnisch betrachtet, mit halbem Blicke oder weit
aufgesperrten Augen. Der eine rief ein abgebrochenes Ha! der andere
ein Ho! Fritz fühlte, daß er jetzt zum ersten Male wirkliche Feinde
habe, und zwar gefährlicher als jene, gegen welche er einst mit Blei
und Pulver ausgezogen. Auch wußte er, da er so unerbittlich über einen
Mann gerichtet, der zwanzig Jahre älter war als er, daß er sich nun
doppelt wehren müsse, selber nicht in die Grube zu fallen, und so
hatte das Leben nun wieder ein ganz anderes Gesicht für ihn, als noch
vor kaum zwei Stunden. Mit ernsten Gedanken trat er in sein Haus und
gedachte, um sich aufzuheitern, seine Mutter zu prüfen, ob ihr diese
Wendung der Dinge auch genehm sei, da sie ihn allein veranlaßt hatte,
sich in die Gefahr zu begeben.

Allein da er den Hausflur betrat, kam ihm seine Mutter entgegen, fiel
ihm weinend um den Hals und sagte nichts als: „Dein Vater ist
wiedergekommen!" Da sie aber sah, daß ihn dieser Bericht noch
verlegener und ungewisser machte, als sie selbst war, faßte sie sich,
nachdem sie den Sohn an sich gedrückt, und sagte: „Nun, er soll uns
nichts anhaben! Sei nur freundlich gegen ihn, wie es einem Kinde
zukommt!" So hatten sich in der Tat die Dinge abermals verändert; noch
vor wenig Augenblicken, da er auf der Straße ging, schien es ihm
höchst bedenklich, sich eine ganze Stadt verfeindet zu wissen, und
jetzt, was war dies Bedenken gegen die Lage, urplötzlich sich einem
Vater gegenüberzusehen, den er nie gekannt, von dem er nur wußte, daß
er ein eitler, wilder und leichtsinniger Mann war, der zudem die ganze
Welt durchzogen während zwanzig Jahren und nun weiß der Himmel welch
ein fremdartiger und erschrecklicher Kumpan sein mochte. „Wo kommt er
denn her? Was will er, wie sieht er denn aus, was will er denn?" sagte
Fritz, und die Mutter erwiderte: „Er scheint irgendein Glück gemacht
und was erschnappt zu haben und nun kommt er mit Gebärden
dahergefahren, als ob er uns in Gnaden auffressen wollte! Fremd und
wild sieht er aus, aber er ist der Alte, das hab' ich gleich gesehen."
Fritz war aber jetzt doch neugierig und ging festen Schrittes die
Treppe hinauf und auf die Wohnstube zu, während die Mutter in die
Küche huschte und auf einem andern Wege fast gleichzeitig in die Stube
trat; denn das dünkte sie nun der beste Lohn und Triumph für alle
Mühsal, zu sehen, wie ihrem Manne der eigne Sohn, den sie erzogen,
entgegentrat. Als Fritz die Türe öffnete und eintrat, sah er einen
großen schweren Mann am Tische sitzen, der ihm wohl er selbst zu sein
schien, wenn er zwanzig Jahre älter wäre. Der Fremde war fein, aber
unordentlich gekleidet, hatte etwas Ruhig-Trotziges in seinem Wesen
und doch etwas Unstetes in seinem Blicke, als er jetzt aufstand und
ganz erschrocken sein junges Ebenbild eintreten sah, hoch aufgerichtet
und nicht um eine Linie kürzer als er selbst. Aber um das Haupt des
Jungen wehten starke goldene Locken, und während sein Angesicht ebenso
ruhig-trotzig dreinsah, wie das des Alten, errötete er bei aller Kraft
doch in Unschuld und Bescheidenheit. Als der Alte ihn mit der
verlegenen Unverschämtheit der Zerfahrenen ansah und sagte: „So wirst
du also mein Sohn sein?" schlug der Junge die Augen nieder und sagte:
„Ja, und Ihr seid also mein Vater? Es freut mich, Euch endlich zu
sehen!" Dann schaute er neugierig empor und betrachtete gutmütig den
Alten; als dieser aber ihm nun die Hand gab und die seinige mit einem
prahlerischen Druck schüttelte, um ihm seine große Kraft und Gewalt
anzukünden, erwiderte der Sohn unverweilt diesen Druck, so daß die
Gewalt wie ein Blitz in den Arm des Alten zurückströmte und den ganzen
Mann gelinde erschütterte. Als aber vollends der Junge nun mit ruhigem
Anstand den Alten zu seinem Stuhle zurückführte und ihn mit
freundlicher Bestimmtheit zu sitzen nötigte, da ward es dem
Zurückgekehrten ganz wunderlich zumut, ein solch wohlgeratenes
Ebenbild vor sich zu sehen, das er selbst und doch wieder ganz ein
anderer war. Frau Regula sprach beinahe kein Wort und ergriff den
klugen Ausweg, den Mann auf seine Weise zu ehren, indem sie ihn
reichlich bewirtete und sich mit dem Vorweisen und Einschenken ihres
besten Weines zu schaffen machte. Dadurch wurde seine Verlegenheit,
als er so zwischen seiner Frau und seinem Sohne saß, etwas gemildert,
und das Loben des guten Weines gab ihm Veranlassung, die Vermutung
auszusprechen, daß es also mit ihnen gut stehen müsse, wie er zu
seiner Befriedigung ersehe, was denn den besten Übergang gab zu der
Auseinandersetzung ihrer Verhältnisse. Frau und Sohn suchten nun nicht
ängstlich zurückzuhalten und heimlich zu tun, sondern sie legten ihm
offen den Stand ihres Hauses und ihres Vermögens dar; Fritz holte die
Bücher und Papiere herbei und wies ihm die Dinge mit solchem Verstand
und Klarheit nach, daß er erstaunt die Augen aufsperrte über die gute
Geschäftsführung und über die Wohlhabenheit seiner Familie. Indessen
reckte er sich empor und sprach: „Da steht ihr ja herrlich im Zeuge
und habt euch gut gehalten, was mir lieb ist. Ich komme aber auch
nicht mit leeren Händen und habe mir einen Pfennig erworben, durch
Fleiß und Rührigkeit!" Und er zog einige Wechselbriefe hervor, sowie
einen mit Gold angefüllten Gurt, was er alles auf den Tisch warf, und
es waren allerdings einige Tausend Gulden oder Taler. Allein er hatte
sie nicht nach und nach erworben und verschwieg weislich, daß er diese
Habe auf einmal durch irgendeinen Glücksfall erwischt, nachdem er sich
lange genug ärmlich herumgetrieben in allen nordamerikanischen
Staaten. „Dies wollen wir", sagte er, „nun sogleich in das Geschäft
stecken und mit vereinten Kräften weiter schaffen; denn ich habe eine
ordentliche Lust, hier, da es nun geht, wieder ans Zeug zu gehen und
den Hunden etwas vorzuspielen, die mich damals fortgetrieben." Sein
Sohn schenkte ihm aber ruhig ein anderes Glas Wein ein und sagte:
„Vater, ich wollte Euch raten, daß Ihr vorderhand Euch ausruhet und es
Euch wohl sein lasset. Eure Schulden sind längst bezahlt und so könnet
Ihr Euer Geldchen gebrauchen, wie es Euch gutdünkt, und ohnedies soll
es Euch an nichts bei uns fehlen! Was aber das Geschäft betrifft, so
habe ich selbiges von Jugend auf gelernt und weiß nun, woran es lag,
daß es Euch damals mißlang. Ich muß aber freie Hand darin haben, wenn
es nicht abermals rückwärts gehen soll. Wenn es Euch Lust macht, hier
und da ein wenig mitzuhelfen und Euch die Sache anzusehen, so ist es
zu Eurem Zeitvertreib hinreichend, daß Ihr es tut. Wenn Ihr aber nicht
nur mein Vater, sondern sogar ein Engel vom Himmel wäret, so würde ich
Euch nicht zum förmlichen Anteilhaber annehmen, weil Ihr das Werk
nicht gelernt habt und, verzeiht mir meine Unhöflichkeit, nicht
versteht!" Der Alte wurde durch diese Rede höchst verstimmt und
verlegen, wußte aber nichts darauf zu erwidern, da sie mit großer
Entschiedenheit gesprochen war und er sah, daß sein Sohn wußte, was er
wollte. Er packte seine Reichtümer zusammen und ging aus, sich in der
Stadt umzusehen. Er trat in verschiedene Wirtshäuser; allein er fand
da ein neues Geschlecht an der Tagesordnung und seine alten Genossen
waren längst in die Dunkelheit verschwunden. Zudem hatte er in Amerika
doch etwas andere Manieren bekommen. Er hatte sich gewöhnen müssen,
sein Gläschen stehend zu trinken, um unverweilt dem Drange und der
einsilbigen Jagd des Lebens wieder nachzugehen; er hatte ein tüchtiges
rastloses Arbeiten wenigstens mit angesehen und sich unter den
Amerikanern ein wenig abgerieben, so daß ihm diese ewige Sitzerei und
Schwätzerei nun selbst nicht mehr zusagte. Er fühlte, daß er in seinem
wohlbestellten Hause doch besser aufgehoben wäre, als in diesen
Wirtshäusern, und kehrte unwillkürlich dahin zurück, ohne zu wissen,
ob er dort bleiben oder wieder fortgehen solle? So ging er in die
Stube, die man ihm eingeräumt; dort warf der alternde Mann seine
Barschaft unmutig in einen Winkel, setzte sich rittlings auf einen
Stuhl, senkte den großen betrübten Kopf auf die Lehne und fing ganz
bitterlich an zu weinen. Da trat seine Frau herein, sah, daß er sich
elend fühlte, und mußte sein Elend achten. Sowie sie aber wieder etwas
an ihm achten konnte, kehrte ihre Liebe augenblicklich zurück. Sie
sprach nicht mit ihm, blieb aber den übrigen Teil des Tages in der
Kammer, ordnete erst dies und jenes zu seiner Bequemlichkeit und
setzte sich endlich mit ihrem Strickzeug schweigend ans Fenster, indem
sich erst nach und nach ein Gespräch zwischen den lange getrennten
Eheleuten entwickelte. Was sie gesprochen, wäre schwer zu schildern,
aber es ward beiden wohler zumut, und der alte Herr ließ sich von da
an von seinem wohlerzogenen Sohne nachträglich noch ein bißchen
erziehen und leiten ohne Widerrede und ohne daß der Sohn sich eine
Unkindlichkeit zuschulden kommen ließ. Aber der seltsame Kursus
dauerte nicht einmal sehr lange, und der Alte ward doch noch ein
gelassener und zuverlässiger Teilnehmer an der Arbeit, mit manchen
Ruhepunkten und kleinen Abschweifungen, aber ohne dem blühenden
Hausstande Nachteile oder Unehre zu bringen. Sie lebten alle zufrieden
und wohlbegütert und das Glück der Frau Regula Amrain wucherte so
kräftig in diesem Hause, daß auch die zahlreichen Kinder des Fritz vor
dem Untergang gesichert blieben. Sie selbst streckte sich, als sie
starb, im Tode noch stolz aus, und noch nie ward ein so langer
Frauensarg in die Kirche getragen und der eine so edle Leiche barg zu
Seldwyla.

*       *       *       *       *


DIE DREI GERECHTEN KAMMACHER

Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt von
Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel
der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammacher aber, daß nicht drei
Gerechte lang unter einem Dache leben können, ohne sich in die Haare
zu geraten. Es ist hier aber nicht die himmlische Gerechtigkeit
gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des menschlichen Gewissens,
sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus dem Vaterunser die
Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir
vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch
keine ausstehen hat; welche niemandem zuleid lebt, aber auch niemandem
zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts ausgeben will und
an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche
Gerechte werfen keine Laternen ein, aber sie zünden auch keine an und
kein Licht geht von ihnen aus; sie treiben allerlei Hantierung und
eine ist ihnen so gut wie die andere, wenn sie nur mit keiner
Fährlichkeit verbunden ist; am liebsten siedeln sie sich dort an, wo
recht viele Ungerechte in ihrem Sinne sind; denn sie untereinander,
wenn keine solche zwischen ihnen wären, würden sich bald abreiben, wie
Mühlsteine, zwischen denen kein Korn liegt. Wenn diese ein Unglück
betrifft, so sind sie höchst verwundert und jammern, als ob sie am
Spieße stäken, da sie doch niemanden etwas zuleid getan haben; denn
sie betrachten die Welt als eine große wohlgesicherte Polizeianstalt,
wo keiner eine Kontraventionsbuße zu fürchten braucht, wenn er vor
seiner Türe fleißig kehrt, keine Blumentöpfe unverwahrt vor das
Fenster stellt und kein Wasser aus demselben gießt.

Zu Seldwyl bestand ein Kammachergeschäft, dessen Inhaber
gewohnterweise alle fünf bis sechs Jahre wechselten, obgleich es ein
gutes Geschäft war, wenn es fleißig betrieben wurde; denn die Krämer,
welche die umliegenden Jahrmärkte besuchten, holten da ihre Kammwaren.
Außer den notwendigen Hornstriegeln aller Art wurden auch die
wunderbarsten Schmuckkämme für die Dorfschönen und Dienstmägde
verfertigt aus schönem, durchsichtigem Ochsenhorn, in welches die
Kunst der Gesellen (denn die Meister arbeiteten nie) ein tüchtiges
braunrotes Schildpattgewölke beizte, je nach ihrer Phantasie, so daß,
wenn man die Kämme gegen das Licht hielt, man die herrlichsten
Sonnenauf- und Niedergänge zu sehen glaubte, rote Schäfchenhimmel,
Gewitterstürme und andere gesprenkelte Naturerscheinungen. Im Sommer,
wenn die Gesellen gerne wanderten und rar waren, wurden sie mit
Höflichkeit behandelt und bekamen guten Lohn und gutes Essen; im
Winter aber, wenn sie ein Unterkommen suchten und häufig zu haben
waren, mußten sie sich ducken, Kämme machen, was das Zeug halten
wollte, für geringen Lohn; die Meisterin stellte einen Tag wie den
andern eine Schüssel Sauerkraut auf den Tisch und der Meister sagte:
„Das sind Fische!" Wenn dann ein Geselle zu sagen wagte: „Bitt' um
Verzeihung, es ist Sauerkraut!" so bekam er auf der Stelle den
Abschied und mußte wandern in den Winter hinaus. Sobald aber die
Wiesen grün wurden und die Wege gangbar, sagten sie: „Es ist doch
Sauerkraut!" und schnürten ihr Bündel. Denn wenn dann auch die
Meisterin auf der Stelle einen Schinken auf das Kraut warf, und der
Meister sagte: „Meiner Seel'! ich glaubte, es wären Fische! Nun, dies
es ist doch gewiß ein Schinken!" so sehnten sie sich doch hinaus, da
alle drei Gesellen in einem zweispännigen Bett schlafen mußten und
sich den Winter durch herzlich satt bekamen wegen der Rippenstöße und
erfrorenen Seiten.

Einsmals aber kam ein ordentlicher und sanfter Geselle angereist aus
irgendeinem der sächsischen Lande, der fügte sich in alles, arbeitete
wie ein Tierlein und war nicht zu vertreiben, so daß er zuletzt ein
bleibender Hausrat wurde in dem Geschäft und mehrmals den Meister
wechseln sah, da es die Jahre her gerade etwas stürmischer herging als
sonst. Jobst streckte sich in dem Bette so steif er konnte und
behauptete seinen Platz zunächst der Wand Winter und Sommer; er nahm
das Sauerkraut willig für Fische und im Frühjahr mit bescheidenem Dank
ein Stückchen von dem Schinken. Den kleineren Lohn legte er so gut zur
Seite, wie den größeren; denn er gab nichts aus, sondern sparte sich
alles auf. Er lebte nicht wie andere Handwerksgesellen, trank nie
einen Schoppen, verkehrte mit keinem Landsmann noch mit anderen jungen
Gesellen, sondern stellte sich des Abends unter die Haustüre und
schäkerte mit den alten Weibern, hob ihnen die Wassereimer auf den
Kopf, wenn er besonders freigebiger Laune war, und ging mit den
Hühnern zu Bett, wenn nicht reichliche Arbeit da war, daß er für
besondere Rechnung die Nacht durcharbeiten konnte. Am Sonntag
arbeitete er ebenfalls bis in den Nachmittag hinein, und wenn es das
herrlichste Wetter war; man denke aber nicht, daß er dies mit Frohsinn
und Vergnügen tat, wie Johann der muntere Seifensieder; vielmehr war
er bei dieser freiwilligen Mühe niedergeschlagen und beklagte sich
fortwährend über die Mühseligkeit des Lebens. War dann der
Sonntagnachmittag gekommen, so ging er in seinem Arbeitsschmutz und in
den klappernden Pantoffeln über die Gasse und holte sich bei der
Wäscherin das frische Hemd und das geglättete Vorhemdchen, den
Vatermörder oder das bessere Schnupftuch, und trug diese
Herrlichkeiten auf der flachen Hand mit elegantem Gesellenschritt vor
sich her nach Hause. Denn im Arbeitsschurz und in den Schlappschuhen
beobachten manche Gesellen immer einen eigentümlich gezierten Gang,
als ob sie in höheren Sphären schwebten, besonders die gebildeten
Buchbinder, die lustigen Schuhmacher und die seltenen sonderbaren
Kammacher. In seiner Kammer bedachte sich Jobst aber noch wohl, ob er
das Hemd oder das Vorhemdchen auch wirklich anziehen wolle, denn er
war bei aller Sanftmut und Gerechtigkeit ein kleiner Schweinigel, oder
ob es die alte Wäsche noch für eine Woche tun müsse und er bei Hause
bleiben und noch ein bißchen arbeiten wolle. In diesem Falle setzte er
sich mit einem Seufzer über die Schwierigkeit und Mühsal der Welt von
neuem dahinter und schnitt verdrossen seine Zähne in die Kämme oder er
wandelte das Horn in Schildkrötschalen um, wobei er aber so nüchtern
und phantasielos verfuhr, daß er immer die gleichen drei trostlosen
Kleckse darauf schmierte; denn wenn es nicht unzweifelhaft
vorgeschrieben war, so wandte er nicht die kleinste Mühe an eine
Sache. Entschloß er sich aber zu einem Spaziergang, so putzte er sich
eine oder zwei Stunden lang peinlich heraus, nahm sein
Spazierstöckchen und wandelte steif ein wenig vors Tor, wo er demütig
und langweilig herumstand und langweilige Gespräche führte mit andern
Herumständern, die auch nichts Besseres zu tun wußten, etwa alte arme
Seldwyler, welche nicht mehr ins Wirtshaus gehen konnten. Mit solchen
stellte er sich dann gern vor ein im Bau begriffenes Haus, vor ein
Saatfeld, vor einen wetterbeschädigten Apfelbaum oder vor eine neue
Zwirnfabrik und tüftelte auf das angelegentlichste über diese Dinge,
deren Zweckmäßigkeit und den Kostenpunkt, über die Jahrshoffnungen und
den Stand der Feldfrüchte, von was allem er nicht den Teufel verstand.
Es war ihm auch nicht darum zu tun; aber die Zeit verging ihm so auf
die billigste und kurzweiligste Weise nach seiner Art und die alten
Leute nannten ihn nur den artigen und vernünftigen Sachsen, denn sie
verstanden auch nichts. Als die Seldwyler eine große Aktienbrauerei
anlegten, von der sie sich ein gewaltiges Leben versprachen, und die
weitläufigen Fundamente aus dem Boden ragten, stöckerte er manchen
Sonntagabend darin herum, mit Kennerblicken und mit dem scheinbar
lebendigsten Interesse die Fortschritte des Baues untersuchend, wie
wenn er ein alter Bauverständiger und der größte Biertrinker wäre.
„Aber nein!" rief er einmal um das andere, „des is ein fameses Wergg!
Des gibt eine großartigte Anstalt! Aber Geld kosten duht's, na das
Geld! Aber schade, hier mißte mir des Gewehlbe doch en bißgen diefer
sein und die Mauer um eine Idee stärger!" Bei alledem dachte er sich
gar nichts, als daß er noch rechtzeitig zum Abendessen wolle, eh' es
dunkel werde; denn dieses war der einzige Tort, den er seiner Frau
Meisterin antat, daß er nie das Abendbrot versäumte am Sonntag, wie
etwa die anderen Gesellen, sondern daß sie seinetwegen allein zu Hause
bleiben oder sonstwie Bedacht auf ihn nehmen mußte. Hatte er sein
Stückchen Braten oder Wurst versorgt, so wurmisierte er noch ein
Weilchen in der Kammer herum und ging dann zu Bett; dies war dann ein
vergnügter Sonntag für ihn gewesen.

Bei all diesem anspruchlosen, sanften und ehrbaren Wesen ging ihm aber
nicht ein leiser Zug von innerlicher Ironie ab, wie wenn er sich
heimlich über die Leichtsinnigkeit und Eitelkeit der Welt lustig
machte, und er schien die Größe und Erheblichkeit der Dinge nicht
undeutlich zu bezweifeln und sich eines viel tieferen Gedankenplanes
bewußt zu sein. In der Tat machte er auch zuweilen ein so kluges
Gesicht, besonders wenn er die sachverständigen sonntäglichen Reden
führte, daß man ihm wohl ansah, wie er heimlich viel wichtigere Dinge
im Sinne trage, wogegen alles, was andere unternahmen, bauten und
aufrichteten, nur ein Kinderspiel wäre. Der große Plan, welchen er Tag
und Nacht mit sich herumtrug und welcher sein stiller Leitstern war
die ganzen Jahre lang, während er in Seldwyl Geselle war, bestand
darin, sich so lange seinen Arbeitslohn aufzusparen, bis er hinreiche,
eines schönen Morgens das Geschäft, wenn es gerade vakant würde,
anzukaufen und ihn selbst zum Inhaber und Meister zu machen. Dies lag
all seinem Tun und Trachten zugrunde, da er wohl bemerkt hatte, wie
ein fleißiger und sparsamer Mann allhier wohl gedeihen müßte, ein
Mann, welcher seinen eigenen stillen Weg ginge und von der
Sorglosigkeit der andern nur den Nutzen, aber nicht die Nachteile zu
ziehen wüßte. Wenn er aber erst Meister wäre, dann wollte er bald so
viel erworben haben, um sich auch einzubürgern, und dann erst gedachte
er so klug und zweckmäßig zu leben, wie noch nie ein Bürger in
Seldwyl, sich um gar nichts zu kümmern, was nicht seinen Wohlstand
mehre, nicht einen Deut auszugeben, aber deren so viele als möglich an
sich zu ziehen in dem leichtsinnigen Strudel dieser Stadt. Dieser Plan
war ebenso einfach als richtig und begreiflich, besonders da er ihn
auch ganz gut und ausdauernd durchführte; denn er hatte schon ein
hübsches Sümmchen zurückgelegt, welches er sorgfältig verwahrte und
sicherer Berechnung nach mit der Zeit groß genug werden mußte zur
Erreichung dieses Zieles. Aber das Unmenschliche an diesem so stillen
und friedfertigen Plane war nur, daß Jobst ihn überhaupt gefaßt hatte;
denn nichts in seinem Herzen zwang ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben,
weder eine Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute, weder für die
politische Verfassung dieses Landes, noch für seine Sitten. Dies alles
war ihm so gleichgültig, wie seine eigene Heimat, nach welcher er sich
gar nicht zurücksehnte; an hundert Orten in der Welt konnte er sich
mit seinem Fleiß und mit seiner Gerechtigkeit ebensowohl festhalten,
wie hier; aber er hatte keine freie Wahl und ergriff in seinem öden
Sinne die erste zufällige Hoffnungsfaser, die sich ihm bot, um sich
daran zu hängen und sich daran groß zu saugen. Wo es mir wohl geht, da
ist mein Vaterland! heißt es sonst und dieses Sprichwort soll
unangetastet bleiben für diejenigen, welche auch wirklich eine bessere
und notwendige Ursache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande haben,
welche in freiem Entschlusse in die Welt hinausgegangen, um sich
rüstig einen Vorteil zu erringen und als geborgene Leute
zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen Zustande in Scharen
entfliehen und, dem Zuge der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung
über die Meere mitwandern; oder welche irgendwo treuere Freunde
gefunden haben als daheim, oder ihren eigensten Neigungen mehr
entsprechende Verhältnisse oder durch irgendein schöneres menschliches
Band festgebunden werden. Aber auch das neue Land ihres Wohlergehens
werden alle diese wenigstens lieben müssen, wo sie immerhin sind, und
auch da zur Not einen Menschen vorstellen. Aber Jobst wußte kaum, wo
er war; die Einrichtungen und Gebräuche der Schweizer waren ihm
unverständlich, und er sagte bloß zuweilen: „Ja, ja, die Schweizer
sind politische Leute! Es ist gewißlich, wie ich glaube, eine schöne
Sache um die Politik, wenn man Liebhaber davon ist! Ich für meinen
Teil bin kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da ist es nicht der
Brauch gewesen." Die Sitten der Seldwyler waren ihm zuwider und
machten ihn ängstlich, und wenn sie einen Tumult oder Zug vorhatten,
hockte er zitternd zu hinterst in der Werkstatt und fürchtete Mord und
Totschlag. Und dennoch war es sein einziges Denken und sein großes
Geheimnis, hier zu bleiben bis an das Ende seiner Tage. Auf alle
Punkte der Erde sind solche Gerechte hingestreut, die aus keinem
anderen Grunde sich dahin verkrümelten, als weil sie zufällig an ein
Saugeröhrchen des guten Auskommens gerieten, und sie saugen still
daran ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande, ohne
einen Blick in die Weite und ohne einen für die Nähe, und gleichen
daher weniger dem freien Menschen, als jenen niederen Organismen,
wunderlichen Tierchen und Pflanzensamen, die durch Luft und Wasser an
die zufällige Stätte ihres Gedeihens getragen worden.

So lebte er ein Jährchen um das andere in Seldwyla und äufnete seinen
heimlichen Schatz, welchen er unter einer Fliese seines Kammerbodens
vergraben hielt. Noch konnte sich kein Schneider rühmen, einen Batzen
an ihm verdient zu haben, denn noch war der Sonntagsrock, mit dem er
angereist, im gleichen Zustande wie damals. Noch hatte kein Schuster
einen Pfennig von ihm gelöst, denn noch waren nicht einmal die
Stiefelsohlen durchgelaufen, die bei seiner Ankunft das Äußere seines
Felleisens geziert; denn das Jahr hat nur zweiundfünfzig Sonntage, und
von diesen wurde nur die Hälfte zu einem kleinen Spaziergange
verwandt. Niemand konnte sich rühmen, je ein kleines oder großes Stück
Geld in seiner Hand gesehen zu haben; denn wenn er seinen Lohn
empfing, verschwand dieser auf der Stelle auf die geheimnisvollste
Weise, und selbst wenn er vor das Tor ging, steckte er nicht einen
Deut zu sich, so daß es ihm gar nicht möglich war, etwas auszugeben.
Wenn Weiber mit Kirschen, Pflaumen oder Birnen in die Werkstatt kamen
und die anderen Arbeiter ihre Gelüste befriedigten, hatte er auch
tausend und ein Gelüste, welche er dadurch zu beruhigen wußte, daß er
mit der größten Aufmerksamkeit die Verhandlung mit führte, die
hübschen Kirschen und Pflaumen streichelte und betastete und zuletzt
die Weiber, welche ihn für den eifrigsten Käufer genommen, verblüfft
abziehen ließ, sich seiner Enthaltsamkeit freuend; und mit zufriedenem
Vergnügen, mit tausend kleinen Ratschlägen, wie sie die gekauften
Äpfel braten oder schälen sollten, sah er seine Mitgesellen essen.
Aber so wenig jemand eine Münze von ihm zu besehen kriegte,
ebensowenig erhielt jemand von ihm je ein barsches Wort, eine
unbillige Zumutung oder ein schiefes Gesicht; er wich vielmehr allen
Händeln auf das sorgfältigste aus und nahm keinen Scherz übel, den man
sich mit ihm erlaubte; und so neugierig er war, den Verlauf von
allerlei Klatschereien und Streitigkeiten zu betrachten und zu
beurteilen, da solche jederzeit einen kostenfreien Zeitvertreib
gewährten, während andere Gesellen ihren rohen Gelagen nachgingen, so
hütete er sich wohl, sich in etwas zu mischen und über einer
Unvorsichtigkeit betreffen zu lassen. Kurz, er war die merkwürdigste
Mischung von wahrhaft heroischer Weisheit und Ausdauer und von sanfter
schnöder Herz- und Gefühllosigkeit.

Einst war er schon seit vielen Wochen der einzige Geselle in dem
Geschäft und es ging ihm so wohl in dieser Ungestörtheit wie einem
Fisch im Wasser. Besonders des Nachts freute er sich des breiten
Raumes im Bette und benutzte sehr ökonomisch diese schöne Zeit, sich
für die kommenden Tage zu entschädigen und seine Person gleichsam zu
verdreifachen, indem er unaufhörlich die Lage wechselte und sich
vorstellte, als ob drei zumal im Bette lägen, von denen zwei den
Dritten ersuchten, sich doch nicht zu genieren und es sich bequem zu
machen. Dieser Dritte war er selbst und er wickelte sich auf die
Einladung hin wollüstig in die ganze Decke oder spreizte die Beine
weit auseinander, legte sich quer über das Bett oder schlug in
harmloser Lust Purzelbäume darin. Eines Tages aber, als er noch beim
Abendscheine schon im Bette lag, kam unverhofft noch ein fremder
Geselle zugesprochen und wurde von der Meisterin in die Schlafkammer
gewiesen. Jobst lag eben in wohligem Behagen mit dem Kopfe am Fußende
und mit den Füßen auf den Pfülmen, als der Fremde eintrat, sein
schweres Felleisen abstellte und unverweilt anfing, sich auszuziehen,
da er müde war. Jobst schnellte blitzschnell herum und streckte sich
steif an seinen ursprünglichen Platz an der Wand, und er dachte: „Der
wird bald wieder ausreißen, da es Sommer ist und lieblich zu wandern!"
In dieser Hoffnung ergab er sich mit stillen Seufzern in sein
Schicksal und war der nächtlichen Rippenstöße und des Streites um die
Decke gewärtig, die es nun absetzen würde. Aber wie erstaunt war er,
als der Neuangekommene, obgleich es ein Bayer war, sich mit höflichem
Gruße zu ihm ins Bett legte, sich ebenso friedlich und manierlich, wie
er selbst, am andern Ende des Bettes verhielt und ihn während der
ganzen Nacht nicht im mindesten belästigte. Dies unerhörte Abenteuer
brachte ihn so um alle Ruhe, daß er, während der Bayer wohlgemut
schlief, diese Nacht kein Auge zutat. Am Morgen betrachtete er den
wundersamen Schlafgefährten mit äußerst aufmerksamen Mienen und sah,
daß es ein ebenfalls nicht mehr junger Geselle war, der sich mit
anständigen Worten nach den Umständen und dem Leben hier erkundigte,
ganz in der Weise, wie er es etwa selbst getan haben würde. Sobald er
dies nur bemerkte, hielt er an sich und verschwieg die einfachsten
Dinge, wie ein großes Geheimnis, trachtete aber dagegen das Geheimnis
des Bayers zu ergründen; denn daß derselbe ebenfalls eines besaß, war
ihm von weitem anzusehen; wozu sollte er sonst ein so verständiger,
sanftmütiger und gewiegter Mensch sein, wenn er nicht irgend etwas
Heimliches, sehr Vorteilhaftes vorhatte? Nun suchten sie sich
gegenseitig die Würmer aus der Nase zu ziehen, mit der größten
Vorsicht und Friedfertigkeit, in halben Worten und auf anmutigen
Umwegen. Keiner gab eine vernünftige klare Antwort und doch wußte nach
Verlauf einiger Stunden jeder, daß der andere nichts mehr oder minder
als sein vollkommener Doppelgänger sei. Als im Laufe des Tages
Fridolin, der Bayer, mehrmals nach der Kammer lief und sich dort zu
schaffen machte, nahm Jobst die Gelegenheit wahr, auch einmal
hinzuschleichen, als jener bei der Arbeit saß, und durchmusterte im
Fluge die Habseligkeiten Fridolins; er entdeckte aber nichts weiter,
als fast die gleichen Siebensächelchen, die er selbst besaß, bis auf
die hölzerne Nadelbüchse, welche aber hier einen Fisch vorstellte,
während Jobst scherzhafterweise ein kleines Wickelkindchen besaß, und
statt einer zerrissenen französischen Sprachlehre für das Volk, welche
Jobst bisweilen durchblätterte, war bei dem Bayer ein gut gebundenes
Büchlein zu finden, betitelt: Die kalte und warme Küpe, ein
unentbehrliches Handbuch für Blaufärber. Darin war aber mit Bleistift
geschrieben: Unterfand für die 3 Kreizer, welche ich dem Nassauer
geborgt. Hieraus schloß er, daß es ein Mann war, der das Seinige
zusammenhielt, und spähete unwillkürlich am Boden herum, und bald
entdeckte er eine Fliese, die ihm gerade so vorkam, als ob sie
kürzlich herausgenommen wäre, und unter derselben lag auch richtig ein
Schatz in ein altes halbes Schnupftuch und mit Zwirn umwickelt, fast
ganz so schwer wie der seinige, welcher zum Unterschied in einem
zugebundenen Socken steckte. Zitternd drückte er die Backsteinplatte
wieder zurecht, zitternd aus Aufregung und Bewunderung der fremden
Größe und aus tiefer Sorge um sein Geheimnis. Stracks lief er hinunter
in die Werkstatt und arbeitete, als ob es gelte, die Welt mit Kämmen
zu versehen, und der Bayer arbeitete, als ob der Himmel noch dazu
gekämmt werden müßte. Die nächsten acht Tage bestätigten durchaus
diese erste gegenseitige Auffassung; denn war Jobst fleißig und
genügsam, so war Fridolin tätig und enthaltsam mit den gleichen
bedenklichen Seufzern über das Schwierige solcher Tugend; war aber
Jobst heiter und weise, so zeigte sich Fridolin spaßhaft und klug; war
jener bescheiden, so war dieser demütig, jener schlau und ironisch,
dieser durchtrieben und beinahe satirisch, und machte Jobst ein
friedlich einfältiges Gesicht zu einer Sache, die ihn ängstigte, so
sah Fridolin unübertrefflich wie ein Esel aus. Es war nicht sowohl ein
Wettkampf, als die Übung wohlbewußter Meisterschaft, die sie beseelte,
wobei keiner verschmähte, sich den andern zum Vorbild zu nehmen und
ihm die feinsten Züge eines vollkommenen Lebenswandels, die ihm etwa
noch fehlten, nachzuahmen. Sie sahen sogar so einträchtig und
verständnisinnig aus, daß sie eine gemeinsame Sache zu machen
schienen, und glichen so zwei tüchtigen Helden, die sich ritterlich
vertragen und gegenseitig stählen, ehe sie sich befehden. Aber nach
kaum acht Tagen kam abermals einer zugereist, ein Schwabe, namens
Dietrich, worüber die beiden eine stillschweigende Freude empfanden,
wie über einen lustigen Maßstab, an welchem ihre stille Größe sich
messen konnte, und sie gedachten das arme Schwäbchen, welches gewiß
ein rechter Taugenichts war, in die Mitte zwischen ihre Tugenden zu
nehmen, wie zwei Löwen ein Äffchen, mit dem sie spielen.

Aber wer beschreibt ihr Erstaunen, als der Schwabe sich gerade so
benahm, wie sie selbst, und sich die Erkennung, die zwischen ihnen
vorgegangen, noch einmal wiederholte zu dritt, wodurch sie nicht nur
dem Dritten gegenüber in eine unverhoffte Stellung gerieten, sondern
sie selbst unter sich in eine ganz veränderte Lage kamen.

Schon als sie ihn im Bette zwischen sich nahmen, zeigte sich der
Schwabe als vollkommen ebenbürtig und lag wie ein Schwefelholz so
strack und ruhig, so daß immer noch ein bißchen Raum zwischen jedem
der Gesellen blieb und das Deckbett auf ihnen lag, wie ein Papier auf
drei Heringen. Die Lage wurde nun ernster, und indem alle drei
gleichmäßig sich gegenüberstanden, wie die Winkel eines gleichseitigen
Dreiecks, und kein vertrauliches Verhältnis mehr zwischen zweien
möglich war, kein Waffenstillstand oder anmutiger Wettstreit, waren
sie allen Ernstes beflissen, einander aus dem Bett und dem Haus hinaus
zu dulden. Als der Meister sah, daß diese drei Käuze sich alles
gefallen ließen, um nur dazubleiben, brach er ihnen am Lohn ab und gab
ihnen geringere Kost; aber desto fleißiger arbeiteten sie und setzten
ihn in den Stand, große Vorräte von billigen Waren in Umlauf zu
bringen und vermehrten Bestellungen zu genügen, also daß er ein
Heidengeld durch die stillen Gesellen verdiente und eine wahre
Goldgrube an ihnen besaß. Er schnallte sich den Gurt um einige XXX
Löcher weiter und spielte eine große Rolle in der Stadt, während die
törichten Arbeiter in der dunklen Werkstatt Tag und Nacht sich
abmühten und sich gegenseitig hinausarbeiten wollten. Dietrich, der
Schwabe, welcher der jüngste war, erwies sich als ganz vom gleichen
Holze geschnitten, wie die zwei andern, nur besaß er noch keine
Ersparnis, denn er war noch zu wenig gereist. Dies wäre ein
bedenklicher Umstand für ihn gewesen, da Jobst und Fridolin einen zu
großen Vorsprung gewannen, wenn er nicht als ein erfindungsreiches
Schwäblein eine neue Zaubermacht heraufbeschworen hätte, um den
Vorteil der andern aufzuwiegen. Da sein Gemüt nämlich von jeglicher
Leidenschaft frei war, so frei wie dasjenige seiner Nebengesellen,
außer von der Leidenschaft, gerade hier und nirgends anders sich
anzusiedeln und den Vorteil wahrzunehmen, so erfand er den Gedanken,
sich zu verlieben und um die Hand einer Person zu werben, welche
ungefähr so viel besaß, als der Sachse und der Bayer unter den Fliesen
liegen hatten. Es gehörte zu den besseren Eigentümlichkeiten der
Seldwyler, daß sie um einiger Mittel willen keine häßlichen oder
unliebenswürdigen Frauen nahmen; in große Versuchung gerieten sie
ohnehin nicht, da es in ihrer Stadt keine reichen Erbinnen gab, weder
schöne noch unschöne, und so behaupteten sie wenigstens die
Tapferkeit, auch die kleineren Brocken zu verschmähen und sich lieber
mit lustigen und hübschen Wesen zu verbinden, mit welchen sie einige
Jahre Staat machen konnten. Daher wurde es dem ausspähenden Schwaben
nicht schwer, sich den Weg zu einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen,
welche in derselben Straße wohnte und von der er, im klugen Gespräche
mit alten Weibern, in Erfahrung gebracht, daß sie einen Gültbrief von
siebenhundert Gulden ihr Eigentum nenne. Dies war Züs Bünzlin, eine
Tochter von achtundzwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter, der
Wäscherin, zusammenlebte, aber über jenes väterliche Erbteil
unbeschränkt herrschte. Sie hatte den Brief in einer kleinen
lackierten Lade liegen, wo sie auch die Zinsen davon, ihren
Taufzettel, ihren Konfirmationsschein und ein bemaltes und vergoldetes
Osterei bewahrte; ferner ein halbes Dutzend silberne Teelöffel, ein
Vaterunser mit Gold auf einen roten durchsichtigen Glasstoff gedruckt,
den sie Menschenhaut nannte, einen Kirschkern, in welchen das Leiden
Christi geschnitten war, und eine Büchse aus durchbrochenem und mit
rotem Taft unterlegtem Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und
ein silberner Fingerhut; ferner war darin ein anderer Kirschkern, in
welchem ein winziges Kegelspiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine
Muttergottes hinter Glas lag, wenn man sie öffnete, ein silbernes
Herz, worin ein Riechschwämmchen steckte, und eine Bonbonbüchse aus
Zitronenschale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war, und in
welcher eine goldene Stecknadel auf Baumwolle lag, die ein
Vergißmeinnicht vorstellte, und ein Medaillon mit einem Monument von
Haaren; ferner ein Bündel vergilbter Papiere mit Rezepten und
Geheimnissen, ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen, ein anderes mit
Kölnischem Wasser und eine Büchse mit Moschus; eine andere, worin ein
Endchen Marderdreck lag, und ein Körbchen, aus wohlriechenden Halmen
geflochten, sowie eines, aus Glasperlen und Gewürznägelein
zusammengesetzt; endlich ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes
Papier gebunden mit silbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln
für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; und ein Traumbüchlein,
ein Briefsteller, fünf oder sechs Liebesbriefe und ein Schnepper zum
Aderlassen; denn einst hatte sie ein Verhältnis mit einem
Barbiergesellen oder Chirurgiegehilfen gepflogen, welchen sie zu
ehelichen gedachte; und da sie eine geschickte und überaus verständige
Person war, so hatte sie von ihrem Liebhaber gelernt, die Ader zu
schlagen, Blutegel und Schröpfköpfe anzusetzen und dergleichen mehr
und konnte ihn selbst sogar schon rasieren. Allein er hatte sich als
ein unwürdiger Mensch gezeigt, bei welchem leichtlich ihr ganzes
Lebensglück aufs Spiel gesetzt war, und so hatte sie mit trauriger,
aber weiser Entschlossenheit das Verhältnis gelöst. Die Geschenke
wurden von beiden Seiten zurückgegeben mit Ausnahme des Schneppers;
diesen vorenthielt sie als ein Unterpfand für einen Gulden und
achtundvierzig Kreuzer, welche sie ihm einst bar geliehen; der
Unwürdige behauptete aber, solche nicht schuldig zu sein, da sie das
Geld ihm bei Gelegenheit eines Balles in die Hand gegeben, um die
Auslagen zu bestreiten, und sie hätte zweimal soviel verzehrt als er.
So behielt er den Gulden und die achtundvierzig Kreuzer und sie den
Schnepper, mit welchem sie unter der Hand allen Frauen ihrer
Bekanntschaft Ader ließ und manchen schönen Batzen verdiente. Aber
jedesmal, wenn sie das Instrument gebrauchte, mußte sie mit Schmerzen
der niedrigen Gesinnungsart dessen gedenken, der ihr so nahegestanden
und beinahe ihr Gemahl geworden wäre!

Dies alles war in der lackierten Lade enthalten, wohlverschlossen, und
diese war wiederum in einem alten Nußbaumschrank aufgehoben, dessen
Schlüssel die Züs Bünzlin allfort in der Tasche trug. Die Person
selbst hatte dünne rötliche Haare und wasserblaue Augen, welche nicht
ohne Reiz waren und zuweilen sanft und weise zu blicken wußten; sie
besaß eine große Menge Kleider, von denen sie nur wenige und stets die
ältesten trug, aber immer war sie sorgsam und reinlich angezogen, und
ebenso sauber und aufgeräumt sah es in der Stube aus. Sie war sehr
fleißig und half ihrer Mutter bei ihrer Wäscherei, indem sie die
feineren Sachen plättete und die Hauben und Manschetten der
Seldwylerinnen wusch, womit sie einen schönen Pfennig gewann; von
dieser Tätigkeit mochte es auch kommen, daß sie allwöchentlich die
Tage hindurch, wo gewaschen wurde, jene strenge und gemessene Stimmung
innehielt, welche die Weiber immer während einer Wäsche befällt, und
daß diese Stimmung sich in ihr festsetzte ein für allemal an diesen
Tagen; erst wenn das Glätten anging, griff eine größere Heiterkeit
Platz, welche bei Züsi aber jederzeit mit Weisheit gewürzt war. Den
gemessenen Geist beurkundete auch die Hauptzierde der Wohnung, ein
Kranz von viereckigen, genau abgezirkelten Seifenstücken, welche rings
auf das Gesimse des Tannengetäfels gelegt waren zum Hartwerden, behufs
besserer Nutznießung. Diese Stücke zirkelte ab und schnitt aus den
frischen Tafeln mittelst eines Messingdrahtes jederzeit Züs selbst.
Der Draht hatte zwei Querhölzchen an den Enden zum bequemen Anfassen
und Durchschneiden der weichen Seife; einen schönen Zirkel aber zum
Einteilen hatte ihr ein Zeugschmiedgesell verfertigt und geschenkt,
mit welchem sie einst so gut wie versprochen war. Von demselben rührte
auch ein blanker kleiner Gewürzmörser her, welcher das Gesimse ihres
Schrankes zierte zwischen der blauen Teekanne und dem bemalten
Blumenglas; schon lange war ein solches artiges Mörserchen ihr Wunsch
gewesen, und der aufmerksame Zeugschmied kam daher wie gerufen, als er
an ihrem Namenstage damit erschien und auch was zum Stoßen mitbrachte:
eine Schachtel voll Zimmet, Zucker, Nägelein und Pfeffer. Den Mörser
hing er dazumal vor der Stubentüre, ehe er eintrat, mit dem einen
Henkel an den kleinen Finger, und hub mit dem Stößel ein schönes
Geläute an, wie mit einer Glocke, so daß es ein fröhlicher Morgen
ward. Aber kurz darauf entfloh der falsche Mensch aus der Gegend und
ließ nie wieder von sich hören. Sein Meister verlangte obenein noch
den Mörser zurück, da der Entflohene ihn seinem Laden entnommen, aber
nicht bezahlt habe. Aber Züs Bünzlin gab das werte Andenken nicht
heraus, sondern führte einen tapfern und heftigen kleinen Prozeß
darum, den sie selbst vor Gericht verteidigte auf Grundlage einer
Rechnung für gewaschene Vorhemden des Entwichenen. Dies waren, als sie
den Streit um den Mörser führen mußte, die bedeutsamsten und
schmerzhaftesten Tage ihres Lebens, da sie mit ihrem tiefen Verstande
die Dinge und besonders das Erscheinen vor Gericht um solch zarter
Sache willen viel lebendiger begriff und empfand als andere leichtere
Leute. Doch erstritt sie den Sieg und behielt den Mörser.

Wenn aber die zierliche Seifengalerie ihre Werktätigkeit und ihren
exakten Sinn verkündete, so pries nicht minder ihren erbaulichen und
geschulten Geist ein Häufchen unterschiedlicher Bücher, welches am
Fenster ordentlich aufgeschichtet lag und in denen sie des Sonntags
fleißig las. Sie besaß noch alle ihre Schulbücher seit vielen Jahren
her und hatte auch nicht eines verloren, sowie sie auch noch die ganze
kleine Gelehrsamkeit im Gedächtnis trug, und sie wußte noch den
Katechismus auswendig wie das Deklinierbuch, das Rechenbuch wie das
Geographiebuch, die biblische Geschichte und die weltlichen
Lesebücher; auch besaß sie einige der hübschen Geschichten von
Christoph Schmid und dessen kleine Erzählungen mit den artigen
Spruchversen am Ende, wenigstens ein halbes Dutzend verschiedene
Schatzkästlein und Rosengärtchen zum Aufschlagen, eine Sammlung
Kalender voll bewährter mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige
merkwürdige Prophezeiungen, eine Anleitung zum Kartenschlagen, ein
Erbauungsbuch auf alle Tage des Jahres für denkende Jungfrauen und ein
altes Exemplar von Schillers Räubern, welches sie so oft las, als sie
glaubte es genugsam vergessen zu haben, und jedesmal wurde sie von
neuem gerührt, hielt aber sehr verständige und sichtende Reden
darüber. Alles, was in diesen Büchern stand, hatte sie auch im Kopfe
und wußte auf das schönste darüber und über noch viel mehr zu
sprechen. Wenn sie zufrieden und nicht zu sehr beschäftigt war, so
ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle Dinge wußte sie
heimzuweisen und zu beurteilen, und jung und alt, hoch und niedrig,
gelehrt und ungelehrt mußte von ihr lernen und sich ihrem Urteile
unterziehen, wenn sie lächelnd oder sinnig erst ein Weilchen
aufgemerkt hatte, worum es sich handle; sie sprach zuweilen so viel
und salbungsvoll wie eine gelehrte Blinde, die nichts von der Welt
sieht und deren einziger Genuß ist, sich selbst reden zu hören. Von
der Stadtschule her und aus dem Konfirmationsunterrichte hatte sie die
Übung ununterbrochen beibehalten, Aufsätze und geistliche
Memorierungen und allerhand spruchweise Schemata zu schreiben, und so
verfertigte sie zuweilen an stillen Sonntagen die wunderbarsten
Aufsätze, indem sie an irgendeinen wohlklingenden Titel, den sie
gehört oder gelesen, die sonderbarsten und unsinnigsten Sätze
anreihte, ganze Bogen voll, wie sie ihrem seltsamen Gehirn
entsprangen, wie z.B. über das Nutzbringende eines Krankenbettes, über
den Tod, über die Heilsamkeit des Entsagens, über die Größe der
sichtbaren Welt und das Geheimnisvolle der unsichtbaren, über das
Landleben und dessen Freuden, über die Natur, über die Träume, über
die Liebe, einiges über das Erlösungswerk Christi, drei Punkte über
die Selbstgerechtigkeit, Gedanken über die Unsterblichkeit. Sie las
ihren Freunden und Anbetern diese Arbeiten laut vor, und wem sie recht
wohlwollte, dem schenkte sie einen oder zwei solcher Aufsätze und der
mußte sie in die Bibel legen, wenn er eine hatte. Diese ihre geistige
Seite hatte ihr einst die tiefe und aufrichtige Neigung eines jungen
Buchbindergesellen zugezogen, welcher alle Bücher las, die er einband,
und ein strebsamer, gefühlvoller und unerfahrener Mensch war. Wenn er
sein Waschbündel zu Züsis Mutter brachte, dünkte er im Himmel zu sein,
so wohl gefiel es ihm, solche herrliche Reden zu hören, die er sich
selbst schon so oft idealisch gedacht, aber nicht auszustoßen getraut
hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er sich der abwechselnd
strengen und beredten Jungfrau, und sie gewährte ihm ihren Umgang und
band ihn an sich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn ganz in den
Schranken klarer Hoffnungslosigkeit zu halten, die sie mit sanfter,
aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger
war als sie, arm wie eine Maus und ungeschickt zum Erwerb, der für
einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht erheblich war, weil die
Leute da nicht lasen und wenig Bücher binden ließen, so verbarg sie
sich keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereinigung und suchte
nur seinen Geist auf alle Weise an ihrer eigenen Entsagungsfähigkeit
heranzubilden und in einer Wolke von buntscheckigen Phrasen
einzubalsamieren. Er hörte ihr andächtig zu und wagte zuweilen selbst
einen schönen Ausspruch, den sie ihm aber, kaum geboren, totmachte mit
einem noch schöneren; dies war das geistigste und edelste ihrer Jahre,
durch keinen gröberen Hauch getrübt, und der junge Mensch band ihr
während derselben alle ihre Bücher neu ein und bauete überdies während
vieler Nächte und vieler Feiertage ein kunstreiches und kostbares
Denkmal seiner Verehrung. Es war ein großer chinesischer Tempel aus
Papparbeit mit unzähligen Behältern und geheimen Fächern, den man in
vielen Stücken auseinandernehmen konnte. Mit den feinsten farbigen und
gepreßten Papieren war er beklebt und überall mit Goldbörtchen
geziert. Spiegelwände und Säulen wechselten ab, und hob man ein Stück
ab oder öffnete ein Gelaß, so erblickte man neue Spiegel und
verborgene Bilderchen, Blumenbuketts und liebende Pärchen; an den
ausgeschweiften Spitzen der Dächer hingen allwärts kleine Glöcklein.
Auch ein Uhrgehäuse für eine Damenuhr war angebracht mit schönen
Häkchen an den Säulen, um die goldene Kette daran zu henken und an dem
Gebäude hin und her zu schlängeln; aber bis jetzt hatte sich noch kein
Uhrenmacher genähert, welcher eine Uhr, und kein Goldschmied, welcher
eine Kette auf diesen Altar gelegt hätte. Eine unendliche Mühe und
Kunstfertigkeit war an diesem sinnreichen Tempel verschwendet und der
geometrische Plan nicht minder mühevoll als die saubere genaue Arbeit.
Als das Denkmal eines schön verlebten Jahrs fertig war, ermunterte Züs
Bünzlin den guten Buchbinder, mit Bezwingung ihrer selbst, sich nun
loszureißen und seinen Stab weiterzusetzen, da ihm die Welt offenstehe
und ihm, nachdem er in ihrem Umgange, in ihrer Schule so sehr sein
Herz veredelt habe, gewiß noch das schönste Glück lachen werde,
während sie ihn nie vergessen und sich der Einsamkeit ergeben wolle.
Er weinte wahrhaftige Tränen, als er sich so schicken ließ und aus dem
Städtlein zog. Sein Werk dagegen thronte seitdem auf Züsis
altväterischer Kommode, von einem meergrünen Gazeschleier bedeckt, dem
Staub und allen unwürdigen Blicken entzogen. Sie hielt es so heilig,
daß sie es ungebraucht und neu erhielt und gar nichts in die
Behältnisse steckte, auch nannte sie den Urheber desselben in der
Erinnerung Emanuel, während er Veit geheißen, und sagte jedermann, nur
Emanuel habe sie verstanden und ihr Wesen erfaßt. Nur ihm selber hatte
sie das selten zugestanden, sondern ihn in ihrem strengen Sinne kurz
gehalten und zur höheren Anspornung ihm häufig gezeigt, daß er sie am
wenigsten verstehe, wenn er sich am meisten einbilde, es zu tun.
Dagegen spielte er ihr auch einen Streich und legte in einen doppelten
Boden, auf dem innersten Grunde des Tempels, den allerschönsten Brief,
von Tränen benetzt, worin er eine unsägliche Betrübnis, Liebe,
Verehrung und ewige Treue aussprach, und in so hübschen und
unbefangenen Worten, wie sie nur das wahre Gefühl findet, welches sich
in eine Vexiergasse verrannt hat. So schöne Dinge hatte er gar nie
ausgesprochen, weil sie ihn niemals zu Worte kommen ließ. Da sie aber
keine Ahnung hatte von dem verborgenen Schatze, so geschah es hier,
daß das Schicksal gerecht war und eine falsche Schöne nicht das zu
Gesicht bekam, was sie nicht zu sehen verdiente. Auch war es ein
Symbol, daß sie es war, welche das törichte, aber innige und
aufrichtig gemeinte Wesen des Buchbinders nicht verstanden.

Schon lange hatte sie das Leben der drei Kammacher gelobt und
dieselben drei gerechte und verständige Männer genannt; denn sie hatte
sie wohl beobachtet. Als daher Dietrich der Schwabe begann, sich
länger bei ihr aufzuhalten, wenn er sein Hemd brachte oder holte, und
ihr den Hof zu machen, benahm sie sich freundschaftlich gegen ihn und
hielt ihn mit trefflichen Gesprächen stundenlang bei sich fest, und
Dietrich redete ihr voll Bewunderung nach dem Munde, so stark er
konnte; und sie vermochte ein tüchtiges Lob zu ertragen, ja sie liebte
den Pfeffer desselben um so mehr, je stärker er war, und wenn man ihre
Weisheit pries, hielt sie sich möglichst still, bis man das Herz
geleert, worauf sie mit erhöhter Salbung den Faden aufnahm und das
Gemälde da und dort ergänzte, das man von ihr entworfen. Nicht lange
war Dietrich bei Züs aus und ein gegangen, so hatte sie ihm auch schon
den Gültbrief gezeigt, und er war voll guter Dinge und tat gegen seine
Gefährten so heimlich wie einer, der das Perpetuum mobile erfunden
hat. Jobst und Fridolin kamen ihm jedoch bald auf die Spur und
erstaunten über seinen tiefen Geist und über seine Gewandtheit. Jobst
besonders schlug sich förmlich vor den Kopf; denn schon seit Jahren
ging er ja auch in das Haus und noch nie war ihm eingefallen, etwas
anderes da zu suchen als seine Wäsche; er haßte vielmehr die Leute
beinahe, weil sie die einzigen waren, bei welchen er einige bare
Pfennige herausklauben mußte allwöchentlich. An eine eheliche
Verbindung pflegte er nie zu denken, weil er unter einer Frau nichts
anderes denken konnte als ein Wesen, das etwas von ihm wollte, was er
nicht schuldig sei, und etwas von einer selbst zu wollen, was ihm
nützlich sein könnte, fiel ihm auch nicht ein, da er nur sich selbst
vertraute und seine kurzen Gedanken nicht über den nächsten und
allerengsten Kreis seines Geheimnisses hinausgingen. Aber jetzt galt
es, dem Schwäbchen den Rang abzulaufen, denn dieses konnte mit den
siebenhundert Gulden der Jungfer Züs schlimme Geschichten aufstellen,
wenn es sie erhielt, und die siebenhundert Gulden selbst bekamen auf
einmal einen verklärten Glanz und Schimmer in den Augen des Sachsen
wie des Bayers. So hatte Dietrich, der erfindungsreiche, nur ein Land
entdeckt, welches alsobald Gemeingut wurde, und teilte das herbe
Schicksal aller Entdecker; denn die zwei andern folgten sogleich
seiner Fährte und stellten sich ebenfalls bei Züs Bünzlin auf, und
diese sah sich von einem ganzen Hof verständiger und ehrbarer
Kammacher umgeben. Das gefiel ihr ausnehmend wohl; noch nie hatte sie
mehrere Verehrer auf einmal besessen, weshalb es eine neue
Geistesübung für sie ward, diese drei mit der größten Klugheit und
Unparteilichkeit zu behandeln und im Zaume zu halten und sie so lange
mit wunderbaren Reden zur Entsagung und Uneigennützigkeit
aufzumuntern, bis der Himmel über das Unabänderliche etwas entschiede.
Denn da jeder von ihnen ihr insbesondere sein Geheimnis und seinen
Plan vertraut hatte, so entschloß sie sich auf der Stelle, denjenigen
zu beglücken, welcher sein Ziel erreiche und Inhaber des Geschäftes
würde. Den Schwaben, welcher es nur durch sie werden konnte, schloß
sie aber davon aus und nahm sich vor, diesen jedenfalls nicht zu
heiraten; weil er aber der jüngste, klügste und liebenswürdigste der
Gesellen war, so gab sie ihm durch manche stille Zeichen noch am
ehesten einige Hoffnung und spornte durch die Freundlichkeit, mit
welcher sie ihn besonders zu beaufsichtigen und zu regieren schien,
die anderen zu größerem Eifer an, so daß dieser arme Kolumbus, der das
schöne Land erfunden hatte, vollständig der Narr im Spiele ward. Alle
drei wetteiferten miteinander in der Ergebenheit, Bescheidenheit und
Verständigkeit und in der anmutigen Kunst, sich von der gestrengen
Jungfrau im Zaume halten zu lassen und sie ohne Eigennutz zu
bewundern, und wenn die ganze Gesellschaft beieinander war, glich sie
einem seltsamen Konventikel, in welchem die sonderbarsten Reden
geführt wurden. Trotz aller Frömmigkeit und Demut geschah es doch alle
Augenblicke, daß einer oder der andere, vom Lobpreisen der gemeinsamen
Herrin plötzlich abspringend, sich selbst zu loben und herauszustreichen
versuchte und sich, sanft von ihr zurechtgewiesen, beschämt unterbrochen
 sah oder anhören mußte, wie sie ihm die Tugenden der übrigen
entgegenhielt, die er eiligst anerkannte und bestätigte.

Aber dies war ein strenges Leben für die armen Kammacher; so kühl sie
von Gemüt waren, gab es doch, seit einmal ein Weib im Spiele, ganz
ungewohnte Erregungen der Eifersucht, der Besorgnis, der Furcht und
der Hoffnung; sie rieben sich in Arbeit und Sparsamkeit beinahe auf
und magerten sichtlich ab; sie wurden schwermütig, und während sie vor
den Leuten und besonders bei Züs sich der friedlichsten Beredsamkeit
beflissen, sprachen sie, wenn sie zusammen bei der Arbeit oder in
ihrer Schlafkammer saßen, kaum ein Wort miteinander und legten sich
seufzend in ihr gemeinschaftliches Bett, noch immer so still und
verträglich wie drei Bleistifte. Ein und derselbe Traum schwebte
allnächtlich über dem Kleeblatt, bis er einst so lebendig wurde, daß
Jobst an der Wand sich herumwarf und den Dietrich anstieß; Dietrich
fuhr zurück und stieß den Fridolin, und nun brach in den
schlummertrunkenen Gesellen ein wilder Groll aus und in dem Bette der
schreckbarste Kampf, indem sie während drei Minuten sich so heftig mit
den Füßen stießen, traten und ausschlugen, daß alle sechs Beine sich
ineinander verwickelten und der ganze Knäuel unter furchtbarem
Geschrei aus dem Bette purzelte. Sie glaubten, völlig erwachend, der
Teufel wolle sie holen, oder es seien Räuber in die Kammer gebrochen;
sie sprangen schreiend auf, Jobst stellte sich auf seinen Stein,
Fridolin eiligst auf seinen und Dietrich auf denjenigen, unter welchem
sich bereits auch seine kleine Ersparnis angesetzt hatte, und indem
sie so in einem Dreieck standen, zitterten und mit den Armen vor sich
hin in die Luft schlugen, schrien sie Zeter Mordio und riefen: „Geh
fort! Geh fort!" bis der erschreckte Meister in die Kammer drang und
die tollen Gesellen beruhigte. Zitternd vor Furcht, Groll und Scham
zugleich krochen sie endlich wieder ins Bett und lagen lautlos
nebeneinander bis zum Morgen. Aber der nächtliche Spuk war nur ein
Vorspiel gewesen eines größeren Schreckens, der sie jetzt erwartete,
als der Meister ihnen beim Frühstück eröffnete, daß er nicht mehr drei
Arbeiter brauchen könne und daher zwei von ihnen wandern müßten. Sie
hatten nämlich des Guten zu viel getan und so viel Ware zuweg
gebracht, daß ein Teil davon liegen blieb, indes der Meister den
vermehrten Erwerb dazu verwendet hatte, das Geschäft, als es auf dem
Gipfelpunkt stand, um so rascher rückwärts zu bringen, und ein solch
lustiges Leben führte, daß er bald doppelt soviel Schulden hatte, als
er einnahm. Daher waren ihm die Gesellen, so fleißig und enthaltsam
sie auch waren, plötzlich eine überflüssige Last. Er sagte ihnen zum
Trost, daß sie ihm alle drei gleich lieb und wert wären und es ihnen
überließe, unter sich auszumachen, welcher dableiben und welche
wandern sollten. Aber sie machten nichts aus, sondern standen da
bleich wie der Tod und lächelten einer den andern an; dann gerieten
sie in eine furchtbare Aufregung, da dies die verhängnisvollste Stunde
war; denn die Ankündigung des Meisters war ein sicheres Zeichen, daß
er es nicht lange mehr treiben und das Kammfabrikchen endlich wieder
käuflich würde. Also war das Ziel, nach dem sie alle gestrebt, nahe
und glänzte wie ein himmlisches Jerusalem, und zwei sollten vor den
Toren desselben umkehren und ihm den Rücken wenden. Ohne alle fürdere
Rücksicht erklärte jeder, dableiben zu wollen, und wenn er ganz
umsonst arbeiten müsse. Der Meister konnte aber auch dies nicht
brauchen und versicherte sie, daß zwei von ihnen jedenfalls gehen
müßten; sie fielen ihm zu Füßen, sie rangen die Hände, sie beschworen
ihn und jeder bat insbesondere für sich, daß er ihn behalten möchte,
nur noch zwei Monate, nur noch vier Wochen: Allein er wußte wohl,
worauf sie spekulierten, ärgerte sich darüber und machte sich über sie
lustig, indem er plötzlich einen spaßhaften Ausweg vorschlug, wie sie
die Sache entscheiden sollten. „Wenn ihr euch durchaus nicht einigen
könnt," sagte er, „welche von euch den Abschied wollen, so will ich
euch die Weise angeben, wie ihr die Sache entscheidet, und so soll es
dann sein und bleiben! Morgen ist Sonntag, da zahle ich euch aus, ihr
packt euer Felleisen, ergreift euren Stab und wandert alle drei
einträchtiglich zum Tore hinaus, eine gute halbe Stünde weit, auf
welche Seite ihr wollt. Alsdann ruhet ihr euch aus und könnt auch
einen Schoppen trinken, wenn ihr mögt, und habt ihr das getan, so
wandert ihr wieder in die Stadt herein, und welcher dann der erste
sein wird, der mich von neuem um Arbeit anspricht, den werde ich
behalten; die anderen aber werden unausbleiblich gehen, wo es ihnen
beliebt!" Sie fielen ihm abermals zu Füßen und baten ihn, von diesem
grausamen Vorhaben abzustehen, aber umsonst; er blieb fest und
unerbittlich. Unversehens sprang der Schwabe auf und rannte wie
besessen zum Hause hinaus und zu Züs Bünzlin hinüber; kaum gewahrten
dies Jobst und der Bayer, so unterbrachen sie ihr Lamentieren und
rannten ihm nach, und die verzweifelte Szene war alsobald in die
Wohnung der erschrockenen Jungfrau verlegt.

Diese war sehr betroffen und bewegt durch das unerwartete Abenteuer;
doch faßte sie sich zuerst, und die Lage der Dinge überschauend,
beschloß sie, ihr eigenes Schicksal an des Meisters wunderlichen
Einfall zu knüpfen, und betrachtete diesen als eine höhere Eingebung;
sie holte gerührt ein Schatzkästlein hervor und stach mit einer Nadel
zwischen die Blätter, und der Spruch, welchen sie aufschlug, handelte
vom unentwegten Verfolgen eines guten Zieles. Sodann ließ sie die
aufgeregten Gesellen aufschlagen, und alles, was diese aufschlugen,
handelte vom eifrigen Wandel auf dem schmalen Wege, vom Vorwärtsgehen
ohne Rückschauen, von einer Laufbahn, kurz vom Laufen und Rennen aller
Art, so daß der morgende Wettlauf deutlich vom Himmel vorgeschrieben
schien. Da sie aber befürchtete, daß Dietrich als der Jüngste leicht
am besten springen und die Palme erringen könnte, beschloß sie, selbst
mit den drei Liebhabern auszuziehen und zu sehen, was etwa zu ihrem
Vorteil zu machen wäre; denn sie wünschte, daß nur einer der zwei
Älteren Sieger würde, und es war ihr ganz gleichgültig, welcher. Sie
befahl daher den Wehklagenden und sich Bezankenden Ruhe und Ergebung
und sagte: „Wisset, meine Freunde, daß nichts ohne Bedeutung
geschieht, und so merkwürdig und ungewöhnlich die Zumutung eures
Meisters ist, so müssen wir sie doch als eine Fügung ansehen und uns
mit einer höheren Weisheit, von welcher der mutwillige Mann nichts
ahnt, dieser jähen Entscheidung unterwerfen. Unser friedliches und
verständiges Zusammenleben ist zu schön gewesen, als daß es noch lange
so erbaulich stattfinden könnte; denn ach! Alles Schöne und
Ersprießliche ist ja so vergänglich und vorübergehend, und nichts
besteht in die Länge als das Übel, das Hartnäckige und die Einsamkeit
der Seele, die wir alsdann mit unserer frommen Vernünftigkeit
betrachten und beobachten. Daher wollen wir, ehe sich etwa ein böser
Dämon des Zwiespaltes unter uns erhebt, uns lieber vorher freiwillig
trennen und auseinanderscheiden wie die lieben Frühlingslüftlein, wenn
sie ihren eilenden Lauf am Himmel nehmen, ehe wir auseinanderfahren
wie der Sturmwind des Herbstes. Ich selbst will euch hinausbegleiten
auf dem schweren Wege und zugegen sein, wenn ihr den Prüfungslauf
antretet, damit ihr einen fröhlichen Mut fasset und einen schönen
Antrieb hinter euch habt, während vor euch das Ziel des Sieges winkt.
Aber so wie der Sieger sich seines Glückes nicht überheben wird, so
sollen die, welche unterliegen, nicht verzagen und keinen Gram oder
Groll von dannen nehmen, sondern unsers liebevollen Andenkens gewärtig
sein und als vergnügte Wanderjünglinge in die weite Welt ziehen; denn
die Menschen haben viele Städte gebauet, welche so schön oder noch
schöner sind wie Seldwyla; Rom ist eine große, merkwürdige Stadt,
allwo der heilige Vater wohnt, und Paris ist eine gar mächtige Stadt
mit vielen Seelen und herrlichen Palästen, und in Konstantinopel
herrscht der Sultan, von türkischem Glauben, und Lissabon, welches
einst durch ein Erdbeben verschüttet ward, ist desto schöner wieder
aufgebaut worden. Wien ist die Hauptstadt von Osterreich und die
Kaiserstadt genannt, und London ist die reichste Stadt der Welt, in
Engelland gelegen, an einem Fluß, der die Themse benannt wird. Zwei
Millionen Menschen wohnen da! Petersburg aber ist die Haupt- und
Residenzstadt von Rußland, so wie Neapel die Hauptstadt des
Königreiches gleichen Namens, mit dem feuerspeienden Berg Vesuvius,
auf welchem einst einem englischen Schiffshauptmann eine verdammte
Seele erschienen ist, wie ich in einer merkwürdigen Reisebeschreibung
gelesen habe, welche Seele einem gewissen John Smidt angehöret, der
vor hundertundfünfzig Jahren ein gottloser Mann gewesen und nun
besagtem Hauptmann einen Auftrag erteilte an seine Nachkommen in
England, damit er erlöst würde; denn der ganze Feuerberg ist ein
Aufenthalt der Verdammten, wie auch in des gelehrten Peter Haslers
Traktatus über die mutmaßliche Gelegenheit der Hölle zu lesen ist.
Noch viele andere Städte gibt es, wovon ich nur noch Mailand, Venedig,
das ganz im Wasser gebaut ist, Lyon, Marseilingen, Straßburg, Köllen
und Amsterdam nennen will; Paris hab' ich schon gesagt, aber noch
nicht Nürnberg, Augsburg und Frankfurt, Basel, Bern und Genf, alles
schöne Städte, sowie das schöne Zürich, und weiterhin noch eine Menge,
mit deren Aufzählung ich nicht fertig würde. Denn alles hat seine
Grenzen, nur nicht die Erfindungsgabe der Menschen, welche sich
allwärts ausbreiten und alles unternehmen, was ihnen nützlich scheint.
Wenn sie gerecht sind, so wird es ihnen gelingen, aber der Ungerechte
vergehet wie das Gras der Felder und wie ein Rauch. Viele sind
erwählt, aber nur wenige sind berufen. Aus allen diesen Gründen und in
noch manch anderer Hinsicht, die uns die Pflicht und die Tugend
unseres reinen Gewissens auferlegen, wollen wir uns dem Schicksalsrufe
unterziehen. Darum gehet und bereitet euch zur Wanderschaft, aber als
gerechte und sanftmütige Männer, die ihren Wert in sich tragen, wo sie
auch hingehen, und deren Stab überall Wurzel schlägt, welche, was sie
auch ergreifen mögen, sich sagen können: ich habe das bessere Teil
erwählt!"

Die Kammacher wollten aber von allem nichts hören, sondern bestürmten
die kluge Züs, daß sie einen von ihnen auserwählen und dableiben
heißen solle, und jeder meinte damit sich selbst. Aber sie hütete
sich, eine Wahl zu treffen, und kündigte ihnen ernsthaft und
gebieterisch an, daß sie ihr gehorchen müßten, ansonst sie ihnen ihre
Freundschaft auf immer entziehen würde. Jetzt rannte Jobst, der
älteste, wieder davon und in das Haus des Meisters hinüber, und
spornstreichs rannten die anderen hinter ihm her, befürchtend, daß er
dort etwas gegen sie unternähme, und so schossen sie den ganzen Tag
umher wie Sternschnuppen und wurden sich untereinander so zuwider wie
drei Spinnen in einem Netz. Die halbe Stadt sah dies seltsame
Schauspiel der verstörten Kammacher, die bislang so still und ruhig
gewesen, und die alten Leute wurden darüber ängstlich und hielten die
Erscheinung für ein geheimnisvolles Vorzeichen schwerer Begebenheiten.
Gegen Abend wurden sie matt und erschöpft, ohne daß sie sich eines
Besseren besonnen und zu etwas entschieden hatten, und legten sich
zähneklappernd in das alte Bett; einer nach dem andern kroch unter die
Decke und lag da wie vom Tode hingestreckt, in verwirrten Gedanken,
bis ein heilsamer Schlaf ihn umfing. Jobst war der erste, welcher in
aller Frühe erwachte und sah, daß ein heiterer Frühlingsmorgen in die
Kammer schien, in welcher er nun schon seit sechs Jahren geschlafen.
So dürftig das Gemach aussah, so erschien es ihm doch wie ein
Paradies, welches er verlassen sollte, und zwar so ungerechterweise.
Er ließ seine Augen umhergehen an den Wänden und zählte alle die
vertrauten Spuren von den vielen Gesellen, die hier schon gewohnt
kürzere oder längere Zeit; hier hatte der seinen Kopf zu reiben
gepflegt und einen dunklen Fleck verfertigt, dort hatte jener einen
Nagel eingeschlagen, um seine Pfeife daranzuhängen, und das rote
Schnürchen hing noch daran. Welche guten Menschen waren das gewesen,
daß sie so harmlos wieder davongegangen, während diese, welche neben
ihm lagen, durchaus nicht weichen wollten. Dann heftete er sein Auge
auf die Gegend zunächst seinem Gesichte und betrachtete da die
kleineren Gegenstände, welche er schon tausendmal betrachtet, wenn er
des Morgens oder am Abend noch bei Tageshelle im Bette lag und sich
eines seligen, kostenfreien Daseins erfreute. Da war eine beschädigte
Stelle in dem Bewurf, welche wie ein Land aussah mit Seen und
Städtchen, und ein Häufchen von groben Sandkörnern stellte eine
glückselige Inselgruppe vor; weiterhin erstreckte sich eine lange
Schweinsborste, welche aus dem Pinsel gefallen und in der blauen
Tünche steckengeblieben war; denn Jobst hatte im letzten Herbst einmal
ein kleines Restchen solcher Tünche gefunden und, damit es nicht
umkommen sollte, eine Viertelswandseite damit angestrichen, soweit es
reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle bemalt, wo er zunächst im
Bette lag. Jenseits der Schweinsborste aber ragte eine ganz geringe
Erhöhung, wie ein kleines, blaues Gebirge, welches einen zarten
Schlagschatten über die Borste weg nach den glückseligen Inseln
hinüberwarf. Über dies Gebirge hatte er schon den ganzen Winter
gegrübelt, da es ihn dünkte, als ob es früher nicht dagewesen wäre.
Wie er nun mit seinem traurigen, duselnden Auge dasselbe suchte und
plötzlich vermißte, traute er seinen Sinnen kaum, als er statt
desselben einen kleinen kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen sah,
wie der winzige blaue Berg nicht weit davon sich bewegte und zu
wandeln schien. Erstaunt fuhr Jobst in die Höhe, als ob er ein blaues
Wunder sähe, und sah, daß es eine Wanze war, welche er also im vorigen
Herbst achtlos mit der Farbe überstrichen, als sie schon in Erstarrung
dagesessen hatte. Jetzt aber war sie von der Frühlingswärme neu
belebt, hatte sich aufgemacht und stieg eben in diesem Augenblicke mit
ihrem blauen Rücken unverdrossen die Wand hinan. Er blickte ihr
gerührt und voll Verwunderung nach; solange sie im Blauen ging, war
sie kaum von der Wand zu unterscheiden; als sie aber aus dem
gestrichenen Bereich hinaustrat und die letzten vereinzelten Spritze
hinter sich hatte, wandelte das gute himmelblaue Tierchen weithin
sichtbar seine Bahn durch die dunkleren Bezirke. Wehmütig sank Jobst
in den Pfülmen zurück; so wenig er sich sonst aus dergleichen machte,
rührte diese Erscheinung doch jetzt ein Gefühl in ihm auf, als ob er
doch auch endlich wieder wandern müßte, und es bedünkte ihn ein gutes
Zeichen zu sein, daß er sich in das Unabänderliche ergeben und sich
wenigstens mit gutem Willen auf den Weg machen solle. Durch diese
ruhigeren Gedanken kehrte seine natürliche Besonnenheit und Weisheit
zurück, und indem er die Sache näher überlegte, fand er, daß, wenn er
sich ergebungsvoll und bescheiden anstelle, sich dem schwierigen Werke
unterziehe und dabei sich zusammennehme und klug verhalte, er noch am
ehesten über seine Nebenbuhler obsiegen könne. Sachte stieg er aus dem
Bette und begann seine Sachen zu ordnen und vor allem seinen Schatz zu
heben und zu unterst in das alte Felleisen zu verpacken. Darüber
erwachten sogleich seine Gefährten; wie diese sahen, daß er so
gelassen sein Bündel schnürte, verwunderten sie sich sehr und noch
mehr, als Jobst sie mit versöhnlichen Worten anredete und ihnen einen
guten Morgen wünschte. Weiter ließ er sich aber nicht aus, sondern
fuhr in seinem Geschäfte still und friedfertig fort. Sogleich, obschon
sie nicht wußten, was er im Schilde führe, witterten sie eine
Kriegslist in seinem Benehmen und ahmten es auf der Stelle nach,
höchst aufmerksam auf alles, was er ferner beginnen würde. Hierbei war
es seltsam, wie sie alle drei zum erstenmal offen ihre Schätze unter
den Fliesen hervorholten und dieselben, ohne sie zu zählen, in die
Ranzen versorgten. Denn sie wußten schon lange, daß jeder das
Geheimnis der übrigen kannte, und nach alter ehrbarer Art mißtrauten
sie sich nicht in der Weise, daß sie eine Verletzung des Eigentums
befürchteten, und jeder wußte wohl, daß ihn die anderen nicht berauben
würden, wie denn in den Schlafkammern der Handwerksgesellen, Soldaten
und dergleichen kein Verschluß und kein Mißtrauen bestehen soll.

So waren sie unversehens zum Aufbruch gerüstet, der Meister zahlte
ihnen den Lohn aus und gab ihnen ihre Wanderbücher, in welche von der
Stadt und vom Meister die allerschönsten Zeugnisse geschrieben waren
über ihre gute andauernde Führung und Vortrefflichkeit, und sie
standen wehmutsvoll vor der Haustüre der Züs Bünzlin, in lange braune
Röcke gekleidet, mit alten, verwaschenen Staubhemden darüber, und die
Hüte, obgleich sie verjährt und abgebürstet genug waren, sorglich mit
Wachsleinwand überzogen. Hinten auf dem Felleisen hatte jeder ein
kleines Wägelchen befestigt, um das Gepäck darauf zu ziehen, wenn es
ins Weite ginge; sie dachten aber die Räder nicht zu brauchen, und
deswegen ragten dieselben hoch über ihrem Rücken. Jobst stützte sich
auf einen ehrbaren Rohrstock, Fridolin auf einen rot und schwarz
geflammten und gemalten Eschenstab und Dietrich auf ein
abenteuerliches Stockungeheuer, um welches sich ein wildes Geflecht
von Zweigen wand. Er schämte sich aber beinahe dieses prahlerischen
Dinges, da es noch aus der ersten Wanderzeit herstammte, wo er bei
weitem noch nicht so sehr gesetzt und vernünftig gewesen wie jetzt.
Viele Nachbarn und deren Kinder umstanden die ernsten drei Männer und
wünschten ihnen Glück auf den Weg. Da erschien Züs unter der Türe, mit
feierlicher Miene, und zog an der Spitze der Gesellen gefaßten Mutes
aus dem Tore. Sie hatte ihnen zu Ehren einen ungewöhnlichen Staat
angelegt, trug einen großen Hut mit mächtigen gelben Bändern, ein
rosafarbenes Indiennekleid mit verschollenen Ausladungen und
Verzierungen, eine schwarze Sammetschärpe mit einer Tombakschnalle und
rote Saffianschuhe mit Fransen besetzt. Dazu trug sie einen
grünseidenen großen Ritikül, welchen sie mit gedörrten Birnen und
Pflaumen gefüllt hatte, und hielt ein Sonnenschirmchen ausgespannt,
auf welchem oben eine große Lyra aus Elfenbein stand. Sie hatte auch
ihr Medaillon mit dem blonden Haardenkmal umgehängt und das goldene
Vergißmeinnicht vorgesteckt und trug weiße gestrickte Handschuhe. Sie
sah freundlich und zart aus in all diesem Schmuck, ihr Antlitz war
leicht gerötet und ihr Busen schien sich höher als sonst zu heben, und
die ausziehenden Nebenbuhler wußten sich nicht zu lassen vor Wehmut
und Betrübnis; denn die äußerste Lage der Dinge, der schöne
Frühlingstag, der ihren Auszug beschien, und Züsis Putz mischten in
ihre gespannten Empfindungen fast etwas von dem, was man wirklich
Liebe nennt. Vor dem Tore ermahnte aber die freundliche Jungfrau ihre
Liebhaber, die Felleisen auf die Räderchen zu stellen und zu ziehen,
damit sie sich nicht unnötigerweise ermüdeten. Sie taten es, und als
sie hinter dem Städtlein hinaus die Berge hinanfuhren, war es fast wie
ein Artilleriewesen, das da hinauffuhrwerkte, um oben eine Batterie zu
besetzen. Als sie eine gute halbe Stunde dahingezogen, machten sie
halt auf einer anmutigen Anhöhe, über welche ein Kreuzweg ging, und
setzten sich unter einer Linde in einen Halbkreis, wo man einer weiten
Aussicht genoß und über Wälder, Seen und Ortschaften wegsah. Züs
öffnete ihren Beutel und gab jedem eine Handvoll Birnen und Pflaumen,
um sich zu erfrischen, und sie saßen so eine geraume Weile schweigend
und ernst, nur mit den schnalzenden Zungen, wenn sie die süßen Früchte
damit zerdrückten, ein sanftes Geräusch erregend.

Dann begann Züs, indem sie einen Pflaumenkern fortwarf und die davon
gefärbten Fingerspitzen am jungen Grase abwischte, zu sprechen:
„Lieben Freunde! Sehet, wie schön und weitläufig die Welt ist,
ringsherum voll herrlicher Sachen und voll Wohnungen der Menschen! Und
dennoch wollte ich wetten, daß in dieser feierlichen Stunde nirgends
in dieser weiten Welt vier so rechtfertige und gutartige Seelen
beieinander versammelt sitzen, wie wir hier sind, so sinnreich und
bedachtsam von Gemüt, so zugetan allen arbeitsamen Übungen und
Tugenden, der Eingezogenheit, der Sparsamkeit, der Friedfertigkeit und
der innigen Freundschaft. Wie viele Blumen stehen hier um uns herum,
von allen Arten, die der Frühling hervorbringt, besonders die gelben
Schlüsselblumen, welche einen wohlschmeckenden und gesunden Tee geben;
aber sind sie gerecht oder arbeitsam? sparsam, vorsichtig und
geschickt zu klugen und lehrreichen Gedanken? Nein, es sind unwissende
und geistlose Geschöpfe, unbeseelt und vernunftlos vergeuden sie ihre
Zeit, und so schön sie sind, wird ein totes Heu daraus, während wir in
unserer Tugend ihnen so weit überlegen sind und ihnen wahrlich an Zier
der Gestalt nichts nachgeben; denn Gott hat uns nach seinem Bilde
geschaffen und uns seinen göttlichen Odem eingeblasen. Oh, könnten wir
doch ewig hier sitzen in diesem Paradiese und in solcher Unschuld; ja,
meine Freunde, es ist mir so, als wären wir sämtlich im Stande der
Unschuld, aber durch eine sündenlose Erkenntnis veredelt; denn wir
alle können, Gott sei Dank, lesen und schreiben und haben alle eine
geschickte Hantierung gelernt. Zu vielem hätte ich Geschick und
Anlagen und getraute mir wohl, Dinge zu verrichten, wie sie das
gelehrteste Fräulein nicht kann, wenn ich über meinen Stand
hinausgehen wollte; aber die Bescheidenheit und die Demut sind die
vornehmste Tugend eines rechtschaffenen Frauenzimmers, und es genügt
mir zu wissen, daß mein Geist nicht wertlos und verachtet ist vor
einer höheren Einsicht. Schon viele haben mich begehrt, die meiner
nicht wert waren, und nun auf einmal sehe ich drei würdige
Junggesellen um mich versammelt, von denen ein jeder gleich wert wäre,
mich zu besitzen! Bemesset danach, wie mein Herz in diesem wunderbaren
Überflusse schmachten muß, und nehmet euch jeder ein Beispiel an mir
und denket euch, jeder wäre von drei gleichwerten Jungfrauen umblühet,
die sein begehrten, und er könnte sich um deswillen zu keiner
hinneigen und gar keine bekommen! Stellt euch doch recht lebhaft vor,
um jeden von euch buhleten drei Jungfern Bünzlin, und säßen so um euch
her, gekleidet wie ich und von gleichem Ansehen, so daß ich gleichsam
verneunfacht hier vorhanden wäre und euch von allen Seiten anblickte
und nach euch schmachtete! Tut ihr dies?"

Die wackeren Gesellen hörten verwundert auf zu kauen und studierten
mit einfältigen Gesichtern, die seltsame Aufgabe zu lösen. Das
Schwäblein kam zuerst damit zustande und rief mit lüsternem Gesicht:
„Ja, werteste Jungfer Züs! Wenn Sie es denn gütigst erlauben, so sehe
ich Sie nicht nur dreifach, sondern verhundertfacht um mich
herumschweben und mich mit huldreichen Äuglein anblicken und mir
tausend Küßlein anbieten!"

„Nicht doch!" sagte Züs unwillig verweisend, „nicht in so ungehöriger
und übertriebener Weise! Was fällt Ihnen denn ein, unbescheidener
Dietrich? Nicht hundertfach und nicht Küßlein anbietend habe ich es
erlaubt, sondern nur dreifach für jeden und in züchtiger und ehrbarer
Manier, daß mir nicht zu nahe geschieht!"

„Ja," rief jetzt endlich Jobst und zeigte mit einem abgenagten
Birnenstiel um sich her, „nur dreifach, aber in größter Ehrbarkeit
sehe ich die liebste Jungfer Bünzli um mich her spazieren und mir
wohlwollend zuwinken, indem sie die Hand aufs Herz legt! Ich danke
sehr, danke, danke ergebenst!" sagte er schmunzelnd, sich nach drei
Seiten verneigend, als ob er wirklich die Erscheinungen sähe. „So
ist's recht," sagte Züs lächelnd, „wenn irgendein Unterschied zwischen
euch besteht, so seid Ihr doch der Begabteste, lieber Jobst,
wenigstens der Verständigste!" Der Bayer Fridolin war immer noch nicht
fertig mit seiner Vorstellung, da er aber den Jobst so loben hörte,
wurde es ihm angst und er rief eilig: „Ich sehe auch die liebste
Jungfrau Bünzli dreifach um mich herspazieren in größter Ehrbarkeit
und mir wollüstig zuwinken, indem sie die Hand auf--"

„Pfui, Bayer!" schrie Züs und wandte das Gesicht ab, „nicht ein Wort
weiter! Woher nehmen Sie den Mut, von mir in so wüsten Worten zu reden
und sich solche Sauereien einzubilden! Pfui, pfui!" Der arme Bayer war
wie vom Donner gerührt und wurde glühend rot, ohne zu wissen, wofür;
denn er hatte sich gar nichts eingebildet und nur ungefähr dem Klange
nach gesagt, was er von Jobsten gehört, da er gesehen, wie dieser für
seine Rede belobt worden. Züs wandte sich wieder zu Dietrich und
sagte: „Nun, lieber Dietrich, haben Sie's noch nicht auf eine etwas
bescheidenere Art zuwege gebracht?" „Ja, mit Ihrer Erlaubnis,"
erwiderte er, froh, wieder angeredet zu werden, „ich erblicke Sie
jetzt nur dreimal um mich her, freundlich, aber anständig mich
anschauend und mir drei weiße Hände bietend, welche ich küsse!"

„Gut denn!" sagte Züs, „und Sie, Fridolin? Sind Sie noch nicht von
Ihrer Abirrung zurückgekehrt? Kann sich Ihr ungestümes Blut noch nicht
zu einer wohlanständigen Vorstellung beruhigen?" „Um Vergebung!" sagte
Fridolin kleinlaut, „ich glaube jetzt drei Jungfern zu sehen, die mir
gedörrte Birnen anbieten und mir nicht abgeneigt scheinen. Es ist
keine schöner als die andere, und die Wahl unter ihnen scheint mir ein
bitteres Kraut zu sein."

„Nun also," sprach Züs, „da ihr in euerer Einbildungskraft von neun
solchen ganz gleichwerten Personen umgeben seid und in diesem
liebreizenden Überflusse dennoch Mangel in euerem Herzen leidet,
ermesset danach meinen eigenen Zustand; und wie ihr an mir sahet, daß
ich mich weisen und bescheidenen Herzens zu fassen weiß, so nehmet
doch ein Beispiel an meiner Stärke und gelobet mir und euch
untereinander, euch ferner zu vertragen und, wie ich liebevoll von
euch scheide, euch ebenso liebevoll voneinander zu trennen, wie auch
das Schicksal, das eurer wartet, entscheiden möge! So leget denn alle
eure Hände zusammen in meine Hand und gelobt es!"

„Ja, wahrhaftig," rief Jobst, „ich will es wenigstens tun, an mir
soll's nicht fehlen!" und die andern zwei riefen eiligst: „An mir auch
nicht, an mir auch nicht!" und sie legten alle die Hände zusammen,
wobei sich jedoch jeder vornahm, auf alle Fälle zu springen, sogut er
vermöchte. „An mir soll es wahrhaftig nicht fehlen!" wiederholte
Jobst, „denn ich bin von Jugend auf barmherziger und einträchtiger
Natur gewesen. Noch nie habe ich einen Streit gehabt und konnte nie
ein Tierlein leiden sehen; wo ich noch gewesen bin, habe ich mich gut
vertragen und das beste Lob geerntet ob meines geruhsamen Betragens;
denn obgleich ich gar manche Dinge auch ein bißchen verstehe und ein
verständiger junger Mann bin, so hat man nie gesehen, daß ich mich in
etwas mischte, was mich nichts anging, und habe stets meine Pflicht
auf eine einsichtsvolle Weise getan. Ich kann arbeiten soviel ich
will, und es schadet mir nichts, da ich gesund und wohlauf bin und in
den besten Jahren! Alle meine Meisterinnen haben noch gesagt, ich sei
ein Tausendsmensch, ein Ausbund, und mit mir sei gut auskommen! Ach!
ich glaube wirklich selbst, ich könnte leben wie im Himmel mit Ihnen,
allerliebste Jungfer Züs!"

„Ei!" sagte der Bayer eifrig, „das glaub' ich wohl, das wäre auch
keine Kunst, mit der Jungfer wie im Himmel zu leben! Das wollt' ich
mir auch zutrauen, denn ich bin nicht auf den Kopf gefallen! Mein
Handwerk versteh' ich aus dem Grund und weiß die Dinge in Ordnung zu
halten, ohne ein Unwort zu verlieren. Nirgends habe ich Händel
bekommen, obgleich ich in den größten Städten gearbeitet habe, und
niemals habe ich eine Katze geschlagen oder eine Spinne getötet. Ich
bin mäßig und enthaltsam und mit jeder Nahrung zufrieden, und ich weiß
mich am Geringfügigsten zu vergnügen und damit zufrieden zu sein. Aber
ich bin auch gesund und munter und kann etwas aushalten, ein gutes
Gewissen ist das beste Lebenselixier, alle Tiere lieben mich und
laufen mir nach, weil sie mein gutes Gewissen wittern, denn bei einem
ungerechten Menschen wollen sie nicht bleiben. Ein Pudelhund ist mir
einst drei Tage lang nachgefolgt, als ich aus der Stadt Ulm verreiste,
und ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in Gewahrsam geben, da ich
als ein demütiger Handwerksgesell kein solches Tier ernähren konnte,
und als ich durch den Böhmerwald reiste, sind die Hirsche und Rehe auf
zwanzig Schritt noch stehen geblieben und haben sich nicht vor mir
gefürchtet. Es ist wunderbar, wie selbst die wilden Tiere sich bei den
Menschen auskennen und wissen, welche guten Herzens sind!"

„Ja, das muß wahr sein!" rief der Schwabe, „seht ihr nicht, wie dieser
Fink schon die ganze Zeit da vor mir herumfliegt und sich mir zu
nähern sucht? Und jenes Eichhörnchen auf der Tanne sieht sich
immerfort nach mir um, und hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an
meinem Beine und will sich durchaus nicht vertreiben lassen. Dem muß
es gewiß recht wohl sein bei mir, dem lieben guten Tierchen!"

Jetzt wurde aber Züs eifersüchtig und sagte etwas heftig: „Bei mir
wollen alle Tiere gern bleiben! Einen Vogel hab' ich acht Jahre gehabt
und er ist sehr ungern von mir weggestorben; unsere Katze streicht mir
nach, wo ich geh' und stehe, und des Nachbars Tauben drängen und
zanken sich vor meinem Fenster, wenn ich ihnen Brosamen streue!
Wunderbare Eigenschaften haben die Tiere je nach ihrer Art! Der Löwe
folgt gern den Königen nach und den Helden, und der Elefant begleitet
den Fürsten und den tapfern Krieger; das Kamel trägt den Kaufmann
durch die Wüste und bewahrt ihm frisches Wasser in seinem Bauch, und
der Hund begleitet seinen Herrn durch alle Gefahren und stürzt sich
für ihn in das Meer! Der Delphin liebt die Musik und folgt den
Schiffen, und der Adler den Kriegsheeren. Der Affe ist ein
menschenähnliches Wesen und tut alles, was er die Menschen tun sieht,
und der Papagei versteht unsere Sprache und plaudert mit uns, wie ein
Alter! Selbst die Schlangen lassen sich zähmen und tanzen auf der
Spitze ihres Schwanzes; das Krokodil weint menschliche Tränen und wird
von den Bürgern dort geachtet und verschont; der Strauß läßt sich
satteln und reiten wie ein Roß; der wilde Büffel ziehet den Wagen des
Menschen und das gehörnte Renntier seinen Schlitten. Das Einhorn
liefert ihm das schneeweiße Elfenbein und die Schildkröte ihre
durchsichtigen Knochen--"

„Mit Verlaub," sagten alle drei Kammacher zugleich, „hierin irren Sie
sich gewißlich, das Elfenbein wird aus den Elefantenzähnen gewonnen
und die Schildpattkämme macht man aus der Schale und nicht aus den
Knochen der Schildkröte!"

Züs wurde feuerrot und sagte: „Das ist noch die Frage, denn ihr habt
gewiß nicht gesehen, wo man es hernimmt, sondern verarbeitet nur die
Stücke; ich irre mich sonst selten, doch sei dem wie ihm wolle, so
lasset mich ausreden; nicht nur die Tiere haben ihre merkwürdigen von
Gott eingepflanzten Besonderheiten, sondern selbst das tote Gestein,
so aus den Bergen gegraben wird. Der Kristall ist durchsichtig wie
Glas, der Marmor aber hart und geädert, bald weiß und bald schwarz;
der Bernstein hat elektrische Eigenschaften und ziehet den Blitz an;
aber dann verbrennt er und riecht wie Weihrauch. Der Magnet zieht
Eisen an, auf die Schiefertafel kann man schreiben, aber nicht auf den
Diamant, denn dieser ist hart wie Stahl; auch gebraucht ihn der Glaser
zum Glasschneiden, weil er klein und spitzig ist. Ihr sehet, liebe
Freunde, daß ich auch ein weniges von den Tieren zu sagen weiß! Was
aber mein Verhältnis zu ihnen betrifft, so ist dies zu bemerken: Die
Katze ist ein schlaues und listiges Tier und ist daher nur schlauen
und listigen Menschen anhänglich; die Taube aber ist ein Sinnbild der
Unschuld und Einfalt und kann sich nur von einfältigen, schuldlosen
Seelen angezogen fühlen. Da mir nun Katzen und Tauben anhänglich sind,
so folgt hieraus, daß ich klug und einfältig, schlau und unschuldig
zugleich bin, wie es denn auch heißt: Seid klug wie die Schlangen und
einfältig wie die Tauben! Auf diese Weise können wir allerdings die
Tiere und ihr Verhältnis zu uns würdigen und manches daraus lernen,
wenn wir die Sache recht zu betrachten wissen."

Die armen Gesellen wagten nicht ein Wort weiter zu sagen; Züs hatte
sie gut zugedeckt und sprach noch viele hochtrabende Dinge
durcheinander, daß ihnen Hören und Sehen verging. Sie bewunderten aber
Züsis Geist und Beredsamkeit, und in solcher Bewunderung dünkte sich
keiner zu schlecht, das Kleinod zu besitzen, besonders da diese Zierde
eines Hauses so wohlfeil war und nur in einer rastlosen Zunge bestand.
Ob sie selbst dessen, was sie so hoch stellen, auch wert seien und
etwas damit anzufangen wüßten, fragen sich solche Schwachköpfe zu
allerletzt oder auch gar nicht, sondern sie sind wie die Kinder,
welche nach allem greifen, was ihnen in die Augen glänzt, von allen
bunten Dingen die Farben abschlecken und ein Schellenspiel ganz in den
Mund stecken wollen, statt es bloß an die Ohren zu halten. So
erhitzten sie sich immer mehr in der Begierde und Einbildung, diese
ausgezeichnete Person zu erwerben, und je schnöder, herzlos er und
eitler Züsens unsinnige Phrasen wurden, desto gerührter und
jämmerlicher waren die Kammacher daran. Zugleich fühlten sie einen
heftigen Durst von dem trockenen Obste, welches sie inzwischen
aufgegessen; Jobst und der Bayer suchten im Gehölz nach Wasser, fanden
eine Quelle und tranken sich voll kaltes Wasser. Der Schwabe hingegen
hatte listigerweise ein Fläschchen mitgenommen, in welchem er
Kirschgeist mit Wasser und Zucker gemischt, welches liebliche Getränk
ihn stärken und ihm einen Vorschub gewähren sollte beim Laufen; denn
er wußte, daß die anderen zu sparsam waren, um etwas mitzunehmen oder
eine Einkehr zu halten. Dies Fläschchen zog er jetzt eilig hervor,
während jene sich mit Wasser füllten, und bot es der Jungfer Züs an;
sie trank es halb aus, es schmeckte ihr vortrefflich und erquickte sie
und sie sah den Dietrich dabei überquer ganz holdselig an, daß ihm der
Rest, welchen er selber trank, so lieblich schmeckte wie Cyperwein und
ihn gewaltig stärkte. Er konnte sich nicht enthalten, Züsis Hand zu
ergreifen und ihr zierlich die Fingerspitzen zu küssen; sie tippte ihm
leicht mit dem Zeigefinger auf die Lippen und er tat, als ob er danach
schnappen wollte und machte dazu ein Maul, wie ein lächelnder Karpfen;
Züs schmunzelte falsch und freundlich, Dietrich schmunzelte schlau und
süßlich; sie saßen auf der Erde sich gegenüber und tätschelten
zuweilen mit den Schuhsohlen gegeneinander, wie wenn sie sich mit den
Füßen die Hände geben wollten. Züs beugte sich ein wenig vornüber und
legte die Hand auf seine Schulter, und Dietrich wollte eben dieses
holde Spiel erwidern und fortsetzen, als der Sachse und der Bayer
zurückkamen und bleich und stöhnend zuschauten. Denn es war ihnen von
dem vielen Wasser, welches sie an die genossenen Backbirnen
geschüttet, plötzlich elend geworden und das Herzeleid, welches sie
bei dem Anblicke den spielenden Paares empfanden, vereinigte sich mit
dem öden Gefühle des Bauches, so daß ihnen der kalte Schweiß auf der
Stirne stand. Züs verlor aber die Fassung nicht, sondern winkte ihnen
überaus freundlich zu und rief: „Kommet, ihr Lieben, und setzet euch
doch auch noch ein bißchen zu mir her, daß wir noch ein Weilchen und
zum letztenmal unsere Eintracht und Freundschaft genießen!" Jobst und
Fridolin drängten sich hastig herbei und streckten ihre Beine aus; Züs
ließ dem Schwaben die eine Hand, gab Jobsten die andere und berührte
mit den Füßen Fridolins Stiefelsohlen, während sie mit dem Angesicht
einen nach dem andern der Reihe nach anlächelte. So gibt es Virtuosen,
welche viele Instrumente zugleich spielen, auf dem Kopfe ein
Glockenspiel schütteln, mit dem Munde die Panspfeife blasen, mit den
Händen die Gitarre spielen, mit den Knien die Zimbel schlagen, mit dem
Fuß den Dreiangel und mit den Ellbogen eine Trommel, die ihnen auf dem
Rücken hängt.

Dann aber erhob sie sich von der Erde, strich ihr Kleid, welches sie
sorgfältig aufgeschürzt hatte, zurecht und sagte: „Nun ist es wohl Zeit,
liebe Freunde! daß wir uns aufmachen und daß ihr euch zu jenem
ernsthaften Gange rüstet, welchen euch der Meister in seiner Torheit
auferlegt, wir aber als die Anordnung eines höheren Geschickes ansehen!
Tretet diesen Weg an voll schönen Eifers, aber ohne Feindschaft noch
Neid gegeneinander, und überlasset dem Sieger willig die Krone!" Wie
von einer Wespe gestochen, sprangen die Gesellen auf und stellten sich
 auf die Beine. Da standen sie nun und sollten mit denselben einander
den Rang ablaufen, mit denselben guten Beinen, welche bislang nur in
bedachtem, ehrbarem Schritt gewandelt! Keiner wußte sich mehr zu
entsinnen, daß er je einmal gesprungen oder gelaufen wäre; am ehesten
 schien sich noch der Schwabe zu trauen und mit den Füßen sogar leise
zu scharren und dieselben ungeduldig zu heben. Sie  sahen sich ganz
sonderbar und verdächtig an, waren bleich und schwitzten dabei, als ob
sie schon im heftigsten Laufen begriffen wären.

„Gebet euch," sagte Züs, „noch einmal die Hand!" Sie taten es, aber so
willenlos und lässig, daß die drei Hände kalt voneinander abglitten
und abfielen wie Bleihände. „Sollen wir denn wirklich das Torenwerk
beginnen?" sagte Jobst und wischte sich die Augen, welche anfingen zu
träufeln. „Ja," versetzte der Bayer, „sollen wir wirklich laufen und
springen?" und begann zu weinen. „Und Sie, allerliebste Jungfer
Bünzlin?" sagte Jobst heulend, „wie werden Sie sich denn verhalten?"
„Mir geziemt," antwortete sie und hielt sich das Schnupftuch vor die
Augen, „mir geziemt zu schweigen, zu leiden und zuzusehen!" Der Schwabe
sagte freundlich und listig: „Aber dann nachher, Jungfer Züsi?" „O
Dietrich!" erwiderte sie sanft, „wissen Sie nicht, daß es heißt, der
Zug des Schicksals ist des Herzens Stimme?" Und dabei sah sie ihn von
der Seite so verblümt an, daß er abermals die Beine hob und Lust
verspürte, sogleich in Trab zu geraten. Während die zwei Nebenbuhler
ihre kleinen Felleisenfuhrwerke in Ordnung brachten und Dietrich das
gleiche tat, streifte sie abermals mit Nachdruck seinen Ellbogen oder
trat ihm auf den Fuß; auch wischte sie ihm den Staub von dem Hute,
lächelte aber gleichzeitig den andern zu, wie wenn sie den Schwaben
auslachte, doch so, daß es dieser nicht sehen konnte. Alle drei bliesen
jetzt mächtig die Backen auf und sandten große Seufzer in die Luft. Sie
sahen sich um nach allen Seiten, nahmen die Hüte ab, wischten sich den
Schweiß von der Stirn, strichen die steif geklebten Haare und setzten
die Hüte wieder auf. Nochmals schauten sie nach allen Winden und
schnappten nach Luft. Züs erbarmte sich ihrer und war so gerührt,
daß sie selbst weinte. „Hier sind noch drei dürre Pflaumen," sagte
sie, „nehmt jeder eine in den Mund und behaltet sie darin, das wird
euch erquicken! So ziehet denn dahin und kehret die Torheit der
Schlechten um in Weisheit der Gerechten! Was sie zum Mutwillen
ausgesonnen, das verwandelt in ein erbauliches Werk der Prüfung und
der Selbstbeherrschung, in eine sinnreiche Schlußhandlung eines
langjährigen Wohlverhaltens und Wettlaufes in der Tugend!" Jedem
steckte sie die Pflaume in den Mund, und er sog daran. Jobst drückte
die Hand auf seinen Magen und rief: „Wenn es denn sein muß, so sei es
in Himmels Namen!" und plötzlich fing er, indem er den Stock erhob,
mit stark gebogenen Knien mächtig an auszuschreiten und zog sein
Felleisen an sich. Kaum sah dies Fridolin, so folgte er ihm nach mit
langen Schritten, und ohne sich ferner umzusehen, eilten sie schon
ziemlich hastig die Straße hinab.

Der Schwabe war der letzte, der sich aufmachte, und ging mit listig
vergnügtem Gesicht und scheinbar ganz gemächlich neben Züs her, wie
wenn er seiner Sache sicher und edelmütig seinen Gefährten einen
Vorsprung gönnen wollte. Züs belobte seine freundliche Gelassenheit
und hing sich vertraulich an seinen Arm. „Ach, es ist doch schön,"
sagte sie mit einem Seufzer, „eine feste Stütze zu haben im Leben!
Selbst wenn man hinlänglich begabt ist mit Klugheit und Einsicht und
einen tugendhaften Weg wandelt, so geht es sich auf diesem Wege doch
viel gemütlicher am vertrauten Freundesarme!" „Der Tausend, ei ja
wohl, das wollte ich wirklich meinen!" erwiderte Dietrich und stieß
ihr den Ellbogen tüchtig in die Seite, indem er zugleich nach seinen
Nebenbuhlern spähte, ob der Vorsprung auch nicht zu groß würde, „sehen
Sie wohl, werteste Jungfer! Kommt es Ihnen allendlich? Merken Sie, wo
Barthel den Most holt?" „O Dietrich, lieber Dietrich," sagte sie mit
einem noch viel stärkeren Seufzer, „ich fühle mich oft recht einsam!"
„Hopsele, so muß es kommen!" rief er und sein Herz hüpfte wie ein
Häschen im Weißkohl. „O Dietrich!" rief sie und drückte sich fester an
ihn; es ward ihm schwül und sein Herz wollte zerspringen vor pfiffigem
Vergnügen; aber zugleich entdeckte er, daß seine Vorläufer nicht mehr
sichtbar, sondern um eine Ecke herum verschwunden waren. Sogleich
wollte er sich losreißen von Züsis Arm und jenen nachspringen; aber
sie hielt ihn so fest, daß es ihm nicht gelang, und klammerte sich an,
wie wenn sie schwach würde. „Dietrich!" flüsterte sie, die Augen
verdrehend, „lassen Sie mich jetzt nicht allein, ich vertraue auf Sie,
stützen Sie mich!" „Den Teufel noch einmal, lassen Sie mich los,
Jungfer!" rief er ängstlich, „oder ich komm' zu spät und dann ade
Zipfelmütze!" „Nein, nein! Sie dürfen mich nicht verlassen, ich fühle,
mir wird übel!" jammerte sie. „Übel oder nicht übel!" schrie er und
riß sich gewaltsam los; er sprang auf eine Erhöhung und sah sich um
und sah die Läufer schon im vollen Rennen weit den Berg hinunter. Nun
setzte er zum Sprung an, schaute sich aber im selben Augenblick noch
einmal nach Züs um. Da sah er sie, wie sie am Eingange eines engen
schattigen Waldpfades saß und lieblich lockend ihm mit den Händen
winkte. Diesem Anblicke konnte er nicht widerstehen, sondern eilte,
statt den Berg hinunter, wieder zu ihr hin. Als sie ihn kommen sah,
stand sie auf und ging tiefer in das Holz hinein, sich nach ihm
umsehend; denn sie dachte ihn auf alle Weise vom Laufen abzuhalten und
so lange zu vexieren, bis er zu spät käme und nicht in Seldwyl bleiben
könne.

Allein der erfindungsreiche Schwabe änderte zu selber Zeit seine
Gedanken und nahm sich vor, sein Heil hier oben zu erkämpfen, und so
geschah es, daß es ganz anders kam, als die listige Person es hoffte.
Sobald er sie erreicht und an einem verborgenen Plätzchen mit ihr
allein war, fiel er ihr zu Füßen und bestürmte sie mit den feurigsten
Liebeserklärungen, welche ein Kammacher je gemacht hat. Erst suchte
sie ihm Ruhe zu gebieten und, ohne ihn fortzuscheuchen, auf gute
Manier hinzuhalten, indem sie alle ihre Weisheiten und Anmutungen
spielen ließ. Als er ihr aber Himmel und Hölle vorstellte, wozu ihm
sein aufgeregter und gespannter Unternehmungsgeist herrliche
Zauberworte verlieh, als er sie mit Zärtlichkeiten jeder Art
überhäufte und bald ihrer Hände, bald ihrer Fuße sich zu bemächtigen
suchte und ihren Leib und ihren Geist, alles was an ihr war, lobte und
rühmte, daß der Himmel hätte grün werden mögen, als dazu die Witterung
und der Wald so still und lieblich waren, verlor Züs endlich den
Kompaß, als ein Wesen, dessen Gedanken am Ende doch so kurz sind als
seine Sinne; ihr Herz krabbelte so ängstlich und wehrlos, wie ein
Käfer, der auf dem Rücken liegt, und Dietrich besiegte es in jeder
Weise. Sie hatte ihn in dies Dickicht verlockt, um ihn zu verraten,
und war im Handumdrehen von dem Schwäbchen erobert; dies geschah
nicht, weil sie etwa eine besonders verliebte Person war, sondern weil
sie als eine kurze Natur trotz aller eingebildeten Weisheit doch nicht
über ihre eigene Nase wegsah. Sie blieben wohl eine Stunde in dieser
kurzweiligen Einsamkeit, umarmten sich immer aufs neue und gaben sich
tausend Küßchen. Sie schwuren sich ewige Treue und in aller
Aufrichtigkeit und wurden einig, sich zu heiraten auf alle Fälle.

Unterdessen hatte sich in der Stadt die Kunde von dem seltsamen
Unternehmen der drei Gesellen verbreitet und der Meister selbst zu
seiner Belustigung die Sache bekannt gemacht; deshalb freuten sich die
Seldwyler auf das unverhoffte Schauspiel und waren begierig, die
gerechten und ehrbaren Kammacher zu ihrem Spaße laufen und ankommen zu
sehen. Eine große Menschenmenge zog vor das Tor und lagerte sich zu
beiden Seiten der Straße, wie wenn man einen Schnelläufer erwartet.
Die Knaben kletterten auf die Bäume, die Alten und Rückgesetzten saßen
im Grase und rauchten ihr Pfeifchen, zufrieden, daß sich ihnen ein so
wohlfeiles Vergnügen aufgetan. Selbst die Herren waren ausgerückt, um
den Hauptspaß mit anzusehen, saßen fröhlich diskurierend in den Gärten
und Lauben der Wirtshäuser und bereiteten eine Menge Wetten vor. In
den Straßen, durch welche die Läufer kommen mußten, waren alle Fenster
geöffnet, die Frauen hatten in den Visitenstuben rote und weiße Kissen
ausgelegt, die Arme darauf zu legen, und zahlreichen Damenbesuch
empfangen, so daß fröhliche Kaffeegesellschaften aus dem Stegreif
entstanden und die Mägde genug zu laufen hatten, um Kuchen und
Zwieback zu holen. Vor dem Tore aber sahen jetzt die Buben auf den
höchsten Bäumen eine kleine Staubwolke sich nähern und begannen zu
rufen: „Sie kommen, sie kommen!" Und nicht lange dauerte es, so kamen
Fridolin und Jobst wirklich wie ein Sturmwind herangesaust, mitten auf
der Straße, eine dicke Wolke Staubes aufrührend. Mit der einen Hand
zogen sie die Felleisen, welche wie toll über die Steine flogen, mit
der andern hielten sie die Hüte fest, welche ihnen' im Nacken saßen,
und ihre langen Röcke flogen und wehten um die Wette. Beide waren von
Schweiß und Staub bedeckt, sie sperrten den Mund auf und lechzten nach
Atem, sahen und hörten nichts, was um sie her vorging und dicke Tränen
rollten den armen Männern über die Gesichter, welche sie nicht
abzuwischen Zeit hatten. Sie liefen sich dicht auf den Fersen, doch
war der Bayer voraus um eine Spanne. Ein entsetzliches Geschrei und
Gelächter erhob sich und dröhnte, so weit das Ohr reichte. Alles
raffte sich auf und drängte sich dicht an den Weg, von allen Seiten
rief es: „So recht, so recht! Lauft, wehr' dich, Sachs! Halt dich
brav, Bayer! Einer ist schon abgefallen, es sind nur noch zwei!" Die
Herren in den Gärten standen auf den Tischen und wollten sich
ausschütten vor Lachen. Ihr Gelächter dröhnte aber donnernd und fest
über den haltlosen Lärm der Menge weg, die auf der Straße lagerte, und
gab das Signal zu einem unerhörten Freudentage. Die Buben und das
Gesindel strömten hinter den zwei armen Gesellen zusammen und ein
wilder Haufen, eine furchtbare Wolke erregend, wälzte sich mit ihnen
dem Tore zu; selbst Weiber und junge Gassenmädchen liefen mit und
mischten ihre hellen quiekenden Stimmen in das Geschrei der Burschen.
Schon waren sie dem Tore nah, dessen Türme von Neugierigen besetzt
waren, die ihre Mützen schwenkten; die zwei rannten wie scheu
gewordene Pferde, das Herz voll Qual und Angst; da kniete ein
Gassenjunge wie ein Kobold auf Jobstens fahrendes Felleisen und ließ
sich unter dem Beifallsgeschrei der Menge mitfahren. Jobst wandte sich
und flehte ihn an, loszulassen, auch schlug er mit dem Stocke nach
ihm; aber der Junge duckte sich und grinste ihn an. Darüber gewann
Fridolin einen größeren Vorsprung, und wie Jobst es merkte, warf er
ihm den Stock zwischen die Füße, daß er hinstürzte. Wie aber Jobst
über ihn wegspringen wollte, erwischte ihn der Bayer am Rockschoß und
zog sich daran in die Höhe; Jobst schlug ihm auf die Hände und schrie:
„Laß los, laß los!" Fridolin ließ aber nicht los, Jobst packte dafür
seinen Rockschoß und nun hielten sie sich gegenseitig fest und drehten
sich langsam zum Tore hinein, nur zuweilen einen Sprung versuchend, um
einer dem andern zu entrinnen. Sie weinten, schluchzten und heulten
wie Kinder und schrien in unsäglicher Beklemmung: „O Gott, laß los! Du
lieber Heiland, laß los, Jobst! Laß los, Fridolin! Laß los, du Satan!"
Dazwischen schlugen sie sich fleißig auf die Hände, kamen aber immer
um ein weniges vorwärts. Hut und Stock hatten sie verloren, zwei Buben
trugen dieselben, die Hüte auf die Stöcke gesteckt, voran und hinter
ihnen her wälzte sich der tobende Haufen; alle Fenster waren von der
Damenwelt besetzt, welche ihr silbernes Gelächter in die unten tosende
Brandung warf, und seit langer Zeit war man nicht mehr so fröhlich
gestimmt gewesen in dieser Stadt. Das rauschende Vergnügen schmeckte
den Bewohnern so gut, daß kein Mensch den zwei Ringenden ihr Ziel
zeigte, des Meisters Haus, an welchem sie endlich angelangt. Sie
selben sahen es nicht, sie sahen überhaupt nichts, und so wälzte sich
der tolle Zug durch das ganze Städtchen und zum anderen Tore wieder
hinaus. Der Meister hatte lachend unter dem Fenster gelegen, und
nachdem er noch ein Stündchen auf den endlichen Sieger gewartet,
wollte er eben weggehen, um die Früchte seines Schwankes zu genießen,
als Dietrich und Züs still und unversehens bei ihm eintraten.

Diese hatten nämlich unterdessen ihre Gedanken zusammengetan und
beraten, daß der Kammachermeister wohl geneigt sein dürfte, da er doch
nicht lang mehr machen würde, sein Geschäft gegen eine bare Summe zu
verkaufen. Züs wollte ihren Gültbrief dazu hergeben und der Schwabe
sein Geldchen auch dazutun, und dann wären sie die Herren der Sachlage
und könnten die andern zwei auslachen. Sie trugen ihre Vereinigung dem
überraschten Meister vor; diesem leuchtete es sogleich ein, hinter dem
Rücken seiner Gläubiger, ehe es zum Bruch kam, noch schnell den Handel
abzuschließen und unverhofft des baren Kaufpreises habhaft zu werden.
Rasch wurde alles festgestellt, und ehe die Sonne unterging, war
Jungfer Bünzlin die rechtmäßige Besitzerin des Kammachergeschäftes und
ihr Bräutigam der Mieter des Hauses, in welchem dasselbe lag, und so
war Züs, ohne es am Morgen geahnt zu haben, endlich erobert und
gebunden durch die Handlichkeit des Schwäbchens.

Halbtot vor Scham, Mattigkeit und Ärger lagen Jobst und Fridolin in
der Herberge, wohin man sie geführt hatte, nachdem sie auf dem freien
Felde endlich umgefallen waren, ganz ineinander verbissen. Die ganze
Stadt, da sie einmal aufgeregt war, hatte die Ursache schon vergessen
und feierte eine lustige Nacht. In vielen Häusern wurde getanzt und in
den Schenken wurde gezecht und gesungen, wie an den größten
Seldwylertagen; denn die Seldwyler brauchten nicht viel Zeug, um mit
Meisterhand eine Lustbarkeit daraus zu formen. Als die beiden armen
Teufel sahen, wie ihre Tapferkeit, mit welcher sie gedacht hatten, die
Torheit der Welt zu benutzen, nur dazu gedient hatte, dieselbe
triumphieren zu lassen und sich selbst zum allgemeinen Gespött zu
machen, wollte ihnen das Herz brechen; denn sie hatten nicht nur den
weisen Plan mancher Jahre verfehlt und vernichtet, sondern auch den
Ruhm besonnener und rechtlich ruhiger Leute eingebüßt.

Jobst, der der älteste war und sieben Jahre hier gewesen, war ganz
verloren und konnte sich nicht zurechtfinden. Ganz schwermütig zog er
vor Tag wieder aus der Stadt, und hing sich an der Stelle, wo sie alle
gestern gesessen, an einen Baum. Als der Bayer eine Stunde später da
vorüberkam und ihn erblickte, faßte ihn ein solches Entsetzen, daß er
wie wahnsinnig davonrannte, sein ganzes Wesen veränderte und, wie man
nachher hörte, ein liederlicher Mensch und alter Handwerksbursch
wurde, der keines Menschen Freund war.

Dietrich der Schwabe allein blieb ein Gerechter und hielt sich oben in
dem Städtchen; aber er hatte nicht viel Freude davon; denn Züs ließ
ihm gar nicht den Ruhm, regierte und unterdrückte ihn und betrachtete
sich selbst als die alleinige Quelle alles Guten.

*       *       *       *       *



SPIEGEL, DAS KÄTZCHEN

EIN MÄRCHEN

Wenn ein Seldwyler einen schlechten Handel gemacht hat oder angeführt
worden ist, so sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmer
abgekauft! Dies Sprichwort ist zwar auch anderwärts gebräuchlich, aber
nirgends hört man es so oft wie dort, was vielleicht daher rühren mag,
daß es in dieser Stadt eine alte Sage gibt über den Ursprung und die
Bedeutung dieses Sprichwortes.

Vor mehreren hundert Jahren, heißt es, wohnte in Seldwyla eine
ältliche Person allein mit einem schönen, grau und schwarzen Kätzchen,
welches in aller Vergnügtheit und Klugheit mit ihr lebte und
niemandem, der es ruhig ließ, etwas zuleide tat. Seine einzige
Leidenschaft war die Jagd, welche es jedoch mit Vernunft und Mäßigung
befriedigte, ohne sich durch den Umstand, daß diese Leidenschaft
zugleich einen nützlichen Zweck hatte und seiner Herrin wohlgefiel,
beschönigen zu wollen und allzusehr zur Grausamkeit hinreißen zu
lassen. Es fing und tötete daher nur die zudringlichsten und frechsten
Mäuse, welche sich in einem gewissen Umkreise des Hauses betreten
ließen, aber diese dann mit zuverlässiger Geschicklichkeit; nur selten
verfolgte es eine besonders pfiffige Maus, welche seinen Zorn gereizt
hatte, über diesen Umkreis hinaus und erbat sich in diesem Falle mit
vieler Höflichkeit von den Herren Nachbarn die Erlaubnis, in ihren
Häusern ein wenig mausen zu dürfen, was ihm gerne gewährt wurde, da es
die Milchtöpfe stehenließ, nicht an die Schinken hinaufsprang, welche
etwa an den Wänden hingen, sondern seinem Geschäfte still und
aufmerksam oblag und, nachdem es dieses verrichtet, sich mit dem
Mäuslein im Maule anständig entfernte. Auch war das Kätzchen gar nicht
scheu und unartig, sondern zutraulich gegen jedermann, und floh nicht
vor vernünftigen Leuten; vielmehr ließ es sich von solchen einen guten
Spaß gefallen und selbst ein bißchen an den Ohren zupfen, ohne zu
kratzen; dagegen ließ es sich von einer Art dummer Menschen, von
welchen es behauptete, daß die Dummheit aus einem unreifen und
nichtsnutzigen Herzen käme, nicht das mindeste gefallen und ging ihnen
entweder aus dem Wege oder versetzte ihnen einen ausreichenden Hieb
über die Hand, wenn sie es mit einer Plumpheit molestierten.

Spiegel, so war der Name des Kätzchens wegen seines glatten und
glänzenden Pelzes, lebte so seine Tage heiter, zierlich und
beschaulich dahin, in anständiger Wohlhabenheit und ohne Überhebung.
Er saß nicht zu oft auf der Schulter seiner freundlichen Gebieterin,
um ihr die Bissen von der Gabel wegzufangen, sondern nur, wenn er
merkte, daß ihr dieser Spaß angenehm war, auch lag und schlief er den
Tag über selten auf seinem warmen Kissen hinter dem Ofen, sondern
hielt sich munter und liebte es eher, auf einem schmalen
Treppengeländer oder in der Dachrinne zu liegen und sich
philosophischen Betrachtungen und der Beobachtung der Welt zu
überlassen. Nur jeden Frühling und Herbst einmal wurde dies ruhige
Leben eine Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen blühten oder die
milde Wärme des Altweibersommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann
ging Spiegel seine eigenen Wege, streifte in verliebter Begeisterung
über die fernsten Dächer und sang die allerschönsten Lieder. Als ein
rechter Don Juan bestand er bei Tag und Nacht die bedenklichsten
Abenteuer, und wenn er sich zur Seltenheit einmal im Hause sehen ließ,
so erschien er mit einem so verwegenen, burschikosen, ja liederlichen
und zerzausten Aussehen, daß die stille Person, seine Gebieterin, fast
unwillig ausrief: „Aber Spiegel! Schämst du dich denn nicht, ein
solches Leben zu führen?" Wer sich aber nicht schämte, war Spiegel;
als ein Mann von Grundsätzen, der wohl wußte, was er sich zur
wohltätigen Abwechslung erlauben durfte, beschäftigte er sich ganz
ruhig damit, die Glätte seines Pelzes und die unschuldige Munterkeit
seines Aussehens wiederherzustellen, und er fuhr sich so unbefangen
mit dem feuchten Pfötchen über die Nase, als ob gar nichts geschehen
wäre.

Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötzlich ein trauriges Ende. Als
das Kätzchen Spiegel eben in der Blüte seiner Jahre stand, starb die
Herrin unversehens an Altersschwäche und ließ das schöne Kätzchen
herrenlos und verwaist zurück. Es war das erste Unglück, welches ihm
widerfuhr, und mit jenen Klagetönen, welche so schneidend den bangen
Zweifel an der wirklichen und rechtmäßigen Ursache eines großen
Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche bis auf die Straße und
strich den ganzen übrigen Tag ratlos im Hause und rings um dasselbe
her. Doch seine gute Natur, seine Vernunft und Philosophie geboten ihm
bald, sich zu fassen, das Unabänderliche zu tragen und seine dankbare
Anhänglichkeit an das Haus seiner toten Gebieterin dadurch zu
beweisen, daß er ihren ladenden Erben seine Dienste anbot und sich
bereitmachte, denselben mit Rat und Tat beizustehen, die Muse ferner
im Zaume zu halten und überdies ihnen manche gute Mitteilung zu
machen, welche die Törichten nicht verschmäht hätten, wenn sie eben
nicht unvernünftige Menschen gewesen wären. Aber diese Leute ließen
Spiegel gar nicht zu Wort kommen, sondern warfen ihm die Pantoffeln
und das artige Fußschemelchen der Seligen an den Kopf, sooft er sich
blicken ließ, zankten sich acht Tage lang untereinander, begannen
endlich einen Prozeß und schlossen das Haus bis auf weiteres zu, so
daß nun gar niemand darin wohnte.

Da saß nun der arme Spiegel traurig und verlassen auf der steinernen
Stufe vor der Haustüre und hatte niemand, der ihn hineinließ. Des
Nachts begab er sich wohl auf Umwegen unter das Dach den Hauses, und
im Anfang hielt er sich einen großen Teil den Tages dort verborgen und
suchte seinen Kummer zu verschlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an
das Licht und nötigte ihn, an der warmen Sonne und unter den Leuten zu
erscheinen, um bei der Hand zu sein und zu gewärtigen, wo sich etwa
ein Maulvoll geringer Nahrung neigen möchte. Je seltener dies geschah,
desto aufmerksamer wurde der gute Spiegel, und alle seine moralischen
Eigenschaften gingen in dieser Aufmerksamkeit auf, so daß er sehr bald
sich selber nicht mehr gleichsah. Er machte zahlreiche Ausflüge von
seiner Haustüre aus und stahl sich scheu und flüchtig über die Straße,
um manchmal mit einem schlechten, unappetitlichen Bissen, dergleichen
er früher nie gesehen, manchmal mit gar nichts zurückzukehren. Er
wurde von Tag zu Tag magerer und zerzauster, dabei gierig, kriechend
und feig; all sein Mut, seine zierliche Katzenwürde, seine Vernunft
und Philosophie waren dahin. Wenn die Buben aus der Schule kamen, so
kroch er in einen verborgenen Winkel, sobald er sie kommen hörte, und
guckte nur hervor, um aufzupassen, welcher von ihnen etwa eine
Brotrinde wegwürfe, und merkte sich den Ort, wo sie hinfiel. Wenn der
schlechteste Köter von weitem ankam, so sprang er hastig fort, während
er früher gelassen der Gefahr ins Auge geschaut und böse Hunde oft
tapfer gezüchtigt hatte. Nur wenn ein grober und einfältiger Mensch
daherkam, dergleichen er sonst klüglich gemieden, blieb er sitzen,
obgleich das arme Kätzchen mit dem Reste seiner Menschenkenntnis den
Lümmel recht gut erkannte; allein die Not zwang Spiegelchen, sich zu
täuschen und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweise einmal es
freundlich streicheln und ihm einen Bissen darreichen werde. Und
selbst wenn er statt dessen nun doch geschlagen oder in den Schwanz
gekneift würde, so kratzte er nicht, sondern duckte sich lautlos zur
Seite und sah dann noch verlangend nach der Hand, die es geschlagen
und gekneift, und welche nach Wurst oder Hering roch.

Als der edle und kluge Spiegel so heruntergekommen war, saß er eines
Tages ganz mager und traurig auf seinem Stein und blinzelte in der
Sonne. Da kam der Stadthexenmeister Pineiß des Weges, sah das Kätzchen
und stand vor ihm still. Etwas Gutes hoffend, obgleich es den
Unheimlichen wohl kannte, saß Spiegelchen demütig auf dem Stein und
erwartete, was der Herr Pineiß etwa tun oder sagen würde. Als dieser
aber begann und sagte: „Na, Katze! Soll ich dir deinen Schmer
abkaufen?" da verlor es die Hoffnung, denn es glaubte, der
Stadthexenmeister wolle es seiner Magerkeit wegen verhöhnen. Doch
erwiderte er bescheiden und lächelnd, um es mit niemand zu verderben:
„Ach, der Herr Pineiß belieben zu scherzen!" „Mitnichten!" rief
Pineiß, „es ist mir voller Ernst! Ich brauche Katzenschmer vorzüglich
zur Hexerei; aber er muß mir vertragsmäßig und freiwillig von den
werten Herren Katzen abgetreten werden, sonst ist er unwirksam. Ich
denke, wenn je ein wackeres Kätzlein in der Lage war, einen
vorteilhaften Handel abzuschließen, so bist es du! Begib dich in
meinen Dienst; ich füttere dich herrlich heraus, mache dich fett und
kugelrund mit Würstchen und gebratenen Wachteln. Auf dem ungeheuer
hohen alten Dache meines Hauses, welches nebenbei gesagt das
köstlichste Dach von der Welt ist für eine Katze, voll interessanter
Gegenden und Winkel, wächst auf den sonnigsten Höhen treffliches
Spitzgras, grün wie Smaragd, schlank und fein in den Lüften
schwankend, dich einladend, die zartesten Spitzen abzubeißen und zu
genießen, wenn du dir an meinen Leckerbissen eine leichte
Unverdaulichkeit zugezogen hast. So wirst du bei trefflicher
Gesundheit bleiben und mir dereinst einen kräftigen brauchbaren Schmer
liefern!"

Spiegel hatte schon längst die Ohren gespitzt und mit wässerndem
Mäulchen gelauscht; doch war seinem geschwächten Verstande die Sache
noch nicht klar und er versetzte daher: „Das ist soweit nicht übel,
Herr Pineiß! Wenn ich nur wüßte, wie ich alsdann, wenn ich doch, um
Euch meinen Schmer abzutreten, mein Leben lassen muß, des verabredeten
Preises habhaft werden und ihn genießen soll, da ich nicht mehr bin?"
„Des Preises habhaft werden?" sagte der Hexenmeister verwundert, „den
Preis genießest du ja eben in den reichlichen und üppigen Speisen,
womit ich dich fettmache, das versteht sich von selber! Doch will ich
dich zu dem Handel nicht zwingen!" Und er machte Miene, sich von
dannen begeben zu wollen. Aber Spiegel sagte hastig und ängstlich:
„Ihr müßt mir wenigstens eine mäßige Frist gewähren über die Zeit
meiner höchsten erreichten Rundheit und Fettigkeit hinaus, daß ich
nicht so jählings von hinnen gehen muß, wenn jener angenehme und ach!
so traurige Zeitpunkt herangekommen und entdeckt ist!"

„Es sei!" sagte Herr Pineiß mit anscheinender Gutmütigkeit, „bis zum
nächsten Vollmond sollst du dich alsdann deines angenehmen Zustandes
erfreuen dürfen, aber nicht länger! Denn in den abnehmenden Mond
hinein darf es nicht gehen, weil dieser einen verminderten Einfluß auf
mein wohlerworbenes Eigentum ausüben würde."

Das Kätzchen beeilte sich zuzuschlagen und unterzeichnete einen
Vertrag, welchen der Hexenmeister im Vorrat bei sich führte, mit
seiner scharfen Handschrift, welche sein letztes Besitztum und Zeichen
besserer Tage war.

„Du kannst dich nun zum Mittagessen bei mir einfinden, Kater!" sagte
der Hexer, „Punkt zwölf Uhr wird gegessen!" „Ich werde so frei sein,
wenn Ihr's erlaubt!" sagte Spiegel und fand sich pünktlich um die
Mittagsstunde bei Herrn Pineiß ein. Dort begann nun während einiger
Monate ein höchst angenehmes Leben für das Kätzchen; denn es hatte auf
der Welt weiter nichts zu tun, als die guten Dinge zu verzehren, die
man ihm vorsetzte, dem Meister bei der Hexerei zuzuschauen, wenn es
mochte, und auf dem Dache spazierenzugehen. Dies Dach glich einem
ungeheuren schwarzen Nebelspalter oder Dreiröhrenhut, wie man die
großen Hüte der schwäbischen Bauern nennt, und wie ein solcher Hut ein
Gehirn voller Nücken und Finten überschattet, so bedeckte dies Dach
ein großes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk und
Tausendsgeschichten. Herr Pineiß war ein Kannalles, welcher hundert
Ämtchen versah, Leute kurierte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog und
Geld auf Zinsen lieh; er war der Vormünder aller Waisen und Witwen,
schnitt in seinen Mußestunden Federn, das Dutzend für einen Pfennig,
und machte schöne schwarze Tinte; er handelte mit Ingwer und Pfeffer,
mit Wagenschmiere und Rosoli, mit Häftlein und Schuhnägeln, er
renovierte die Turmuhr und machte jährlich den Kalender mit der
Witterung, den Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er verrichtete
zehntausend rechtliche Dinge am hellen Tag um mäßigen Lohn, und einige
unrechtliche nur in der Finsternis und aus Privatleidenschaft, oder
hing auch den rechtlichen, ehe er sie aus seiner Hand entließ, schnell
noch ein unrechtliches Schwänzchen an, so klein wie die Schwänzchen
der jungen Frösche, gleichsam nur der Possierlichkeit wegen. Überdies
machte er das Wetter in schwierigen Zeiten, überwachte mit seiner
Kunst die Hexen, und wenn sie reif waren, ließ er sie verbrennen; für
sich trieb er die Hexerei nur als wissenschaftlichen Versuch und zum
Hausgebrauch, sowie er auch die Stadtgesetze, die er redigierte und
ins reine schrieb, unter der Hand probierte und verdrehte, um ihre
Dauerhaftigkeit zu ergründen. Da die Seldwyler stets einen solchen
Bürger brauchten, der alle unlustigen kleinen und großen Dinge für sie
tat, so war er zum Stadthexenmeister ernannt worden und bekleidete
dies Amt schon seit vielen Jahren mit unermüdlicher Hingebung und
Geschicklichkeit, früh und spät. Daher war sein Haus von unten bis
oben vollgestopft mit allen erdenklichen Dingen, und Spiegel hatte
viel Kurzweil, alles zu besehen und zu beriechen. Doch im Anfang
gewann er keine Aufmerksamkeit für andere Dinge, als für das Essen. Er
schlang gierig alles hinunter, was Pineiß ihm darreichte, und mochte
kaum von einer Zeit zur andern warten. Dabei überlud er sich den Magen
und mußte wirklich auf das Dach gehen, um dort von den grünen Gräsern
abzubeißen und sich von allerhand Unwohlsein zu kurieren. Als der
Meister diesen Heißhunger bemerkte, freute er sich und dachte, das
Kätzchen würde solcherweise recht bald fett werden, und je besser er
daran wende, desto klüger verfahre und spare er im ganzen. Er baute
daher für Spiegel eine ordentliche Landschaft in seiner Stube, indem
er ein Wäldchen von Tannenbäumchen aufstellte, kleine Hügel von
Steinen und Moos errichtete und einen kleinen See anlegte. Auf die
Bäumchen setzte er duftig gebratene Lerchen, Finken, Meisen und
Sperlinge, je nach der Jahreszeit, so daß da Spiegel immer etwas
herunterzuholen und zu knabbern vorfand. In die kleinen Berge
versteckte er in künstlichen Mauslöchern herrliche Mäuse, welche er
sorgfältig mit Weizenmehl gemästet, dann ausgeweidet, mit zarten
Speckriemchen gespickt und gebraten hatte. Einige dieser Mäuse konnte
Spiegel mit der Hand hervorholen, andere waren zur Erhöhung des
Vergnügens tiefer verborgen, aber an einen Faden gebunden, an welchem
Spiegel sie behutsam hervorziehen mußte, wenn er diese Lustbarkeit
einer nachgeahmten Jagd genießen wollte. Das Becken des Sees aber
füllte Pineiß alle Tage mit frischer Milch, damit Spiegel in der süßen
seinen Durst lösche, und ließ gebratene Gründlinge darin schwimmen, da
er wußte, daß Katzen zuweilen auch die Fischerei lieben. Aber da nun
Spiegel ein so herrliches Leben führte, tun und lassen, essen und
trinken konnte, was ihm beliebte und wann es ihm einfiel, so gedieh er
allerdings zusehends an seinem Leibe; sein Pelz wurde wieder glatt und
glänzend und sein Auge munter; aber zugleich nahm er, da sich seine
Geisteskräfte in gleichem Maße wieder ansammelten, bessere Sitten an;
die wilde Gier legte sich, und weil er jetzt eine traurige Erfahrung
hinter sich hatte, so wurde er nun klüger als zuvor. Er mäßigte sich
in seinen Gelüsten und fraß nicht mehr als ihm zuträglich war, indem
er zugleich wieder vernünftigen und tiefsinnigen Betrachtungen
nachhing und die Dinge weder durchschaute. So holte er eines Tages
einen hübschen Krammetsvogel von den Ästen herunter, und als er
denselben nachdenklich zerlegte, fand er dessen kleinen Magen ganz
kugelrund angefüllt mit frischer unversehrter Speise. Grüne Kräutchen,
artig zusammengerollt, schwarze und weiße Samenkörner und eine
glänzendrote Beere waren da so niedlich und dicht ineinander
gepfropft, als ob ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen zur Reise
gepackt hätte. Als Spiegel den Vogel langsam verzehrt und das so
vergnüglich gefüllte Mäglein an seine Klaue hing und philosophisch
betrachtete, rührte ihn das Schicksal des armen Vogels, welcher nach
so friedlich verbrachtem Geschäft so schnell sein Leben lassen gemußt,
daß er nicht einmal die eingepackten Sachen verdauen konnte. „Was hat
er nun davon gehabt, der arme Kerl," sagte Spiegel, „daß er sich so
fleißig und eifrig genährt hat, daß dies kleine Säckchen aussieht, wie
ein wohl vollbrachtes Tagewerk? Diese rote Beere ist es, die ihn aus
dem freien Walde in die Schlinge des Vogelstellers gelockt hat. Aber
er dachte doch seine Sache noch besser zu machen und sein Leben an
solchen Beeren zu fristen, während ich, der ich soeben den
unglücklichen Vogel gegessen, daran mich nur um einen Schritt näher
zum Tode gegessen habe! Kann man einen elenderen und feigeren Vertrag
abschließen, als sein Leben noch ein Weilen fristenzulassen, um es
dann um diesen Preis doch zu verlieren? Wäre nicht ein freiwilliger
und schneller Tod vorzuziehen gewesen für einen entschlossenen Kater?
Aber ich habe keine Gedanken gehabt, und nun da ich wieder solche
habe, sehe ich nichts vor mir, als das Schicksal dieses
Krammetsvogels; wenn ich rund genug bin, so muß ich von hinnen, aus
keinem andern Grunde, als weil ich rund bin. Ein schöner Grund für
einen lebenslustigen und gedankenreichen Katzmann! Ach, könnte ich aus
dieser Schlinge kommen!" Er vertiefte sich nun in vielfältige
Grübeleien, wie das gelingen möchte; aber da die Zeit der Gefahr noch
nicht da war, so wurde es ihm nicht klar und er fand keinen Ausweg;
aber als ein kluger Mann ergab er sich bis dahin der Tugend der
Selbstbeherrschung, welches immer die beste Vorschule und
Zeitverwendung ist, bis sich etwas entscheiden soll. Er verschmähte
das weiche Kissen, welches ihm Pineiß zurechtgelegt hatte, damit er
fleißig darauf schlafen und fett werden sollte, und zog es vor, wieder
auf schmalen Gesimsen und hohen gefährlichen Stellen zu liegen, wenn
er ruhen wollte. Ebenso verschmähte er die gebratenen Vögel und die
gespickten Mäuse und fing sich lieber auf den Dächern, da er nun
wieder einen rechtmäßigen Jagdgrund hatte, mit List und Gewandtheit
einen schlichten lebendigen Sperling, oder auf den Speichern eine
flinke Maus, und solche Beute schmeckte ihm vortrefflicher, als das
gebratene Wild in Pineißens künstlichem Gehege, während sie ihn nicht
zu fett machte; auch die Bewegung und Tapferkeit, sowie der
wiedererlangte Gebrauch der Tugend und Philosophie verhinderten ein zu
schnelles Fettwerden, so daß Spiegel zwar gesund und glänzend aussah,
aber zu Pineißens Verwunderung auf einer gewissen Stufe der
Beleibtheit stehen blieb, welche lange nicht das erreichte, was der
Hexenmeister mit seiner freundlichen Mästung bezweckte; denn dieser
stellte sich darunter ein kugelrundes, schwerfälliges Tier vor,
welches sich nicht vom Ruhekissen bewegte und aus eitel Schmer
bestand. Aber hierin hatte sich seine Hexerei eben geirrt und er wußte
bei aller Schlauheit nicht, daß wenn man einen Esel füttert, derselbe
ein Esel bleibt, wenn man aber einen Fuchsen speiset, derselbe nichts
anders wird als ein Fuchs; denn jede Kreatur wächst sich nach ihrer
Weise aus. Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer auf demselben
Punkte einer wohlgenährten, aber geschmeidigen und zügigen Schlankheit
stehen blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzusetzen, stellte er
ihn eines Abends plötzlich zur Rede und sagte barsch: „Was ist das,
Spiegel? Warum frissest du die guten Speisen nicht, die ich dir mit so
viel Sorgfalt und Kunst präpariere und herstelle? Warum fängst du die
gebratenen Vögel nicht auf den Bäumen, warum suchst du die leckeren
Mäuschen nicht in den Berghöhlen? Warum fischest du nicht mehr in dem
See? Warum pflegst du dich nicht? Warum schläfst du nicht auf dem
Kissen? Warum strapazierst du dich und wirst mir nicht fett?" „Ei,
Herr Pineiß!" sagte Spiegel, „weil es mir wohler ist auf diese Weise!
Soll ich meine kurze Frist nicht auf die Art verbringen, die mir am
angenehmsten ist!" „Wie!" rief Pineiß, „du sollst so leben, daß du
dick und rund wirst und nicht dich abjagen! Ich merke aber wohl, wo du
hinauswillst! Du denkst mich zu äffen und hinzuhalten, daß ich dich in
Ewigkeit in diesem Mittelzustande herumlaufen lasse? Mitnichten soll
dir das gelingen! Es ist deine Pflicht, zu essen und zu trinken und
dich zu pflegen, auf daß du dick werdest und Schmer bekommst! Auf der
Stelle entsage daher dieser hinterlistigen und kontraktwidrigen
Mäßigkeit, oder ich werde ein Wörtlein mit dir sprechen!" Spiegel
unterbrach sein behagliches Spinnen, das er angefangen, um seine
Fassung zu behaupten, und sagte: „Ich weiß kein Sterbenswörtchen
davon, daß in dem Kontrakt steht, ich solle der Mäßigkeit und einem
gesunden Lebenswandel entsagen! Wenn der Herr Stadthexenmeister darauf
gerechnet hat, daß ich ein fauler Schlemmer sei, so ist das nicht
meine Schuld! Ihr tut tausend rechtliche Dinge des Tages, so lasset
dieses auch noch hinzukommen und uns beide hübsch in der Ordnung
bleiben; denn Ihr wißt ja wohl, daß Euch mein Schmer nur nützlich ist,
wenn er auf rechtliche Weise erwachsen!" „Ei du Schwätzer!" rief
Pineiß erbost, „willst du mich belehren? Zeig' her, wieweit bist du
denn eigentlich gediehen, du Müßiggänger? Vielleicht kann man dich
doch bald abtun!" Er griff dem Kätzchen an den Bauch; allein dieses
fühlte sich dadurch unangenehm gekitzelt und hieb dem Hexenmeister
einen scharfen Kratz über die Hand. Diesen betrachtete Pineiß
aufmerksam, dann sprach er: „Stehen wir so miteinander, du Bestie?
Wohlan, so erkläre ich dich hiermit feierlich, kraft des Vertrages,
für fett genug! Ich begnüge mich mit dem Ergebnis und werde mich
desselben zu versichern wissen! In fünf Tagen ist der Mond voll, und
bis dahin magst du dich noch deines Lebens erfreuen, wie es
geschrieben steht, und nicht eine Minute länger!" Damit kehrte er ihm
den Rücken und überließ ihn seinen Gedanken.

Diese waren jetzt sehr bedenklich und düster; so war denn die Stunde
doch nahe, wo der gute Spiegel seine Haut lassen sollte? Und war mit
aller Klugheit gar nichts mehr zu machen? Seufzend stieg er auf das
hohe Dach, dessen Firste dunkel in den schönen Herbstabendhimmel
emporragten. Da ging der Mond über der Stadt auf und warf seinen
Schein auf die schwarzen bemoosten Hohlziegel des alten Daches, ein
lieblicher Gesang tönte in Spiegels Ohren und eine schneeweiße Kätzin
wandelte glänzend über einen benachbarten First weg. Sogleich vergaß
Spiegel die Todesaussichten, in welchen er lebte, und erwiderte mit
seinem schönsten Katerliede den Lobgesang der Schönen. Er eilte ihr
entgegen und war bald im hitzigen Gefecht mit drei fremden Katern
begriffen, die er mutig und wild in die Flucht schlug. Dann machte er
der Dame feurig und ergeben den Hof und brachte Tag und Nacht bei ihr
zu, ohne an den Pineiß zu denken oder im Hause sich sehenzulassen. Er
sang wie eine Nachtigall die schönen Mondnächte hindurch, jagte hinter
der weißen Geliebten her über die Dächer, durch die Gärten, und rollte
mehr als einmal im heftigen Minnespiel oder im Kampfe mit den Rivalen
über hohe Dächer hinunter und fiel auf die Straße; aber nur um sich
aufzuraffen, das Fell zu schütteln und die wilde Jagd seiner
Leidenschaften von neuem anzuheben. Stille und laute Stunden, süße
Gefühle und sonniger Streit, anmutiges Zwiegespräch, witziger
Gedankenaustausch, Ränke und Schwänke der Liebe und Eifersucht,
Liebkosungen und Raufereien, die Gewalt des Glückes und die Leiden des
Unsterns ließen den verliebten Spiegel nicht zu sich selbst kommen,
und als die Scheibe des Mondes vollgeworden, war er von allen diesen
Aufregungen und Leidenschaften so heruntergekommen, daß er
jämmerlicher, magerer und zerzauster aussah, als je. Im selben
Augenblicke rief ihm Pineiß aus einem Dachtürmchen: „Spiegelchen,
Spiegelchen! Wo bist du? Komm doch ein bißchen nach Hause!"

Da schied Spiegel von der weißen Freundin, welche zufrieden und kühl
miauend ihrer Wege ging, und wandte sich stolz seinem Henker zu.
Dieser stieg in die Küche hinunter, raschelte mit dem Kontrakt und
sagte: „Komm, Spiegelchen, komm, Spiegelchen!" und Spiegel folgte ihm
und setzte sich in der Hexenküche trotzig vor den Meister hin in all
seiner Magerkeit und Zerzaustheit. Als Herr Pineiß erblickte, wie er
so schmählich um seinen Gewinn gebracht war, sprang er wie besessen in
die Höhe und schrie wütend: „Was seh' ich? Du Schelm, du gewissenloser
Spitzbube! Was hast du mir getan?" Außer sich vor Zorn griff er nach
einem Besen und wollte Spiegelein schlagen; aber dieser krümmte den
schwarzen Rücken, ließ die Haare emporstarren, daß ein fahler Schein
darüber knisterte, legte die Ohren zurück, prustete und funkelte den
Alten so grimmig an, daß dieser voll Furcht und Entsetzen drei Schritt
zurücksprang. Er begann zu fürchten, daß er einen Hexenmeister vor
sich habe, welcher ihn foppe und mehr könne, als er selbst. Ungewiß
und kleinlaut sagte er: „Ist der ehrsame Herr Spiegel vielleicht vom
Handwerk? Sollte ein gelehrter Zaubermeister beliebt haben, sich in
dero äußere Gestalt zu verkleiden, da er nach Gefallen über sein
Leibliches gebieten und genau so beleibt werden kann, als es ihm
angenehm dünkt, nicht zu wenig und nicht zu viel, oder unversehens so
mager wird, wie ein Gerippe, um dem Tode zu entschlüpfen?"

Spiegel beruhigte sich wieder und sprach ehrlich: „Nein, ich bin kein
Zauberer! Es ist allein die süße Gewalt der Leidenschaft, welche mich
so heruntergebracht und zu meinem Vergnügen Euer Fett dahingenommen
hat. Wenn wir übrigens jetzt unser Geschäft von neuem beginnen wollen,
so will ich tapfer dabei sein und dreinbeißen! Setzt mir nur eine
recht schöne und große Bratwurst vor, denn ich bin ganz erschöpft und
hungrig!" Da packte Pineiß den Spiegel wütend am Kragen, sperrte ihn
in den Gänsestall, der immer leer war, und schrie: „Da sieh zu, ob dir
deine süße Gewalt der Leidenschaft noch einmal heraushilft und ob sie
stärker ist, als die Gewalt der Hexerei und meines rechtlichen
Vertrages! Jetzt heißt's: Vogel friß und stirb!" Sogleich briet er
eine lange Wurst, die so lecker duftete, daß er sich nicht enthalten
konnte, selbst ein bißchen an beiden Zipfeln zu lecken, ehe er sie
durch das Gitter steckte. Spiegel fraß sie von vorn bis hinten auf,
und indem er sich behaglich den Schnurrbart putzte und den Pelz
leckte, sagte er zu sich selber: „Meiner Seel! Es ist doch eine schöne
Sache um die Liebe! Sie hat mich für diesmal wieder aus der Schlinge
gezogen. Jetzt will ich mich ein wenig ausruhen und trachten, daß ich
durch Beschaulichkeit und gute Nahrung wieder zu vernünftigen Gedanken
komme! Alles hat seine Zeit! Heute ein bißchen Leidenschaft, morgen
ein wenig Besonnenheit und Ruhe, ist jedes in seiner Weise gut. Dies
Gefängnis ist gar nicht so übel und es läßt sich gewiß etwas
Ersprießliches darin ausdenken!" Pineiß aber nahm sich nun zusammen
und bereitete alle Tage mit aller seiner Kunst solche Leckerbissen und
in solch reizender Abwechslung und Zuträglichkeit, daß der gefangene
Spiegel denselben nicht widerstehen konnte; denn Pineißens Vorrat an
freiwilligem und rechtmäßigem Katzenschmer nahm alle Tage mehr ab und
drohte nächstens ganz auszugehen, und dann war der Hexer ohne dies
Hauptmittel ein geschlagener Mann. Aber der gute Hexenmeister nährte
mit dem Leibe Spiegels dessen Geist immer wieder mit, und es war
durchaus nicht von dieser unbequemen Zutat loszukommen, weshalb auch
seine Hexerei sich hier als lückenhaft erwies.

Als Spiegel in seinem Käfig ihm endlich fett genug dünkte, säumte er
nicht länger, sondern stellte vor den Augen des aufmerksamen Katers
alle Geschirre zurecht und machte ein helles Feuer auf dem Herd, um
den langersehnten Gewinn auszukochen. Dann wetzte er ein großes
Messer, öffnete den Kerker, zog Spiegelchen hervor, nachdem er die
Küchentüre wohlverschlossen, und sagte wohlgemut: „Komm, du
Sapperlöter! Wir wollen dir den Kopf abschneiden vorderhand, und dann
das Fell abziehen! Dieses wird eine warme Mütze für mich geben, woran
ich Einfältiger noch gar nicht gedacht habe! Oder soll ich dir erst
das Fell abziehen und dann den Kopf abschneiden?" „Nein, wenn es Euch
gefällig ist," sagte Spiegel demütig, „lieber zuerst den Kopf
abschneiden!" „Hast recht, du armer Kerl!" sagte Herr Pineiß, „wir
wollen dich nicht unnütz quälen! Alles was recht ist!" „Dies ist ein
wahres Wort!" sagte Spiegel mit einem erbärmlichen Seufzer und legte
das Haupt ergebungsvoll auf die Seite, „o hätt' ich doch jederzeit
getan, was recht ist, und nicht eine so wichtige Sache leichtsinnig
unterlassen, so könnte ich jetzt mit besserem Gewissen sterben, denn
ich sterbe gern; aber ein Unrecht erschwert mir den sonst so
willkommenen Tod; denn was bietet mir das Leben? Nichts als Furcht,
Sorge und Armut und zur Abwechslung einen Sturm verzehrender
Leidenschaft, die noch schlimmer ist, als die stille zitternde
Furcht!" „Ei, welches Unrecht, welche wichtige Sache?" fragte Pineiß
neugierig. „Ach was hilft das Reden jetzt noch," seufzte Spiegel,
„geschehen ist geschehen und jetzt ist Reue zu spät!" „Siehst du,
Sappermenter, was für ein Sünder du bist?" sagte Pineiß, „und wiewohl
du deinen Tod verdienst? Aber was tausend hast du denn angestellt?
Hast du mir vielleicht etwas entwendet, entfremdet, verdorben? Hast du
mir ein himmelschreiendes Unrecht getan, von dem ich noch gar nichts
weiß, ahne, vermute, du Satan? Das sind mir schöne Geschichten! Gut,
daß ich noch dahinterkomme! Auf der Stelle beichte mir, oder ich
schinde und siede dich lebendig aus! Wirst du sprechen oder nicht?"
„Ach nein!" sagte Spiegel, „wegen Euch habe ich mir nichts
vorzuwerfen. Es betrifft die zehntausend Goldgülden meiner seligen
Gebieterin--aber was hilft Reden!--Zwar--wenn ich bedenke und Euch
ansehe, so möchte es vielleicht doch nicht ganz zu spät sein--wenn ich
Euch betrachte, so sehe ich, daß Ihr ein noch ganz schöner und
rüstiger Mann seid, in den besten Jahren--sagt doch, Herr Pineiß! Habt
Ihr noch nie etwa den Wunsch verspürt, Euch zu verehelichen, ehrbar
und vorteilhaft? Aber was schwatze ich! Wie wird ein so kluger und
kunstreicher Mann auf dergleichen müßige Gedanken kommen! Wie wird ein
so nützlich beschäftigter Meister an törichte Weiber denken! Zwar
allerdings hat auch die Schlimmste noch irgendwas an sich, was etwa
nützlich für einen Mann ist, das ist nicht abzuleugnen! Und wenn sie
nur halbwegs was taugt, so ist eine gute Hausfrau etwa weiß am Leibe,
sorgfältig im Sinne, zutulich von Sitten, treu von Herzen, sparsam im
Verwalten, aber verschwenderisch in der Pflege ihres Mannes,
kurzweilig in Worten und angenehm in ihren Taten, einschmeichelnd in
ihren Handlungen! Sie küßt den Mann mit ihrem Munde und streichelt ihm
den Bart, sie umschließt ihn mit ihren Armen und kraut ihm hinter den
Ohren, wie er es wünscht, kurz, sie tut tausend Dinge, die nicht zu
verwerfen sind. Sie hält sich ihm ganz nah zu oder in bescheidener
Entfernung, je nach seiner Stimmung, und wenn er seinen Geschäften
nachgeht, so stört sie ihn nicht, sondern verbreitet unterdessen sein
Lob in und außer dem Hause; denn sie läßt nichts an ihn kommen und
rühmt alles, was an ihm ist! Aber das Anmutigste ist die wunderbare
Beschaffenheit ihres zarten leiblichen Daseins, welche die Natur so
verschieden gemacht hat von unserm Wesen bei anscheinender
Menschenähnlichkeit, daß es ein fortwährendes Meerwunder in einer
glückhaften Ehe bewirkt und eigentlich die allerdurchtriebenste
Hexerei in sich birgt! Doch was schwatze ich da wie ein Tor an der
Schwelle des Todes! Wie wird ein weiser Mann auf dergleichen
Eitelkeiten sein Augenmerk richten! Verzeiht, Herr Pineiß, und
schneidet mir den Kopf ab!"

Pineiß aber rief heftig: „So halt doch endlich inne, du Schwätzer! und
sage mir: Wo ist eine solche und hat sie zehntausend Goldgülden?"

„Zehntausend Goldgülden?" sagte Spiegel.

„Nun ja," rief Pineiß ungeduldig, „sprachest du nicht eben erst
davon?"

„Nein," antwortete jener, „das ist eine andere Sache! Die liegen
vergraben an einem Orte!"

„Und was tun sie da, wem gehören sie?" schrie Pineiß.

„Niemand gehören sie, das ist eben meine Gewissensbürde, denn ich
hätte sie unterbringen sollen! Eigentlich gehören sie jenem, der eine
solche Person heiratet, wie ich eben beschrieben habe. Aber wie soll
man drei solche Dinge zusammenbringen in dieser gottlosen Stadt:
zehntausend Goldgülden, eine weiße, feine und gute Hausfrau und einen
weisen rechtschaffenen Mann? Daher ist eigentlich meine Sünde nicht
allzu groß, denn der Auftrag war zu schwer für eine arme Katze!"

„Wenn du jetzt", rief Pineiß, „nicht bei der Sache bleibst, und sie
verständlich der Ordnung nach dartust, so schneide ich dir vorläufig
den Schwanz und beide Ohren ab! Jetzt fang an!"

„Da Ihr es befehlt, so muß ich die Sache wohl erzählen," sagte Spiegel
und setzte sich gelassen auf seine Hinterfüße, „obgleich dieser
Aufschub meine Leiden nur vergrößert!" Pineiß steckte das scharfe
Messer zwischen sich und Spiegel in die Diele und setzte sich
neugierig auf ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr fort:

„Ihr wisset doch, Herr Pineiß, daß die brave Person, meine selige
Meisterin, unverheiratet gestorben ist als eine alte Jungfer, die in
aller Stille viel Gutes getan und niemandem zuwidergelebt hat. Aber
nicht immer war es um sie her so still und ruhig zugegangen, und
obgleich sie niemals von bösem Gemüt gewesen, so hatte sie doch einst
viel Leid und Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war sie das
schönste Fräulein weit und breit, und was von jungen Herren und kecken
Gesellen in der Gegend war oder des Weges kam, verliebte sich in sie
und wollte sie durchaus heiraten. Nun hatte sie wohl große Lust, zu
heiraten und einen hübschen, ehrenfesten und klugen Mann zu nehmen,
und sie hatte die Auswahl, da sich Einheimische und Fremde um sie
stritten und einander mehr als einmal die Degen in den Leib rannten,
um den Vorrang zu gewinnen. Es bewarben sich um sie und versammelten
sich kühne und verzagte, listige und treuherzige, reiche und arme
Freier, solche mit einem guten und anständigen Geschäft, und solche,
welche als Kavaliere zierlich von ihren Renten lebten; dieser mit
diesen, jener mit jenen Vorzügen, beredt oder schweigsam, der eine
munter und liebenswürdig, und ein anderer schien es mehr in sich zu
haben, wenn er auch etwas einfältig aussah; kurz, das Fräulein hatte
eine so vollkommene Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer sich
nur wünschen kann. Allein sie besaß außer ihrer Schönheit ein schönes
Vermögen von vielen tausend Goldgülden, und diese waren die Ursache,
daß sie nie dazukam, eine Wahl treffen und einen Mann nehmen zu
können, denn sie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umsicht und
Klugheit und legte einen großen Wert auf dasselbe, und da nun der
Mensch immer von seinen eigenen Neigungen aus andere beurteilt, so
geschah es, daß sie, sobald sich ihr ein achtungswerter Freier
genähert und ihr halbwegs gefiel, alsobald sich einbildete, derselbe
begehre sie nur um ihres Gutes willen. War einer reich, so glaubte
sie, er würde sie doch nicht begehren, wenn sie nicht auch reich wäre,
und von den Unbemittelten nahm sie vollends als gewiß an, daß sie nur
ihre Goldgülden im Auge hätten und sich daran gedächten gütlich zu
tun, und das arme Fräulein, welches doch selbst so große Dinge auf den
irdischen Besitz hielt, war nicht imstande, diese Liebe zu Geld und
Gut an ihren Freiern von der Liebe zu ihr selbst zu unterscheiden,
oder wenn sie wirklich etwa vorhanden war, dieselbe nachzusehen und zu
verzeihen. Mehrere Male war sie schon sogut wie verlobt und ihr Herz
klopfte endlich stärker; aber plötzlich glaubte sie aus irgendeinem
Zuge zu entnehmen, daß sie verraten sei und man einzig an ihr Vermögen
denke, und sie brach unverweilt die Geschichte entzwei und zog sich
voll Schmerzen, aber unerbittlich zurück. Sie prüfte alle, welche ihr
nicht mißfielen, auf hundert Arten, so daß eine große Gewandtheit dazu
gehörte, nicht in die Falle zu gehen, und zuletzt keiner mehr sich mit
einiger Hoffnung nähern konnte, als wer ein durchaus geriebener und
verstellter Mensch war, so daß schon aus diesen Gründen endlich die
Wahl wirklich schwer wurde, weil solche Menschen dann zuletzt doch
eine unheimliche Unruhe erwecken und die peinlichste Ungewißheit bei
einer Schönen zurücklassen, je geriebener und geschickter sie sind.
Das Hauptmittel, ihre Anbeter zu prüfen, war, daß sie ihre
Uneigennützigkeit auf die Probe stellte und sie alle Tage zu großen
Ausgaben, zu reichen Geschenken und zu wohltätigen Handlungen
veranlaßte. Aber sie mochten es machen, wie sie wollten, so trafen sie
doch nie das Rechte; denn zeigten sie sich freigebig und aufopfernd,
gaben sie glänzende Feste, brachten sie ihr Geschenke dar, oder
anvertrauten ihr beträchtliche Gelder für die Armen, so sagte sie
plötzlich, dies alles geschehe nur, um mit einem Würmchen den Lachs zu
fangen oder mit der Wurst nach der Speckseite zu werfen, wie man zu
sagen pflegt. Und sie vergabte die Geschenke sowohl wie das
anvertraute Geld an Klöster und milde Stiftungen und speisete die
Armen; aber die betrogenen Freier wies sie unbarmherzig ab. Bezeigten
sich dieselben aber zurückhaltend oder gar knauserig, so war der Stab
sogleich über sie gebrochen, da sie das noch viel übler nahm und daran
eine schnöde und nackte Rücksichtslosigkeit und Eigenliebe zu erkennen
glaubte. So kam es, daß sie, welche ein reines und nur ihrer Person
hingegebenes Herz suchte, zuletzt von lauter verstellten, listigen und
eigensüchtigen Freiersleuten umgeben war, aus denen sie nie klug wurde
und die ihr das Leben verbitterten. Eines Tages fühlte sie sich so
mißmutig und trostlos, daß sie ihren ganzen Hof aus dem Hause wies,
dasselbe zuschloß und nach Mailand verreiste, wo sie eine Base hatte.
Als sie über den Sankt Gotthard ritt auf einem Eselein, war ihre
Gesinnung so schwarz und schaurig, wie das wilde Gestein, das sich aus
den Abgründen emportürmte, und sie fühlte die heftigste Versuchung,
sich von der Teufelsbrücke in die tobenden Gewässer der Reuß
hinabzustürzen. Nur mit der größten Mühe gelang es den zwei Mägden,
die sie bei sich hatte, und die ich selbst noch gekannt habe, welche
aber nun schon lange tot sind, und dem Führer, sie zu beruhigen und
von der finstern Anwandlung abzubringen. Doch langte sie bleich und
traurig in dem schönen Land Italien an, und so blau dort der Himmel
war, wollten sich ihre dunklen Gedanken doch nicht aufhellen. Aber als
sie einige Tage bei ihrer Base verweilt, sollte unverhofft eine andere
Melodie ertönen und ein Frühlingsanfang in ihr aufgehen, von dem sie
his dato noch nicht viel gewußt. Denn es kam ein junger Landsmann in
das Haus der Base, der ihr gleich beim ersten Anblick so wohl gefiel,
daß man wohl sagen kann, sie verliebte sich jetzt von selbst und zum
erstenmal. Es war ein schöner Jüngling, von guter Erziehung und edlem
Benehmen, nicht arm und nicht reich zur Zeit, denn er hatte nichts als
zehntausend Goldgulden, welche er von seinen verstorbenen Eltern
ererbt und womit er, da er die Kaufmannschaft erlernt hatte, in
Mailand einen Handel mit Seide begründen wollte; denn er war
unternehmend und klar von Gedanken und hatte eine glückliche Hand, wie
es unbefangene und unschuldige Leute oft haben; denn auch dies war der
junge Mann; er schien, so wohlgelehrt er war, doch so arglos und
unschuldig wie ein Kind. Und obgleich er ein Kaufmann war und ein so
unbefangenes Gemüt, was schon zusammen eine köstliche Seltenheit ist,
so war er doch fest und ritterlich in seiner Haltung und trug sein
Schwert so keck zur Seite, wie nur ein geübter Kriegsmann es tragen
kann. Dies alles, sowie seine frische Schönheit und Jugend bezwangen
das Herz des Fräuleins dermaßen, daß sie kaum an sich halten konnte
und ihm mit großer Freundlichkeit begegnete. Sie wurde wieder heiter,
und wenn sie dazwischen auch traurig war, so geschah dies in dem
Wechsel der Liebesfurcht und Hoffnung, welche immerhin ein edleres und
angenehmeres Gefühl war, als jene peinliche Verlegenheit in der Wahl,
welche sie früher unter den vielen Freiern empfunden. Jetzt kannte sie
nur eine Mühe und Besorgnis, diejenige nämlich, dem schönen und guten
Jüngling zu gefallen, und je schöner sie selbst war, desto demütiger
und unsicherer war sie jetzt, da sie zum ersten Male eine wahre
Neigung gefaßt hatte. Aber auch der junge Kaufmann hatte noch nie eine
solche Schönheit gesehen, oder war wenigstens noch keiner so nahe
gewesen, und von ihr so freundlich und artig behandelt worden. Da sie
nun, wie gesagt, nicht nur schön, sondern auch gut von Herzen und fein
von Sitten war, so ist es nicht zu verwundern, daß der offene und frische
Jüngling, dessen Herz noch ganz frei und unerfahren war, sich ebenfalls
in sie verliebte und das mit aller Kraft und Rückhaltlosigkeit, die in seiner
ganzen Natur lag. Aber vielleicht hätte das nie jemand erfahren,  wenn er
in seiner Einfalt nicht aufgemuntert worden wäre durch des Fräuleins
Zutulichkeit, welche er mit heimlichem Zittern und Zagen für eine
Erwiderung seiner Liebe zu halten wagte, da er selber keine Verstellung
kannte. Doch bezwang er sich einige Wochen und glaubte die Sache zu
verheimlichen; aber jeder sah ihm von weitem an, daß er zum Sterben
verliebt war, und wenn er irgend in die Nähe des Fräuleins geriet oder sie
nur genannt wurde, so sah man auch gleich, in wen er verliebt war. Er war
aber nicht lange verliebt, sondern begann wirklich zu lieben mit aller
Heftigkeit seiner Jugend, sodaß ihm das Fräulein das Höchste und Beste
auf der Welt wurde, an welches er ein für allemal das Heil und den
ganzen Wert seiner eigenen Person setzte. Dies gefiel ihr über die Maßen
wohl; denn es war in allem, was er sagte oder tat, eine andere Art, als sie
bislang erfahren, und dies bestärkte und rührte sie so tief, daß sie
nun gleichermaßen der stärksten Liebe anheimfiel und nun nicht mehr
von einer Wahl für sie die Rede war. Jedermann sah diese Geschichte
spielen, und es wurde offen darüber gesprochen und vielfach gescherzt.
Dem Fräulein war es höchlich wohl dabei, und indem ihr das Herz vor
banger Erwartung zerspringen wollte, half sie den Roman von ihrer
Seite doch ein wenig verwickeln und ausspinnen, um ihn recht
auszukosten und zu genießen. Denn der junge Mann beging in seiner
Verwirrung so köstliche und kindliche Dinge, dergleichen sie niemals
erfahren, und für sie einmal schmeichelhafter und angenehmer waren als
das andere. Er aber in seiner Gradheit und Ehrlichkeit konnte es nicht
lange so aushalten; da jeder darauf anspielte und sich einen Scherz
erlaubte, so schien es ihm eine Komödie zu werden, als deren
Gegenstand ihm seine Geliebte viel zu gut und heilig war, und was ihr
ausnehmend behagte, das machte ihn bekümmert, ungewiß und verlegen um
sie selber. Auch glaubte er sie zu beleidigen und zu hintergehen, wenn
er da lange eine so heftige Leidenschaft zu ihr herumtrüge und
unaufhörlich an sie denke, ohne daß sie eine Ahnung davon habe, was
doch gar nicht schicklich sei und ihm selber nicht recht! Daher sah
man ihm eines Morgens von weitem an, daß er etwas vorhatte, und er
bekannte ihr seine Liebe in einigen Worten, um es einmal und nie zum
zweitenmal zu sagen, wenn er nicht glücklich sein sollte. Denn er war
nicht gewohnt zu denken, daß ein solches schönes und wohlbeschaffenes
Fräulein etwa nicht ihre wahre Meinung sagen und nicht auch gleich zum
erstenmal ihr unwiderrufliches Ja oder Nein erwidern sollte. Er war
ebenso zart gesinnt als heftig verliebt, ebenso spröde als kindlich
und ebenso stolz als unbefangen, und bei ihm galt es gleich auf Tod
und Leben, auf Ja oder Nein, Schlag um Schlag. In demselben
Augenblicke aber, in welchem das Fräulein sein Geständnis anhörte, das
sie so sehnlich erwartet, überfiel sie ihr altes Mißtrauen, und es
fiel ihr zur unglücklichen Stunde ein, daß ihr Liebhaber ein Kaufmann
sei, welcher am Ende nur ihr Vermögen zu erlangen wünsche, um seine
Unternehmungen zu erweitern. Wenn er daneben auch ein wenig in ihre
Person verliebt sein sollte, so wäre ja das bei ihrer Schönheit kein
sonderliches Verdienst und nur um so empörender, wenn sie eine bloße
erwünschte Zugabe zu ihrem Golde vorstellen sollte. Anstatt ihm daher
ihre Gegenliebe zu gestehen und ihn wohl aufzunehmen, wie sie am
liebsten getan hätte, ersann sie auf der Stelle eine neue List, um
seine Hingebung zu prüfen, und nahm eine ernste, fast traurige Miene
an, indem sie ihm vertraute, wie sie bereits mit einem jungen Mann
verlobt sei in ihrer Heimat, welchen sie auf das allerherzlichste
liebe. Sie habe ihm das schon mehrmals mitteilen wollen, da sie ihn,
den Kaufmann nämlich, als Freund sehr lieb habe, wie er habe wohl
sehen können aus ihrem Benehmen, und sie vertraue ihm wie einem
Bruder. Aber die ungeschickten Scherze, welche in der Gesellschaft
aufgekommen seien, hätten ihr eine vertrauliche Unterhaltung
erschwert; da er nun aber selbst sie mit feinem braven und edlen
Herzen überrascht und dasselbe vor ihr aufgetan, so könne sie ihm für
seine Neigung nicht besser danken, als indem sie ihm ebenso offen sich
anvertraue. Ja, fuhr sie fort, nur demjenigen könne sie angehören,
welchen sie einmal erwählt habe, und nie würde es ihr möglich sein,
ihr Herz einem anderen Mannsbilde zuzuwenden, dies stehe mit goldenem
Feuer in ihrer Seele geschrieben und der liebe Mann wisse selbst
nicht, wie lieb er ihr sei, so wohl er sie auch kenne! Aber ein trüber
Unstern hätte sie betroffen; ihr Bräutigam sei ein Kaufmann, aber so
arm wie eine Maus; darum hätten sie den Plan gefaßt, daß er aus den
Mitteln der Braut einen Handel begründen solle; der Anfang sei gemacht
und alles auf das beste eingeleitet, die Hochzeit sollte in diesen
Tagen gefeiert werden, da wollte ein unverhofftes Mißgeschick, daß ihr
ganzes Vermögen plötzlich ihr angetastet und abgestritten würde und
vielleicht für immer verloren gehe, während der arme Bräutigam in
nächster Zeit seine ersten Zahlungen zu leisten habe an die Mailänder
und Venezianischen Kaufleute, worauf sein ganzer Kredit, sein Gedeihen
und seine Ehre beruhe, nicht zu sprechen von ihrer Vereinigung und
glücklichen Hochzeit! Sie sei in der Eile nach Mailand gekommen, wo
sie begüterte Verwandte habe, um da Mittel und Auswege zu finden; aber
zu einer schlimmen Stunde sei sie gekommen, denn nichts wolle sich
fügen und schicken, während der Tag immer näher rücke, und wenn sie
ihrem Geliebten nicht helfen könne, so müsse sie sterben vor
Traurigkeit. Denn es sei der liebste und beste Mensch, den man sich
denken könne, und würde sicherlich ein großer Kaufherr werden, wenn
ihm geholfen würde, und sie kenne kein anderes Glück mehr auf Erden,
als dann dessen Gemahlin zu sein! Als sie diese Erzählung beendet,
hatte sich der arme schöne Jüngling schon lange entfärbt und war
bleich wie ein weißes Tuch. Aber er ließ keinen Laut der Klage
vernehmen und sprach nicht ein Sterbenswörtchen mehr von sich selbst
und von seiner Liebe, sondern fragte bloß traurig, auf wieviel sich
denn die eingegangenen Verpflichtungen des glücklich unglücklichen
Bräutigams beliefen? Auf zehntausend Goldgulden! antwortete sie noch
viel trauriger. Der junge traurige Kaufherr stand auf, ermahnte das
Fräulein, guten Mutes zu sein, da sich gewiß ein Ausweg zeigen werde,
und entfernte sich von ihr, ohne daß er sie anzusehen wagte, so sehr
fühlte er sich betroffen und beschämt, daß er sein Auge auf eine Dame
geworfen, die so treu und leidenschaftlich einen andern liebte. Denn
der Arme glaubte jedes Wort von ihrer Erzählung wie ein Evangelium.
Dann begab er sich ohne Säumnis zu seinen Handelsfreunden und brachte
sie durch Bitten und Einbüßung einer gewissen Summe dahin, seine
Bestellungen und Einkäufe wieder rückgängig zu machen, welche er
selbst in diesen Tagen auch grad mit seinen zehntausend Goldgulden
bezahlen sollte und worauf er seine ganze Laufbahn bauete, und ehe
sechs Stunden verflossen waren, erschien er wieder bei dem Fräulein
mit seinem ganzen Besitztum und bat sie um Gottes willen, diese
Aushilfe von ihm annehmen zu wollen. Ihre Augen funkelten vor
freudiger Überraschung und ihre Brust pochte wie ein Hammerwerk; sie
fragte ihn, wo er denn dies Kapital hergenommen, und er erwiderte, er
habe es auf seinen guten Namen geliehen und würde es, da seine
Geschäfte sich glücklich wendeten, ohne Unbequemlichkeit
zurückerstatten können. Sie sah ihm deutlich an, daß er log und daß es
sein einziges Vermögen und ganze Hoffnung war, welche er ihrem Glücke
opferte; doch stellte sie sich, als glaubte sie seinen Worten. Sie
ließ ihren freudigen Empfindungen freien Lauf und tat grausamerweise,
als ob diese dem Glücke gälten, nun doch ihren Erwählten retten und
heiraten zu dürfen, und sie konnte nicht Worte finden, ihre
Dankbarkeit auszudrücken. Doch plötzlich besann sie sich und erklärte,
nur unter einer Bedingung die großmütige Tat annehmen zu können, da
sonst alles Zureden unnütz wäre. Befragt, worin diese Bedingung
bestehe, verlangte sie das heilige Versprechen, daß er an einem
bestimmten Tage sich bei ihr einfinden wolle, um ihrer Hochzeit
beizuwohnen und der beste Freund und Gönner ihres zukünftigen
Ehegemahls zu werden, sowie der treuste Freund, Schützer und Berater
ihrer selbst. Errötend bat er sie, von diesem Begehren abzustehen;
aber umsonst wandte er alle Gründe an, um sie davon abzubringen,
umsonst stellte er ihr vor, daß seine Angelegenheiten jetzt nicht
erlaubten, nach der Schweiz zurückzureisen, und daß er von einem
solchen Abstecher einen erheblichen Schaden erleiden würde. Sie
beharrte entschieden auf ihrem Verlangen und schob ihm sogar sein Geld
wieder zu, da er sich nicht dazu verstehen wollte. Endlich versprach
er es, aber er mußte ihr die Hand daraufgeben und es ihr bei seiner
Ehre und Seligkeit beschwören. Sie bezeichnete ihm genau den Tag und
die Stunde, wann er eintreffen solle, und alles dies mußte er bei
seinem Christenglauben und bei seiner Seligkeit beschwören. Erst dann
nahm sie sein Opfer an und ließ den Schatz vergnügt in ihre
Schlafkammer tragen, wo sie ihn eigenhändig in ihrer Reisetruhe
verschloß und den Schlüssel in den Busen steckte. Nun hielt sie sich
nicht länger in Mailand auf, sondern reiste ebenso fröhlich über den
Sankt Gotthard zurück, als schwermütig sie hergekommen war. Auf der
Teufelsbrücke, wo sie hatte hinabspringen wollen, lachte sie wie eine
Unkluge und warf mit hellem Jauchzen ihrer wohlklingenden Stimme einen
Granatblütenstrauß in die Reuß, welchen sie vor der Brust trug, kurz,
ihre Lust war nicht zu bändigen, und es war die fröhlichste Reise, die
je getan wurde. Heimgekehrt, öffnete und lüftete sie ihr Haus von oben
bis unten und schmückte es, als ob sie einen Prinzen erwartete. Aber
zu Häupten ihres Bettes legte sie den Sack mit den zehntausend
Goldgulden und legte des Nachts den Kopf so glückselig auf den harten
Klumpen, und schlief darauf, wie wenn es das weichste Flaumkissen
gewesen wäre. Kaum konnte sie den verabredeten Tag erwarten, wo sie
ihn sicher kommen sah, da sie wußte, daß er nicht das einfachste
Versprechen, geschweige denn einen Schwur brechen würde, und wenn es
ihm um das Leben ginge. Aber der Tag brach an und der Geliebte
erschien nicht, und es vergingen viele Tage und Wochen, ohne daß er
von sich hören ließ. Da fing sie an allen Gliedern an zu zittern und
verfiel in die größte Angst und Bangigkeit; sie schickte Briefe über
Briefe nach Mailand, aber niemand wußte ihr zu sagen, wo er geblieben
sei. Endlich aber stellte es sich durch einen Zufall heraus, daß der
junge Kaufherr aus einem blutroten Stück Seidendamast, welches er von
seinem Handelsanfang her im Haus liegen und bereits bezahlt hatte,
sich ein Kriegskleid hatte anfertigen lassen und unter die Schweizer
gegangen war, welche damals eben im Solde des Königs Franz von
Frankreich den Mailändischen Krieg mitstritten. Nach der Schlacht bei
Pavia, in welcher so viele Schweizer das Leben verloren, wurde er auf
einem Haufen erschlagener Spaniolen liegend gefunden, von vielen
tödlichen Wunden zerrissen und sein rotes Seidengewand von unten bis
oben zerschlitzt und zerfetzt. Eh' er den Geist aufgab, jagte er einem
neben ihm liegenden Seldwyler, der minder übel zugerichtet war,
folgende Botschaft ins Gedächtnis und bat ihn, dieselbe auszurichten,
wenn er mit dem Leben davonkäme: ‚Liebstes Fräulein! Obgleich ich Euch
bei meiner Ehre, bei meinem Christenglauben und bei meiner Seligkeit
geschworen habe, auf Euerer Hochzeit zu erscheinen, so ist es mir
dennoch nicht möglich gewesen, Euch nochmals zu sehen und einen andern
des höchsten Glückes teilhaftig zu erblicken, das es für mich geben
könnte. Dieses habe ich erst in Euerer Abwesenheit verspürt und habe
vorher nicht gewußt, welch eine strenge und unheimliche Sache es ist
um solche Liebe, wie ich zu Euch habe, sonst würde ich mich
zweifelsohne besser davor gehütet haben. Da es aber einmal so ist, so
wollte ich lieber meiner weltlichen Ehre und meiner geistlichen
Seligkeit verloren und in die ewige Verdammnis eingehen als ein
Meineidiger, denn noch einmal in Euerer Nähe erscheinen mit einem
Feuer in der Brust, welches stärker und unauslöschlicher ist als das
Höllenfeuer, und mich dieses kaum wird verspüren lassen. Betet nicht
etwa für mich, schönstes Fräulein, denn ich kann und werde nie selig
werden ohne Euch, sei es hier oder dort, und somit lebet glücklich und
seid gegrüßt!' So hatte in dieser Schlacht, nach welcher König
Franziskus sagte: ‚Alles verloren, außer der Ehre!' der unglückliche
Liebhaber alles verloren, die Hoffnung, die Ehre, das Leben und die
ewige Seligkeit, nur die Liebe nicht, die ihn verzehrte. Der Seldwyler
kam glücklich davon, und sobald er sich in etwas erholt und außer
Gefahr sah, schrieb er die Worte des Umgekommenen getreu auf seine
Schreibtafel, um sie nicht zu vergessen, reiste nach Hause, meldete
sich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr die Botschaft so steif
und kriegerisch vor, wie er zu tun gewohnt war, wenn er sonst die
Mannschaft seines Fähnleins verlas; denn er war ein Feldleutnant. Das
Fräulein aber zerraufte sich die Haare, zerriß ihre Kleider und begann
so laut zu schreien und zu weinen, daß man es die Straße auf und
nieder hörte und die Leute zusammenliefen. Sie schleppte wie
wahnsinnig die zehntausend Goldgulden herbei, zerstreute sie auf dem
Boden, warf sich der Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden
Goldstücke. Ganz von Sinnen, suchte sie den umherrollenden Schatz
zusammenzuraffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin
zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf dem Golde und wollte weder
Speise noch Trank zu sich nehmen; unaufhörlich liebkoste und küßte sie
das kalte Metall, bis sie mitten in einer Nacht plötzlich aufstand,
den Schatz emsig hin und her eilend nach dem Garten trug und dort
unter bitteren Tränen in den tiefen Brunnen warf und einen Fluch
darüber aussprach, daß er niemals jemand anderm angehören solle."

Als Spiegel soweit erzählt hatte, sagte Pineiß: „Und liegt das schöne
Geld noch in dem Brunnen?" „Ja, wo sollte es sonst liegen?" antwortete
Spiegel, „denn nur ich kann es herausbringen und habe es bis zur
Stunde noch nicht getan!" „Ei ja so, richtig!" sagte Pineiß, „ich habe
es ganz vergessen über deiner Geschichte! Du kannst nicht übel
erzählen, du Sapperlöter! Und es ist mir ganz gelüstig geworden nach
einem Weibchen, die so für mich eingenommen wäre; aber sehr schön
müßte sie sein! Doch erzähle jetzt schnell noch, wie die Sache
eigentlich zusammenhängt!" „Es dauerte manche Jahre," sagte Spiegel,
„bis das Fräulein aus bittern Seelenleiden so weit zu sich kam, daß
sie anfangen konnte, die stille alte Jungfer zu werden, als welche ich
sie kennen lernte. Ich darf mich berühmen, daß ich ihr einziger Trost
und ihr vertrautester Freund geworden bin in ihrem einsamen Leben bis
an ihr stilles Ende. Als sie aber dieses herannahen sah,
vergegenwärtigte sie sich noch einmal die Zeit ihrer fernen Jugend und
Schönheit und erlitt noch einmal mit milderen ergebenen Gedanken erst
die süßen Erregungen und dann die bittern Leiden jener Zeit, und sie
weinte still sieben Tage und Nächte hindurch über die Liebe des
Jünglings, deren Genuß sie durch ihr Mißtrauen verloren hatte, so daß
ihre alten Augen noch kurz vor dem Tode erblindeten. Dann bereute sie
den Fluch, welchen sie über jenen Schatz ausgesprochen, und sagte zu
mir, indem sie mich mit dieser wichtigen Sache beauftragte: ‚Ich
bestimme nun anders, lieber Spiegel! und gebe dir die Vollmacht, daß
du meine Verordnung vollziehest. Sieh dich um und suche, bis du eine
bildschöne, aber unbemittelte Frauensperson findest, welcher es ihrer
Armut wegen an Freiern gebricht! Wenn sich dann ein verständiger,
rechtlicher und hübscher Mann finden sollte, der sein gutes Auskommen
hat, und die Jungfrau ungeachtet ihrer Armut, nur allein von ihrer
Schönheit bewegt, zur Frau begehrt, so soll dieser Mann mit den
stärksten Eiden sich verpflichten, derselben so treu, aufopfernd und
unabänderlich ergeben zu sein, wie es mein unglücklicher Liebster
gewesen ist, und dieser Frau sein Leben lang in allen Dingen zu
willfahren. Dann gib der Braut die zehntausend Goldgulden, welche im
Brunnen liegen, zur Mitgift, daß sie ihren Bräutigam am Hochzeitmorgen
damit überrasche!' So sprach die Selige, und ich habe meiner widrigen
Geschicke wegen versäumt, dieser Sache nachzugehen, und muß nun
befürchten, daß die Arme deswegen im Grabe noch beunruhigt sei, was
für mich eben auch nicht die angenehmsten Folgen haben kann!"

Pineiß sah den Spiegel mißtrauisch an und sagte: „Wärst du wohl
imstande, Bürschchen! mir den Schatz ein wenig nachzuweisen und
augenscheinlich zu machen?"

„Zu jeder Stunde!" versetzte Spiegel, „aber Ihr müßt wissen, Herr
Stadthexenmeister! daß Ihr das Gold nicht etwa so ohne weiteres
herausfischen dürftet. Man würde Euch unfehlbar das Genick umdrehen;
denn es ist nicht ganz geheuer in dem Brunnen, ich habe darüber
bestimmte Inzichten, welche ich aus Rücksichten nicht näher berühren
darf!"

„Hei, wer spricht denn von Herausholen?" sagte Pineiß etwas furchtsam,
„führe mich einmal hin und zeige mir den Schatz! Oder vielmehr will
ich dich führen an einem guten Schnürlein, damit du mir nicht
entwischest!"

„Wie Ihr wollt!" sagte Spiegel, „aber nehmt auch eine andere lange
Schnur mit und eine Blendlaterne, welche Ihr daran in den Brunnen
hinablassen könnt; denn der ist sehr tief und dunkel!" Pineiß befolgte
diesen Rat und führte das muntere Kätzchen nach dem Garten jener
Verstorbenen. Sie überstiegen miteinander die Mauer, und Spiegel
zeigte dem Hexer den Weg zu dem alten Brunnen, welcher unter
verwildertem Gebüsche verborgen war. Dort ließ Pineiß sein Laternchen
hinunter, begierig nachblickend, während er den angebundenen Spiegel
nicht von der Hand ließ. Aber richtig sah er in der Tiefe das Gold
funkeln unter dem grünlichen Wasser und rief: „Wahrhaftig, ich seh's,
es ist wahr! Spiegel, du bist ein Tausendskerl!" Dann guckte er wieder
eifrig hinunter und sagte: „Mögen es auch zehntausend sein?" „Ja, das
ist nun nicht zu schwören!" sagte Spiegel, „ich bin nie da unten
gewesen und hab's nicht gezählt! Ist auch möglich, daß die Dame
dazumal einige Stücke auf dem Wege verloren hat, als sie den Schatz
hierher trug, da sie in einem aufgeregten Zustande war." „Nun, seien
es auch ein Dutzend oder mehr weniger!" sagte Herr Pineiß, „es soll
mir darauf nicht ankommen!" Er setzte sich auf den Rand des Brunnens,
Spiegel setzte sich auch nieder und leckte sich das Pfötchen. „Da wäre
nun der Schatz!" sagte Pineiß, indem er sich hinter den Ohren kratzte,
„und hier wäre auch der Mann dazu; fehlt nur noch das bildschöne
Weib!" „Wie?" sagte Spiegel. „Ich meine, es fehlt nur noch diejenige,
welche die Zehntausend als Mitgift bekommen soll, um mich damit zu
überraschen am Hochzeitmorgen, und welche alle jene angenehmen
Tugenden hat, von denen du gesprochen !" „Hm!" versetzte Spiegel, „die
Sache verhält sich nicht ganz so, wie Ihr sagt! Der Schatz ist da, wie
Ihr richtig einseht; das schöne Weib habe ich, um es aufrichtig zu
gestehen, allbereits auch schon ausgespürt; aber mit dem Mann, der sie
unter diesen schwierigen Umständen heiraten möchte, da hapert es eben;
denn heutzutage muß die Schönheit obenein vergoldet sein, wie die
Weihnachtsnüsse, und je hohler die Köpfe werden, desto mehr sind sie
bestrebt, die Leere mit einigem Weibergut nachzufüllen, damit sie die
Zeit besser zu verbringen vermögen; da wird dann mit wichtigem Gesicht
ein Pferd besehen und ein Stück Sammet gekauft, mit Laufen und Rennen
eine gute Armbrust bestellt, und der Büchsenschmied kommt nicht aus
dem Hause; da heißt es, ich muß meinen Wein einheimsen und meine
Fässer putzen, meine Bäume putzen lassen und mein Dach decken; ich muß
meine Frau ins Bad schicken, sie kränkelt und kostet mich viel Geld,
und muß mein Holz fahren lassen und mein Ausstehendes eintreiben; ich
habe ein Paar Windspiele gekauft und meine Bracken vertauscht, ich
habe einen schönen eichenen Ausziehtisch eingehandelt und meine große
Nußbaumlade drangegeben; ich habe meine Bohnenstangen geschnitten,
meinen Gärtner fortgejagt, mein Heu verkauft und meinen Salat gesät,
immer mein und mein vom Morgen bis zu Abend. Manche sagen sogar: ich
habe meine Wäsche die nächste Woche, ich muß meine Betten sonnen, ich
muß eine Magd dingen und einen neuen Metzger haben, denn den alten
will ich abschaffen; ich habe ein allerliebstes Waffeleisen erstanden,
durch Zufall, und habe mein silbernes Zimmetbüchschen verkauft, es war
mir so nichts nütze; alles das sind wohlverstanden die Sachen der
Frau, und so verbringt ein solcher Kerl die Zeit und stiehlt unserm
Herrgott den Tag ab, indem er alle diese Verrichtungen aufzählt, ohne
einen Streich zu tun. Wenn es hochkommt und ein solcher Patron sich
etwa ducken muß, so wird er vielleicht sagen: unsere Kühe und unsere
Schweine, aber--" Pineiß riß den Spiegel an der Schnur, daß er miau!
schrie, und rief: „Genug, du Plappermaul! Sag' jetzt unverzüglich: wo
ist sie, von der du weißt?" Denn die Aufzählung aller dieser
Herrlichkeiten und Verrichtungen, die mit einem Weibergute verbunden
sind, hatte dem dürren Hexenmeister den Mund nur noch wässeriger
gemacht. Spiegel sagte erstaunt: „Wollt Ihr denn wirklich das Ding
unternehmen, Herr Pineiß?"

„Versteht sich, will ich! Wer sonst als ich? Drum heraus damit: wo ist
diejenige?"

„Damit Ihr hingehen und sie freien könnt?"

„Ohne Zweifel!" „So wisset, die Sache geht nur durch meine Hand! mit
mir müßt Ihr sprechen, wenn Ihr Geld und Frau wollt!" sagte Spiegel
kaltblütig und gleichgültig und fuhr sich mit den beiden Pfoten eifrig
über die Ohren, nachdem er sie jedesmal ein bißchen naß gemacht.
Pineiß besann sich sorgfältig, stöhnte ein bißchen und sagte: „Ich
merke, du willst unsern Kontrakt aufheben und deinen Kopf salvieren!"

„Schiene Euch das so uneben und unnatürlich?"

„Du betrügst mich am Ende und belügst mich, wie ein Schelm!"

„Dies ist auch möglich!" sagte Spiegel.

„Ich sage dir: Betrüge mich nicht!" rief Pineiß gebieterisch.

„Gut, so betrüge ich Euch nicht!" sagte Spiegel.

„Wenn du's tust!"

„So tu' ich's."

„Quäle mich nicht, Spiegelchen!" sprach Pineiß beinahe weinerlich, und
Spiegel erwiderte jetzt ernsthaft: „Ihr seid ein wunderbarer Mensch,
Herr Pineiß! Da haltet Ihr mich an einer Schnur gefangen und zerrt
daran, daß mir der Atem vergeht! Ihr lasset das Schwert des Todes über
mir schweben seit länger als zwei Stunden, was sag' ich! seit einem
halben Jahre! und nun sprecht Ihr: Quäle mich nicht, Spiegelchen!

Wenn Ihr erlaubt, so sage ich Euch in Kürze: Es kann mir nur lieb
sein, jene Liebespflicht gegen die Tote doch noch zu erfüllen und für
das bewußte Frauenzimmer einen tauglichen Mann zu finden, und Ihr
scheint mir allerdings in aller Hinsicht zu genügen; es ist keine
Leichtigkeit, ein Weibstück wohl unterzubringen, so sehr dies auch
scheint, und ich sage noch einmal: ich bin froh, daß Ihr Euch hierzu
bereitfinden lasset! Aber umsonst ist der Tod! Eh' ich ein Wort weiter
spreche, einen Schritt tue, ja eh' ich nur den Mund noch einmal
aufmache, will ich erst meine Freiheit wieder haben und mein Leben
versichert! Daher nehmt diese Schnur weg und legt den Kontrakt hier
auf den Brunnen, hier auf diesen Stein, oder schneidet mir den Kopf
ab, eins von beiden!"

„Ei du Tollhäusler und Obenhinaus!" sagte Pineiß, „du Hitzkopf, so
streng wird es nicht gemeint sein? Das will ordentlich besprochen sein
und muß jedenfalls ein neuer Vertrag geschlossen werden!" Spiegel gab
keine Antwort mehr und saß unbeweglich da, ein, zwei und drei Minuten.
Da ward dem Meister bänglich, er zog seine Brieftasche hervor, klaubte
seufzend den Schein heraus, las ihn noch einmal durch und legte ihn
dann zögernd vor Spiegel hin. Kaum lag das Papier dort, so schnappte
es Spiegel auf und verschlang es; und obgleich er heftig daran zu
würgen hatte, so dünkte es ihn doch die beste und gedeihlichste Speise
zu sein, die er je genossen, und er hoffte, daß sie ihm noch auf lange
wohlbekommen und ihn rundlich und munter machen würde. Als er mit der
angenehmen Mahlzeit fertig war, begrüßte er den Hexenmeister höflich
und sagte: „Ihr werdet unfehlbar von mir hören, Herr Pineiß, und Weib
und Geld sollen Euch nicht entgehen. Dagegen macht Euch bereit, recht
verliebt zu sein, damit Ihr jene Bedingungen einer unverbrüchlichen
Hingebung an die Liebkosungen Eurer Frau, die schon sogut wie Euer
ist, ja beschwören und erfüllen könnt! Und hiermit bedanke ich mich
des vorläufigen für genossene Pflege und Beköstigung und beurlaube
mich."

Somit ging Spiegel seines Weges und freute sich über die Dummheit des
Hexenmeisters, welcher glaubte, sich selbst und alle Welt betrügen zu
können, indem er ja die gehoffte Braut nicht uneigennützig, aus bloßer
Liebe zur Schönheit ehelichen wollte, sondern den Umstand mit den
zehntausend Goldgulden vorher wußte. Indessen hatte er schon eine
Person im Auge, welche er dem törichten Hexenmeister aufzuhalsen
gedachte für seine gebratenen Krammetsvögel, Mäuse und Würstchen.

Dem Hause des Herrn Pineiß gegenüber war ein anderes Haus, dessen
vordere Seite auf das sauberste geweißt war und dessen Fenster immer
frisch gewaschen glänzten. Die bescheidenen Fenstervorhänge waren
immer schneeweiß und wie soeben geplättet, und ebenso weiß war der
Habit und das Kopf- und Halstuch einer alten Beghine, welche in dem
Hause wohnte, also daß ihr nonnenartiger Kopfputz, der ihre Brust
bekleidete, immer wie aus Schreibpapier gefaltet aussah, so daß man
gleich darauf hätte schreiben mögen; das hätte man wenigstens auf der
Brust bequem tun können, da sie so eben und so hart war wie ein Brett.
So scharf die weißen Kanten und Ecken ihrer Kleidung, so scharf war
auch die lange Nase und das Kinn der Beghine, ihre Zunge und der böse
Blick ihrer Augen; doch sprach sie nur wenig mit der Zunge und blickte
wenig mit den Augen, da sie die Verschwendung nicht liebte und alles
nur zur rechten Zeit und mit Bedacht verwendete. Alle Tage ging sie
dreimal in die Kirche, und wenn sie in ihrem frischen, weißen und
knitternden Zeuge und mit ihrer weißen spitzigen Nase über die Straße
ging, liefen die Kinder furchtsam davon, und selbst erwachsene Leute
traten gern hinter die Haustüre, wenn es noch Zeit war. Sie stand aber
wegen ihrer strengen Frömmigkeit und Eingezogenheit in großem Rufe und
besonders bei der Geistlichkeit in hohem Ansehen, aber selbst die
Pfaffen verkehrten lieber schriftlich mit ihr als mündlich, und wenn
sie beichtete, so schoß der Pfarrer jedesmal so schweißtriefend aus
dem Beichtstuhl heraus, als ob er aus einem Backofen käme. So lebte
die fromme Beghine, die keinen Spaß verstand, in tiefem Frieden und
blieb ungeschoren. Sie machte sich auch mit niemand zu schaffen und
ließ die Leute gehen, vorausgesetzt, daß sie ihr aus dem Wege gingen;
nur auf ihren Nachbar Pineiß schien sie einen besonderen Haß geworfen
zu haben; denn so oft er sich an seinem Fenster blicken ließ, warf sie
ihm einen bösen Blick hinüber und zog augenblicklich ihre weißen
Vorhänge vor, und Pineiß fürchtete sie wie das Feuer, und wagte nur
zuhinterst in seinem Hause, wenn alles gut verschlossen war, etwa
einen Witz über sie zu machen. So weiß und hell aber das Haus der
Beghine nach der Straße zu aussah, so schwarz und räucherig,
unheimlich und seltsam sah es von hinten aus, wo es jedoch fast gar
nicht gesehen werden konnte, als von den Vögeln des Himmels und den
Katzen auf den Dächern, weil es in eine dunkle Winkelei von
himmelhohen Brandmauern ohne Fenster hineingebaut war, wo nirgends ein
menschliches Gesicht sich sehen ließ. Unter dem Dache dort hingen alte
zerrissene Unterröcke, Körbe und Kräutersäcke, auf dem Dache wuchsen
ordentliche Eibenbäumchen und Dornsträucher, und ein großer rußiger
Schornstein ragte unheimlich in die Luft. Aus diesem Schornstein aber
fuhr in der dunklen Nacht nicht selten eine Hexe auf ihrem Besen in
die Höhe, jung und schön und splitternackt, wie Gott die Weiber
geschaffen und der Teufel sie gern sieht. Wenn sie aus dem Schornstein
fuhr, so schnupperte sie mit dem feinsten Näschen und mit lächelnden
Kirschenlippen in der frischen Nachtluft und fuhr in dem weißen
Scheine ihres Leibes dahin, indes ihr langes rabenschwarzes Haar wie
eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In einem Loch am Schornstein
saß ein alter Eulenvogel, und zu diesem begab sich jetzt der befreite
Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er unterwegs gefangen.

„Wünsch' guten Abend, liebe Frau Eule! Eifrig auf der Wacht?" sagte
er, und die Eule erwiderte: „Muß wohl! Wünsch' gleichfalls guten
Abend! Ihr habt Euch lange nicht sehen lassen, Herr Spiegel!"

„Hat seine Gründe gehabt, werde Euch das erzählen. Hier habe ich Euch
ein Mäuschen gebracht, schlecht und recht, wie es die Jahreszeit gibt,
wenn Ihr's nicht verschmähen wollt! Ist die Meisterin ausgeritten?"

„Noch nicht, sie will erst gegen Morgen auf ein Stündchen hinaus. Habt
Dank für die schöne Maus! Seid doch immer der höfliche Spiegel! Habe
hier einen schlechten Sperling zur Seite gelegt, der mir heut zu nahe
flog; wenn Euch beliebt, so kostet den Vogel! Und wie ist es Euch denn
ergangen?"

„Fast wunderlich," erwiderte Spiegel, „sie wollten mir an den Kragen.
Hört, wenn es Euch gefällig ist." Während sie nun vergnüglich ihr
Abendessen einnahmen, erzählte Spiegel der aufmerksamen Eule alles,
was ihn betroffen und wie er sich aus den Händen des Herrn Pineiß
befreit habe. Die Eule sagte: „Da wünsch' ich tausendmal Glück, nun
seid Ihr wieder ein gemachter Mann, und könnt gehen, wo Ihr wollt,
nachdem Ihr mancherlei erfahren!"

„Damit sind wir noch nicht zu Ende," sagte Spiegel, „der Mann muß
seine Frau und seine Goldgulden haben!"

„Seid Ihr von Sinnen, dem Schelm noch wohlzutun, der Euch das Fell
abziehen wollte?"

„Ei, er hat es doch rechtlich und vertragsmäßig tun können, und da ich
ihn in gleicher Münze wieder bedienen kann, warum sollt' ich es
unterlassen? Wer sagt denn, daß ich ihm wohltun will? Jene Erzählung
war eine reine Erfindung von mir, meine in Gott ruhende Meisterin war
eine simple Person, welche in ihrem Leben nie verliebt, noch von
Anbetern umringt war, und jener Schatz ist ein ungerechtes Gut, das
sie einst ererbt und in den Brunnen geworfen hat, damit sie kein
Unglück daran erlebe. ‚Verflucht sei, wer es da herausnimmt und
verbraucht,' sagte sie. Es macht sich also in Betreff des Wohltuns!"

„Dann ist die Sache freilich anders! Aber nun, wo wollt Ihr die
entsprechende Frau hernehmen?" „Hier aus diesem Schornstein! Deshalb
bin ich gekommen, um ein vernünftiges Wort mit Euch zu reden! Möchtet
Ihr denn nicht einmal wieder freiwerden aus den Banden dieser Hexe?
Sinnt nach, wie wir sie fangen und mit dem alten Bösewicht
verheiraten!"

„Spiegel, Ihr braucht Euch nur zu nähern, so weckt Ihr mir
ersprießliche Gedanken."

„Das wußt' ich wohl, daß Ihr klug seid! Ich habe das Meinige getan und
es ist besser, daß Ihr auch Euren Senf dazugebt und neue Kräfte
vorspannt, so kann es gewiß nicht fehlen!"

„Da alle Dinge so schön zusammentreffen, so brauche ich nicht lang zu
sinnen, mein Plan ist längst gemacht!" „Wie fangen wir sie?" „Mit
einem neuen Schnepfengarn aus guten starken Hanfschnüren; geflochten
muß es sein von einem zwanzigjährigen Jägerssohn, der noch kein Weib
angesehen hat, und es muß schon dreimal der Nachttau daraufgefallen
sein, ohne daß sich eine Schnepfe gefangen; der Grund aber hiervon muß
dreimal eine gute Handlung sein. Ein solches Netz ist stark genug, die
Hexe zu fangen."

„Nun bin ich neugierig, wo Ihr ein solches hernehmt," sagte Spiegel,
„denn ich weiß, daß Ihr keine vergeblichen Worte schwatzt!"

„Es ist auch schon gefunden, wie für uns gemacht; in einem Walde nicht
weit von hier sitzt ein zwanzigjähriger Jägerssohn, welcher noch kein
Weib angesehen hat; denn er ist blindgeboren. Deswegen ist er auch zu
nichts zu gebrauchen, als zum Garnflechten und hat vor einigen Tagen
ein neues, sehr schönes Schnepfengarn zustande gebracht. Aber als der
alte Jäger es zum ersten Male ausspannen wollte, kam ein Weib daher,
welches ihn zur Sünde verlocken wollte; es war aber so häßlich, daß
der alte Mann voll Schreckens davonlief und das Garn am Boden
liegenließ. Darum ist ein Tau darauf gefallen, ohne daß sich eine
Schnepfe fing, und war also eine gute Handlung daran schuld. Als er
des andern Tages hinging, um das Garn abermals auszuspannen, kam eben
ein Reiter daher, welcher einen schweren Mantelsack hinter sich hatte;
in diesem war ein Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Goldstück auf
die Erde fiel. Da ließ der Jäger das Garn abermals fallen und lief
eifrig hinter dem Reiter her und sammelte die Goldstücke in seinen
Hut, bis der Reiter sich umkehrte, es sah und voll Grimm seine Lanze
auf ihn richtete. Da bückte der Jäger sich erschrocken, reichte ihm
den Hut dar und sagte: ‚Erlaubt, gnädiger Herr, Ihr habt hier viel
Gold verloren, das ich Euch sorgfältig aufgelesen!' Dies war wiederum
eine gute Handlung, indem das ehrliche Finden eine der schwierigsten
und besten ist; er war aber so weit von dem Schnepfengarn entfernt,
daß er es die zweite Nacht im Walde liegenließ und den nähern Weg nach
Hause ging. Am dritten Tage endlich, nämlich gestern, als er eben
wieder auf dem Wege war, traf er eine hübsche Gevattersfrau an, die
dem Alten um den Bart zu gehen pflegte und der er schon manches
Häslein geschenkt hat. Darüber vergaß er die Schnepfen gänzlich und
sagte am Morgen: ‚Ich habe den armen Schnepflein das Leben geschenkt;
auch gegen Tiere muß man barmherzig sein!' Und um dieser drei guten
Handlungen willen fand er, daß er jetzt zu gut sei für diese Welt, und
ist heute Vormittag beizeiten in ein Kloster gegangen. So liegt das
Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf es nur holen." „Holt es
geschwind!" sagte Spiegel, „es wird gut sein zu unserm Zweck!" „Ich
will es holen," sagte die Eule, „ steht nur solang Wache für mich in
diesem Loch, und wenn etwa die Meisterin den Schornstein hinaufrufen
sollte, ob die Luft rein sei? so antwortet, indem Ihr meine Stimme
nachahmt: ‚Nein, es stinkt noch nicht in der Fechtschul'!'" Spiegel
stellte sich in die Nische, und die Eule flog still über die Stadt weg
nach dem Wald. Bald kam sie mit dem Schnepfengarn zurück und fragte:
„Hat sie schon gerufen?" „Noch nicht!" sagte Spiegel.

Da spannten sie das Garn aus über den Schornstein und setzten sich
daneben still und klug: die Luft war dunkel, und es ging ein leichtes
Morgenwindchen, in welchem ein paar Sternbilder flackerten. „Ihr sollt
sehen," flüsterte die Eule, „wie geschickt die durch den Schornstein
heraufzusäuseln versteht, ohne sich die blanken Schultern schwarz zu
machen!" „Ich hab' sie noch nie so nah gesehen," erwiderte Spiegel
leise, „wenn sie uns nur nicht zu fassen kriegt!" Da rief die Hexe von
unten: „Ist die Luft rein?" Die Eule rief: „Ganz rein, es stinkt
herrlich in der Fechtschul'!" und alsobald kam die Hexe heraufgefahren
und wurde in dem Garne gefangen, welches die Katze und die Eule
eiligst zusammenzogen und verbanden. „Haltet fest!" sagte Spiegel, und
„Binde gut!" die Eule. Die Hexe zappelte und tobte mäuschenstill, wie
ein Fisch im Netz; aber es half ihr nichts und das Garn bewährte sich
auf das beste. Nur der Stiel ihres Besens ragte durch die Maschen.
Spiegel wollte ihn sachte herausziehen, erhielt aber einen solchen
Nasenstüber, daß er beinahe in Ohnmacht fiel und einsah, wie man auch
einer Löwin im Netz nicht zu nahe kommen dürfe. Endlich hielt die Hexe
still und sagte: „Was wollt ihr denn von mir, ihr wunderlichen Tiere?"
„Ihr sollt mich aus Eurem Dienste entlassen und meine Freiheit
zurückgeben!" sagte die Eule. „So viel Geschrei und wenig Wolle!"
sagte die Hexe, „du bist frei, mach' dies Garn auf!" „Noch nicht!"
sagte Spiegel, der immer noch seine Nase rieb, „Ihr müßt Euch
verpflichten, den Stadthexenmeister Pineiß, Euren Nachbar, zu heiraten
auf die Weise, wie wir euch sagen werden, und ihn nicht mehr zu
verlassen!" Da fing die Hexe wieder an zu zappeln und zu prusten wie
der Teufel, und die Eule sagte: „Sie will nicht dran!" Spiegel aber
sagte: „Wenn Ihr nicht ruhig seid, und alles tut, was wir wünschen, so
hängen wir das Garn samt seinem Inhalte da vorn an den Drachenkopf der
Dachtraufe, nach der Straße zu, daß man Euch morgen sieht und die Hexe
erkennt! Sagt also: Wollt Ihr lieber unter dem Vorsitze des Herrn
Pineiß gebraten werden, oder ihn braten, indem Ihr ihn heiratet?"

Da sagte die Hexe mit einem Seufzer: „So sprecht, wie meint Ihr die
Sache?" Und Spiegel setzte ihr alles zierlich auseinander, wie es
gemeint sei und was sie zu tun hätte. „Das ist allenfalls noch
auszuhalten, wenn es nicht anders sein kann!" sagte sie und ergab sich
unter den stärksten Formeln, die eine Hexe binden können. Da taten die
Tiere das Gefängnis auf und ließen sie heraus. Sie bestieg sogleich
den Besen, die Eule setzte sich hinter sie auf den Stiel und Spiegel
zuhinderst auf das Reisigbündel und hielt sich da fest, und so ritten
sie nach dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um den Schatz
heraufzuholen.

Am Morgen erschien Spiegel bei Herrn Pineiß und meldete ihm, daß er
die bewußte Person angehen und freien könne; sie sei aber allbereits
so arm geworden, daß sie, gänzlich verlassen und verstoßen, vor dem
Tore unter einem Baum sitze und bitterlich weine. Sogleich kleidete
sich Herr Pineiß in sein abgeschabtes gelbes Sammetwämschen, das er
nur bei feierlichen Gelegenheiten trug, setzte die bessere Pudelmütze
auf und umgürtete sich mit seinem Degen; in die Hand nahm er einen
alten grünen Handschuh, ein Balsamfläschchen, worin einst Balsam
gewesen und das noch ein bißchen roch, und eine papierne Nelke, worauf
er mit Spiegel vor das Tor ging, um zu freien. Dort traf er ein
weinendes Frauenzimmer sitzend unter einem Weidenbaum, von so großer
Schönheit, wie er noch nie gesehen; aber ihr Gewand war so dürftig und
zerrissen, daß, sie mochte sich auch schamhaft gebärden wie sie
wollte, immer da oder dort der schneeweiße Leib ein bißchen
durchschimmerte. Pineiß riß die Augen auf und konnte vor heftigem
Entzücken kaum seine Bewerbung vorbringen. Da trocknete die Schöne
ihre Tränen, gab ihm mit süßem Lächeln die Hand, dankte ihm mit einer
himmlischen Glockenstimme für seine Großmut und schwur, ihm ewig treu
zu sein. Aber im selben Augenblicke erfüllte ihn eine solche
Eifersucht und Neideswut auf seine Braut, daß er beschloß, sie vor
keinem menschlichen Auge jemals sehen zu lassen. Er ließ sich bei
einem uralten Einsiedler mit ihr trauen und feierte das Hochzeitsmahl
in seinem Hause, ohne andere Gäste, als Spiegel und die Eule, welche
ersterer mitzubringen sich die Erlaubnis erbeten hatte. Die
zehntausend Goldgulden standen in einer Schüssel auf dem Tisch, und
Pineiß griff zuweilen hinein und wühlte in dem Golde; dann sah er
wieder die schöne Frau an, welche in einem meerblauen Sammetkleide
dasaß, das Haar mit einem goldenen Netze umflochten und mit Blumen
geschmückt, und den weißen Hals mit Perlen umgeben. Er wollte sie
fortwährend küssen, aber sie wußte verschämt und züchtig ihn
abzuhalten, mit einem verführerischen Lächeln, und schwur, daß sie
dieses vor Zeugen und vor Anbruch der Nacht nicht tun würde. Dies
machte ihn nur noch verliebter und glückseliger, und Spiegel würzte
das Mahl mit lieblichen Gesprächen, welche die schöne Frau mit den
angenehmsten, witzigsten und einschmeichelndsten Worten fortführte, so
daß der Hexenmeister nicht wußte, wie ihm geschah vor Zufriedenheit.
Als es aber dunkel geworden, beurlaubten sich die Eule und die Katze
und entfernten sich bescheiden; Herr Pineiß begleitete sie bis unter
die Haustüre mit einem Lichte und dankte dem Spiegel nochmals, indem
er ihn einen trefflichen und höflichen Mann nannte, und als er in die
Stube zurückkehrte, saß die alte weiße Beghine, seine Nachbarin, am
Tisch und sah ihn mit einem bösen Blick an. Entsetzt ließ Pineiß den
Leuchter fallen und lehnte sich zitternd an die Wand. Er hing die
Zunge heraus, und sein Gesicht war so fahl und spitzig geworden, wie
das der Beghine. Diese aber stand auf, näherte sich ihm und trieb ihn
vor sich her in die Hochzeitskammer, wo sie mit höllischen Künsten ihn
auf eine Folter spannte, wie noch kein Sterblicher erlebt. So war er
nun mit der Alten unauflöslich verehelicht, und in der Stadt hieß es,
als es ruchbar würde: Ei seht, wie stille Wasser tief sind! Wer hätte
gedacht, daß die fromme Beghine und der Herr Stadthexenmeister sich
noch verheiraten würden! Nun, es ist ein ehrbares und rechtliches
Paar, wenn auch nicht sehr liebenswürdig!

Herr Pineiß aber führte von nun an ein erbärmliches Leben; seine
Gattin hatte sich sogleich in den Besitz aller seiner Geheimnisse
gesetzt und beherrschte ihn vollständig. Es war ihm nicht die
geringste Freiheit und Erholung gestattet, er mußte hexen vom Morgen
bis zum Abend, was das Zeug halten wollte, und wenn Spiegel
vorüberging und es sah, sagte er freundlich: „Immer fleißig, fleißig,
Herr Pineiß?"

Seit dieser Zeit sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmer
abgekauft! besonders wenn einer eine böse und widerwärtige Frau
erhandelt hat.

*       *       *       *       *




*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE LEUTE VON SELDWYLA, VOL. 1 ***

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