Sämtliche Werke 18: Aus einem Totenhause

By Fyodor Dostoyevsky

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Title: Sämtliche Werke 18: Aus einem Totenhause

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
        Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: June 15, 2025 [eBook #76303]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1908

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 18: AUS EINEM TOTENHAUSE ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

           Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
                    Dmitri Philossophoff und anderen
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


                   Zweite Abteilung: Achtzehnter Band


                           F. M. Dostojewski




                          Aus einem Totenhause


               München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag


            R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1917


             Copyright 1917 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
                     Verlag in München und Leipzig

                 Druck von Mänicke u. Jahn, Rudolstadt.




                                 Inhalt


   Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten von  VII
      Moeller van den Bruck                                          
   Vorwort                                                         XV
   Alexander Petrowitsch Goräntschikoff                             1
   Erster Teil                                                     11
    1.  Kap.  Das Totenhaus                                        13
    2.   „    Die ersten Eindrücke                                 40
    3.   „    Die ersten Eindrücke, Fortsetzung                    71
    4.   „    Die ersten Eindrücke, Fortsetzung                    99
    5.   „    Der erste Monat                                     129
    6.   „    Der erste Monat, Fortsetzung                        156
    7.   „    Neue Bekanntschaften. Petroff                       181
    8.   „    Entschlossene Menschen. Lutschka                    205
    9.   „    Issai Fomitsch. Das Bad. Die Erzählung Bakluschins  218
   10.   „    Das Weihnachtsfest                                  248
   11.   „    Die Theateraufführung                               276
   Zweiter Teil                                                   313
    1.  Kap.  Das Lazarett                                        315
    2.   „    Das Lazarett, Fortsetzung                           342
    3.   „    Das Lazarett, Fortsetzung                           368
    4.   „    Der Mann der Akulka. Eine Erzählung                 399
    5.   „    Die Sommerzeit                                      418
    6.   „    Die Tiere unseres Ostrogg                           448
    7.   „    Der Streik                                          471
    8.   „    Die Kameraden                                       502
    9.   „    Die Flucht                                          528
   10.   „    Die Entlassung aus dem Ostrogg                      553




       Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten


Die Geschichte ist im Grunde eine einzige Aufeinanderfolge neuer
Völkermöglichkeiten. Die Erde ist den Menschen gegeben, aber die
Menschen, die Völkerbildungen, sind der Erde aufgegeben. Rassen schieben
sich auf ihr durcheinander und erzeugen neue Rassen, Nationen prallen
aneinander, tauchen hoch und verschwinden. Und erst dadurch, daß diese
Rassen und Nationen sich äußern in Kulturen, ändert sich der Anblick der
Erde. Mit dem Entstehen von Kulturen brechen Landschaften auf zu ihrer
höchsten Blüte, und mit ihrem Untergange zerfallen sie in Sand und Öde.
So kann man die Geschichte der Erde an ihren Völkern erkennen. Und wenn
man von einem Lande, das noch nicht in die Geschichte eingetreten, doch
gleichwohl vorhanden ist, voraussagen soll, ob es eine Zukunft haben
wird, und welche Zukunft, so kann man die Antwort bereits herauslesen
aus der Art seiner Bevölkerung. Klima, Fauna, Flora, oder was ein Volk
sonst an Eigentümlichkeiten in einem Lande vorfindet, sind ihm immer nur
Mittel zu seiner Kultur. Das Volk selbst dagegen ist die seelische
Macht, die diesen Zweck nicht nur erreicht, sondern auch ursprünglich
schafft. Und seine Zukunft kann stets nur die Vergrößerung seiner
angeborenen Volksart sein, und ihre Übertragung und Anwendung auf die
allgemein geschichtlichen Vorgänge und Zufälle, die es im Wandel der
Entwicklung kreuzen wird. Natürlich kann es sich dabei nicht um die
genaue Vorausbestimmung einzelner Daten handeln, sondern nur um die
einer bestimmten Haltung, die das Volk in allen Wechselfällen einnehmen
wird. Seine Art zu fühlen, zu denken, zu handeln kündigt sich früh schon
an und ist dann bis zu einem gewissen Grade nicht nur unverlierbar,
sondern auch bestimmend für alle Zukunft. Und ebenso scheint die Art
seiner großen Männer, seiner Helden und Genies, bereits vorgebildet zu
sein, nicht dem Namen und dem Geburtstag, wohl aber der Seele nach. In
dem Sinne dieser Zusammenhänge sind dann die ersten aufgezeichneten
Äußerungen, die wir aus einem jungen Volke heraus haben, oder mehr noch,
von einem bereits höher stehenden Standpunkte aus über das Volk, so
ungemein bezeichnend. Man kann ohne weiteres sagen, daß Tacitus in der
„Germania“ bereits den Charakter nicht nur der Germanen überhaupt,
sondern gerade auch der Deutschgermanen, im Gegensatze zu den
Europagermanen der Völkerwanderung, ein- für allemal festgelegt hat.
Doch ist das immerhin eine Feststellung, die wir heute, auf dem Wege des
Rückschlusses, von einer Gegenwart und Wirklichkeit gewordenen Zukunft
aus auf die Vergangenheit vornehmen. Einen Einblick in einen werdenden
Rassecharakter dagegen können wir haben, wenn wir sehen, wie die Art der
jüngsten Rasse, der Yankees, schon in den ersten Aufzeichnungen über
sie, etwa im „Leben“ Franklins, mit einer unbedingten Formung, und man
könnte hier wirklich sagen Vorformung, sich typisch aufbaut. Und gar in
die Zukunft können wir schauen, in das Wachstum eines Volkes hinein, von
dem heute kaum mehr schon vorhanden ist, als die anthropologischen
Bestandteile, wenn wir Dostojewskis „Aufzeichnungen“ aus seiner
sibirischen Zeit unter dem Gesichtswinkel lesen, daß auch Sibirien
einmal eine Kultur haben wird, und daß das Volk, das sie zu schaffen
berufen ist, nicht nur die Russen sein werden, und erst recht
nicht die verschiedenen Turan-, Altan- und Mongoloidvölker,
Sibiriens Urbevölkerung, sondern auch hier wieder die sich
entwicklungsgeschichtlich ergebende Rassenmischung, das dereinstige Volk
der Sibirier.

                   *       *       *       *       *

Die Russen werden innerhalb dieser Rassenmischung nur die Bringer der
Kultur Sibiriens sein, so, wie sie die politischen Eroberer des Landes
waren. Freilich ist das ungeheuer viel, da die Russen der Kultur
Sibiriens damit von vornherein den allgemeinen Rassencharakter, einen
slavischen und allgemein arischen, zu geben vermögen – ganz wie einst
die einbrechenden Aryas dem Industale den indischen, die Griechen
Griechenland den hellenischen, die Römer Italien den lateinischen, die
Germanen Mitteleuropa den germanischen Rassecharakter gegeben haben. Und
geradeso, wie die geschichtlichen Arier in allen Ländern andere waren,
als die frühgeschichtlichen, wie die Deutschen heute nicht mehr Germanen
sind, sondern eben Deutsche, wird dann auch das Volk der Sibirier ein
anderes sein, als das Volk der Russen, von dem es urväterlicherseits
abstammt. Es wird ihm zunächst noch ähneln, wie heute etwa der Yankee
noch dem Engländer in Äußerlichkeiten – zu denen vorläufig auch die
Sprache gehört – ähnelt oder sogar gleich ist. Aber immer weiter werden
sich dann die beiden Völkerbildungen voneinander entfernen. Die Gewalt
der Jahrhunderte und die Not der Zeiten wird ganz verschiedene
Kraftherde mit ganz verschiedener Kraftrichtung aus ihnen machen. Die
politische Loslösung und Verselbständigung wird früher oder später
hinzutreten. Und schließlich wird Russen und Sibirier nur noch dasjenige
verbinden, was überhaupt unzerstörbar im Völkerleben ist: das
Rassenhafte, das gemeinsam Slavische, und namentlich auch, im Gegensätze
zu der umgebenden chinesischen und japanischen Welt, das gemeinsam
Arische. Die Gründe aber einer so andersartigen Entwicklung werden teils
die allgemein geschichtlichen, teils seelische gewesen sein. Die
geschichtlichen Gründe kennen wir. Sie liegen in der andersartigen
Vergangenheit Sibiriens. Kosakenscharen haben das Land einst erobert.
Iwan dem Grausamen wurde es geschenkt. Und früh schon war fast wichtiger
als seine Erschließung durch Handel und Hände Arbeit seine Verwendung
als Verbannungsort. Nach Sibirien entledigte man sich der
Hunderttausende von Opfern, die Rußlands dunkle und verzweiflungsvoll
suchende Geschichte forderte. Russen, Polen, Finnen, Esthen, Letten,
Deutsche, Schweden, ferner Angehörige der Donau-, Wolga- und
Kaukasusvölker sammelten sich in den sibirischen Kolonistenstädten. Und
es ist wohl ohne weiteres klar – hier gehen die geschichtlichen Gründe
in die seelischen über –, daß die Bestandteile, die auf diese Weise
abgestoßen wurden, auch den Persönlichkeiten nach andere sein mußten,
als die, welche abstießen. Hinzukamen Bauern, welche in der Heimat
darbten und nun sich aufrafften und freiwillig gingen, ferner
Abenteurer, Kaufleute, Händler. Alles in allem kamen nach Sibirien die
roheren, aber auch tätigeren und entschlosseneren Elemente, während die
gefügigeren und feineren, aber auch untätigeren und minder
entschlußkräftigen in Rußland zurückblieben. Und gesiebt und gewägt
wurden die ersteren dann noch nach den Gesetzen der Auslese und der
größeren Erhaltung der stärkeren Rasse. Die Schwächeren gingen unter
oder paßten sich an. Die Stärkeren erhielten sich und schlugen
artbestimmend in der Bevölkerung durch. „Es ist ja doch das
allerbegabteste, allerstärkste Volk in unserem ganzen russischen Volke!“
rief Dostojewski aus, als er seine „Aufzeichnungen“ schloß – begeistert,
und zugleich fast verzweifelnd bei dem Gedanken, daß eine so gewaltige
Kraft vertan werden mußte in Gefängnissen und Strafanstalten. Er
bedachte in dem Augenblick nicht, daß die Kraft, wenn sie auch oft für
Jahre und Jahrzehnte gebunden bleibt in Unfreiheit und angewiesen ist
auf eine scheinbar unnütze Beschäftigung, gleichwohl ihre Fortsetzung
findet in der Freiheit und in dem ungeheuren Spielraum, den gerade
Sibirien dem Menschen läßt. Für Dostojewski war ein Haus des Todes und
des Abschlusses, was in Wirklichkeit eines des Lebens und der Zukunft
ist. Solange die Verschickten in Fesseln sind, geht ihre Arbeit freilich
Sibirien so gut wie verloren. Aber das Geschlecht der Verschickten, der
Befreiten und ihrer Kinder und Kindeskinder, das bildet und zeugt dann
die sibirische Bevölkerung, und gibt ihr eine Muskulatur und vor allem
eine Sinnesart, die nur der asiatische, nicht der europäische Russe
besitzt. Aus dieser Bevölkerung heraus, aus der Durcheinanderwürfelung
ihrer Nationalitätenbestandteile, die dann die besten Rassebestandteile
naturgemäß an die Oberschicht und hier wiederum an die vordersten
Stellen wirft, ist heute schon gar manches an Menschenkraft und
Menschenwillen, gar manches, was in Rußland noch immer still und
gebunden liegt, in Sibirien schöpferisch und frei geworden. Die Bebauung
und Durchsittung des Landes gehört selbstverständlich vor allem hierhin.
Aber auch die Durchquerung des ungeheuren Gebietes durch die
transsibirische Eisenbahn, die zwar von Rußland unternommen, aber von
sibirischer Volkskraft und -arbeit getragen wurde, war eine wesentlich
sibirische Tat, die in die Geschichte Sibiriens gehört und denn auch
gerechterweise vor allem ihm zugute kommen wird. Nicht minder war der
russisch-japanische Krieg ein Ereignis, das, wenn überhaupt einen
Slaven, dann doch nur den Sibirier, und gerade den sibirischen Soldaten,
volklich und heimatlich ergriff, und das jedenfalls nicht Rußlands,
sondern immer nur Sibiriens Zukunft und Schicksal anging. Rußland wird
schließlich doch immer europäische Macht bleiben und seine politischen
Reibflächen und theokratischen Ziele im Balkan und in der Beherrschung
Konstantinopels und höchstens noch seine mystischen Berührungen in
Indien haben. Sibirien dagegen ist – man kann nicht sagen eine
europäische, und man kann nicht sagen eine asiatische Macht, – sondern,
jenseits des Ural und diesseits des Himalaja gelegen, von Natur durchaus
bestimmt, eine Macht für sich zu sein. Rußland, das ist der tiefe
Konservativismus des Slaventums. Sibirien dagegen, das ist der Umschlag
dieses Konservativismus in sein Gegenteil, und die Aufsammlung und
Auflösung all der revolutionären Elemente, die Rußland abstößt. Das
Tiefste, was Rußland geben wird, das wird es, aus dem latenten
Quietismus des Russen heraus, immer im Psychologischen und Religiösen
geben. Das Beste dagegen, was Sibirien zu geben haben wird, das wird,
aus der Pionierhaftigkeit seiner Bevölkerung heraus, immer Leben sein,
Werk, Arbeit und eine vielleicht sogar sehr bedeutende Kultur.

                   *       *       *       *       *

Dostojewski hatte noch nicht den sibirischen Standpunkt. Sein eigener
nationaler Standpunkt war der panslavistische, und die Möglichkeit,
daß der Ural einmal zwei slavische und gleichwohl völlig
verschiedene Kulturwelten scheiden würde, lag außerhalb seines
geschichtsphilosophischen Denkens. Er hat seine „Aufzeichnungen“ vom
russischen Standpunkt aus geschrieben, und mit den russischen ohne
weiteres den slavischen gleichgesetzt. Russen sind für sein Bewußtsein
die Menschen, die er schildert, nicht künftige Sibirier. Und geschildert
hat er sie in seiner Güte als begabt mit jener tiefen und völlig
amoralischen Menschlichkeit, die wohl noch lange Sibiriern und Russen
gemeinsam verbleiben und sie am längsten von anderen Nationalitäten und
Rassen unterscheiden wird. Aber trotzdem geht bereits ein Unterschied
durch die „Aufzeichnungen“ hindurch: schon stößt man in allem
Sibirischen überall auf frische seelische Neuwerte und ahnt den
Augenblick, in dem sie einmal sich selbst überlassen werden können. Von
den besonderen sibirischen Aufgaben freilich erfährt man in den
„Aufzeichnungen“ noch nichts, sondern nur von der besonderen Volksart.
Kein sibirisches Programmbuch hat Dostojewski mit ihnen gegeben, sondern
nur ein erstes anthropologisches und psychologisches Dokument für
Sibirien. Trotzdem war es von innerer Schicksalsmäßigkeit, daß
Dostojewski überhaupt nach Sibirien kam. Dadurch lernte der größte Russe
das Land einer großen slavischen Zukunft kennen und drückte es aus – und
zusammen mit dem Lande die Zukunft.

                                              _Moeller van den Bruck._




                                Vorwort


Dostojewskis sibirische Verbannungsjahre waren 1849 bis 1859. In
Sibirien selbst schrieb und vollendete er kaum eine Dichtung. Nach der
Rückkehr wurden zunächst die beiden größeren satirisch-humoristischen
Novellen „Aufzeichnungen eines Unbekannten“ und „Aus den Mordassoffschen
Chroniken“ fertiggestellt, sowie der kürzere Roman „Die Erniedrigten und
Beleidigten“. Sie sind aus den Jahren 1859 und 1861. In den Jahren 1860
bis 1862 folgten alsdann die „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“,
zu denen die Vorbereitungsarbeiten und ersten Skizzen freilich schon in
die Zeit von Dostojewskis sibirischem Aufenthalte zurückgehen.

                                                              E. K. R.




Alexander Petrowitsch Goräntschikoff


In den entlegenen Gebieten Sibiriens stößt man zuweilen inmitten der
Steppen, Berge oder undurchdringlichen Wälder auf kleine Städte von
tausend, zweitausend Einwohnern, mit unansehnlichen Holzhäusern, zwei
Kirchen, von denen die eine in der Stadt ist, die andere auf dem
Kirchhof, – Städte, die eher einem größeren Dorf aus der Umgegend
Moskaus als einer Stadt gleichen. Gewöhnlich sind sie mit Kreis-, Amts-
und anderen Richtern, Assessoren und allen dazugehörigen
Subalternbeamten hinlänglich versehen. Überhaupt ist der Dienst in
Sibirien trotz der großen Kälte recht wohlig und angenehm. Die Menschen
sind dort einfach, unliberal, die Institutionen alt, fest und durch
Jahrhunderte geheiligt. Die Beamten – die mit vollem Recht die Rolle
eines sibirischen Adels spielen – sind entweder einheimische,
eingefleischte Sibirier oder sie sind aus Rußland übergesiedelt,
größtenteils aus den Hauptstädten, aus Moskau oder Petersburg, verlockt
durch den nicht auf Abschlag des etatmäßigen Gehalts ausgezahlten
Vorschuß, das doppelte Reisegeld und verführerische Hoffnungen für die
Zukunft. Von ihnen bleiben diejenigen, die das Rätsel des Lebens zu
lösen verstehen, fast ausnahmslos in Sibirien und schlagen daselbst
vollauf befriedigt Wurzel, was ihnen denn auch in der Folge reiche und
süße Früchte einträgt. Die anderen dagegen, die Leichtsinnigen, die das
Rätsel des Lebens nicht zu lösen verstehen, denen wird Sibirien bald
langweilig, und dann pflegen sie sich vorwurfsvoll zu fragen, warum sie
überhaupt dorthin gefahren sind. Ärgerlich und ungeduldig dienen sie die
drei Jahre, ihre gesetzliche Dienstzeit, ab, bemühen sich nach deren
Ablauf unverzüglich um ihre Versetzung und kehren, Sibirien verfluchend
und verspottend, wieder in die Heimat zurück. Nur ist das durchaus
unrecht von ihnen, denn nicht nur als Beamter, sondern noch in mancher
anderen Beziehung kann man in Sibirien Glückseligkeit genießen. Das
Klima ist vorzüglich, es gibt dort viele außerordentlich reiche und
gastfreundliche Kaufleute, viele sehr wohlhabende Leute auch unter den
sibirischen Fremdvölkern. Die Damen blühen wie die Rosen und sind
sittlich bis zum Äußersten. Das Wild fliegt in den Straßen umher und
stößt von selbst auf die Jäger. Champagner wird unheimlich viel
getrunken. Der Kaviar ist wunderbar. Die Ernte bringt in manchen
Gegenden das Fünfzehnfache ein. Kurz, – es ist ein gesegnetes Land. Man
muß nur verstehen, dasselbe sich nutzbar zu machen. Und in Sibirien
versteht man’s.

In einem dieser lebenslustigen und zufriedenen Städtchen mit der
liebenswürdigsten Einwohnerschaft, die ich nie werde vergessen können,
war’s, daß ich Alexander Petrowitsch Goräntschikoff kennen lernte, einen
daselbst angesiedelten, aus Rußland gebürtigen Edelmann und
Gutsbesitzer, der nach der Ermordung seiner Frau Zwangsarbeiter zweiter
Klasse gewesen, und nun, nach Ablauf seiner Strafzeit von zehn Jahren,
still und verborgen sein Leben als Ansiedler in der Stadt K. zu Ende
lebte. Er war zwar einem nahegelegenen Amtsbezirk zugeteilt worden, doch
lebte er trotzdem in der Stadt, da er hier die Möglichkeit hatte, durch
Privatstunden wenigstens etwas für seinen Unterhalt zu verdienen. Solche
Lehrer, die einmal Zwangsarbeiter gewesen sind und sich später als
Ansiedler niedergelassen haben, sind keine Seltenheit in den sibirischen
Städten. Gewöhnlich unterrichten sie in der französischen Sprache, die
ja zum irdischen Leben so unumgänglich nötig ist, von der man aber ohne
diese zufälligen Lehrer in jenen fernen Gebieten kaum eine Vorstellung
hätte.

Das erstemal sah ich Alexander Petrowitsch im Hause des alten, sehr
verdienten Iwan Iwanytsch Grosdikoff, eines äußerst gastfreundlichen
hohen Beamten, der außerdem Vater von fünf Töchtern verschiedenen Alters
war, von Töchtern, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten. Diesen
jungen Damen erteilte Alexander Petrowitsch französischen Unterricht,
und zwar viermal wöchentlich, die Stunde für dreißig Kopeken in Silber.
Mich interessierte sofort sein Äußeres. Er war ein auffallend bleicher
und hagerer Mensch, noch nicht alt – ich schätzte ihn auf ungefähr
fünfunddreißig Jahre – klein und schwächlich. Gekleidet war er stets
sehr sauber und nach europäischer Mode. Versuchte man mit ihm ein
Gespräch anzuknüpfen, so blickte er einen unablässig und sehr aufmerksam
an, vernahm mit strenger Höflichkeit, was man zu ihm sprach, als dächte
er über jedes Wort nach und als hätte man ihm mit der harmlosen Frage
eine schwere mathematische Aufgabe aufgegeben oder als wolle man ihm
irgend ein Geheimnis entlocken, bis er dann endlich antwortete, klar und
bestimmt, aber jedes Wort so abwägend, daß es einem plötzlich aus irgend
einem Grunde ungemütlich wurde und man schließlich froh war, wenn man
das Gespräch nicht weiterzuführen brauchte. Ich erkundigte mich gleich
darauf bei Iwan Iwanytsch nach ihm und erfuhr, daß Goräntschikoff
tadellos und sittlich lebe und daß anderenfalls Iwan Iwanytsch ihn, wie
es sich von selbst verstehe, niemals aufgefordert haben würde, seine
Töchter zu unterrichten. Er sei aber ungewöhnlich menschenscheu, ziehe
sich von allen zurück, sei sehr gelehrt, lese sehr viel, spreche jedoch
um so weniger und es sei überhaupt sehr schwierig, mit ihm ein Gespräch
zu führen. Manche wiederum versicherten, er sei positiv übergeschnappt,
gaben aber zu, daß diese Eigenschaft noch kein so großes Gebrechen wäre.
Auch hörte ich, daß viele der angesehensten Familien der Stadt Alexander
Petrowitsch gern liebevoll aufnehmen würden, daß er sogar nützlich sein
könne, Bittschriften verfassen u. a. m. Man war der Meinung, daß er in
Rußland keine geringe Verwandtschaft habe, vielleicht sogar längst nicht
mit den letzten Leuten verschwägert sei, doch wußte man gleichzeitig,
daß er seit seiner Verbannung alle Beziehungen zu seinen Angehörigen
abgebrochen hatte, – kurz, daß er sich selbst schade. Zudem war seine
Lebensgeschichte allgemein bekannt, und so erfuhr ich, daß er seine Frau
im ersten Jahr der Ehe aus Eifersucht erschlagen und sich selbst dem
Gericht angezeigt habe – weswegen er denn auch nur zu zehn Jahren
verurteilt worden war. Solche Verbrechen werden immer nur als
Unglücksfälle betrachtet und man bedauert die „Unglücklichen“. Doch
ungeachtet dessen mied der Sonderling alle und jeden und erschien unter
Menschen nur dann, wenn er Stunden zu geben hatte.

Ich kann nicht sagen, daß ich ihm von Anfang an besondere Aufmerksamkeit
geschenkt hätte. Mit der Zeit aber fing er an, mich zu interessieren, –
warum, weiß ich eigentlich selbst nicht. Es war etwas Rätselhaftes an
ihm. Ihn in ein Gespräch zu ziehen, war vollkommen unmöglich. Natürlich!
auf meine Fragen antwortete er jedesmal, und er tat es sogar in einer
Weise, als hätte er das Antworten für seine heiligste Pflicht gehalten;
nichtsdestoweniger fühlte ich mich nach einer solchen Antwort
gewissermaßen befangen, so daß ich es vorzog, weitere Fragen zu
unterlassen; und zudem erschien nach solchen paar Worten immer ein
Ausdruck von Leid und Abspannung in seinem Gesicht. Ich erinnere mich
noch, wie ich einmal an einem wundervollen Sommerabend zusammen mit ihm
von Iwan Iwanytsch nach Hause ging. Plötzlich fiel es mir ein, ihn auf
einen Augenblick zu einer Zigarette zu mir einzuladen. Es ist schwer zu
beschreiben, welch ein Entsetzen sich in seinem Gesicht ausdrückte. Er
war völlig fassungslos, murmelte ein paar unzusammenhängende Worte und
plötzlich stürzte er, nach einem wütenden Blick auf mich, in der
entgegengesetzten Richtung davon.

Ich wunderte mich. Seit der Zeit bemerkte ich, daß er jedesmal, wenn er
mich erblickte, zu erschrecken schien. Aber ich ließ nicht nach; es zog
mich etwas zu ihm, und eines Tages, ungefähr nach einem Monat, machte
ich mich auf und ging zu ihm hin. Das war natürlich recht dumm und
taktlos von mir. Goräntschikoff wohnte am äußersten Ende der Stadt bei
einer alten Kleinbürgerin, bei der außer ihm noch ihre schwindsüchtige
Tochter lebte. Diese Tochter hatte ein illegitimes Kind, ein nettes,
lustiges kleines Mädchen von zehn Jahren.

Als ich eintrat, saß Alexander Petrowitsch mit der Kleinen am Tisch und
unterrichtete sie im Lesen. Wie er mich erblickte, erschrak er dermaßen,
als hätte ich ihn auf einem Verbrechen ertappt. Er schien vollständig
den Kopf zu verlieren, sprang vom Stuhl auf und starrte mich an. Endlich
nahmen wir Platz. Er verfolgte unablässig jeden meiner Blicke, ganz als
argwöhnte er in jedem von ihnen irgend einen ganz besonderen
geheimnisvollen Sinn. Da erriet ich, daß er bis zur Krankhaftigkeit
mißtrauisch war. Er blickte mich haßerfüllt an, fast als wollte er
sagen: „Wirst du mich denn nicht endlich einmal in Ruh lassen?“ Ich
sprach über unser Städtchen und die laufenden Neuigkeiten: er schwieg
und lächelte gehässig. Es zeigte sich, daß ihm keine einzige der von
allen schon vielfach besprochenen Neuigkeiten bekannt war, ja daß er
sich nicht einmal für sie interessierte und wahrscheinlich überhaupt
nichts von ihnen wissen wollte. Ich sprach darauf vom Land und seinen
Bedürfnissen: er hörte mir schweigend zu, doch blickte er mich dabei
dermaßen sonderbar an, daß ich mich schließlich meines Gespräches
schämte. Bei der Gelegenheit habe ich ihm vielleicht auch noch mit
meinen Büchern und Zeitschriften tief weh getan: ich hatte sie gerade
von der Post abgeholt und bot sie ihm, so wie sie waren, noch
unaufgeschnitten, als Lektüre an. Er warf einen gierigen Blick auf das
Paket, änderte aber sofort seine Absicht und lehnte das Angebot mit der
Ausrede ab, er habe keine Zeit zum Lesen. Endlich verabschiedete ich
mich. Als ich ihn verließ, fühlte ich, wie eine unerträgliche Last von
meinem Herzen fiel. Ich schämte mich und es erschien mir sehr taktlos,
sich einem Menschen aufzudrängen, dessen einziger Wunsch es war, soweit
als möglich von aller Welt abgeschieden zu sein. Aber es war schon
geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Ich erinnere mich noch,
daß ich bei ihm so gut wie überhaupt keine Bücher bemerkt hatte. So
konnte es wohl kaum wahr sein, daß er viel las, wie man in der Stadt
allgemein glaubte. Indessen hatte ich zweimal spät in der Nacht beim
Vorüberfahren an seiner Wohnung noch Licht bei ihm gesehen. Was mochte
er denn eigentlich tun, wenn er bis zum Sonnenaufgang nicht schlief?
Schrieb er etwa? Und wenn er schrieb, – was mochte dann das wohl sein?

Die Umstände entfernten mich auf ganze drei Monate aus der Stadt. Als
ich zurückkehrte, war es bereits Winter geworden, und da erfuhr ich, daß
Alexander Petrowitsch im Herbst gestorben sei, gestorben wie er gelebt
hatte: einsam, ohne auch nur einmal den Arzt zu sich rufen zu lassen. In
der Stadt hatte man ihn schon so gut wie ganz vergessen, seine Wohnung
stand leer. Da begab ich mich unverzüglich zu der Hauswirtin des
Verstorbenen, in der Absicht, sie etwas auszuforschen. Ich wollte
wissen, womit sich ihr Mieter vorwiegend beschäftigt und ob er nicht
etwas geschrieben. Für ein Zwanzigkopekenstück brachte sie mir einen
ganzen Korb voll Papiere, die der Verstorbene hinterlassen. Die Alte
gestand, daß sie zwei Hefte schon verbrannt habe. Sie war ein
mürrisches, schweigsames Weib, aus dem schwer etwas Gescheites
herauszubekommen war. Über ihren Mieter konnte sie mir nichts Neues
sagen. Nach ihren Worten hatte er fast nie etwas gearbeitet und
monatelang weder ein Buch aufgeschlagen, noch die Feder in die Hand
genommen; dafür sei er ganze Nächte hindurch in seinem Zimmer auf- und
abgegangen, stets als dächte er über irgend etwas nach, zuweilen aber
habe er sogar mit sich selbst gesprochen. Sie fügte noch hinzu, daß er
ihre Großtochter, die kleine Katjä, lieb gewonnen habe und sehr gut zu
ihr gewesen sei, besonders seitdem er einmal erfahren hatte, daß sie
Katjä hieß, und am Katarinentag sei er regelmäßig zur Totenmesse
gegangen. Besuch habe er nicht ausstehen können und sein Zimmer habe er
nur verlassen, wenn er seine Privatstunden zu geben hatte. Ja er habe
sogar sie, seine Hauswirtin, scheel angesehen, wenn sie einmal in der
Woche gekommen sei, um sein Zimmer doch ein wenig gründlicher
aufzuräumen, und gesprochen habe er mit ihr in den ganzen drei Jahren
kaum ein Wort. Ich fragte auch die kleine Katjä, ob sie noch an ihren
Lehrer dachte. Sie sah mich schweigend an, wandte sich dann von mir ab,
zur Wand hin, und brach in Tränen aus. So hatte denn dieser Mensch doch
wenigstens in _einem_ Wesen Liebe zu sich zu erwecken vermocht.

Ich nahm seine Papiere an mich und durchsuchte und ordnete sie einen
ganzen Tag lang. Ungefähr drei Vierteile des Packens waren nichtssagende
Papierfetzen, meistens Schreibübungen seiner Schüler. Unter ihnen aber
fand ich ein Heft, ein ziemlich umfangreiches, das in kleiner Schrift
sehr eng vollgeschrieben war, doch fehlte leider der Schluß – vielleicht
war er aber auch schon zu Lebzeiten des Verfassers von diesem selber
fortgeworfen oder vergessen worden.

Es war das die Schilderung des zehnjährigen Sträflingslebens, zu dem
Alexander Petrowitsch verurteilt gewesen war. Das Ganze ziemlich
zusammenhanglos. Stellenweise war die Schilderung von anderen
Geschichten und Gesprächen unterbrochen, von irgend welchen seltsam
grausigen Erinnerungen, alles recht unausgeglichen niedergeschrieben,
fast als hätte ihn irgend etwas dazu gezwungen. Ich habe diese
Bruchstücke mehrmals durchgelesen und mich überzeugt, daß sie jedenfalls
in unnormalem Zustande geschrieben worden sind. Doch trotzdem schienen
mir seine Aufzeichnungen – die „Aufzeichnungen aus dem Totenhause“, wie
er sie selbst an einer Stelle nennt – nicht ganz uninteressant. Die für
uns völlig neue, bis jetzt noch nie beschriebene Welt, die er schildert,
die Seltsamkeit mancher Vorkommnisse, einige besondere Bemerkungen über
das dort eingeschlossene untergegangene Volk, – alles das fesselte mich
und ich las manches mit Interesse. Natürlich kann ich mich ja auch
täuschen. So wähle ich denn vorläufig einige Kapitel zur Probe aus; mag
dann der Leser selbst urteilen.




                              Erster Teil


                                   I.

                             Das Totenhaus

Unser Gefängnis lag ganz am Rande der Festung, dicht am Festungswall.
Zuweilen sah man so durch die Zaunspalten in Gottes weite Welt hinein:
wirst du dort nicht irgend etwas sehen? – Doch was du sahst, war nur ein
Stückchen Himmel und der mit Steppengras bewachsene hohe Erdwall, auf
dem nur die Schildwachen tagaus, tagein und jede Nacht auf- und abgehen;
und gleich darauf denkst du, daß Jahre vergehen werden, du aber immer so
an den Zaun treten wirst, um wieder durch die Spalten zu lauern und
immer denselben Wall, dieselben Schildwachen und dasselbe kleine
Stückchen Himmel sehen wirst, nicht diesen Himmel, der über dem
Gefängnis ist, sondern jenen, den anderen, fernen, freien Himmel.

Man denke sich einen großen Hof von zweihundert Schritt Länge und
hundertundfünfzig Breite, der rings von einem hohen Pfahl- oder
Palissadenzaun in einem unregelmäßigen Sechseck umgeben ist. Diese hohen
Pfähle sind tief in die Erde eingerammt, fest aneinander gefügt,
außerdem durch verbindende Querplanken noch doppelt in ihrer senkrechten
Stellung gefestigt, und das obere Ende jedes Pfahles ist zugespitzt, –
das ist die äußere Einfriedung eines „Ostrogg“. An einer der sechs
Seiten befindet sich ein großes Tor, das stets verschlossen ist und Tag
und Nacht von Schildwachen bewacht wird. Dieses Tor wurde nur früh
morgens aufgemacht, wenn die Gefangenen zur Arbeit abmarschierten.
Hinter diesem Tor lag die helle freie Welt, dort lebten Menschen wie
alle. Aber diesseits der Umzäunung lag eine andere Welt, von der sich
die übrigen Menschen nur Vorstellungen wie von einem unmöglichen Märchen
machten. Hier war eine besondere Welt, die keiner einzigen anderen
glich, hier gab es besondere Gesetze, besondere Tracht, besondere Sitten
und Bräuche, es war ein lebendes Totenhaus, ein Leben, wie es in der
Welt nirgends eines gibt, und auch die Menschen waren hier besondere.
Diesen besonderen Winkel will ich nun zu beschreiben versuchen.

Wer den Ostrogg betritt, sieht innerhalb des Palissadenzauns mehrere
Gebäude. Zu beiden Seiten des breiten inneren Hofes liegen zwei
langgestreckte einstöckige Blockhäuser. Das sind die Kasernen. In ihnen
leben die Zwangsarbeiter, die in Abteilungen untergebracht sind.
Weiterhin liegt ein drittes ebensolches Blockhaus: das ist die Küche,
die gleichfalls in zwei Abteilungen geteilt ist. Und ganz im Hintergrund
befindet sich noch ein viertes Gebäude, in dem sich die Keller,
Vorratsräume und Schuppen befinden. Die Mitte des Hofes ist frei und
bildet einen gleichmäßigen, ziemlich großen Platz. Hier treten die
Sträflinge zweimal täglich an, hier findet die Zählung und der
Namensappell morgens, mittags und abends statt, zuweilen aber auch sonst
noch ein paar Mal am Tage – je nach dem Argwohn der Wachhabenden und
ihrer Übung im Zählen. Zwischen diesen Gebäuden und dem Palissadenzaun
bleibt noch ein ziemlich freier Raum. Hier hinter den Blockhäusern
pflegten einige von den Sträflingen, die verschlosseneren, düstereren
und menschenscheueren von ihnen, sich in den arbeitsfreien Stunden
aufzuhalten und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn ich ihnen dann
begegnete, versuchte ich immer, ihre düsteren, gebrandmarkten Gesichter
zu durchschauen und zu erraten, woran sie dachten. Unter ihnen gab es
einen, dessen Lieblingsbeschäftigung in diesen Mußestunden das Zählen
der Zaunpfähle war. Es waren im ganzen tausendfünfhundert Pfähle, er
aber kannte jeden einzelnen von ihnen auswendig. Jeder Pfahl bedeutete
für ihn einen Tag; an jedem Tage zählte er um einen Pfahl weiter, so daß
er an den übrigen noch nicht gezählten Pfählen anschaulich sehen konnte,
wieviel Tage ihm noch bis zur Freilassung blieben. Und er freute sich
wie ein Kind, wenn er mit einer der Seiten des Sechseckes fertig war. Er
hatte noch lange Jahre zu warten, aber im Ostrogg hatte man Zeit genug,
sich an das Warten zu gewöhnen. Einmal erlebte ich, wie ein Sträfling,
der zwanzig Jahre lang in der Kátorga[1] verbracht hatte, nun endlich
wieder in die Freiheit zurücksollte. Einige erinnerten sich noch seiner,
wie er zum erstenmal in den Ostrogg gekommen war, ein junger, sorgloser
Bursche, der weder an sein Verbrechen, noch an seine Strafe dachte. Er
verließ den Ostrogg als silberhaariger Greis mit einem düsteren,
traurigen Gesicht. Schweigend ging er in alle unsere sechs Kasernen, um
von den anderen Abschied zu nehmen. In jeder der sechs Kasernen betete
er zuerst vor den Heiligenbildern, dann verneigte er sich tief vor den
anderen und nahm Abschied von ihnen, mit der Bitte, seiner nicht im
Bösen gedenken zu wollen. Auch entsinne ich mich noch, wie einmal ein
Sträfling, der früher ein reicher sibirischer Landbauer gewesen war, in
der Abendstunde noch zum Tor gerufen wurde. Ein halbes Jahr vorher hatte
er die Nachricht erhalten, daß sein Weib sich wieder verheiratet habe,
und da war er darüber tief traurig geworden. An diesem Abend aber war
sie selbst zum Ostrogg gekommen, sie ließ ihn herausrufen und gab ihm
ein Almosen. Sie sprachen vielleicht nur zwei Minuten lang, beide
weinten sie, und dann nahmen sie auf ewig Abschied von einander. Ich sah
sein Gesicht, als er in die Kaserne zurückkehrte. Ja, an diesem Ort
konnte man es lernen, Geduld zu haben.

Sobald es dunkelte, wurden wir alle in die Kasernen geführt, wo man uns
für die ganze Nacht einschloß. Es fiel mir zuerst sehr schwer, vom Hof
in unsere Kaserne zurückkehren zu müssen. Das war ein langer, niedriger,
drückend heißer Raum, der nur matt von Talglichten erhellt wurde,
erfüllt von schwerem, erstickendem Geruch. Heute begreife ich nicht
mehr, wie ich zehn Jahre lang dort habe aushalten können.

Auf der langen Pritsche, auf der wir alle in zwei Reihen schliefen,
durfte ich nur drei Bretter einnehmen; das war alles, was an Platz mir
gehörte. Auf dieser Pritsche schliefen in unserer Stube an dreißig
Menschen. Im Winter wurden wir früh eingeschlossen, und dann dauerte es
mehr als vier Stunden, bis alle eingeschlafen waren. Bis dahin aber –
Geschrei, Spektakel, Gelächter, Geschimpf, das Gerassel der Ketten,
Qualm und Lampenruß, geschorene Köpfe, gebrandmarkte Gesichter,
zerlumpte Kleider, alles Entehrte, Verfemte ... Ja, zäh ist der Mensch!
Er ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt – und dies ist, glaube ich,
die treffendste Bezeichnung für ihn.

Im ganzen waren in unserem Ostrogg an zweihundertundfünfzig Sträflinge
untergebracht, das war die fast stehende Zahl der Arrestanten. Die einen
kamen, die anderen gingen, die dritten starben. Und was für
Menschenarten gab es dort nicht! Ich glaube, jedes Gouvernement, jeder
Landstrich Rußlands hatte seine Vertreter im Ostrogg. Auch Söhne fremder
Rassen waren dort, einige sogar aus den kaukasischen Bergvölkern. Alle
waren nach der Art ihres Verbrechens „sortiert“, und folglich auch nach
der Zahl der Jahre, zu denen man sie verurteilt hatte. Es ist
anzunehmen, daß es wohl kein Verbrechen gab, das hier nicht seinen
Repräsentanten besaß. Den Hauptbestandteil der ganzen Ostroggbevölkerung
machten die zur schweren Zwangsarbeit Verschickten aus (die
„Schwerverschickten“, wie sie sich selbst naiv benannten). Das waren
Verbrecher, die man aller Rechte beraubt hatte, verworfene Glieder der
Gesellschaft mit gebrandmarkten Gesichtern, die sie ewig als
Ausgestoßene kennzeichnen sollten. Sie waren auf acht bis zwölf Jahre
zur Zwangsarbeit verurteilt und nach Ablauf dieser Frist wurden sie als
Ansiedler in öde Gegenden verschickt. Auch gab es Verbrecher aus dem
Soldatenstande, die aber nicht aller Rechte beraubt waren, wie die in
den übrigen russischen Militärstrafkolonien. Sie wurden nur auf kurze
Zeit verschickt und kehrten nach Ablauf ihrer Strafzeit wieder dorthin
zurück, woher sie gekommen waren, in die sibirischen Linienbataillone.
Viele von ihnen kamen aber bald von neuem in den Ostrogg, infolge neuer
schwerer Vergehen, dann jedoch nicht mehr auf kurze Zeit, sondern auf
zwanzig Jahre. Die Sträflinge dieser Abteilung nannte man die
„Lebenslänglichen“. Doch selbst diese „Lebenslänglichen“ waren noch
nicht aller Rechte beraubt. Und dann gab es noch eine Abteilung der
gefährlichen Verbrecher, die größtenteils aus ehemaligen Soldaten
bestand und recht zahlreich war. Die hieß die „besondere Abteilung“. In
diese Abteilung wurden aus ganz Rußland Verbrecher geschickt. Sie
hielten sich selbst für „Ewige“ und kannten nicht einmal die Dauer ihrer
Zwangsarbeit. Nach der Vorschrift mußte die Zahl ihrer Arbeitsstunden
verdoppelt und verdreifacht werden. Sie wurden solange im Ostrogg
gehalten, bis die schwersten Zwangsarbeiten aufgenommen wurden. „Ihr
habt nur Stundenarbeit, wir aber sind ewig in der Kátorga“ – sagten sie
zuweilen zu den anderen Mitgefangenen. Später habe ich gehört, daß diese
Abteilung aufgehoben sei. Außerdem wurde in unserer Festung zu meiner
Zeit auch der Standesunterschied aufgehoben und eine allgemeine
militärische Arrestantenkompagnie eingeführt. Selbstverständlich erfuhr
bei der Gelegenheit auch die Oberleitung Veränderungen. So beschreibe
ich denn hier noch die alten Zeiten, die schon längst vergangen und
vergessen sind ...

Ja, alles, was ich hier erzähle, ist schon lange her, oft scheint es mir
jetzt, daß ich es nur im Traum gesehen. Ich erinnere mich noch, wie ich
zum erstenmal den Ostrogg betrat. Es dunkelte bereits, die Sträflinge
kehrten schon von der Arbeit zurück und ordneten sich in Reih und Glied
zur letzten Nachzählung.

Ein Unteroffizier mit einem starken Schnurrbart machte mir endlich das
Tor auf, und ich betrat den Ostrogg, in dem ich soviel Jahre verbringen,
soviele Empfindungen ertragen sollte, von denen ich, wenn ich sie nicht
selbst durchlebt hätte, mir niemals eine auch nur annähernd richtige
Vorstellung machen könnte. Zum Beispiel hätte ich mir nie denken können,
wie furchtbar und qualvoll es sein würde, in den ganzen zehn Jahren
meiner Sträflingszeit keinen einzigen Augenblick allein sein zu können.
Bei der Arbeit stets unter Aufsicht und Bewachung, im Ostrogg stets mit
zweihundertundfünfzig Schicksalsgenossen, und niemals, niemals allein!
Übrigens war das nicht das einzige, woran ich mich zu gewöhnen hatte!

Hier gab es verschiedene Verbrecher, zufällige Mörder und solche, die
sich das Morden zum Handwerk gemacht hatten, gewöhnliche Räuber und die
Führer ganzer Räuberbanden. Darunter gab es auch einfache Spitzbuben,
Taschendiebe und Landstreicher – Gewerbetreibende aller Art,
Geldwechsler und Falschmünzer, wie überhaupt viele Liebhaber
unverdienten Gutes. Auch gab es noch andere, bei denen es schwer war,
sich vorzustellen, für welche Vergehen sie wohl verurteilt sein könnten.
Und doch hatte ein jeder seine Geschichte, die dunkel und schwer war wie
der Dunst am nächsten Morgen, nach einem abendlichen Saufgelage.
Überhaupt wurde wenig von der Vergangenheit gesprochen, sie liebten es
nicht, davon zu erzählen und waren sichtlich bemüht, auch nicht daran zu
denken. Ich kannte unter ihnen Mörder, die immer heiter und überhaupt
nie nachdenklich waren, und man hätte wetten können, daß ihr Gewissen
ihnen noch keinen einzigen Vorwurf gemacht hatte. Es gab aber auch
finstere Gesichter, Verbrecher, die fast nur schwiegen. Im allgemeinen
kann man sagen, daß nur äußerst selten jemand seine Lebensgeschichte
erzählte, und es war auch nicht Mode, Interesse dafür zu bekunden, – das
war eben nicht Sitte, das war nicht „angenommen“. Es sei denn, daß
jemand einmal so aus Langeweile zu erzählen anfing und der andere ihm
kaltblütig und finster zuhörte. Niemand vermochte hier den anderen in
Erstaunen zu setzen. „Wir sind geschultes Volk,“ hörte man sie nicht
selten mit einer ganz eigentümlichen Selbstzufriedenheit sagen.

Ich weiß noch, wie einmal ein Räuber, der sich angetrunken – das konnte
man mitunter im Ostrogg –, zu erzählen begann, wie er einen fünfjährigen
Knaben ermordet hatte: zuerst habe er ihn mit einem Spielzeug angelockt,
dann in einen leerstehenden Schuppen geführt und dort ermordet. Da
schrie die ganze Kaserne, die bis dahin gelacht und heitere Unterhaltung
geführt hatte, wie aus einem Munde auf; aber nicht etwa aus Unwillen
schrieen sie, sondern so, – weil es „überflüssig“ war, „davon zu
sprechen,“ weil „davon“ zu reden „nicht angenommen“ war. Ich muß hier
bemerken, daß dieses Volk tatsächlich geschult war, und zwar nicht nur
im übertragenen, sondern auch im buchstäblichen Sinne des Wortes, denn
mindestens die Hälfte von ihnen konnte lesen und schreiben. An welch
einem anderen Orte, wo russisches Volk in großen Massen versammelt ist,
würde man einen Haufen von zweihundertundfünfzig Menschen abteilen
können, von denen über die Hälfte zu lesen und zu schreiben verstünde?
Später habe ich gehört, daß irgend ein Gelehrter auf Grund ähnlicher
Tatsachen zu beweisen versucht habe, daß die Schulbildung das Volk
verderbe. Das ist aber ein Irrtum: diese Tatsache beruht auf ganz
anderen Ursachen, obgleich – das muß ich allerdings zugeben – die
Schulbildung das Selbstvertrauen im Volke entwickelt. Aber das ist ja
durchaus kein Fehler.

Die verschiedenen Klassen der Verbrecher unterschieden sich auch in der
Kleidung: die einen hatten die rechte Hälfte der Jacke aus
dunkelbraunem, die linke aus grauem Stoff, und ebenso war das eine
Hosenbein braun, das andere grau. Einmal, als wir gerade außerhalb des
Ostrogg bei der Arbeit waren, schaute mich ein kleines Mädchen, eine
Semmelverkäuferin, von der wir etliche Weißbrote und Kalatschen
erstanden hatten, lange Zeit aufmerksam an und brach dann plötzlich in
Lachen aus:

„Pfui, wie das aussieht!“ sagte sie lachend, „der graue Stoff hat nicht
ausgereicht und der braune hat auch nicht ausgereicht!“

Andere Sträflinge trugen wiederum eine graue Jacke, deren Ärmel allein
aus dunkelbraunem Tuch waren. Auch der Kopf wurde verschieden geschoren:
es wurde immer nur die eine Hälfte abrasiert, bei einem die ganze linke
Seite, bei anderen nur der Vorderkopf.

Schon auf den ersten Blick konnte man eine gewisse Gemeinsamkeit in
dieser eigenartigen Familie bemerken. Sogar die Persönlichsten,
Unterschiedlichsten von ihnen, die ganz unwillkürlich über den anderen
standen, – selbst diese bemühten sich, in den allgemeinen Ton des ganzen
Ostrogg einzustimmen. Ich kann wohl sagen, daß dieses ganze Volk, nur
mit Ausnahme weniger unerschöpflich heiterer Gemüter, die sich dafür
auch der allgemeinen Verachtung erfreuten, auffallend düster, mürrisch,
neidisch, unglaublich ruhmsüchtig, großsprecherisch, empfindlich und im
höchsten Grade formell war. Die Fähigkeit, sich über nichts zu wundern,
war bei ihnen die größte Tugend. In dieser Beziehung waren sie geradezu
krankhaft. Die Hauptsache für sie war: wie man sich äußerlich benahm.
Doch oftmals verwandelte sich die aufgeblasenste Haltung mit wahrer
Blitzesschnelle in die allerkleinmütigste. Es gab auch einige wahrhaft
Starke unter ihnen; die aber waren einfach und verstellten sich nicht.
Doch eines war sonderbar! Unter diesen wahrhaft Starken gab es wiederum
einige, die bis zum Äußersten ruhmsüchtig waren, bis zur
Krankhaftigkeit. Überhaupt waren Ruhmsucht und das Äußere das Wichtigste
im Ostrogg.

Die Mehrzahl der Sträflinge war entsetzlich verderbt. Verleumdungen und
Klatschereien hörten nie auf: darin war der Ostrogg eine Hölle, eine
wahre Ausgeburt der Unterwelt. Aber gegen die einmal angenommenen Sitten
und Gesetze wagte niemand sich zu erheben; alle ergaben sich. Es gab
wohl schroff hervortretende Charaktere, die sich schwer, die sich nur
mit Mühe unterordneten, aber sie taten es doch.

Es kamen auch solche in den Ostrogg, die ihre Vergehen gewissermaßen gar
nicht selbst verübt zu haben schienen, als wüßten sie selbst nicht,
warum und wozu sie es getan, gleichsam im Fieber oder in der
Betrunkenheit; häufig hatten sie die Tat nur aus krankhaft gesteigerter
Ruhmsucht begangen. Denen wurde aber bei uns sofort ein anderer
Standpunkt klar gemacht, obgleich einzelne von ihnen vor ihrer Ankunft
im Ostrogg der Schrecken ganzer Dörfer und Ortschaften gewesen waren.
Jeder Neuling erkannte schon bald nach der ersten Umschau, daß er nicht
dorthin geraten war, wohin er zu kommen gemeint hatte, daß er hier
keinen mehr in Erstaunen setzen konnte, und so fügte er sich unmerklich
und stimmte in den allgemeinen Ton ein.

Dieser allgemeine Ton bestand äußerlich in einer ganz besonderen
persönlichen Würde, von der fast jeder Bewohner des Ostrogg völlig
durchdrungen zu sein schien, ganz als ob die Benennung „Sträfling“ oder
„Verurteilter“ tatsächlich irgend ein Titel gewesen wäre, womöglich noch
ein Ehrentitel. Kein einziges Anzeichen von Scham oder Reue! Übrigens
gab es doch eine gewisse äußere Unterwerfung, ein sozusagen offizielles,
ruhiges Renommieren.

„Wir sind verlorenes Volk,“ sagten sie, „wer nicht konnt’ in Freiheit
leben, mag jetzt harte Straßen gehen.“ – „Wer Vater und Mutter nicht hat
gehorcht, der gehorche jetzt dem Trommelfell.“ – „Hast du nicht
freiwillig arbeiten gewollt, so klopfe jetzt Steine entzwei.“ Solche und
ähnliche Sätze wurden sehr oft gesagt, sowohl als Sittenlehre wie auch
als gewöhnliche Redensart, niemals aber wirklich ernst gemeint. Es waren
eigentlich nur leere Worte, denn es ist kaum anzunehmen, daß auch nur
einer von ihnen sich seine Gesetzwidrigkeit bewußt eingestand. Es hätte
nur jemand von den Nichtsträflingen gewagt haben sollen, einem von ihnen
sein Verbrechen vorzuhalten, ihn einmal deswegen zu schelten (wenn es
auch nicht russisch ist, einem Verbrecher Vorwürfe zu machen) – das
Schimpfen würde dann kein Ende genommen haben! Und welche Künstler waren
sie alle im Schimpfen! Sie schimpften sich geradezu raffiniert,
meisterhaft! Das Schimpfen war bei ihnen zu einer ganzen Wissenschaft
geworden; sie bemühten sich, nicht so sehr mit dem kränkenden Wort zu
treffen, als mit dem kränkenden Sinn, der Zusammenstellung des Ganzen,
der „Idee“! – Das aber ist noch verfeinerter und folglich um so
verletzender. Und die ununterbrochenen Streitigkeiten dienten natürlich
nur dazu, um diese Kunst unter ihnen noch mehr zu entwickeln. Alle
diese Sträflinge arbeiteten unter dem Stock, so ist es denn
selbstverständlich, daß sie faul waren, liederlich und verderbt; selbst
wenn sie es früher nicht gewesen waren, so wurden sie es hier im
Ostrogg. Alle waren sie hier nicht durch eigenen Willen versammelt, alle
waren sie einander Fremde.

„Der Teufel hat wenigstens drei Paar Bastschuhe durchgelaufen, bevor er
uns in einen Haufen zusammengebracht!“ sagten sie von sich selbst, und
so waren denn Klatsch, Intrigen, Verleumdungen, Neid, Hader und jede
Niedertracht in diesem Höllenleben an der Tagesordnung. Kein altes Weib
hätte so weibisch sein können, wie es einige von diesen Seelenmördern
waren. Ich wiederhole, es gab unter ihnen auch starke Charaktere, die
abgehärtet und furchtlos waren, die ihr ganzes Leben lang gewohnt
gewesen, zu herrschen und zu fordern. Diese wurden auch von den anderen
Mitgefangenen unwillkürlich geachtet, sie aber gaben sich doch Mühe,
obwohl sie auf ihren Ruhm bisweilen sogar sehr eifersüchtig waren, im
großen ganzen den anderen nicht zur Last zu werden. Auf nichtigen Streit
ließen sie sich überhaupt nicht ein, wahrten stets eine auffallende
Würde in ihrem ganzen Gehaben, waren vernünftig und fast immer der
Obrigkeit gehorsam, – doch nicht etwa aus dem Prinzip zu gehorchen,
sondern wie nach einem stillschweigenden Übereinkommen, weil es für
beide Teile so das Beste war. Übrigens ging man mit ihnen auch
vorsichtig um.

Ich entsinne mich noch, wie einmal einer von ihnen, ein furchtloser,
entschlossener Charakter, der unserer Obrigkeit schon von früher wegen
seiner tierischen Neigungen bekannt war, wegen irgend eines Vergehens
zur Bestrafung gerufen wurde. Es war ein Sommertag und wir hatten gerade
keine Arbeit. Der Major, der nächste und unmittelbare Vorgesetzte des
Ostrogg, erschien selbst, um persönlich der Bestrafung beizuwohnen.
Dieser Major war für die Sträflinge ein geradezu fatales Wesen, er
brachte es soweit, daß sie vor ihm zitterten. Er war bis zur
Sinnlosigkeit streng, ein „Menschenfresser“, wie die Gefangenen sagten.
Am meisten fürchteten sie seinen alles durchdringenden Luchsblick, vor
dem sich nichts verbergen ließ. Er sah gleichsam, ohne irgend wohin zu
sehen. Betrat er den Ostrogg an dem einen Ende, so wußte er schon, was
am anderen Ende desselben geschah. Die Sträflinge nannten ihn den
„Achtäugigen“. Sein System war aber unrichtig. Durch seine rasenden,
wilden Handlungen erbitterte er nur sowieso schon erbitterte Menschen,
und wäre nicht der Kommandant, ein edler und vernünftig denkender
Mensch, über ihm gewesen, der seine wilden Ausfälle mitunter mäßigte, so
hätte der Major noch großes Unheil angerichtet. Offen gestanden, ich
begreife es nicht, wie er noch so glücklich seine Zeit abgedient hat:
und dennoch trat er lebend und gesund aus dem Dienst.

Der Sträfling erbleichte, als er gerufen wurde. Sonst pflegte er sich
immer schweigend und entschlossen unter die Ruten zu legen, schweigend
die Strafe hinzunehmen, nach Vollzug derselben aufzustehen, als wäre
nichts geschehen, und kaltblütig und philosophisch das zugestoßene
Mißgeschick hinzunehmen. Trotzdem ging man immer sehr vorsichtig mit ihm
um. Diesmal aber fühlte er sich vollkommen unschuldig. Er erbleichte,
und es gelang ihm, unbemerkt von der Wache, ein scharfes, englisches
Messer in den Ärmel zu stecken. Messer und alle scharfen Instrumente
waren im Ostrogg aufs strengste verboten; die Durchsuchungen wurden sehr
oft, ganz plötzlich und gründlich vorgenommen, die Strafen waren grausam
hart, da aber eine von Dieben versteckte Sache schwer zu finden ist,
besonders wenn sie mit solchen Untersuchungen rechnen müssen und sicher
verstecken wollen, und da andererseits Messer und ähnliche Werkzeuge
immer gebraucht wurden, so waren sie trotz aller Maßregeln nicht
auszurotten. Und wenn sie auch fortgenommen wurden, so schaffte man sich
doch unverzüglich neue an.

Die ganze Kaserne stürzte zum Zaun, um dort mit klopfendem Herzen durch
die Spalten zu lauern. Alle wußten, daß Petroff sich diesmal nicht
freiwillig unter die Ruten hinlegen würde und daß die letzte Stunde des
Majors gekommen war. Aber kurz vor dem entscheidenden Augenblick stieg
unser Major in seinen Wagen und fuhr davon, nachdem er die Ausführung
der Exekution einem anderen Offizier übertragen hatte.

„Den hat Gott selbst gerettet,“ sagten die Sträflinge. Petroff aber nahm
mit der größten Ruhe seine Strafe hin. Sein Zorn war mit der Abfahrt des
Majors vollständig vergangen. Der Arrestant ist gewöhnlich bis zu einem
gewissen Grade gern gehorsam und geduldig, doch gibt es eine Grenze für
seinen guten Willen, die man nicht überschreiten darf. Da ich soeben
einen solchen Fall angeführt habe, will ich hier noch bemerken, daß es
kaum etwas Interessanteres gibt, als diese sonderbaren Ausbrüche der
Ungeduld und Widersetzlichkeit in den Arrestanten. Oft erträgt ein
Mensch mehrere Jahre lang die grausamsten Strafen, er ergibt sich allem
widerspruchslos, plötzlich aber reißt seine Geduld bei der nichtigsten
Geringfügigkeit, ja man könnte sagen, um nichts und wieder nichts. Von
einem gewissen Standpunkte aus müßte man ihn dann sogar wahnsinnig
nennen, – und man tut es ja auch ...

Ich sagte schon, daß ich während all dieser Jahre kein einziges Mal auch
nur das geringste Anzeichen einer Reue bei diesen Menschen bemerkt habe,
auch nicht die geringsten Gewissensbisse wegen des verübten Verbrechens,
oder auch nur ein unbehagliches Denken an dasselbe, und daß die Mehrzahl
der Sträflinge sich innerlich für vollkommen schuldlos hält. Das ist
Tatsache. Natürlich sind auch Ruhmsucht, schlechtes Beispiel, die
übliche flotte Burschengroßtuerei und falsche Scham vielfach mit die
Ursache davon. Und andererseits – wer könnte sagen, daß er die Tiefe
dieser verkommenen Seelen erforscht und das vor aller Welt Verborgene in
ihnen gesehen habe? Aber immerhin hätte man doch im Laufe so vieler
Jahre wenigstens irgend einen Zug wahrnehmen müssen, nach dem man auf
Schwermut oder Leiden hätte schließen können, – wenn davon auch nur eine
Spur vorhanden gewesen wäre. Doch es war nichts davon zu sehen,
entschieden nichts. Ja ich glaube, das Verbrechen läßt sich nicht nach
gegebenen, bereits fertigen Gesichtspunkten erfassen und seine
Philosophie dürfte etwas schwieriger sein, als allgemein angenommen
wird. Daß das System der Gefängnisstrafe und die Zwangsarbeit keinen
einzigen Verbrecher bessert, ist wohl selbstverständlich, sie
„bestrafen“ ihn nur und sichern die Gesellschaft vor weiteren Anschlägen
des Bösewichts auf ihre Freiheit und ruhige Sicherheit. Im Verbrecher
jedoch erweckt der Ostrogg und selbst die angestrengte Arbeit nur Haß,
Leidenschaft für verbotene Genüsse und unglaublichen Leichtsinn. Ich bin
überzeugt, daß auch das berühmte Zellensystem nur ein falsches,
trügerisches, äußeres Ziel erreicht. Es saugt aus dem Menschen alle
Lebenskraft, entnervt seinen Geist, schwächt und ängstigt ihn und
präsentiert dann endlich die sittlich vertrocknete Mumie, den
Halbwahnsinnigen, als Musterbild der Besserung und Reue. Natürlich haßt
der Verbrecher die Gesellschaft, gegen die er sich ja auch empört hat,
und hält fast ausnahmslos sich für den Unschuldigen und jene für die
Schuldigen. Hinzu kommt, daß ihm von dieser Gesellschaft für sein
Vergehen Strafe auferlegt worden ist, diese aber befreit sein Gewissen
von jedem Schuldbewußtsein, selbst wenn eines vorhanden gewesen wäre,
und so fühlt er sich denn wie einer, der alle seine Schulden bezahlt und
sich folglich nichts mehr vorzuwerfen hat. So kann man denn, wenn man
von solchen Gesichtspunkten ausgeht, schließlich noch den Verbrecher
selbst sehr wohl rechtfertigen. Doch ganz abgesehen von allen
Gesichtspunkten wird doch ein jeder zugeben, daß es Verbrechen gibt, die
immer und überall, nach jedem Gesetz und schon seit dem Anfang der Welt
als fraglose Verbrechen angesehen worden sind, und die man noch weiter
als solche betrachten wird, solange der Mensch ein Mensch bleibt. Nur
habe ich im Ostrogg von den schrecklichsten, grauenvollsten, wahrhaft
ungeheuerlichsten Morden mit dem unbezwingbarsten, mit kindlich heiterem
Lachen erzählen gehört.

So kann ich bisweilen die Erinnerung an einen Vatermörder nicht los
werden. Er war Edelmann und hatte als halbwegs verlorener Sohn bei
seinem alten sechzigjährigen Vater gelebt, ein ausschweifendes Leben
geführt und viel Schulden gemacht. Der alte Vater redete ihm ins
Gewissen, und als das Reden nicht half, entzog er ihm das Geld zur
Ausschweifung. Der Alte besaß aber ein Haus und ein kleines Gut, und
außerdem vermutete man, daß er Geld hatte, – und der Sohn ermordete den
Vater um dieses Geldes willen. Das Verbrechen war erst nach einem Monat
entdeckt worden. Der Mörder hatte selbst der Polizei angezeigt, daß sein
Vater spurlos verschwunden sei, und den ganzen Monat verbrachte er in
Saus und Braus. Der Polizei war aber sein Treiben bald verdächtig
erschienen, und eines Tages, während seiner Abwesenheit, hatte man den
Leichnam des Ermordeten auf dem Hof in dem mit Brettern zugedeckten
Abzugsgraben gefunden. Der Leichnam war vollständig angekleidet und
augenscheinlich sehr sorgsam dort hingebettet worden: das graue Haupt
war vollständig abgetrennt, doch hatte der Mörder es wieder an den Rumpf
gedrückt und außerdem noch ein Kissen unter dasselbe geschoben. Er hatte
seine Schuld nicht eingestanden, war aber trotzdem seines Adels und
Ranges beraubt und auf zwanzig Jahre zur Zwangsarbeit verurteilt worden.
Während der ganzen Zeit, die ich mit ihm zusammen im Ostrogg verbrachte,
befand er sich in der besten, heitersten Gemütsstimmung. Es war ein
überaus leichtsinniger, unvernünftiger, verdrehter Mensch, wenn auch
längst kein Dummer. Ich habe niemals irgend welche besondere Brutalität
an ihm bemerken können. Die übrigen Sträflinge verachteten ihn, doch
taten sie es nicht etwa seines Verbrechens wegen – davon war überhaupt
nicht die Rede –, sondern wegen seiner Einfalt, weil er sich nicht zu
„benehmen“ verstand. Unterhielt man sich mit ihm über dies und das, so
kam er nicht selten auch auf seinen Vater zu sprechen. Einmal, als wir
von der Gesundheit sprachen, die in seiner Familie erblich sei, fügte er
noch beiläufig hinzu:

„Mein Vater zum Beispiel hat bis zu seinem Tode kein einziges Mal über
Krankheit geklagt.“

Eine dermaßen tierische Gefühllosigkeit scheint natürlich kaum
glaublich: das war geradezu ein Phänomen. Wer weiß, ob ihr nicht irgend
eine unglückliche Veranlagung, eine körperliche oder sittliche
Mißgestaltung, die von der Wissenschaft noch nicht erforscht ist,
zugrunde liegt, und wir folglich kein gewöhnliches Verbrechen vor uns
haben. Zuerst glaubte ich es gar nicht, daß er ihn ermordet habe. Es
waren da aber auch Leute aus derselben Stadt, die alle Einzelheiten des
Falles kannten und mir den ganzen Prozeß erzählten. Die Tatsachen waren
dermaßen klar, daß sie jeden Zweifel an seiner Schuld ausschlossen. Und
einmal hatten die anderen Sträflinge gehört, wie er nachts im Traum
geschrieen hatte:

„Halt ihn, halt ihn! Hau’ ihm den Kopf ab, den Kopf, den Kopf!“

Fast alle Sträflinge sprachen im Traum und phantasierten viel. Von
Messern und Äxten träumte ihnen offenbar nicht selten und Schimpfworte
und Banditenjargon hörte man in jeder Nacht.

„Wir sind unter der Knute,“ sagten sie zuweilen, „die liegt auch auf
unserem Inneren, darum schreien wir auch in der Nacht.“

Die staatliche Zwangsarbeit war für sie keine Beschäftigung, sondern
eine Pflicht: der Sträfling arbeitete seine Zeit ab oder drückte sich um
die Arbeit in den festgesetzten Stunden, so gut es ging, herum und
kehrte dann in den Ostrogg zurück. Die Zwangsarbeit rief in ihnen nur
Haß hervor. Doch ohne eine besondere, eigene Beschäftigung, der er sich
mit seiner ganzen Seele und seiner ganzen Vernunft hingeben kann, würde
es kein Mensch im Ostrogg aushalten. Und das ist ja auch nur zu
begreiflich, denn wie hätte sich sonst dieses ganze, immerhin
entwickelte Volk, das stürmisch gelebt hatte, das Leben liebte und leben
wollte, das hier gewaltsam in einen Haufen zusammengetrieben, das
gewaltsam von der Gesellschaft und dem normalen Leben abgetrennt worden
war, – wie hätte sich dieses Volk hier normal und regelrecht nach
eigenem Willen und Verlangen anders einleben können? Schon allein durch
den Müßiggang würden sich in ihm bald verbrecherische Eigenschaften
entwickelt haben, von denen früher vielleicht mancher nichts geahnt
hatte. Ohne Beschäftigung und ohne gesetzmäßiges, normales Eigentum kann
der Mensch nicht leben: er verdirbt und wird zum Tiere. Und darum hatte
ein jeder im Ostrogg – wohl aus dem Gefühl der Selbsterhaltung und dem
natürlichen Bedürfnis heraus – seine eigene, besondere Beschäftigung,
sein eigenes Handwerk.

Der lange Sommertag war von der Zwangsarbeit ganz und gar ausgefüllt; in
der kurzen Nacht konnte man sich kaum ausschlafen. Im Winter aber mußten
die Arrestanten vorschriftsmäßig schon früh, sobald es nur zu dunkeln
begann, im Ostrogg eingeschlossen werden. Was sollte man nun an diesen
langen, langweiligen Winterabenden beginnen? Und so verwandelte sich
denn jede Kaserne, trotz des Verbots, in eine große Werkstube. Das
heißt, Arbeit an sich war ja nicht verboten; verboten war aber aufs
strengste, irgendwelche Instrumente bei sich zu haben oder überhaupt in
der Kaserne zu besitzen; ohne diese war jedoch auch jede Arbeit
unmöglich. Daher wurde nur heimlich gearbeitet, doch die Wache schien es
in der Beziehung nicht immer sehr genau mit der Vorschrift zu nehmen.

Viele Sträflinge hatten früher nichts gelernt und waren in den Ostrogg
gekommen, ohne auch nur irgend etwas Rechtes zu verstehen. Da gab es nun
Schuhmacher und Schneider, Tischler und Schlosser, Bildschnitzer und
Vergolder. Auch gab es einen Juden unter ihnen, Issai Bummstein, der
Juwelier und Wucherer zugleich war. Alle mühten sie sich und verdienten
sich ihre paar Kopeken. Die Aufträge kamen aus der Stadt. Geld ist
gemünzte Freiheit und daher für einen Menschen, der jeder Freiheit
beraubt ist, zehnmal wertvoller, als einem Freien. Wenn es nur in seiner
Tasche klingt, so ist er schon halbwegs getröstet, selbst wenn er es
nicht einmal ausgeben kann. Nur ist es Tatsache, daß man Geld immer und
überall ausgeben kann, umsomehr, als die verbotene Frucht doppelt so süß
ist. Im Ostrogg aber konnte man sogar Branntwein dafür erstehen. Pfeifen
waren strengstens verboten und doch wurden sie von allen geraucht. Geld
und Tabak bewahrten vor Skorbut und anderen Krankheiten, und die Arbeit
bewahrte vor Verbrechen. Ohne Arbeit hätten die Sträflinge sich
gegenseitig aufgefressen, wie die Spinnen im Glase.

Nichtsdestoweniger war Geld und eigene Arbeit verboten und nicht selten
wurden mitten in der Nacht ganz plötzlich Durchsuchungen vorgenommen;
alles Verbotene wurde konfisziert, und selbst das Geld, wie sorgfältig
es auch versteckt werden mochte, fiel den Durchsuchenden bisweilen doch
in die Finger. Das war auch teilweise der Grund, warum es nicht gespart,
sondern baldmöglichst vertrunken wurde, und aus demselben Grunde kam
denn auch der Branntwein in den Ostrogg. Nach jeder Durchsuchung wurde
der Schuldige, abgesehen davon, daß er sein ganzes Kapital verlor, auch
noch schmerzhaft bestraft. Aber nach jeder Durchsuchung wurde das
Notwendigste sofort ersetzt und alsbald gab es neue Sachen und alles war
wieder beim Alten. Das wußten auch die Vorgesetzten, doch nahmen sie es
ebenso gleichmütig hin, wie die Sträflinge ihre Strafe, über die sie
nicht einmal murrten, obgleich doch ein solches Leben demjenigen der
Ansiedler auf dem Vesuv nicht unähnlich war.

Wer kein Handwerk verstand, wählte sich einen anderen Erwerbszweig,
häufig einen sehr originellen. Einige beschäftigten sich zum Beispiel
nur mit Auf- und Verkauf, also mit Zwischenhandel, doch womit sie
handelten waren meistens Sachen, bei deren Anblick einer, der außerhalb
des Ostrogg lebt, nie und nimmer auf die Idee käme, – nicht etwa, daß
man so etwas kaufen oder gar verkaufen konnte, sondern daß so etwas
überhaupt ein Gegenstand war. Aber man war eben sehr arm und dabei sehr
gewerbtätig. Selbst die letzten Lumpen hatten noch ihren Wert und
konnten, wie man sieht, doch noch zu etwas verwandt werden. Infolge der
Armut hatte auch das Geld einen ganz anderen Wert im Ostrogg, als
draußen in der freien Welt. Eine große und komplizierte Arbeit wurde mit
Kopeken bezahlt. Einige etablierten sich als Kreditbanken und trieben
ihren Wucher mit gutem Erfolg. Hatte ein Sträfling alles durchgebracht,
oder hatte er nach einer Durchsuchung „bankrott gemacht“, so trug er
seine letzten Sachen zum Wucherer, und erhielt von diesem zu ungeheuren
Prozenten nur wenige Kupferstücke. Konnte er seine Sachen nicht vor dem
Termin einlösen, so wurden sie unverzüglich und unbarmherzig verkauft.
Ja, der Wucher blühte dermaßen, daß selbst dem Staate gehörende
Gegenstände, wie z. B. Wäsche, Stiefel usw., verpfändet wurden, Sachen,
die ein jeder Sträfling in jedem Augenblick brauchte. Doch geschah es
bisweilen, daß diese Versatzgeschäfte eine andere Wendung nahmen, die
indes nicht ganz unerwartet kam. Der Sträfling, der seine letzten Sachen
verpfändet und dafür Geld empfangen hatte, ging darauf unverweilt, und
ohne ein Wort zu reden, zum ältesten Unteroffizier, dem nächsten
Vorgesetzten des Ostrogg, und meldete ihm, daß er seine staatlichen
Kleidungsstücke versetzt habe, die dann von diesem unverzüglich dem
Wucherer wieder abgenommen wurden, sogar ohne daß vorher die höheren
Vorgesetzten von dem Vorfall benachrichtigt worden wären. Interessant
war, daß es dabei nicht einmal zu einem Streit kam: der Wucherer gab
schweigend und verdrossen das Betreffende zurück, und es hatte sogar den
Anschein, als habe er selbst einen solchen Ausgang erwartet. Vielleicht
gestand er sich unwillkürlich, daß er an Stelle des Verpfänders wohl
ebenso gehandelt haben würde. Und wenn er dann später auch einmal
darüber schimpfte, so tat er es eigentlich ohne jeden Groll, er
schimpfte sich einfach aus, um sich das Herz zu erleichtern.

Gestohlen wurde entsetzlich viel. Fast jeder besaß seinen eigenen
verschließbaren Kasten, in dem er die ihm zugeteilten Kleidungsstücke
aufbewahrte; das war erlaubt. Diese Kasten retteten nichts. Ich glaube,
man wird sich leicht denken können, wie geschickt diese Diebe waren. Mir
selbst stahl ein Sträfling, der mir aufrichtig zugetan war (ich sage es,
ohne mir dabei etwas einzubilden), meine Bibel, das einzige Buch, das
man im Ostrogg besitzen durfte. Er gestand es mir noch am selben Tage
ganz naiv, doch tat er es nicht etwa aus Reue, sondern nur aus Mitleid
mit mir, da ich sie lange vergeblich suchte.

Unter anderem gab es auch Weinhändler, die Branntwein verkauften und
damit gute Geschäfte machten. Auf diesen Erwerbszweig werde ich noch
besonders zu sprechen kommen, zumal er in seiner Art nicht uninteressant
ist. Auch gab es viele wegen Schmuggels Verurteilte, und so braucht es
einen denn auch nicht zu wundern, daß trotz aller Durchsuchungen,
Schildwachen und Aufseher dennoch Branntwein in den Ostrogg gelangte.
Der Schmuggel ist seinem Charakter nach eine ganz besondere
Gesetzübertretung. Zum Beispiel, kann man sich vorstellen, daß das Geld,
das Verdienst bei den meisten Schmugglern eine ganz nebensächliche Rolle
spielt, oder für sie wenigstens erst in zweiter Linie in Betracht kommt?
Und doch verhält es sich in den meisten Fällen tatsächlich so. Der
Schmuggler schmuggelt aus Leidenschaft, weil der Hang dazu ihm angeboren
ist. In gewisser Beziehung ist er förmlich ein Dichter. Er riskiert
alles, er begibt sich in die größte Gefahr, er erfindet, er versucht
sich aus der Schlinge zu ziehen, er stellt noch anderen Fallen –
mitunter tut er es sogar wie auf höhere Eingebung. Die Leidenschaft des
Schmugglers ist nicht geringer als die des Kartenspielers.

Ich kannte im Ostrogg einen Sträfling von ungeheurem Körperbau, der aber
so sanft, so still und bescheiden war, daß man sich erstaunt fragte, für
welches Vergehen ein solcher Mensch wohl zur Zwangsarbeit verurteilt
sein mochte. Er war dermaßen friedlich und gutmütig, daß er sich während
seiner ganzen Strafzeit im Ostrogg mit keinem einzigen gezankt hat. Er
stammte von der westlichen Grenze, war wegen Schmuggels verurteilt
worden und konnte, versteht sich, auch im Ostrogg nicht von seiner
Leidenschaft lassen, und so schmuggelte er Branntwein. Wie oft war er
dafür schon bestraft worden und wie fürchtete er die Ruten! Und dabei
brachte ihm dieser Schmuggel nur sehr wenig ein, sogar lächerlich wenig.
Der Branntwein machte nur den „Entrepreneur“ reich. Aber der Sonderling
liebte die Kunst um der Kunst willen. Er war weinerlich wie ein Weib und
wie oft schwor er sich nach einer neuen Strafe, nie wieder etwas
durchzuschmuggeln und männlich bezwang er sich zuweilen einen ganzen
Monat, bis – bis er es doch nicht aushielt ... Dank solcher Käuze war
der Ostrogg stets mit Branntwein versorgt.

Endlich gab es auch noch eine Einnahme, die die Sträflinge zwar nicht
reich machte, dafür aber beständig und wohltuend war: die Almosen. Die
höheren Klassen unserer Gesellschaft können sich keine Vorstellung davon
machen, wie die Kaufleute, Bürger und unser ganzes Volk für die
„Unglücklichen“ sorgt! Es werden fast ununterbrochen milde Gaben
gegeben, die meistens in Brot, Semmeln, Kalatschen bestehen, selten in
Geld. Ohne diese Gaben hätten es die Gefangenen, besonders diejenigen,
welche in Untersuchungshaft sind, und daher viel strenger gehalten
werden, als die Verurteilten, an vielen Orten gar zu schwer. Das
Geschenkte wird von den Sträflingen gewissenhaft zu gleichen Teilen
verteilt. Reicht es nicht für alle, so werden die einzelnen Kalatschen
in gleichgroße Stücke geschnitten, zuweilen sogar in ganze sechs, aber
jeder Gefangene erhält unbedingt seinen peinlich genau abgemessenen
Anteil.

Ich entsinne mich noch, wie ich zum erstenmal ein Almosen erhielt. Es
war bald nach meiner Ankunft im Ostrogg. Ich kehrte von der Morgenarbeit
ganz allein mit einem Soldaten unserer Wache zurück und da begegneten
mir unterwegs eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, einem etwa
zehnjährigen Mädchen, das wie ein Engel reizend war. Ich hatte beide
schon einmal gesehen. Die Mutter war eine Soldatenwitwe. Ihr Mann, ein
junger Soldat, war während seiner Untersuchungshaft im Lazarett
gestorben, als auch ich dort in der Gefangenenabteilung lag. Die Frau
und sein Töchterchen waren zum Abschied hingekommen, und beide hatten
sie herzbrechend geweint. Als nun die Kleine mich erblickte, errötete
sie und flüsterte der Mutter schnell etwas zu; die blieb sogleich
stehen, suchte ihr Schnupftuch hervor, löste den Knoten und gab der
Kleinen eine Viertelkopeke, die mir sogleich damit nachgelaufen kam:
„Da, Unglücklicher, nimm um Christi willen dies Kopekchen!“ sagte sie,
indem sie mir gerade vor die Füße lief und sich bemühte, mir die kleine
Münze in die Hand zu drücken. Ich nahm ihr „Kopekchen“ und die Kleine
kehrte vollauf befriedigt zu ihrer Mutter zurück. Ich habe lange die
kleine Münze aufbewahrt.


                                  II.

                          Die ersten Eindrücke

Der erste Monat und überhaupt die erste Zeit meines Aufenthaltes im
Ostrogg stehen selbst jetzt noch wie lebendig vor mir. Alle meine
späteren Gefängnisjahre sind mir viel verschwommener, ungenauer in der
Erinnerung geblieben. Einiger von ihnen kann ich mich fast gar nicht
mehr erinnern, sie haben sich gleichsam mit den anderen vermischt, als
wären sie ineinander geflossen, und alles, was mir von ihnen in der
Erinnerung geblieben, ist nur eine einzige große Empfindung: die der
Schwere, Einförmigkeit, Bedrücktheit.

Aber alles, was ich in den ersten Tagen meiner Kátorga durchlebt habe,
ist mir, als wäre es gestern gewesen. Und das ist ja auch ganz
verständlich.

Ich erinnere mich deutlich, daß mich schon beim ersten Schritt in dieses
Leben vor allem Eines stutzig machte: daß ich, wie es mir schien, nichts
besonders Auffallendes, Ungewöhnliches, oder richtiger, Unerwartetes in
ihm fand. Ich glaubte alles auch schon früher in der Phantasie so
gesehen zu haben, als ich noch auf dem Wege nach Sibirien mein Schicksal
im voraus zu erraten suchte. Doch das änderte sich bald: eine Unmenge
der allerunerwartetsten Seltsamkeiten, der ungeheuerlichsten Tatsachen
machte mich bald bei jedem Schritt von neuem stutzig. Die ganze Eigenart
aber, dies ganze Ungeahnte eines solchen Lebens, ging mir erst viel,
viel später in seiner vollständigen Neuheit auf, nachdem ich schon lange
im Ostrogg gelebt hatte, und dann wunderte ich mich immer mehr darüber.
Ich muß gestehen, diese Verwunderung hat mich während der ganzen langen
Zeit meiner Verbannung nicht verlassen, ich konnte mich niemals von ihr
befreien.

Mein erster Eindruck, nachdem ich den Ostrogg betreten hatte, war im
allgemeinen der des Ekels; aber nichtsdestoweniger schien es mir – so
seltsam es auch klingen mag –, daß das Leben im Ostrogg viel leichter
sei, als ich es mir unterwegs vorgestellt hatte. Die Sträflinge gingen –
allerdings in Ketten – frei im ganzen Ostrogg umher, schimpften sich
untereinander, sangen Lieder, arbeiteten für sich, rauchten Pfeifen,
tranken sogar Branntwein (wenn auch nur verhältnismäßig wenige) und in
der Nacht wurde Karten gespielt. Die Arbeit selbst erschien mir durchaus
nicht so schwer, durchaus nicht so „sibirisch“, und erst nach ziemlich
langer Zeit erriet ich, daß das „Sibirische“ dieser Arbeit nicht so sehr
in ihrer Schwere und ununterbrochenen Dauer bestand, als vielmehr darin,
daß sie „Zwangs“-Arbeit, befohlene Arbeit, eisernes Muß unter dem Stock
war. Ein Bauer arbeitet zu Hause auf dem Felde oder sonstwo
unvergleichlich mehr, im Sommer zuweilen sogar noch in der Nacht; aber
er arbeitet für sich, er arbeitet zu einem vernünftigen Zweck, und die
schwere Arbeit ist ihm unvergleichlich leichter, als dem Zwangsarbeiter
die viel geringere, doch erzwungene und für ihn völlig nutzlose Arbeit.
Es kam mir einmal folgender Gedanke: wollte man einen Menschen mittels
einer Strafe vollständig erdrücken, ihn völlig vernichten, ihm eine so
grauenvolle Strafe auferlegen, daß selbst der ruchloseste Mörder vor ihr
erbebte und sich im voraus abschrecken ließe, so würde es genügen,
seiner Zwangsarbeit den Charakter einer vollkommenen Nutzlosigkeit und
Sinnlosigkeit zu geben. Wenn die sonst übliche Zwangsarbeit für den
Sträfling auch uninteressant und langweilig ist, so hat sie doch
immerhin als Arbeit einen Sinn: der Sträfling muß Ziegel brennen, Erde
graben, Maurerarbeit machen, bauen; eine solche Arbeit hat, wie gesagt,
Sinn und Zweck. Der Zwangsarbeiter läßt sich zuweilen sogar von ihr
fortreißen, er will sie gewandter, fixer, besser verrichten. Würde man
ihn dagegen anstellen, zum Beispiel Wasser aus einem Kübel in einen
anderen zu gießen, und dann wieder zurück in den ersten, oder Sand zu
stoßen, einen Haufen Erde von einem Platz auf einen anderen, und von
dort wieder zurückzukarren, – ich glaube, der Sträfling würde sich schon
nach wenigen Tagen erwürgen oder tausend Verbrechen begehen, um, wenn
nicht anders, lieber zu sterben, als in dieser Erniedrigung, Schande und
Qual weiterzuleben. Versteht sich, eine solche Strafe würde zur Folter,
zur grauenvollsten Rache werden und wäre sinnlos, denn sie würde kein
einziges vernünftiges Ziel erreichen. Da aber ein Teil einer solchen
Folter, einer solchen Sinnlosigkeit, Erniedrigung und Schmach unbedingt
in jeder erzwungenen Arbeit enthalten ist, so ist auch die sibirische
Zwangsarbeit gerade dadurch, daß sie erzwungen ist, unvergleichlich
schwerer als jede freiwillige.

Ich kam übrigens im Winter in den Ostrogg, im Dezember, und sah und
wußte daher noch nichts von der Sommerarbeit, die fünfmal schwerer ist.
Im Winter jedoch gab es in unserer Festung nur wenig Arbeit. Die
Sträflinge gingen an das Ufer des Irtysch, um dort alte Barken, die
Staatseigentum waren, abzubrechen, arbeiteten in den Werkstätten,
schaufelten in der Stadt vor allen Staatsgebäuden den Schnee fort, der
von den Stürmen immer wieder aufgeweht wurde, brannten und stießen
Alabaster und taten ähnliches mehr.

Der Wintertag war sehr kurz, die Arbeit schnell zu Ende, und so kehrten
denn die Sträflinge schon früh in den Ostrogg zurück, wo sie so gut wie
nichts zu tun hatten, wenn sie nicht zufällig für sich selbst etwas
arbeiten wollten. Doch mit eigener Arbeit beschäftigte sich vielleicht
nur ein Drittel aller Gefangenen; die übrigen schlugen die freie Zeit
mit Müßiggang tot, schlenderten aus einer Kaserne in die andere,
schimpften, stritten, spannen Intrigen, verbreiteten Klatschgeschichten
und betranken sich, wenn sie nur irgendwie ein paar Kopeken ergattert
hatten; in der Nacht verspielten sie noch ihr letztes Hemd, – und das
alles nur aus Langeweile, aus Müßiggang und dem bevorzugten Nichtstun!

Mit der Zeit begriff ich, daß es außer dem Verlust der Freiheit, außer
der Zwangsarbeit im Leben des Sträflings noch eine Qual gibt, die fast
größer ist, als alle anderen: das ist das _erzwungene allgemeine
Zusammenleben_. Allgemeines Zusammenleben gibt es natürlich auch an
anderen Orten, in den Ostrogg aber kommen Menschen, mit denen sich nicht
ein jeder gern einleben will, und ich bin überzeugt, daß jeder Sträfling
diese Qual mehr oder weniger empfunden hat, wenn auch, versteht sich,
größtenteils nur unbewußt.

Auch das Essen erschien mir recht reichlich bemessen. Viele
versicherten, daß es in den Gefängnissen des europäischen Rußland
schlechter sei. Darüber kann ich nicht urteilen: ich bin nicht in ihnen
gewesen. Zudem konnten es sich viele leisten, besonderes Essen für sich
zu bestellen. Rindfleisch kostete bei uns zwei Kopeken das Pfund, im
Sommer drei Kopeken. Trotzdem aßen nur die wenigen, die beständig Geld
besaßen, eigenes Essen; die große Mehrzahl begnügte sich mit der
Staatskost. Übrigens meinten die Sträflinge, wenn sie ihre Kost lobten,
damit nur das Brot und vornehmlich segneten sie den einen Vorzug
desselben: daß es uns gemeinsam und nicht pfundweis jedem einzelnen
zugeteilt wurde, denn das wäre für sie wahrhaft grauenvoll gewesen. Bei
einer Verteilung nach dem Gewicht hätte sich mindestens ein Drittel
nicht satt essen können, während es so für alle ausreichte.

Unser Brot war in der Tat ganz besonders schmackhaft und als solches in
der ganzen Stadt berühmt. Man schrieb diesen Vorzug dem gelungenen Bau
unserer Backöfen zu. Die Kohlsuppe war dagegen sehr mangelhaft. Sie
wurde in einem großen Kessel gekocht, mit etwas Graupen versehen, und so
war sie, besonders an den Werktagen, wässerig und mager. Mich entsetzte
an ihr die große Menge Schaben, die alle ruhig mitgekocht wurden. Die
übrigen Sträflinge schenkten ihnen aber überhaupt keine Beachtung.

Die ersten drei Tage wurde ich noch nicht mit den anderen zur Arbeit
geschickt; so verfuhr man mit jedem Neuangekommenen: man ließ ihn nach
der Reise sich etwas ausruhen. Doch schon am nächsten Tage war ich
gezwungen, auf kurze Zeit den Ostrogg zu verlassen, da mir andere
Fesseln angeschmiedet werden mußten. Meine Fesseln waren noch nicht die
vorschriftsmäßigem sondern aus Ringen bestehende, „Hellklingende“, wie
die Gefangenen sie nannten. Die hatte ich über den Kleidern getragen.
Die vorschriftsmäßigen Ostroggfesseln, die auch bei der Arbeit nicht
hinderlich waren, bestanden nicht aus Ringen, sondern aus vier etwa
fingerdicken eisernen Stäben, die durch drei eiserne Ringe miteinander
verbunden waren. Diese trug man unter den Beinkleidern. An den mittleren
Ring war ein Riemen befestigt, der seinerseits an den Gürtelriemen, den
man direkt über dem Hemde tragen mußte, angebracht wurde.

Ich entsinne mich noch deutlich meines ersten Morgens in der Kaserne.

Die Wache vor dem Tore des Ostrogg hatte schon die Trommel geschlagen.
Nach ungefähr zehn Minuten kam der wachhabende Unteroffizier und schloß
die Türen auf. Wir waren inzwischen schon aufgewacht. Beim glanzlosen
Schein eines armseligen Talglichts erhoben sich, zitternd vor Kälte, die
Arrestanten von ihren Pritschen. Fast alle waren in der Verschlafenheit
schweigsam und mürrisch. Sie gähnten, streckten ihre Glieder und
runzelten die gebrandmarkten Stirnen. Einige bekreuzten sich, andere
fingen schon an, sich zu streiten. Die Luft war zum Ersticken. Sobald
nur die Tür aufgemacht wurde, drang die frische Winterluft wie
Dampfwolken herein und verbreitete sich in der Kaserne. An den
Wassereimern drängten sich die Sträflinge: sie nahmen der Reihe nach die
Schöpfkelle, schöpften Wasser aus den Eimern, nahmen das Wasser in den
Mund und wuschen sich Gesicht und Hände mit dem aus dem Munde fließenden
Wasser. Die Eimer werden schon am Abend von dem zum „Stubendienst“
bestimmten Sträfling bereitgestellt. In jeder Kaserne gab es einen, der
von den anderen zum Stubendienst gewählt war. Er wurde der Reiniger
genannt und ging nicht zur Arbeit. Seine Arbeit bestand darin, daß er
die Kaserne an jedem Morgen aufräumte und überhaupt für ihre
Reinlichkeit sorgte, daß er die Pritschen und den Fußboden scheuerte und
abschabte, daß er den Nachtkübel hinaustrug und das Wasser besorgte,
zwei Eimer voll – morgens zum Waschen und am Tage zum Trinken. Wegen der
Schöpfkelle, wovon wir nur ein Exemplar besaßen, kam es bald zum Streit.

„Wohin kraufst du mit deiner verzierten Fratze!“ brummte mürrisch ein
hochgewachsener, hagerer Sträfling von dunkler Gesichtsfarbe, dessen
abrasierter Schädel ganz eigentümliche Wölbungen aufwies, einen anderen
Sträfling an, der etwas untersetzt und wohlgenährt war und ein heiteres,
frisches Gesicht hatte. – „Wart!“

„Was schreist du! Für ‚Wart‘ zahlt man Geld bei uns ... Pack dich lieber
selber ... Seht doch, reckt sich hier aus wie ’n Monument! Das heißt,
Brüder, deswegen ist er noch lange keins, es ist ja an ihm noch nichts
Verstümmeltes zu sehen.“

Die letzte Bemerkung machte einen gewissen Eindruck: viele lachten. Das
aber war alles, was der lustige Dicke haben wollte, da er in der Kaserne
augenscheinlich so etwas wie ein freiwilliger Possenreißer war. Der
hochgewachsene Sträfling blickte ihn mit tiefer Verachtung von oben
herab an.

„Sau!“ sagte er gleichsam nur so vor sich hin, – „hat sich am
Ostroggbrot so vollgefressen, daß man von ihm zum ersten Fleischtag nach
den Fasten zwölf Ferkel erwarten kann.“

Der Dicke wurde wütend.

„Was bist du denn für ein Vogel?“ schrie er plötzlich, puterrot im
Gesicht.

„Das ist’s ja, daß ich ’n Vogel bin!“

„Was für einer denn?“

„Solch einer.“

„Was für solch einer?“

„Das ist schon so ’n Wort: solch einer.“

„Aber so sag doch, was für einer?“

Beide sahen sich an, als wollten sie sich mit ihren Blicken ineinander
einhaken. Der Dicke wartete gespannt auf die Antwort und ballte die
Fäuste, wie wenn er sich sofort auf den anderen zu stürzen
beabsichtigte. Ich war überzeugt, daß es zu einer Rauferei kommen würde.
Neugierig beobachtete ich sie, denn alles, was ich hier sah, war mir
noch so neu. Später erfuhr ich, daß alle derartigen Szenen ganz harmlos
waren und nur zur allgemeinen Unterhaltung und zum Ergötzen der anderen
vorgespielt und friedlich wieder beigelegt wurden – ganz wie in der
Komödie. Bis zum Handgemenge kam es fast nie. Das war ziemlich
charakteristisch und bezeichnend für die Sitten und Bräuche des Ostrogg.

Der hochgewachsene Sträfling stand ruhig und stolz da: er wußte, daß
alle auf ihn sahen und warteten, ob er sich mit seiner Antwort blamieren
würde oder nicht. Er mußte seine Stellung behaupten, mußte beweisen, daß
er tatsächlich ein Vogel war, und mußte sagen, was für ein Vogel. Mit
unbeschreiblicher Verachtung blickte er über die Schulter auf seinen
Gegner, bemüht, zur größeren Beleidigung möglichst schräg, möglichst von
oben herab zu sehen, indem er ihn wie einen Käfer unter der Lupe
fixierte, und dann erst sagte er ebenso langsam wie deutlich:

„Ein Reiher!“

Das hieß, er selbst sei ein Reiher. Eine laute Lachsalve war die Antwort
auf die Findigkeit des Sträflings.

„Ein Spitzbube bist du, aber kein Reiher!“ brüllte ihn der Dicke
wutschnaubend an, da er fühlte, daß er in allen Punkten geschlagen war.

Doch kaum nahm der Streit eine gefährlichere Wendung, da wurden die
Kampflustigen auch schon zur Ruhe gewiesen.

„Was schreit ihr da! Halt’s Maul!“ rief ihnen die ganze Kaserne zu.

„Haut euch doch lieber, als daß ihr da Zeter schreit!“ rief ihnen einer
aus der Ecke zu.

„Halt du sie lieber fest, damit sie sich nicht hauen!“ war die Antwort
der anderen. „Wir sind ein flinkes Volk, sind aber auch hitzig. Zu
sieben werden wir uns nicht vor einem fürchten und einzeln auch nicht
vor sieben ...“

„Sie sind beide gut! ... Der eine ist um ein Pfund Brot in den Ostrogg
gekommen, und der andere, der O-beinige Weiberfreund, hat bei einem
Weibe saure Milch gefressen und dafür sich die Knute erworben ...“

„Nu–nu–nun, jetzt könnt ihr aufhören!“ unterbrach sie unser Invalide,
der zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Kaserne lebte und in der
Ecke auf einer besonderen Pritsche schlief.

„Wasser, Kinder! Unser Nevalid Petrowitsch ist erwacht! Wasser für
Nevalid Petrowitsch, unseren leiblichen Bruder!“

„Bruder ... Was bin ich dir für ein Bruder? Haben noch keinen Rubel
zusammen vertrunken, und schon Bruder!“ brummte der Invalide, indem er
gemächlich die Arme in die Ärmel seines Uniformmantels schob und sich
ankleidete.

Man bereitete sich zur Kontrolle vor; die Morgendämmerung nahm zu, es
begann zu tagen. In der Küche drängte sich die ganze Schar, in
Halbpelzen, auf dem Kopf die zweiteiligen Mützen, um das Brot, das von
einem der Breiköche geschnitten wurde, in Empfang zu nehmen. Diese
Breiköche wurden gleichfalls von der ganzen Abteilung gewählt, für jede
Küche zwei. Von ihnen wurde auch das Küchenmesser aufbewahrt, das man
zum Fleisch- und Brotschneiden nötig hatte, – das einzige Messer in der
ganzen Küche.

In allen Ecken und an allen Tischen setzten sich die Sträflinge nieder,
alle in Mützen, Halbpelzen, gegürtet und bereit zum Ausbruch zur Arbeit.
Vor mehreren standen schon hölzerne Schüsseln mit Kwas[2], in die Brot
hineingebröckelt und die dann ausgeschlürft wurde. Der Lärm und das
Geschrei waren unerträglich; doch einige unterhielten sich ganz ruhig
und vernünftig in den Ecken.

„Wohl bekomm’s, alter Antonytsch! – laß dich grüßen!“ sagte ein junger
Sträfling zu einem mürrischen, zahnlosen Alten, und setzte sich neben
ihn hin.

„Nu, schon gut, wenn du nicht spaßt,“ sagte jener, ohne auch nur den
Blick zu erheben, und mühte sich, mit seinen zahnlosen Kiefern sein Brot
zu zerkauen.

„Denk doch, Antonytsch, ich glaubte, daß du gestorben seiest,
wahrhaftig!“

„Nein, stirb du zuerst, dann werd’ ich’s dir nachmachen ...“

Ich setzte mich neben sie hin. Rechts von mir unterhielten sich zwei
ernste Männer, die augenscheinlich bestrebt waren, ihre Würde vor
einander zu wahren.

„... Mir wird niemand etwas stehlen,“ sagte der eine, „ich, Bruder, ich
muß mich selbst in acht nehmen, daß ich nicht anderen etwas stehle.“

„Nun, auch mich versuch nicht mit bloßer Hand zu nehmen: sieh dich vor,
verbrennst dich.“

„Was kannst du denn hier verbrennen? Bist doch ebenso ein Zuchthäusler
... Sie nimmt dir alles ab und dankt dir nicht einmal dafür. So sind
auch meine Kopeken dahingegangen. Vor kurzem kam sie noch von selbst.
Aber wohin sollte ich mit ihr? Ich wollte schon den Henker Fedjka um
Unterkunft bitten: er hatte doch noch in der Vorstadt ein Haus stehen,
hatte es dem grindigen Salomon, dem Lausejuden, abgekauft, demselben,
der sich dann später aufknüpfte ...“

„Ich weiß. Er verkaufte bei uns schon das dritte Jahr Branntwein und
wurde Grischka, die dunkle Schenke, genannt. Ich weiß schon.“

„Da sieht man gleich, daß du nichts weißt! Das war doch eine andere
dunkle Schenke!“

„Was für eine andere! Du willst immer allein alles wissen! Ich werde dir
soviel Zeugen aufstellen ...“

„Wirst aufstellen! Wer bist du, und woher bin ich?“

„Wer! Dich habe ich schon geschlagen, prahle aber gar nicht damit. Du
aber fragst noch wer!“

„Du und mich geschlagen! Wer mich schlagen wollte, ist noch nicht
geboren und wer mich geschlagen hat, der liegt schon unter der Erde!“

„Daß dich die Pest! ...“

„Daß dich die sibirische Seuche fresse!“

„Daß dich ein Türkensäbel –!“

Und das Schimpfen hub an.

„Nununu! Was reißt ihr eure Mäuler!“ schrie man sie rundum an. „Habt ihr
nicht verstanden, in Freiheit zu leben, so dankt Gott, daß man euch hier
noch reines Brot gibt ...“

Bei jedem Wortwechsel sorgen die anderen dafür, daß es nicht zu
Tätlichkeiten kommt. Schimpfen, mit der Zunge „prügeln“ – das wird
erlaubt, das kann man nach Herzenslust, denn teilweise ist so etwas für
alle eine kleine Zerstreuung. Bis zum Handgemenge aber ließen sie es nur
selten kommen, und nur in einem Ausnahmefall konnten sich zwei Feinde
raufen. Von jeder Rauferei muß dem Major Meldung gemacht werden; dann
beginnen die Untersuchungen, der Major kommt selbst angefahren – mit
einem Wort, das hat für alle sein Unangenehmes, und darum beugt man vor.
Und auch die Feinde selbst schimpfen sich mehr der Zerstreuung halber,
zur Ausbildung ihrer Redekunst. Nicht selten täuschen sie sich
gegenseitig, geraten in furchtbare Hitze, ereifern sich entsetzlich ...
man glaubt: jetzt werden sie sofort aufeinander losstürzen – fällt ihnen
aber gar nicht ein: sie bringen es bis zu einem gewissen Höhepunkt und
gehen dann plötzlich ganz ruhig auseinander. Das setzte mich anfangs
nicht wenig in Erstaunen. Ich habe hier absichtlich die
alleralltäglichsten Gespräche als Beispiele angeführt. Früher hätte ich
es mir nie vorstellen können, daß man sich nur zum Vergnügen schimpfen,
darin eine besondere Unterhaltung, eine angenehme Übung, kurz – etwas
Angenehmes sehen könnte. Übrigens darf man hierbei auch nicht die
Ruhmsucht vergessen. Der schimpfende Dialektiker genoß große Achtung und
Bewunderung. Es fehlte nur noch, daß man ihm Beifall klatschte, wie
einem guten Schauspieler.

Schon am ersten Abend fiel es mir auf, daß man scheel auf mich blickte.
Ich hatte bereits mehrere finstere Blicke aufgefangen. Und andererseits
hielten sich einige beständig in meiner Nähe auf, in der Vermutung, ich
könne Geld mitgebracht haben. Nach kurzer Zeit suchten sie mir denn auch
schon gewisse Dienste zu erweisen: sie zeigten mir, wie man die
ungewohnten Fesseln am bequemsten trage, verschafften mir –
selbstverständlich für mein Geld – einen kleinen verschließbaren Kasten,
damit ich die mir ausgelieferten Kleidungsstücke und meine eigene
Wäsche, die ich mitgebracht hatte, sicher unterbringen konnte. Doch
schon am nächsten Tage hatten sie mir dieselbe gestohlen und vertrunken.
Einer von ihnen wurde später mein ergebener Anhänger, doch hinderte ihn
das durchaus nicht, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu
bestehlen. Er tat es ohne das geringste Bedenken, fast sogar unbewußt
oder als wäre es geradezu seine Pflicht gewesen, und man konnte ihm
unmöglich böse sein.

Unter anderem belehrten sie mich, daß ich meinen eigenen Tee haben
müsse, daß es auch nicht schlecht wäre, wenn ich mir gleich eine ganze
Teekanne verschaffte, stellten mir aber sogleich eine andere bis dahin
als Ersatz zur Verfügung und empfahlen mir besonders den einen Koch,
indem sie noch besonders hervorhoben, daß er mir für etwa dreißig
Kopeken monatlich alles, was ich nur wollte, zubereiten würde, wenn ich
nicht die Festungskost zu genießen und mir eigenes Essen zu kaufen
wünschte ... Natürlich liehen sie sofort von mir Geld und ein jeder von
ihnen kam allein schon am ersten Tage mindestens dreimal zu mir, um mich
anzuborgen.

Auf die ehemaligen Edelleute sieht man in der Kátorga ganz allgemein nur
scheel und nichts weniger als wohlwollend. Die Sträflinge erkennen sie,
ungeachtet dessen, daß sie aller Rechte beraubt und den übrigen
Gefangenen vollständig gleichgestellt sind, niemals als ihre Kameraden
und Genossen an. Das geschieht aber von ihnen nicht aus bewußtem
Vorurteil, sondern vollkommen aufrichtig, unbewußt. Der Grund hierfür
mag wohl in einem bestimmten Gefühl liegen. Sie erkannten uns vollkommen
aufrichtig als Edelleute an, verspotteten uns aber ganz gern mit unserem
tiefen Fall.

„Nein, wart mal, jetzt hat sich die Sache verändert! Einstmals fuhr
Peter stolz durch Moskau, heute dreht Peter kleinlaut das Schiffstau,“
und noch eine Menge ähnlicher Liebenswürdigkeiten gingen an unsere
Adresse.

Mit Hochgenuß beobachteten sie unsere Qualen, wie sehr wir uns auch
bemühten, sie zu verbergen. Die liebreichsten Bemerkungen bekamen wir in
der ersten Zeit bei der Arbeit zu hören: sie wurden uns verabfolgt, weil
wir nicht so stark waren wie sie und ihnen infolgedessen nicht genügend
helfen konnten. Nichts ist schwerer, als das Zutrauen des Volkes –
besonders noch eines solchen Volkes – und seine Liebe zu erringen.

Im Ostrogg gab es mehrere Edelleute. Zunächst fünf Polen. Von diesen
werde ich späterhin noch ausführlicher sprechen. Polen wurden von den
Sträflingen äußerst wenig geliebt, sie waren ihnen noch viel verhaßter,
als die Sträflinge aus dem russischen Adelstande. Die Polen – ich
spreche hier nur von den politischen Verbrechern – waren zu ihnen ganz
besonders, geradezu raffiniert, beleidigend höflich, hielten sich
möglichst fern von ihnen und konnten es auf keine Weise verbergen, daß
die Sträflinge sie anekelten, was jene natürlich vorzüglich begriffen
und wofür sie mit derselben Münze heimzahlten.

Ich mußte fast ganze zwei Jahre im Ostrogg leben, um mir die Sympathie
einiger weniger Sträflinge zu erwerben. Doch zu guterletzt gewann mich
ein großer Teil derselben lieb und hielt mich für einen „guten“
Menschen.

Von russischen Edelleuten waren außer mir noch vier im Ostrogg. Einer
von ihnen, ein niedriges, gemeines Geschöpf, war entsetzlich
ausschweifend, ein geborener Spion und Hinterbringer. Ich hatte von ihm
schon vor meinem Eintritt in den Ostrogg gehört und gab ihm daher denn
auch bald zu verstehen, daß ich seine nähere Bekanntschaft nicht
wünschte. Der zweite war jener Vatermörder, von dem ich schon gesprochen
habe. Der dritte war Akim Akimytsch.

Ich weiß nicht, ob ich jemals einen so seltsamen Kauz gesehen habe, wie
es dieser Akim Akimytsch war. Er ist mir unvergeßlich in der Erinnerung
geblieben, deutlich sehe ich ihn noch vor mir. Er war groß von Wuchs,
hager, schwachgeistig, unglaublich ungebildet, ein großer Raisonneur,
und gewissenhaft wie ein Deutscher. Die Sträflinge lachten über ihn,
viele aber fürchteten sich sogar davor, mit ihm etwas zu tun zu haben,
wegen seines streitsüchtigen, anmaßenden und unleidlichen Charakters. Er
stellte sich von vornherein wie ein alter Duzbruder zu ihnen, schimpfte
und raufte sich womöglich mit allen und jedem. Dabei war er phänomenal
ehrlich. Sobald er nur irgendwo eine Ungerechtigkeit bemerkte, mischte
er sich ohne weiteres ein, gleichviel, ob ihn die Sache anging oder
nicht. Naiv war er bis zur Unglaublichkeit; so warf er den anderen im
Streite nicht selten vor, daß sie Diebe seien und suchte sie allen
Ernstes zu überreden, nicht mehr zu stehlen.

Er hatte im Kaukasus als Fähnrich gedient. Wir traten uns schon am
ersten Tage näher und er erzählte mir ungesäumt seine ganze
Lebensgeschichte.

Seinen Dienst hatte er im Kaukasus begonnen, wo er als Junker in ein
Linienregiment eingetreten war. Endlich war er befördert und als
Oberkommandeur in irgend eine kleine Verschanzung oder Festung versetzt
worden. Da hatte aber irgend ein kleiner, Rußland friedlich gesinnter
Fürst aus der Nachbarschaft seine Festung in Brand gesteckt und einen
nächtlichen Überfall versucht; der war ihm jedoch mißlungen. Akim
Akimytsch dachte sich nun folgende List aus: er tat, als habe er keine
Ahnung, wer der Feind gewesen war. Der Angriff wurde auf die
aufständischen Bergvölker geschoben und bald vergessen. Nach einem Monat
aber lud Akim Akimytsch den kleinen Fürsten recht freundschaftlich zu
sich zu Gaste. Jener kam natürlich, ohne etwas zu ahnen. Akim Akimytsch
ließ seine ganze Mannschaft feierlichst antreten, worauf er den Fürsten
öffentlich überführte und ihm die Leviten las, indem er ihm bewies, daß
es eine Schande sei, Festungen in Brand zu stecken. Darauf belehrte er
ihn ausführlich, wie ein friedlich gesinnter Fürst sich in Zukunft zu
verhalten habe und zum Schluß schoß er ihn nieder, wovon er dann selbst
seinen Vorgesetzten mit allen Einzelheiten Meldung machte. Zur Belohnung
für seine Heldentat wurde er dem Gericht überliefert, zum Tode
verurteilt, doch wegen mildernder Umstände auf zwölf Jahre in die zweite
Abteilung nach Sibirien zur Festungsarbeit verschickt.

Er sah vollkommen ein, daß er unrechtmäßig gehandelt hatte, er sagte
mir, daß er dies auch schon vor der Erschießung des kleinen Fürsten
gewußt habe; er habe es ganz genau gewußt, daß ein friedlicher Fürst nur
nach dem Gesetz verurteilt werden dürfe; aber wie genau er auch alles
wußte, seine Schuld konnte er doch nicht recht einsehen – er begriff sie
einfach nicht.

„Aber ich bitt’ Sie! Er hatte mir doch meine _Festung_ in Brand
gesteckt! Was, sollte ich ihm dafür noch Dank sagen?“ fragte er mich, –
und das war auch seine ganze Antwort auf alle meine Einwendungen.

Ich sagte bereits, daß die Sträflinge sich über Akim Akimytsch lustig
machten, doch nichtsdestoweniger achteten sie ihn wegen seiner
Gewissenhaftigkeit und seiner Geschicklichkeit.

Es gab kein Handwerk, das Akim Akimytsch nicht verstanden hätte. Er war
Tischler, Schuster, Maler, Vergolder, Schlosser – und alles das hatte er
erst im Ostrogg gelernt. Er machte alles, ohne daß es ihm besonders
gezeigt wurde: er sah nur einmal hin und schon konnte er es selbst
machen. Er verfertigte verschiedene kleine Kästchen, Körbchen, Laternen,
Kinderspielzeug, und hatte seine Abnehmer in der Stadt. Die natürliche
Folge davon war, daß er beständig Geld hatte, für welches er sich
alsbald neue Wäsche, ein weicheres Kopfkissen, eine gute zusammenlegbare
Matratze erstand. Er schlief in derselben Kaserne mit mir und war mir
während der ersten Tage in vieler Beziehung sehr nützlich.

Bevor die Sträflinge den Ostrogg verließen, um zur Arbeit zu gehen,
stellten sie sich vor der Wache in zwei Reihen auf; vor und hinter ihnen
nahm die militärische Eskorte, unser beständiges Begleitkommando, mit
scharf geladenem Gewehr die übliche Stellung ein. Darauf erschienen ein
Offizier, der Aufsichtführende und einige subalterne Militärbeamte, die
die Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Der Aufsichtführende zählte die
Sträflinge und schickte sie in Abteilungen an verschiedene Orte zur
Arbeit.

Zusammen mit anderen begab ich mich in unsere Werkstätte. Das war ein
niedriges Steingebäude mitten auf einem großen Hof, auf dem
verschiedenes Rohmaterial lag. Dort gab es eine Schmiede, eine
Schlosserei, eine Tischlerei, eine Malerwerkstatt und noch anderes. In
dieser Malerwerkstatt arbeitete Akim Akimytsch: er kochte Olivenöl,
mischte Farben und strich kunstvoll Tische und Stühle an, so daß sie wie
von Nußbaumholz aussahen.

Während ich auf meine Einschmiedung wartete, sprach ich mit Akim
Akimytsch über die ersten Eindrücke, die ich im Ostrogg empfangen hatte.

„Ja, das ist schon so, sie mögen die Edelleute nicht,“ bemerkte er,
„besonders die politischen nicht; die würden sie am liebsten auffressen.
Das ist aber dumm von ihnen. Ihr seid doch ein ganz anderes Volk, das
ihnen ganz unähnlich ist, sie aber sind früher alle nur Hörige gewesen
oder Soldaten. Urteilen Sie nun selbst, ob sie euch da wohl lieben
können. Hier ist es, sage ich Ihnen, schwer zu leben. Aber in den
russischen Arrestantenkompagnien ist es noch schwerer ... das ist schon
so. Wir haben ja auch welche von dort, die unseren Ostrogg nicht genug
loben können, ganz als wären sie aus der Hölle in den Himmel gekommen
... Nicht die Arbeit ist das Schlimme. Man sagt, dort, in der ersten
Abteilung, sei das Kommando sozusagen nicht ganz militärisch, wenigstens
gehe man dort anders vor, als bei uns. Dort, sagt man, kann der
Verbannte in seinem eigenen Häuschen leben. Ich bin nicht dort gewesen,
aber es wird so erzählt. Sie werden, wie man hört, auch nicht geschoren
und tragen keine Uniform, wenn es auch übrigens besser ist, daß sie bei
uns halb abrasiert werden und gleichmäßig gekleidet sind – es ist doch
immerhin etwas mehr Ordnung und fürs Auge ist es angenehmer. Den Leuten
selbst aber gefällt es nicht. Aber Sie sehen doch, was das hier für ein
Gesindel ist! Der eine ist Russe, der andere Tscherkesse, der dritte ist
Sektierer, der vierte ein rechtgläubiger Landbauer, hat seine Familie,
hat seine lieben Kinderchen in der Heimat zurückgelassen, der fünfte ist
Jude, der sechste Zigeuner, der siebente weiß Gott wer, – und sie alle
müssen jetzt hier an einem Ort zusammenleben, ob sie wollen oder nicht,
aber sie müssen miteinander auskommen, müssen aus derselben Schüssel
essen, auf derselben Pritsche schlafen. Und wo ist denn hier Freiheit:
selbst einen überflüssigen Bissen kann man nur heimlich essen und jede
Kopeke muß man im Stiefel verstecken, und was man sieht und hat, ist
immer nur Ostrogg und abermals Ostrogg ... Da kann man ja ganz
unwillkürlich dumm werden.“

Doch, was er da sagte, wußte ich bereits. Ich wollte ihn vielmehr über
unseren Major etwas ausfragen. Akim Akimytsch war nicht zurückhaltend
und ich weiß noch, daß der Eindruck, den ich von seinen Schilderungen
empfing, nicht ganz angenehm war.

Noch ganze zwei Jahre war es mir bestimmt, unter dem Kommando dieses
Majors zu leben.

Alles, was mir Akim Akimytsch von ihm erzählte, war, wie es sich später
zeigte, vollkommen richtig und gerecht, nur mit dem einen Unterschied,
daß der Eindruck der Wirklichkeit immer stärker ist, als der, den man
aus einer gewöhnlichen Erzählung erhält.

Er war ein furchtbarer Mensch, und furchtbar gerade dadurch, daß er, als
dieser Charakter, der er war, fast unumschränkte Macht über
zweihundertundfünfzig Seelen besaß. An sich war er nur ein
unordentlicher und böser Mensch, und weiter nichts. Auf die Sträflinge
sah er wie auf seine natürlichen Feinde, und das war sein erster und
größter Fehler. Er besaß in der Tat einige Fähigkeiten, nur war alles an
ihm, selbst das Gute, irgendwie entstellt. Zuweilen stürzte er mitten in
der Nacht in unseren Ostrogg und wenn er bemerkte, daß ein Sträfling auf
der linken Seite oder auf dem Rücken schlief, so bestrafte er ihn am
nächsten Morgen: „Du sollst auf der rechten Seite schlafen, wie ich es
befohlen habe.“

Im Ostrogg wurde er gehaßt und gefürchtet wie die Pest. Er hatte ein
rotes, böses, wildes Gesicht und beherrschen konnte er sich nie.
Trotzdem war er, wie alle wußten, ganz und gar in den Händen seines
Burschen Fedjka. Doch am meisten auf der ganzen Welt liebte er seinen
Pudel Tresorka, und als der einmal erkrankt war, soll er vor Kummer
beinahe den Verstand verloren haben. Man sagt, er habe über ihn geweint,
als wäre der Hund sein leiblicher Sohn gewesen. Den Tierarzt hatte er
alsbald zum Teufel gejagt und es hieß, viel habe nicht gefehlt, daß er
ihn seiner Gewohnheit gemäß noch verprügelt hätte. Darauf hätte er von
seinem Fedjka gehört, daß im Ostrogg ein Sträfling „selbstgelernter“
Tierarzt sei, ein Bauer, der aus praktischer Erfahrung Tiere mit gutem
Erfolg zu heilen wisse. Den mußte Fedjka unverzüglich zur Stelle
schaffen.

„Hilf mir! Ich werde dich vergolden, wenn du mir Tresorka rettest!“
schrie er dem Sträfling entgegen.

Das war ein sibirischer Bauer, schlau, klug und in der Tat sehr
geschickt als Tierarzt, aber immerhin ein echter Bauer.

„Da blickte ich denn Tresorka an,“ hatte er später den anderen
Sträflingen erzählt – übrigens erst nach langer Zeit, als der ganze
Vorfall schon vergessen war – „sehe: der Köter liegt auf dem Divan,
liegt auf einem weißen Kissen; ich sehe auch deutlich, daß er Fieber
hat; ein Aderlaß und er wäre gesund – das wußte ich. Da aber denke ich
so bei mir: aber wie, wenn ich ihn nicht kuriere, wenn ich ihn krepieren
lasse? Nein, Euer Gnaden, sagte ich, ich bin zu spät gerufen worden,
hätte man es gestern oder vorgestern getan, so würde ich den Hund
geheilt haben; jetzt aber kann ich es nicht, es ist zu spät ...“

Und so krepierte denn Tresorka.

Auch erzählte man mir ausführlich von einem Anschlag auf das Leben
unseres Majors.

Es hatte im Ostrogg mehrere Jahre lang ein Sträfling gelebt, der allen
durch seine große Sanftmut auffiel. Desgleichen hatte man bemerkt, daß
er fast nie sprach. Daher war er alsbald für etwas geistesschwach
gehalten worden. Er verstand zu lesen und zu schreiben, und im ganzen
letzten Jahre hatte er beständig die Bibel gelesen, Tag und Nacht. Wenn
die anderen alle schon schliefen, erhob er sich um Mitternacht, zündete
ein Kirchenwachslicht an, kroch auf den Ofen, schlug die Bibel auf und
las bis zum Morgen.

Eines schönen Tages war er zum ältesten Unteroffizier gegangen und hatte
ihm gemeldet, daß er nicht mehr zur Arbeit gehen wolle. Der Major wurde
sofort benachrichtigt: er schäumte vor Wut und kam unverzüglich
angefahren. Da stürzte sich der sanftmütige Sträfling mit einem schon in
Bereitschaft gehaltenen Ziegelstein auf ihn, schleuderte den Stein –
traf ihn jedoch nicht. Er wurde ergriffen, verurteilt und bestraft. Es
ging alles sehr schnell vor sich. Nach drei Tagen starb er im Lazarett.
Kurz vor dem Tode soll er noch gesagt haben, daß er keinem Menschen
Böses gewollt, er habe nur leiden wollen. Er war übrigens kein
Sektierer. Im Ostrogg gedachte man seiner stets mit Achtung.

Endlich wurde ich eingeschmiedet. Inzwischen waren in der Werkstätte
mehrere Semmelverkäuferinnen erschienen, eine nach der anderen. Einige
von ihnen waren noch ganz kleine Mädchen. Solange sie noch nicht
erwachsen sind, gehen sie umher und verkaufen Semmeln, die zu Hause von
den Müttern gebacken werden. Sind sie erwachsen, so gehen sie
gleichfalls umher, doch dann ohne Semmeln. Das war schon lange so Sitte.
Es waren aber auch andere, nicht gerade Mädchen, mit ihnen gekommen.
Eine Semmel kostete eine halbe Kopeke, ein Kalatsch zwei Kopeken und von
den Sträflingen kaufte sich fast jeder einen.

Bei der Gelegenheit fiel mir besonders ein Sträfling auf, ein Tischler
mit schon leicht ergrautem Haar, doch noch recht frischem Gesicht, der
lächelnd mit den Semmelverkäuferinnen schäkerte. Kurz bevor sie gekommen
waren, hatte er sich noch schnell ein rotes, baumwollenes Halstuch
umgeschlungen.

Das eine dicke, pockennarbige Weiblein setzte sich auf seine Hobelbank
und zwischen ihnen entspann sich folgendes Gespräch:

„Warum seid Ihr denn gestern nicht dorthin gekommen?“ fragte der
Sträfling mit selbstzufriedenem Lächeln.

„Noch was! Ich war doch da, Ihr aber heißt Mitjka,“ entgegnete das
schlagfertige Weiblein.

„Man hatte uns nötig, sonst wäre ich bestimmt dagewesen ... Vorgestern
waren alle Eure gekommen.“

„Wer denn das?“

„Marjaschka war gekommen, Chawroschka war gekommen, die Tschekunda war
gekommen, die Vierkopekige war gekommen ...“

„Was hat denn das zu bedeuten?“ fragte ich Akim Akimytsch, „ist’s
möglich? ...“

„Es kommt vor,“ sagte er still, die Augen niederschlagend, denn er war
ein äußerst keuscher Mensch.

Das kam tatsächlich auch vor, aber immerhin sehr selten, denn es galt
große Schwierigkeiten zu überwinden. Im allgemeinen gab es mehr
Liebhaber für Branntwein, als für so etwas, trotz der ganzen und nur zu
natürlichen Qual dieses Lebens. Es war schwer, mit einem Frauenzimmer
zusammenzukommen. Man mußte die Zeit abpassen, den Ort bestimmen, sich
verabreden, die Einsamkeit suchen, was schon schwierig, mußte die
betreffende Eskorte sich geneigt machen, was noch viel schwieriger war,
und überhaupt mußte man eine Unmenge Geld verschwenden – versteht sich,
im Verhältnis gesprochen. Aber nichtsdestoweniger bin ich späterhin
selbst Zeuge von Liebesszenen gewesen. Ich erinnere mich noch, wie wir
einmal im Sommer zu dreien am Ufer des Irtysch in einem Schuppen waren
und dort irgend einen Brennofen anheizten. Die Wachen waren gutmütige
Burschen. Endlich erschienen auch die erwarteten „Souffleusen“, wie die
Sträflinge sie nannten.

„Nanu, wo seid ihr denn solange kleben geblieben? Wohl wieder bei den
Swerkoffs?“ begrüßte sie der Sträfling, zu dem sie kamen und der sie
schon lange erwartet hatte.

„Ich sei kleben geblieben? Da sitzt ja selbst eine Elster länger auf dem
Zaunpfahl, als wie ich bei ihnen gesessen habe,“ antwortete munter das
Mädchen.

Sie war das schmutzigste Mädchen der Welt. Das war die sogenannte
Tschekunda. Mit ihr zusammen war auch die Vierkopekige gekommen. Die war
aber schon außerhalb jeder Beschreibungsmöglichkeit.

„Und auch Euch haben wir lange nicht gesehen,“ fuhr der Don Juan, sich
zur Vierkopekigen wendend, verbindlich fort. „Ihr seid ja, wie mir
scheinen will, bedeutend magerer geworden?“

„Kann schon sein. Früher war ich weiß Gott wie dick, jetzt aber, seht, –
ganz als hätte ich eine Nadel verschluckt.“

„Und geht’s immer noch mit den Soldaten – hn?“

„Nu nein, das haben Euch nur gemeine Menschen von uns vorgeklatscht.
Aber – warum auch nicht! Lieber ohne Rippen sein, als keinen Soldaten
frei’n!“

„Ach was, gebt ihnen den Laufpaß und liebt uns ... Wir haben Geld ...“

Zur Vollendung des Bildes denke man sich den Don Juan mit zur Hälfte
abrasiertem Kopf, in Ketten, in zweifarbig geteilten Sträflingskleidern
und unter der Aufsicht der Eskorte. –

Ich verabschiedete mich von Akim Akimytsch, und als ich hörte, daß ich
in den Ostrogg zurückkehren durfte, ging ich mit einem Soldaten wieder
heim.

Die Sträflinge kamen auch schon in verschiedenen Trupps von der Arbeit.
Früher als alle anderen kommen die auf „Zeit“ arbeitenden in den Ostrogg
zurück. Das einzige Mittel, den Sträfling zu strammer Arbeit anzuhalten,
ist, ihn „Aufgaben“ abarbeiten zu lassen. Mitunter sind diese „Aufgaben“
riesengroß, und doch wird die Arbeit zweimal so schnell verrichtet, als
wenn der Sträfling bis zum Trommelzeichen arbeiten müßte. Hatte er die
ihm aufgegebene Arbeit beendet, so kehrte der Sträfling ohne Verzug in
den Ostrogg zurück und niemand hielt ihn mehr auf.

Gegessen wird im Ostrogg nicht zu gleicher Zeit, sondern wie man gerade
kommt, die einen früher, die anderen später; auch würde die Küche nicht
alle auf einmal fassen. Ich versuchte die Kohlsuppe zu essen, vermochte
es aber doch nicht, da ich mich noch nicht an sie gewöhnt hatte, und so
kochte ich mir Tee. Wir setzten uns an das eine Tischende, ich und ein
Gefährte von mir, der gleichfalls dem Adelsstande angehört hatte.

Die Sträflinge kamen und gingen. Die Küche war noch ziemlich leer, da
die meisten noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt waren. Eine Gruppe
von fünf Mann setzte sich etwas abgewendet von uns an den großen Tisch.
Der Koch gab ihnen zwei Schüsseln voll Kohlsuppe und stellte dann noch
eine ganze tönerne Bratpfanne mit gesottenem und später übergebratenem
Fisch vor sie hin. Sie aßen zur Feier irgend einer Begebenheit eigene
Kost. Zu uns blickten sie mißtrauisch hinüber. Da trat ein Pole herein
und setzte sich neben uns hin.

Ihm folgte bald ein hochgewachsener Sträfling, der mit einem einzigen
Blick alle Anwesenden überflog.

„Bin nicht zu Hause gewesen, weiß aber alles!“ rief er mit lauter
Stimme. Er schien ungefähr fünfzig Jahre alt zu sein, war muskulös und
hager. In seinem Gesicht lag etwas Listiges und gleichzeitig auch
Lustiges. Am auffallendsten war an ihm seine dicke, herabhängende
Unterlippe. Sie verlieh ihm etwas überaus Komisches.

„Na, so sagt doch, habt ihr gut geschlafen? Warum begrüßt ihr einen denn
gar nicht? Gesegnete Mahlzeit unseren Kurskern!“ fügte er hinzu und
setzte sich zu den fünf, die ihr Essen verzehrten. „Na, so empfangt doch
den Gast!“

„Wir, Bruder, sind ja gar nicht aus Kursk!“

„Ah so, dann also aus Tambowsk?“

„Sind auch nicht aus Tambowsk. Bei uns, Freund, ist nichts zu holen;
schieb mal ab zu reichen Leuten, dort kannst du anfragen.“

„In meiner Leibesmitte, Bruder, sitzen heute Iwan Taskun und Maria
Ikotischna, sie ist nämlich erbärmlich leer ... Aber wo lebt er denn,
der reiche Mann?“

„Geh mal zu Gasin, der ist reich, versuch bei ihm dein Glück.“

„Ach, Bruderherz, mit Gasin fängst du heute nichts mehr an, der lebt
heute blau: vertrinkt sein ganzes Kapital.“

„Er hat seine zwanzig Rubel,“ bemerkte ein anderer. „Wie man sieht, ist
es kein übles Geschäft, Schankwirt zu sein.“

„Na was, werdet ihr denn wirklich den Gast nicht einladen? Was machst
du, Mensch, – gebt mir dann die Staatskost her.“

„So geh doch und bitt’ Tee; da sitzen ja Herren, die welchen trinken.“

„Was für Herren, hier gibt’s keine Herren; sind ganz, was wir jetzt
sind,“ brummte mürrisch einer in der Ecke. Bis dahin hatte er noch kein
Wort gesprochen.

„Trinken würde ich schon, aber ich schäme mich, zu bitten: wir haben
auch so etwas wie ein Ehrgefühl!“ entgegnete der Sträfling mit der
dicken Unterlippe und blickte uns gutmütig an.

„Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen gern welchen geben,“ sagte ich
auffordernd zu ihm, – „ist es gefällig?“

„Gefällig? Wie soll’s denn nicht gefällig sein!“

Er trat an den Tisch.

„Sieh mal einer an, zu Hause kannte er nichts als Kohl, hier kennt er
schon den Tee gar wohl – hier will er schon Herrenessen haben,“ brummte
wieder der Mürrische in der Ecke.

„Trinkt denn hier sonst niemand Tee?“ fragte ich, mich speziell an ihn
wendend. Er würdigte mich jedoch keiner Antwort.

„Ah, da werden grad auch Kalatschen gebracht! Wenn Ihr schon so gnädig
seid, dann spendet mir auch gleich einen Kalatsch dazu!“

Ein junger Sträfling trat mit einem ganzen Bund[3] Kalatschen herein und
bot sie zum Verkauf an. Die Aufkäuferin überließ ihm dafür den zehnten;
auf diesen Kalatsch nun rechnete er.

„Kalatschi, Kalatschi–i–i!“ schrie er, in die Küche eintretend, „direkt
aus Moskau, glühend heiß! Würde sie selbst essen, brauch aber Geld. Nun,
Kinder, der letzte ist nachgeblieben: wer hat eine Mutter gehabt?“

Dieser Appell an die Mutterliebe erheiterte alle und man kaufte ihm
mehrere ab.

„Aber wißt ihr, Brüder,“ fuhr der Lange fort, „der Gasin, der treibt es
heute denn doch schon bis zur Sünde! Bei Gott! Wenn’s dem einmal
einfällt, durchzugehen! Wenn heute nur unser Achtäugiger nicht
hereinschneit.“

„Dann wird Gasin schon versteckt werden. Was – ist er steif besoffen?“

„Was von steif! Noch längst nicht! Wild ist er geworden, zudringlich,
gefährlich.“

„Nun, dann wird er noch an manche Fäuste anrennen ...“

„Von wem sprechen sie?“ fragte ich den Polen, der neben mir saß.

„Von Gasin, einem Arrestanten. Er handelt hier mit Branntwein. Hat er
genug verdient, so vertrinkt er sofort das ganze Geld an einem Tage. Er
ist grausam und böse, – übrigens in nüchternem Zustande ist er ganz
friedlich. Sobald er sich aber angetrunken hat, ist er total verrückt:
wirft sich mit dem Messer auf die Menschen ... Dann wird er aber sofort
gebändigt.“

„Wie wird denn das angestellt?“

„Etwa zehn Arrestanten stürzen sich zu gleicher Zeit auf ihn und
schlagen ihn entsetzlich – so lange, bis er besinnungslos wird, sie
schlagen ihn halbtot. Dann wird er auf seine Pritsche gehoben und mit
dem Halbpelz zugedeckt.“

„Aber sie könnten ihn doch auf diese Weise völlig totschlagen!“

„Einen anderen gewiß, ihn aber nicht. Er ist unglaublich stark, der
stärkste von allen in unserem Ostrogg, und ist herkulisch gebaut. Am
nächsten Morgen ist er wieder vollständig gesund.“

„Sagen Sie doch, bitte,“ fuhr ich fort, den Polen auszufragen, „jene
dort haben doch auch ihr eigenes Essen, und ich trinke nur Tee, – und
doch sehen sie mich alle an, als wenn sie mich deswegen beneideten. Was
hat das zu bedeuten?“

„Das ist nicht wegen des Tees,“ sagte der Pole. „Sie ärgern sich über
Sie vielmehr deswegen, weil Sie Edelmann sind und nicht ihnen gleichen.
Viele würden gern mit Ihnen anbinden: sie hätten gar zu große Lust, Sie
zu beleidigen und zu erniedrigen. Sie werden hier noch viel Unangenehmes
erleben. Es ist hier für uns alle entsetzlich schwer. Wir haben es in
jeder Beziehung am schwersten von allen. Man muß viel Gleichmut haben,
um sich daran zu gewöhnen. Sie werden noch oft Unannehmlichkeiten wegen
Tee oder eigenem Essen haben, wenn auch von den anderen sehr viele und
sogar sehr oft sich eigenes Essen leisten und einige sogar beständig
ihren Tee trinken. Sie dürfen es, wir aber dürfen es nicht.“

Darauf erhob er sich und ging hinaus. Schon nach wenigen Minuten
geschah, was er gesagt hatte.


                                  III.

                   Die ersten Eindrücke, Fortsetzung

Kaum war M–tzkij, der Pole, mit dem ich gesprochen hatte,
hinausgegangen, als der betrunkene Gasin in die Küche hereinstürzte.

Mitten am hellen Tage ein berauschter Sträfling, noch dazu am
Wochentage, wenn alle zur Arbeit gehen mußten, ein betrunkener Sträfling
in einem Ostrogg, dessen Vorgesetzter ein so strenger Major war, der
überdies noch jeden Augenblick in eigener Person eintreffen konnte, von
dem Unteroffizier, dem nächsten Vorgesetzten, der beständig im Ostrogg
lebte, und den Invaliden ganz zu schweigen, – ein betrunkener Sträfling
trotz aller Wachen und Aufseher, kurz, trotz aller strengen Maßregeln –
der warf alle in mir sich bildenden Begriffe vom Sträflingsleben über
den Haufen. Und ich mußte noch lange Zeit im Ostrogg leben, bevor ich
die Erklärung fand für Tatsachen, die mir in den ersten Tagen meiner
Kátorga so unbegreiflich erschienen waren.

Ich sagte bereits, daß die Sträflinge stets noch eine eigene Arbeit
hatten, und daß diese Art von Beschäftigung ein natürliches Bedürfnis im
Sträflingsleben sei, daß der Sträfling, ganz abgesehen von diesem
Bedürfnis, leidenschaftlich Geld liebte und Geld höher als alles andere
schätzte, fast sogar so hoch wie die Freiheit, und daß er bereits
getröstet sei, wenn er es in seiner Tasche klingen hörte. Hat er es
dagegen nicht, so ist er wehmütig, traurig, unruhig und mutlos, und dann
ist er zu allem, zu jedem Diebstahl bereit, wenn er dafür nur Geld
erhält. Doch ungeachtet dessen, daß das Geld im Ostrogg so wertvoll war,
blieb es nie sehr lange im Besitze des Glücklichen, der es besaß.
Erstens war es sehr schwer, dasselbe so aufzubewahren, daß es nicht
gestohlen oder bei den Durchsuchungen gefunden werden konnte. Wenn der
Major welches aufstöberte, so wurde es ohne weiteres beschlagnahmt.
Vielleicht verwandte er es zur Verbesserung der Sträflingskost;
wenigstens wurde es jedesmal ihm ausgeliefert. Doch gewöhnlich wurde das
Geld gestohlen: es war da auf keinen Einzigen Verlaß. Erst in der Folge
fand man bei uns eine Möglichkeit, das Geld mit voller Sicherheit
aufzubewahren: man gab es einem alten Mann, einem Altgläubigen, der aus
den Dörfern von Starodubowo zu uns gekommen war, die einmal einer Sekte
der Abtrünnigen gehört hatten.

Ich kann nicht umhin, einige Worte über ihn zu sagen, wenn es mich auch
vom Thema abbringt.

Er war ein Greis von sechzig Jahren, klein von Wuchs und mit grauem
Haar. Schon beim ersten Anblick fiel er mir auf. Er glich so wenig den
anderen Sträflingen: in seinem Blick war etwas dermaßen Ruhiges und
Stilles, daß ich – ich erinnere mich dessen noch deutlich – mit einem
ganz besonderen Wohlgefallen in seine klaren hellen Augen blickte, die
von vielen, vielen strahlenförmigen kleinen Runzeln umgeben waren. Ich
habe oft mit ihm gesprochen und selten nur ist mir in meinem Leben ein
so guter, so großmütiger Mensch begegnet. Er war wegen eines sehr
schweren Verbrechens verschickt worden. Von den Altgläubigen von
Starodubowo hatten sich einige bekehren lassen. Die Regierung hatte
dieselben eifrig unterstützt und alles versucht, um noch mehr der
Andersgläubigen zu bekehren. Dieser Greis nun hatte, zusammen mit
anderen Fanatikern, beschlossen, „für den Glauben einzustehen“, wie er
sich ausdrückte. Es war der Bau einer neuen Kirche begonnen worden, sie
aber hatten sie niedergebrannt. Und als einer der Anstifter war der Alte
zur Zwangsarbeit verschickt worden. Er war ein wohlhabender Bürger
gewesen und hatte Handel getrieben; Frau und Kinder hatte er
zurückgelassen, war aber trotzdem unbeugsam in die Verbannung gegangen,
denn er glaubte, daß sie ein „Kreuztragen für den Glauben“ sei. Jeder,
der eine Zeitlang mit ihm zusammengelebt, hätte sich unwillkürlich
gefragt, wie dieser stille, kindlich fromme Greis ein Aufrührer sein
konnte? Ich habe mehrere Male mit ihm „über den Glauben“ gesprochen. Er
gab nicht das Geringste von seinen Überzeugungen auf, doch niemals habe
ich irgend eine Mißstimmung oder einen Haß in seinen Entgegnungen
wahrnehmen können. Und dennoch hatte er die Kirche in Brand gesteckt,
was er ganz ruhig eingestand. Nach seinen Überzeugungen zu urteilen,
konnte man glauben, daß er sein Verbrechen und das dafür auf sich
genommene „Kreuz“ für eine rühmliche Tat hielt. Doch wie sehr ich ihn
auch zu erforschen und zu erkennen suchte, niemals habe ich auch nur das
geringste Anzeichen von Stolz oder Ruhmsucht entdecken können. Es waren
daselbst auch noch andere Altgläubige, meistenteils Sibirier: sie waren
ein ungemein entwickeltes Volk, scharfsinnige Bauern, ungeheuer
bibelkundig, furchtbare Buchstabenfresser und, in ihrer Art, große
Dialektiker, – kurz, ein von sich eingenommenes, anmaßendes,
verschlagenes und im höchsten Grade unduldsames Volk. Der Alte dagegen
war ganz anders. Er war vielleicht noch bibelkundiger als sie, vermied
aber jeden Disput. Dem Charakter nach war er ein sehr mitteilsamer
Mensch. Er hatte ein heiteres Gemüt, lachte häufig – nicht das rohe,
zynische Lachen der übrigen Sträflinge, sondern ein helles und ruhiges,
in dem viel kindliche Gutmütigkeit lag und das sich so gut zu seinem
grauen Haar ausnahm. Vielleicht täuschte ich mich, aber es will mir
scheinen, daß man am Lachen den Menschen erkennen kann, und wenn einem
bei der ersten Begegnung das Lachen irgend eines fremden Menschen
angenehm ist, so kann man ruhig sagen, daß er ein guter Mensch ist. Im
Ostrogg hatte der Alte sich bald allgemeine Achtung erworben, warf sich
deswegen aber durchaus nicht in die Brust. Die Gefangenen nannten ihn
„Großvater“ und taten ihm nie etwas zu Leide. Ich begriff zum Teil,
welch einen Einfluß er auf seine Glaubensgenossen gehabt haben mußte.
Doch bei all der scheinbaren Festigkeit, mit der er seine Verbannung als
Zwangsarbeiter ertrug, verbarg sich in ihm ein tiefer, unheilbarer
Schmerz, den er aber vor allen verbarg. Ich lebte mit ihm in derselben
Kaserne. Einmal, es war in der Nacht, um etwa drei Uhr, erwachte ich
plötzlich und da vernahm ich ein stilles, halb unterdrücktes Schluchzen.
Der Alte saß auf dem Ofen (an demselben, wo vor ihm der andere
gottesfürchtige Sträfling nachts gesessen und in der Bibel gelesen
hatte, jener, von dem das Attentat auf den Major ausgeübt worden war),
saß auf dem Ofen und betete nach seinem handgeschriebenen alten
Gebetbuch. Er schluchzte verhalten und ich hörte nur, wie er von Zeit zu
Zeit betete: „Mein Gott, verlaß mich nicht! Gott, stärke du mich, gib
mir Kraft! Meine kleinen Kinderchen, meine lieben Kinderchen, niemals
mehr werden wir uns wiedersehn!“ Ich kann nicht sagen, wie traurig mich
das stimmte. Diesem Greise nun gaben die Arrestanten mit der Zeit ihr
Geld zum Aufbewahren. Im Ostrogg war fast ein jeder ein Dieb, plötzlich
aber waren alle aus irgend einem Grunde überzeugt, daß der Greis
unmöglich stehlen könne. Man wußte, daß er das ihm eingehändigte Geld
irgendwo verbarg, doch geschah das an einem so verborgenen Ort, daß
niemand das Versteckte zu finden vermochte. Zuguterletzt deckte er mir
und einem Polen sein Geheimnis auf. In einem der Pfähle unseres
Gefängniszaunes war ein Astauge, das fest im Baumstamm eingewachsen zu
sein schien, in Wirklichkeit sich aber leicht herausnehmen und wieder
hineinschieben ließ. Und hinter diesem Aststück war eine große
Aushöhlung, in die der Großvater das Geld hineinlegte, während er das
Aststück wieder vorschob, so daß es keinem auffallen konnte.

Doch ich bin von meinem Gegenstande abgekommen.

Ich sprach zuletzt von den Gründen, warum der Sträfling das Geld nicht
lange in der Tasche behielt. Abgesehen von der Schwierigkeit, dasselbe
vor Dieben sicher zu bewahren, gab es im Ostrogg so viel Sehnsucht und
Harm, der Gefangene aber ist naturgemäß ein Wesen, das dermaßen nach
Freiheit lechzt und seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß dermaßen
leichtsinnig und unordentlich ist, daß es uns nur zu begreiflich
erscheint, wenn ihn plötzlich die Lust packt, einmal zu „spendieren“,
glänzend aufzutreten, das ganze Kapital draufgehen zu lassen, mit
Spektakel und Musik ein Fest zu feiern, um, wenn auch nur auf einen
Augenblick, seine Sehnsucht zu vergessen. Es war seltsam anzusehen, wie
manch einer von ihnen mit tief gesenktem Kopf, ohne auch nur einmal den
Nacken gerade zu biegen, ganze Monate lang arbeitete, und zwar einzig
und allein zu dem Zwecke, um dann eines schönen Tages dies ganze
Ersparnis durchzubringen, alles bis aufs letzte und dann von neuem
monatelang zu arbeiten – bis zu einem neuen Festtage. Viele liebten es,
sich etwas neues zu kaufen und zwar unbedingt etwas ganz Apartes, wie
zum Beispiel irgendwelche total unförmige schwarze Beinkleider, oder ein
besonderes Wamms, oder einen kurzen sibirischen Pelz. Sehr beliebt waren
farbige Kattunhemde und Gürtel mit schönen Kupferplattenbeschlägen. An
den Feiertagen zogen sie sich zum erstenmal die erstandenen schönen
Sachen an, und der festlich Gekleidete ging dann stolz in alle Kasernen,
um sich den anderen zu zeigen. Die Zufriedenheit des gut Gekleideten
ging bis ins Kindische, und überhaupt waren die Sträflinge in vielen
Dingen die reinen Kinder. Aber alle diese schönen Sachen verschwanden
dann ganz plötzlich von ihrem Besitzer, nicht selten wurden sie schon am
nämlichen Abend versetzt oder zu einem Spottpreis losgeschlagen.
Übrigens nahm bei solchen Gelegenheiten alles seinen bekannten Verlauf.
Gewöhnlich wurde das Vergnügen auf die Festtage hinausgeschoben oder auf
den Namenstag des Betreffenden. Wenn sich dann der Arrestant an seinem
Namenstage erhob, war das erste was er tat, daß er ein Wachslicht vor
das Heiligenbild stellte und betete; darauf kleidete er sich festlich an
und bestellte sich ein Essen. Er ließ Rindfleisch und Fisch kaufen und
sibirische Pasteten backen; darauf aß er sich so voll wie ein Ochse,
gewöhnlich aber ganz allein, selten nur forderte er seine Kameraden auf,
an seinem Mahle teilzunehmen. Darauf kam der Branntwein an die Reihe:
der Feiernde soff sich toll und voll und ging dann wieder in alle
Kasernen, diesmal wankend und stolpernd, um allen zu zeigen, daß er
betrunken war, daß er „durchging“ und um dafür allgemeine Achtung zu
erwerben. Überall sieht man im russischen Volke eine gewisse Sympathie
für die Betrunkenen; im Ostrogg aber benahm man sich sogar respektvoll
gegen sie.

In der Schlemmerei der Ostroggbewohner lag etwas durchaus
Aristokratisches. War der Arrestant schon ein wenig angeheitert, so
bestellte er sofort Musik. Es war im Ostrogg ein kleiner Pole, ein
entlaufener Soldat, ein elendes Kerlchen, der auf der Geige zu spielen
verstand und sein Instrument, das sein ganzes Kapital war, auch dort bei
sich hatte. Ein Handwerk verstand er nicht und so war es sein einziger
Verdienst, daß er den „Feiernden“ für Geld muntere Tanzstücke
aufspielte. Seine Aufgabe bestand in solchem Falle darin, daß er seinem
betrunkenen Gönner aus einer Kaserne in die andere folgte und mit aller
Ellbogenkraft auf seiner Fiedel feilte. Oft sah ich auf seinem Gesicht
Langeweile und Sehnsucht, doch der barsche Befehl: „Spiel, bist
bezahlt!“ trieb ihn an, immer weiter zu fiedeln und zu feilen.

Jeder Arrestant, der „durchzugehen“ begann, konnte fest überzeugt sein,
daß man ihn, wenn er sich stark angetrunken hatte, gut beaufsichtigen,
zur rechten Zeit auf seine Pritsche bringen und sicher irgendwo
verstecken würde, falls einer von der „Obrigkeit“ kommen sollte. Alle
diese Liebesdienste wurden unentgeltlich verrichtet. Andererseits
konnten auch der Unteroffizier und die Invaliden, die der Ordnung halber
beständig in der Kaserne lebten, gleichfalls vollkommen beruhigt sein:
der Betrunkene vermochte auf keine Weise Unordnung zu verursachen. Die
ganze Kaserne bewachte ihn und sobald er laut wurde oder sonstwie die
Absicht bekundete, Unfrieden zu stiften, wurde er sogleich gebändigt; ja
nötigenfalls hätte man ihn sogar geknebelt. Und so sahen die Wachen und
das subalterne Aufsichtspersonal den Betrunkenen gegenüber etwas durch
die Finger, oder wollten sie auch gar nicht bemerken. Sie wußten recht
wohl, daß ein noch strengeres Verbot des Branntweins die Sache nur
schlimmer gemacht hätte. Aber wo bekam man denn den Branntwein her?

Er wurde im Ostrogg selbst verkauft, von den sogenannten Schenkwirten,
deren es mehrere bei uns gab. Sie betrieben ihren Handel ununterbrochen
und mit gutem Gewinn, obgleich es im allgemeinen nicht viel Trinkende
und „Durchgehende“ gab, da dieses Vergnügen Geld erforderte, der
Sträfling solches aber nur schwer erwarb.

Der Branntweinhandel wurde in einer recht originellen Weise betrieben,
nämlich folgendermaßen:

Nehmen wir an, ein Sträfling hat keine Beschäftigung und will auch kein
Handwerk erlernen – solche gab es, – will aber Geld haben, und da er ein
ungeduldiger Mensch ist, will er es möglichst schnell verdienen. Um
anzufangen, hat er nur wenige Kopeken, aber das genügt, und er
beschließt, mit Branntwein zu handeln, – ein gewagtes Unternehmen, bei
dem man sich großer Gefahr aussetzt: man kann die Ware und das ganze
Kapital verlieren und außerdem muß dann noch der Rücken herhalten. Aber
der Sträfling ist auf alles gefaßt. Da er nur ein kleines
Betriebskapital hat, so bringt er das erste Mal selbst den Branntwein in
den Ostrogg, wo er ihn natürlich vorteilhaft verkauft. Darauf wiederholt
er dasselbe noch ein zweites und drittes Mal, und wenn er von der Wache
nicht abgefaßt wird, nimmt sein Geschäft in kürzester Zeit einen großen
Aufschwung. Dann beginnt er seinen Branntweinhandel auf großem Fuß: er
wird Entrepreneur, Kapitalist, hält Agenten und Gehilfen, setzt viel
weniger aufs Spiel und verdient immer mehr. Dann riskieren für ihn seine
Gehilfen.

In einem Ostrogg gibt es jederzeit eine Menge Leute, die alles bis auf
die letzte Kopeke verzettelt, verspielt, durchgebracht haben, Leute ohne
Handwerk, armseliges heruntergekommenes Volk, das aber in gewissem Maße
doch mit Mut und Entschlossenheit begabt ist. Diesen Leuten ist als
einziges Kapital nur noch ihr Rücken verblieben, der aber kann doch noch
zu irgend etwas dienen. Und so entschließt sich denn der ruinierte
Arrestant, dieses letzte Kapital in Umsatz zu bringen und mit ihm so gut
es eben geht zu spekulieren.

Er geht zum „Entrepreneur“ und verdingt sich bei ihm zum Durchschmuggel
des Branntweins in den Ostrogg. Ein reicher Branntweinhändler hat
mehrere solcher Durchschmuggler. Irgendwo außerhalb des Ostrogg befindet
sich ein Mensch – ein Soldat vielleicht, mitunter sogar ein Mädchen oder
ein Bauer – der für das Geld des Unternehmers und für eine bestimmte
Vergütung, die verhältnismäßig nicht gering ist, in der Schenke
Branntwein aufkauft, den er dann an einem geheimen Ort, in der nächsten
Nähe der betreffenden Arbeitsstellen eines Arrestantentrupps, sorgfältig
versteckt. Gewöhnlich probt der Lieferant zunächst die Güte des
Branntweins und ersetzt dann das Ausgetrunkene in unmenschlicher Weise
durch Wasser. Der Arrestant darf nicht allzu wählerisch sein, da heißt
es: nimm ihn oder nimm ihn nicht, anderer ist nicht zu haben; und auch
das ist schon gut, daß er sein Geld nicht ganz verloren hat und immerhin
Branntwein zur Stelle geschafft ist, gleichviel was für einer, aber
immerhin doch Branntwein. Zu diesem Lieferanten kommen dann die ihm
schon früher von dem Branntweinverkäufer bezeichneten Leute, die
Ochsendärme mitbringen. Diese Därme werden zuerst gut ausgewaschen und
dann mit Wasser gefüllt, damit sie nicht eintrocknen und sich in ihrer
ursprünglichen Weichheit und Dehnbarkeit erhalten, um zur Aufnahme des
Branntweins geeignet zu sein. Hat der Arrestant den Branntwein in die
Därme gefüllt, so wickelt er sie um seinen Körper, nach Möglichkeit an
den diskretesten Stellen desselben. Versteht sich, bei diesem Verfahren
beweist er die ganze Geschicklichkeit, die ganze diebische Schlauheit
des Schmugglers. Es handelt sich um seine Ehre: er muß sowohl die
Soldaten der Eskorte wie die Wache betrügen. Und er betrügt sie. Von
einem geschickten Diebe wird die Eskorte – bisweilen nur ein einziger
Soldat, irgend ein junger Rekrut – immer betrogen. Der betreffende
Arrestant ist z. B. Ofensetzer und kriecht auf den Ofen. Wer kann sehen,
was er dort macht? Die Wache kann ihm doch nicht nachkriechen. Bei der
Rückkehr in den Ostrogg nimmt der Arrestant kurz vor dem Tor ein
Silberstück, fünfzehn oder zwanzig Kopeken, auf alle Fälle in die Hand
und wartet auf den Gefreiten, der jeden in den Ostrogg zurückkehrenden
Arrestanten rundum mustert und befühlt, bevor er ihm das Tor
aufschließt. Der Branntweinträger hofft in der Regel, daß der
wachhabende Gefreite sich schließlich schämen wird, ihn an gewissen
Stellen gar zu gewissenhaft zu befühlen. Mitunter aber dringt der
naseweise Gefreite im Befühlen auch bis zu diesen Körperteilen vor und
entdeckt den Wein. Dann bleibt dem Arrestanten nur noch ein
Rettungsmittel übrig: er drückt dem Gefreiten, unbemerkt von der
Eskorte, die bereitgehaltene Münze in die Hand. Nun kommt es zuweilen
vor, daß er infolge dieses Manövers glücklich in den Ostrogg
hineingelangt und sein Branntwein gerettet ist. Aber es kommt auch vor,
daß das Manöver ihm mißlingt, und dann muß sein letztes Kapital
herhalten: sein Rücken. Der Vorfall wird sofort dem Major gemeldet, das
Kapital wird gedroschen, und zwar schmerzhaft gedroschen, der Branntwein
wird konfisziert, und der Schmuggler nimmt alles auf sich, ohne den
Branntweinhändler im Ostrogg anzugeben, tut das aber, wohlgemerkt, nicht
aus dem Grunde, weil er das Angeben verabscheute, sondern einzig und
allein deswegen, weil die Angabe für ihn selbst unvorteilhaft wäre: ihn
würde man sowieso durchpeitschen, und der ganze Trost bestände darin,
daß sie dann beide durchgepeitscht werden würden. Er aber ist vom
anderen abhängig, er braucht ihn, obgleich er, der Schmuggler, nach
alter Sitte und vorhergegangener Abmachung für den durchgepeitschten
Rücken von dem Händler keine Kopeke erhält.

Sonst aber, so im allgemeinen, kann man sagen, daß die Angeberei
geradezu blühte. Im Ostrogg wurde der Angeber nicht im geringsten
verachtet. Unwille gegen ihn war sogar undenkbar. Man meidet ihn
durchaus nicht, man schließt sogar Freundschaft mit ihm, sodaß man,
wollte man im Ostrogg anfangen, die ganze Niedrigkeit der Angeberei zu
erklären, überhaupt nicht verstanden werden würde. So pflog z. B. jener
ausschweifende, in jeder Beziehung niedrige Arrestant, der früher
Edelmann gewesen war, und mit dem ich jeden Umgang abgebrochen hatte,
mit Fedjka, dem Burschen des Majors, innige Freundschaft und diente ihm
als Spion, während jener alles Gehörte wiederum seinem Herrn
hinterbrachte. Das wußten bei uns alle, doch niemand ließ es sich auch
nur einfallen, das verächtliche Subjekt zu bestrafen oder ihm seine
Handlungsweise auch nur vorzuhalten.

Doch da bin ich schon wieder von meiner Erzählung abgewichen.

So kam es denn nicht selten vor, daß der Branntwein glücklich in den
Ostrogg gelangte. Hat der Branntweinhändler die durchgeschmuggelten
Därme empfangen und bezahlt, so überschlägt er seine Kosten. Es stellt
sich heraus, daß die Ware ihm teuer zu stehen kommt, und darum mischt er
den Branntwein noch einmal mit Wasser, fast zur Hälfte, und ist das
geschehen, hat er alles vorbereitet, dann erwartet er den Käufer. Am
nächsten Feiertage, zuweilen aber auch an einem Wochentage – erscheint
der Käufer: ein Arrestant, der mehrere Monate lang wie ein Büffel
gearbeitet und jede Kopeke gespart hat, um dann an dem schon früher
festgesetzten Tage alles zu vertrinken. Von diesem Tage hat dem Armen
schon lange vorher im Schlaf geträumt, und auch in den Stunden der
Arbeit hat er von ihm geträumt, um glücklich zu sein, und dieser ferne
Tag mit seinem Zauber hat seinen Geist in dem öden Sträflingsleben
aufrechterhalten. Endlich, endlich ersteht im Osten die Morgenröte des
hellen Tages! Das Geld ist zusammengescharrt, ist nicht gestohlen und
nicht konfisziert worden, und er kann es zum Branntweinhändler bringen.
Jener gibt ihm anfangs möglichst reinen Branntwein, d. h., der nur
zweimal mit Wasser vermischt worden ist, doch je mehr der Inhalt der
Flasche abnimmt, um so mehr wird er durch Nachgießen von Wasser ersetzt.
Für einen Becher Branntwein wird fünfmal, sechsmal mehr gezahlt, als in
der Schenke. Man kann sich nun vorstellen, wie viel solcher Becher man
austrinken und wieviel man für sie bezahlen muß, bevor man berauscht
ist. Aber infolge der Entwöhnung vom Trunk und der langen Enthaltsamkeit
wird der Sträfling verhältnismäßig schnell betrunken, fährt aber im
Trinken so lange fort, bis sein letztes Geld alle ist. Dann kommen die
neuen Sachen an die Reihe, – der Branntweinverkäufer ist gleichzeitig
auch Wucherer. Zuerst werden die neuangeschafften praktischen Sachen
versetzt, allmählich geht man vom älteren zum allerältesten über und
schließlich zu dem Staatseigentum. Ist alles, auch der letzte Lumpen
vertrunken, so legt sich der Berauschte auf die Pritsche und schläft,
und am nächsten Morgen, wenn er mit dem unfehlbaren Brummschädel
erwacht, bittet er vergeblich seinen „Schenkwirt“, ihm nur einen
einzigen Schluck für den Kater zu geben. Traurig trägt er sein
Mißgeschick und schon am selben Tage macht er sich von neuem an die
Arbeit und arbeitet wieder mehrere Monate, ohne den Nacken grade zu
biegen, träumt von dem glücklichen freien Tag, der unwiderruflich in die
Vergangenheit versunken ist, bis er mit der Zeit wieder munterer wird
und einen neuen ähnlichen Tag zu erwarten anfängt, einen Tag, der noch
fern, fern in der Zukunft liegt, aber trotzdem irgend einmal doch
anbrechen wird.

Was nun den „Schenkwirt“ anbetrifft, so kauft er, wenn er nach gutem
Geschäfte eine große Summe erspart hat, ungefähr einige
Zehnrubelscheine, zum letztenmal Branntwein an, gießt dann aber kein
Wasser hinzu, da er ihn für sich bestimmt. Er hat genug verdient: es ist
Zeit, auch selber einmal zu feiern! Und er beginnt ein Schlemmerleben,
es wird getrunken, gegessen, und Musik ist die Hauptbedingung. Die
Mittel sind bedeutend und selbst die untere Ostroggbeamtenschaft wird
bewirtet. Das zieht sich dann oft durch mehrere Tage hin. Natürlich ist
der vorrätige Branntwein bald ausgetrunken: dann geht der Schwelger zu
den anderen „Schenkwirten“, die darauf nur warten, und trinkt so lange
weiter, bis er nichts mehr hat. Wie sorgfältig nun die übrigen
Arrestanten den Durchgänger auch bewachen mögen, er fällt zuweilen doch
den höheren Vorgesetzten auf, dem Major oder dem wachhabenden Offizier.
Er wird auf die Wache gebracht, sein Geld wird ihm abgenommen, falls man
welches bei ihm findet, und dann wird er zum Schluß noch geknutet. Ist
das vorüber, schüttelt er sich, kehrt in den Ostrogg zurück und nach ein
paar Tagen macht er sich von neuem an seine Tätigkeit als
Branntweinverkäufer.

Einige der Prasser – selbstverständlich nur die reicheren – denken auch
an das schöne Geschlecht. Für viel Geld gelangen sie bisweilen heimlich,
statt zur Arbeit zu gehen, aus der Festung an irgend einen Ort in der
Vorstadt, natürlich in Begleitung eines bestochenen Eskortesoldaten.
Dort wird dann in irgend so einem kleinen unscheinbaren Häuschen,
gewöhnlich ganz am äußersten Rande der Stadt, ein rauschendes Fest
gefeiert und werden in der Tat große Summen verjubelt. Für Geld
verachtet man selbst einen Arrestanten nicht; der Soldat aber ist
wohlweislich ausgesucht und in alles eingeweiht. In der Regel sind
solche Soldaten selbst – zukünftige Kandidaten für den Ostrogg. Übrigens
kann man für Geld alles tun und ähnliche Vergehen werden fast nie
aufgedeckt. Nur muß ich hinzufügen, daß sie sehr selten sind; dazu ist
viel Geld erforderlich und die Liebhaber des schönen Geschlechts
bedienen sich meistens anderer Mittel, die ganz ungefährlich sind.

Schon in den ersten Tagen meines Ostrogglebens erweckte ein junger
Arrestant, ein, ich möchte sagen, ganz reizender kleiner Knabe,
besonderes Interesse in mir. Er hieß Ssirotkin und war in vieler
Beziehung ein recht rätselhaftes Wesen. Zuerst frappierte mich nur sein
außerordentlich schönes Gesicht; er war höchstens dreiundzwanzig Jahre
alt. Er war Zwangsarbeiter der „besonderen“ Abteilung, d. h., ein
„ewiger“, dessen Strafzeit nicht festgesetzt war, folglich mußte er ein
schwerer militärischer Verbrecher sein. Ein stiller, sanfter Junge war
es, der wenig sprach und nur sehr selten lachte. Er hatte blaue Augen,
regelmäßige Züge, ein zartes ganz sauberes Gesicht und ganz hellbraunes
Haar. Selbst der nur zur Hälfte abrasierte Kopf verunstaltete ihn nicht:
ein so reizender Junge war er. Ein Handwerk verstand er nicht und er
suchte sich auch keine Beschäftigung, Geld aber verschaffte er sich,
wenn auch nicht viel, so doch oft. Er war auffallend faul und ging
nachlässig und unsauber gekleidet, es sei denn, daß ein anderer ihn
einmal hübsch kleidete, womöglich in ein rotes Hemd – dann war Ssirotkin
sichtlich froh darüber: ging in die Kasernen und zeigte sich. Er trank
weder, noch spielte er Karten, noch fing er mit einem Menschen Streit
an. Zuweilen sah man, wie er hinter den Kasernen einherging, die Hände
in den Hosentaschen, friedlich, nachdenklich ... Worüber er nachdenken
mochte, war schwer sich vorzustellen. Rief jemand, so antwortete er
sofort und sogar gewissermaßen ehrerbietig, jedenfalls nicht nach
Arrestantenart, aber immer kurz, ungesprächig, nicht mitteilsam wie die
anderen; und ansehen tat er einen, als wäre er ein zehnjähriges Kind.
Hatte sich etwas Geld bei ihm eingefunden, so kaufte er sich niemals
etwas Notwendiges – er würde nie seine Joppe ausbessern lassen oder neue
Stiefel sich anschaffen, sondern sich stets ein Semmelchen kaufen, einen
Kalatsch oder einen Pfefferkuchen und ihn aufessen, – ganz als wäre er
sieben Jahre alt.

„Ach du, Ssirotkin!“ sagten zu ihm nicht selten die Sträflinge, „du
Kasaner Waisenknabe!“ In der arbeitsfreien Zeit hielt er sich gewöhnlich
in fremden Kasernen auf. Alle waren mit einer eigenen Arbeit
beschäftigt, nur er allein hatte nichts zu tun. Sagte man etwas zu ihm,
gewöhnlich um sich über ihn lustig zu machen (über ihn lachten selbst
seine Freunde), – so kehrte er um und ging, ohne ein Wort zu sagen, in
eine andere Kaserne, zuweilen aber, wenn man ihn schon gar zu sehr
verspottete, errötete er. Oftmals fragte ich mich: für welches Vergehen
mag wohl dieses friedsame, gutmütige Wesen in den Ostrogg gekommen sein?

Einmal lag ich im Hospital, im Arrestantensaal. Ssirotkin war
gleichfalls krank und lag neben mir. Gegen Abend kamen wir in ein
Gespräch; ich glaube, es kam ganz zufällig: er wurde plötzlich
gesprächig und so erzählte er mir auch, wie man ihn unter die Soldaten
gesteckt hatte, wie seine Mutter, von der er noch begleitet worden war,
geweint habe und wie schwer es unter den Rekruten gewesen sei. Er sagte,
er habe das Rekrutenleben auf keine Weise ertragen können, weil alle
dort so böse und streng ausgesehen hätten, und die Kommandeure seien mit
ihm immer unzufrieden gewesen.

„Wie endete es denn?“ fragte ich. „Weswegen bist du denn hierher
geschickt worden? Und noch in die besondere Abteilung ... Ach du
Ssirotkin, Ssirotkin!“

„Ja, ich war im ganzen nur ein Jahr im Bataillon, Alexander Petrowitsch;
hierher aber kam ich dafür, daß ich Grigorij Petrowitsch, meinen
Kompagniechef, getötet habe.“

„Das habe ich schon gehört, Ssirotkin, aber ich glaube es nicht. Nun sag
doch, wen hast du wohl zu töten vermocht?“

„Es kam so – Alexander Petrowitsch. Es wurde mir gar zu schwer.“

„Aber wie leben denn die anderen Rekruten? Natürlich – anfangs fällt es
schwer, dann aber gewöhnt man sich und ehe du dich dessen versiehst,
hast du einen prächtigen Soldaten vor dir. Dich hat wahrscheinlich deine
Mutter zu sehr verhätschelt, mit Pfefferkuchen und Milch bis zum
achtzehnten Jahre gefüttert.“

„Mein Mutterchen hat mich wohl sehr geliebt, das ist wahr. Als ich unter
die Rekruten ging, da hat sie sich hingelegt und wie ich gehört, ist sie
nicht mehr aufgestanden ... Bitter wurde es mir zum Schluß bei den
Rekruten. Der Kommandeur liebte mich nicht, für alles bestrafte er, –
und für was? Ich gehorchte allen, lebte akkurat, trank kein Gläschen,
eignete mir nichts Fremdes an, denn das ist eine schlimme Sache,
Alexander Petrowitsch, wenn der Mensch etwas Anstößiges tut. Alle um
mich herum sind solche Hartherzige, – nirgend etwas, wo man hätte weinen
können. Dann geht man einmal hinter eine Ecke und weint sich da aus ...
Und einmal stand ich Wache. Es war schon Nacht. Ich hatte den anderen
Posten abgelöst und stand neben dem Schildwachhäuschen. Der Wind ging:
es war Herbst und die Nacht war so finster, daß du dir die Augen
zerreißen konntest, und doch nichts gesehen hättest. Und da wurde mir so
traurig ums Herz! Da nahm ich mein Gewehr, nahm das Bajonett ab, legte
es neben mich; zog den rechten Stiefel aus, setzte das Gewehr gerade vor
mich hin, beugte mich mit der Brust auf die Mündung und drückte mit der
großen Zehe auf den Hahn. Was aber sehe ich? – ich bin nicht erschossen!
Das Gewehr hat versagt. Ich untersuchte alles ganz genau, reinigte das
Zündloch, schüttete neues Pulver dazu, schlug den Feuerstein etwas ab,
und setzte die Mündung wieder auf die Brust. Aber was? Das Pulver
flammte auf, aber der Schuß versagte wieder! Was ist das, denke ich!
Nahm und zog mir den Stiefel an, setzte wieder das Bajonett auf,
schweige und gehe wieder auf und ab. Und da beschloß ich denn: einerlei
wohin, aber nur heraus aus den Rekruten. Nach einer halben Stunde kommt
der Kommandeur; er machte die Runde. Er kommt gerade auf mich zu: ‚Steht
man so auf Posten?‘ schreit er. Da nahm ich das Gewehr und stieß ihm das
Bajonett bis an den Lauf in die Brust ... Viertausend Spießruten und
dann hierher, in die besondere Abteilung ...“

Er log nicht. Aus welchem Grunde wäre er auch sonst in der besonderen
Abteilung gewesen? Gewöhnliche Verbrecher werden nicht so schwer
bestraft. Ssirotkin war übrigens der einzige unter seinen
Schicksalsgenossen, der so hübsch war. Die übrigen, etwa fünfzehn an der
Zahl, – die anzusehen war geradezu sonderbar: nur zwei oder drei
Gesichter waren erträglich; die anderen dagegen alle so unansehnlich,
häßlich, schmutzig; einige unter ihnen waren schon ergraut. Wenn es die
Umstände erlauben, werde ich noch einmal bei Gelegenheit ausführlicher
auf diese Schar zu sprechen kommen. Ssirotkin stand sich oft sehr gut
mit Gasin, – von dem ich zu Anfang dieses Kapitels erzählte, wie er
betrunken in die Küche gestürzt kam, was meine anfängliche Vorstellung
vom sibirischen Sträflingsleben so gänzlich verwirrte.

Dieser Gasin war eine grauenvolle Kreatur. Auf alle machte er einen
entsetzlichen, quälenden Eindruck. Es schien mir immer, daß es nichts
geben könne, das tierischer, monströser wäre, als er. Ich habe in
Tobolsk den berüchtigten Verbrecher Kamenjeff gesehen und später den
entlaufenen Soldaten und Raubmörder Ssokoloff, doch keiner von ihnen hat
einen so abstoßenden Eindruck auf mich gemacht, wie Gasin. Es schien mir
zuweilen, wenn ich ihn sah, als hätte ich vor mir eine ungeheure
Riesenspinne, ein Insekt von Menschengröße.

Er war Tatar, war unheimlich stark, der stärkste von allen im Ostrogg;
mittelgroß, von herkulischer Gestalt mit einem scheußlichen,
unproportional großen Kopf; er ging gekrümmt und blickte absonderlich
unter der Stirn hervor, durch die struppigen Augenbrauen. Im Ostrogg
erzählte man seltsame Geschichten über ihn: man wußte, daß er früher
Soldat gewesen war, doch die Sträflinge sprachen untereinander – ich
weiß nicht, ob es wahr ist –, er sei ein Entsprungener aus Nertschinsk;
nach Sibirien sei er nicht nur einmal verschickt worden, entsprungen sei
er gleichfalls nicht nur einmal, seinen Namen habe er schon oft
gewechselt und zum Schluß war er in unseren Ostrogg, in die besondere
Abteilung gekommen, – das war Tatsache. Außerdem erzählte man sich noch,
daß er früher mit besonderer Vorliebe kleine Kinder erdrosselt habe,
einzig zu seinem Vergnügen: er habe das Kind irgendwohin an einen
passenden Ort gelockt, habe es zuerst geängstigt, gequält und erst dann,
nachdem er sich genügend an dem Entsetzen und den Qualen seines armen
kleinen Opfers geweidet, habe er es ruhig, langsam und mit Hochgenuß
ermordet. Ich weiß nicht, ob alle diese Erzählungen auf Wahrheit
beruhten oder im Ostrogg unter dem schweren, unheimlichen Eindruck, den
er auf alle und jeden machte, erfunden worden waren, jedenfalls aber
paßten sie zu ihm und schienen glaubwürdig, wenn man ihn und sein
Gesicht kannte. Indessen führte er sich im Ostrogg, wenn er nicht
betrunken war, also an allen Tagen mit Ausnahme seiner Trinkzeit oder
seines Festes, sehr vernünftig auf. Er war immer sehr still, schimpfte
niemals und vermied jeden Streit, tat dies aber gleichsam aus Verachtung
der anderen, weil er sich für höher hielt, als alle. Und auch seine
Schweigsamkeit war gleichsam vorsätzlich, er schien mit Absicht
unmitteilsam zu sein. Alle seine Bewegungen waren langsam, ruhig,
selbstbewußt. An seinen Augen sah man, daß er nichts weniger als dumm
und obendrein noch ungewöhnlich schlau war; doch stets lag etwas
hochmütig Spöttisches und Grausames in seinem Gesicht und in seinem
Lächeln. Er handelte mit Branntwein und war einer der reichsten
„Schenkwirte“ im Ostrogg. Doch zweimal im Jahre pflegte er sich selbst
zu betrinken, und dann erst, wenn er betrunken war, zeigte sich die
ganze Bestialität seiner Natur. Sein Rausch nahm nur langsam zu, und das
erste war dann, daß er die anderen zu necken anfing, und zwar nach und
nach mit den boshaftesten Spötteleien, die alle wohl erwogen und
gleichsam schon vorher von ihm erdacht worden waren. Mit der Zeit aber
geriet er in furchtbare Wut, die sich mit der zunehmenden Trunkenheit
soweit steigerte, daß er plötzlich sein Messer hervorzog und sich auf
die Menschen stürzte. Die anderen, die seine ungeheure Kraft kannten,
liefen vor ihm fort und versteckten sich, denn er stürzte sich auf
jeden, der ihm entgegenkam. Bald aber fand man ein Verfahren, ihn zu
bewältigen. Ungefähr zehn Mann stürzten sich alle mit einemmal auf ihn
und begannen ihn mit den Fäusten zu bearbeiten. Grausameres als diese
Schläge kann man sich nicht gut denken: man schlug ihn auf die Brust,
den Kopf, den Magen, in die Herzgrube, man schlug lange und mit aller
Kraft und hörte nicht vorher auf, bis er bewußtlos wurde und wie ein
Toter am Boden lag. Einen anderen Menschen würde man niemals gewagt
haben, so zu schlagen, denn das wäre gleichbedeutend mit totschlagen
gewesen – nur bei Gasin war es das nicht. Hatte man es endlich so weit
mit ihm gebracht, daß er bewußtlos war, so wurde er in seinen Halbpelz
eingewickelt und auf seine Pritsche getragen. – „Wird sich schon
ausliegen,“ hieß es, d. h., durch das Liegen wieder erholen. Und in der
Tat, am nächsten Morgen erhob er sich so gut wie gesund und begab sich
wieder schweigend und mürrisch zur Arbeit. Und jedesmal, wenn Gasin sich
betrank, wußte der ganze Ostrogg, daß der Tag für ihn mit Schlägen enden
würde. Das wußte er übrigens auch selbst, aber trotzdem betrank er sich.

So vergingen mehrere Jahre; schließlich bemerkte man, daß Gasin etwas
zusammensank. Bald klagte er auch über verschiedene Schmerzen und
magerte sichtlich ab; immer häufiger kam er ins Lazarett ... „Hat sich
endlich ergeben,“ sagten die Arrestanten unter sich.

Jetzt also trat er in die Küche, begleitet von jenem kleinen häßlichen
Polen, der von ihm als „Musikkapelle“ gemietet war, um noch das Seine
zur Fülle des Genusses beizutragen, – trat ein und blieb mitten in der
Küche stehen, während er stumm und aufmerksam alle Anwesenden musterte.
Alles verstummte. Da erblickte er mich und meinen Kameraden: er sah uns
gehässig und spöttisch an, lächelte selbstzufrieden, schien so etwas wie
zu überlegen und plötzlich trat er stark wankend an unseren Tisch:

„Darf ich fragen,“ begann er, – er sprach russisch und sogar gutes
Russisch, obgleich er Tatar war – „welche Einkünfte es euch gestatten,
hier Tee zu trinken?“

Ich tauschte mit meinem Kameraden schweigend einen Blick aus und
verstand ihn sofort: daß es am ratsamsten war, zu schweigen und ihm
nichts zu antworten. Schon das erste Wort hätte ihn rasend gemacht.

„Also habt ihr Geld?“ fuhr er fort zu fragen. „Also einen ganzen Haufen
Geld – wie? Seid ihr also deswegen in die Kátorga gekommen, um hier Tee
zu schlemmen? Ihr seid also nur zum Teetrinken hergekommen? So antwortet
doch, daß euch der! ...“

Als er aber begriff, daß wir uns entschlossen hatten, zu schweigen und
ihn nicht zu bemerken, wurde er rot vor Wut und erbebte am ganzen
Körper. Nicht weit von ihm stand in der Ecke ein großer Brotkasten, etwa
in der Form eines Troges, in den das ganze aufgeschnittene Brot für das
Mittag- oder Abendessen der Sträflinge hineinkam. Er war so groß, daß
das Brot für den halben Ostrogg in ihn hineinpaßte, war aber in dem
Augenblick leer. Diesen Kasten ergriff nun Gasin mit beiden Händen und
erhob ihn über uns – noch ein Augenblick, und er hätte uns die Schädel
zerschmettert.

Doch ungeachtet dessen, daß ein Totschlag, oder der Versuch eines
solchen für den ganzen Ostrogg sehr unangenehme Folgen hatte, –
Untersuchungen, Durchsuchungen, strengere Aufsicht usw. – und es im
Interesse eines jeden lag, ähnliches zu verhüten, blieben diesmal alle
stumm und rührten sich nicht. Kein Wort zu unserer Verteidigung! Kein
Ruf an Gasin! – so groß war ihr Haß gegen uns. Unsere gefährliche
Situation war ihnen offenbar sehr angenehm ... Aber die drohende Gefahr
ging noch glücklich vorüber: im Augenblick, da er den Kasten auf uns
niederschleudern wollte, schrie plötzlich jemand aus dem Flur ihm zu:

„Gasin! Dein Branntwein ist gestohlen!“

Er schleuderte den Kasten zu Boden und stürzte wie ein Irrsinniger
hinaus.

„Nun, diesmal hat Gott selbst euch gerettet!“ sagten die Sträflinge.

Und noch lange sagten sie es immer wieder.

Leider konnte ich es nicht erfahren, ob diese Nachricht von dem
gestohlenen Branntwein auf Tatsache beruhte oder rechtzeitig zu unserer
Rettung erfunden worden war.

Am Abend, als es bereits dunkel war, ging ich noch, kurz bevor die
Kasernen zugeschlossen wurden, am Palissadenzaun umher und eine tiefe
Schwermut legte sich auf meine Seele. Niemals wieder habe ich während
meines ganzen Gefängnislebens eine so große Schwermut empfunden. Der
erste Tag der Gefangenschaft ist überall schwer: gleichviel ob im
Ostrogg, in der Kasematte oder in der Kátorga ... Aber – ich erinnere
mich – mehr als alles andere beschäftigte mich ein Gedanke, der mich
auch später während der ganzen Zeit im Ostrogg unablässig verfolgt hat,
– eine teilweise unlösbare Frage, die auch jetzt noch für mich unlösbar
ist, und die doch einmal Wirklichkeit werden muß: das ist die notwendige
Ungleichheit der Strafen für ein und dasselbe Verbrechen.

In der Regel läßt sich kein einziges Verbrechen mit einem anderen
vergleichen, nicht einmal annähernd. Zum Beispiel: dieser und jener
haben einen Menschen ermordet; alle Umstände beider Verbrechen sind
erwogen worden; und für dieses wie jenes Verbrechen wird fast dieselbe
Strafe auferlegt. Indessen aber – sehe man doch nur genauer hin, welch
ein Unterschied zwischen diesem und jenem Verbrechen ist. Der eine zum
Beispiel hat einen Menschen um nichts und wieder nichts ermordet, sagen
wir, um eine Zwiebel: er ging auf die Landstraße, ermordete einen
vorüberfahrenden Bauer, der aber hatte im ganzen nur eine Zwiebel bei
sich.

„Was nun, Väterchen,“ sagt der Verbrecher zum Geistlichen, „du hast mich
zum Erwerb ausgesandt, da habe ich nun einen Bauer erschlagen und dafür
nur eine Zwiebel gefunden.“ – „Dummkopf! Eine Zwiebel ist eine Kopeke,
hundert Seelen machen hundert Zwiebeln aus – da hast du einen Rubel
weg.“ (Eine Ostrogglegende.)

Der andere aber hat gemordet, um die Ehre seiner Braut, seiner Schwester
oder seiner Tochter vor einem wollüstigen Schurken zu schützen. Ein
dritter hat als Vagabund erschlagen, verfolgt von einer ganzen Schar von
Häschern, hat erschlagen, um seine Freiheit, sein Leben zu verteidigen,
nicht selten angesichts des Hungertodes. Und ein vierter mordet kleine
Kinder aus bloßer Lust am Morden, um ihr warmes Blut über seine Hände
fließen zu fühlen, um sich an ihrer Angst, an ihrem Zittern unter dem
Messer – zu ergötzen. Und? Dieser wie jener kommen in dieselbe Kátorga.

Allerdings: es gibt Unterschiede in der Zeit der Strafe. Aber diese
Unterschiede sind verhältnismäßig gering, – bei ein und derselben Art
von Verbrechen dagegen ist der Unterschied oft so groß, daß man sie
überhaupt nicht miteinander vergleichen kann. Jeder Charakter enthält
schon den Unterschied. Doch nehmen wir an, daß es unmöglich wäre, diesen
Unterschied auszugleichen, daß dieser Unterschied in seiner Art eine
ebenso unlösbare Aufgabe sei, wie die Quadratur des Kreises – nehmen wir
an, daß es so ist. Aber selbst wenn es diesen Unterschied nicht gäbe, –
so betrachte man doch den anderen Unterschied – den in den Folgen der
auferlegten Strafe ...

Da haben wir einen Menschen, der in der Kátorga hinsiecht, der geradezu
wie ein Licht verbrennt; und da haben wir einen anderen, der vor seinem
Eintritt in die Kátorga überhaupt nicht gewußt hat, daß es in der Welt
ein so lustiges Leben, einen so angenehmen Klub verwegener Gesellen
gibt. Ja, auch solche kommen in den Ostrogg ... Da haben wir zum
Beispiel einen gebildeten Menschen mit entwickeltem Bewußtsein, Herzen
und Gewissen. Schon der Schmerz seines eigenen Herzens bringt ihn
bereits vor jeder Strafe durch seine Qualen um. Er wird sich für seine
Verbrechen schonungsloser, unbarmherziger selbst verurteilen, als es
jedes strafende Gesetz tun könnte. Und neben ihm ein anderer, der
während seiner ganzen Zwangsarbeit auch nicht ein einziges Mal an den
von ihm begangenen Mord denkt. Er hält sich womöglich noch für völlig
schuldlos. Und es gibt auch solche, die absichtlich Verbrechen begehen,
nur um in einen Ostrogg zu gelangen, und auf diese Weise von der
verhältnismäßig viel größeren Zwangsarbeit in der Freiheit erlöst zu
sein. Dort hat er in der größten Erniedrigung gelebt, nie sich sattessen
gekonnt und für seinen Arbeitgeber vom Morgen bis zum Abend gearbeitet;
im Ostrogg aber ist die Arbeit leichter, zu essen hat er soviel er will,
und noch dazu ein Essen, wie er es früher nie gesehen hat; an Feiertagen
Rindfleisch, milde Gaben und außerdem die Möglichkeit, sich immer noch
ein paar Kopeken zu verdienen.

Und die Gesellschaft, in die er kommt? Ein in allem beschlagenes,
gewandtes, alles kennendes und könnendes Volk: er sieht mit der
respektvollsten Verwunderung zu seiner neuen Umgebung empor; er hält sie
für die allerhöchste Gesellschaft, die es in der Welt nur geben kann!

Sollte nun wirklich die Bestrafung für diese zwei Menschen in gleichem
Maße fühlbar sein?

Doch übrigens, wozu sich mit unlösbaren Fragen abgeben! Die Trommel
ertönt, es ist Zeit, in die Kaserne zu gehen.


                                  IV.

                   Die ersten Eindrücke, Fortsetzung

Die letzte Revision. Dann geht es in die Kasernen. Jede Tür hat ein
besonderes Schloß und die Arrestanten sind bis zum nächsten Morgenrot
eingeschlossen.

Die Revision wird von einem Unteroffizier und zwei Soldaten vorgenommen.
Zuweilen wurden alle Arrestanten auf dem Hof aufgestellt und dann wohnte
der wachhabende Offizier der Zählung bei. Größtenteils aber wurde diese
Zeremonie unzeremonieller erledigt: man revidierte jede Kaserne einzeln.
So war es auch an jenem Tage. Die Soldaten verzählten sich mehr als
einmal, gingen und kehrten von neuem zurück. Endlich, nachdem sie die
gewünschte Anzahl zusammengezählt hatten, wurde die Kaserne
verschlossen. In ihr blieben an dreißig Menschen, die alle ziemlich eng
auf der langen Pritsche zusammengepfercht waren. Zum Schlafen war es
noch zu früh. So mußte sich ein jeder mit irgend etwas beschäftigen.

Von Beamten oder Wachen blieb in der Kaserne nur ein Invalide zurück.
Außerdem gab es in jeder Kaserne noch einen Ältesten von den
Arrestanten, der von dem Platzmajor persönlich eingesetzt war,
selbstverständlich als Belohnung für gute Aufführung. Es kam aber nicht
selten vor, daß auch die Ältesten an gefährlichen Streichen mitbeteiligt
waren; dann wurden sie geknutet, ohne weiteres zu Gemeinen degradiert
und durch andere, würdigere ersetzt.

In unserer Kaserne war der Älteste Akim Akimytsch, der zu meiner nicht
geringen Verwunderung von Zeit zu Zeit die Sträflinge zur Ruhe verwies,
wofür jene ihn in der Regel mit spöttischen Bemerkungen bedachten. Der
Invalide war klüger als er und mischte sich in nichts ein, kam es aber
einmal dazu, daß er seine Zunge in Bewegung setzte, so sagte er
gewissermaßen nur anstandshalber ein paar Worte, um vor seinem Gewissen
seine Pflicht zu erfüllen. Schweigend saß er sonst auf seinem Lager und
nähte an einem Stiefel.

An jenem ersten Tage meines Ostrogglebens machte ich eine Beobachtung,
von deren Richtigkeit, mich völlig zu überzeugen, ich späterhin Zeit und
Gelegenheit hatte. Nämlich: daß alle Nichtarrestanten, wer sie auch sein
mögen, angefangen selbst von denen, die mit den Arrestanten in
unmittelbarer Verbindung stehen (wie zum Beispiel die Eskortesoldaten,
die Wachen und Schildwachen), bis zu allen, die nur irgend welche
Beziehungen zum Ostroggleben haben – daß alle übertrieben mißtrauisch
auf die Arrestanten sehen, ganz als erwarteten sie jeden Augenblick, daß
der Arrestant sich sogleich mit einem Messer auf einen von ihnen stürzen
werde. Doch das bemerkenswerteste dabei war – die Arrestanten wußten es
selbst – daß man sie fürchtete, und dieses Bewußtsein verlieh ihnen so
etwas wie größeren Mut. Indessen ist der beste Kommandeur für sie gerade
ein solcher, der sie nicht fürchtet. Ja, und überhaupt ist es ihnen viel
angenehmer, wenn man Zutrauen zu ihnen hat – sogar trotz des wachsenden
Mutes im anderen Fall. Damit kann man sogar ihre Neigung erwerben.

Es kam zuweilen auch zu meiner Zeit vor, wenn auch nur sehr selten, daß
einer der Offiziere den Ostrogg ohne Begleitmannschaft betrat. Da hätte
man sehen sollen, wie das den Arrestanten imponierte, wie verwundert sie
zuerst waren, und einen wie guten Eindruck es auf sie machte. Ein solch
furchtloser Besucher erweckte stets Achtung für sich, und selbst wenn
etwas Schlimmes sich hätte ereignen können – in seiner Gegenwart wäre es
nicht geschehen. Die Arrestanten flößen überall Angst ein, wo sie auch
sein mögen, und ich weiß wirklich nicht, was im Grunde die Veranlassung
dazu gibt. Natürlich liegt einige Veranlassung dazu schon allein in der
äußeren Erscheinung des gekennzeichneten Verbrechers. Außerdem fühlt ein
jeder, der sich dem Ostrogg nähert, daß dieser ganze Menschenhaufe nicht
aus eigenem Willen an diesem Ort zusammenlebt, und daß man einen
lebendigen Menschen ungeachtet aller Vorkehrungen und Gewalt nicht zu
einem lebenden Leichnam machen kann: er behält trotz allem Gefühle,
Rachedurst und Lebensdurst, und Leidenschaften und mit diesen auch das
Bedürfnis, sie zu befriedigen. Aber nichtsdestoweniger bin ich
überzeugt, daß man die Arrestanten ganz grundlos fürchtet. Der Mensch
wirft sich nicht so leicht und so schnell mit einem Messer auf einen
anderen Menschen. Mit einem Wort, selbst wenn auch Gefahr vorhanden
wäre, selbst wenn sie mitunter auch in der Tat vorhanden ist, so kann
man doch bereits aus der Seltenheit solcher Vorfälle ersehen, wie gering
sie in Wirklichkeit ist. Versteht sich, ich rede hier nur von
verurteilten Arrestanten, von denen viele sogar froh sind, daß sie
endlich in den Ostrogg hineingelangt – so schön ist bisweilen ein neues
Leben! – und folglich ruhig und friedlich zu leben geneigt sind; und
außerdem würden sie auch den wirklich unruhigen Elementen unter sich
nicht gar zu viel Sprünge erlauben. Jeder Zwangsarbeiter fürchtet die
Gesamtheit – gleichviel, wie furchtlos und unbekümmert um die anderen er
auch sein mag. Der unter Anklage stehende Sträfling dagegen ist eine
ganz andere Sache. Dieser ist tatsächlich fähig, sich auf einen Menschen
zu stürzen, der ihm nichts getan hat, und zwar einzig aus dem Grunde,
weil er morgen für irgend ein Vergehen bestraft werden soll, der neue
Frevel aber die Strafe hinausschiebt, bis die Sache untersucht ist. Hier
aber gibt es doch immerhin eine Ursache und einen Zweck, warum er einen
anderen anfällt, – das ist: „sein Schicksal zu verändern,“ wie sie
sagen, was es auch koste, und zwar möglichst schnell. Ich selbst
erinnere mich eines psychologisch sehr seltsamen Vorfalls in dieser Art.

In der Militärabteilung unseres Ostrogg gab es einen Arrestanten, einen
von den Soldaten, der nicht seiner bürgerlichen Rechte beraubt und nur
auf zwei Jahre verschickt war – ein entsetzlicher Prahler und ein
bemerkenswerter Feigling. Im allgemeinen trifft man Prahlsucht und
Feigheit äußerst selten beim russischen Soldaten. Unser Soldat sieht
immer so beschäftigt aus, daß er, selbst wenn er prahlen wollte, keine
Zeit dazu hätte. Ist er aber einmal ein Prahler, so ist er sicherlich
auch faul und feige.

Dutoff – so hieß der Arrestant – hatte endlich seine kurze Strafzeit
„abgelebt“ und war darauf wieder in sein Linienbataillon zurückgekehrt.
Da aber alle gleich ihm in den Ostrogg zur Besserung geschickten
Soldaten in der Gefangenschaft endgültig verderben, so kommt es
gewöhnlich so, daß sie nach zwei bis drei Wochen in der Freiheit für ein
neues Vergehen wiederum verurteilt werden und wieder in den Ostrogg
zurückkehren, nur mit dem Unterschiede, daß sie dann nicht auf zwei oder
drei Jahre, sondern in die „ewige“ Abteilung, auf fünfzehn bis zwanzig
Jahre kommen.

So geschah es auch hier.

In der dritten Woche nach seinem Austritt aus dem Ostrogg hatte Dutoff
einen Diebstahl begangen; außerdem hatte er einem Offizier grob
geantwortet und in der Kaserne Unfug getrieben. Er kam vors Gericht und
wurde zu einer schweren Strafe verurteilt. Die bevorstehenden Spießruten
flößten ihm aber einen solchen Schrecken ein, er fürchtete sich wie der
letzte Feigling dermaßen vor ihnen, daß er sich am Tage vor dem
Spießrutenlaufen mit einem Messer auf den die Strafkammer betretenden
wachhabenden Offizier stürzte. Natürlich wußte er sehr gut, daß man für
ein solches Vergehen seine Strafe um ein Bedeutendes erschweren und die
Dauer seiner Zwangsarbeit verlängern würde. Aber seine ganze Berechnung
bestand darin, wie er den furchtbaren Augenblick der Spießrutenstrafe
wenigstens auf ein paar Tage, oder auch nur auf ein paar Stunden
hinausschieben könnte! Er war dermaßen feige, daß er den Offizier nicht
einmal mit dem Messer verletzte, sondern den ganzen Überfall nur ^pro
forma^ machte, nur zu dem Zweck, um eines neuen Vergehens schuldig zu
sein, für das man ihn vorläufig in strenge Untersuchungshaft nehmen
würde, durch die dann die andere Strafe noch hinausgeschoben werden
mußte.

Der Augenblick vor dem Spießrutenlaufen ist natürlich entsetzlich für
den Verurteilten. Ich habe in den Jahren meines Ostrogglebens oft genug
Gelegenheit gehabt, Verurteilte am Tage vor ihrer Bestrafung zu sehen.
Und gewöhnlich traf ich mit den Bestraften im Lazarett zusammen, wenn
ich wieder einmal krank war, was ziemlich oft vorkam. In ganz Rußland
weiß jeder Arrestant, daß die mitfühlendsten Menschen für sie die Ärzte
sind. Niemals machen sie mit den Verbrechern einen Unterschied, wie es
sonst fast alle Menschen tun, ausgenommen nur das einfache Volk. Dieses
wird niemals den Arrestanten wegen seines Verbrechens tadeln, wie
entsetzlich das Begangene auch sein mag, und verzeiht ihm alles für die
empfangene Strafe und überhaupt für sein Unglück. Nicht umsonst nennt
das Volk in ganz Rußland das Verbrechen „Unglück“ und den Verbrecher
einen „Unglücklichen“. Das ist eine tiefbedeutsame Bezeichnung für seine
Auffassung des Verbrechens, und sie ist um so wichtiger, als sie ganz
unbewußt, ganz instinktiv erfolgt. Die Ärzte sind in vielen Fällen die
einzige Zuflucht der Arrestanten, besonders aber derjenigen von ihnen,
die wegen eines neuen Vergehens vor Gericht stehen und die viel strenger
gehalten werden, als die bereits Bestraften ... So ging denn der
Arrestant, wenn er den voraussichtlichen Termin des furchtbaren Tages
berechnet hatte, zum Unteroffizier und meldete sich krank, damit man ihn
ins Lazarett führte und der schwere Augenblick noch etwas
hinausgeschoben wurde, – wenn auch nur auf ein paar Tage. Ließ er sich
dann wieder ausschreiben und kehrte er in den Ostrogg zurück, so konnte
er fast mit Sicherheit annehmen, daß die verhängnisvolle Stunde ihn am
nächsten Tage erwartete, und war daher die ganze Zeit mächtig erregt. In
der Regel sind die Arrestanten bemüht, ihre Gefühle aus Stolz zu
verbergen, doch vermag ihre vorgespiegelte, peinlich erzwungene
Munterkeit keinen einzigen Kameraden zu täuschen. Diese begreifen nur zu
gut, um was es sich handelt und schweigen aus Nächstenliebe. Ich kannte
einen jungen Mörder, einen ehemaligen Soldaten, der zur vollen Anzahl
Hiebe verurteilt war. Seine Angst war aber so groß, daß er sich am Abend
vorher entschloß, einen Krug Branntwein, in den er Schnupftabak
hineingetan hatte, auszutrinken. – Übrigens muß ich hier noch bemerken,
daß der vor der Bestrafung stehende Arrestant sich unbedingt Branntwein
verschafft; er wird schon lange vor dem Termin besorgt und mit schwerem
Gelde bezahlt. Der Verurteilte würde sich eher ein halbes Jahr lang das
Allernotwendigste versagen, doch unbedingt die erforderliche Summe für
einen halben Liter Branntwein zusammensparen, um sich eine Viertelstunde
vor der Bestrafung ein wenig betrinken zu können. Die Arrestanten waren
der Meinung, daß ein Betrunkener die Knute oder den Stock nicht so
schmerzhaft fühle, wie ein Nüchterner. Der arme Teufel trank tatsächlich
seinen Krug mit Branntwein und Schnupftabak aus und wurde dann auch
richtig krank: er begann entsetzlich zu erbrechen, erbrach Blut und
Galle und wurde halb besinnungslos ins Lazarett geschafft. Dieses
Erbrechen hatte aber seine Brust so angegriffen, daß schon nach wenigen
Tagen Anzeichen einer richtigen Schwindsucht konstatiert wurden, an der
er nach sechs Monaten starb. Die Ärzte, die ihn während seiner
Schwindsucht behandelten, wußten nicht, wie er zu ihr gekommen war.

Da ich von dem so häufig bemerkten Kleinmut der Verbrecher vor der
Bestrafung schon gesprochen habe, muß ich hier noch hinzufügen, daß
andere den Beobachter wiederum durch ihre außerordentliche
Furchtlosigkeit in Erstaunen setzten. Ich entsinne mich einiger
Beispiele von Kühnheit, die geradezu an absolute Gefühllosigkeit
grenzten, und solche Beispiele waren nicht ganz selten. Besonders
erinnerlich ist mir meine Begegnung mit einem ganz berüchtigten
Verbrecher.

An einem Sommertage verbreitete sich in der Arrestantenabteilung des
Lazaretts das Gerücht, daß am Abend der „große Mörder“ Orloff, ein
entlaufener Soldat, bestraft und nachher ins Lazarett gebracht werden
würde. Die kranken Arrestanten sprachen, in der Erwartung Orloffs, viel
von ihm und waren überzeugt, daß man ihn grausam prügeln würde. Alle
waren gewissermaßen erregt und ich muß gestehen, daß auch ich dem
Erscheinen des berüchtigten Räubers mit großer Spannung entgegensah.

Lange schon hatte ich wahre Wunder von ihm erzählen gehört. Er war ein
Verbrecher, wie es deren nicht viele gibt, der kaltblütig Greise und
Kinder erdrosselte, ein Mensch von ungeheurer Willensstärke und mit
stolzem Bewußtsein seiner Kraft. Er hatte viele Morde gestanden und war
jetzt zu Spießruten verurteilt worden. Man brachte ihn erst abends. Im
Krankenraum war es bereits dunkel und man zündete das Nachtlicht an.
Orloff schien völlig bewußtlos zu sein, er sah unheimlich bleich aus. Er
hatte dichtes, ganz zerzaustes, pechschwarzes Haar. Sein Rücken war
geschwollen und war dunkelrotblau von unterlaufenem Blut. Die ganze
Nacht pflegten ihn die anderen, sie erneuerten die kalten Umschläge,
kehrten ihn von der einen Seite auf die andere, gaben ihm Medizin, ganz
als wäre er ihr Blutsverwandter gewesen oder ihr größter Wohltäter.
Schon am nächsten Tage kam er völlig zu sich, erhob sich und ging
zweimal durch den ganzen Raum! Das wunderte mich: er war gar zu
entkräftet und abgemagert ins Lazarett gebracht worden. Er hatte die
ganze Hälfte der ihm bestimmten Spießruten durchlaufen. Der Arzt hatte
erst dann Einhalt getan, als die Fortsetzung des Strafvollzuges dem
Arrestanten unvermeidlich den Tod gebracht haben würde. Außerdem war
Orloff klein von Wuchs und von schwächlicher Konstitution und hinzu kam
noch, daß die lange Untersuchungshaft ihn bedeutend entkräftet hatte.
Wer jemals in Untersuchungshaft gehaltene Arrestanten gesehn hat, wird
sich wahrscheinlich noch lange Zeit ihrer ausgemergelten, elenden,
bleichen Gesichter, ihrer fiebernden, kranken Blicke entsinnen.
Nichtsdestoweniger erholte sich Orloff sehr bald. Augenscheinlich wurde
seine Natur von seiner inneren, geistigen Energie mächtig unterstützt.
Er war in der Tat kein gewöhnlicher Mensch. Aus Neugier und auch
aufrichtigem Interesse machte ich mich näher mit ihm bekannt und
studierte ihn eine ganze Woche. Ich kann mit aller Bestimmtheit
versichern, daß ich in meinem ganzen Leben keinen Menschen mit einem
stärkeren, eiserneren Charakter gesehen habe. Ich hatte schon früher in
Tobolsk eine ähnliche Berühmtheit dieser Art gesehen, einen ehemaligen
Räuberhauptmann. Er war ein vollständig wildes Tier und man brauchte nur
neben ihm zu stehen, so fühlte man schon instinktiv, selbst wenn man
seinen Namen nicht kannte und nichts von ihm wußte, daß ein Entsetzen
erregendes Geschöpf neben einem stand. Vor allem entsetzte mich seine
geistige Stumpfheit. Die Sinnlichkeit hatte dermaßen alle seine
seelischen Eigenschaften überwuchert, daß man bereits nach dem ersten
Blick in dieses Gesicht sah, wie hier nur die eine wilde Gier nach
fleischlichen Genüssen, Wollust und sinnlicher Befriedigung vorhanden
war. Ich bin überzeugt, daß Koreneff – so hieß dieser Räuberhauptmann –
vor der Bestrafung allen Mut verloren und am ganzen Körper gezittert
haben würde, wenn er auch tausendmal fähig war, Menschen zu ermorden,
ohne mit der Wimper zu zucken. Der größte Gegensatz zu ihm war Orloff:
der war die Verkörperung der denkbar größten Selbstbeherrschung. Man sah
es ihm sofort an, daß dieser Mensch unbegrenzt über sich gebieten
konnte, daß er alle Qualen und Strafen verachtete und überhaupt nichts
fürchtete in der Welt. Man sah in ihm unbegrenzte Energie und das
unbedingte Verlangen, das ins Auge gefaßte Ziel zu erreichen. Unter
anderem setzte er mich auch durch seinen maßlosen Hochmut in Erstaunen.
Auf alles sah er bis zur Unglaublichkeit „von oben herab“, doch bemühte
er sich dabei durchaus nicht, sich gleichsam auf Stelzen zu erheben,
sondern – es geschah vollkommen natürlich von ihm. Ich glaube, es gab
kein einziges Wesen, das auf ihn mit Autorität allein einen Eindruck
hätte machen können. Auf alles pflegte er geradezu unglaublich ruhig zu
sehen, als gäbe es überhaupt nichts in der Welt, das ihn in Erstaunen
setzen könnte. Und obwohl er vollkommen begriff, daß die anderen
Arrestanten mit Achtung auf ihn sahen, so tat er doch nie groß vor
ihnen, während gerade Ruhmsucht und Eigendünkel fast allen Sträflingen
ohne Ausnahme eigen sind. Er war auffallend klug und auf eine besondere
Art aufrichtig, wenn auch durchaus nicht sehr gesprächig oder gar
schwatzhaft. Auf meine Fragen antwortete er mir ohne weiteres, daß er
nur seine Wiederherstellung abwarte, um sich so bald als möglich der
zweiten Hälfte der Strafe unterziehen zu können, und daß er zuerst, vor
dem Spießrutenlaufen, gefürchtet habe, er würde es vielleicht nicht
überleben. „Jetzt aber,“ fuhr er fort, indem er mir zublinzelte, „ist
die Sache überstanden. Ich erhalte noch die übrigen Hiebe und werde dann
mit dem nächsten Transport nach Nertschinsk abgeschickt werden,
unterwegs aber werde ich entfliehen. Das werde ich unbedingt! Wenn nur
der Rücken schneller heilte!“

Und in diesen ganzen fünf Tagen wartete er krampfhaft auf den
Augenblick, wann er sich ausschreiben lassen könnte. Inzwischen aber war
er mitunter sehr witzig und heiter. Ich versuchte mit ihm ein Gespräch
über seine Abenteuer anzuknüpfen. Er wurde etwas ungehalten bei diesem
Ausfragen, antwortete jedoch stets ganz offen. Als er aber erriet, daß
ich zu seinem Gewissen vordringen wollte und nach irgend einer, wenn
auch noch so geringen Reue forschte, da blickte er mich dermaßen
verächtlich und hochmütig an, als wäre ich in seinen Augen plötzlich zu
einem ganz kleinen dummen Knäblein geworden, mit dem man nicht wie mit
großen Menschen reden konnte. Ja, in seinem Gesicht drückte sich sogar
etwas in der Art wie Mitleid mit mir aus. Nach einem Augenblick aber
brach er in das allergutmütigste Gelächter über mich aus, ein Gelächter
ohne jegliche Ironie, und ich bin überzeugt, daß er, als er allein
zurückgeblieben war und vielleicht meiner Worte gedachte, noch mehrere
Male über mich gelacht hat. Endlich ließ er sich mit seinem noch nicht
ganz geheilten Rücken ausschreiben; auch ich wurde entlassen, und so kam
es, daß wir zusammen aus dem Lazarett zurückkehrten, – ich in den
Ostrogg, er nach der Wache neben demselben, wo er auch früher in Haft
gewesen war. Beim Abschied drückte er mir die Hand, und das war
seinerseits ein Zeichen großen Zutrauens. – Ich glaube, er tat es nur
deshalb, weil er in dem Augenblick mit sich selbst sehr zufrieden war.
Im Grunde aber konnte er mich wohl unmöglich nicht verachten, und
zweifellos mußte er auf mich wie auf ein sich unterwerfendes, schwaches,
armseliges und ein in jeder Beziehung im Vergleich zu ihm niedrigeres
Wesen herabsehen. Am nächsten Tage wurde er zum abermaligen
Spießrutenlaufen herausgeführt ...

Nachdem der Unteroffizier die Kaserne verschlossen hatte, veränderte
sich im Augenblick ihr Aussehen: sie erinnerte mit einemmal an ein Heim.
Jetzt erst konnte ich die Arrestanten, meine Kameraden, gleichsam in
ihrem Hause sehen. Tagsüber konnte der Unteroffizier, konnten die Wachen
oder der Major und die Offiziere jeden Augenblick im Ostrogg erscheinen,
und darum halten sich dann alle ganz anders, als wären sie nicht ganz
ruhig, als erwarteten sie in begreiflicher Erregung jeden Augenblick
irgend etwas Unvorhergesehenes. Kaum aber war die Tür zugeschlossen, da
machte es sich ein jeder auf seiner Pritsche bequem und fast alle hatten
dann eine eigene Arbeit. Die Kaserne wurde plötzlich hell. Jeder besaß
sein Licht und seinen Leuchter, der gewöhnlich aus Holz ist. Der eine
näht an einem Stiefel, der andere an einem Kleidungsstück. Die
verpestete Luft der Kaserne wurde mit jeder Stunde unerträglicher. Eine
kleine Gruppe Faulenzer hockte sich in einer Ecke hin, rund um einen
kleinen, auf dem Fußboden ausgebreiteten Teppich, und begann Karten zu
spielen. Fast in jeder Kaserne gab es einen Arrestanten, der einen etwa
metergroßen alten Teppich, ein Licht und ein bis zur Unkenntlichkeit
schmutziges, fettiges Spiel Karten bei sich hielt. Alles zusammen wurde
„die Spielhölle“ genannt. Der Besitzer erhielt von den Spielern fünfzehn
Kopeken für eine Nacht – das war sein Erwerb. Gespielt wurde gewöhnlich
Dreiblatt oder Gorka, jedenfalls aber nur Hazardspiele. Jeder Spieler
schüttete einen ganzen Haufen Kupfermünzen vor sich aus – sein ganzes
Kapital, – und erhob sich nicht eher, als bis er entweder alles
verspielt oder den anderen das Letzte abgerupft hatte. Das Spiel zog
sich bis in die Nacht hinein oder dauerte bis zum nächsten Morgen, nicht
selten bis zu dem Augenblick, wenn die Kaserne wieder aufgeschlossen
wurde.

In unserer wie in jeder anderen Kaserne gab es beständig Bettelarme, die
entweder alles verspielt und vertrunken hatten, oder die einfach von
Natur Bettler waren. Ich sage „von Natur“ und betone besonders dieses
Wort. In der Tat gibt es überall in unserem Volke, gleichviel in welcher
Umgebung, unter welchen Verhältnissen, gewisse sonderbare Menschen, die
gewöhnlich äußerst friedlich und nicht selten durchaus nicht faul sind,
denen es aber vom Schicksal vorher bestimmt zu sein scheint, ewig
Bettler zu bleiben. Sie sind immer „obdachlos“, sie sind immer
schmutzig, sie sehen immer verschüchtert und etwas blöde aus, durch
irgend etwas niedergedrückt, und ewig sind sie bei irgend jemand
Laufbursche, gewöhnlich bei den Prassern und Faulenzern oder auch bei
einem plötzlich Reichgewordenen und Emporgestiegenen. Jede Beachtung
oder gar Ehrenbezeugung, jede Initiative – ist für sie Leid und Plage.
Sie sind gleichsam mit der Bedingung geboren, daß sie selbst nichts
anfangen dürfen, sondern nur gehorchen, nur dienen, nicht nach eigenem
Willen leben, sondern nach fremder Pfeife tanzen, – kurz, ihre
Bestimmung ist: nur für andere zu leben. Und zur Vollendung des Ganzen
kommt noch hinzu, daß keine einzige Schicksalsveränderung sie reich
machen kann. Sie sind und bleiben immer Bettler. Ich habe aber bemerkt,
daß es solche Menschen nicht nur im einfachen Volk allein, sondern in
allen Gesellschaftsschichten, Ständen, und überhaupt bei Menschen aller
Richtungen gibt. So war es auch in jeder Kaserne, in jedem Ostrogg, und
kaum erschien die Spielhölle, da erschien auch schon einer von diesen
Leuten, um sich zu einem Dienst verwenden zu lassen. Und überhaupt
konnte ohne einen solchen Menschen kein Spielchen gemacht werden. Er
wurde gewöhnlich von den Spielern gemeinsam für die ganze Nacht gemietet
und erhielt fünf Kopeken in Silber. Seine Hauptpflicht war, die ganze
Nacht Wache zu stehen. Größtenteils fror er sechs bis sieben Stunden
lang draußen im Flur bei einer Kälte von dreißig Grad Réaumur und
lauschte auf jedes Geräusch, jeden Ton, jeden Schritt auf dem Hofe. Der
Platzmajor oder die Wachhabenden kamen zuweilen noch sehr spät in den
Ostrogg, traten leise ein und überraschten dann Spielende, Arbeitende
und die überzähligen Lichte, die man schon vom Hofe aus bemerken konnte.
Jedenfalls war es, wenn plötzlich das Türschloß kreischte, schon zu
spät, die Lichte auszulöschen, die Karten zu verstecken und sich auf den
Pritschen in Schlaf zu versenken. Da es aber in solchen Fällen dem
gemieteten Wächter von Seiten der ganzen „Spielhölle“ sehr schlecht
erging, so kamen sie auch nur sehr selten vor. Fünf Kopeken für das
Aufpassen war natürlich eine lächerlich geringe Zahlung – selbst für
einen Ostrogg; aber mich frappierte dort immer die Strenge und
Unbarmherzigkeit derjenigen, die einen anderen für Geld zu etwas
angestellt hatten. „Hast Geld genommen, so diene jetzt!“ Das war ein
Argument, das keinen Widerspruch zuließ. Für die ausgezahlten Kopeken
wurde vom anderen alles herausgeschlagen, was nur herauszuschlagen war,
wenn möglich, auch noch so und so viel auf den Kauf, und dabei glaubte
man noch, daß man dem anderen eine große Gnade erwies. Der betrunkene
Prasser, der sein Geld nach allen Seiten ungezählt verschleuderte,
nutzte seinen Mietling für weniges Geld bis aufs letzte aus und
feilschte noch bei der Bezahlung. Diesen Charakterzug habe ich aber
nicht nur im Ostrogg und nicht nur bei den Spielern daselbst
wahrgenommen.

Ich sagte schon, daß fast die ganze Kaserne sich abends mit eigener
Arbeit beschäftigte: außer den Spielern waren an jenem Abend nur noch
fünf unbeschäftigt: das waren die einzigen, die sich sogleich hinlegten
und einschliefen. Mein Platz auf der Pritsche war an der Tür. Auf der
anderen Seite der Pritsche, Kopf an Kopf mit mir, war Akim Akimytschs
Platz. Er arbeitete regelmäßig bis zehn oder elf Uhr nachts; er klebte
aus buntem Papier eine chinesische Laterne, die man in der Stadt für
recht gute Bezahlung bei ihm bestellt hatte. Solche Laternen verfertigte
er meisterhaft, und er arbeitete ohne Unterlaß. War die Arbeit beendet,
so räumte er sorgfältig alles auf, breitete seine kleine Matratze aus,
betete zu Gott und legte sich artig auf sein Bett. Wohlanständigkeit und
Ordnung trieb er, wie man sah, bis zur kleinlichsten Pedanterie.
Ersichtlich hielt er sich für einen außerordentlich klugen Menschen, wie
das ja schließlich alle stumpfen und beschränkten Leute tun. Schon von
diesem ersten Tage an gefiel er mir nicht, obgleich ich – dessen
entsinne ich mich noch – an diesem Tage viel über ihn nachdachte und
mich am meisten darüber wunderte, daß ein solcher Mensch, anstatt im
Leben Karriere zu machen, in den Ostrogg geraten war. Ich werde hier
noch des öftern auf Akim Akimytsch zu sprechen kommen.

Doch jetzt will ich in aller Kürze die ganze Einwohnerschaft unserer
Kaserne schildern. Viele Jahre mußte ich dort leben und alle diese
Menschen waren in Zukunft meine Hausgenossen und Kameraden. So wird man
wohl auch die gespannte Neugier begreifen, mit der ich jeden einzelnen
von ihnen anblickte und beobachtete.

Links von meinem Pritschenplatz befand sich eine Gruppe Kaukasier, die
alle verschiedenen kaukasischen Bergvölkern angehörten, und größtenteils
wegen Diebstahls zu mehr oder weniger Jahren Zwangsarbeit verurteilt
worden waren. Es waren zwei Lesghier, ein Tschetschenze und drei
Dagestanische Tataren. Der Tschetschenze war ein finsterer, mürrischer
Mensch, der fast nie sprach und beständig unter der Stirn hervor
haßerfüllt auf seine Umgebung sah und dazu widerlich boshaft und
höhnisch lächelte. Der eine von den Lesghiern war schon ein alter Mann,
hatte eine lange, dünne Nase und war dem Aussehen nach ein typischer
Räuber. Dafür machte der andere, Nurra, schon am ersten Tage einen ganz
prächtigen Eindruck auf mich. Nurra war noch nicht alt, nicht groß,
gebaut wie ein Athlet, hochblond mit hellblauen Augen, einer
Habichtsnase, mit der Gesichtsform eines Finnen, und da er von Jugend
auf nur auf dem Pferde gesessen hatte, waren seine Beine krumm gebogen.
Sein ganzer Körper war zerhauen, von Bajonetten und Kugeln verwundet. Im
Kaukasus hatte er zu den Botmäßigen gehört, die sich Rußland unterworfen
hatten, war aber immer wieder heimlich zu den aufständischen Bergvölkern
geritten und hatte an ihren Angriffen auf die russischen Truppen
teilgenommen. Im Ostrogg wurde er von allen geliebt. Er war immer
heiter, zu jedermann freundlich, arbeitete still, war ruhig und
wohlgemut, obgleich er oft mit Unwillen auf die Schändlichkeit und den
Schmutz des Arrestantenlebens blickte, und über jeden Diebstahl, jede
Schurkerei und jeden Betrunkenen in rasende Wut geraten konnte, sowie
über alles, was unehrenhaft war, doch stiftete er nie Streit an, sondern
wandte sich stets ab. Er selbst hat nie etwas gestohlen und während
seines ganzen Aufenthaltes im Ostrogg hat er nie etwas Schlechtes getan.
Er war ungewöhnlich fromm, und seine Gebete verrichtete er streng nach
der Vorschrift. In der Fastenzeit vor den mohammedanischen Festtagen
fastete er fanatisch und verbrachte ganze Nächte im Gebet. Alle liebten
ihn und glaubten an seine Ehrlichkeit. „Nurra ist ein Löwe,“ sagten die
Arrestanten und so wurde er später nur noch der Löwe genannt. Er war
fest überzeugt, daß er nach Ablauf seiner Strafzeit wieder nach Haus, in
den Kaukasus geschickt werden würde, und lebte nur in dieser Hoffnung.
Ich glaube, er wäre gestorben, hätte man sie ihm genommen. Am ersten
Tage im Ostrogg war er mir sehr angenehm aufgefallen. Es wäre aber auch
unmöglich gewesen, sein gutes, sympathisches Gesicht unter all den
bösen, finsteren und höhnischen Gesichtern der anderen gebrandmarkten
Sträflinge nicht zu bemerken. In der ersten halben Stunde nach meinem
Eintritt in den Ostrogg klopfte er mich im Vorübergehen auf die
Schulter, und blickte mir gutmütig in die Augen. Zuerst konnte ich nicht
begreifen, was das zu bedeuten hatte. Russisch sprach er nur sehr
schlecht. Bald darauf kam er wieder auf mich zu, lächelte mich an und
klopfte mir nochmals freundlich auf die Schulter. Und dasselbe
wiederholte er in den ersten drei Tagen unzählige Mal. Das bedeutete
seinerseits, wie ich später erriet und auch erfuhr, daß ich ihm leid
täte, daß er fühle, wie schwer es mir werde, mich im Ostrogg einzuleben,
daß er mir seine Freundschaft beweisen, mich ermuntern und seiner
Protektion versichern wolle. Guter, treuherziger Nurra!

Die drei dagestanischen Tataren waren leibliche Brüder. Zwei von ihnen
waren schon bejahrt, aber der dritte, Alei, war erst zweiundzwanzig
Jahre alt, und sah dabei noch jünger aus. Sein Pritschenplatz war neben
mir. Sein schönes, offenes, kluges und gleichzeitig gutherzig naives
Gesicht eroberte sich sofort mein Herz, und ich freute mich, daß das
Schicksal gerade ihn und nicht einen anderen mir zum Nachbar gegeben
hatte. Seine ganze Seele sah man sich widerspiegeln auf seinem hübschen,
ja sogar schönen Gesicht. Sein Lächeln war so zutraulich, so kindlich
gutmütig, seine großen dunklen Augen waren so ... ich möchte sagen –
weich, so freundlich, daß sein Anblick mir ein ganz besonderes
Vergnügen, sogar eine Erleichterung in den Stunden der Sehnsucht und
Trauer war. Ich sage es ohne jede Übertreibung. In der Heimat hatte sein
ältester Bruder – er hatte fünf ältere Brüder, von denen zwei in ein
Hüttenwerk gekommen waren – ihm eines Tages befohlen, seine Flinte zu
nehmen und sich aufs Pferd zu setzen, um mit den anderen irgendeine
Expedition mitzumachen. Die Ehrfurcht vor dem Älteren ist bei jenen
Bergvölkern so groß, daß der Jüngling nicht etwa keinen Mut gehabt, zu
fragen, wohin es denn gehe, sondern nicht einmal an die Möglichkeit
einer ähnlichen Frage gedacht hatte. Die anderen aber hatten es nicht
für notwendig befunden, ihn über das Reiseziel aufzuklären. Sie zogen
auf Raub aus, und hatten es auf einen reichen armenischen Kaufmann
abgesehen. Und richtig, sie hatten ihn überfallen, ihn und die
Begleitmannschaft umgebracht und die Ware geraubt. Die Sache war aber
herausgekommen: alle sechs wurden sie verhaftet, verurteilt und nach
Sibirien verschickt. Für Alei bestand die ganze Milderung seiner Strafe
nur darin, daß er auf eine kürzere Zeit zur Zwangsarbeit verurteilt
wurde: _nur_ auf vier Jahre. Seine Brüder liebten ihn sehr, und zwar
eher mit einer väterlichen als brüderlichen Liebe. Er war ihr Trost in
der Verbannung und sie, die sonst stets finster und verdrießlich waren,
lächelten ihm jedesmal zu, wenn sie ihn nur sahen; und wenn sie ihn
anredeten – was nur äußerst selten geschah, ganz als wenn sie ihn immer
noch für einen kleinen Knaben gehalten hätten, mit dem man doch
eigentlich nichts Ernstes reden könne – so glätteten sich ihre
mürrischen harten Gesichter und ich erriet, daß sie etwas Scherzhaftes,
fast Kindisches mit ihm sprachen, wenigstens tauschten die Älteren
untereinander lächelnde Blicke aus und lachten gutmütig, wenn sie seine
Antwort anhörten. Alei dagegen wagte so gut wie überhaupt nicht, seine
älteren Brüder als erster anzureden: so groß war seine Ehrfurcht vor
ihnen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge es fertig
brachte, während der ganzen Zeit seiner Kátorga seine ganze
Herzensweichheit zu erhalten, eine so strenge Ehrlichkeit in sich zu
entwickeln, eine solche Herzlichkeit, so viel Sympathisches zu bewahren
und nicht zu verrohen, nicht zu verderben. Übrigens war er eine starke
und aufrechte Natur, trotz seiner ganzen scheinbaren Weichheit.
Späterhin lernte ich ihn näher kennen und durchschaute ihn ganz. Er war
keusch wie ein unberührtes Mädchen und jede gemeine, zynische,
schmutzige und jede ungerechte, gewalttätige Handlung im Ostrogg ließ
seine schönen Augen vor Unwillen erglühen, wodurch sie noch schöner
wurden. Aber auch er mischte sich nicht in das Geschimpfe ein und
vermied jeden Streit, wenn er auch nicht zu jenen gehörte, die sich
ungestraft beleidigen ließen. Im Gegenteil, er verstand es sogar sehr
gut, seinen Mann zu stehn. Aber es kam nie zu einem Streit zwischen ihm
und irgend einem anderen Sträfling: ihn hatten alle gern und von allen
wurde er verhätschelt. Anfangs war er zu mir nur sehr höflich. Mit der
Zeit aber fing ich an, mit ihm zu sprechen und in drei Monaten hatte er
schon fließend russisch zu sprechen gelernt, wozu es seine Brüder in
ihrer ganzen Strafzeit nicht zu bringen vermochten. Er schien mir ein
ungewöhnlich kluger Junge zu sein, sehr bescheiden und zartfühlend, und
schien sogar schon viel nachgedacht zu haben. Überhaupt muß ich eines
vorausschicken: ich halte Alei für ein durchaus ungewöhnliches Wesen und
denke an seine Begegnung als an eine der besten und schönsten in meinem
Leben zurück. Es gibt Charaktere, die von Natur so schön, die von Gott
so beschenkt sind, daß allein die bloße Vorstellung, er könnte sich zum
Schlechten verändern, einem ganz unmöglich scheint. Ihretwegen braucht
man sich keine Sorge zu machen, wie auch ich mir wegen Alei keine Sorge
mache. Wo mag er jetzt wohl sein? ...

Einmal, es war schon längere Zeit nach meiner Ankunft im Ostrogg, lag
ich auf der Pritsche und dachte an eine sehr drückende Erinnerung. Alei,
der sonst immer fleißig war und arbeitete, war gerade unbeschäftigt,
obwohl es noch zu früh war zum Schlafen. Sie hatten ihren
mohammedanischen Festtag und arbeiteten daher nicht. Er lag auf dem
Rücken, hatte die Hände unter den Kopf geschoben und schien in Gedanken
versunken zu sein. Plötzlich fragte er mich:

„Was, dir ist es jetzt wohl sehr schwer zumute?“

Ich betrachtete ihn neugierig und diese plötzliche, offene Frage schien
mir sonderbar, da Alei sonst immer so zartfühlend, so taktvoll und
höflich war und mich niemals als erster anredete. Als ich aber
aufmerksam hinblickte, gewahrte ich soviel Kummer in seinem Gesicht,
soviel Qual der Erinnerungen, daß ich sofort erriet, warum er die Frage
gestellt hatte: weil es ihm selbst gerade in diesem Augenblick sehr
schwer zumute war. Und ich sagte ihm, was ich dachte. Er seufzte und
lächelte traurig. Ich liebte sein Lächeln, das immer zärtlich und
herzlich war. Außerdem zeigte er beim Lächeln seine wundervollen Zähne,
die buchstäblich wie zwei Perlenreihen waren und um deren Schönheit ihn
die schönste Frau der Welt hätte beneiden können.

„Nun, Alei, du hast soeben sicherlich daran gedacht, wie man bei euch in
Dagestan dieses Fest feiert? Schön muß es dort sein.“

„Ja,“ antwortete er begeistert, und seine Augen leuchteten auf. „Aber
woher weißt du, daß ich daran dachte?“

„Was ist da zu wissen! Nun, ist es dort schöner als hier?“

„O, warum sagst du das! ...“

„Welch eine Blumenpracht, welch ein Paradies jetzt dort sein muß!“

„O–o! sprich lieber nicht!“

Er war mächtig erregt.

„Sag mal, Alei, hattest du nicht auch eine Schwester?“

„Ich hatte, – aber warum fragst du?“

„Dann war sie wohl eine Schönheit, wenn sie dir ähnlich sah?“

„Was mir! Sie ist so schön, daß es im ganzen Dagestan keine schönere
gibt! Ach, wenn du wüßtest, was für eine Schönheit meine Schwester ist!
Du hast eine solche noch nie gesehen! Auch meine Mutter war eine
Schönheit.“

„Und liebte dich deine Mutter?“

„Ach! wie du sprichst! Sie ist jetzt bestimmt vor Kummer um mich
gestorben. Ich war ihr Lieblingssohn. Sie liebte mich mehr als meine
Schwester, als alle ... Heute Nacht kam sie im Traume zu mir und weinte
über mich.“

Er verstummte, und an jenem Abend habe ich kein Wort mehr von ihm
gehört. Seit diesem Gespräch aber suchte er immer mit mir zu sprechen,
wenn auch seine Ehrfurcht vor mir ihm nach wie vor verbot, mich als
erster anzureden. Um so freudiger war er überrascht, wenn ich selbst
mich an ihn wandte. Ich fragte ihn über den Kaukasus aus und sein
früheres Leben. Seine Brüder verboten ihm nicht, mit mir zu reden, es
schien ihnen sogar angenehm zu sein, daß er es tat. Und als sie sahen,
daß ich ihren Alei immer lieber gewann, da wurden auch sie viel
freundlicher zu mir.

Alei half mir bei der Arbeit, half mir, womit er nur konnte, auch in der
Kaserne, und man sah es ihm an, daß es ihm angenehm war, mir gefällig
zu sein, und in seinen Bemühungen lag nicht die geringste
Selbsterniedrigung oder gar ein Suchen nach einem Vorteil, sondern nur
ein warmes, freundschaftliches Gefühl, das er denn auch nicht mehr vor
mir verbarg. Unter anderem hatte er auch viel Geschick für technische
Arbeiten: er lernte gut Wäsche nähen, Stiefel auszubessern und zum
Schluß erlernte er noch, soweit es ging, das Tischlerhandwerk. Seine
Brüder lobten ihn und waren stolz auf ihren Jüngsten.

„Hör mal, Alei,“ sagte ich eines Tages zu ihm, „warum lernst du nicht
russisch lesen und schreiben? Weißt du denn nicht, wie sehr dir das
späterhin hier in Sibirien zustatten kommen könnte?“

„Ich will es sehr gern. Aber bei wem soll ich es erlernen?“

„Als ob es hier wenige gäbe, die dich unterrichten könnten! Willst du,
daß ich es tue?“

„Ach, tu’s, bitte!“ und er stand sogleich von der Pritsche auf, faltete
bittend die Hände vor mir und sah mich flehend an.

Wir fingen gleich am nächsten Abend an. Ich besaß die russische
Übersetzung des Neuen Testaments – ein Buch, das im Ostrogg nicht
verboten ist. Nach diesem Buch, ohne ABC-Bücher, lernte Alei binnen
weniger Wochen fließend zu lesen. Nach drei Monaten war er durchaus fest
in der Schriftsprache. Er lernte mit unermüdlichem Eifer und riesiger
Begeisterung.

Eines Abends hatten wir die ganze Bergpredigt durchgelesen. Es war mir
aufgefallen, daß er einige Stellen mit ganz besonderem Ausdruck vortrug.

Ich fragte ihn, ob es ihm gefallen habe, was er gelesen?

Er blickte schnell auf und errötete.

„Ach, ja!“ antwortete er, – „ja. Issa (Jesus) ist ein großer Prophet,
Issa hat Gottes Wort gesprochen. Wie schön er spricht!“

„Was hat dir denn am meisten daraus gefallen?“

„Ach, das, wo er sagt: ‚Liebet eure Feinde, tuet wohl denen, die euch
hassen.‘ Ach wie schön er spricht!“

Er wandte sich zu seinen Brüdern, die uns während des Gesprächs
beobachtet hatten, und begann ihnen eifrig etwas zu erzählen. Sie
sprachen lange und ernst miteinander und nickten zustimmend mit den
Köpfen. Darauf wandten sie sich mit einem ernsten, wohlwollenden, d. h.,
echt muselmännischen Lächeln (das ich über alles liebe, und zwar gerade
wegen des Ernstes) zu mir und sagten, Issa (Jesus) sei ein großer
Prophet Gottes gewesen und er habe große Wunder getan; er habe sogar aus
Lehm Vögel geformt, sie angeblasen und dieselben seien dann geflogen ...
und dieses stehe auch in ihren Büchern geschrieben. Als sie das gesagt
hatten, waren sie fest überzeugt, mir ein großes Vergnügen bereitet zu
haben, indem sie Issa lobten, und Alei war restlos glücklich darüber,
daß seine Brüder geruht hatten, mir dieses Vergnügen zu bereiten.

Auch mit dem Schreiben ging es bei uns gut vorwärts. Alei hatte sich
Papier verschafft (er gab es unter keiner Bedingung zu, daß ich es von
meinem Gelde kaufte), dazu Federn, Tinte, und in kaum zwei Monaten hatte
er vorzüglich das Schreiben erlernt. Das setzte sogar seine Brüder in
Erstaunen. Ihr Stolz und ihre Freude kannten keine Grenzen und sie
wußten nicht, wie sie es mir danken sollten. Bei der Arbeit, wenn wir
einmal zusammen in einem Trupp abgeschickt waren, halfen sie mir
wetteifernd und schätzten sich noch glücklich, wenn sie mir helfen
konnten. Von Alei selbst lohnt es sich gar nicht zu reden. Er liebte
mich vielleicht ebenso sehr, wie seine Brüder. Niemals werde ich
vergessen, wie er den Ostrogg verließ. Er führte mich hinter die
Kaserne, warf sich dort an meinen Hals und schluchzte. Niemals früher
hatte er mich geküßt und noch niemals hatte ich ihn weinen gesehen.

„Du hast soviel für mich getan, soviel getan,“ sagte er, „wie selbst
mein Vater und meine Mutter nicht getan haben: du hast mich zum Menschen
gemacht. Gott wird es dir lohnen, ich aber werde dich nie vergessen!
...“

Wo mag er jetzt sein, mein lieber, guter, herzensguter Alei?

Außer den Tscherkessen und Tataren gab es in unserer Kaserne noch eine
ganze Gesellschaft Polen, die vollständig eine Familie für sich
darstellten und mit den übrigen Arrestanten fast überhaupt nicht
sprachen. Ich sagte schon, daß sie für ihre Absonderung, für ihren Haß
auf die gefangenen Russen sich wiederum den Haß aller anderen zuzogen.
Es waren ihrer im ganzen sechs, kranke, ausgemergelte Geschöpfe. Einige
von ihnen waren Gebildete; von denen werde ich in der Folge noch
besonders und ausführlich zu berichten haben. Von ihnen erhielt ich in
den letzten Jahren meines Ostrogglebens einige Bücher. Das erste Buch,
das ich nach so langer Zeit las, machte einen mächtigen und eigenartigen
Eindruck auf mich. Auch von diesen Eindrücken werde ich noch
ausführlicher sprechen. Für mich waren sie gar zu interessant, doch bin
ich überzeugt, daß sie vielen ganz unverständlich sein werden. Ohne
eigene Erfahrung kann man über gar manche Dinge nicht urteilen. Ich will
vorläufig nur sagen, daß geistige Entbehrungen, sittliche Einbußen
schwerer zu ertragen sind, als alle physischen Qualen. Der einfache
Mensch, der in die Kátorga kommt, findet dort seine Gesellschaft vor,
vielleicht sogar eine noch viel entwickeltere. Selbstverständlich hat er
viel verloren, Heimat, Familie, alles was sein war, aber das Milieu ist
für ihn dasselbe geblieben. Der Gebildete dagegen, der nach dem Gesetz
derselben Strafe unterliegt, wie der Einfache, verliert häufig
unvergleichlich mehr als dieser. Er muß alle vornehmeren Bedürfnisse,
alle Angewohnheiten in sich unterdrücken, er muß in einer Umgebung
leben, die tief unter ihm steht, er muß sich daran gewöhnen, andere Luft
zu atmen ... Er ist wie ein Fisch, den man aus dem Wasser auf den Sand
gezogen hat ... Und häufig wird für ihn die dem Gesetz nach gleiche
Strafe zu einer zehnmal qualvolleren. Das ist Tatsache ... selbst wenn
es sich nur um materielle Angewohnheiten, die man opfern muß, handelte.

Die Polen bildeten eine besondere abgeschlossene Klique. Es waren ihrer
sechs und sie hielten alle zusammen.

Von allen übrigen Sträflingen mochten sie nur einen Juden leiden, und
vielleicht einzig aus dem Grunde, weil er sie belustigte. Dieses Jüdchen
wurde übrigens auch von den anderen Sträflingen gern gesehen, wenn sie
auch alle ohne Ausnahme über ihn lachten. Er war bei uns der einzige
Jude und auch jetzt noch überkommt mich das Lachen, wenn ich an ihn
denke. Jedesmal wenn ich ihn ansah, mußte ich immer an Gogols Jankel aus
seinem „Taras Bulba“ denken, der, wenn er sich zur Nacht entkleidete, um
sich mit seiner Jüdin in eine gewisse Kommode zu begeben, sogleich einem
gerupften Kücken auffallend ähnlich wurde. Issai Fomitsch Bummstein, so
hieß unser Jüdchen, glich, wie ein Tropfen Wasser dem anderen, einem
gerupften halberwachsenen Hühnertier. Er war nicht mehr jung, etwa
fünfzigjährig, klein von Wuchs und äußerst schwächlich, schlau und
gleichzeitig absolut dumm. Er war frech und anmaßend, dabei aber
entsetzlich feig. Sein ganzes Gesicht bestand aus Runzeln und auf der
Stirn und den Wangen war er gebrandmarkt, was auf dem Schafott geschehen
war, nachdem er sechzig Peitschenhiebe erhalten hatte. Noch jetzt
verstehe ich nicht, wie er so viel auszuhalten vermocht hat. Er war
wegen Mordes verschickt worden. Sorgfältig bewahrte er ein Rezept auf,
das seine Glaubensgenossen von einem Doktor verschafft und ihm bald
nachher zugestellt hatten. Nach diesem Rezept konnte man eine Salbe
zubereiten, von der die Brandmale binnen zwei Wochen vergingen. Im
Ostrogg wagte er natürlich nicht, diese Salbe anzuwenden, wartete aber
sehnsüchtig auf den Ablauf seiner zwölfjährigen Frist, um sie dann, wenn
er zur Ansiedlung weitergeschickt werden würde, sofort zu benutzen.
„Denn anders kann ich nich aheiraten,“ sagte er mir einmal, „ich aber
will aheiraten bestimmt.“ Wir beide verstanden uns sehr gut. Er war
beständig in der besten Laune und er hatte ein leichtes Leben in der
Kátorga: er war von Beruf Juwelier und mit Arbeiten aus der Stadt
überhäuft, da es dort keinen Juwelier gab, und so befreite er sich von
der schweren Zwangsarbeit. Außerdem war er, versteht sich, noch Wucherer
und versah für hohe Prozente den ganzen Ostrogg mit Geld. Er war schon
vor mir angekommen und einer der Polen beschrieb mir ausführlich seine
Ankunft. Es ist das eine höchst amüsante Geschichte, die ich späterhin
noch zum besten geben will, denn von unserem Issai Fomitsch Bummstein
werde ich noch mehr als einmal zu erzählen haben.

Das übrige Volk in unserer Kaserne bestand aus vier Altgläubigen, alles
alte und bibelkundige Leute, zu denen auch der Greis aus Starodubowo
gehörte; aus zwei oder drei Kleinrussen, finsteren Menschen, aus einem
jungen Sträfling mit einem schmalen Gesichtchen und feinen Näschen, im
Alter von erst dreiundzwanzig Jahren, der indessen schon acht Menschen
umgebracht hatte; aus einer kleinen Gesellschaft Falschmünzer, von denen
einer der Spaßvogel der ganzen Kaserne war, und endlich aus mehreren
düsteren, mürrischen und verunstalteten, schweigsamen und neidischen,
alle Welt mißtrauisch ansehenden Individuen, die allem Anschein nach die
Absicht hatten, noch lange Jahre so darein zu sehen, mürrisch zu sein,
zu schweigen und zu hassen – so lange wie sie in der Kátorga bleiben
mußten.

Alle diese Gestalten sah ich an jenem ersten freudlosen Abend meines
neuen Lebens nur wie durch einen Nebel – inmitten der von Rauch und Ruß
und anderen Dünsten geschwängerten nicht atembaren Luft, unter Geschimpf
und unbeschreiblichen Witzen, unter Kettengeklirr und -gerassel, unter
Flüchen und schamlosem Gelächter. Ich legte mich auf die unbedeckte
Pritsche, schob meine Kleider unter den Kopf – ein Kissen hatte ich noch
nicht – und deckte mich mit meinem Pelz zu. Aber lange noch konnte ich
nicht einschlafen, obwohl ich völlig erschöpft und ganz gebrochen war
von all den ungeheuerlichen und unerwarteten Eindrücken dieses ersten
Tages. Mein neues Leben begann ja erst. Vieles noch stand mir bevor, was
ich nie gedacht, was ich noch nie geahnt hatte ...


                                   V.

                            Der erste Monat

Am vierten Tage nach meiner Ankunft im Ostrogg wurde ich zur Arbeit
befohlen. Dieser erste Arbeitstag ist mir noch deutlich in der
Erinnerung, wenn auch im Verlauf gerade dieses Tages nichts gar zu
Ungewöhnliches mit mir geschah – abgesehen von dem ohnehin schon
Ungewöhnlichen meiner Lage. Aber die Zwangsarbeit war doch etwas neues
für mich und ich blickte immer noch mit der größten Neugier um mich.

Diese ersten drei Tage hatte ich mit den schwersten Empfindungen
verbracht. „Das ist jetzt das Ende meines Lebens: ich bin im Ostrogg!“
dachte ich immer und immer wieder, „das ist nun mein Hafen für viele
lange Jahre, mein Winkel, den ich mit so mißtrauischem, krankhaftem
Empfinden betrete ... Doch wer weiß? Vielleicht werde ich, wenn ich ihn
nach vielen Jahren verlasse, noch mit Bedauern von ihm scheiden? ...“
fügte ich hinzu, nicht ohne eine Beimischung jenes Gefühls der
Schadenfreude, das zuweilen zu dem Bedürfnis wird, absichtlich in seiner
Wunde zu wühlen, ganz als wollte man sich an seinem Schmerz ergötzen,
ganz als wäre in der Erkenntnis der ganzen Größe des Unglücks
tatsächlich ein Genuß. Der Gedanke, daß ich einmal mit Bedauern diesen
Winkel verlassen könnte, erfüllte mich mit Entsetzen: schon damals
fühlte ich voraus, bis zu welch einer Ungeheuerlichkeit der Mensch sich
an alles gewöhnen kann. Aber all das lag noch in der Zukunft, vorläufig
war alles um mich herum fremd, feindlich und – furchtbar ... oder wenn
auch nicht alles so war, so mußte mir doch selbstverständlich alles so
erscheinen. Diese gierige Neugier, mit der mich meine neuen
Lebensgefährten betrachteten, ihre doppelte Kälte zu dem Neuling aus dem
Adelstande, der plötzlich in ihre Gemeinschaft eindrang, diese sichtbare
Abneigung, die mitunter fast an Haß grenzte, – all das quälte mich
dermaßen, daß ich selbst so bald als möglich zur Arbeit geschickt zu
werden wünschte, nur um schneller mein ganzes Elend ermessen zu können,
nur um dasselbe Leben zu führen, das sie alle führten, um möglichst bald
mit den anderen am gleichen Strang zu ziehen.

Natürlich bemerkte und vermutete ich damals vieles nicht, was dicht vor
meinen Augen lag: unter dem Feindlichen hatte ich das Freundliche noch
nicht entdeckt. Übrigens richteten mich schon die wenigen freundlichen,
zutraulichen Menschen, die mir in diesen drei Tagen entgegengetreten
waren, bedeutend auf. Am freundlichsten und wohlwollendsten zu mir war
Akim Akimytsch. Ich konnte nicht umhin, unter den übrigen düsteren und
gehässigen Gesichtern der Sträflinge auch einige gute und heitere
wahrzunehmen.

„Überall gibt es schlechte Menschen, und unter den schlechten auch
gute,“ beeilte ich mich zu meiner Beruhigung zu denken, – „und, wer
weiß, diese Menschen sind vielleicht gar nicht so viel schlechter als
jene, die _übrigen_, die dort _zurückgeblieben_ sind, hinter den
Palissaden.“

Und während ich das dachte, schüttelte ich selbst mein Haupt ob meines
Gedankens, und doch, – mein Gott! – wenn ich damals nur geahnt hätte,
wie, wie richtig dieser Gedanke war!

Da habe ich zum Beispiel einen Menschen, der während der ganzen Zeit
meiner Kátorga beständig bei mir war, erst nach vielen, vielen Jahren
völlig kennen gelernt. Das war der Arrestant Ssuschiloff. Als ich soeben
von den Arrestanten sprach, die _nicht schlechter_ wären, als die
anderen Menschen, tauchte er unwillkürlich sofort wieder in meiner
Erinnerung auf. Er bediente mich. Aber außer ihm hatte ich noch einen
anderen Diener. Akim Akimytsch hatte mir gleich in den ersten Tagen
einen Arrestanten, Ossip mit Namen, ganz besonders empfohlen, und
gesagt, er würde mir für dreißig Kopeken Monatsgehalt täglich besonderes
Essen zubereiten, falls mir die Staatskost so zuwider sei und ich die
Mittel zu diesem Luxus hätte. Ossip war einer von den vier Köchen, die
von den Arrestanten für unsere zwei Küchen gewählt wurden, wobei es
diesen vollkommen frei stand, die Wahl anzunehmen oder nicht; und hatte
man sie angenommen, so konnte man, wenn man wollte, schon am nächsten
Tage sein Amt und seine Würde wieder niederlegen. Die Köche gingen nicht
zur Zwangsarbeit und ihre ganze Aufgabe bestand darin, daß sie Brot
backten und die Kohlsuppe kochten. Sie wurden aber nicht Köche genannt,
sondern weiblich – Köchinnen, doch geschah das nicht etwa aus Verachtung
zu ihnen – um so weniger, als für die Küche geschickte und nach
Möglichkeit ehrliche Leute gewählt wurden, – sondern einfach nur so zum
Scherz, was unsere Köche denn auch durchaus nicht übel nahmen. Ossip
wurde bei jeder neuen Wahl wiedergewählt, er war mehrere Jahre lang
Köchin und sagte sich nur bisweilen auf kurze Zeit vom Amte los, wenn
ihn die Sehnsucht gar zu sehr ergriff und er die Lust zu schmuggeln
nicht mehr bewältigen konnte. Er war ein selten ehrlicher und sanfter
Mensch, war aber wegen Schmuggel verurteilt worden. Dieser Ossip war
jener große, gesunde, leidenschaftliche Kontrabandist, von dem ich
bereits gesprochen habe, ein Hasenfuß in jeder Beziehung, besonders was
Ruten anbelangt, sonst aber, friedsam, und widerspruchslos und
freundlich gegen jedermann, hatte er noch niemals mit einem anderen
einen Streit gehabt. Aber trotz seiner ganzen Ehrlichkeit und
Ängstlichkeit konnte er sich doch nicht bezwingen, zu schmuggeln, – das
war seine Leidenschaft. Er handelte, wie’s auch die übrigen „Köchinnen“
taten, mit Branntwein, allerdings nicht in dem Maßstabe, wie zum
Beispiel Gasin, denn er hatte nicht den Mut, so viel zu wagen.

Mit diesem Ossip stand ich mich immer sehr gut. Was jedoch die Mittel
zur eigenen Beköstigung betrifft, so brauchte man dazu nur sehr wenig.
Ich irre nicht, wenn ich sage, daß meine Beköstigung mir monatlich nur
auf einen Rubel Silber zu stehen kam, ohne Brot natürlich, das zur
Staatskost gehörte und von dem jeder nach Herzenslust essen konnte, und
hin und wieder eine Portion Kohlsuppe, die ich trotz meines Widerwillens
– der übrigens mit der Zeit ganz verging – zuweilen aß, wenn ich gar zu
hungrig war. Gewöhnlich ließ ich mir ein Stück Rindfleisch kaufen, pro
Tag ein Pfund, das im Winter nur zwei Kopeken kostete. Nach dem
Rindfleisch ging täglich einer der Invaliden auf den Markt. Diese
Invaliden lebten zu je einem in jeder Kaserne und hatten nach der
Ordnung zu sehen. Sie nahmen es freiwillig auf sich, täglich auf den
Markt zu gehen und die nötigen Einkäufe für die Sträflinge zu besorgen,
wofür sie jedoch keinerlei Entschädigung oder Zahlung annahmen,
abgesehen vielleicht von irgend welchen Kleinigkeiten. Sie taten es um
ihrer eigenen Ruhe willen, denn anders wäre es ihnen schwer gefallen,
sich im Ostrogg mit den Arrestanten einzuleben. Und so brachten sie denn
Rindfleisch, Tabak, Tee, Kalatschen usw., nur Branntwein besorgten sie
nicht. Aber darum bat man sie auch gar nicht, wohl aber bot man ihnen
bisweilen welchen an. Ossip briet mir mehrere Jahre lang immer ein und
dasselbe Stück Rindfleisch. Wie er es briet, das ist eine andere Frage,
aber das war ja auch nebensächlich. Auffallend ist dabei nur, daß ich im
Verlauf von mehreren Jahren mit meiner Köchin Ossip kaum ein paar Worte
gewechselt habe. Oft machte ich den Versuch, mit ihm ein Gespräch
anzuknüpfen, aber kein einziges Mal gelang es mir, eine eingehendere
Antwort von ihm zu erhalten: er lächelte, sagte je nach der Frage „nein“
oder „ja“, und das war denn auch alles. Mitunter war es ganz sonderbar,
diesen anscheinend siebenjährigen Herkules anzusehen.

Doch außer Ossip bediente mich noch Ssuschiloff. Ich hatte ihn weder
darum gebeten noch überhaupt einen solchen Diener gesucht. Er hatte mich
gewissermaßen selbst gefunden und war ungefragt in meinen Dienst
getreten. Ich entsinne mich heute nicht einmal mehr, wie es damals kam.
Ich glaube, zuerst fing er an, meine Wäsche zu waschen. Hinter den
Kasernen war zu diesem Zweck eine große Waschgrube und über dieser Grube
wurde in großen Trögen, die der Regierung gehörten, die Wäsche der
Sträflinge gewaschen. Außerdem erfand er selbst noch tausend andere
kleine Pflichten, um sich mir nützlich zu machen: er setzte meinen Tee
auf, erfüllte verschiedene kleine Aufträge, suchte etwas für mich auf,
trug meine Jacke zum Schneider, um sie ausbessern zu lassen, schmierte
meine Stiefel etwa viermal im Monat. Alles tat er geschäftig und
gewissenhaft, ganz als hätten auf ihm weiß Gott was für Pflichten
gelegen. Kurz, er verknüpfte seine ganze Existenz mit der meinigen und
nahm alle meine Obliegenheiten auf sich. Zum Beispiel sagte er niemals:
„Sie haben so und soviel Hemden, Ihre Jacke ist zerrissen,“ und
ähnliches mehr, sondern stets: „_Wir_ haben so und soviel Hemden,
_unsere_ Jacke ist zerrissen.“ Er sah mir dabei stramm in die Augen, und
nahm, glaube ich, diesen Dienst für die Hauptbestimmung seines Lebens.
Ein Handwerk, oder wie die Arrestanten sagten, eine Werkschaft, hatte er
nicht und so verdiente er sich nur von mir allein ein paar Kopeken. Ich
zahlte ihm, wieviel ich konnte, d. h. nur einige Kopeken, und er war
jedesmal widerspruchslos mit allem zufrieden, was ich ihm gab. Er konnte
einfach nicht anders, er mußte jemandem dienen und allem Anschein nach
hatte er mich nur deshalb erwählt, weil ich umgänglicher war als die
anderen und ehrlicher im Zahlen. Er gehörte zu denen, die nie reich
werden oder sich emporarbeiten konnten, und die von den Kartenspielern
gemietet wurden, um für fünf Kopeken in Silber fast die ganze Nacht im
Flur bei der größten Kälte auf Posten zu stehen, auf jedes Geräusch zu
achten, und wenn sie sich dennoch vom Platzmajor überraschen ließen,
nichts bezahlt, wohl aber ungezählte Hiebe zu erhalten. Ich habe schon
von ihnen gesprochen. Die Charakteristik dieser Menschen ist – die
eigene Persönlichkeit immer, überall und fast vor einem jeden zu
erniedrigen und in gemeinsamen Angelegenheiten eine Rolle nicht nur
zweiten, sondern dritten Ranges zu spielen. Das ist bei ihnen schon von
Natur so eingerichtet.

Ssuschiloff war ein armer kleiner Teufel, vollkommen wortverschüchtert
und erniedrigt, sogar verprügelt, wenn man will, obgleich er bei uns
niemals geschlagen wurde, sondern einfach „von Natur“ verprügelt. Er tat
mir immer sehr leid. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen ohne Mitleid,
warum aber nicht, – das hätte ich selbst nicht zu sagen gewußt.
Unterhalten konnte man sich mit ihm ebensowenig wie mit Ossip: er
verstand nicht zu sprechen und man sah es ihm an, daß das Sprechen ihm
eine Qual war, und er belebte sich erst dann, wenn man ihm, um das
Gespräch abzubrechen, irgend einen Auftrag gab. Zuletzt überzeugte ich
mich, daß ich ihm mit dieser Beschäftigung sogar ein Vergnügen
bereitete. Er war weder groß noch klein von Wuchs, weder hübsch noch
häßlich, weder dumm noch klug, weder alt noch jung, ein wenig
pockennarbig und von Haar blond zu nennen. Gar zu viel Bezeichnendes
kann man von ihm in keiner Beziehung sagen. Ach doch, eines, aber das
ist auch das einzige: wie es mir schien und nach dem, was ich selbst
erraten habe, gehörte er zur selben Gesellschaft, zu der auch Ssirotkin
gehörte, und zwar einzig wegen seiner Schutzlosigkeit und
Schüchternheit. Die anderen Arrestanten lachten zuweilen über ihn, doch
hauptsächlich taten sie es, weil er unterwegs _getauscht_ hatte, und
zwar im ganzen für einen Rubel Silber und ein rotes Hemd. Wegen dieses
geringen Preises wurde er denn auch ausgelacht. Dieses „Tauschen“
bedeutet, mit einem anderen Sträfling in seinem Trupp den Namen und
folglich auch die Strafe tauschen. Wie sonderbar einem das auch scheinen
mag, so ist es doch Tatsache; und zu meiner Zeit stand diese Art
Tauschhandel unter den Gefangenen auf dem Transport nach Sibirien in
voller Blüte, und war durch die Überlieferung und gewisse Formalitäten
sogar geheiligt. Anfangs konnte ich es unmöglich glauben, später aber
mußte ich es wohl oder übel, da ich es selbst miterlebte.

Das „Tauschen“ geschieht folgendermaßen:

Es wird zum Beispiel ein Trupp Gefangener nach Sibirien transportiert.
Unter ihnen gibt es verschieden Verurteilte: die einen zur Zwangsarbeit,
die anderen in ein Hüttenwerk, die dritten zur Ansiedlung; alle
marschieren zusammen. Irgendwo nun unterwegs, sagen wir im Permschen
Gouvernement, wünscht einer der Gefangenen, mit einem anderen zu
tauschen. Nehmen wir ein Beispiel: irgend ein Michailoff, der wegen
Mordes oder sonst eines schweren Verbrechens verurteilt ist, findet es
nicht vorteilhaft für sich, auf lange Jahre in die Zwangsarbeit zu
marschieren. Nehmen wir an, er ist ein schlauer, geriebener Junge, der
eine Sache richtig anzufassen weiß. Und so sucht er sich denn einen aus
seinen Marschgenossen aus, der möglichst schüchtern, harmlos, schutzlos
und ahnungslos ist und im Vergleich zu ihm einer leichten Strafe
entgegengeht: entweder auf kurze Zeit in ein Hüttenwerk, oder zur
Ansiedlung, oder selbst in die Kátorga, aber nur auf kürzere Zeit als
er. Endlich findet er einen Ssuschiloff. Dieser ist ein gewöhnlicher
Gutsbauer und nur zur Ansiedlung verschickt. Er hat schon an
tausendfünfhundert Werst abmarschiert, natürlich ohne eine Kopeke in der
Tasche, denn Ssuschiloff kann nie Geld haben, – er schleppt sich aber
weiter, ausgehungert, müde, nur in den vom Staat gelieferten Kleidern,
nährt sich nur von der Staatskost, ohne jeden schmackhaften Bissen, – so
gut es eben schmecken will –, dient allen anderen für armselige Kopeken.
Da kommt nun Michailoff und redet den Ssuschiloff an, spricht mit ihm
des öfteren, schließt sogar Freundschaft mit ihm, und eines Tages, auf
irgend einer Etappe, setzt er ihm Branntwein vor. Dann erst rückt er mit
seinem Plan heraus: er schlägt dem anderen vor, mit ihm zu tauschen. So
und so, ich, Michailoff, gehe in die Kátorga, aber andererseits auch
wieder nicht in die Kátorga, sondern in eine gewisse „besondere
Abteilung“. Wenn das auch Kátorga ist, so ist es doch immerhin eine
besondere, d. h. so viel wie in eine bessere. – Von dieser besonderen
Abteilung wußten zur Zeit ihres Bestehens selbst die zugehörigen
Beamten, sagen wir, in Petersburg, kaum etwas. Das war ein so
abgesonderter, weltferner Winkel in einem der Winkel Sibiriens, und
überdies so wenig bevölkert – zu meiner Zeit gab es in ihm nicht mehr
als etwa siebzehn Menschen –, daß es nicht jedermanns Sache und außerdem
sehr schwer war, auf seine Spur zu kommen. In meinem späteren Leben habe
ich Menschen getroffen, die in Sibirien lange Jahre gedient hatten und
Sibirien kannten, von dieser besonderen Abteilung aber zum ersten Mal
von mir hörten. Im Gesetzbuch steht über dieselbe nur eine Bemerkung von
vier Zeilen:

„Bei dem und dem Ostrogg wird eine besondere Abteilung für die
schwersten Verbrecher eingerichtet, bis zur Einführung der schwersten
Zwangsarbeit in Sibirien.“

Selbst die Sträflinge dieser „Abteilung“ wußten nicht, ob sie auf ewig
dort waren oder nur für eine bestimmte Zeit.

Auch im Gesetzbuch war kein Termin vorgesehen, es hieß nur: „bis zur
Einführung der schwersten Zwangsarbeit“, und das war alles; – folglich
„ewig in der Kátorga“, wie die Zwangsarbeiter sagten. So ist es denn
auch nicht weiter wunderlich, wenn weder ein Ssuschiloff noch sonst
jemand von den mit ihm marschierenden Gefangenen etwas davon weiß,
selbst Michailoff nicht ausgenommen, der sich aber von der „besonderen
Abteilung“ nur insofern eine zutreffendere Vorstellung macht, als er
nach seinem schweren Verbrechen, für das er schon seine drei- bis
viertausend Hiebe erhalten hat, urteilen kann, daß man ihn nicht gerade
nach einem angenehmen Ort schickt.

Ssuschiloff dagegen ist zur Ansiedlung verschickt: was ist nun besser? –
„Willst du nicht mit mir tauschen?“ – Ssuschiloff ist halbbetrunken, ist
eine einfache Seele, ist seinem Gönner Michailoff voll Dankbarkeit
ergeben und so wagt er nicht recht abzuschlagen. Hinzu kommt, daß er
unterwegs von solchen Tauschgeschäften schon gehört hat, daß andere es
gleichfalls tun, und folglich nichts Unerhörtes dabei ist. Man einigt
sich. Der gewissenlose Michailoff benutzt die gutherzige Einfalt
Ssuschiloffs und kauft ihm seinen Namen für ein rotes Hemd und einen
Silberrubel ab, was er ihm sogleich in Gegenwart von Zeugen einhändigt.
Am nächsten Tage ist Ssuschiloff nicht mehr betrunken, er wird aber von
neuem bewirtet, und dann, nun ja, jetzt geht es nicht mehr gut, noch
abzusagen: der erhaltene Silberrubel ist schon vertrunken, das rote Hemd
nach einiger Zeit – gleichfalls. Willst du nicht, so gib das Geld und
das Hemd zurück. Wo aber soll ein Ssuschiloff einen ganzen Silberrubel
hernehmen? Und gibt er ihn nicht zurück, so wird ihn die
Sträflingsgenossenschaft dazu zwingen, seinen Namen dem anderen
abzutreten: darauf wird streng geachtet. Zudem, hast du versprochen, so
erfülle auch – das ist die Moral der Genossenschaft. Sonst wird er
aufgefressen. Man verprügelt ihn unendlich oder schlägt ihn einfach tot,
oder wenigstens wird er damit geschreckt.

In der Tat, würde die Genossenschaft nur in einem einzigen Fall
Nachsicht üben, so wäre der Handel mit dem Namentausch ein- für allemal
beendet. Wenn man sich von dem Versprechen lossagen und einen
abgeschlossenen Handel rückgängig machen kann, nachdem man das Geld
schon genommen hat, und ohne das Geld zurückzugeben – wer wird dann noch
so dumm sein und noch einmal auf diesen Handel eingehen? Mit einem Wort,
so etwas geht die ganze Genossenschaft an und darum ist sie unerbittlich
in diesen Dingen. Schließlich sieht denn auch Ssuschiloff ein, daß ihm
kein Beten und Singen mehr hilft und fügt sich stillschweigend endgültig
drein. Sofort wird es dem ganzen Trupp mitgeteilt, und wenn’s nötig ist,
wird noch diesem und jenem guten Freunde Branntwein oder ein Geschenk
gegeben. Jenen ist es im Grunde natürlich völlig gleichgültig, ob
Michailoff oder Ssuschiloff in des Teufels Horn kriecht, der Branntwein
ist aber ausgetrunken: sie sind doch bewirtet worden, und so halten sie
reinen Mund. Auf der nächsten Etappe werden die Gefangenen revidiert.
Die Namen werden nach dem Alphabet ausgerufen, man kommt zu M. –
„Michailoff!“ – „Hier!“ antwortet Ssuschiloff. Man kommt zu S. –
„Ssuschiloff!“ – „Hier!“ schreit wiederum Michailoff, und so geht man
weiter. Niemand verliert darüber noch ein Wort. In Tobolsk werden die
Gefangenen sortiert: Michailoff kommt zu den Ansiedlern und Ssuschiloff
wandert unter doppelter Eskorte in die „besondere Abteilung“. Weiterhin
ist jeder Protest unmöglich. Und wie sollte man es beweisen? Durch
wieviel Jahre würde sich die Untersuchung hinschleppen? Und was kann es
dafür noch alles setzen? Und dann – wo sind die Zeugen? Selbst wenn man
sie zur Hand hätte, sie würden ja doch die Tatsache leugnen. Und somit
ist das Resultat, daß Ssuschiloff für einen Silberrubel und ein rotes
Hemd in die „besondere Abteilung“ gerät.

Die Arrestanten lachten über Ssuschiloff, – nicht seines Tausches wegen,
obgleich man auf jeden, der eine leichtere Arbeit gegen eine schwerere
eingetauscht hat, mit einer gewissen Verachtung herabsieht, wie eben auf
einen hereingefallenen Dummkopf, sondern weil er dafür nur ein rotes
Hemd und einen einzigen Silberrubel genommen hatte. Das war denn doch
ein gar zu geringer Preis. Gewöhnlich tauscht man nur für große Summen,
im Verhältnis gesprochen. Man nimmt etwa mehrere Zehnrubelscheine dafür.
Ssuschiloff war aber so schutzlos, so hilflos, so unterwürfig und so
armselig, daß man eigentlich kaum noch über ihn lachen wollte.

Es vergingen die Jahre und Ssuschiloff diente mir gewissenhaft. Mit der
Zeit wurde er mir sehr zugetan, was ich zu bemerken nicht umhin konnte;
und auch ich hatte mich sehr an ihn gewöhnt. Einmal aber – das werde ich
mir nie verzeihen – hatte er irgend etwas, um das ich ihn gebeten, nicht
getan, kurz vorher aber hatte er noch von mir Geld geborgt, und ich war
so grausam, zu ihm zu sagen: „Seht mal, Ssuschiloff, Geld versteht Ihr
zu nehmen, aber um was man Euch bittet, versteht Ihr nicht auszuführen.“
Ssuschiloff sagte kein Wort, lief sofort hin und verrichtete die Sache,
wurde aber seit dem Augenblick immer trauriger. Es vergingen zwei Tage.
Ich dachte: es kann doch nicht sein, daß er wegen dieser Worte so
traurig ist? Ich wußte, daß ihn ein Arrestant, Anton Wassiljeff,
beständig wegen einer kleinen Kopekenschuld plagte. Sicherlich hat er
kein Geld, dachte ich, und nun fürchtet er sich, von mir welches zu
erbitten. Am dritten Tage sagte ich zu ihm: „Ssuschiloff, Ihr wolltet
mich, glaube ich, um Geld bitten, um Eure Schuld an Anton Wassiljeff zu
bezahlen? Da habt Ihr.“ Ich saß damals auf der Pritsche; Ssuschiloff
stand vor mir. Er war, wie es schien, sehr erschrocken, denn das hatte
er offenbar nicht erwartet, daß ich ihm ungefragt Geld anbieten und ihn
an seine mißliche Lage erinnern könnte, umsoweniger, als er in der
letzten Zeit seiner Meinung nach schon gar zu viel von mir bekommen
hatte und folglich kaum darauf hoffen konnte, noch welches zu erhalten.
Er sah das Geld an, sah mich an, drehte sich plötzlich um und ging
hinaus. Das wunderte mich. Ich ging ihm nach und fand ihn hinter den
Kasernen. Er stand am Palissadenzaun und hatte den Kopf an einen Pfahl
gestützt.

„Ssuschiloff, was ist mit Euch?“ fragte ich ihn.

Er sah mich nicht an, doch gewahrte ich zu meinem größten Erstaunen, daß
er bereit war, in Tränen auszubrechen.

„Ihr Alexander Petrowitsch ... denkt ...“ begann er mit versagender
Stimme und krampfhaft nur zur Seite gewandtem Blick, „daß ich Euch ...
für Geld ... ich aber ... ich! ...“ Und er wandte sich wieder zu den
Palissaden, so daß er bei der plötzlichen Bewegung mit der Stirn sogar
heftig anstieß, – und schluchzte! ... Es war das erste Mal, daß ich im
Ostrogg einen weinenden Menschen sah. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn zu
trösten, und wenn er auch seit dem Tage womöglich noch eifriger mir zu
dienen und zu „gehorchen“ suchte, so bemerkte ich dennoch an einigen
fast unmerklichen, unerhaschbaren Anzeichen, daß er im Herzen mir doch
niemals meinen Vorwurf verzeihen konnte. Die anderen aber lachten
fortwährend über ihn, zogen ihn bei jeder passenden Gelegenheit
unbarmherzig auf, schimpften ihn sogar unbeschreiblich, – er jedoch nahm
jenen nie etwas übel und lebte friedlich und in gutem Einvernehmen mit
ihnen.

Ja, es ist sehr schwer, einen Menschen von Grund auf kennen zu lernen,
selbst lange Jahre beständigen Zusammenseins genügen nicht einmal!

Das war auch der Grund, warum mir der ganze Ostrogg in der ersten Zeit
nicht so erschien, wie in der letzten. Und so kam es denn auch, daß ich,
wie ich schon sagte, trotz meiner ganzen Neugier und verdoppelten
Aufmerksamkeit, doch vieles nicht sah, was dicht vor meinen Augen
geschah. Natürlich waren es anfangs nur die auffallenden, grell
beleuchteten Erscheinungen, die ich bemerkte, aber auch diese faßte ich
falsch auf und sie hinterließen in meiner Seele nur einen schweren,
hoffnungslos traurigen Eindruck. Viel trug dazu auch noch meine
Begegnung mit A–ff bei, einem Sträfling, der gleichfalls kurz vor mir in
den Ostrogg gekommen war und mich in den ersten Tagen durch seinen
besonders qualvollen Eindruck peinigte. Übrigens hatte ich schon vorher
erfahren, daß ich ihn im Ostrogg vorfinden würde. Er vergiftete mir
geradezu diese erste schwere Zeit und machte meine seelischen Qualen
nahezu unerträglich. Ich kann es nicht unterlassen, auch von ihm Näheres
zu erzählen:

Er war das widerlichste Beispiel dafür, bis zu welchem Grade der Mensch
sich erniedrigen und sinken, in welchem Maße er jedes sittliche Gefühl
in sich ertöten kann, ohne daß es ihm Mühe oder Reue kostet.

A–ff war ein junger Mensch aus dem Adelsstande. Ich habe hier schon
einmal von ihm gesprochen: ich sagte, daß er unserem Platzmajor alles
hinterbrachte, was im Ostrogg geschah, und daß er sich mit dessen
Burschen Fedjka angefreundet hatte.

Seine Lebensgeschichte ist kurz folgende: Ohne auch nur eine einzige
Lehranstalt zu absolvieren, war er, nachdem er sich in Moskau mit seinen
Verwandten entzweit hatte – er hatte sie durch sein ausschweifendes
Leben nicht wenig bekümmert, – nach Petersburg gegangen, wo er sich um
des Geldes willen zu einem niederträchtigen Verrat entschlossen hatte:
er überantwortete zehn Menschen dem Tode, nur um seinen rohen und
verderbten Leidenschaften frönen zu können – so daß er denn, da ihm
Petersburg, seine Lokale und großen Straßen zu Kopf gestiegen waren,
obgleich er sonst kein dummer Mensch war, sich auf ein so sinnloses und
häßliches Unternehmen einließ. Er wurde aber bald überführt: er hatte
unschuldige Menschen angegeben, hatte viele betrogen, und war dafür nach
Sibirien in unseren Ostrogg auf zehn Jahre verschickt worden. Er war
noch sehr jung, sein Leben hatte erst begonnen. Man sollte meinen, daß
eine so furchtbare Veränderung seines Schicksals ihn zum Nachdenken
hätte bringen, seine Natur zu einem Widerstand hätte zusammenreißen
müssen. Doch es war nichts davon geschehen. Er nahm sein neues Leben
ohne die geringste Verwirrung entgegen, ohne den geringsten Ekel, er
fühlte sich nicht einmal sittlich davon abgestoßen, es schreckte ihn
nichts ab, außer vielleicht die Notwendigkeit zu arbeiten und Petersburg
mit allem für ihn Schönen zu verlassen. Es hatte sogar den Anschein, als
habe der Rang eines sibirischen Sträflings ihm erst recht die Hände
befreit, als sei er jetzt seiner Meinung nach zu noch größeren
Gemeinheiten und Schändlichkeiten berechtigt: „Ist man Sträfling, dann
muß man eben Sträfling sein; ist man Sträfling, so kann man alles
begehen, es wird nicht schändlich sein.“ Das war buchstäblich seine
Meinung. Ich erinnere mich dieser scheußlichen Kreatur geradezu wie
eines Phänomens. Ich habe lange Jahre unter Mördern, Wollüstlingen und
den abgefeimtesten Spitzbuben gelebt, doch kann ich ruhig sagen, daß ich
eine so absolute sittliche Verkommenheit, eine so scheußliche Verderbnis
und so niedrige Gemeinheit wie bei A–ff niemals angetroffen habe. Bei
uns im Ostrogg gab es noch einen Vatermörder, gleichfalls adliger
Herkunft – es ist einmal schon von ihm die Rede gewesen –, doch konnte
ich mich an vielen Dingen überzeugen, daß selbst dieser unvergleichlich
menschlicher und edler war als A–ff. In meinen Augen war A–ff während
der ganzen Zeit meines Ostrogglebens ein Stück Fleisch mit Zähnen und
einem Magen und mit unstillbarem Verlangen nach rohesten, tierischsten
physischen Genüssen, und für die Befriedigung selbst der kleinsten
dieser Verlangen wäre er fähig gewesen, in der kaltblütigsten Weise zu
ermorden, zu erdrosseln, mit einem Wort, zu allem, vorausgesetzt nur,
daß die Sache nicht herauskäme und er keine Strafe zu fürchten hatte.
Ich übertreibe durchaus nicht, ich habe ihn nur zu gut erkannt. Er war
ein Beispiel dafür, wie weit die physische Seite des Menschen, sobald
sie innerlich von keiner Norm, keinem Gesetz zusammengehalten wird,
sinken kann. Und wie ekelhaft war es mir, sein ewig höhnisches Lächeln
zu sehen. Er war ein Monstrum, ein sittliches Ungeheuer. Dazu war er
noch schlau und klug, hübsch, sogar gewissermaßen gebildet, nicht
unbegabt. Nein, dann wäre es doch besser, eine Feuersbrunst käme über
die Welt, oder Pest und Hungersnot, als daß solch ein Mensch in der
Gesellschaft bliebe!

Ich habe schon davon gesprochen, daß im Ostrogg alles so verrottet war,
daß Spionage und heimliche Anzeigen geradezu blühten, die Arrestanten
aber über die Spione oder Hinterbringer nicht den geringsten Unwillen
bekundeten. Im Gegenteil, mit A–ff z. B. standen sie sich sogar sehr gut
und verkehrten mit ihm unvergleichlich freundschaftlicher als mit uns
übrigen. Das Wohlwollen, das unser Major in trunkenem Zustande für ihn
an den Tag legte, gab ihm in den Augen der anderen Bedeutung und
Gewicht. Unter anderem hatte er auch den Major versichert, daß er
Porträts malen könne – den Arrestanten hatte er gesagt, er sei
Gardeleutnant gewesen –, worauf jener ihn zu sich ins Haus zur Arbeit
kommen ließ, um ihn, den Major, zu porträtieren. Bei der Gelegenheit war
er denn auch mit Fedjka zusammengekommen, der auf seinen Herrn und
folglich auch auf alle und alles im Ostrogg einen großen Einfluß hatte.
A–ff spionierte im Ostrogg auf Verlangen des Majors, dieser aber
schimpfte ihn deswegen, wenn er ihm in betrunkenem Zustande Ohrfeigen
gab, nannte ihn einen Ohrenbläser, gemeinen Hinterbringer und Spion. Es
kam vor, und sogar sehr oft, daß der Major sich im nächsten Augenblick
nach den Ohrfeigen wieder auf seinen Stuhl setzte und ihm weiterzumalen
befahl. Unser Major schien in der Tat zu glauben, daß A–ff ein
bedeutender Künstler sei, womöglich ein zweiter Brüloff, von dem auch er
einmal gehört haben mochte, doch ungeachtet aller Genialität, glaubte
er, der Major, sich doch berechtigt, den anderen links und rechts zu
schlagen, denn wenn jener auch ein noch so großer Künstler und selbst
ein doppelter Brüloff gewesen wäre, so war er, der Major, ihm doch noch
über, nämlich als sein Vorgesetzter, und folglich konnte er mit jenem
machen, was er wollte. Übrigens ließ er sich von A–ff auch die Stiefeln
ausziehen, verschiedene Gefäße aus dem Schlafzimmer hinaustragen, konnte
sich aber trotz allem lange Zeit noch nicht von dem Gedanken lossagen,
daß A–ff ein großer Künstler sei. Mit dem Porträtieren ging es unendlich
langsam vorwärts, fast ein ganzes Jahr lang zog sich das Malen hin, bis
der Major dann doch endlich erriet, daß er betrogen worden war. Da sah
er denn auch bald ein, daß das Bild ihm mit jedem Tage unähnlicher wurde
und seine Vollendung noch weit im Felde lag: er verprügelte den Künstler
und schickte ihn zur Strafe in den Ostrogg zur schwersten Arbeit. A–ff
bedauerte diese Schicksalswendung natürlich sehr, und es fiel ihm
schwer, auf die schönen müßigen Tage, die Abfälle von der Majorstafel,
seinen Freund Fedjka und auf alle schönen Dinge, die sie sich in der
Küche zu bereiten gewußt hatten, ein für allemal Verzicht zu leisten.
Jedenfalls hörte der Major nach der Entfernung A–ffs auf, einen gewissen
M. zu verfolgen, einen Sträfling, den A–ff unaufhörlich bei ihm
verleumdet hatte, und zwar aus folgendem Grunde: Dieser M. war vor der
Ankunft A–ffs im Ostrogg völlig allein gewesen. Er hatte große Sehnsucht
nach einem Menschen, mit dem er hätte sprechen können, hatte aber für
die übrigen Arrestanten nur Entsetzen und Widerwillen übrig, und
bemerkte natürlich nichts von all dem, was ihn hätte aussöhnen und sie
ihm näherbringen können. Die Arrestanten zahlten ihm mit derselben Münze
heim. Überhaupt ist im Ostrogg die Stellung solcher Leute wie M. einfach
grauenvoll. Der Grund, warum man A–ff verschickt hatte, war ihm
unbekannt. A–ff dagegen, der bald erriet, mit wem er es zu tun hatte,
versicherte ihn, er, A–ff, sei so gut wie für das Gegenteil einer
Denunziation verschickt worden, also fast für dasselbe Vergehen,
aufgrund dessen auch M. in den Ostrogg gekommen war. M. war glückselig
über den Schicksalsgenossen und Freund, pflegte, tröstete ihn in den
ersten Tagen, da er glaubte, jener müsse sehr leiden, gab ihm sein
letztes Geld, gab ihm zu essen, teilte mit ihm seine ganze Habe. A–ff
aber fing sofort an, ihn zu hassen, vor allem deshalb, weil jener ein
edler Mensch war und mit solchem Entsetzen auf jede niedrige Handlung
sah, und hauptsächlich, weil er selbst diesem M. so unähnlich war. Und
schon bei der ersten Gelegenheit beeilte sich A–ff, alles dem Major
mitzuteilen, was M. ihm in den Gesprächen über den Ostrogg und den Major
gesagt hatte.

Der Major schwor dafür Rache, haßte M. und versuchte ihm zu schaden, wo
er nur konnte, und wenn nicht der Kommandeur noch mit seiner Autorität
dagewesen wäre, hätte der Major es richtig noch zu etwas Schlimmerem
gebracht. Doch all das verwirrte A–ff nicht im geringsten, als M. von
seiner Schändlichkeit erfuhr; es behagte ihm sogar, jenem zu begegnen
und ihn mit höhnischem Lächeln anzusehen. Das schien ihm geradezu ein
Genuß zu sein. M. wies mich mehr als einmal selbst darauf hin. Dieses
verkommene Subjekt floh später mit einem anderen Arrestanten und einem
Eskortesoldaten, aber von dieser Flucht werde ich später ausführlicher
erzählen. Anfangs versuchte er, auch bei mir sich einzuschmeicheln, da
er im Glauben war, ich wüßte nichts von seiner Vergangenheit. Ich
wiederhole es, dieses Subjekt machte mir die erste Zeit im Ostrogg noch
schwerer, als sie ohnehin gewesen wäre. Mich entsetzte diese furchtbare
Gemeinheit und Niedrigkeit, in die ich mich mitten hineinversetzt sah,
als ich wieder zu mir kam und erwachte. Ich glaubte, daß hier im Ostrogg
alle so schändlich und gemein wären. Aber ich hatte mich getäuscht: ich
hatte nach A–ff auf alle geschlossen.

In diesen drei arbeitslosen Tagen schlenderte ich in meiner gedrückten,
qualvollen Stimmung im Ostrogg umher, lag auf der Pritsche und gab einem
zuverlässigen Arrestanten, den Akim Akimytsch mir empfohlen hatte, die
mir ausgelieferte Leinwand ab, um mir Hemden nähen zu lassen, –
natürlich für Bezahlung, das Hemd kostete nur wenige Kopeken –, schaffte
mir auf den dringenden Rat Akim Akimytschs hin eine zusammenlegbare
Matratze an, die aus Filz bestand, mit Leinwand überzogen und dünn wie
ein Pfannenkuchen war, und außerdem noch ein Kopfkissen, das mit Wolle
ausgestopft war und mir entsetzlich hart vorkam, da ich mich an so etwas
noch nicht gewöhnt hatte. Akim Akimytsch bemühte sich eifrig um die
Herstellung all dieser Sachen und nähte mir noch eigenhändig eine Decke
aus alten Tuchstücken, alten Beinkleidern und Jacken, die ich von den
anderen Arrestanten aufgekauft hatte.

Die ausgelieferten Kleidungsstücke wurden, wenn sie ihre
vorschriftsmäßige Zeit vorgehalten hatten, Eigentum des Arrestanten, der
sie dann sofort verkaufte; wie abgetragen das Ding auch sein mochte – im
Ostrogg hatte es immer noch einen Wert. Überhaupt kam ich anfangs aus
der Verwunderung gar nicht heraus; war es doch meine erste unmittelbare
Berührung mit dem Volke. Ich selbst wurde plötzlich ganz ebenso Volk,
ebenso ein sibirischer Arrestant, wie sie. Ihre Angewohnheiten,
Begriffe, Meinungen, Sitten – wurden gleichsam auch die meinen,
wenigstens der Form, dem Gesetz nach, wenn es auch in Wirklichkeit nicht
der Fall war. Ich war erstaunt und verwirrt, als hätte ich vorher noch
nichts von alledem geahnt oder gehört, obgleich ich schon vieles gewußt
und gehört hatte. Aber die Wirklichkeit bringt immer einen ganz anderen
Eindruck hervor, als das Wissen und Hören. Wie hätte ich zum Beispiel
früher denken können, daß solche Sachen, solche Lumpen auch noch als
Gegenstände oder gar als kaufkräftige Ware angesehen werden könnten. –
Und da nähte ich mir nun aus ihnen noch eine Schlafdecke! Auch ist es
schwer, sich vorzustellen, von welcher Art der Stoff war, der dem
Arrestanten für die Kleider ausgeliefert wurde. Dem Ansehen nach schien
er tatsächlich dickes Militärtuch zu sein; kaum aber war er getragen, so
verwandelte er sich förmlich in ein Netz und zerriß empörend leicht.
Übrigens mußte man mit dem Tuchanzug nur ein Jahr auskommen, aber selbst
das war schwer. Ein Zwangsarbeiter muß naturgemäß arbeiten, er muß
schwere Lasten tragen; seine Kleider werden abgerieben und zerreißen
bald. Mit dem Pelze dagegen mußte man drei Jahre lang auskommen und
diese Pelze dienten in der Regel noch als Schlafdecken und als
Unterlage, da nur wenige Matratzen besaßen. Doch die Pelze sind stark.
Trotzdem aber sah man nicht selten jemand, dessen Pelz zu Ende
des dritten Jahres mit gewöhnlicher Leinwand geflickt war.
Nichtsdestoweniger wurden sie, wenn sie auch noch so abgetragen waren,
nach Ablauf der Tragefrist für fünfzig Kopeken in Silber verkauft. Für
besser erhaltene wurden sogar sechzig bis siebzig Kopeken gezahlt, das
aber ist in der Kátorga viel Geld.

Das Geld selbst hatte dort, wie ich schon mehrmals erwähnt habe, eine
ungeheure Bedeutung, ja sogar Macht. Man kann ohne weiteres behaupten,
daß ein Sträfling, der Geld hatte – und wenn es auch noch so wenig war –
zehnmal weniger litt, als einer, der gar keines besaß, obwohl auch für
diesen vom Staat gesorgt wurde. Wozu braucht ein Sträfling Geld? Das war
etwas, was unsere „Obrigkeit“ nicht begreifen konnte. Ich aber sage
nochmals: hätten die Sträflinge keine Möglichkeit gehabt, ihr eigenes
Geld zu besitzen, so wären sie entweder irrsinnig geworden, oder sie
wären wie die Fliegen gestorben – ungeachtet dessen, daß für sie in
allem gesorgt war – oder, schließlich, sie hätten unerhörte Verbrechen
begangen, die einen aus Sehnsucht, die anderen, um irgendwie so schnell
als möglich vernichtet, hingerichtet zu werden, oder einfach irgendwie
„sein Schicksal zu verändern“, wie der technische Ausdruck lautete. Wenn
nun der Arrestant die Kopeken, die er im Schweiße seines Angesichts
erworben hat, oder zu deren Erwerb er sich das Schlaueste ersonnen, was
zugleich mit Diebstahl und Schurkereien verknüpft ist, wenn er sich für
dieses Geld in die größte Gefahr begeben hat, dann aber dieses sauer
erworbene Geld in einem Augenblick und so unklug, mit solchem kindischen
Leichtsinn verschleudert, so beweist das noch lange nicht, daß er das
Geld nicht schätzte, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint.
Geldgierig ist er bis zur Krampfhaftigkeit, bis zum vollkommenen Verlust
jeglicher Vernunft, und wenn er es beim „Durchgehen“ auch tausendmal wie
Hobelspäne verschleudert, so verschleudert er es doch nur für das, was
er noch höher hält als das Geld.

Was aber ist denn für den gefesselten Arrestanten noch höher als Geld?

Die Freiheit oder auch nur ein Traum, eine Vortäuschung von Freiheit.

Die sibirischen Zwangsarbeiter sind große Träumer. Doch davon werde ich
später erzählen. Nur will ich, da ich soeben darauf zu sprechen gekommen
bin, noch ein Beispiel anführen, ich weiß aber nicht, ob man es mir
glauben wird: ich habe von den schwersten Verbrechern, die zu _zwanzig_
Jahren verurteilt waren, gehört – sie haben es mir selbst gesagt: „Nur
ein bißchen Geduld, wenn Gott will, erledige ich hier noch meine
Strafzeit, und dann ...“

Die ganze Bedeutung des Wortes „Arrestant“ bezeichnet einen Menschen
ohne Willen, verschwendet er aber Geld, so handelt er nach _eigenem
Willen_. Ungeachtet aller Brandmale, Ketten und des verhaßten
Palissadenzauns, der ihm Gottes Welt abschließt, und ihn wie ein Tier im
Käfige gefangen hält – kann er sich doch Branntwein verschaffen, d. h.
soviel wie einen strengstens verbotenen Genuß, für Geld kann er sogar
Frauenzimmer besuchen, kann er zuweilen sogar – wenn auch nur sehr
selten – seine nächsten Vorgesetzten bestechen, die Invaliden und selbst
den Unteroffizier, die dann ein Auge halb zudrücken, wenn er gegen das
Gesetz und die Disziplin verstößt und ihm in manchen Dingen durch die
Finger sehen, und obendrein kann er sich sogar ihnen gegenüber in die
Brust werfen – das aber tut er ganz außerordentlich gern, – kann er sich
vor den Kameraden den Anschein geben und sogar sich selbst überzeugen –
wenn auch nur _auf kurze Zeit_, – daß er weit mehr Willen und Macht
besitze, als es scheine. Mit einem Wort, er kann prassen und Lärm
schlagen, kann sogar einen anderen unter die Füße treten und ihm
beweisen, daß er alles das wirklich _kann_, daß es _in seiner Macht_
liegt, d. h., er kann sich im Besitz einer Sache glauben, an die der
arme Teufel nicht einmal denken darf. Vielleicht ist das auch der Grund,
warum man bei den Arrestanten, selbst wenn sie nüchtern sind, eine so
allgemeine Neigung zur Prahlerei findet, zu mutigem Auftreten, zu einer
oft lächerlichen und naiven Erhebung der eigenen Persönlichkeit, wenn
auch nur einer scheinbaren. Endlich kommt noch hinzu, daß diese ganze
Prasserei nicht so ungefährlich ist, – folglich ist das Ganze immerhin
eine gewisse Lebensvortäuschung, ein gewisser Schimmer von Freiheit. Und
was gibt man nicht für die Freiheit! Welcher Millionär würde nicht, wenn
der Strang seinen Hals schon schnürte, alle seine Millionen für einen
einzigen Atemzug hingeben?

Da wundern sich zuweilen die Vorgesetzten, daß ein Arrestant, der lange
Jahre so musterhaft sich aufgeführt hat, und womöglich zum Aufseher
erhoben worden ist, ganz plötzlich und ohne jede Veranlassung – als wäre
er rein des Teufels geworden – es plötzlich so toll treibt, wie man es
von ihm nie und nimmer erwartet hätte, mitunter läßt er es sogar auf ein
Kriminalverbrechen ankommen, oder er zeigt sich offenkundig
unehrerbietig gegen die höchsten Vorgesetzten, oder er erschlägt oder
überfällt irgend einen. Man sieht ihn an und wundert sich. Indessen ist
die ganze Ursache dieses plötzlichen Ausbruchs in dem bis dahin
friedlichsten Menschen, von dem man Ähnliches nie erwartet hätte – der
plötzliche Durchbruch der Persönlichkeit, die instinktive Sehnsucht nach
seinem eigenen Menschen, das Verlangen, diesen Menschen zu beweisen,
seine erniedrigte Persönlichkeit hervorzukehren, und dieses Bedürfnis
erwacht nun plötzlich mit einer Wucht in ihm, die zur Raserei, zur
Tollwut, zu völliger Besinnungslosigkeit, zu einem Anfall, einem Krampf
wird. So mag vielleicht ein lebendig Begrabener, wenn er unter der Erde
erwacht, an seinen Sargdeckel schlagen und sich anstrengen, ihn
aufzubrechen, obgleich ihm doch seine Vernunft sagen müßte, daß alle
seine Anstrengungen vergeblich sind. Aber das ist es ja eben, daß es
sich hier nicht um Vernunft handelt, sondern gewissermaßen um – Krämpfe.
Jetzt bedenke man noch, daß jede eigenwillige Äußerung der
Persönlichkeit beim Arrestanten für Verbrechen angesehen wird, in dem
Falle aber ist es ihm natürlich gleichgültig, ob es ein größerer oder
kleinerer Ausbruch ist. Geht er durch, dann geht er durch, wagt er
einmal, dann wagt er eben – dann kommt es ihm auch auf einen Totschlag
nicht an. Und die Hauptsache ist ja nur der Anfang: ist er erst einmal
betrunken, dann läßt er sich nicht mehr halten. Daher ist es wohl
besser, es nicht so weit kommen zu lassen. Alle hätten es besser.

Ja, aber wie läßt sich das machen?


                                  VI.

                      Der erste Monat, Fortsetzung

Bei meinem Eintritt in den Ostrogg besaß ich einiges Geld; bei mir aber,
in der Tasche, hatte ich nur wenig, aus Furcht, es könnte mir abgenommen
werden, doch auf alle Fälle waren im Einband meiner Bibel einige Rubel
verborgen, d. h. einfach eingeklebt. Dieses Buch mit dem eingeklebten
Gelde war mir in Tobolsk von Leuten geschenkt worden, die gleichfalls in
der Verbannung litten, die bereits seit Jahrzehnten dort leben mußten
und die schon längst in jedem Unglücklichen einen Bruder zu sehen
gewohnt waren. Es gibt dort in Sibirien fast überall solche Menschen,
die, wie es scheint, ihre Lebensaufgabe darin sehen, den „Unglücklichen“
brüderliche Pflege angedeihen zu lassen, mit ihnen zu leiden und sie wie
eigene Kinder zu lieben – mit einer uneigennützigen, heiligen Liebe.

Ich kann es nicht unterlassen, von einer Begegnung zu erzählen, die
jetzt wieder so deutlich vor mir steht, als hätte sie erst gestern
stattgefunden.

In der Stadt, in der sich unser Ostrogg befand, lebte eine Witwe,
Nastaßja Iwanowna. Natürlich konnte niemand von uns, solange wir im
Ostrogg waren, persönlich mit ihr bekannt werden. Sie hatte es sich zu
ihrer Lebensaufgabe gemacht, für die Verschickten zu sorgen, doch am
meisten sorgte sie für uns. Vielleicht war in ihrer Familie ein
ähnliches Unglück vorgekommen, oder es hatte ein Mensch, der ihrem
Herzen besonders teuer gewesen und nahegestanden, unter demselben
Schicksal zu leiden gehabt – das weiß ich nicht. Jedenfalls aber war sie
glücklich, alles für uns zu tun, was sie nur konnte. Viel tun konnte sie
freilich nicht, denn sie war selbst sehr arm. Wir aber, die wir im
Ostrogg saßen, fühlten und wußten, daß wir dort jenseits der Palissaden
einen treuen Freund hatten. Unter anderem ließ sie uns oft Nachrichten
zukommen, nach denen wir uns fast krank sehnten. Als ich dann den
Ostrogg verließ und in eine andere Stadt zur Ansiedlung geschickt wurde,
fand ich noch Gelegenheit, zu ihr zu gehen und sie persönlich kennen zu
lernen. Sie lebte bei einem ihrer nahen Verwandten. Sie war weder alt
noch jung, weder hübsch noch häßlich; ja man konnte nicht einmal
feststellen, ob sie klug, ob sie gebildet war? Man sah in ihr nur auf
jedem Schritt und Tritt eine unendliche Güte, den unbezwingbaren Wunsch
zu helfen, zu erleichtern, einem etwas Angenehmes zu tun. Alle ihre
Gefühle lagen in ihrem stillen, guten Blick. Ich verbrachte zusammen mit
einem meiner Ostroggkameraden einen ganzen Abend bei ihr. Sie sah uns
nur an, lachte, wenn wir lachten, beeilte sich, allem zuzustimmen, was
wir auch sagen mochten. Sie bewirtete uns, womit sie nur konnte: sie
reichte Tee, einen kleinen Imbiß, eingemachte Früchte, und wenn sie
Tausende besessen hätte – sie würde sich über das Geld nur aus dem einen
Grunde gefreut haben, weil sie dann uns und unseren im Ostrogg
zurückgebliebenen Kameraden noch mehr hätte helfen können. Beim Abschied
brachte sie noch mir und meinem Kameraden je ein Zigarettenetui zum
Andenken. Diese Etuis klebte sie eigenhändig für uns – Gott weiß, wie
sie geklebt waren! Sie bestanden aus Pappe und waren mit buntem
Glanzpapier überzogen, genau demselben, in das die kurzgefaßten
Rechenbücher der kleinen Schulen eingebunden sind (vielleicht bestanden
sie auch tatsächlich aus den Deckeln eines solchen Arithmetikbuches). An
den Rändern aber waren beide Hälften des Etuis zur Verzierung mit einer
schmalen Bordüre von Goldpapier eingefaßt, die sie wahrscheinlich lange
in den Läden gesucht hatte.

„Sie rauchen doch Zigaretten, vielleicht können Sie dann dieses hier
gebrauchen,“ sagte sie schüchtern, als wolle sie sich ihres Geschenkes
wegen entschuldigen.

Es gibt Menschen, die da sagen – ich selbst habe es gehört und gelesen,
– daß die größte Liebe zum Nächsten zu gleicher Zeit der größte Egoismus
sei. Worin nun hier Egoismus gewesen sein sollte, werde ich nie
verstehen.

Wenn ich nun auch bei meinem Eintritt in den Ostrogg durchaus nicht viel
Geld besaß, so vermochte ich es doch nicht, über jene ungehalten zu
sein, die schon in den ersten Stunden von mir Geld geborgt und mich
natürlich betrogen hatten, und dann höchst naiv zum zweiten, dritten und
sogar fünften Male zu mir kamen, um noch weiteres Geld zu borgen. Eines
aber muß ich ganz offen gestehen: es ärgerte mich nicht wenig, daß alle
diese Banditen mit ihrer naiven Schlauheit mich unbedingt, wie es mir
schien, für einen echten rechten Einfaltspinsel, für einen dummen Jungen
hielten und sich über mich lustig machten, weil ich ihnen auch zum
fünften Male das Geld gab. So mußte es ihnen unbedingt scheinen, daß ich
mich von ihrer Schlauheit und Gewandtheit betrügen ließ, während sie,
wenn ich ihnen nichts gegeben und sie fortgejagt hätte, – davon war ich
überzeugt – mich unvergleichlich mehr geachtet haben würden. Aber wie
sehr ich mich auch ärgerte, abschlagen konnte ich es ihnen doch nicht.
Und ich ärgerte mich, weil ich in diesen ersten Tagen ernstlich und
besorgt darüber nachdachte, wie ich mich im Ostrogg verhalten, oder
richtiger, auf welchen Fuß ich mich mit ihnen stellen sollte. Ich fühlte
und begriff, daß diese ganze Umgebung für mich völlig neu war, daß ich
völlig im Dunkel saß, in demselben aber unmöglich so lange Jahre sitzen
bleiben konnte. Folglich hieß es, sich vorbereiten. Versteht sich, ich
kam mit mir überein, daß man vor allen Dingen offen sein und offen
handeln müsse, wie es das innere Gefühl und das Gewissen befahlen.
Andererseits aber wußte ich, daß dieses nur Theorie war und vor mir
jedenfalls noch die unerwartetste Praxis erscheinen würde.

Und darum quälte mich, ungeachtet all der kleinen Sorgen um meine
Einrichtung in der Kaserne (von denen ich schon erzählt habe und in die
mich der vorsorgliche Akim Akimytsch hineinzog) und ungeachtet dessen,
daß sie mich immerhin ein wenig zerstreuten, – trotzdem quälte mich eine
nagende Sehnsucht immer unerträglicher.

„Ein Totenhaus!“ sagte ich zu mir, wenn ich zuweilen in der Dämmerung
von der kleinen Treppe unserer Kaserne auf die Arrestanten blickte, die
schon von der Arbeit heimkehrten und faul über den Hof in die Küchen
schlenderten und aus den Küchen wieder zurück in die Kasernen. Ich
betrachtete sie, betrachtete jeden einzelnen, und bemühte mich, an ihren
Gesichtern und ihren Bewegungen zu erkennen, was für Menschen sie waren
und was für Charaktere sie hatten. Sie aber schlenderten vor mir mit
finster gerunzelten Stirnen, oder aber in sorgloser Heiterkeit – diese
beiden Erscheinungen trifft man am häufigsten, sie sind zugleich die
Charakteristik der Kátorga, – sie schimpften sich gegenseitig oder sie
sprachen ganz gewöhnlich miteinander, oder sie gingen einzeln umher,
gleichsam in Gedanken versunken, langsam, gleichmütig, einige müde und
teilnahmslos, andere wiederum – selbst hier! – mit einem Ausdruck
anmaßender Überlegenheit, die Mützen auf einem Ohr, die Halbpelze nur
über die Schultern geworfen, mit frechem, listigem Blick und frechem,
spöttischem Lächeln.

„Das ist jetzt meine Umgebung, meine neue Welt,“ dachte ich, „in der
ich, ob ich will oder nicht, leben muß ...“

Ich machte auch wiederholt den Versuch, von Akim Akimytsch etwas über
sie zu erfahren, wenn ich mit ihm Tee trank, um nicht allein trinken zu
müssen. Tee war in dieser ersten Zeit so gut wie meine einzige Nahrung.
Akim Akimytsch sagte nie ab, wenn ich ihn aufforderte, was ich gerne
tat, und stellte selbst unseren, d. h. von M. geliehenen
selbstverfertigten kleinen Blechssamowar auf, der spaßig anzusehen war.
Akim Akimytsch trank nie mehr als ein Glas, – er besaß sogar Gläser –
trank schweigend und würdevoll, reichte es mir mit einem Dank zurück und
machte sich dann sofort an meine Schlafdecke, die er, wie ich schon
sagte, aus alten Zeugstücken zusammennähte. Das aber, was ich von ihm
erfahren wollte, – das erfuhr ich nicht, ja er schien es nicht einmal
begreifen zu können, weshalb ich mich so besonders für die Charaktere
der uns umgebenden und am nächsten stehenden Sträflinge interessierte.
Er hörte mir nur mit einem seltsam schlauen, verschlagenen Lächeln zu,
das ich noch lebhaft vor mir sehe. Nein, wie man sieht, muß man hier
selbst alles erfahren und nicht durch andere zu erfahren suchen, dachte
ich bei mir.

Am Morgen des vierten Tages stellten sich die Arrestanten wieder so auf,
wie damals, als ich mit ihnen zur Schmiede gegangen war: auf dem Platz
vor der Wache in zwei Reihen. An der Spitze, mit dem Gesicht zu ihnen,
und hinter ihnen standen die Soldaten mit geladenem Gewehr und
aufgepflanztem Bajonett. Der Soldat hat das Recht, auf den Gefangenen zu
schießen, wenn dieser den Versuch macht, seiner Eskorte zu entfliehen;
andererseits aber ist er auch verantwortlich für den Schuß, wenn er ihn
nicht im äußersten Notfall abgefeuert hat; dasselbe galt auch für den
Fall einer allgemeinen Empörung der Gefangenen. Aber wem wäre es wohl
eingefallen, an eine offene Flucht zu denken!

Darauf kamen ein Offizier, die Unteroffiziere, Soldaten und die
Arbeitsaufseher. Alle Namen wurden aufgerufen. Der Teil der Arrestanten,
der in den Schneiderwerkstätten arbeitete, ging ganz zuerst ab; dieser
hatte mit den Aufsehern nichts zu tun. Dort wurde hauptsächlich für den
Ostrogg gearbeitet, für den die verschiedenen Kleidungsstücke
herzustellen waren. Dann ging ein Teil in die anderen Werkstätten ab,
und dann erst kamen die sogenannten „Schwarzarbeiter“ an die Reihe, die
für die gewöhnlichen schweren Arbeiten bestimmt waren. Mit etwa zwanzig
anderen marschierte auch ich ab.

Hinter der Festung lagen am Ufer des zugefrorenen Flusses zwei
alte Barken, beide Staatseigentum, die wegen Untauglichkeit
auseinandergenommen werden sollten, damit wenigstens das Holz nicht
unnütz verfaulte. Übrigens war dieses ganze alte Material nur sehr wenig
wert, vielleicht überhaupt nichts, denn Holz wurde in der Stadt
spottbillig verkauft, da es Wald ringsum ungeheuer viel gab. Die
Arrestanten wurden aber hingeschickt, damit sie eine Arbeit hatten, was
sie natürlich selbst sehr gut begriffen. An eine solche Arbeit machten
sie sich denn auch faul und ungern, während es etwas ganz anderes war,
wenn sie eine zweckmäßige und interessante Arbeit bekamen, und besonders
wenn sie sich eine „Aufgabe“ ausbitten konnten. Dann waren sie plötzlich
alle wie begeistert und wenn sie auch selbst nichts davon hatten, so
plagten sie sich doch im Schweiße ihres Angesichts und mit wahrhaft
erstaunlichem Eifer, um sie so schnell und so gut als möglich zu beenden
– dann war gleichsam ihr Ehrgeiz mit im Spiel. Bei einer solchen Arbeit
dagegen, wie diese Barken abzubrechen, die mehr nur ^pro forma^ gemacht
werden mußte, als aus Notwendigkeit, war es schwer, eine „Aufgabe“ zu
erbitten, da mußte man bis zum Trommelschlage arbeiten, der um elf Uhr
vormittags zur Heimkehr rief.

Es war ein warmer, nebliger Wintertag, es fehlte nicht viel, und wir
hätten Tauwetter gehabt. Unsere ganze Abteilung begab sich hinter die
Festung zum Ufer, leise mit den Ketten klirrend, die, obwohl sie unter
den Kleidern verborgen waren, dennoch bei jedem Schritt einen feinen,
hellen metallischen Klang gaben. Zwei oder drei von uns wurden ins
Zeughaus nach den erforderlichen Werkzeugen geschickt. Ich ging mit den
anderen weiter, während ich mich innerlich gewissermaßen belebte: ich
sollte sehen und erfahren, was unsere Arbeit sein würde. Worin bestand
die sibirische Zwangsarbeit? Und wie würde ich selbst zum erstenmal in
meinem Leben arbeiten?

Ich erinnere mich noch des ganzen Tages bis in die kleinsten
Einzelheiten.

Unterwegs begegnete uns ein bärtiger Kleinbürger: er blieb stehen und
schob die Hand in die Tasche. Aus unserem Trupp löste sich sogleich ein
Arrestant, trat ihm entgegen, nahm die Mütze ab, empfing ein Almosen, –
fünf Kopeken, und kehrte schnell wieder zurück. Diese fünf Kopeken
wurden noch am selben Morgen in Kalatschen verzehrt, die für alle in
gleiche Stücke geteilt wurden.

In diesem ganzen Trupp waren einige wie gewöhnlich düster und
schweigsam, andere teilnahmslos und trüge, und wieder gab es einige, die
eigentlich nur aus Gewohnheit schwatzten. Einer von ihnen war ganz
besonders guter Laune, er sang und hätte unterwegs beinahe getanzt,
jedenfalls hopste er hin und her, wozu seine Ketten lauter klirrten. Das
war jener selbe mittelgroße, etwas dicke Arrestant, der am ersten Morgen
nach meiner Ankunft mit dem Hochgewachsenen beim Wassereimer gestritten
hatte, weil jener von sich ohne Bedenken zu behaupten gewagt hatte, er
sei ein Reiher. Dieser kleine lustige Bursche hieß Skuratoff. Jetzt
stimmte er plötzlich ein loses Lied an, von dem ich nur noch einen
Refrain behalten habe:

   „Ohne mich ward ich vermählt
   Mit der schönen Müllerin!“

Es fehlte nur noch eine Balalaika dazu.

Seine ungewöhnlich heitere Gemütsverfassung erweckte selbstverständlich
in einigen anderen ernsten Unwillen, ja sie faßten seine Heiterkeit fast
als persönliche Beleidigung auf.

„Da brüllt er nun!“ brummte unwirsch einer, den die Sache übrigens
nichts anging.

„Tas war ein Walfslied, tu aber hast’s umketreht, Grützkopf!“ bemerkte
einer der Mürrischen mit starkem kleinrussischen Akzent.

„Gut, ich bin meinetwegen auch ein Grützkopf, ihr aber habt euch dort in
Poltawa alle mit euren Mehlklümpchen ‚umkepracht‘ und seid Mehlwürmer
geworden,“ foppte Skuratoff nicht maulfaul.

„Tu lügst! Was hast tu selbst gefressen? Hast mit deinen Beinen Kohl
gelöffelt.“

„Und hier scheint ihn der Teufel mit Kanonenkugeln zu stopfen,“ bemerkte
ein anderer.

„Ja, es ist wahr, Bruderherz, ich bin ein verzärtelter Mensch,“
antwortete Skuratoff mit einem leichten Seufzer, ganz als bereue er die
nicht zu verändernde Tatsache, doch sprach er es mehr zu allen gewandt,
als zu einem einzigen. „Von Kindesbeinen an bin ich mit schwarzen
Pflaumen und weißen Semmeln aufgereckt worden“ (d. h. aufgezogen.
Skuratoff verdrehte die Worte absichtlich). „Meine leiblichen Brüder
haben auch jetzt noch in Moskau ihre Handlung, sie handeln nämlich in
der Durchgangsstraße mit Wind, sind die reichsten Kaufleute.“

„Und womit hast du gehandelt?“

„Hm, auch ich bin aus verschiedenen Eigenschaften hervorgegangen. Und
damals, Freundchen, bekam ich die ersten Zweihundert ...“

„Rubel doch nicht??“ fiel hastig ein Neugieriger ein, der sich sogleich
zu beleben schien, als er von so großem Gelde hörte.

„Nein, lieber Mensch, nicht Rubel, sondern Hiebe. Luka, heda! Hör mal,
Luka!“

„Luka bin ich für manchen schon, für dich aber bin ich Luka Kusmitsch
...“ brummte unwillig ein kleiner Mann mit einem spitzen Näschen, der
gleichfalls aus Kleinrußland stammte.

„Nun, dann Luka Kusmitsch, hol dich der Teufel, mag’s denn meinetwegen
so sein.“

„Für manchen Luka Kusmitsch, für dich aber Onkelchen.“

„Ach, zum Teufel mit dir samt dem Onkelchen, so lohnt sich’s ja gar
nicht, zu reden! Wollte aber ein hübsches Geschichtchen erzählen ... Nun
und so kam’s denn, daß ich nicht lange in Moskau auflebte; man gab mir
dort noch aufs Geleit fünfzehn Hiebe und dann – adjes Madrid! Und jetzt
bin ich hier ...“

„Aber für was kriegtest du denn die fünfzehn?“ fragte einer, der
aufmerksam zuhörte.

„Für was! Geh nicht in die Quarantäne, trink nicht direkt vom Spund,
spiel nicht den Spaßvogel, – so daß ich, Freundchen, keine Zeit hatte,
in der richtigen Weise in Moskau reich zu werden. Das aber wollte ich
gewaltig, gewaltig, ganz gewaltig, sag ich dir, nämlich reich werden.
Das wollte ich aber so, daß ich es dir selbst nicht zu sagen weiß, wie.“

Man lachte. Skuratoff war offenbar einer der freiwilligen Spaßmacher,
oder richtiger, Narren, die es sich gleichsam zur Aufgabe gemacht
hatten, ihre düsteren Genossen zu erheitern, und dafür, versteht sich,
nichts als Schimpf und Spott ernteten. Er gehörte zu einem besonderen
und sogar auffallenden Typus, auf den ich vielleicht noch einmal zu
sprechen kommen werde.

„Dich kann man ja auch jetzt statt des Pöbels schlagen,“ bemerkte Luka
Kusmitsch. „Sieh mal einer, seine Kleider sind ja allein schon an
hundert Rubel wert.“

Skuratoff hatte den ältesten oder vielmehr abgetragensten Schafspelz, an
dem auf allen Seiten Flicken hingen. Aufmerksam, doch ziemlich
gleichmütig besah er sich von oben bis unten.

„Dafür ist der Kopf teuer, Freundchen, der Kopf!“ antwortete er. „Das
tröstete mich auch damals, als ich Moskau verließ, nämlich daß mein Kopf
mit mir ging. Leb wohl, Moskau, ich danke dir für das Bad, für den
freien Geist, prächtig hat man mich dort mit Streifen versehen! Aber auf
meinen Pelz, Freundchen, hast du keine Ursach zu sehen ...“

„Ich soll wohl nur nach deinem Kopf blicken?“

„Auch der Kopf gehört ihm ja gar nicht mehr,“ mischte sich wieder Luka
ein, „der ist nur noch eine milde Gabe, die man ihm unterwegs um Christi
willen geschenkt hat, als er mit seinem Trupp durchzog.“

„Du, Skuratoff, du hast doch sicher auch ein Handwerk gelernt?“

„Was Handwerk! Führer war er ... hat bei ihnen Kieselsteine geschleppt,“
meinte einer der Mürrischen, „das ist sein ganzes Handwerk!“

„Ich habe einmal vorversucht, Stiebel zusammenzunähen,“ sagte Skuratoff,
als hätte er die spitze Bemerkung des anderen ganz überhört. „Aber es
blieb beim ersten Paar.“

„Na was, wurde es dir auch abgekauft?“

„Ja, es kam so einer, der weder Gott gefürchtet noch Vater und Mutter
geachtet hatte: da bestrafte ihn der Herr, – er kaufte das Paar.“

Alle um Skuratoff brachen in schallendes Gelächter aus: der Ton, in dem
er es sagte, war gar zu spaßig.

„Und dann habe ich noch einmal gearbeitet, das war aber schon hier,“
fuhr Skuratoff mit merkwürdiger Kaltblütigkeit fort, „für den Leutnant
Stepan Fedorowitsch Pomorzeff ein Paar Stiefel vorgeschuht.“

„Und war er zufrieden?“

„Nein, Freundchen, das war er gerade nicht. Hat mich für tausend Jahre
ausgeschimpft und mich noch von hinten getreten. Hatte sich gar zu
gewaltig geärgert. – Ach, gelogen hat mein Leben, das hat es, das
verfluchte!

   Da kehrte schon nach kleiner Weile
   Ak–kulinas Mann nach Haus ...,“

sang er plötzlich wieder schmetternd und begann von neuem einen
Tanzschritt im Viervierteltakt.

„Sieh einer, solch ’n blödsinniger Mensch!“ knurrte der neben mir
gehende Kleinrusse, der ihn mit boshafter Verachtung von der Seite
ansah.

„Ein unnützer Mensch!“ bemerkte ein anderer in einem so ernsten Ton, daß
jeder Widerspruch ausgeschlossen war.

Mir war es unbegreiflich, aus welchem Grunde sie sich über diesen
Skuratoff ärgerten, und überhaupt warum alle heiteren Charaktere, wie
ich schon in den ersten Tagen bemerkt hatte, gewissermaßen verachtet
wurden. Den Ärger des Kleinrussen und der anderen schrieb ich
persönlicher Abneigung zu, doch das war nicht der Grund. Sie haßten und
verachteten ihn, weil er keine Ausdauer hatte, keine äußerlich zur Schau
getragene persönliche Würde besaß, mit der der ganze Ostrogg bis zur
Pedanterie geladen war, – mit einem Wort, weil er, nach ihrem Ausdruck,
ein „nutzloser“ Mensch war. Indessen wurden nicht alle Spaßvögel so
behandelt wie Skuratoff und seinesgleichen. Es kam dabei nur darauf an,
wie ein jeder mit sich umspringen ließ: ein gutmütiger Mensch wurde,
auch ohne Spaßvogel zu sein, von den anderen erniedrigt. Das wunderte
mich anfangs nicht wenig. Es gab aber auch andere Spaßvögel, die
niemandem etwas schuldig blieben: solche wurden unwillkürlich geachtet.
Einer von dieser Sorte befand sich auch unter uns, ein Haariger, wie man
ihn nannte, der aber im Grunde genommen ein heiterer und sehr netter
Mensch war, obwohl ich ihn von dieser Seite erst viel später kennen
lernen sollte, ein hübschgewachsener Bursche mit einer großen Warze auf
der Wange und einem äußerst komischen Gesichtsausdruck, sonst aber nett
und aufgeweckt! Er wurde auch der Pionier genannt, weil er früher einmal
als Pionier gedient hatte; im Ostrogg jedoch war er in der besonderen
Abteilung. Auch von ihm werde ich noch zu berichten haben.

Übrigens waren nicht alle „Ernsten“ so streng, wie der über jede
Heiterkeit unwillige Kleinrusse. Es gab in der Kátorga gewisse Leute,
die es auf den Vorrang in jeder Beziehung abgesehen hatten: sie wollten
in allem die ersten sein, im Wissen, in der Findigkeit, im Charakter, in
der Klugheit ... Viele von ihnen waren auch tatsächlich klug, hatten
Charakter und erreichten, was sie erstrebten: Vorrang und sittlichen
Einfluß auf ihre Umgebung. Unter sich waren diese Klugen nicht selten
die größten Feinde und ein jeder von ihnen wurde von den anderen
beneidet und gehaßt. Zu den übrigen Sträflingen verhielten sie sich
würdig und herablassend, ließen sich nie in einen nutzlosen Streit ein,
mit den Vorgesetzten standen sie sich gut, bei der Arbeit waren sie
gewissermaßen die Anordner, doch keiner von ihnen hätte zum Beispiel
wegen eines Liedes so viel Aufhebens gemacht. Mit solchen Kleinigkeiten
befaßten sie sich nicht, so etwas hätte sie erniedrigt. Gegen mich waren
diese Leute während der ganzen Zeit meines Ostrogglebens auffallend
höflich, nur waren sie nicht sehr gesprächig – gewissermaßen als
verbiete es ihnen ihre persönliche Würde, zu sprechen. Auch von ihnen
werde ich noch ausführlicher erzählen müssen.

Wir kamen ans Ufer des Irtysch. Unten, auf dem Fluß, lag im Eise die
alte Barke, die wir abbrechen sollten. Jenseits des Flusses lag wie in
bläulichem Licht die Steppe: sie sah unheimlich und öde aus. Ich
erwartete, daß alle sich sofort an die Arbeit machen würden, aber daran
schien niemand zu denken. Einige setzten sich am Ufer auf verstreut
liegende Balken und fast alle zogen aus dem Stiefelschaft einen
Tabaksbeutel hervor, der einheimischen, d. h. sibirischen Tabak
enthielt, den man auf dem Markt in Blättern zu drei Kopeken das Pfund
kaufen konnte, sowie kurze Pfeifenrohre und kleine selbstgeschnitzte
Holzpfeifen. Die Pfeifen wurden angeraucht, während die Soldaten die
Kette um uns bildeten und sich mit dem gelangweiltsten Gesichtsausdruck
uns zu bewachen anschickten.

„Wer nur darauf gekommen sein mag, diese Barke abbrechen zu lassen?“
fragte einer halblaut so vor sich hin, ohne sich an jemanden zu wenden.
„Der muß wohl Späne brauchen.“

„Wer uns nicht fürchtet, der ist darauf gekommen,“ bemerkte ein anderer.

„Wo mag dort dieses Bauernpack hinwollen?“ fragte nach kurzem Schweigen
wieder der erste, der die Antwort auf seine vorhergehende Frage
selbstverständlich nicht beachtet hatte, und wies auf eine ganze Reihe
Bauern, die in der Ferne im Gänsemarsch durch den Schnee stampfte.

Die Sträflinge wandten sich auch nach jener Seite und begannen aus
Langeweile über die Bauern zu spotten. Einer der Bauern, der letzte,
ging ganz absonderlich komisch, die Arme schlenkerten weit ab vom
Körper, und auf dem Kopf, der fast zur Seite hing, saß eine hohe
Bauernmütze von der Form eines abgestumpften Kegels. Seine ganze Gestalt
hob sich deutlich vom weißen Schnee ab.

„Sieh mal an, Gevatter Petrowitsch, wie du dich aber eingemummt hast!“
sagte einer, der die Bauern mit dem Ausdruck Gevatter verspotten wollte.
Es war sogar sehr auffallend, daß die Arrestanten im allgemeinen von
oben herab auf den Bauern sahen, während doch die Hälfte von ihnen
gleichfalls aus dem Bauernstande war.

„Seht doch den letzten, Kinder, der geht ja, als wenn er Rettich
pflanzte.“

„Das ist ein harter Schädel, der hat sicherlich viel Geld,“ meinte ein
anderer.

Alle lachten, doch selbst in ihrem Lachen lag eine gewisse Faulheit.

Da kam eine Kalatschenverkäuferin, ein munteres und rüstiges Weiblein,
zu uns. Von ihr wurden für die geschenkten fünf Kopeken Kalatschen
gekauft und sogleich gewissenhaft verteilt; ein jeder erhielt sein
Stück.

Der junge Bursche, der im Ostrogg mit den Kalatschen handelte, kaufte
von ihr an zwanzig Stück, begann aber dann eifrig zu streiten, um drei,
statt der üblichen zwei Kalatschen auf den Kauf zu erhalten, aber die
Händlerin gab nicht nach.

„Nun, aber das andere – gibst du nicht?“

„Was denn noch?“

„Na das, was die Mäuse nicht fressen.“

„Ach, daß du selbst gefressen wirst!“ kreischte das Weiblein und ging
lachend fort.

Endlich erschien auch der Arbeitsaufseher, ein Unteroffizier, mit einem
Stock.

„Heda, ihr, was sitzt ihr! An die Arbeit!“

„Was, Iwan Matwejitsch, gebt uns doch eine Aufgabe,“ sagte einer der
„ersten“, indem er sich langsam erhob.

„Warum habt ihr denn neulich nicht gefragt? Schleppt die Barke
auseinander, da habt ihr eine Aufgabe.“

Man erhob sich langsam und ging zum Fluß hinunter, – kaum die Füße vom
Fleck bewegend.

Es fanden sich auch alsbald „Anordner“, wenigstens waren sie es den
großen Worten nach. Es zeigte sich, daß man die Barke nicht so
blindlings zerhauen durfte, sondern nach Möglichkeit die Balken und
namentlich die Kniehölzer heil herausnehmen mußte. Diese Kniehölzer
waren aber ihrer ganzen Länge nach mittels Holznägeln an den Boden der
Barke befestigt und diese Holznägel galt es jetzt herauszunehmen, – eine
langweilige und mühsame Arbeit.

„Da müssen wir nun ganz zuerst diesen Balken hier abkriegen. Faßt mal
an, Kinderchen!“ sagte einer, der weder „Anordner“ noch sonst ein
„erster“ war, sondern ein gewöhnlicher „Schwarzarbeiter“, ein stilles,
ruhiges Männlein, das bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte. Er
beugte sich nieder, erfaßte einen dicken Balken und wartete auf Hilfe.
Es fiel aber keinem einzigen ein, ihm zu helfen.

„Ja, den wirst du gerade loskriegen! Da kannst du auch noch deinen
Urgroßvater, der wohl ein Bär gewesen ist, herbeiholen, so wirst du ihn
auch noch nicht loskriegen!“ brummte jemand durch die Zähne.

„Ja wie denn, wie soll man denn anfangen? Ich weiß nicht ...“ sagte der
andere etwas ratlos und richtete sich wieder auf.

„Du wirst doch nicht die ganze Arbeit allein machen ... was stopfst du
dich dann vor?“

„Der versteht nicht einmal Hühner zu füttern, hier aber will er der
erste sein ... So’n Zwerg!“

„Ich ... ich wollte nur,“ stotterte der Arme, – „nichts, ich meinte nur
so ...“

„Zum Teufel, soll ich euch, Kerls, in Futterale stecken lassen? oder für
den Winter vielleicht einsalzen?“ schrie wieder der Arbeitsaufseher, der
verwundert die zwanzigköpfige Arbeiterschar betrachtete, die die Arbeit
nicht anzufassen verstand. „Anfangen! Schneller!“

„Schneller als schnell kann man nichts machen, Iwan Matwejitsch.“

„Du machst ja sowieso nichts! He, Ssaweljeff! Petrowitsch! was stehst du
da und glotzt, als wolltest du deine Augen ausspeien! ... Anfangen, sage
ich!“

„Was kann denn ich da machen, ganz allein? ...“

„Gebt uns doch lieber eine Aufgabe, Iwan Matwejitsch.“

„Ich habe gesagt – es gibt keine! Reiß die Barke ab, und um Punkt elf
geht’s zurück. An die Arbeit! Angefangen!“

Träge, unwillig, ungeschickt machte man sich endlich an das Abreißen. Es
war fast unangenehm, diese Schar gesunder, stämmiger Arbeiter zu sehen,
die, wie es schien, absolut nicht wußten, wie sie die Arbeit anfassen
sollten. Kaum hatten sie sich daran gemacht, das erste, kleinste
Knieholz herauszunehmen – da zeigte es sich, daß das Holz zerbrach,
„ganz von selbst“, wie es dem Arbeitsaufseher zur eigenen Rechtfertigung
gemeldet wurde. Folglich konnte man so nicht ans Werk gehen, man mußte
es eben anders versuchen. Es folgte eine lange Beratung, wie es richtig
wäre und was zu tun sei. Selbstverständlich kam es bald zum Wortwechsel,
darauf folgte Geschimpf und die Sache drohte, noch weiterzugehen ... Der
Aufseher schrie sie wieder an und fuchtelte mit seinem Stock; aber auch
das zweite Knieholz brach. Es stellte sich nun heraus, daß zu wenig Äxte
da waren und daß man noch irgend ein besonderes Werkzeug bedurfte.
Sogleich wurden zwei jüngere Burschen mit einer Eskorte in die Festung
zurückgeschickt, um die nötigen Gerätschaften zu bringen, die anderen
aber setzten sich inzwischen seelenruhig auf der Barke hin, zogen ihre
Pfeifen hervor und rauchten schon wieder.

Der Beamte spie schließlich aus.

„Weiß Gott, von euch kann man wahrlich keine Arbeit erwarten! Ich hab’s
ja immer gesagt: Pack bleibt Pack!“ schimpfte er wütend, winkte mit der
Hand ab – zum Zeichen unserer Untauglichkeit – und kehrte, den Stock in
der Luft schwingend, in die Festung zurück.

Nach einer Stunde erschien der Aufseher. Ruhig hörte er die Ausführungen
der Arrestanten an und erklärte darauf ohne zu zögern, daß er als
Aufgabe gäbe, vier Kniehölzer herauszunehmen, aber nicht so, daß sie
brächen, sondern heil, und dann noch einen bedeutenden Teil der Barke
abzubrechen; wenn das aber geschehen wäre, könnten sie alle nach Hause
gehen. Die Aufgabe war groß, aber – Himmel! – wie sie sich jetzt an die
Arbeit machten! Wo war jetzt noch Faulheit oder Unwissenheit zu sehen!
Die Äxte hämmerten, die Holznägel wurden herausgedreht. Die anderen
schoben wiederum dicke Stangen unter die Kniehölzer, zwanzig Hände
stemmten sich auf die Stangen und meisterhaft gewandt wurden die
Kniehölzer herausgebrochen, die jetzt zu meiner Verwunderung sämtlich
heil blieben und unversehrt. Die Arbeit kochte geradezu. Alle waren
plötzlich auffallend klüger geworden. Weder gab es überflüssige Worte,
noch einen Streit, ein jeder wußte, was er zu sagen, zu tun, wo er zu
helfen und was er zu raten hatte.

Genau eine halbe Stunde vor dem Trommelzeichen war die vorgeschriebene
Arbeit beendet und die Arrestanten kehrten müde, doch vollkommen
zufrieden in den Ostrogg zurück, obgleich sie doch nur eine halbe Stunde
gewonnen hatten. In Bezug auf mich aber war mir etwas Eigentümliches
aufgefallen: wo und wie immer ich ihnen bei der Arbeit auch helfen
wollte, überall war ich nicht am Platz, überall störte ich, überall
wurde ich beinahe mit Geschimpf fortgeschickt.

Selbst der letzte von ihnen, der schlechteste Arbeiter, der vor den
anderen nicht mucken durfte, selbst der glaubte sich im Rechte, mich
anschreien zu dürfen, wenn ich mich neben ihn stellte, unter dem
Vorwand, ich hindere ihn bei der Arbeit.

Das sagte mir einer der Gewandten ganz offen und grob ins Gesicht:

„Wohin stopfen Sie sich wieder vor, gehn Sie zum Teufel! Wo man nicht
gebraucht wird, dorthin soll man auch nicht seine Nase stecken.“

„Der ist der richtige!“ bemerkte sofort ein anderer.

„Nimm lieber eine Blechbüchse,“ sagte ein dritter, „und ‚sammle Geld zum
Kirchenbau und der Branntweinschenken Niederhau‘, hier aber hast du
nichts zu suchen.“

So hätte ich also abseits stehen und zusehen müssen, während die anderen
arbeiteten. Zuzusehen aber schämt man sich unwillkürlich. Als ich aber
tatsächlich fortging und mich an das andere Ende der Barke stellte, da
war es ihnen wieder nicht recht:

„Schöne Arbeiter schickt man uns her!“ hieß es sofort. „Was fängt man
mit solchen Leutchen an!“

„Nichts fängt man mit ihnen an!“

Das wurde natürlich absichtlich gesagt, denn man mußte doch die
Gelegenheit benutzen, über einen ehemaligen Adligen herziehen zu können
– und man freute sich über die Gelegenheit.

Jetzt wird man auch begreifen, warum meine erste Frage nach dem Eintritt
in den Ostrogg, wie ich schon erwähnte, gerade diese war: wie ich mich
hier verhalten, wie ich mich zu diesen Menschen stellen sollte. Ich
fühlte es schon im voraus, daß ich noch oft solche Zusammenstöße mit
ihnen haben würde, wie an diesem ersten Arbeitstage. Doch ungeachtet
aller Zusammenstöße, entschloß ich mich, meinen Verhaltungsplan nicht zu
ändern, den ich mir inzwischen im großen ganzen schon ausgedacht hatte;
ich wußte, daß er richtig war. Ich hatte eingesehen, daß man sich nach
Möglichkeit natürlich und frei bewegen mußte, ohne sich besonders um
eine Annäherung zu bemühen. Andererseits aber mußte man sie auch nicht
vor den Kopf stoßen, wenn sie von sich aus eine Annäherung wünschten.
Ich beschloß, ihre Drohungen und ihren Haß nicht zu fürchten und nach
Möglichkeit mir den Anschein zu geben, als bemerke ich so etwas
überhaupt nicht. Ferner, in gewissen Dingen sie sich immer fernzuhalten
und niemals einige ihrer Angewohnheiten und Sitten zu billigen oder
gegen sie auch nur nachsichtig zu sein; mit einem Wort – nicht mich
ihnen aufzudrängen und nicht ihre intime Freundschaft zu suchen. Ich
erriet schon auf den ersten Blick, daß sie mich anfangs dafür verachten
würden, mußte ich doch gerade ihrer Meinung nach, wie ich es auch später
aus unzweifelhaften Anzeichen ersah, in erster Linie meine adlige
Herkunft wahren und hochhalten, nämlich: den Verzärtelten spielen, sie
verabscheuen, wichtig tun, bei jedem Schritt zusammenklappen und die
Hände pflegen. Das war ihre Vorstellung von einem Adligen. Sie hätten
mich deswegen natürlich verspottet, innerlich aber doch dafür geachtet.
Nein, eine solche Rolle sagte mir nicht zu. In diesem Sinne, wie sie den
Adel auffaßten, bin ich nie ein Adliger gewesen. Dafür aber gab ich mir
mein Wort, durch keine einzige Konzession weder meine Bildung noch meine
Denkweise vor ihnen zu erniedrigen. Hätte ich angefangen, um ihnen zu
gefallen, mich bei ihnen einzuschmeicheln, in allem ihrer Meinung zu
sein, familiär mit ihnen umzugehen, und ihre „Eigenschaften“ mir
anzueignen – nur um ihre Wohlgeneigtheit zu erwerben – so würden sie
sofort geglaubt haben, ich täte es aus Furcht und Feigheit und sie
hätten mich nur mit Verachtung behandelt. A–ff war kein Beispiel für das
Gegenteil: er ging zum Major und daher fürchteten sie ihn, nicht er sie.

Andererseits wollte ich mich vor ihnen auch nicht hinter kalter und
unnahbarer Höflichkeit verschanzen, wie es die Polen taten.

Ich sah es recht gut ein, daß sie mich verachteten, weil ich ebenso
arbeiten wollte, wie sie, und mich vor ihnen nicht zierte und
verstellte; und wenn ich auch genau wußte, daß sie späterhin gezwungen
sein würden, ihre Meinung über mich zu ändern, so war mir doch der
Gedanke, daß sie glauben mußten, ich wolle mich durch meine
Arbeitswilligkeit bei ihnen einschmeicheln, geradezu eine Pein.

Als ich am Abend nach Beendigung der Nachmittagsarbeit müde und
zerschlagen in den Ostrogg zurückkehrte, überkam mich wieder
unerträgliche Sehnsucht.

„Wieviel Tausende solcher Tage stehen mir noch bevor,“ dachte ich, „alle
ein und dieselben, alle ein und dieselben!“

Als die Dämmerung sich bereits dem Abend näherte, strich ich allein
hinter den Kasernen umher. Da sah ich plötzlich unseren Scharik, wie er
in gestrecktem Galopp auf mich zugerannt kam. Scharik war unser
Ostrogghund, so wie es Kompagnie-, Bataillons- und Regimentshunde gibt.
Er lebte schon seit langer, langer Zeit im Ostrogg, gehörte niemand und
allen, hielt einen jeden für seinen Herrn und nährte sich von dem, was
ihm aus der Küche zugeworfen wurde. Er war ein ziemlich großer Hund,
schwarz mit weißen Flecken, ein echter Hofhund, nicht sehr alt, mit
klugen Augen und buschiger Rute. Niemals hatte jemand das Tier
gestreichelt, niemand auch nur die geringste Beachtung dem Tiere
geschenkt. Schon am ersten Tage hatte ich Scharik gestreichelt und ihm
Brot aus der Hand zu fressen gegeben. Als ich ihn streichelte, hatte er
ganz still gestanden, freundlich mich angesehen und zum Zeichen seines
Wohlbehagens langsam mit der Rute gewedelt. Jetzt aber, nachdem er mich,
den ersten Menschen, dem es während seines ganzen Lebens eingefallen
war, ihn zu streicheln, solange nicht gesehen hatte, war er überall
herumgelaufen, um mich unter den anderen zu suchen – und als er mich nun
hinter den Kasernen gefunden hatte, kam er heulend auf mich zugerannt.
Ich weiß nicht mehr, was mit mir in jenem Augenblick geschah: ich
umfaßte seinen Kopf und küßte ihn. Er setzte seine Vorderpfoten auf
meine Schultern und leckte mir das Gesicht.

„Da habe ich jetzt einen Freund, den mir das Schicksal gesandt hat!“
dachte ich, und jedesmal, wenn ich in dieser ersten schweren Zeit von
der Arbeit zurückkehrte, eilte ich, noch bevor ich in die Küche ging,
hinter die Kasernen, um dort den an mir emporspringenden, vor Freude
heulenden Scharik zu umfassen und immer wieder seinen Kopf zu küssen,
während ein süßes und doch zugleich quälend bitteres Gefühl mein Herz
bedrückte. Und ich entsinne mich noch, es war mir sogar angenehm, zu
denken, gleichsam als wäre ich vor mir selbst auf meine Qual stolz
gewesen, daß mir in der ganzen Welt nur noch ein einziges lebendes Wesen
geblieben war, das mich liebte und mir zugetan war, – mein Freund, mein
einziger Freund, mein treuer Hund Scharik.


                                  VII.

                     Neue Bekanntschaften. Petroff

Doch die Zeit verging und allmählich lebte ich mich ein. Die
alltäglichen Erscheinungen in meinem neuen Leben nahm ich mit jedem Tage
gleichmütiger hin. Die verschiedenen Ereignisse, die Umgebung, die
Menschen – alles wurde dem Auge schließlich zum Überdruß. Sich mit
diesem Leben auszusöhnen, war unmöglich, doch es als eine vollendete
Tatsache hinzunehmen, war nachgerade Zeit. Alles Nichtverstehenkönnen,
das noch in mir geblieben war, verbarg ich so tief als möglich in meinem
Innersten. Ich strich nicht mehr wie ein Verlorener im Ostrogg umher und
ich bemühte mich, durch nichts meine Qual zu verraten. Die gierig
neugierigen Blicke der Arrestanten blieben nicht mehr so oft auf mir
haften, sie folgten mir nicht mehr mit einer so absichtlich
hervorgekehrten Frechheit. Offenbar hatten auch sie sich an mich
gewöhnt, worüber ich mich aufrichtig freute. Im Ostrogg bewegte ich mich
bald wie im eigenen Hause, kannte meinen Platz auf den Pritschen und
hatte mich allem Anscheine nach selbst an solche Dinge gewöhnt, an die
mich zu gewöhnen ich anfänglich für vollkommen ausgeschlossen gehalten
hatte.

Regelmäßig einmal in der Woche ließ ich die eine Hälfte meines Kopfes
rasieren. Jeden Sonnabend in der Feierabendzeit wurden wir zu dem Zweck
der Reihe nach auf die Wachtstube gerufen. Dort seiften uns die
Regimentsbarbiere mit kaltem Seifenschaum ein und kratzten uns
erbarmungslos mit ihren Rasiermessern, die noch viel stumpfer als stumpf
waren, so daß es mir auch jetzt noch bei dem bloßen Gedanken an diese
Folter kalt über den Rücken läuft. Wer sich nicht rasieren ließ, trug
selbst die Verantwortung. Übrigens fand sich bald ein zweckmäßiges
Mittel gegen diese Qual: Akim Akimytsch empfahl mir einen Arrestanten,
einen ehemaligen Soldaten, der für eine Kopeke mit seinem eigenen
Rasiermesser barbierte und daraus ein Handwerk machte. Viele gingen zu
ihm, um nicht den Regimentsbarbieren in die Hände zu kommen, und doch
war das Volk sonst nicht verwöhnt.

Unser Arrestantenbarbier wurde „Major“ genannt, – warum, weiß ich nicht,
und was gerade an ihm dem Major gleichen sollte, weiß ich gleichfalls
nicht zu sagen. Ich erinnere mich seiner noch lebhaft: groß und lang war
er, hager, schweigsam, ziemlich dumm, ewig in seine Beschäftigung
vertieft und ewig mit dem Riemen in der Hand, auf dem er womöglich Tag
und Nacht sein ohnehin schon haarscharfes Rasiermesser strich. Wie es
schien, ging er in seiner Tätigkeit ganz und gar auf, die er offenbar
für seine ganze Lebensaufgabe hielt. Er war unsagbar zufrieden, wenn
sein Messer gut war und jemand zu ihm kam, um sich barbieren zu lassen:
sein Seifenschaum war warm, seine Hand geschickt, sein Messer wie
Sammet. Er fand wirklich Genuß an seiner Kunst und war stolz auf sein
Können. Nachlässig nahm er die verdiente Kopeke in Empfang, ganz als
hätte es sich für ihn in der Tat nur um die Kunst und nicht um das Geld
gehandelt.

A–ff war es einmal unsäglich schlecht ergangen bei unserem Platzmajor,
als er beim üblichen Hinterbringen aller Vorgänge im Ostrogg auch auf
diesen Barbier zu sprechen gekommen war und unvorsichtigerweise ihn
„Major“ genannt hatte. Der Platzmajor soll geradezu wild geworden sein.

„Schurke, du! Weißt du auch, was ein Major ist!“ soll er mit Geifer vor
dem Munde geschrieen und ihn auf seine Weise bearbeitet haben.
„Begreifst du überhaupt, was dieses Wort bedeutet! Und da wagst du,
Kerl, so ein Arrestantenvieh Major zu nennen, und noch dazu mir ins
Gesicht, in meiner Gegenwart!“

Nur ein A–ff konnte es fertigbringen, mit einem solchen Menschen
auszukommen.

Schon seit dem ersten Tage im Ostrogg begann ich, von meiner späteren
Freiheit zu träumen. Die Berechnung, wann meine Strafzeit zu Ende sein
würde, wurde in tausend verschiedenen Arten und mit ebensoviel
praktischen Bezugnahmen meine liebste Beschäftigung. An anderes konnte
ich überhaupt nicht denken, und ich bin überzeugt, daß es einem jeden so
ergeht, der für eine Zeitlang der Freiheit beraubt ist. Ich weiß nicht,
ob die anderen Zwangsarbeiter ebenso rechneten und dachten wie ich,
jedenfalls aber machte mich ihr wundernehmender Leichtsinn in dieser
Beziehung nicht wenig stutzig, und zwar schon vom ersten Augenblick an.
Die Hoffnung eines Eingekerkerten, der Freiheit Beraubten ist naturgemäß
von ganz anderer Art, als die eines frei und werktätig lebenden
Menschen. Der freie Mensch hofft natürlich gleichfalls – zum Beispiel,
auf eine Schicksalsveränderung, auf das Gelingen irgend eines
Unternehmens –, aber er lebt doch dabei ein lebendiges Leben, er ist
beschäftigt, das wirkliche Leben zieht ihn immer wieder in seinen
Strudel hinein. Der Gefangene dagegen kennt so etwas nicht. Gewiß lebt
auch er ein Leben – ein Ostrogg-, ein Zwangsarbeiterleben; aber wer er
auch sein mag, und gleichviel, ob er zu einer langen oder kurzen
Strafzeit verurteilt ist, er wird dieses Leben instinktiv und ganz
entschieden nicht für etwas Positives, Endgültiges nehmen können, für
einen Abschnitt seines wirklichen Lebens. Ein jeder Zwangsarbeiter
fühlt, daß er nicht „_bei sich zu Hause_“ ist, sondern gleichsam auf
Besuch. Auf zwanzig Jahre sieht er wie auf zwei Jahre und ist dabei fest
überzeugt, daß er mit fünfundfünfzig Jahren, bei seinem Austritt aus dem
Ostrogg, ein ebenso kräftiger, gewandter Mann sein wird, wie jetzt mit
fünfunddreißig.

„Werden schon noch mal leben!“ denkt er und verscheucht eigensinnig alle
Zweifel und anderen lästigen Gedanken.

Selbst Verbrecher, die auf unbestimmte Zeit verschickt sind, selbst die
rechnen noch darauf, daß plötzlich, sagen wir, aus Piter (Petersburg)
ein Befehl kommt: „so und so, nach Nertschinsk in die Erzgruben
überzuführen und eine Frist zu bestimmen.“ Was fehlte ihnen dann! Nach
Nertschinsk dauert der Marsch etwa ein halbes Jahr und mit einem ganzen
Trupp zu marschieren ist doch im Vergleich zum Ostrogg tausendmal
besser! Und dann in Nertschinsk die festgesetzte Strafzeit zu beenden,
um dann ...

Und so hofft ja noch manch einer mit weißem Haar!

In Tobolsk habe ich an die Wand angeschmiedete Verbrecher gesehen. Die
Ketten eines solchen sind etwa zwei Meter lang; und dort hat er auch
seine Pritsche. Angeschmiedet hat man ihn für irgend ein ganz unerhörtes
Verbrechen, das er bereits in Sibirien begangen hat. Und so sitzt er nun
fünf Jahre, sitzt sogar zehn Jahre an der Kette. Größtenteils sind es
ehemalige Räuber. Nur ein einziger schien unter denen, die ich sah,
besserer Herkunft zu sein: er war, glaube ich, einmal irgendwo ein
kleiner Beamter gewesen. Er sprach äußerst sanft, fast flüsternd, und
mit einem süßlichen Lächeln. Er zeigte uns seine Ketten und zeigte, wie
man sich am bequemsten auf die Pritsche hinlegen konnte. Er war in
seiner Art sicherlich ein ganz besonderer Vogel. Alle verhalten sie sich
dort völlig friedlich und alle scheinen sie ganz zufrieden zu sein,
trotzdem will aber ein jeder von ihnen ungeheuer gern recht bald seine
Zeit an der Wand abgesessen haben. Wozu nur, sollte man meinen? – Wozu?
Sehr einfach: er wird dann aus dem dumpfen, muffigen Raum mit den
niedrigen Backsteingewölben hinausgehen und auf dem Ostrogghof spazieren
und ... und das ist alles. Aus dem Ostrogg wird man ihn nie
hinauslassen. Er weiß es selbst sehr gut, daß die von der Wandkette
Befreiten ewig im Ostrogg bleiben müssen, bis zu ihrem Tode, und auch
die Fußketten werden ihnen nicht früher abgenommen. Er weiß alles ganz
genau und dennoch will er recht, recht bald seine Zeit an der Wand
abgesessen haben. Könnte er es denn ohne diesen Wunsch fünf oder sechs
Jahre so angeschmiedet aushalten und nicht sterben und nicht den
Verstand verlieren? Wer würde das sonst fertigbringen?

Ich fühlte, daß die Arbeit mich retten, meine Gesundheit, meinen Körper
stärken würde. Die fortwährende geistige Unruhe, die nervöse
Erschütterung die schlechte Luft in der Kaserne hätten mich gänzlich
vernichten können. „Ich muß soviel als möglich in der frischen Luft
sein, muß mich jeden Tag müde arbeiten, muß mich gewöhnen, Lasten zu
tragen – nur so werde ich mich stärken können und gesund, rüstig, stark
und nicht alt geworden in die Freiheit zurückkehren.“ Ich habe mich
nicht getäuscht: die Arbeit und die Bewegung in der frischen Luft waren
mir sehr zuträglich.

Mit wahrem Entsetzen blickte ich auf einen meiner Kameraden von den
Adligen, der im Ostrogg wie ein Licht erlosch. Er war mit mir zusammen
hingekommen, ein junger, hübscher, kräftiger Junge, und als er ihn
wieder verließ, da war er schon halbtot, ergraut, so gut wie ohne Füße
und kurzatmig. Nein, dachte ich bei seinem Anblick, ich will leben und
ich werde leben! Dafür aber hatte ich vieles von den Arrestanten
hinzunehmen, die mich für meine Liebe zur Arbeit mit Verachtung und
Spott bedachten. Doch ich machte mir nichts daraus und begab mich immer
frisch drauf los zu jeder Arbeit, und wenn es auch nur das Brennen und
Stoßen von Alabaster war – eine der ersten Arbeiten, die ich kennen
lernte. Übrigens war das die leichteste. Das Ingenieurkommando war nach
Möglichkeit bemüht, den Adligen die Arbeit zu erleichtern, was jedoch
durchaus nicht Nachsicht, sondern nur Gerechtigkeit war. Wäre es doch
sonderbar gewesen, von einem Menschen, der physisch nie gearbeitet hat,
dieselbe Arbeit zu verlangen, wie von einem dreimal so starken richtigen
Arbeiter. Doch diese Nachsicht oder „Verwöhnung“ wurde nicht immer
durchgeführt, ja es geschah gewöhnlich sogar etwas verstohlen, denn es
wurde darauf streng aufgepaßt – von anderer Seite. Sehr oft mußten wir
auch schwere Arbeit verrichten und dann hatten wir es natürlich doppelt
so schwer, wie die anderen. Zur Alabasterarbeit wurden gewöhnlich nur
drei oder vier bestimmt, Greise oder Schwächlinge, nun, und bisweilen
auch wir. Außerdem wurde noch mehrere Jahre lang immer ein und derselbe
Sträfling mitgeschickt, ein gewisser Almasoff, ein strenger, brünetter,
hagerer, nicht mehr junger Mensch, der äußerst wenig mitteilsam und sehr
eigensinnig war. Er verachtete uns tief. Übrigens war er sehr wortkarg,
was sich bei ihm sogar so weit ausdehnte, daß er selbst zum Anknurren zu
faul war.

Der Schuppen, in dem der Alabaster gebrannt und gestoßen wurde, befand
sich gleichfalls am öden und steilen Ufer des Flusses. Im Winter,
namentlich an trüben, dunklen Tagen, war es langweilig, auf den Fluß und
das gegenüberliegende Ufer zu sehen. Es lag etwas Sehnsüchtiges, das
Herz Zerreißendes in dieser wilden und öden Landschaft. Doch war es fast
noch schwerer, wenn auf der unendlichen weißen Schneedecke grell
blendender Sonnenschein lag: dann wäre man am liebsten hinübergeflogen,
dorthin in diese Steppe, die sich jenseits des Flusses wie ein einziges
großes Tuch auf anderthalbtausend Werst gegen Süden hinzog.

Almasoff machte sich gewöhnlich stumm und finster an die Arbeit. Wir
aber schämten uns gewissermaßen, weil wir ihm nicht in der
entsprechenden Weise helfen konnten; er jedoch machte alles allein und
verlangte absichtlich nicht nach unserer Hilfe, gleichsam als wolle er
uns damit unsere ganze Schuld vor ihm zu fühlen geben, auf daß wir über
die eigene Nutzlosigkeit Reue empfänden. Die ganze Arbeit bestand aber
nur darin, daß man den Ofen anheizte, um den Alabaster brennen zu
können, den wiederum wir ihm zuschleppten. Schon am nächsten Tage, wenn
der Alabaster genug gebrannt war, mußte er aus dem Ofen wieder
herausgeschafft werden. Darauf nahm jeder von uns einen schweren Hammer,
stellte seinen besonderen Kasten mit Alabaster vor sich hin und dann
begann das Zerstoßen. Das war eine herrliche Arbeit. Der körnige
Alabaster verwandelte sich schnell in weißes blitzendes Pulver, so
leicht, so schnell zerbröckelte er und ließ er sich feinstoßen. Wir
klopften lustig mit den schweren Hämmern und riefen ein solches Getöse
hervor, daß es eine wahre Freude war. Und wurden wir schließlich auch
müde, so war es uns doch leicht ums Herz: in das Gesicht kam wieder
Farbe und das Blut zirkulierte schneller. Dann sah selbst Almasoff
gnädiger auf uns herab, etwa wie man auf kleine Kinder sieht, wenn sie
eine Beschäftigung gefunden haben. Gnädig rauchte er seine Pfeife,
konnte es aber doch nicht unterlassen, uns anzuknurren, wenn er etwas
sagen mußte. Übrigens verhielt er sich gegen alle so, im Grunde aber war
er, glaube ich, ein guter Mensch.

Eine andere Arbeit, die mir auch noch zugeteilt wurde, war – in der
Werkstatt das Schleifrad zu drehen. Das Rad war groß und schwer. Da
mußte man sich nicht wenig anstrengen, besonders wenn der Drechsler –
einer der Militärhandwerker – etwa Pfosten für Treppengeländer
drechselte, oder große Tischfüße für das Meublement irgend eines
Beamten, das die Regierung diesem freistellte. Zu solchen Tischfüßen war
fast ein ganzer Balken erforderlich. Dann war das Drehen für einen zu
schwer und man bestimmte gewöhnlich zwei dazu, mich und noch einen
Adligen, B. So wurde diese Arbeit mehrere Jahre lang uns zugewiesen,
sobald es nur irgend etwas zu drechseln gab. B. war ein schwacher,
kränklicher Mensch, noch jung, aber brustleidend. Er lebte schon seit
einem ganzen Jahr im Ostrogg und war mit zwei Gefährten hingekommen: der
eine von ihnen, ein Greis, der während der ganzen Zeit seines
Ostrogglebens Tag und Nacht betete – wofür ihn die Arrestanten ungemein
achteten – starb bald nach meiner Ankunft, und der andere, ein noch sehr
junger Mensch, der frisch, gesund, stark und mutig war, hatte unterwegs
den schon nach der ersten Hälfte der Etappe völlig erschöpften B.
getragen, etwa siebenhundert Werst weit, ununterbrochen, bis zum
Ostrogg. Diese Freundschaft hätte man sehen müssen! B. hatte eine
vorzügliche Bildung genossen und hatte einen edlen, großzügigen
Charakter, doch durch die Krankheit war er reizbar und erbittert
geworden. Wir drehten zusammen das Rad und das Drehen war uns beiden
eine gute Beschäftigung, für mich besonders war sie eine vorzügliche
Bewegung nach den ruhigeren Arbeiten.

Auch das Schneeschaufeln bereitete mir viel Vergnügen, ich tat es sehr
gern. Dazu wurden wir gewöhnlich nach großen Schneestürmen
angestellt, die ja im Winter nicht selten sind. Nach so einem
vierundzwanzigstündigen Schneesturme war manches Haus bis zur halben
Fensterhöhe, manches bis zum Dach im Schnee vergraben. Dann, sobald der
Sturm aufgehört hatte und die Sonne wieder schien, wurden wir in großen
Trupps hinausgeschickt, zuweilen sogar der ganze Ostrogg, um die
Schneeberge vor den Staatsgebäuden fortzuschaufeln. Jeder erhielt eine
Schaufel und alle zusammen eine Aufgabe, die nicht selten so groß war,
daß man sich wundernd fragte, wie man damit fertig werden sollte. Aber
siehe da – es ging! Alle machten sich einmütig und flink an die Arbeit.
Der lockere, kaum erst sich lagernde und oben nur ein wenig gefrorene
Schnee ließ sich leicht auf die Schaufel nehmen, und die großen Stücke
oder loseren Haufen flogen in Bogen kreuz und quer durch die Luft und
verwandelten sich noch im Fluge in glitzernden Staub. Es war eine Lust,
die Schaufel in die weiße, im Sonnenschein blendende Masse
hineinzustechen. Bei dieser Arbeit waren die Arrestanten immer lustig
und guter Laune. Die frische Winterluft und die Bewegung erwärmten sie,
und die Munterkeit war ansteckend: Lachen ertönte, Geschrei und Witze.
Man warf sich sogar mit Schneebällen, worüber natürlich die Vernünftigen
und über die allgemeine Heiterkeit Ungehaltenen schon im nächsten
Augenblick zu schreien hatten, und so endete die anfängliche
Fröhlichkeit gewöhnlich mit Schimpf und Streit.

Mit der Zeit fing auch der Kreis meiner Bekannten an, sich zu
vergrößern. Übrigens dachte ich selbst nicht daran, neue Bekanntschaften
zu suchen, ich war immer noch unruhig, niedergeschlagen und mißtrauisch.
Aber die Bekanntschaften ergaben sich ganz von selbst.

Einer der ersten, die mich besuchten, war der Arrestant Petroff. Ich
sage „besuchten“ und will dieses Wort noch absichtlich betonen.

Petroff befand sich in der besonderen Abteilung und lebte in der
entferntesten Kaserne, die ganz im Hintergrunde des Ostrogg lag, somit
konnte es zwischen uns gar keine Berührungspunkte geben, und innerlich
Gemeinsames gab es zwischen uns gleichfalls nicht, das war ganz
ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger schien dieser Petroff in der ersten
Zeit es nahezu für seine Pflicht zu erachten, womöglich jeden Tag zu mir
in die Kaserne zu kommen oder mich am Feierabend, wenn ich möglichst
weit von allen anderen hinter den Gebäuden am Zaun entlang spazierte,
aufzusuchen und anzureden. Anfangs war mir das recht unangenehm. Aber er
verstand es so zu machen, daß seine „Besuche“ mir bald zu einer
angenehmen Zerstreuung wurden, obgleich er durchaus nicht ein sehr
mitteilsamer oder gesprächiger Mensch war. Was sein Äußeres anbelangt,
so war er nicht hoch von Wuchs, stark gebaut, gewandt, unruhig, mit
einem ziemlich sympathischen Gesicht, etwas bleich, mit breiten
Backenknochen, dreistem Blick und weißen, dichten, schmalen Zähnen. Ewig
hatte er eine Prise Kautabak hinter der Unterlippe. Übrigens hatten
ziemlich viele Arrestanten es sich zur Angewohnheit gemacht, Tabak in
den Mund zu nehmen. Er sah jünger aus, als er war: man hielt ihn für
dreißig, während er schon vierzig zählte. Wenn er mit mir sprach, so tat
er es immer ganz ungezwungen, benahm sich wie ein völlig
Gleichstehender, das heißt soviel wie äußerst anständig und taktvoll.
Bemerkte er zum Beispiel, daß ich die Einsamkeit suchte, so sprach er
nur ein paar Worte mit mir und verließ mich sofort, nachdem er mir
jedesmal für die Aufmerksamkeit gedankt hatte, was er sonst niemals und
mit keinem einzigen in der ganzen Kátorga tat. Auch war noch eines
sonderbar, – daß diese Beziehungen zwischen uns nicht etwa nur in der
ersten Zeit, sondern mehrere Jahre lang fortdauerten, ohne daß wir uns
dabei merklich nähergetreten wären, obschon er mir tatsächlich und
aufrichtig zugetan war. Selbst jetzt vermag ich es mir noch nicht zu
erklären, was er eigentlich von mir wollte, und weswegen er jeden Tag zu
mir kam. Zwar kam es späterhin auch vor, daß er mich bestahl, doch
geschah es von ihm immer – gleichsam „aus Versehen“. Um Geld bat er mich
fast nie, folglich ist er nicht des Geldes wegen oder aus sonst einer
Berechnung gekommen.

Desgleichen vermag ich nicht zu sagen, aus welchem Grunde es mir
fortwährend schien, daß er gar nicht im Ostrogg lebte, sondern irgendwo
ganz weit von uns in einem anderen Hause, in der Stadt vielleicht, und
den Ostrogg nur im Vorübergehen besuchte, etwa um Neuigkeiten zu
erfahren, mit mir ein paar Worte zu wechseln, und so ein wenig zu sehen,
wie wir alle es eigentlich machten. Er schien es immer eilig zu haben,
ganz als hätte er jemand nur auf einen Augenblick verlassen und werde
von ihm erwartet, als wäre er irgendwo mit irgend etwas noch nicht
fertig geworden und müsse hineilen, um es zu beenden. Dabei aber schien
er sich wiederum doch nicht gar zu sehr zu beeilen. Auch sein Blick war
eigentümlich: aufmerksam, unbeweglich, mit einem Schimmer von
Dreistigkeit und etwas Spott, doch blickte er dabei, wie es schien,
gleichsam in die Ferne, gleichsam durch den Gegenstand hindurch: als
bemühte er sich, hinter dem Gegenstande, der vor ihm stand, noch einen
anderen, weiter gelegenen zu betrachten. Das verlieh ihm ein zerstreutes
Aussehen. Zuweilen gab ich absichtlich acht darauf, wohin Petroff ging,
wenn er mich verließ, und wo er denn eigentlich so erwartet wurde. Er
aber begab sich von mir eilig in irgend eine Kaserne oder in eine Küche,
setzte sich dort neben ein paar anderen hin, die sich unterhielten,
hörte ihnen aufmerksam zu, trat mitunter sogar selbst in ein Gespräch,
sprach sogar sehr eifrig, bis er dann plötzlich wieder abbrach und
verstummte. Doch ob er sprach oder ob er stillschweigend saß, man sah es
ihm immer an, daß er es nur so im Vorübergehen tat und dort irgendwo
etwas zu tun hatte und erwartet wurde. Am sonderbarsten war aber dabei,
daß er überhaupt keine Beschäftigung hatte, er lebte in vollständigem
Müßiggang – natürlich abgesehen von der Zwangsarbeit. Ein Handwerk
verstand er nicht und auch Geld besaß er fast nie. Doch machte er sich
um das Geld auch nicht viel Sorgen.

Worüber er mit mir sprach?

Die Gespräche, die er mit mir anknüpfte, waren ebenso seltsam wie er
selbst. Sah er, zum Beispiel, daß ich allein hinter den Kasernen war, so
wandte er sich plötzlich hastig zu mir um. Er ging stets schnell und
machte brüske Wendungen. Kam er auch im Schritt auf einen zu, so schien
es doch, als ob er liefe.

„Guten Tag.“

„Guten Tag.“

„Störe ich Sie nicht?“

„Nein.“

„Ich wollte Sie etwas über Napoleon fragen. Er ist doch ein Verwandter
von dem, der im Jahre zwölf in Rußland war?“

Petroff war Kantonist gewesen und hatte Lesen und Schreiben gelernt.

„Ja, er ist sein Neffe.“

„Was ist er denn da für ein Präsident?“

Er fragte immer sehr schnell und kurz, als müsse er möglichst bald das
Gewünschte erfahren, als müsse er sich in einer sehr wichtigen Sache,
die nicht den geringsten Aufschub duldet, eines besonderen Umstandes
vergewissern.

Ich erklärte es ihm, was für ein Präsident Napoleon war, und fügte noch
hinzu, daß er vielleicht bald Kaiser werden würde.

„Wie denn das?“

Ich erklärte ihm auch dies, so gut ich konnte. Petroff hörte aufmerksam
zu, begriff es vollkommen und begriff schnell, und hielt beim Zuhören
wie gewöhnlich das Ohr zu mir geneigt.

„Hm ... Ich wollte Sie, Alexander Petrowitsch, fragen, – ist es wahr,
daß es solche Affen gibt, deren Hände, wie man sagt, bis zu den Fersen
reichen und die so groß sind wie der größte Mensch?“

„Ja, es gibt solche.“

„Was sind denn das für welche?“

Ich beantwortete ihm, so gut ich konnte, auch diese Frage.

„Und wo leben sie denn?“

„In den heißen Ländern. Auf der Insel Sumatra zum Beispiel.“

„Das ist doch in Amerika, nicht wahr? Aber wie ist das, man sagt, dort
sollen die Menschen mit dem Kopf nach unten umhergehen?“

„Nicht mit dem Kopf nach unten ... Sie meinen die Antipoden.“

Ich erklärte ihm, was Amerika ist, wo es liegt und nach Möglichkeit
auch, was man unter Antipoden versteht. Er hörte wieder ungewöhnlich
aufmerksam zu, ganz als wäre er einzig wegen der Antipoden gekommen.

„Ah so! Aber da hab ich im vergangenen Jahr von der Gräfin Lavallière
gelesen, von dem Adjutanten Andrejeff hatte ich das Buch mitgebracht.
Ist das nun alles wahr, oder nur so – ausgedacht? Von Dumas
geschrieben.“

„Selbstverständlich erdacht.“

„Nun, Adieu. Besten Dank.“

Und Petroff verschwand.

Wir haben tatsächlich nie anders gesprochen, als in dieser Weise.

Ich versuchte Erkundigungen über ihn einzuziehen. Als ich M. von meiner
neuen Bekanntschaft Mitteilung machte, warnte er mich. Er sagte mir,
viele Arrestanten hätten in ihm Furcht erweckt, besonders in den ersten
Tagen nach seiner Ankunft im Ostrogg, doch kein einziger von ihnen,
nicht einmal Gasin, habe einen so entsetzlichen Eindruck auf ihn
gemacht, wie dieser Petroff.

„Er ist der Entschlossenste, der Furchtloseste von ihnen allen,“ sagte
M. „Er ist zu allem fähig; er wird vor nichts zurückschrecken, wenn er
sich einmal etwas in den Kopf setzt. Er würde auch Sie ermorden, wenn es
ihm einmal einfallen sollte, ohne jede Ursache, ganz einfach, weil er
eben ermorden will, und er wird dabei weder mit der Wimper zucken noch
nachträglich irgend welche Reue darüber empfinden. Ich glaube sogar, daß
er nicht bei vollem Verstande ist.“

Diese Auskunft erweckte noch lebhafter mein Interesse. Doch M. wußte
selbst nicht zu sagen, warum es ihm so schien. Und sonderbar: noch
mehrere Jahre sprach ich mit Petroff fast täglich, und die ganze Zeit
war er mir aufrichtig zugetan – obgleich ich entschieden nicht weiß, aus
welchem Grunde er es war – und während all dieser Jahre, in denen er
übrigens vernünftig und ruhig im Ostrogg lebte und so gut wie nichts
Schlechtes beging, überzeugte ich mich doch jedesmal, wenn ich ihn ansah
oder mit ihm sprach, daß M. recht hatte und Petroff vielleicht wirklich
der entschlossenste und furchtloseste Mensch war, der keine einzige
Schranke über sich kannte. Doch warum es mir so schien – darüber vermag
ich gleichfalls nicht Rechenschaft zu geben.

Ich muß noch bemerken, daß dieser Petroff es gewesen war, der unseren
Platzmajor hatte erstechen wollen, als er bestraft werden sollte: jener
wurde nur „durch ein Wunder“, wie die Arrestanten sagten, gerettet, da
er gerade noch vor dem kritischen Augenblick davongefahren war. Früher
einmal, noch vor der Kátorga, hatte ihn sein Oberst beim Exerzieren
geschlagen. Wahrscheinlich war er auch vorher schon geschlagen worden,
doch diesmal wollte er es sich nicht wieder gefallen lassen und erstach
seinen Oberst mit dem Bajonett, erstach ihn vor der Front, ganz offen,
mitten am Tage. Übrigens kenne ich seine ganze Geschichte nicht so
genau; er hat sie mir niemals erzählt. Doch das waren natürlich nur
kurze Ausbrüche, in denen sich plötzlich seine ganze Natur restlos
offenbarte, und diese Ausbrüche waren immerhin sehr selten. Er war sonst
wirklich ein verständiger und sogar friedsamer Mensch. Gewiß waren
Leidenschaften in ihm, und sogar mächtige, brennende; aber die glühenden
Kohlen waren beständig mit Asche bedeckt und glommen unsichtbar. Niemals
habe ich auch nur einen Schatten von Prahlerei oder Eitelkeit an ihm
wahrgenommen, wie bei den anderen. Selten nur stritt er, doch war er
auch mit niemandem besonders befreundet, allenfalls noch mit Ssirotkin,
aber auch das nur dann, wenn er seiner bedurfte. Übrigens einmal habe
ich ihn doch ernstlich erzürnt gesehen. Man wollte ihm irgend etwas
nicht geben, irgend einen Gegenstand, ich glaube, man hatte ihn
übervorteilt. Sein Gegner war einer der stärksten Arrestanten, ein
großer, händelsüchtiger Spötter und längst kein Feigling, Wassilij
Antonoff mit Namen, ein ehemaliger Kleinbürger. Sie hatten schon längere
Zeit gestritten und ich fürchtete, daß die Sache kaum mit gewöhnlichen
Faustschlägen erledigt werden würde, denn wenn Petroff auch selten
stritt und prügelte, so tat er es doch, wenn er es einmal tat, nicht wie
die anderen Arrestanten. Diesmal aber kam es anders: Petroff erbleichte
plötzlich, seine Lippen erbebten und wurden blau – er atmete schwer.
Dann erhob er sich von seinem Platz und näherte sich langsam, ganz
langsam, unhörbar mit seinen bloßen Füßen – im Sommer ging er mit
Vorliebe barfuß – seinem Widersacher. In der ganzen geräuschvollen
Kaserne wurde es still, alles verstummte; selbst das Summen einer Mücke
hätte man gehört. Alle warteten darauf, was jetzt geschehen würde. Da
sprang Antonoff von seinem Platz auf, sein Gesicht war nicht
wiederzuerkennen ... Ich hielt es nicht aus und verließ die Kaserne. Ich
glaubte, ich würde kaum über die Schwelle getreten sein ... und der
letzte Schrei eines ermordeten Menschen müßte mich erreichen. Doch es
kam nicht dazu: Antonoff hatte, noch bevor Petroff an ihn herangekommen
war, plötzlich wortlos den Gegenstand ihm zugeworfen. Es handelte sich
um ein erbärmliches Stück Zeug, um irgendwelche Fußlappen, wenn ich mich
recht entsinne. Natürlich mußte Antonoff ihn jetzt noch etwas
ausschimpfen, was er hauptsächlich zur Erleichterung seines Herzens und
des Anstandes halber tat, damit die anderen nicht etwa glauben sollten,
er habe Angst vor ihm gehabt. Doch Petroff schenkte dem Geschimpfe
überhaupt keine Beachtung, ja er antwortete jenem nicht einmal: ihm war
es nicht um das Schimpfen zu tun und außerdem war er ja der gewinnende
Teil. Er war sehr zufrieden und nahm seine alten Lumpen wieder an sich.
Nach einer Viertelstunde strich er schon wie gewöhnlich im Ostrogg
umher, mit dem Ausdruck völliger Beschäftigungslosigkeit, und als warte
er, ob nicht irgendwo von etwas Interessanterem gesprochen wurde, um
dann auch seine Nase hineinzustecken und zuzuhören. Ihn interessierte,
wie es schien, alles, doch weiß ich nicht, wie es kam, daß ihn alles im
Grunde gleichgültig ließ und er sich nur so umhertrieb, bald hierhin,
bald dorthin. Man hätte ihn mit einem Arbeiter vergleichen können, mit
einem guten Arbeiter, dem man aber vorläufig keine Arbeit gibt: und da
sitzt er denn in Erwartung derselben und spielt mit kleinen Kindern.
Auch begriff ich nicht, weshalb er im Ostrogg blieb und nicht entfloh?
Er hätte keinen Augenblick gezögert, zu entfliehen, sobald er es nur
wirklich gewollt hätte. Solche Menschen, wie Petroff, werden nur solange
von der Vernunft regiert, bis sie plötzlich irgend etwas wollen. Dann
aber kann sie nichts in der Welt mehr aufhalten. Und ich bin überzeugt,
daß er, geschickt und schlau wie er war, zu entfliehen verstanden hätte,
und daß es ihm nichts ausgemacht haben würde, eine ganze Woche ohne Brot
im Walde oder am Flußufer im Schilf zu verbringen. Augenscheinlich war
er jedoch überhaupt noch nicht auf diesen Gedanken gekommen und konnte
daher auch nicht so etwas wollen. Eine große Urteilskraft oder ein
besonderer Menschenverstand ist mir niemals an ihm aufgefallen. Diese
Menschen werden gleichsam mit einer einzigen Idee geboren, die sie ihr
ganzes Leben lang bald hierhin, bald dorthin bewegt, und so treiben sie
sich ihr ganzes Leben lang umher, bis sie eine Tätigkeit finden, die
ihnen vollständig zusagt; dann aber ist es ihnen auch um die Erhaltung
ihres Kopfes nicht mehr zu tun. Es wunderte mich, wie ein solcher
Mensch, der für gewöhnliche Schläge seinen Oberst aufgespießt hatte,
sich bei uns widerspruchslos unter die Ruten legte. Er wurde zuweilen
dazu verurteilt, wenn er beim Branntweinschmuggel abgefaßt worden war.
Wie alle beschäftigungslosen Arrestanten versuchte auch er es bisweilen,
Branntwein durchzuschmuggeln. Doch auch unter die Ruten beugte er sich
gleichsam mit seinem vollen Einverständnis, d. h. als hatte er
eingesehen, daß es recht war; anderenfalls hätte er es nie und nimmer
getan, eher hätte man ihn totschlagen können. Ebenso wunderte es mich,
wenn er mich trotz seiner ganzen aufrichtigen Zuneigung bestahl. Er war
es auch, der mir meine Bibel stahl, die ich ihm gegeben hatte, damit er
sie an ihren alten Aufbewahrungsort bringen sollte. Der Weg war nur
wenige Schritte lang, doch trotzdem war es ihm gelungen, unterwegs einen
Käufer zu finden, sie zu verkaufen und das Geld sogleich zu vertrinken.
Sicherlich muß das Verlangen zu trinken schon gar zu groß in ihm gewesen
sein, was er aber _sehr_ wollte, das _mußte_ natürlich getan werden. Ja,
das sind solche, die einen Menschen wegen fünfundzwanzig Kopeken
ermorden, um für diese Kopeken ein Maß Branntwein trinken zu können,
während er zu einer anderen Zeit sich eine Summe von Hunderttausend
entgehen läßt. Am Abend desselben Tages meldete er mir noch selbst
seinen Diebstahl, tat es aber ohne die geringste Verwirrung oder Reue,
vielmehr vollkommen freundlich, als wäre es eine ganz gewöhnliche
Mitteilung gewesen. Ich versuchte, ihn gehörig auszuschelten – auch tat
mir meine Bibel leid. Er hörte mir in aller Seelenruhe zu, saß ganz
friedlich und rührte sich nicht; er gab vollkommen zu, daß die Bibel ein
sehr nützliches Buch sei, es tat ihm auch aufrichtig leid, daß ich sie
nicht mehr besaß, doch tat es ihm dabei nicht im geringsten leid, daß
_er_ sie mir gestohlen hatte. Er sah mich mit einem solchen
Selbstbewußtsein an, daß ich sofort aufhörte, ihn zu schelten. Mein
Schelten aber nahm er ruhig hin, wahrscheinlich in der Erwägung, daß es
doch nicht gut ginge, ihn dafür nicht zu schelten: „folglich mag es nur
geschehen“ – mit anderen Worten: „kann er sich ausschimpfen, so beruhigt
er sich schneller, also mag er nur; im Grunde aber ist das ja doch nur
Unsinn, ein solcher Unsinn, daß ein ernster Mensch sich eigentlich
schämen müßte, über so etwas auch noch Worte zu verlieren.“ Ja, es will
mir sogar scheinen, daß er mich überhaupt nur für ein Kind gehalten hat,
wenn nicht gar für einen noch ganz kleinen Säugling, der nicht einmal
die einfachsten Dinge der Welt begreift. Zum Beispiel, wenn ich als
erster ihn anredete und nicht von Wissenschaft oder Büchern sprach, so
antwortete er mir zwar, doch tat er es gleichsam nur aus Höflichkeit und
beschränkte sich auf die kürzesten Erwiderungen. Oft fragte ich mich,
wozu er dieser Bücherweisheit bedurfte, in der er sich durch mich
gewöhnlich unterrichten ließ. Es kam vor, daß ich ihn während dieser
Gespräche nicht selten von der Seite ansah: wollte er sich über mich
lustig machen? Doch nein, das war es nicht. Gewöhnlich hörte er mir
ernst und aufmerksam zu, aber im Grunde doch nicht allzu aufmerksam, und
dieser letztere Umstand verdroß mich nicht selten. Seine Fragen stellte
er stets sehr genau, bestimmt, doch über die von mir erhaltene Auskunft
schien er sich weiter nicht zu wundern, ja er vernahm sie fast
zerstreut. Auch schien es mir, daß er in Bezug auf mich sich überzeugt
hatte – und zwar ohne sich lange den Kopf darüber zu zerbrechen –, daß
man mit mir nicht wie mit anderen Menschen sprechen könne, daß ich,
ausgenommen von Büchern, nichts verstehen würde, ja nicht einmal fähig
wäre, zu verstehen, und es sich folglich gar nicht lohne, mich mit
anderen Dingen zu beunruhigen.

Und doch bin ich überzeugt, daß er mich sogar wirklich gern hatte,
worüber ich nicht wenig erstaunt war. Hielt er mich etwa für einen
unausgewachsenen, nicht vollen Menschen, oder hatte er ein besonderes
Mitleid mit mir, das jedes starke Wesen instinktiv einem schwächeren
gegenüber empfindet, und hatte er mich für ein solches angesehen – ich
weiß es nicht. Und wenn ihn alle diese eventuellen Gefühle auch nicht
abhielten, mich zu bestehlen, so bin ich doch fest überzeugt, daß er,
während er stahl, mich bemitleidete.

„Ach,“ dachte er vielleicht in dem Augenblick, als er sich mein Eigentum
aneignete, „was ist denn das für ein Mensch, der nicht einmal für sein
Hab und Gut einstehen kann!“

Aber gerade deshalb hatte er mich lieb. Er sagte es mir einmal sogar
selbst – wohl halb aus Versehen –, daß ich ein „schon gar zu gutes Herz“
habe, und „Sie sind ein so treuherziger Mensch, so treuherzig, daß man
mit Ihnen wirklich nur Mitleid haben kann. Nur müssen Sie das, Alexander
Petrowitsch, nicht als Kränkung auffassen,“ fügte er nach einer Minute
hinzu, „ich habe es doch nur so gesagt, aus dem Herzen heraus.“

Mit solchen Leuten geschieht es gewöhnlich im Leben, daß sie plötzlich
scharf und groß hervortreten und im Augenblick einer großen allgemeinen
Aktion oder Revolution ihren vollen Ausdruck finden und mit einem
Schlage in ihre eigenste Tätigkeit hineinkommen. Sie sind nicht Männer
des Wortes und können nicht die Anstifter oder die Hauptführer der Sache
sein, doch dafür sind sie die Hauptvollbringer der Tat und sind die
ersten, die anfangen. Sie fangen ganz einfach an, ohne besonderes
Aufsehen zu erregen, doch sind sie die ersten, die über das größte
Hindernis ohne zu zögern und furchtlos hinübertreten, allen Gefahren
entgegen – und siehe, alle stürzen ihnen nach und folgen ihnen
blindlings, und so gehen sie bis zur letzten Grenze, bis zur letzten
Mauer ... wo sie dann gewöhnlich auch ihre Köpfe niederlegen.

Ich glaube nicht, daß Petroff gut geendet hat. Im Leben dieser Menschen
kommt gewöhnlich ein Augenblick, in dem sie mit einemmal alles beenden,
und wenn Petroff noch nicht untergegangen war, so sagte das nur, daß
sein Augenblick noch nicht gekommen war. Übrigens, was kann man wissen?
Vielleicht wird er noch bis zum Silberhaar leben und seelenruhig vor
Altersschwäche sterben, bis dahin aber immer noch ziellos hierhin und
dorthin schlendern. Aber es scheint mir doch, daß M. recht hatte, als er
sagte, Petroff sei der entschlossenste Mensch im ganzen Ostrogg.


                                 VIII.

                    Entschlossene Menschen. Lutschka

Von den entschlossenen Menschen ist schwer etwas Bestimmtes zu sagen. In
der Kátorga gab es ihrer, wie überall, ziemlich wenig. Dem Ansehen nach
allerdings ist manch einer ein furchterweckender Mensch, und denkt man
daran, was von ihm erzählt wird, so geht man im Bogen um ihn herum.
Irgend ein unbestimmbares Gefühl veranlaßte mich anfänglich, diese
Menschen soviel als möglich zu meiden. Späterhin dagegen habe ich meine
Ansicht selbst über die furchtbarsten Mörder geändert. Manch einer, der
überhaupt nicht gemordet hatte, war tausendmal furchtbarer, als einer,
der wegen sechs Mordtaten verschickt war. Es gab auch Verbrechen, die
man sich überhaupt nicht erklären konnte, dermaßen seltsam waren sie.
Ich sage dieses hauptsächlich aus dem Grunde, weil bei uns unter dem
einfachen Volke viele Verbrechen aus den wunderlichsten Veranlassungen
begangen werden. So findet man zum Beispiel sehr häufig folgenden
Mördertyp: Der Mensch lebt irgendwo ganz ruhig und friedlich. Er hat es
schwer, – er leidet. Nehmen wir an, er ist ein Landbauer, oder ein
Höriger, oder ein Bürger, oder auch ein Soldat. Plötzlich ist ihm irgend
etwas in die Quere gekommen: er hat es nicht mehr ausgehalten und seinen
Feind und Bedrücker erstochen. Nun aber beginnt das Seltsame: der Mensch
scheint für eine Zeitlang völlig aus Rand und Band zu sein. Der erste,
den er ermordet hat, war sein Feind gewesen; der Mord ist, wenn auch ein
Verbrechen, so doch begreiflich, es war eine Veranlassung zu dieser Tat
vorhanden. Dann aber tötet er nicht nur seine Feinde, sondern den ersten
Besten, tötet nur zu seinem Vergnügen, tötet wegen eines groben Wortes,
wegen eines Blickes, oder einfach –: „Aus dem Wege, sollst mir nicht
entgegenkommen, ich gehe!“ Als wäre der Mensch plötzlich trunken oder
als täte er es halb bewußtlos im Fieber. Ganz als fände er, der schon
einmal über die Grenze des heiligen Gebots hinübergesprungen ist,
bereits Gefallen daran, daß es für ihn nichts Heiliges mehr gibt; ganz
als triebe es ihn, mit einemmal über alle Gesetze und alle Macht
hinwegzutreten und in der zügellosesten, unbegrenztesten Freiheit zu
schwelgen, zu schwelgen in diesem Ersterben des Herzens vor einem
Entsetzen, das er unmöglich vor sich selbst nicht empfinden kann. Zudem
weiß er nur zu gut, daß eine furchtbare Strafe ihn erwartet. Sein ganzer
Zustand ließe sich vielleicht mit demjenigen eines Menschen auf einem
hohen, hohen Turm vergleichen, der sich unwillkürlich in die Tiefe, die
er vor seinen Füßen sieht, hinabgezogen fühlt, so daß er selbst
schließlich froh wäre, sich mit dem Kopf voran hinunterstürzen zu
können: nur hinab, und dann ist es geschehen! Und das findet man sogar
bei den friedlichsten und bis dahin unauffälligsten Menschen. Einige von
ihnen brüsten sich noch in diesem Zustande: je verschüchterter er früher
war, umsomehr will er jetzt anderen Furcht einflößen. Diese Furcht der
anderen vor ihm wird ihm fast ein Genuß, und selbst den Ekel, den er in
ihnen erweckt, selbst den liebt er geradezu. Er gibt sich den Anschein
einer gewissen Tollkühnheit, doch solch ein „Tollkühner“ wünscht
mitunter selbst seine Strafe schneller herbei, wünscht, daß man ihn bald
„erledige“, denn seine vorgespielte Tollkühnheit wird ihm selbst
zuguterletzt schwer zu tragen. Interessant ist dabei gleichfalls, daß
diese ganze Großtuerei größtenteils nur genau bis zum Schafott vorhält,
dann aber ist sie plötzlich wie abgeschnitten: als wäre diese Frist
durch ihre eigenen Gesetze bestimmt. Plötzlich ist der Mensch wie
zerschmettert, wie in einen Lappen verwandelt. Auf dem Schafott greint
er und bettelt um Verzeihung. Und im Ostrogg kann man sich nur über ihn
wundern, wenn man ihn sieht: so ein kleinlautes Kerlchen mit einer
schmutzigen Nase, daß man sich ganz erstaunt fragt: „Ist denn das
wirklich derselbe, der fünf oder sechs Menschen ermordet hat?“

Natürlich, viele beruhigen sich auch im Ostrogg nicht so bald. Sie
behalten immer noch eine gewisse Prahlsucht bei; ihr Gehaben ist, als
wollten sie sagen: „Ich bin doch nicht das, was ihr glaubt, ich stehe
‚für sechse‘!“ Aber schließlich ergeben sie sich dennoch. Nur manches
Mal erfreut er sich noch an seinen tollen Streichen, am wüsten Treiben,
das „einmal in seinem Leben war“, als er noch zu den „Tollkühnen“
gehörte, und wenn er nur einen Neuling findet, erzählt er ihm gern mit
der üblichen Wichtigkeit oder Würde von seinen früheren Heldentaten und
macht sich mit Vergnügen breit vor ihm, – übrigens ohne es sich auch nur
im geringsten anmerken zu lassen, wie gern er sie erzählt. „Seht doch,
sozusagen, was ich für ein Mensch bin!“

Und mit welchem Raffinement diese eitle Vorsicht beobachtet wird, wie
nachlässig und gleichgültig zuweilen solch eine Erzählung ist! Welch
eine geschulte Geckenhaftigkeit sich in dem ganzen Ton und in jedem
kleinsten Wort des Erzählers zeigt! Und wo hat dieses Volk das gelernt?

Einmal hörte ich – es war in den ersten Tagen an einem endlosen Abend –,
als ich müßig und in quälenden Gedanken auf der Pritsche lag, eine von
solchen Erzählungen mit an, und hielt in meiner Unerfahrenheit den
Erzähler für einen außergewöhnlichen, schrecklichen Bösewicht, für einen
eisernen Charakter, und war nahe daran, in Petroff nur ein Kind im
Vergleich zu ihm zu sehen.

Das Thema der Erzählung war, wie er, Luka Kusmitsch, für Null und
Nichts, d. h. einzig zu seinem persönlichen Vergnügen, einen Major
„niedergemacht“ hatte. Dieser Luka Kusmitsch war dasselbe kleine, magere
Männlein mit der spitzen Nase, ein junger Arrestant unserer Kaserne, von
dem ich schon einmal gesprochen habe. Er war Kleinrusse, oder vielmehr
Großrusse und nur im Süden geboren, als Höriger oder Leibeigener, glaube
ich. In dem ganzen Kerlchen war etwas Spitzes, Anmaßendes: „Klein ist
das Vöglein, doch scharf sind die Krallen.“ Die Arrestanten aber
durchschauen den Menschen instinktiv. Er wurde wenig geachtet, oder wie
man in der Kátorga sagte: „Seiner wurde wenig geachtet.“ Er war
ungeheuer selbstgefällig.

An jenem Abend saß er auf der Pritsche und nähte an einem Hemd. Das
Wäschenähen war sein Handwerk. Neben ihm saß ein stumpfsinniger
beschränkter Bursche, der aber sonst ein gutmütiger und freundlicher,
großer und starker Junge war, Luka Kusmitschs Nachbar auf der Pritsche,
der Arrestant Kobylin. Infolge ihrer Nachbarschaft stritt Lutschka sehr
oft mit ihm und behandelte ihn überhaupt von oben herab, spöttisch und
despotisch, was Kobylin in seiner Einfalt teilweise überhaupt nicht
bemerkte. Er strickte einen wollenen Strumpf und hörte seinem Nachbar
Lutschka gleichmütig zu. Dieser aber erzählte ziemlich laut und
deutlich. Ersichtlich wünschte er, von allen gehört zu werden, obgleich
er sich den Anschein zu geben bemühte, als erzähle er nur seinem
Kobylin.

„So, mein Lieber, wurde ich fortgeschickt aus unserer Gegend,“ begann er
und zog seine Nähnadel durch das Zeug, „nach Tsch–ff, wegen
Landstreicherei, sozusagen.“

„Wann war denn das, – schon lange?“ fragte Kobylin.

„So wenn die Erbsen reif werden, wird es immer schon das zweite Jahr
sein ... Nu und wie wir nach K. ankamen, wurde ich auf kurze Zeit dort
selbentlich in den Ostrogg eingesperrt. Ich sehe, was sitzt denn da mit
mir? Es waren aber nur so zwölf Stück, alles Kleinrussen, groß, gesund,
kräftig, wie die Ochsen. Und dabei so artig. Das Essen war schlecht, und
ihr Major, der macht mit ihnen, was er will, wie es seiner Gnaden
_vorgefällt_ (Lutschka verdrehte das Wort mit Absicht, er wußte sehr
gut, wie es richtig war). Sitze da einen Tag, sitze noch einen, sehe:
gar keine Courage in dem Volk. – ‚Warum laßt ihr euch von diesem Esel
alles gefallen?‘ frage ich sie.

‚Geh doch du mit ihm sprechen!‘ Und sie lachen noch über mich. Ich
schweige. Unter ihnen aber war ein spaßiger Kleinrusse, – ja, von dem
muß ich euch doch noch erzählen!“ unterbrach er sich plötzlich, diesmal
an alle sich wendend, und nicht mehr wie vorher, als er scheinbar nur zu
Kobylin allein sprach. „Er erzählte uns, wie er verurteilt worden war
und wie er mit dem Gericht gesprochen hatte, selbst aber weinte er nur
so dabei; Kinder und Weib, sagte er, habe er zurückgelassen. Selbst ist
er so ein Stämmiger, ganz grau schon und dick. ‚Ich,‘ sagte er, ‚sage
ihm: nein! bin unschuldig! Er aber, das Teufelskind, er schreibt und
schreibt. Da schreie ich: daß der krepiert, bin unschuldig! Er aber
schreibt und schreibt und schreibt noch mehr! ... Und da war es aus mit
mir!‘ – Wasjka, gib mir da mal einen Faden her: diese verfluchten sind
alle verfault.“

„Vom Markt gekauft,“ brummte Wasjka und gab ihm einen Faden.

„Unser Rollgarn, das wir in der Werkstatt haben, ist viel besser. Von
hier aber wurde wieder der Nevalid geschickt, wer kann wissen, von was
für einem Schandweibe er da immer kauft!“ fuhr Lutschka fort, indem er
die Nadel gegen das Licht hielt und den Faden einzufädeln suchte.

„Bei seiner Gevatterin natürlich.“

„Natürlich bei seiner Gevatterin.“

„Aber wie blieb es denn mit dem Major?“ fragte nach einiger Zeit
Kobylin.

Darauf hatte Lutschka nur gewartet. Einstweilen aber setzte er seine
Erzählung nicht sobald fort, ja er schien Kobylin nicht einmal seiner
Beachtung zu würdigen. Ruhig machte er seinen Faden zurecht, ruhig und
gleichsam faul änderte er ein wenig die Stellung seiner Schneiderbeine
unter sich und dann erst fuhr er endlich fort:

„Es gelang mir zu guterletzt doch noch, meine Kleinrussen etwas
aufzuwiegeln, der Major wurde hinverlangt. Ich hatte mir schon am Morgen
von einem anderen ein Messer verschafft und im Stiefelschaft versteckt,
sozusagen für alle Fälle. Der Major war über unsere Forderung in helle
Wut geraten. Er kommt. Nu, sage ich, verliert nicht den Mut! Aber denen
war das Herz schon in die Hosen gefallen, sie zittern alle nur so. Da
kommt der Major hereingestürzt, betrunken, wie ich sehe, und schreit:
‚Wer ist hier! Wie ist es hier! Hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!‘

Wie er so gesagt hatte: ‚hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!‘ trat ich
etwas vor,“ fuhr Lutschka fort, „das Messer hatte ich im Ärmel.

‚Nein,‘ sage ich, ‚Euer Gnaden,‘ selbst aber schiebe ich mich langsam
immer näher und näher, ‚nein, wie kann denn das sein,‘ sage ich, ‚daß
Euer Gnaden bei uns Zar und Gott sind?‘

‚Ah, so bist du es, also du bist es,‘ schrie der Major, ‚du bist der
Anstifter!‘

‚Nein,‘ sage ich und dabei komme ich ihm immer näher, ‚nein,‘ sage ich,
‚Euer Gnaden wissen doch selbst, daß unser allmächtiger und
allgegenwärtiger Gott nur einer ist,‘ sage ich. ‚Und unser einziger Zar
ist über uns alle von Gott selbst eingesetzt. Er ist, Euer Gnaden,‘ sage
ich, ‚ein Monarch. Euer Gnaden aber,‘ sage ich, ‚sind nur ein Major –
unser Vorgesetzter durch des Zaren Gnade,‘ sage ich, ‚und Eurer Gnaden
eigene Verdienste.‘

‚Was, was, was wie?‘ gackerte er nur noch, sprechen konnte er nicht
mehr, die Luft ging ihm aus. Er war doch gar zu erstaunt.

‚Ja, das ist schon so,‘ sage ich, und wie ich mich auf ihn stürzte,
stieß ich ihm das Messer gleich bis an den Griff in den Bauch. Es war
gewandt geschehen. Er fiel hin wie gemäht und zappelte nur noch einmal
mit den Beinen. Ich warf das Messer fort.

‚So,‘ sagte ich, ‚jetzt hebt ihn auf!‘“

                   *       *       *       *       *

Hier muß ich meinerseits eine Erklärung hinzufügen. Leider waren solche
Ausdrücke wie: „Hier bin ich Zar, hier bin ich Gott!“ und noch viele
andere ähnliche in früheren Zeiten bei vielen Kommandeuren in häufigem
Gebrauch. Doch muß ich bemerken, daß es solcher Kommandeure heute nur
noch sehr wenige gibt, vielleicht sind sie auch schon alle ausgestorben.
Zudem waren die Kommandeure, die sich dieser Ausdrücke mit Vorliebe
bedienten, meistens Leute aus niedrigerem Stande und Range, die sich
später emporgedient hatten. Der Offiziersrang schien gleichsam ihren
ganzen Menschen umzukehren, den Kopf natürlich gleichfalls. Nachdem sie
lange unter der Fuchtel gedient haben, werden sie eines Tages selbst
Offiziere, Vorgesetzte, Kommandeure, sie werden geadelt, und so
vergrößern sie, da sie an eine solche Ehre gar nicht gewöhnt waren, im
ersten Rausch ganz unwillkürlich die Vorstellung von ihrer Macht und
Bedeutung, doch selbstverständlich nur in Bezug auf ihre Untergebenen.
Vor ihren Vorgesetzten sind diese Leute stets von ungewöhnlicher
Unterwürfigkeit, die jetzt durchaus nicht mehr angebracht und vielen
Kommandeuren höchst widerlich ist. Manche treiben es sogar so weit, daß
sie sich mit einer ganz besonderen Rührung beeilen, ihrem hohen
Vorgesetzten baldmöglichst zu versichern, daß sie, die ja doch aus
Subalternen hervorgegangen sind, ihren früheren Rang nicht vergessen
werden und sich auch als Offiziere nicht den anderen Offizieren
gleichstellen wollen. Anders ist ihr Verhalten zu ihren Untergebenen:
diesen gegenüber sind sie die größten Tyrannen. Doch heute gibt es, wie
gesagt, wohl kaum noch solche Kommandeure, und schwerlich dürfte sich
einer finden, der noch sagen könnte: „Ich bin Zar, ich bin Gott.“
Nichtsdestoweniger will ich doch darauf aufmerksam machen, daß nichts
einen Arrestanten oder überhaupt einen Untergebenen so reizt und empört,
wie derartige Äußerungen Vorgesetzter. Diese Unverschämtheit in der
Selbsterhöhung, diese übertriebene Meinung von seiner Unbestrafbarkeit
erweckt selbst im gefügigsten Menschen Haß und Wut und bringt ihn um
seine letzte Geduld. Zum Glück gehören diese Zustände schon der
Vergangenheit an und selbst damals sind solche Fälle streng geahndet
worden, was ich selbst früher miterlebt habe.

Überhaupt kann man sagen, daß jede verächtliche Nachlässigkeit, jede
unangebrachte Überhebung die niedrigeren Klassen viel tiefer kränkt und
viel mehr aufreizt, als man glaubt. Viele sind der Meinung, daß die
Obrigkeit, wenn sie einen Sträfling nur gut ernährt, gut hält und in
allem das Gesetz beobachtet, damit alles tut. Das ist aber ein großer
Irrtum. Ein jeder Mensch, wer er auch sei und wie tief er auch
erniedrigt wäre, verlangt doch – wenn auch instinktiv, unbewußt –
Achtung vor seiner Menschenwürde. Der Arrestant weiß es selbst, daß er
ein Arrestant ist, ein Ausgestoßener, und kennt seine Stellung seinem
Vorgesetzten gegenüber; doch gibt es weder solche Brandmale noch solche
Fesseln, mit denen man ihn vergessen machen könnte, daß er ein Mensch
ist. Und da er in der Tat ein Mensch ist, so muß man ihn auch danach
behandeln. Mein Gott! – kann man doch mit einer _menschlichen_
Behandlung auch solche noch zu Menschen machen, in denen jeder Funke
Gottes bereits längst erloschen ist. Gerade mit diesen „Unglücklichen“
muß man am menschlichsten umgehen. Das ist ihre Rettung und Freude. Ich
habe gute, edle Kommandeure gesehen, ich habe auch den Eindruck gesehen,
den sie auf diese Erniedrigten machten. Nur ein paar freundliche Worte –
und die Arrestanten waren fast wie sittlich auferstanden. Sie freuten
sich wie Kinder und wie Kinder fingen sie an zu lieben. Doch will ich
zum Schluß noch eine recht auffallende Erscheinung erwähnen: eine
familiäre, eine _allzu_ gute Behandlung seitens der Vorgesetzten gefällt
dem Arrestanten durchaus nicht. Er will seinen Vorgesetzten achten, in
diesem Falle kann er ihn aber unwillkürlich nicht mehr achten. Der
Arrestant hat es sehr gern, wenn sein Vorgesetzter Orden besitzt, wenn
er eine gute Erscheinung ist, wenn er bei einer hohen Persönlichkeit,
einem hohen Kommandierenden in Gunst steht, wenn er streng und ernst ist
und gerecht, und auch seine Würde bewahrt. Solche Vorgesetzte liebt der
Sträfling am meisten: er weiß also, was er sich schuldig ist, und hat
der andere auch ihn, den Arrestanten, nicht verletzt, so ist alles gut
und schön.

                   *       *       *       *       *

„Dafür haben sie dich dann auch gründlich gebraten, was?“ fragte ruhig
Kobylin.

„Hm! Gebraten ... Gebraten haben sie mich schon. Alei, gib mir mal die
Schere her! Wie kommt es denn, daß es heute keine Spielhölle gibt?“

„Sie haben heute ihr Vermögen versoffen,“ bemerkte Wassjä. „Wenn sie es
nicht versoffen hätten, dann würden sie jetzt wohl Karten klopfen.“

„Wenn! Für das ‚wenn‘ gibt man auch in Moskau hundert Rubel,“ meinte
Lutschka.

„Aber wieviel gab man denn dir, Lutschka, alles in allem?“ fragte
Kobylin, wieder auf das alte Thema zurückkommend.

„Mir gab man, lieber Freund, hundertundfünf. Und was ich euch noch sagen
wollte,“ fuhr Lutschka plötzlich wieder zu allen gewandt fort, „– man
hätte mich ja damals beinahe totgeschlagen. Nachdem ich zu den
Hundertundfünf verurteilt worden war, wurde ich in voller Parade
hingebracht. Bis dahin hatte ich aber Hiebe noch niemals kennen gelernt.
Volks war eine Menge hingelaufen, die ganze Stadt war da: ein Verbrecher
wird bestraft, ein Mörder, sozusagen. Denn wie dumm doch so’n Volk ist,
das weiß ich wirklich gar nicht mehr zu sagen. Timoschka[4] zog mir die
Kleider ab, legte mich hin, – plötzlich schreit er: ‚Halt dich fest, es
brennt.‘ Ich warte: was wird nun kommen? Wie er mir das erstemal
überzog, – ich wollte wohl schreien, ich machte wohl den Mund auf, aber
es war kein Schrei in mir drin. Die Stimme war, sozusagen, stecken
geblieben. Wie er das zweitemal überzog, nun, glaub oder glaub nicht,
aber ich hörte gar nicht mehr, wie ‚zwei‘ gezählt wurde. Als ich aber
wieder aufwachte, hörte ich, wie gezählt wird: siebzehn! Und so werde
ich viermal von der Bank heruntergenommen, auf eine halbe Stunde zur
Erholung: wurde mit Wasser begossen. Da glotzte ich sie nun alle an mit
aufgerissenen Augen und denke so: ‚jetzt stirbst du‘ ...“

„Und bist doch nicht gestorben?“ fragte Kobylin naiv.

Lutschka besah ihn sich einmal mit unbeschreiblich verächtlichem Blick.
Man lachte.

„Das war ’n Spaß!“

„In seiner Dachstube scheint’s nicht ganz richtig zu sein,“ bemerkte
Lutschka, als bereue er es, mit diesem Menschen überhaupt gesprochen zu
haben.

„Der hat eins weg,“ stimmte auch Wassjä bei.

Lutschka hatte zwar sechs Menschen umgebracht, doch im Ostrogg fürchtete
ihn niemand, obschon es vielleicht sein größter Wunsch war, als
„fürchterlicher“ Mensch zu gelten ...


                                  IX.

         Issai Fomitsch. – Das Bad. – Die Erzählung Bakluschins

Das Weihnachtsfest rückte heran. Die Arrestanten erwarteten es geradezu
mit einer gewissen Feierlichkeit, und angesichts dieser Feierlichkeit
begann auch ich etwas Ungewöhnliches zu erwarten. Vier Tage vor dem Fest
wurden wir ins Bad geführt. Zu meiner Zeit, namentlich in den ersten
Jahren, die ich im Ostrogg verbrachte, wurden die Sträflinge nur selten
ins Bad geführt. Alles freute sich und ein jeder traf seine
Vorkehrungen. Wir sollten nach dem Essen aufbrechen, und an diesem
Nachmittage wurde nicht mehr gearbeitet. Am meisten aber freute sich in
der ganzen Kaserne – Issai Fomitsch Bummstein, unser Jude, von dem ich
schon einmal gesprochen habe. Er nahm seine Dampfbäder bis zur
Abstumpfung jedes Lebensgefühls, bis zur halben Bewußtlosigkeit, und
jedesmal, wenn ich jetzt noch die alten Erinnerungen durchlebe und bei
der Gelegenheit auch an dieses Arrestantenbad denke (das aber auch
wirklich wert ist, nicht vergessen zu werden), so tritt unwillkürlich
als erstes die Gestalt meines unvergeßlichen Kátorga- und
Kasernengenossen Issai Fomitsch aus dem ganzen Bilde hervor. Gott, wie
unsäglich komisch und spaßig dieser Mensch war! Über sein Äußeres habe
ich schon einiges gesagt: fünfzig Jahre alt, schwächlich und verrunzelt,
mit den fürchterlichsten Brandmälern auf den Wangen und der
Stirn, mager, ausgemergelt und mit einem weißen Hühnerkörper.
Sein Gesichtsausdruck war – durch nichts zu erschütternde
Selbstzufriedenheit, ja sogar Seligkeit, wenn man will. Ich glaube, er
bedauerte es nicht im geringsten, in die Kátorga geraten zu sein. Da er
Juwelier war und es in der Stadt keinen Juwelier gab, so arbeitete er
beständig für die Herrschaft und die Beamtenschaft in der Stadt in
seinem Handwerk. Dafür wurde ihm immerhin etwas gezahlt. Jedenfalls litt
er nicht Not, ja er lebte nach Ostroggbegriffen sogar „reich“, doch
sparte er sein Geld und lieh es auf Pfänder dem ganzen Ostrogg,
selbstverständlich gegen sehr hohe Prozente. Er besaß einen eigenen
Ssamowar, eine gute Matratze, Tassen und ein ganzes Eßgeschirr. Die
Juden der Stadt verließen ihn auch nicht mit ihrer Bekanntschaft und
Gönnerschaft. Jeden Sonnabend ging er mit einer Eskorte in das
städtische Bethaus – was vom Gesetz den Gefangenen erlaubt ist – und
lebte glücklich und zufrieden, und erwartete nur mit Ungeduld die
Beendigung seiner zwölfjährigen Strafzeit, um dann zu „aheiraten“. Es
war in ihm eine unsäglich komische Mischung von Naivität, Dummheit,
Schlauheit, Frechheit, Gutmütigkeit, Zaghaftigkeit, Prahlsucht und
offenbarer Gemeinheit. Es wunderte mich, daß die Arrestanten ihn gar
nicht verspotteten, höchstens ihn einmal zur Belustigung etwas neckten.
Issai Fomitsch diente augenscheinlich der ganzen Gesellschaft zur
Zerstreuung und ewigen Erheiterung. „Laßt unseren Issai Fomitsch in Ruh,
er ist unser einziger!“ sagten sie lachend, und Issai Fomitsch, der sehr
gut begriff, um was es sich handelte, war ersichtlich stolz auf seine
Bedeutung, was die Arrestanten nicht wenig belustigte. Seine Ankunft im
Ostrogg, noch vor mir, muß zum Sterben komisch gewesen sein. Man hat sie
mir später geschildert.

Eines schönen Tages verbreitete sich im Ostrogg kurz nach der Rückkunft
der Arrestanten von der Nachmittagsarbeit das Gerücht, daß man einen
Juden gebracht habe, ihn in der Wachstube soeben rasiere, und daß er
sofort erscheinen würde. Bis dahin hatte es in unserem Ostrogg noch
keinen Juden gegeben. Die Arrestanten erwarteten ihn in größter Ungeduld
und umringten ihn sofort, kaum daß er durch das Tor eingetreten war. Der
Unteroffizier führte ihn in die Kaserne und wies ihm einen Platz auf der
Pritsche an. Im Arm hielt Issai Fomitsch einen Sack, in dem er die ihm
eingehändigten Arrestantenkleider und seine eigenen Habseligkeiten
untergebracht hatte. Zaghaft stellte er den Sack hin, kletterte behende
auf die Pritsche, setzte sich und zog geschwind die Beine unter, ohne
dabei in seiner Angst zu wagen, auch nur einmal aufzublicken. Rings um
ihn standen die Arrestanten, lachten und machten ihre Witze über das
Häufchen Unglück und namentlich über seine hebräischen Vorzüge.
Plötzlich drängte sich durch den dichten Haufen ein junger Arrestant,
mit seinen ältesten, schmutzigen und zerrissenen Sommerhosen und einem
Paar alter Fußlappen unterm Arm, die zum Überfluß noch Staatseigentum
waren. Er setzte sich neben Issai Fomitsch auf die Pritsche und schlug
ihn auf die Schulter:

„Na, alter Freund, dich hab ich ja grad schon sechs Jahre lang erwartet.
Sieh mal, hier – was gibst du dafür?“

Und er hielt ihm die mitgebrachten Lumpen hin.

Issai Fomitsch, der seit dem Eintritt in den Ostrogg dermaßen
verschüchtert war, daß er nicht einmal seinen Blick bis zu diesen
höhnischen, verunstalteten, entsetzlichen Gesichtern der ihn wie eine
Mauer umringenden furchtbaren Gesellen zu erheben und in seiner Angst
noch keinen Laut von sich zu geben gewagt hatte, – fuhr beim Anblick
eines Pfandes wie neubelebt auf und begann gewandt die Lumpen zu
untersuchen: er hielt sie prüfend gegen das Licht und befühlte sie
geschäftig von allen Seiten. Alle warteten, was er sagen würde.

„Na, einen Rubel in Silber wirst du wohl nicht geben? Und doch sind sie
ja noch mindestens soviel wert!“ fuhr der Arrestant fort und blinzelte
dem Issai Fomitsch zu.

„Einen Ssilberrubel kann ich nich, aber ich werd geben sieben Kopeken.“

Das waren die ersten Worte, die Issai Fomitsch im Ostrogg gesprochen
hatte. Alles wälzte sich vor Lachen.

„Sieben! Na, dann gib die sieben meinetwegen her. Hast du aber heute
Glück! Sieh nur zu, daß du das Pfand gut aufbewahrst, du haftest mir mit
deinem Kopf dafür!“

„Und Perzent noch drei Kopeken, macht zehn Kopeken,“ fuhr das Jüdchen
mit zitternder Stimme fort, indem er die Hand in die Tasche versenkte
und ängstlich nach allen Seiten lugte. Groß war seine Angst, aber noch
größer war die Lust, das Geschäftchen abzuwickeln.

„Wie, für das ganze Jahr drei Kopeken Prozent?“

„Nein, nicht fir ’n ganzen Jahr, fir ’n Monat wird’s sein.“

„Du bist ein Knicker, Israel. Übrigens, wie heißt du?“

„Issai Fomitz.“

„Na, Issai Fomitsch, du wirst es bei uns noch weit bringen. Leb wohl.“

Issai Fomitsch besah noch einmal das Pfand, faltete es dann sorgfältig
zusammen und schob es in seinen Sack, – unter dem anhaltenden Gelächter
der übrigen.

Man hatte ihn tatsächlich gewissermaßen gern und niemand tat ihm etwas
zuleide, obgleich sie ihm alle schuldeten.

Friedfertig war er wie ein Huhn, und da er die allgemeine Zuneigung zu
sich sehr wohl bemerkte, schöpfte er bald Mut, tat es aber mit so
einfältiger Komik, daß ihm sofort alles verziehen wurde. Lutschka, der
in seinem Leben viele Juden gekannt hatte, zog ihn nicht selten auf,
doch tat er es ohne jede Bosheit, einfach nur so, zur Zerstreuung,
ungefähr wie man mit einem Hündchen spielt, mit einem Papagei, mit
abgerichteten Tieren, oder ähnlichen Dingen, was Issai Fomitsch sehr
wohl merkte, weshalb er sich auch nie gekränkt fühlte, und worauf er
sogar sehr schlagfertig zu entgegnen wußte.

„Ei, Jude, sieh dich vor, ich werde dich noch durchhauen!“

„Sslägst du mir einmal, so sslag ich dir zehnmal,“ versetzte Issai
Fomitsch kreuzfidel.

„Du Lausbub!“

„Meinetwegen auch e Lausbub, kann nicht schaden.“

„Grindiger Jude!“

„Warum soll mir nicht sein auch grindig? Wenn auch grindig, so doch
reich! Wenn man nur Kopekens hat.“

„Hast Christus verkauft!“

„Meinetwegen. Warum auch nicht.“

„Bravo, Issai Fomitsch, du hast den Mund auf dem rechten Fleck! Laßt
unseren Issai Fomitsch in Ruh, er ist unser einziger!“ schreien lachend
die Arrestanten.

„Ei, Jude, wirst dir noch die Peitsche verdienen, nach Sibirien kommen.“

„Fir was, da sein mir schon.“

„Wirst noch weiter fortgeschickt werden.“

„Warum nich. Is Gott der Herr auch dort ssu Haus?“

„Zu Haus ist er dort schon ...“

„Nu, is gutt. Hat man nur Gott den Herrn und Kopekens, so wird sein
iberall gutt ssu leben.“

„Bravo, Issai Fomitsch, da sieht man, daß du ein wackerer Bursch bist!“
riefen ihm die anderen lachend zu – und wenn Issai Fomitsch auch sieht,
daß über ihn gelacht wird, so ist er doch mutig und stolz.

Das allgemeine Lob bereitet ihm offenbar Vergnügen und hebt seine
Lebensgeister dermaßen, daß er plötzlich mit seiner dünnen Falsettstimme
aus der höchsten Fistel zu singen beginnt: lä lä lä lä lä! – irgend ein
verrücktes und urkomisches Motiv, das einzige Lied – ohne Worte, – das
er während der ganzen Dauer seiner Kátorga gesungen hat. Als er mit mir
späterhin etwas näher bekannt wurde, versicherte er mir hoch und heilig,
ja er schwor sogar, daß dieses Lied jenes selbe sei, das alle
sechsmalhunderttausend Juden, der kleinste wie der größte, beim
Durchmarsch durch das rote Meer gesungen hätten, und daß das Gesetz
jedem Israeliten befehle, dieses Lied im Augenblick des Triumphes über
die besiegten Feinde mit lauter Stimme zu singen.

An jedem Freitagabend kamen viele in unsere Kaserne zum Besuch, um zu
sehen, wie Issai Fomitsch betete. Issai Fomitsch war dermaßen naiv eitel
und ruhmsüchtig, daß diese allgemeine Neugier ihm gleichfalls Vergnügen
bereitete. Mit pedantischer und übertriebener Wichtigkeit deckte er in
der Ecke sein winzig kleines Tischchen, schlug sein Gebetbuch auf,
zündete zwei Talglichte an und begann dann, unter dem Gemurmel von
irgendwelchen geheimnisvollen Worten, sich in sein Betgewand
einzuhüllen. Das war eine Art Überwurf aus buntem Wollenstoff, den er
sorgfältig in seinem Kasten aufbewahrte. Er versah seine beiden Hände
mit Handfesseln und auf dem Kopf, mitten auf der Stirn, befestigte er
mittels eines Bandes ein kleines hölzernes Kästchen, so daß es aussah,
als wüchse aus der Stirn Issai Fomitschs ein sonderbares Horn hervor.

Darauf begann das Beten. Er las in singendem Ton, schrie, spie, drehte
sich um seine eigene Achse, machte wilde und sehr komische Gesten.
Natürlich war das alles nach dem Ritus des Gebets vorgeschrieben und es
wäre auch nichts Lächerliches oder Seltsames dabei gewesen: es war nur
das bewußte Spiel Issai Fomitschs, der geschmeichelt uns freudig seine
Vorstellung gab, und daß er auf seinen ganzen Ritus so stolz war, was so
unsäglich komisch wirkte. Entweder bedeckt er plötzlich seinen Kopf mit
beiden Händen und liest wie eine Maschine; das Schluchzen wird immer
stärker, bis er schließlich, wie in Schmerz vergehend, aufheulend mit
dem horngeschmückten Kopf auf sein Buch niederfällt. Doch mitten in der
größten Verzweiflung, im stärksten Geheul – bricht er plötzlich in
frohlockendes Gelächter aus und halb singend liest er weiter mit einer
in übergroßer Seligkeit gleichsam vergehenden Stimme.

„Dem geht es aber nah!“ meinten dann die Arrestanten unter sich.

Einmal fragte ich Issai Fomitsch, was dieses Schluchzen und dieser
plötzliche Übergang zu Glück und Seligkeit zu bedeuten hatten. Solche
Fragen von mir waren ihm äußerst angenehm und er erklärte mir sofort,
daß das Weinen und Heulen den Gedanken an den Verlust Jerusalems bedeute
und daß ihr Gesetz ihnen vorschreibe, bei diesem Gedanken so laut als
möglich zu schluchzen und sich vor die Brust zu schlagen. Im Augenblick
des größten Schmerzes aber müsse er sich gleichsam unwillkürlich und
ganz _plötzlich_ – diese Plötzlichkeit sei gleichfalls durch das Gesetz
vorgeschrieben, – erinnern, daß es eine Prophezeiung von der Rückkehr
aller Juden nach Jerusalem gebe. Dann müsse er _sofort_ in
Freudegeschrei, Lieder und frohlockendes Gelächter ausbrechen und die
Gebete mit einer Stimme, die möglichst viel Glück, und mit einem
Gesicht, das möglichst viel Feierlichkeit und Edelmut ausdrückt,
weiterlesen. Dieser plötzliche Übergang und das unbedingte Muß dieses
Überganges gefielen Issai Fomitsch ungeheuer: er sah darin ein ganz
besonders kniffliches Kunststück und teilte mir mit auffallend
selbstbewußter Miene diese außerordentliche geistliche Vorschrift seines
Gesetzes mit.

Einmal aber geschah es, daß der Major mit dem Offizier ^du jour^ und
seiner Begleitmannschaft genau in dem Augenblick die Kaserne betrat, als
Issai Fomitschs Beteifer den Gipfelpunkt erreicht hatte. Alle
Arrestanten bildeten sofort Front vor ihren Pritschen und standen
unbeweglich, nur Issai Fomitsch Bummstein schrie und fuchtelte wie
besessen mit den Armen. Er wußte, daß das Gebet erlaubt war und nicht
unterbrochen werden durfte und daß folglich er, Issai Fomitsch, nichts
zu fürchten hatte, wenn er vor dem Major auch noch so toll sich
gebärdete. Und außerdem war es ihm sehr angenehm, sich in seinem ganzen
Glanze dem Herrn Major und zugleich auch uns zeigen zu können. Der Major
trat bis auf einen Schritt an ihn heran: Issai Fomitsch drehte seine
Rückseite zum Tisch und begann dem Major ins Gesicht, fuchtelnd und halb
singend, seine feierliche Prophezeiung vorzulesen. Da es nun seine
Pflicht war, während dieses Teiles des Gebets möglichst viel
Glückseligkeit und Stolz auszudrücken, so ließ er es sich sofort
angelegen sein, das Gebet tadellos zu erfüllen: er strahlte förmlich, er
blinzelte, lachte und nickte dem Major verheißungsvoll zu.

Der Major war baff – dann wunderte er sich und schließlich brach er in
schallendes Gelächter aus, nannte ihn einen Esel und verließ die
Kaserne, begleitet von Issai Fomitschs noch größerem Geschrei.

Nach einer Stunde, als er bereits bei seinem Abendessen saß, fragte ich
ihn, was er getan hätte, wenn unser Platzmajor in seiner Dummheit über
sein Gebet in Wut geraten wäre.

„Was fir ’n Platzmajor?“

„Wieso – was für einer? – Habt Ihr ihn denn nicht gesehen?“

„Nein.“

„Aber er stand ja dicht vor Euch, gerade vor Euren Augen.“

Doch Issai Fomitsch beteuerte mit dem ernstesten Gesicht, er habe
unseren Platzmajor tatsächlich nicht gesehen, er gerate während des
Gebets in eine solche Ekstase, daß er dann nichts mehr von dem sehe oder
höre, was um ihn her vorgehe.

Als stände er vor mir, so lebhaft erinnere ich mich Issai Fomitschs, wie
er Sonnabends beschäftigungslos im ganzen Ostrogg umherstrich, aus allen
Kräften bemüht, nichts zu tun, wie es das Gesetz für den Sabbath
vorschreibt. Welche unerhörten Geschichten erzählte er mir jedesmal,
wenn er aus seinem Bethaus zurückkehrte, welche überphantastischen
Gerüchte aus Petersburg teilte er mir flüsternd mit, unter der
dreifachen Versicherung, er habe es von „seine Leut“ gehört und jene
wiederum hätten es aus der sichersten Quelle!

Doch ich rede schon allzuviel von Issai Fomitsch.

In der ganzen Stadt gab es nur zwei öffentliche Bäder. Das erste, das
ein Jude unterhielt, war in einzelne Baderäume eingeteilt und jede
Nummer kostete fünfzig Kopeken, – war also nur für die besseren Stände
bestimmt. Das andere dagegen war nur für das einfache Volk, eine alte,
schmutzige, enge „Badestube“, – und dorthin wurden auch die Arrestanten
geführt.

Der Tag war kalt und sonnig, die Arrestanten freuten sich schon darüber,
daß sie einmal aus der Festung herauskommen und die Stadt sehen würden.
Scherze und Lachen hörten unterwegs nicht auf. Ein ganzer Zug Soldaten
begleitete uns mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett, zum
staunenden Entzücken der ganzen Stadt. Beim Bade angelangt, wurden wir
sogleich in zwei Abteilungen getrennt: die zweite mußte solange im
kalten Vorzimmer der Badestube warten, bis die erste sich gewaschen
hatte, anders war es infolge des engen Raumes nicht zu machen. Doch
dessen ungeachtet war die Stube noch viel zu klein, so daß man sich
überhaupt nicht vorstellen konnte, wie selbst die Hälfte von uns in ihr
Platz finden sollte. Aber Petroff verließ mich nicht: er half mir, ohne
daß ich ihn darum gebeten hätte, mich zu entkleiden und erbot sich
sogar, mich zu waschen. Zusammen mit Petroff erbot sich auch Bakluschin,
mir behilflich zu sein. Das war jener Arrestant aus der besonderen
Abteilung, der bei uns der „Pionier“ genannt wurde und dessen ich schon
Erwähnung getan habe als des lustigsten und sympathischsten unter ihnen
allen, der er auch wirklich war. Ich war mit ihm schon ein wenig bekannt
geworden.

Petroff half mir also, mich zu entkleiden, denn ich hatte noch keine
Übung darin und so ging es denn sehr langsam. In der Vorstube aber war
es kalt, – fast ebenso kalt wie draußen. Ich muß hier bemerken, daß das
An- und Auskleiden einem darin ungeübten Arrestanten sogar sehr schwer
fällt. Erstens mußte man verstehen, die sogenannten Fußschoner schnell
aufzuschnüren. Diese Fußschoner waren aus Leder gemacht, etwa zwanzig
Zentimeter lang und wurden über der Wäsche getragen, und gerade unter
dem breiten Eisenring, der den Fuß umfaßte. Ein Paar solcher Fußschoner
kostete nicht weniger als sechzig Kopeken in Silber und dennoch schaffte
sie sich ein jeder Arrestant an, natürlich aus eigenen Mitteln, denn
ohne sie wäre es für ihn nicht möglich gewesen, zu gehen. Der eiserne
Fußring der Fesseln umfaßt das Gelenk nicht so eng, daß eine Reibung
vermieden werden könnte: zwischen dem Ring und dem Fuß kann man noch
einen Finger durchschieben, folglich reibt der Ring beim Gehen, und so
hätte der Arrestant ohne lederne Fußschoner schon nach einem Tage
wundgeriebene Füße gehabt. Aber das Aufschnüren dieser Fußschoner ist
noch nicht das schlimmste! Viel schwieriger ist es, zu lernen, die
Wäsche unter den Fesseln gewandt abzustreifen. Das war ein regelrechtes
Kunststück. Machte man sich an das Ausziehen der Unterbeinkleider, so
mußte man zuerst das eine Hosenbein, sagen wir das linke, zwischen
Fesselring und Fuß gänzlich durchziehen, nach unten, und dann, nachdem
der Fuß daraus befreit war, das leere Hosenbein seitlich wieder zwischen
Fesselring und Fuß nach oben zurückziehen; hierauf mußte man alles, was
vom linken Fuß abgestreift war, durch den Fesselring am rechten Fuß nach
unten durchziehen, und wenn dann auch der rechte Fuß vom Hosenbein
befreit war, alles wieder durch denselben Ring nach oben zurückziehen.
Dasselbe Verfahren galt auch für das Anziehen der Wäsche. Einem Neuling
wäre es schwer gewesen, auf diese Kniffe auch nur zu verfallen. Der
erste, der mir dieses Verfahren gezeigt hatte, war der Arrestant
Koreneff in Tobolsk, ein ehemaliger Räuberhauptmann, der bereits fünf
Jahre lang an der Wand angekettet gesessen hatte. Die Arrestanten hatten
sich aber schon daran gewöhnt und entkleideten sich ohne die geringsten
Schwierigkeiten.

Ich gab Petroff einige Kopeken für Seife und einen Lindenbast. Freilich
wurde uns Seife auch unentgeltlich gegeben, aber davon erhielt jeder nur
ein kleines Stück von der Dicke einer Käsescheibe, wie man sie wohl
am Abend als Zugabe zum Tee ißt, und von der Größe eines
Zweikopekenstückes. Die Seife wurde daselbst in der Vorstube verkauft,
sowie Sbitenj[5], Kalatschen und heißes Wasser. Jeder Arrestant erhielt,
nach der Abmachung mit dem Besitzer der Badestube, nur eine Schale
heißes Wasser; wer sich aber etwas gründlicher reinwaschen wollte, der
konnte für zwei Kopeken noch eine Schale kaufen, die ihm aus der
Vorstube durch ein eigens dazu bestimmtes Fenster gereicht wurde.

Nachdem Petroff mich entkleidet hatte, führte er mich am Arme in die
eigentliche Badestube, da es ihm nicht entgangen war, daß mir das Gehen
mit den Ketten sehr schwer fiel.

„Ziehen Sie sie nach oben, auf die Waden,“ sagte er, mich stützend, ganz
als wäre er meine Kinderfrau gewesen, „hier aber vorsichtig, hier ist
die Schwelle.“

Offen gestanden, ich schämte mich ein wenig und wollte ihn überzeugen,
daß ich auch allein gehen könne, aber er hätte es mir ja doch nicht
geglaubt. Er behandelte mich buchstäblich wie ein kleines Kind oder
mindestens wie einen unmündigen, unerfahrenen Knaben, dem ein jeder
verpflichtet ist, zu helfen. Petroff war unter keinen Umständen ein
„Diener“: hätte ich ihn beleidigt, so würde er sofort gewußt haben, wie
er mich zu behandeln hatte. Auch hatte ich ihm durchaus nicht etwa Geld
für seine Dienste versprochen, und erst recht hatte er keines von mir
verlangt. Was aber veranlaßte ihn dann, mich so zu bemuttern?

Als wir die Tür zur eigentlichen Badestube aufmachten, glaubte ich, die
Hölle vor mir zu sehen. Man stelle sich eine Stube von ungefähr zwölf
Schritt Länge und gleicher Breite vor, in der vielleicht an hundert
Menschen eingesperrt sind, oder doch mindestens achtzig, denn wir waren
nur in zwei Abteilungen geschieden worden, im ganzen aber waren wir an
zweihundert Mann ins Bad gezogen. Ein Dampf war in dem Raume, daß es
einem dunkel vor den Augen ward, dazu Qualm, Schmutz und eine Enge, die
keinen Fuß breit Platz zeigte, wo man hätte hintreten können. Ich
erschrak und wollte zurück, doch Petroff ermutigte mich und zog mich
schnell hinein. Ich weiß selbst nicht wie, aber jedenfalls mit den
größten Schwierigkeiten gelangten wir endlich zu den Bänken, nachdem wir
über unzählige Köpfe der auf dem Boden Sitzenden hinübergetreten waren,
immer wieder mit der Bitte, sich ein wenig zu beugen, damit wir mit
unseren Ketten bequemer hinüberkönnten. Auf den Bänken waren alle Plätze
besetzt. Petroff erklärte mir, daß ich einen Platz kaufen müsse und trat
für mich sofort in Unterhandlung mit einem, der sich am Fenster
niedergelassen hatte. Der Sträfling überließ mir für eine Kopeke seinen
Platz, erhielt von Petroff das Geld, – das dieser vorsorglich
mitgenommen hatte und die ganze Zeit in der Hand hielt – und tauchte
ohne weiteres unter die Bank, gerade unter meinen Platz, wo es dunkel
und schmutzig war und eine glatte Feuchtigkeit fast einen halben Finger
dick auf dem Boden lag. Doch selbst diese Plätze unter den Bänken waren
alle besetzt, auch dort wimmelte es von nackten Körpern und Gliedern.
Auf dem ganzen Fußboden gab es auch nicht eine Hand breit freien Platz,
überall saßen gekrümmt und sich reibend die Arrestanten und begossen
sich mit dem Wasser aus ihren Waschschalen. Andere standen aufrecht
zwischen ihnen und wuschen sich stehend, während das schmutzige Wasser
auf die halbrasierten Köpfe der am Boden Sitzenden herabfloß. Auf der
Schwitzbank und auf allen Stufen, die zu ihr emporführten, saßen
gekrümmt und gedrängt, fast einer auf dem anderen, sich waschende
Gestalten. Genau genommen wuschen sie sich nicht allzu sehr. Die
einfachen Leute waschen sich nur ein wenig mit Seife und heißem Wasser,
sie lassen aber gehörig Dampf geben und schwitzen, was sie nur schwitzen
können, um sich dann mit kaltem Wasser zu übergießen, – das ist ihr
ganzes Bad. Wohl mit fünfzig Badequästen wurde oben auf der Schwitzbank
gedroschen: alle quästeten sich bis zur Bewußtlosigkeit. Dampf wurde
allaugenblicklich von neuem gegeben. Das war nicht mehr Hitze, sondern
Glut. Und alles schrie dazu, gröhlte und schnatterte beim Klirren von
hundert Ketten, die auf dem Boden herumgeschleift wurden ... Viele, die
sich irgend wohin durchdrängen wollten, verwickelten sich in fremden
Ketten oder zogen mit ihren eigenen Ketten die Köpfe der unter ihnen
Sitzenden mit, stolperten, fielen, schimpften oder schleiften die
anderen nach. Von allen Seiten floß schmutziges Wasser herab. Alle waren
wie halbtrunken und dabei ungewöhnlich erregt: sie kreischten und
schrieen, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Das Fenster, durch
welches man aus dem Vorraum das Wasser hereinreichte, wurde von einem
drängendem schimpfenden, sich raufenden und stoßenden Haufen belagert.
Das erhaltene heiße Wasser wurde über den Köpfen der anderen früher
verspritzt, bevor es an seinem Bestimmungsort ankam. Hin und wieder
erschien auf eine Sekunde in der offenen Tür oder im Fenster neben einem
Bajonett das schnauzbärtige Gesicht eines Unteroffiziers oder eines
Soldaten, um nach der Ordnung zu sehen. Die halbrasierten Köpfe und die
von der Hitze geröteten Körper erschienen mir noch entsetzlicher als
sonst. Auf den gequollenen Rücken zeichneten sich jetzt deutlich die
Narben der früher einmal erhaltenen Spießruten oder Stockhiebe ab, so
daß alle diese dunkelrot gestreiften Rücken aufs neue wundgepeitscht
aussahen. Grauenvoll waren diese Narben! Mich überlief es kalt, als ich
sie sah. Wieder wird Wasser auf die glühenden Steine im heißen Ofen
geworfen und wieder steigt aus der oberen Ofentür eine heiße,
undurchdringliche Dampfwolke empor und erfüllt den ganzen Raum – alles
schnattert und schreit. Allmählich sieht man dann wieder in der
grauweißen Dampfwolke die zerhauenen Rücken, die halbrasierten Schädel,
die gekrümmten Beine und Arme, und zur Vollendung des ganzen singt oben
auf der höchsten Schwitzbank Issai Fomitsch aus voller Kehle. Er läßt
sich bis zur Bewußtlosigkeit dämpfen, doch ist ihm, wie es scheint,
keine einzige Glut heiß genug: für eine Kopeke dingt er einen Bader
unter den Arrestanten, doch selbst dieser hält es schließlich nicht mehr
aus: er wirft den Quast hin und läuft fort, um sich mit kaltem Wasser zu
begießen. Aber Issai Fomitsch dingt einen zweiten, einen dritten Bader,
– er hat beschlossen, die Gelegenheit zu benutzen und diesmal nicht an
die Ausgaben zu denken, und überlebt noch einen vierten und fünften
Bader, die es alle nicht aushalten und fortstürzen.

„Tut nichts, ein Dampfbad ist gesund, bravo, Issai Fomitsch!“ schreien
ihm von weitem die Arrestanten zu. Issai Fomitsch fühlt, daß er in
diesem Augenblick alle überragt, – er triumphiert und singt mit
schriller, irrsinniger Stimme seine Arie: lä lä lä lä lä, die alle
anderen Stimmen übertönt. Mir kam unwillkürlich der Gedanke, daß, wenn
wir einmal alle zusammen irgendwo in einer Hölle sein sollten, sie
dieser Badestube auffallend ähnlich sein müsse. Ich konnte es nicht
unterlassen, meinen Gedanken Petroff mitzuteilen: er blickte sich nur
einmal um, sagte aber nichts.

Ich wollte ihm gleichfalls einen Platz neben mir kaufen, er aber setzte
sich schnell zu meinen Füßen nieder und behauptete, er habe es sehr
bequem. Bakluschin kaufte und brachte uns das Wasser, sobald wir wieder
welches brauchten. Petroff erklärte ohne weiteres, daß er mich vom
Hacken bis zum Nacken reinwaschen würde, „so daß Sie dann ganz sauber
sein werden,“ und beredete mich eifrig zu einem „Dampfbad“, was ich aber
doch nicht zu versuchen wagte. Petroff seifte mich sorgfältig ein.

„Und jetzt werde ich Ihnen noch Ihre _Füßchen_ waschen,“ erklärte er zu
guterletzt. Ich wollte protestieren und sagen, meine Füße könne ich
selbst waschen, aber ich sah ein, daß es besser war, ihm nicht zu
widersprechen und ihm seinen Willen zu lassen. In dem Diminutiv
„Füßchen“ lag übrigens nicht der leiseste Schimmer von einem
Schmeichelnwollen oder von knechtischer Ergebenheit. Petroff konnte
wahrscheinlich meine Füße deswegen nicht „Füße“ nennen, weil die
anderen, wirklichen Menschen Füße hatten, ich aber eben nur erst
Füßchen.

Nachdem er mich dann „ganz sauber“ gewaschen hatte, führte er mich unter
denselben Zeremonien, d. h. indem er mich stützte und warnte und alle
möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriff – ganz als wäre ich aus Porzellan
gewesen – wieder in die Vorstube zurück, und half mir wieder in die
Wäsche, und erst hierauf, als er mit mir fertig geworden war, ging er
eilig zurück ins Bad, um nun selbst noch zu schwitzen.

Als wir wieder im Ostrogg waren, bot ich ihm ein Glas Tee an. Er wies es
nicht zurück, trank es gern und dankte mir. Da kam es mir in den Sinn,
meinen Beutel aufzutun und ihm einen Viertelliter Branntwein zu
spendieren. Branntwein fand sich, wie immer, in der Kaserne. Petroff war
sehr zufrieden, stürzte ihn hinab, krächzte einmal, und ging, nachdem er
mir gesagt, ich hätte ihn wieder neubelebt, eilig in die Küche, als
könne man dort ohne ihn ganz unmöglich über irgend etwas ins reine
kommen. An seiner Stelle kam darauf mein anderer Freund, Bakluschin, der
„Pionier“, zu mir, den ich schon im Bade zu einem Glas Tee aufgefordert
hatte.

Ich kenne keinen Charakter, der liebenswürdiger gewesen wäre, als
derjenige Bakluschins. Gewiß stritt er sogar sehr oft, gab den anderen
nichts nach und litt es nicht, daß man sich in seine Angelegenheiten
einmischte, – kurz, er verstand es, seinen Mann zu stehen. Aber sein
Streiten dauerte nie lange, nie trug er etwas nach oder hegte er Groll,
und ich glaube, alle hatten ihn gern. Wohin er auch gehen mochte,
überall war er gern gesehen und man freute sich über ihn. Sogar in der
Stadt war er als der lustigste Mensch der Welt, der nie seinen Humor
verlor, bekannt. Er war ein hochgewachsener Bursche von ungefähr dreißig
Jahren, mit einem lebhaften und gutmütigen, recht hübschen Gesicht, auf
dem noch eine Warze saß. Dieses Gesicht konnte er zuweilen so urkomisch
verziehen, und mit ihm konnte er jeden beliebigen so nachahmen, daß die
ganze Umgebung unmöglich ernst zu bleiben vermochte: man mußte lachen,
ob man wollte oder nicht. Er gehörte gleichfalls zu den Spaßmachern,
doch machte er unseren mürrischen Feinden des Frohsinns keine
Konzession, so daß diese ihn niemals einen „leeren und unnützen“
Menschen schalten. Er war voll Feuer und Leben. Bereits in den ersten
Tagen machte er sich mit mir bekannt und erzählte mir, daß er vormals
Bediensteter gewesen sei, darauf als Pionier gedient habe und sogar von
einigen höheren Offizieren bemerkt und gern gesehen worden sei, worauf
er noch in der Erinnerung sehr stolz war. Mich begann er ohne weiteres
über Petersburg auszufragen. Er hatte sogar Bücher gelesen.

Als er zu mir zum Tee kam, erheiterte er sofort die ganze Kaserne, indem
er nachmachte, wie der Leutnant Sch. unseren Platzmajor am Morgen
„abgeblitzt“ hatte. Hierauf setzte er sich zu mir und teilte mir höchst
zufrieden mit, daß die Theatervorstellung diesmal aller
Wahrscheinlichkeit nach zustande kommen würde. Im Ostrogg wurde nämlich
an den Festtagen Theater gespielt. Die Schauspieler wurden gewählt und
allmählich auch die Dekorationen angeschafft. Aus der Stadt hatten
einige versprochen, Kleider, sogar Frauenkleider für die Mimen zu
verschaffen; ja man hoffte sogar, durch einen Burschen eine
Offiziersuniform mit Achselschnüren zu erhalten. Wenn es nur dem
Platzmajor nicht wieder einfiel, das Schauspiel zu verbieten, wie er es
im vorhergehenden Jahre getan hatte! Doch damals war er gerade zum
Weihnachtsfest sehr schlechter Laune gewesen: hatte im Kartenspiel
verloren und außerdem hatte man sich auch im Ostrogg nicht zum besten
aufgeführt – und so hatte er denn einfach verboten. Diesmal aber würde
er wohl nicht die Freude verderben!? Mit einem Wort, Bakluschin befand
sich in sehr angeregter Stimmung. Man sah ihm sofort an, daß er einer
der Hauptbeteiligten war, und ich gab ihm mein Wort, unbedingt der
Vorstellung beiwohnen zu wollen. Die kindliche Freude Bakluschins am
Zustandekommen der Aufführung hatte sofort mein Herz gewonnen. Ein Wort
gab das andere und wir gerieten in ein Gespräch. Unter anderem erzählte
er mir auch, daß er nicht die ganze Zeit in Petersburg gedient hatte:
daß er sich dort etwas habe zuschulden kommen lassen und nach R. als
Unteroffizier in ein Garnisonbataillon versetzt worden sei.

„Und erst von dort wurde ich hierher geschickt,“ bemerkte er zum Schluß.

„Aber weshalb denn das?“ fragte ich.

„Weshalb? Was glauben Sie wohl, Alexander Petrowitsch, weshalb? –
Einfach weil ich mich verliebt hatte!“

„Nun, deshalb wird man doch noch nicht nach Sibirien verschickt,“
entgegnete ich lachend.

„Das ist ja wahr,“ meinte Bakluschin, „aber ich hatte bei der
Gelegenheit einen dort ansässigen Deutschen mit der Pistole erschossen.
Aber, sagen Sie doch selbst, lohnt es sich denn, einen wegen eines
Deutschen in die Kátorga zu schicken!“

„Wie ging denn das zu? Erzählen Sie doch, es interessiert mich.“

„Das war eine sehr spaßige Geschichte, Alexander Petrowitsch.“

„Um so besser. Erzählen Sie nur.“

„Soll ich wirklich? Na, dann hören Sie zu ...“

Ich vernahm eine, wenn auch nicht spaßige, so doch recht eigenartige
Geschichte eines Mordes ...

„Die Sache war nämlich die ...“ hub Bakluschin an. – „Als man mich nach
R. versetzt hatte, war ja alles ganz wunderschön, sehe – es ist eine
schöne Stadt, groß, nur viel Deutsche waren da. Nun, ich, versteht sich,
war noch ein junger Mensch, bei den Vorgesetzten gut angeschrieben,
gehe, die Mütze schief auf einem Ohr, zum Zeitvertreib, wie man sagt, in
der Stadt spazieren. Nun, kommt einem so ein deutsches Mädchen entgegen,
versteht sich, Blicke hin, Blicke her ... Da gefiel mir eine ganz
besonders, Luisa hieß sie. Beide waren sie Wäscherinnen, für die feinste
Wäsche, die man sich nur denken kann, sie und ihre Tante. Die Tante war
schon alt, so eine richtige Harke, lebten aber dabei ganz gut. Anfangs
pendelte ich nur vor den Fenstern auf und ab, dann aber schloß ich eine
richtige Freundschaft mit ihr. Luisa sprach gut russisch, nur schnarrte
sie ein wenig, – so ein, nun ja, herziges Ding war sie, wie ich noch
keine gesehen. Nun, versteht sich, anfangs redete ich so und so, sie
aber sagte mir sofort: ‚Nein, Ssascha, das sollst du nicht, denn ich
will meine ganze Unschuld bewahren, um dir ein würdiges Weib zu sein,‘
und schmeichelt nur so, und lacht so hell ... Ja, so ein sauberes
Geschöpfchen war sie, ich habe nie wieder so eine gesehen. Selbst
beredete ich mich, sie zu heiraten. Nun, wie sollte ich denn nicht
heiraten, bedenken Sie doch nur! Und so bereitete ich mich denn auch
schon vor, mit meinem Heiratsgesuch zum Oberstleutnant zu gehen ...
Plötzlich, was sehe ich – Luisa kommt nicht zum Stelldichein, zum
zweitenmal wieder nicht, zum dritten wieder nicht ... Ich schreibe einen
Brief: keine Antwort. Was soll denn das bedeuten, denke ich! Sollte sie
mich betrügen wollen, so würde sie geantwortet haben und wäre auch zum
Stelldichein gekommen, – mit einem Wort, sie hätte sich verstellt. Sie
aber verstand nicht, zu lügen, sie hatte kurz und einfach abgebrochen.
Dahinter steckt die Tante, denke ich. Zur Tante durfte ich nicht gehen;
wenn sie es auch wußte, so sahen wir uns doch nur heimlich. Ich gehe wie
ein Halbwahnsinniger umher – schließlich schreibe ich ihr den letzten
Brief: ‚kommst du nicht, so gehe ich zur Tante.‘ Sie erschrak, kam.
Weinte, sagte, ein Deutscher, Schulz, ihr entfernter Verwandter, ein
Uhrmacher, ein reicher und schon bejahrter Mann, habe den Wunsch
ausgesprochen, sie zu heiraten, – um mich, sagte sie, glücklich zu
machen und selbst im Alter nicht ohne Frau zu bleiben; und er liebt mich
auch, sagt sie, und hat schon lange die Absicht gehabt, mich zu
heiraten, hat aber vorläufig noch geschwiegen und sich vorbereitet. –
‚Nun sieh, Ssascha,‘ sagt sie, ‚er ist reich und das ist doch mein
Glück; willst du mir nun mein Glück nicht gönnen?‘ Ich sehe sie an: sie
weint, umarmt mich ... Was, denke ich, es ist ja wahr, was sie sagt! Was
hat es denn für einen Sinn, mich, einen Soldaten, zu heiraten, selbst
wenn ich auch Unteroffizier bin? – ‚Nun dann, Luisa,‘ sage ich, ‚leb
wohl, Gott behüt dich, warum sollte ich dein Glück zerstören? Aber wie
ist er, – ist er hübsch?‘ – ‚Nein,‘ sagt sie, ‚er ist schon alt und hat
eine so lange Nase ...‘ und sie lacht sogar. Ich ging. Nun was, denke
ich, es ist mir nicht bestimmt. Am nächsten Morgen begab ich mich zu
seinem Uhrgeschäft, sie hatte mir die Straße genannt. Ich sehe durch das
Fenster hinein: da sitzt ein Deutscher, tiftelt an einer Uhr, hat
reichlich seine fünfundvierzig auf dem Buckel, die Nase lang, die Augen
stehen hervor, dabei sitzt er im alten Gehrock und im Stehkragen, in
solch einem Vatermörder mit langen Enden, macht so eine wichtige Miene.
Ich spie nur aus. Wollte ihm schon seine ganze Fensterscheibe
einschlagen ... Doch wozu, denke ich, ist es verloren, so ist es
verloren. In der Dämmerung kehrte ich in die Kaserne zurück, legte mich
auf mein Lager hin und da, – glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht,
Alexander Petrowitsch – ich weinte wie ein Kind ...

„Nun, es vergeht ein Tag, noch ein Tag und noch einer. Luisa sah ich
nicht mehr. Inzwischen aber erfuhr ich durch eine Gevatterin – ein altes
Weib, gleichfalls Wäscherin, zu der Luisa zuweilen ging –, durch die nun
erfuhr ich, daß der Deutsche um unsere Liebe wisse und aus diesem Grunde
sich auch entschlossen habe, schneller anzusprechen. Sonst hätte er noch
ganze zwei Jahre gewartet. Luisa aber soll er, so sagt sie, den Schwur
abgenommen haben, daß sie mich nicht mehr kennen werde, und daß er sie
beide, die Tante und Luisa, vorläufig noch arg unter dem Daumen halte
und daß er sich vielleicht noch anders bedenken würde, also noch immer
nicht ganz entschlossen sei. Zum Schluß erzählte sie mir noch, daß er
sie beide zu übermorgen, zum Sonntag vormittag, zum Kaffee eingeladen
habe und daß außer ihnen noch ein Verwandter zu ihm kommen würde, ein
alter Mann, der früher Kaufmann gewesen, jetzt aber bettelarm sei und
irgendwo in einem Kellerlager als Aufseher sein Brot verdiene. Als ich
erfuhr, daß sie am Sonntag vielleicht alles beschließen würden, da
packte mich die Wut, so daß ich mich kaum noch beherrschen konnte. Und
an diesem ganzen Tage und auch am folgenden Tage war alles, was ich tat,
daß ich beständig an diese eine Möglichkeit dachte. Ich glaube, ich
hätte diesen Deutschen aufgefressen, wenn er mir nur zwischen die Zähne
gekommen wäre.

„Noch am Sonntag morgen wußte ich nichts und hatte mir auch nichts
vorgenommen, als aber der Frühgottesdienst beendet war und wir wieder in
der Kaserne saßen, – da sprang ich plötzlich auf, ergriff meinen Mantel
und begab mich zum Deutschen. Ich hoffte, sie alle bei ihm anzutreffen.
Aber warum ich ging und was ich dort sagen wollte – das wußte ich selbst
nicht. Doch steckte ich für alle Fälle eine Pistole in die Tasche. Es
war ein altes Ding mit einem altmodischen Schloß; schon als Knabe hatte
ich aus ihr geschossen. Eigentlich konnte man aus ihr überhaupt nicht
mehr schießen. Aber ich lud sie trotzdem mit einer Kugel und denke noch
so im stillen: wollen sie mich vor die Tür setzen oder kommen sie mir
grob, so werde ich die Pistole hervorziehen und ihnen allen einen
Schrecken einjagen. Ich komme also hin. In der Werkstatt ist niemand zu
sehen, alle sitzen im hinteren Zimmer. Außer ihnen ist keine Seele im
ganzen Hause. Von Dienstboten hatte er nur eine Deutsche, die ihm auch
das Essen kochte. Ich gehe durch den Laden, sehe, die Tür ins andere
Zimmer ist verschlossen, so eine alte Tür mit einer Fallklinke. Mein
Herz klopft, ich warte, lausche: sie sprechen deutsch. Wie ich da einmal
mit dem Fuß an die Tür schlug, sprang sie sofort auf. Was sehe ich: der
Tisch ist gedeckt. Auf dem Tisch steht eine große Kaffeemaschine und der
Kaffee kocht auf Spiritus. Daneben Zwieback; auf einem anderen
Untersetzer eine Karaffe mit Branntwein, Hering und Wurst und dann noch
eine Flasche mit irgend welchem Wein. Luisa und die Tante saßen, beide
aufgeputzt, auf dem Sofa. Ihnen gegenüber auf einem Stuhl der Deutsche,
der Bräutigam, im Gehrock und Vatermörder, dessen Enden wie die Hörner
vorstehen. An der einen Seite des Tisches sitzt noch ein Deutscher, ein
alter, dicker, schon ergrauter, und schweigt. Wie ich eintrat, war Luisa
plötzlich erblaßt. Die Tante sprang auf, sank aber wieder zurück, und
der Deutsche verfinsterte sich. So böse sah er aus, stand auf und trat
mir entgegen.

‚Was wünschen Sie?‘ fragt er.

Ich war schon im Begriff, mich verwirren zu lassen, aber da geriet ich
wieder in Wut.

‚Was ich wünsche!‘ sage ich. ‚Empfange deinen Gast, bewirte ihn mit
Branntwein. Ich bin zu dir zu Gast gekommen.‘

Der Deutsche überlegte einen Augenblick.

‚Setzen Sie sich,‘ sagte er.

Ich setzte mich.

‚Gib doch,‘ sage ich, ‚Branntwein her.‘

‚Da ist Branntwein,‘ sagt er, ‚trinken Sie, wenn Sie wollen.‘

‚Gib mir guten Branntwein,‘ sage ich. Die Wut, wie man sagt, ergriff
mich schon gar zu heiß.

‚Das ist guter Branntwein.‘

Es kränkte mich, daß er mich so niedrig stellte. Am meisten aber, daß
Luisa alles sah. Ich trank also und darauf sagte ich:

‚Warum bist du denn so grob zu mir, Deutscher! Du solltest dich mit mir
anfreunden. Ich bin in aller Freundschaft zu dir gekommen.‘

‚Ich kann nicht Ihr Freund sein,‘ sagt er, ‚Sie sind ein einfacher
Soldat.‘

Nun, da geriet ich aber in Wut.

‚Du Erbsenscheuche,‘ sage ich, ‚du Wurstmacher! Weißt du auch, daß ich
alles mit dir machen kann, was ich will? Wenn du willst, schieße ich
dich einfach mausetot!‘

Ich zog meine Pistole hervor, stand auf und hielt ihm die Mündung direkt
vor den Kopf. Jene saßen mehr tot als lebendig, wagten keinen Laut zu
sagen. Der Alte, der ehemalige Kaufmann, zittert wie ein Espenblatt,
schweigt, ist kreideweiß.

Der Deutsche erschrak zuerst, besann sich aber bald.

‚Ich fürchte Sie nicht,‘ sagt er, ‚und bitte Sie, als anständigen
Menschen, Ihren Scherz sofort zu unterlassen, aber ich fürchte Sie
nicht.‘

‚Oho,‘ sage ich, ‚du lügst, du fürchtest dich! Seht doch! Er wagt ja
nicht einmal, den Kopf fortzukehren, sitzt wie angewurzelt!‘

‚Nein,‘ sagt er, ‚Sie dürfen so etwas auf keine Weise ...‘

‚So–o, warum darf ich es denn nicht?‘

‚Ganz einfach,‘ sagt er, ‚weil Ihnen so etwas strengstens verboten ist
und Sie streng bestraft werden würden.‘

Der Teufel sollte klug werden aus diesem deutschen Dummkopf! Hätte er
mich damals nicht selbst aufgereizt, so würde er heute noch leben. Nur
der Streit war an allem schuld.

‚Also, ich darf es nicht,‘ sage ich, ‚deiner Meinung nach?‘

‚Nein!‘

‚Nicht?‘

‚Nein, das dürfen Sie in keinem Fall mit mir ...‘

‚Da hast du’s, alte Wurst!‘ und wie ich abdrücke, da fällt er auch schon
vom Stuhl. Jene schrieen natürlich auf.

Ich steckte meine Pistole in die Tasche und eilte hinaus, als ich aber
am Tor unserer Festung anlangte, zog ich meine Pistole wieder hervor und
warf sie in die Nesseln am Grabenrand.

Ich ging in die Kaserne, legte mich auf mein Lager hin und denke: jetzt
wird man sofort kommen und dich verhaften. Eine Stunde vergeht, noch
eine – man kommt nicht. Und so, kurz vor der Dämmerung, da überkam mich
eine solche Seelenangst; ich ging wieder hinaus; ich wollte unbedingt
Luisa sehen. Ich ging wieder an dem Uhrgeschäft vorüber: viel Volks,
Polizei. Ich zur Gevatterin: ‚Ruf Luisa her!‘ Ich wartete kaum einen
Augenblick, da sehe ich: Luisa kommt schon herausgelaufen; sie fällt mir
um den Hals und weint: ‚Ich allein bin an allem schuld,‘ sagt sie, ‚weil
ich darauf gehört habe, was die Tante sagte.‘ Und sie erzählte mir, daß
die Tante sofort nach Hause zurückgekehrt und vor Angst erkrankt sei,
sie würde nichts verraten: selbst fürchte sie sich, etwas zu sagen und
auch ihr, Luisa, habe sie verboten, irgend etwas über den Täter
verlauten zu lassen: sie fürchte sich – möge man dort machen, was man
will. ‚Niemand hat uns vorhin gesehen,‘ sagte Luisa. Er hätte auch seine
Dienstmagd fortgeschickt, da er Angst vor ihr habe. Die würde ihm die
Augen ausgekratzt haben, wenn sie erfahren hätte, daß er heiraten wolle.
Von den Gesellen sei auch niemand im Hause gewesen, er habe sie alle zu
entfernen gewußt. Den Kaffee habe er selbst zubereitet und eigenhändig
den Tisch gedeckt. Der Verwandte aber habe schon sein ganzes Leben lang
geschwiegen, und als die Sache geschehen war, habe er seine Mütze
genommen und sei als erster aus der Wohnung gegangen. Und in Zukunft
würde er sicherlich ebenso schweigen, sagte Luisa. So war es auch. Zwei
Wochen lang kam niemand, um mich zu verhaften, und es ruhte nicht der
geringste Verdacht auf mir. In diesen zwei Wochen aber, glauben Sie mir
oder glauben Sie nicht, Alexander Petrowitsch, – in diesen zwei Wochen
habe ich mein ganzes Glück durchlebt. Jeden Tag war ich mit Luisa
zusammen und wie, wie hat sie mich geliebt! Weinte, sagte: ‚Ich werde
mit dir gehen, wohin man dich auch verschicken sollte, alles werde ich
für dich verlassen!‘ Ich glaubte zu vergehen, so hatte sie mich gerührt.
Nun, und nach zwei Wochen kamen sie dann und nahmen mich. Der Alte und
die Tante waren überein gekommen und hatten mich angezeigt.“

„Aber wie,“ unterbrach ich Bakluschin, „dafür hätte man Sie doch nur zu
zehn Jahren verurteilen können, höchstens zu zwölf, und zu unserer
Abteilung, Sie aber sind doch in der besonderen. Wie ist das möglich
gewesen?“

„Ja, sehen Sie,“ sagte Bakluschin, „es kam noch eine andere Sache hinzu.
Als man mich vor die Kriminalkommission brachte, da fing der Hauptmann
an, mich vor dem ganzen Gericht mit schändlichen Worten zu schimpfen. Da
hielt ich es nicht aus: ‚Was schimpfst du,‘ sagte ich, ‚siehst du denn
nicht, Elender, daß du vor einem Spiegel sitzt?‘ Nun, hierauf nahm die
Sache einen anderen Gang, ich kam vor ein anderes Gericht und wurde für
alles zusammen verurteilt: viertausend und dann hierher in die besondere
Abteilung. Als man mich aber zur Bestrafung führte, führte man auch den
Hauptmann ab: mich durch die grüne Gasse, ihn aber aller Titel beraubt
in den Kaukasus als einfachen Soldaten ... Auf Wiedersehen, Alexander
Petrowitsch. Kommen Sie aber auch bestimmt zu unserer Aufführung.“


                                   X.

                           Das Weihnachtsfest

Endlich kam das Fest heran. Schon am Weihnachtstage wurde kaum mehr
gearbeitet. Nur in die Schneiderstuben und in die Werkstätten wurde ein
Teil der Sträflinge geschickt, die übrigen gingen wohl auch angeblich
zur Arbeit, doch kamen sie alle, einzeln oder in kleinen Trupps, sehr
bald wieder zurück, und nach dem Mittagessen verließ niemand mehr den
Ostrogg. Auch am Morgen war man mehr in eigenen Angelegenheiten
ausgezogen, als zur Zwangsarbeit: die einen um Branntwein
durchzuschmuggeln und neuen zu bestellen, andere um ihre Freunde und
Freundinnen zu besuchen oder das Ausstehende für früher gelieferte
Arbeiten zum Feste einzutreiben; Bakluschin und die übrigen in der
Ausführung mitwirkenden Schauspieler, um einige Bekannte, vornehmlich
aus der Zunft der Offiziersburschen, aufzusuchen und die nötigen Kostüme
zu erlangen. Einige gingen wiederum nur deshalb mit besorgter und
beschäftigter Miene umher, weil auch die anderen geschäftig und in
Anspruch genommen waren. Und wieder andere, die, zum Beispiel, von
niemand Geld zu erwarten hatten, sahen dabei doch aus, als würden auch
sie unfehlbar welches erhalten. Mit einem Wort, alles erwartete für den
nächsten Tag irgend eine Veränderung, irgend etwas Ungewöhnliches. Am
Abend brachten die Invaliden, die von den Arrestanten auf den Markt
geschickt worden waren, eine Menge Eßbares in den Ostrogg: Rindfleisch,
Spanferkel, sogar Gänse. Viele Arrestanten, selbst die genügsamsten und
geizigsten, die das ganze runde Jahr hindurch jede Kopeke sparten,
hielten es für ihre Pflicht, ihren Beutel aufzutun und in angemessener
Weise den ersten Fleischtag nach ihrer langen Fastenzeit zu feiern. Der
fünfundzwanzigste Dezember war auch für den Arrestanten ein echter
rechter Feiertag, den ihm niemand nehmen konnte, da er ihm durch das
Gesetz formell zuerkannt wurde. An diesem Tage durfte der Arrestant
nicht zur Arbeit geschickt werden, und solcher Tage gab es im Jahr nur
drei.

Und schließlich, wer weiß, wieviel Erinnerungen in den Seelen dieser
Ausgestoßenen beim Herannahen dieses Tages wieder erwachten! Dem
Gedächtnis des einfachen Volkes prägen sich die hohen Festtage viel
schärfer ein, als demjenigen der reichen Leute. Es sind die Tage der
Erholung, die Tage, an denen die ganze Familie versammelt ist. Im
Ostrogg nun mußten sie sich unwillkürlich mit Qual und Sehnsucht ihrer
erinnern. Die Achtung vor dem großen Festtage schien in ihnen ein
gewisses Pflichtgefühl zu erwecken: nur sehr wenige waren müßig, alle
waren ernst und scheinbar sehr beschäftigt, obgleich viele überhaupt
nichts zu tun hatten. Doch sowohl die Müßigen als die Geschäftigen waren
bemüht, eine gewisse Würde zu bewahren ... Das Lachen schien förmlich
verboten zu sein. Überhaupt grenzte die Stimmung geradezu an kleinliche
und reizbare Unduldsamkeit, und wer diese allgemeine Stimmung störte,
wenn es auch ganz unbeabsichtigt geschah, der wurde barsch zur Ruhe
verwiesen und man ärgerte sich über ihn, als hätte er den Feiertag
selbst nicht geachtet. Diese Stimmung der Arrestanten war wirklich
auffallend und rührend. Außer der angeborenen Hochachtung vor dem großen
Tage, empfand der Ausgestoßene unbewußt, daß er durch diese Hochhaltung
des Festes gewissermaßen mit der ganzen Welt dort draußen in Berührung
kam, daß er folglich nicht ein gänzlich Ausgestoßener, Verlorener war,
ein abgeschnittenes und fortgeworfenes Stück Leben; er sagte sich, daß
auch im Ostrogg dasselbe gilt, was draußen bei den Menschen gefeiert
wird. So fühlten sie alle; das sah und verstand man sofort.

Akim Akimytsch traf gleichfalls seine Vorbereitungen zum Fest. Für ihn
gab es weder Familienerinnerungen, denn er war als Waisenkind bei
fremden Leuten aufgewachsen und schon mit fünfzehn Jahren in schweren
Dienst getreten, – noch hatte es in seinem Leben besondere Freuden
gegeben, denn sein ganzes Leben hatte er regelmäßig, einförmig und in
der beständigen Furcht verbracht, vielleicht doch irgendwie aus Versehen
über die ihm auferlegten Verpflichtungen auch nur um Haaresbreite
hinauszugehen. Er war auch nicht besonders religiös, da seine
Sittsamkeit, wie es schien, alle übrigen menschlichen Gaben und
Eigenheiten in ihm verschlungen hatte, alle Leidenschaften und Wünsche,
sowohl die guten wie die schlechten. Infolge dessen schickte er sich an,
den feierlichen Tag ohne alle Sorgen und Aufregungen zu verbringen, ohne
sich von traurigen und völlig nutzlosen Erinnerungen verwirren zu
lassen, sondern in ruhiger, methodischer Sittsamkeit, von der er genau
soviel besaß, wieviel zur Erfüllung der Pflichten und des ein für
allemal vorgeschriebenen Ritus gerade erforderlich ist. Und überhaupt
war Nachdenken nicht gerade seine Liebhaberei. Die Bedeutung eines
Faktums schien ihn niemals etwas anzugehen, dafür aber erfüllte er die
ihm einmal vorgeschriebenen Gesetze mit heiliger Gewissenhaftigkeit.
Hätte man ihm am nächsten Tage befohlen, etwas dem direkt
Entgegengesetztes zu tun, was er Tags zuvor getan, – er hätte auch
dieses mit ganz derselben Gehorsamkeit und Sorgfalt verrichtet, wie das
andere. Einmal, nur ein einziges Mal im Leben hatte er versucht, nach
seinem Verstande zu handeln und – kam dafür in die Kátorga. Die Lehre
war für ihn nicht umsonst gewesen. Und wenn es ihm auch vom Schicksal
nicht bestimmt war, jemals zu begreifen, worin sein Vergehen „eigentlich
und im Grunde“ bestanden hatte, so zog er doch aus seinem Erlebnis die
heilsame Folgerung, die er fortan zum Grundsatz erhob: niemals und unter
keinen Umständen selbst zu denken, da das Denken nun einmal „nicht seine
Verstandessache war“, wie die Arrestanten unter sich sagten. Blind dem
Brauch ergeben, sah er sogar auf sein Spanferkel, das er – da er
natürlich auch zu kochen verstand – eigenhändig mit Brei zubereitete,
mit einer gewissen Hochachtung, ganz als wäre es nicht ein gewöhnliches
Spanferkel gewesen, das man zu jeder Zeit kaufen und braten kann,
sondern ein ganz besonderes, festtägliches. Vielleicht war er von
Kindheit an gewöhnt, an diesem Tage ein gebratenes Spanferkel auf dem
Tisch zu sehen, und so folgerte er, daß ein Spanferkel zum Feiertage
unerläßlich sei. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß er, falls er an
diesem Tage keinen Ferkelbraten gegessen hätte, sein ganzes Leben lang
von Gewissensbissen wegen der unerfüllten Pflicht gemartert worden wäre.
Bis zum Feiertage ging er in seiner alten Jacke und in alten
Beinkleidern, die zwar tadellos gemacht, gestopft und geflickt waren,
doch trotzdem recht abgetragen aussahen. Jetzt zeigte es sich, daß er
den neuen Anzug, den er schon vor vier Monaten erhalten hatte,
sorgfältig in seinem Kasten aufbewahrte, ohne ihn ein einziges Mal
hervorzuholen, und sich mit schmunzelndem Gedanken vorbereitete, seine
Kleider erst am Festtage zu wechseln. So tat er denn auch. Am Abend
vorher holte er sie hervor, breitete sie aus, besah sie, glättete sie
mit der Hand, zupfte hie und da ein Fädchen ab, beblies sie, und nachdem
er das alles getan, zog er sie zur Probe an. Die Hose wie die Jacke
saßen tadellos; alles war gut genäht, ließ sich bis oben zuknöpfen und
der Kragen stützte wie ein Karton das Kinn; in der Taille zeigte sich
noch obendrein so etwas, wie ein militärischer Schnitt. Akim Akimytsch
lächelte vor Wonne und drehte sich nicht ohne ein gewisses
Selbstbewußtsein vor seinem kleinen Spiegel, den er in einer freien
Stunde mit einer Bordüre von Goldpapier beklebt hatte. Nur ein einziges
kleines Häkchen oben am Kragen der Jacke schien nicht ganz richtig zu
sitzen. Nachdem Akim Akimytsch das eingesehen hatte, beschloß er, den
Haken umzunähen: und kaum gedacht, war’s auch schon getan. Dann machte
er noch einmal eine Anprobe und siehe, es war alles gut. Hierauf faltete
er den ganzen Anzug kunstgerecht zusammen und bettete ihn für die Nacht
vollbefriedigt wieder in seinen kleinen Kleiderkasten. Am nächsten
Morgen sollte er nagelneu angezogen werden. Sein Haar war
vorschriftsmäßig und vor kurzem erst rasiert: doch das Ergebnis einer
längeren Untersuchung vor dem Spiegel war, daß sein Kopf ihm doch noch
nicht so ganz glatt erschien, denn es waren bereits kaum sichtbare
Spitzen neuer Sprößlinge zu sehen. Er begab sich daher unverzüglich zum
„Major“, um sich tadellos rasieren zu lassen, obgleich es morgen niemand
einfallen würde, seinen Kopf unter die Lupe zu nehmen, – einzig zur
Beruhigung seines Gewissens, um in Anbetracht des hohen Festtages alle
seine Pflichten erfüllt zu haben. Seine Andacht vor jedem Knopf, jeder
Hakenöse, jedem Knopfloch hatte schon in der Kindheit einen Einfluß auf
seinen Charakter gehabt und war seinem Verstande als unumstrittene
Pflicht, seinem Herzen als letzte Schönheit erschienen, die ein
anständiger Mensch nur erreichen kann. Als er endlich alles Persönliche
erledigt hatte, ordnete er als Kasernenältester an, Heu hereinzubringen,
und überwachte gewissenhaft, wie es auf dem Fußboden der Kaserne
ausgebreitet wurde. Dasselbe geschah auch in den übrigen Kasernen. Ich
weiß nicht, warum, aber zu Weihnachten wurde bei uns immer Heu auf den
Fußboden gestreut. Nachdem nun Akim Akimytsch alle seine Pflichten
erfüllt hatte, betete er zu Gott, legte sich auf die Pritsche hin und
schlief im Augenblick den Schlaf eines unschuldigen Kindleins, um dann
am nächsten Morgen möglichst früh aufzustehen. Das taten übrigens auch
alle anderen. In allen Kasernen ging man viel früher zur Ruh, als es
sonst üblich war. Die Abendarbeit war ganz vergessen und von Spielhöllen
konnte überhaupt nicht die Rede sein. Alles erwartete den nächsten
Morgen.

Endlich brach er an. Schon früh, noch vor Sonnenaufgang, wurde die
Reveille getrommelt, wurde die Kaserne aufgeschlossen und der
wachhabende Unteroffizier, der zum Nachzählen der Arrestanten eintrat,
beglückwünschte uns zum Feste. Man wünschte ihm gleichfalls alles Gute
und sagte es höflich und freundlich. Nach einem kurzen Gebet ging Akim
Akimytsch, und gingen noch viele andere, die ihre Gänse und Spanferkel
in der Küche hatten, eilig hinaus, um nachzusehen, was mit ihnen
inzwischen geschehen war, wie sie gebraten wurden, wie es mit diesem,
jenem und sonst noch etwas stand, u. a. m. Durch die kleinen, von Schnee
und Eis blinden Fensterscheiben unserer Kaserne konnte man in der
Dunkelheit erkennen, daß in beiden Küchen, in allen sechs Öfen, helles
Feuer lohte, das schon vor Tagesanbruch angemacht worden war. Über den
Hof gingen bereits die Arrestanten hin und her, alle in ihren
Halbpelzen, die teils ganz angezogen, teils nur über die Schultern
geworfen waren: ein jeder strebte zur Küche. Einige aber, übrigens nur
sehr wenige, hatten schon die Branntweinhändler aufgesucht. Das waren
die Ungeduldigsten, die niemals warten konnten. Im allgemeinen aber
führten sich alle sehr anständig auf, ruhig und ganz ungewöhnlich
würdig. Von den sonst üblichen Schimpfereien und Streitigkeiten war
nichts zu hören und zu sehen. Alle begriffen und fühlten, daß es ein
großer Tag, ein hohes Fest war. Es gab auch manche, die in die anderen
Kasernen gingen, um diesen oder jenen von ihren näheren Bekannten zum
Fest zu beglückwünschen. Es zeigte sich bei allen so etwas wie
Freundschaft. Hier muß ich bemerken, daß man unter den Arrestanten sonst
fast überhaupt nichts von Freundschaft sah – ich rede nicht von
allgemeiner Kameradschaft, die war sogar in hohem Maße vorhanden,
sondern von Freundschaft zwischen zwei einzelnen. So etwas gab es so gut
wie überhaupt nicht. Alle waren im Verkehr miteinander trocken und hart,
abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, und das war ein formell
anerkannter, einmal eingeführter und angenommener Ton.

Ich trat gleichfalls aus der Kaserne hinaus, es begann kaum, kaum zu
tagen, die Sterne flimmerten noch am Himmel, ein kalter, feiner Dampf
erhob sich langsam von der Erde und verschwand. Aus den
Küchenschornsteinen wälzte sich der Rauch in dicken Säulen. Einige mir
begegnende Arrestanten beglückwünschten mich aus eigenem Antriebe
freundlich zum Fest. Ich dankte ihnen und antwortete ebenso. Mit manchen
von ihnen hatte ich in diesem ganzen Monat noch kein Wort gesprochen.

Wenige Schritt vor der Küche holte mich plötzlich ein Arrestant aus der
Militärkaserne ein, der seinen Halbpelz sich nur über die Schultern
geworfen hatte. Schon von weitem hatte er mich erblickt und über den
halben Hof angerufen: „Alexander Petrowitsch! Alexander Petrowitsch!“
und er eilte mir nach zur Küche hin. Ich blieb stehen und erwartete ihn.
Es war ein junger Bursche mit rundem Gesicht, mit stillem Ausdruck in
den Augen, sehr wenig gesprächig: mit mir hatte er noch kein Wort
gewechselt und meiner Person bis dahin überhaupt noch keine
Aufmerksamkeit geschenkt. Ich wußte nicht einmal, wie er hieß. Er kam
ganz atemlos herangelaufen, blieb direkt vor mir stehen und starrte mich
mit eigentümlich stumpfem, gleichzeitig aber auch seligem Lächeln an.

„Was wünscht Ihr von mir?“ fragte ich ihn nicht ganz ohne Verwunderung,
als ich sah, daß er nur lächelte, stand und mich groß ansah, ein
Gespräch aber nicht begann.

„Ja, wie denn, es ist doch Feiertag ...“ murmelte er verdutzt, und da er
selbst gewahr wurde, daß er sonst nichts zu sagen hatte, verließ er mich
und trat eiligst in die Küche. Ich will hier gleich bemerken, daß wir
auch nachher nie miteinander ein Wort gewechselt haben, so lange wie ich
im Ostrogg blieb.

In der Küche ging es lebhaft zu: ein ganzer Haufe drängte, stieß und
quetschte sich vor den glühend heißen Backöfen. Ein jeder wollte sein
Eigentum bewachen und dessen Kochprozeß beobachten. Die „Köchinnen“
schickten sich bereits an, die Herstellung der Staatskost in Angriff zu
nehmen, da das Essen an diesem Tage früher angesagt war. Übrigens begann
noch niemand zu essen, obgleich nicht wenige große Lust dazu verspürten,
doch wahrten sie heldenmütig den Anstand. Man erwartete den Geistlichen
und erst nachher sollte das Fleischessen nach der Fastenzeit beginnen.

Inzwischen begannen – noch war es kaum Tag geworden – von der Wache her
die Rufe zu erschallen: „Köche her!“ – die sich im Laufe von mindestens
zwei Stunden fast in jeder Minute wiederholten. Der Gefreite rief die
Köche, damit sie die Spenden, die von allen Enden der Stadt dargebracht
wurden, entgegennahmen. Sie bestanden in ungeheuren Mengen von
Kalatschen, Broten, Käsekuchen, Pfannkuchen, süßen Broten, – kurz, in
allen Sorten des Festtagsgebäcks. Ich glaube, es gab da wohl keine
einzige Hausfrau in den Kaufmanns- und Bürgerkreisen, die nicht etwas
aus ihrer Küche geschickt hätte, um den „Unglücklichen“ zum Feste eine
Freude zu machen. Es gab viel reiche Spenden, schönes Gebäck von
Butterteig, vom feinsten Mehl und in großen Mengen geschickt; es gab
aber auch sehr arme Gaben – irgend ein Kalatsch zu zwei Kopeken und zwei
gewöhnliche, kaum sichtbar mit Sahne bestrichene Pfannkuchen: das war
eine Gabe des Armen an den Armen, vom wenigen, das er selbst besaß.
Alles wurde mit gleicher Dankbarkeit entgegengenommen: nicht der
geringste Unterschied wurde zwischen den Gaben und den Gebern gemacht.
Die in Empfang nehmenden Arrestanten nahmen ihre Mützen ab, verbeugten
sich, dankten, beglückwünschten zum Fest, und trugen dann das Geschenk
in die Küche. Als sich nach einiger Zeit ganze Berge von solchen Broten
angehäuft hatten, wurden die Ältesten jeder Kaserne gerufen und sie
teilten dann das ganze in gleiche Teile. Es gab weder Streit noch
Schelten: alles wurde ehrlich und gewissenhaft geteilt. Was unserer
Kaserne zufiel, wurde dann bei uns verteilt. Akim Akimytsch und noch ein
anderer Arrestant besorgten das: sie zerschnitten das Gebäck eigenhändig
und reichten eigenhändig einem jeden, was ihm zukam. Nicht der geringste
Einspruch wurde laut, nicht der geringste Neid machte sich bemerkbar:
alle waren mit dem zufrieden, was sie erhielten; es war nicht einmal ein
Schimmer von einem Verdacht zu bemerken, daß die Gaben unterschlagen
oder ungerecht verteilt werden könnten.

Nachdem Akim Akimytsch seine Arbeit in der Küche beendet hatte, kleidete
er sich mit allem Anstand und aller Feierlichkeit an, vergaß kein
einziges noch so kleines Häkchen, und nachdem er damit fertig war,
schritt er unverzüglich zum Gebet. Er betete ziemlich lange. Außer ihm
beteten noch viele andere, doch waren es meistens bejahrtere Männer. Die
jungen dachten kaum daran, höchstens daß einer sich beim Aufstehen
flüchtig bekreuzigte. Nach dem Gebet trat Akim Akimytsch auf mich zu und
beglückwünschte mich nicht ohne Feierlichkeit zum Fest. Ich lud ihn
sogleich zu meinem Tee ein und er darauf mich zu seinem Ferkelbraten.
Kurz darauf kam Petroff, um mir gleichfalls Glück zu wünschen. Wie mir
schien, hatte er bereits ein wenig getrunken und obschon er sehr eilig
gekommen war, so hatte er doch nicht viel zu sagen, sondern stand nur
kurze Zeit gewissermaßen erwartungsvoll vor mir und eilte dann bald
wieder in die Küche.

Inzwischen war in der Militärkaserne alles Nötige zum Empfang des
Geistlichen vorbereitet worden. Diese Kaserne war nicht so eingerichtet,
wie die anderen: in ihr zogen sich die Pritschen an den Wänden hin und
nicht in der Mitte des Zimmers, so daß sie im ganzen Ostrogg der einzige
Raum war, in dem man, falls nötig, die Arrestanten versammeln konnte.
Wahrscheinlich war sie sogar gerade zu diesem Zweck so gebaut worden. In
die Mitte der Kaserne hatte man einen kleinen Tisch hingestellt, mit
einem reinen Handtuch bedeckt, ein Heiligenbild aufgestellt und das
Lämpchen davor angezündet. Endlich kam auch der Geistliche mit einem
Kreuz und dem Weihwasser. Nachdem er vor dem Heiligenbilde gebetet und
gesungen hatte, stellte er sich vor die versammelten Arrestanten hin,
die dann in aufrichtiger Andacht einzeln zu ihm traten und das Kreuz
küßten. Hierauf ging der Geistliche in alle Kasernen und besprengte sie
mit Weihwasser. In der Küche segnete und lobte er auch unser
Ostroggbrot, das wegen seiner Schmackhaftigkeit in der ganzen Stadt
bekannt war, und die Arrestanten beschlossen sofort, ihm zwei frische,
soeben aus dem Ofen gekommene Brote zu schicken, die ohne weiteres einem
Invaliden eingehändigt wurden, damit er sie in die Wohnung des
Geistlichen trug. Das Kreuz wurde mit derselben Ehrfurcht begleitet, wie
es zuerst empfangen worden war, und gleich darauf kamen der Platzmajor
und der Kommandeur angefahren. Letzterer wurde bei uns sehr geachtet und
sogar geliebt. Er durchschritt in Begleitung des Platzmajors sämtliche
Kasernen und beglückwünschte uns alle zum Feste. Hierauf begab er sich
auch in die Küche, wo er die Festtagskohlsuppe kostete, die diesmal
vorzüglich zubereitet war: es war für jeden Sträfling ungefähr ein Pfund
Rindfleisch mitgekocht worden. Außerdem gab es noch Grützbrei, zu dem
man nach Herzenslust Butter hinzutun durfte. Der Platzmajor begleitete
den Kommandeur zum Wagen und dann befahl er, daß mit dem Essen begonnen
werde. Die Arrestanten bemühten sich, ihm nicht unter die Augen zu
kommen. Man haßte bei uns seinen bösen Blick hinter den Brillengläsern
hervor, mit dem er auch jetzt noch nach links und rechts ausschaute, ob
er nicht irgendwo Unordnung entdecken, irgendwo einen Sündenbock finden
könne.

Dann kam das Essen. Akim Akimytsch hatte sein Spanferkel vorzüglich
zubereitet. Doch eines vermag ich nicht zu erklären, wie das kam: kaum
war der Platzmajor fortgefahren, als sich schon sehr viel angeheitertes
Volk zeigte, während noch vor kaum fünf Minuten alle nüchtern gewesen
waren. Man sah überall bereits sich rötende und strahlende Gesichter,
und bald waren auch Balalaiken zur Stelle. Der kleine Pole folgte schon
mit seiner Geige irgend einem „Feiernden“, der ihn für den ganzen Tag
gemietet hatte, und spielte und fiedelte ihm lustige Tänze vor. Die
Unterhaltung wurde lauter, wurde trunken und geräuschvoll. Doch das
Essen verlief noch ohne große Störungen. Alle waren satt. Viele von den
Älteren und Soliden begaben sich sofort nach dem Mahl in ihre Kasernen
und machten ein Schläfchen, was auch Akim Akimytsch tat, da er
wahrscheinlich der Meinung war, daß man an einem Feiertage nach dem
Mittag unbedingt schlafen müsse. Der altgläubige Greis aus Starodubowo
kroch, nachdem er eine Zeitlang gestumpft hatte, auf den Ofen, schlug
sein Buch auf und betete, so gut wie ohne jede Unterbrechung bis tief in
die Nacht hinein. Es war ihm schwer, diese „Schmachhaftigkeit“, wie er
sagte, mit anzusehen. Die Tscherkessen hatten sich auf die kleine
Treppenstufe vor der Tür hingesetzt und blickten neugierig und doch mit
einem gewissen Ekel auf das betrunkene Volk. Zufällig begegnete mir
Nurra: „Jamán, jamán!“[6] sagte er kopfschüttelnd und mit ehrlichem
Unwillen, „ach, jamán! Allah wird bös sein!“ Issai Fomitsch zündete
eigensinnig und hochmütig seine Kerze an und machte sich an eine Arbeit,
augenscheinlich in der Absicht, zu zeigen, daß er diesen Feiertag
überhaupt nicht achte. Hier und da in den Ecken gab’s schon Spielhöllen.
Die Invaliden fürchtete man nicht und für den Unteroffizier, der sich
übrigens selbst bemühte, nichts zu bemerken, wurden Wächter aufgestellt.
Der wachhabende Offizier steckte im Verlauf des Tages dreimal seine Nase
in den Ostrogg, doch die Spielhöllen, und die Betrunkenen verschwanden
noch eh man’s gedacht mit wundernehmender Geschwindigkeit, und auch er
schien sich entschlossen zu haben, kleine Unordnungen diesmal nicht zu
beachten. Zu diesen kleinen Unordnungen gehörten auch die Angeheiterten.
Allmählich aber wurde man freier, berauschter, und es begannen Hader und
Streit. Doch die Nüchternen waren in der Überzahl, so daß es immer noch
welche gab, die die anderen bewachen konnten. Dafür aber tranken die
„Feiernden“ diesmal ohne jedes Maß. Gasin triumphierte. Vor seinem Platz
auf der Pritsche spazierte er hin und her, und war mit sich und mit der
Welt zufrieden. Seinen Branntweinvorrat, der von ihm sonst draußen
hinter den Kasernen irgendwo im Schnee verborgen gehalten wurde, hatte
er dreist unter die Pritsche geschoben. Er lächelte verschlagen, wenn
ein Käufer zu ihm kam. Selbst war er vollkommen nüchtern und trank
keinen Tropfen. Er beabsichtigte, erst nach den Feiertagen zu schlemmen,
wenn er den übrigen bereits alles aus der Tasche geholt hatte. In den
Kasernen ertönten Lieder, doch die Trunkenheit wurde bei einzelnen mit
der Zeit zu einer Betäubung, wie von Kohlendunst, und von den Liedern
war es nicht weit bis zu den Tränen. Mehrere gingen mit
selbstgefertigten Balalaiken, den Halbpelz über die Schultern geworfen,
in fideler Stimmung umher und strichen gewandt und sicher mit den
Fingerspitzen über die Saiten. In der „besonderen Abteilung“ hatte sich
sogar ein Chor gebildet aus acht Mann, die prächtig zur Begleitung von
Balalaiken und Gitarren sangen. Rein volkliche Lieder wurden wenig
gesungen. Ich entsinne mich nur noch des einen munter vorgetragenen
Liedes:

   Als ich jung war, ging ich abends
   Wohl zu manchem heitren Fest ...

Und hier hörte ich auch eine neue Variante dieses Liedes, die ich früher
noch nicht gekannt hatte. Zum Schluß des Liedes wurden noch einige
Strophen hinzugefügt, die die Tätigkeit der jungen Frau schilderten.
Gewöhnlich aber wurden bei uns die sogenannten Arrestantenlieder
gesungen, die ja wohl alle bekannt sind. Nur eines von ihnen, ein
humoristisches, war mir neu. Es beschrieb in heiterem Ton, wie ein
Mensch früher als Herr in der Freiheit vergnügt gelebt hatte, jetzt aber
im Ostrogg die Ketten schleppen mußte. Es hieß, früher habe er
Champagner getrunken und Süßes gegessen, jetzt aber müsse er mit
schlechter Kohlsuppe zufrieden sein,

   „Und gibt man auch nur Kraut in heißem Wasser,
   Ich fresse alles auf mit Haut und Haar.“

Sehr beliebt war auch der bekannte Gassenhauer:

   „Einstmals lebt’ ich, ein Knabe, flott und fröhlich,
   Und sogar ein Kapital war mein.
   Doch das Kapital, mein Knabe, ging zum Teufel
   Und ich kam in den Ostrogg hinein.“

Nur wurde bei uns nicht „Kapital“ gesagt, sondern „Kapetal“.

Auch wurden oft melancholische und ernste Lieder gesungen. Eines war ein
echtes Kátorgalied, das wohl gleichfalls bekannt sein dürfte:

   „Steigt die Morgenröte erst empor,
   Hört man schon den Trommelwirbel rufen ...“

usw. Ferner das bekannte:

   „Wer aber weiß dort in der großen Welt,
   Wie wir hinter unsren Wänden hausen ...“

Ein anderes Lied war noch melancholischer und hatte eine wundervolle
Melodie. Wahrscheinlich war das Lied von einem Arrestanten gedichtet.
Ich entsinne mich nur noch einiger Strophen aus demselben:

   „Nie mehr sieht mein Auge jenes Land,
     Das mir Heimat war.
   Schuldlos muß ich Qualen leiden
     Wohl an tausend Jahr.

   Auf dem Dach der Uhu schreit zur Nacht,
     Weithin tönt es durch den Wald.
   Sehnsucht will das Herz mir brechen ...
     Nie mehr sieht mein Auge jenes Land.“

Dieses Lied wurde oft bei uns gesungen, aber nicht im Chor. Es ging
bisweilen einer zur Feierabendzeit zufällig hinaus in die Dämmerung,
setzte sich auf die kleine Treppenstufe vor der Kasernentür, stützte
gedankenverloren die Wange in die Hand und sang es zuerst nur leise,
dann immer lauter mit hoher Stimme. Man hörte zu und das Herz fing an zu
schlagen. Wir hatten gute Stimmen im Ostrogg.

Inzwischen begann es zu dunkeln. Trauer, Sehnsucht und dumpfe Gefühle
blickten schwer durch die Trunkenheit und das Gejohle hindurch. Manch
einer, der noch vor einer Stunde gelacht hatte, weinte bereits in irgend
einer Ecke, maßlos betrunken. Andere hatten schon mehr als einmal zu
raufen begonnen. Wieder andere wankten, bleich und kaum auf den Füßen
sich haltend, durch die Kasernen und stifteten Streit. Manche, die der
Rausch nicht händelsüchtig machte, suchten vergeblich Freunde, denen sie
ihr Herz hätten ausschütten können, um bei der Gelegenheit auch ihr
trunkenes Leid auszuweinen. Dieses ganze arme Volk hatte fröhlich und
heiter den großen Festtag verbringen wollen – und nun, mein Gott! – wie
schwer und traurig war dieser Tag fast für einen jeden. Ein jeder
verbrachte ihn mit einem Gefühl, als hätte er in einer großen Hoffnung
eine große Enttäuschung erfahren. Petroff kam im ganzen zweimal zu mir.
Er hatte nur sehr wenig getrunken und war fast ganz nüchtern. Aber er
erwartete noch bis zum letzten Augenblick irgend etwas, das seiner
Meinung nach unbedingt geschehen mußte, etwas Ungewöhnliches,
Festtägliches, Belustigendes. Wenn er es auch nicht aussprach, so sah
man es doch deutlich seinen Augen an. Er strich unermüdlich umher, aus
einer Kaserne in die andere. Doch es geschah nichts Besonderes und er
fand nichts, als betrunkene Gestalten, sinnlos trunkenes Gerede,
Geschimpf und im Rausch gerötete Gesichter. Ssirotkin schlenderte
gleichfalls umher, sah in seinem neuen roten Hemd, reingewaschen und
glatt gekämmt, allerliebst aus, ging durch alle Kasernen und schien
gleichfalls, still und naiv, irgend etwas zu erwarten.

Mit der Zeit wurde es unerträglich und ekelhaft in den Kasernen.
Natürlich gab es auch viel Spaßiges, aber diese armen Menschen taten mir
– ich weiß nicht warum – doch alle leid, und es war mir unter ihnen
schwer und traurig zumute. Dort streiten sich zwei über das Problem, wer
den anderen bewirten soll. Man sieht es ihnen an, daß sie schon lange
streiten und sich auch schon mehrmals deswegen entzweit haben. Der eine
besonders scheint den anderen schon von früher her auf dem Kerbholz zu
haben. Er klagt ihn an und bemüht sich, mit merklich steifer Zunge zu
beweisen, daß jener unrecht an ihm gehandelt habe: es war irgend einmal
ein Halbpelz verkauft und irgend einmal irgend welches Geld
unterschlagen worden, und alles in allem war es im letzten Jahr in der
Butterwoche geschehen. Außerdem hatte es noch etwas zwischen ihnen
gegeben ... Kurz, es war ihm Unrecht getan worden. Der Ankläger ist ein
großer, stämmiger Bursche, nicht dumm, kein Raufbold, doch wenn er
betrunken ist, hat er das Verlangen, Freundschaft zu schließen und dem
Freunde sein Leid zu klagen. Wohl schilt er den anderen, gleichzeitig
aber sieht man es ihm doch an, daß er es nur aus dem Wunsche heraus tut,
nachher noch festere Freundschaft mit dem Feinde zu schließen.

Der andere ist untersetzt und mittelgroß mit einem runden Gesicht,
schlau und hinterlistig. Er hat vielleicht mehr als sein Freund
getrunken, hat aber nur einen leichten Rausch. Er ist ein Mann von
Charakter und gilt für reich, doch scheint es ihm aus unbekanntem Grunde
diesmal vorteilhaft, seinen mitteilsamen Freund nicht zu reizen, und er
führt ihn zum Branntweinhändler. Der Freund behauptet, daß jener ihn
freihalten müsse, – „wenn du nur ein ehrlicher Mensch bist.“

Der Branntweinverkäufer holt mit einer gewissen Hochachtung vor dem
Käufer und einem Schimmer von Verachtung für dessen mitteilsamen Freund
– da dieser nicht für sein eigenes Geld trinkt, sondern freigehalten
wird – seinen Branntweinschlauch hervor und schenkt ein.

„Nein, Stepka, das bist du mir schuldig,“ sagt der mitteilsame Freund,
„denn sieh, das bist du mir schuldig!“

„Schwatz nicht so viel dummes Zeug! Ich werd mir deinethalben auch keine
Hühneraugen an die Zunge reden!“ ist Stepkas Antwort.

„Nein, Stepka, das lügst du,“ behauptet der erste und empfängt die
Branntweintasse, „denn du bist mir Geld schuldig, Gewissen hast du nicht
und deine Augen gehören ja gar nicht dir, die hast du einfach gestohlen!
Ein Gauner bist du, Stepka, damit du’s weißt, ein echter Gauner, das
sage ich dir rund!“

„Was plärrst du, sieh, daß du den Branntwein nicht verschülperst! Tut
man dir die Ehre an, dir Branntwein zu kaufen, so trink!“ schreit der
„Schenkwirt“ den mitteilsamen Freund an, „oder soll ich bis morgen auf
meine Tasse warten?“

„Ich ... ich trink’ doch schon, was schreist du! Prost Fest, Stepan
Dorofejitsch!“ wandte er sich plötzlich, die Tasse in der Hand, höflich
und mit leichter Verbeugung zu Stepka, den er noch vor einer halben
Minute einen Gauner genannt hatte. „Bleib gesund auf hundert Jahr, – was
du schon verlebt hast, zählt nicht mit!“ Er trank, räusperte sich und
wischte sich mit dem Handrücken den Mund. „Früher, Freunde, konnte ich
viel Branntwein saufen, o–ohne was zu merken,“ fuhr er mit ernster
Wichtigkeit fort, diesmal gleichsam an alle sich wendend, „jetzt aber
ist die Zeit für mich schon vorüber. Ich danke, Stepan Dorofejitsch!“

„Keine Veranlassung.“

„Und so werde ich dir, Stepka, immer dasselbe sagen und außerdem noch,
daß du vor mir als großer Gauner dastehst, das sage ich dir noch
außerdem ...“

„Ich aber werde dir, besoffene Fratze, noch etwas anderes sagen,“
unterbricht ihn Stepka, den die Geduld verläßt. „Höre und behalte jedes
meiner Worte: da hast du die halbe Welt, wir teilen sie uns mitten
durch, dir die eine Hälfte, mir die andere. Und jetzt mach, daß du mir
nicht mehr unter die Augen kommst! Hab dich satt!“

„Du gibst mir also das Geld nicht zurück?“

„Was für ein Geld willst du noch haben, du besoffene Unke?“

„Wart, in jener Welt wirst du von selber kommen, um es mir abzugeben –
werd aber dann nicht nehmen! Unser Geld ist schwer verdient, an ihm sind
Schweiß und Schwielen. Wirst dort noch um meinen Fünfer vor Schulden
umkommen, in jener Welt, meine ich.“

„Hol dich der Teufel, fahr ab zu ihr!“

„Wohin treibst du mich, ich bin doch kein Pferd.“

„Mach, daß du fortkommst! Pack dich!“

„Gauner!“

„Zuchthäusler!“

Und das Schimpfen hub von neuem an, diesmal noch stärker als vor der
spendierten Tasse Branntwein.

Dort sitzen auf der Pritsche ganz abgesondert zwei Freunde: der eine
groß, stark, fleischig, dick, so ein echter Fleischer mit rotem Gesicht:
er ist den Tränen nahe, denn er ist sehr gerührt. Der andere ein
schwächliches, hageres, mageres Kerlchen mit einer langen, spitzen Nase,
an der beständig ein Tropfen hängt und manchmal auch niederfällt, mit
kleinen Schweinsaugen, die zu Boden blicken. Das ist ein aufgeklärter
und gebildeter Mensch, der einmal Schreiber gewesen ist und seinen
Freund ein wenig von obenherab behandelt, was diesem im geheimen sehr
unangenehm ist. Sie haben den ganzen Tag zusammen getrunken.

„Er hat sich unterstanden!“ schreit der fleischige Freund und schüttelt
kräftig den Schreiber, den er mit der linken Tatze um die Schultern
gefaßt hat, sodaß dessen Kopf lose hin und her pendelt. „Er hat sich
unterstanden“ bedeutet „Er hat mich geschlagen“. Der fleischige Freund,
der selbst ehemaliger Unteroffizier ist, beneidet im Geheimen mächtig
seinen hageren Freund um dessen Bildung, und so geben sie sich beide
große Mühe, nur in gewähltem Stil zu einander zu reden.

„Ich aber sage dir, daß du im Unrecht bist,“ beginnt dogmatisch der
Schreiber, der hartnäckig seine Augen nicht zum anderen erhebt und
wichtig fortfährt, den Boden zu fixieren.

„Er hat sich unterstanden! – hörst du, was ich sage!“ unterbricht ihn
der Dicke und schüttelt seinen lieben Freund noch heftiger. „Du allein
bist mir jetzt noch in der ganzen Welt geblieben – hörst du, was ich
sage! Darum sage ich dir das eine: er hat sich unterstanden! ...“

„Und ich sage dir wiederum: eine so saure Rechtfertigung, teurer Freund,
macht deinem Gehirn nur Schande,“ entgegnet mit dünnem und geschütteltem
Stimmchen der Schreiber, „also gib lieber zu, teurer Freund, daß diese
ganze Trunkenheit nur eine Folge deiner Unbeständigkeit ist.“

Der Oberkörper des teuren Freundes wankt etwas zurück, stumpf blickt er
mit seinen betrunkenen Augen auf das zufriedene Schreiberlein, und
plötzlich, ganz unerwartet, knallt er ihm aus aller Kraft mit seiner
riesigen Tatze eine schallende Ohrfeige auf die kleine Backe. Und damit
hat ihre Freundschaft für diesen Tag aufgehört. Der liebe Freund fliegt
besinnungslos unter die Pritschen ...

Da tritt in unsere Kaserne einer meiner Bekannten aus der besonderen
Abteilung ein – ein unendlich gutmütiger und lustiger Bursch, nicht
gerade dumm, unverletzend spottlustig und von Ansehen ungemein
gewöhnlich. Es ist derselbe, der am ersten Tage nach meiner Ankunft in
der Küche den „reichen Mann“ gesucht und schließlich von mir ein Glas
Tee angenommen hatte. Er ist vierzig Jahre alt, hat eine ungewöhnlich
dicke Unterlippe und eine fleischige Nase, die mit Hitzbläschen und
Finnen übersät ist. Er hat eine Balalaika, auf der er nachlässig mit den
Fingern hin und wieder ein paar Töne spielt. Ihm folgt, als wäre er am
Schlepptau, ein kleiner Arrestant mit einem großen Kopf, den ich bis
dahin nur flüchtig gekannt hatte. Ihm wurde übrigens auch von niemand
besondere Beachtung geschenkt. Er war etwas absonderlich, mißtrauisch,
ewig schweigsam und sehr ernst. Er arbeitete in der Schneiderstube und
war sichtlich bemüht, als Sonderling zu leben und niemandem
näherzutreten. Jetzt aber, in der Trunkenheit, hatte er sich wie ein
Schatten an Warlamoff geheftet. Er folgte ihm in unglaublicher Erregung,
fuchtelte mit den Armen, schlug mit der Faust an die Wand, auf die
Pritsche, und es fehlte nicht viel, so hätte er geweint. Warlamoff
schenkte ihm, wie es wohl scheinen konnte, nicht die geringste
Beachtung, als wäre er überhaupt nicht dagewesen. Bemerkenswert ist
ferner, daß diese zwei früher so gut wie nie miteinander in Berührung
gekommen waren. Sie hatten weder in der Beschäftigung noch im Charakter
etwas Gemeinsames. Sie gehörten sogar verschiedenen Abteilungen an und
wohnten in verschiedenen Kasernen. Der Kleine mit dem großen Kopf hieß
Bulkin.

Als Warlamoff mich erblickte, lächelte er übers ganze Gesicht. Ich saß
auf meinem Pritschenplatz am Ofen. Er blieb nicht weit von der Tür
stehen, schien etwas zu überlegen, wankte dann und kam mit
ungleichmäßigen Schritten auf mich zu, um sich breitbeinig und
eigenartig keck mit seinem schweren Körper vor mir aufzupflanzen. Nach
einem leichten Schlag über die Saiten begann er ein Rezitativ, zu dem er
kaum merklich mit der Stiefelspitze den Takt schlug:

   „Blondlockig, rotwangig,
   Singt wie die Nachtigall
       Meine Herzliebste:
   Ist in dem prachtvoll
   Bestickten Atlaskleid
       Die Allerschönste.“

Dieses Lied machte auf Bulkin, wie es schien, einen solchen Eindruck,
daß er außer sich geriet: er fuchtelte mit den Armen und schrie uns
allen zu:

„Alles lügt er, Brüder, alles lügt er! Nicht ein Wort kann er in
Wahrheit sagen, alles lügt er!“

„Dem alten Alexander Petrowitsch!“ grüßte Warlamoff, mit verschmitztem
Lächeln, mir in die Augen blickend, und womöglich geneigt, mich
abzuküssen. Er hatte einen guten Rausch. Der Ausdruck „dem Alten“ – d.
h. „dem Alten so und so mein Gruß“ – wird in ganz Sibirien von dem
einfachen Volke gebraucht, selbst einem Zwanzigjährigen gegenüber. Das
Wort „der Alte“ hat etwas Ehrwürdiges, Ehrfürchtiges, sogar
Schmeichelhaftes.

„Nun, Warlamoff, wie geht’s?“

„Immer von einem Tage zum andern. Aber wer sich über den Feiertag freut,
der ist seit dem Morgen berauscht. Ihr müßt mich schon entschuldigen!“
Warlamoff sprach ein wenig gedehnt.

„Und immer, immer muß er wieder lügen!“ schrie Bulkin und hämmerte
geradezu verzweifelt mit der Hand auf die Pritschen. Warlamoff aber
schien sich geschworen zu haben, dem anderen nicht die geringste
Beachtung zu schenken, und darin lag eine unbeschreibliche Komik, denn
Bulkin hatte sich dem Warlamoff seit dem Morgen ohne jede Veranlassung
angehängt, – vielleicht, weil Warlamoff „alles lügt“, wie es ihm
plötzlich aus irgend einem Grunde schien. Er folgte ihm wie ein
Schatten, fiel über jedes seiner Worte her, rang die Hände, hämmerte sie
an den Wänden und Pritschen fast blutig und litt, litt aufrichtig unter
der Überzeugung, daß Warlamoff „alles lügt“! Hätte er Haare auf dem Kopf
gehabt, ich glaube, er hätte sie sich ausgerauft vor lauter
Verzweiflung. Es war, als hätte er es auf sich genommen, für jedes Wort
Warlamoffs zu verantworten, als lägen alle Mängel Warlamoffs auf seinem
Gewissen. Und zu alledem kam noch, daß jener ihn nicht einmal ansah! Das
war entschieden zu viel.

„Alles lügt er, alles lügt er, alles lügt er! Kein einziges Wort ist
wahr, alles lügt er!“ schrie Bulkin.

„Was geht denn dich das an?“ fragten lachend die anderen.

„Ich werde Euch, Alexander Petrowitsch, gehorsamst vermelden, daß ich
von mir aus einmal sehr hübsch war und die Mädels mich sehr geliebt
haben ...“ begann plötzlich Warlamoff, ohne jede Veranlassung zu diesem
Bekenntnis.

„Er lügt! Lügt schon wieder!“ schreit Bulkin in heller Verzweiflung.

Alles lacht.

„Ich aber mache mich rar. Habe ein rotes Hemd und weite Pluderhosen;
liege lang ausgestreckt wie so ’n Graf Butylkin, das heißt, voll wie ein
Schwede, mit einem Wort – was will man mehr!“

„Er lügt!“ bestätigte Bulkin überzeugt.

„Dazumal aber besaß ich noch ein zweistöckiges Haus von meinem Vater,
ein steinernes. Na ja, in zwei Jahren war ich mit zwei Stockwerken
fertig, es blieb mir nur noch das Hoftor, die Pfosten abgerechnet. Was,
Geld! Geld ist wie – Tauben: es kommt angeflogen und fliegt wieder weg!
Wisch noch den Mund ab, wenn du willst.“

„Er lügt!“ bestätigte Bulkin noch beharrlicher.

„Und so schickte ich denn neulich meinen Anverwandten von hier aus einen
Tränenbrief: was kann man wissen, vielleicht schicken sie mir etwas. Sie
sagten zwar immer, ich sei gegen meine Eltern gewesen, unehrerbietig,
sozusagen. Jetzt werden es schon sieben Jahre her sein, als ich
schickte.“

„Wie, und noch keine Antwort erhalten?“ fragte ich lachend.

„Na ja, selbstverständlich keine!“ antwortete er und lachte dann selbst
mit, näherte aber seine Nase immer mehr meinem Gesicht. „Aber dafür habe
ich hier, Alexander Petrowitsch, eine Geliebte ...“

„Ihr? Eine Geliebte?“

„Onufrijeff sagte mir noch vorhin, mag die Meine auch pockennarbig sein,
so hat sie doch viel Kleider, deine aber ist wohl hübsch, dafür aber
bettelarm, geht wie eine Maus im Sack.“

„Ist denn das wahr?“

„Wahrhaftig bettelarm!“ beteuerte er und brach in lautloses Lachen aus.
Die anderen lachten gleichfalls. Alle wußten, daß er tatsächlich mit
einer ganz Armen angebändelt und ihr in einem halben Jahre nur zehn
Kopeken gegeben hatte.

„Nun und was weiter?“ fragte ich mit dem Wunsch, ihn loszuwerden.

Er schwieg, blickte mich gerührt an und sagte schließlich geradezu
zärtlich:

„Würdet Ihr mich denn nicht im Hinblick auf diese Tatsache mit einem
Viertelliter Branntwein beglücken? Ich habe doch, glaubt mir, Alexander
Petrowitsch, heut den ganzen Tag nur Tee und immer wieder Tee gesoffen,“
fügte er melancholisch hinzu, indem er das Geld empfing, „und davon bin
ich jetzt so voll, daß ich gar nicht mehr atmen kann, und im Magen
schaukelt’s, wie in einer Flasche ...“

Während er nun das Geld nahm, erreichte die sittliche Entrüstung Bulkins
ihre letzte Grenze. Er gestikulierte wie ein Verzweifelter und war dem
Weinen beängstigend nahe.

„Kinder Gottes!“ schrie er wie wahnsinnig, sich an alle wendend, „seht
ihn an! Alles lügt er! Was er auch sagt, alles, alles, alles, aber auch
alles lügt er!“

„Aber was geht denn dich das an?“ rufen ihm die Arrestanten von allen
Seiten zu, erstaunt über seinen Eifer. „Dummer Kerl!“

„Ich lasse nich lügen!“ schreit Bulkin mit blitzenden Augen und schlägt
aus aller Kraft mit der Faust auf die Pritschen, – „ich will nicht, daß
er lügt!“

Alles lacht. Warlamoff nimmt das Geld, dankt, verbeugt sich vor mir und
verläßt darauf die Kaserne, selbstverständlich um zu einem
Branntweinverkäufer zu gehen. Und da erst scheint er Bulkin zu bemerken.

„Na, gehen wir!“ sagt er zu ihm, auf der Schwelle stehen bleibend, ganz
als hätte er jenen wirklich zu irgend etwas nötig. „So’n Stockknopf!“
fügt er hinzu, während er mit verächtlicher Miene den betrübten Bulkin
zuerst über die Schwelle treten läßt und von neuem anfängt, auf der
Balalaika zu spielen.

Doch wozu soll ich noch weiter dieses Treiben schildern! Endlich ist
dieser bedrückende Tag zu Ende. Schwer schlafen sie alle auf den
Pritschen ein. Im Traum sprechen und phantasieren sie noch mehr als
sonst. Hier und da sitzen noch ein paar Kartenspieler. Der langersehnte
Tag ist vorüber. Morgen beginnt wieder das alte Leben, wieder die alte
Arbeit.


                                  XI.

                         Die Theateraufführung

Am dritten Tage des Weihnachtsfestes kam endlich auch die erwartete
Aufführung auf unserem Theater zustande. Der Vorbereitungen hatte es
wahrscheinlich eine Unmenge gegeben, doch die Schauspieler hatten alles
auf sich genommen, so daß wir übrigen nicht einmal wußten, wie die Sache
stand, was getan wurde, ja nicht einmal genau, was denn eigentlich
aufgeführt werden würde. Die Spieler hatten sich in all den drei Tagen
beim Hinausgehen zur Arbeit redlich bemüht, möglichst viel Kleider zu
verschaffen. Wenn Bakluschin mir begegnete, so schnippte er nur mit den
Fingern vor lauter Vergnügen. Wie es schien, war auch der Platzmajor bei
guter Laune. Übrigens konnten wir auf keine Weise in Erfahrung bringen,
ob er etwas von dem Theater wußte, und falls er wußte, ob er es dann
formell erlaubt oder sich nur entschlossen hatte, zu schweigen –
gleichsam über den tollen Einfall der Zwangsarbeiter mit der Hand
abwinkend, als wollte er sagen: tut was ihr wollt! – bloß mit dem
Nachsatz, daß keine Unordnung geschehen dürfe. Doch wie gesagt, darüber
wußten wir nichts Genaues. Ich aber glaube, daß er um das Theater sehr
wohl wußte, denn wie hätte er es nicht wissen sollen? Nur wollte er sich
nicht einmischen, da er wohl einsah, daß ein Verbot schlimmer sein
würde: die Sträflinge würden sich rächen, trinken, raufen, so daß es
weit besser war, sie beschäftigten sich mit irgend etwas. Übrigens setze
ich diese Auffassung der Sache bei dem Platzmajor nur deshalb voraus,
weil sie die natürlichste, richtigste und vernünftigste ist. Ja, man
kann sogar sagen: hätten die Arrestanten sich in den Festtagen kein
Theater oder irgend eine Zerstreuung ausgedacht, so wäre es die Pflicht
der Vorgesetzten gewesen, etwas derartiges für sie zu ersinnen. Da aber
unser Platzmajor sich durch eine in allen Dingen vollkommen umgekehrte
Denkweise von der übrigen Menschheit unterschied, so ist es sehr unklug
von mir, daß ich eine so große Verantwortung auf mich lade: so ohne jede
Handhabe anzunehmen, daß er um das Theater wußte. Ein Mensch wie unser
Major mußte unbedingt jemand unterdrücken, irgend etwas fortnehmen,
irgendwen eines Rechtes berauben, mit einem Wort – irgendwo den Frieden
stören. In dieser Beziehung war er in der ganzen Stadt bekannt. Was ging
es ihn an, daß es gerade infolge seiner Unterdrückungen zu
Ungezogenheiten im Ostrogg kam! Für Ungezogenheiten sind die
Bestrafungen da, denken Leute wie unser Major, und bei solchen
Spitzbuben von Arrestanten ist Strenge und buchstäbliche Erfüllung des
Gesetzes alles, was nötig ist!

Diese beschränkten Vollstrecker des Gesetzes begreifen tatsächlich
nicht, und sind auch überhaupt nicht fähig, zu begreifen, daß allein die
buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes ohne Sinn, ohne Verständnis seines
Geistes, der geradeste Weg zu Unordnung und Empörung ist und auch noch
niemals zu anderem geführt hat.

„Es steht im Gesetz, was will man noch mehr?“ denken und sagen sie, und
sind aufrichtig erstaunt darüber, daß man von ihnen noch als Zugabe zu
den Gesetzen gesunden Verstand und einen nüchternen Kopf verlangt.
Letzteres erscheint vielen von ihnen als völlig überflüssiger und
empörender Luxus, als Unterdrückung ihrer Persönlichkeit und als
Intoleranz.

Doch wie dem auch war, jedenfalls erhob der älteste Unteroffizier keinen
Einspruch, und das war schließlich alles, was die Arrestanten brauchten.
Ich behaupte dreist, daß das Theater und die Dankbarkeit für die
Erlaubnis desselben der einzige Grund waren, warum während der Festtage
keine einzige ernste Unordnung im Ostrogg vorkam, kein einziger böser
Streit, kein einziger Diebstahl. Ich war selbst Zeuge, wie Streitende
oder Betrunkene von den anderen auseinander gebracht und ernüchtert
wurden, einzig mit der Drohung, daß sonst das Theater verboten werden
würde. Der Unteroffizier nahm den Arrestanten das Wort ab, daß alles der
Ordnung gemäß sein werde und sie sich in dieser Zeit tadellos aufführen
würden. Freudig wurde es versprochen und gewissenhaft das Wort gehalten.
Auch schmeichelte es ihnen sehr, daß man ihrem Worte glaubte. Übrigens
kostete ja die Erlaubnis zur Theateraufführung den Vorgesetzten
keinerlei Opfer. Die ganze Bühne wurde in kaum fünfzehn Minuten
aufgebaut und nach der Vorstellung wieder beseitigt, so daß weder ein
besonderer Raum abgegrenzt, noch ein Teil einer Kaserne beständig in
Anspruch genommen war; die Aufführung dauerte nur anderthalb Stunden.
Und selbst wenn plötzlich von oben der Befehl gekommen wäre, die
Aufführung abzubrechen, – so wäre alles im Augenblick beseitigt gewesen.
Die Kostüme wurden in den verschließbaren Kästen der Arrestanten
aufbewahrt. Doch bevor ich mit der Schilderung des Theaters beginne,
will ich noch einiges über das Programm der Aufführung sagen.

Einen richtigen, geschriebenen Theaterzettel gab es nicht. Erst zur
zweiten oder dritten Aufführung erschien ein einziger, den Bakluschin
für die Herren Offiziere und die hohen Gäste, die unser Theater mit
ihrem Besuch beehrten, eigenhändig geschrieben hatte. Diese hohen Gäste
waren folgende: gewöhnlich der wachhabende Offizier, und einmal erschien
sogar der Offizier ^du jour^, der die wachhabenden kontrollierte, und
einmal auch ein Verwaltungsbeamter. Für diese Herren nun war der schöne
Theaterzettel geschrieben worden. Man setzte voraus, daß der Ruhm des
Theaters weit über die Festung hinaus, sogar in der ganzen Stadt seine
Verbreitung finden würde, umsomehr, als es dort kein Theater gab. Es
hieß nur, daß Liebhaber sich zu einer einzigen Aufführung zusammengetan
hätten, aber das war auch alles.

Die Arrestanten freuten sich wie Kinder über den geringsten Erfolg, und
waren sehr stolz auf ihn.

„Wer kann denn wissen,“ dachten und sagten sie, „vielleicht wird es auch
die höchste Obrigkeit erfahren, herkommen und sehen, was wir eigentlich
sind! Das ist keine gewöhnliche Soldatenvorstellung mit Vogelscheuchen,
schwimmenden Kähnen, gehenden Bären und Ziegen! Hier sind es immer
Schauspieler, richtige Schauspieler, die herrschaftliche Komödie
spielen! Ein solches Theater gibt es ja in der ganzen Stadt nicht! Bei
dem General Abrossimoff soll einmal, sagt man, eine Theateraufführung
gewesen sein, und es soll dort noch einmal gespielt werden. Nun, in den
Kostümen werden sie uns vielleicht schlagen, aber im _Gespräch_ da sind
wir ihnen _weit_ über! Es wird noch bis zum Gouverneur dringen und – wer
weiß – womit spaßt der Teufel nicht? – vielleicht bekommt er selber
Lust, zuzusehen? In der Stadt gibt es kein Theater ...“

Kurz, die Phantasie der Arrestanten kannte während der Festtage, und
besonders nach dem ersten Erfolge, keine Grenzen, ja sie verstieg sich
sogar bis zu Belohnungen und zur Verminderung der Strafzeit, wenn die
Sträflinge auch im selben Augenblick gutmütig über sich selbst lachten.
Mit einem Wort, sie waren wie Kinder, wie die richtigen Kinder, obgleich
einige dieser Kinder schon vierzig Jahre zählten. Doch ungeachtet
dessen, daß es keine Theaterzettel gab, kannte ich bereits, wenigstens
in den Hauptzügen, die ganze Zusammenstellung der Aufführung.

Das erste Stück hieß: „Filatka und Miroschka, die Nebenbuhler“.
Bakluschin hatte mir schon vor einer Woche stolz mitgeteilt, daß der
Filatka, dessen Rolle er selbst übernommen hatte, so gespielt werden
würde, wie man es nicht einmal im Sankt Petersburger kaiserlichen
Theater besser sehen könne. Er ging von einer Kaserne zur anderen,
rühmte sich unbarmherzig und unverschämt, gleichzeitig aber auch
vollkommen gutmütig, bis er plötzlich etwas „thieatralisches“ zum Besten
gab, d. h. ein paar Sätze aus der eigenen Rolle, und alle lachten –
gleichviel ob es zum Lachen war oder nicht, was er gesagt hatte. Doch
muß ich bemerken, daß die Sträflinge sich auch hierin zu beherrschen und
ihre Würde zu wahren wußten: die Erzählungen Bakluschins und seine
Schilderungen der bevorstehenden Aufführung entzückten nur die Jüngsten,
die sogenannten Grünschnäbel, die noch keine Selbstbeherrschung kannten,
oder nur die bedeutendsten Persönlichkeiten, deren Autorität bereits so
unerschütterlich war, daß sie weiter nichts zu fürchten brauchten, wenn
sie ihren Gefühlen, gleichviel welchen, und wären es auch die naivsten –
d. h. nach Ostroggbegriffen die unanständigsten – freien Ausdruck
gewährten. Die übrigen aber hörten den Schwätzereien schweigend zu.
Freilich verboten sie dem Schwätzer weder das Wort noch tadelten sie
ihn, aber sie bemühten sich aus allen Kräften, sich möglichst
gleichgültig und teilweise sogar hochmütig diesen Berichten gegenüber zu
verhalten. Erst am letzten Tage wurde das Interesse allgemein: „Wie wird
es denn sein? Was machen die Unsrigen? Was sagt der Major? Wird es auch
ebenso gelingen, wie vor zwei Jahren?“ usw. Bakluschin versicherte mir,
daß die Rollen vorzüglich verteilt seien, ein jeder sei „wie geboren“ zu
der seinen. Ferner, daß sie sogar einen Vorhang hätten und daß die Braut
Filatkas von Ssirotkin dargestellt werden würde – „und wie der in
Weiberkleidern aussieht! – na, Sie werden ja mit eigenen Augen sehen!“
meinte er stolz und schnalzte vor Vergnügen. Die wohltätige
Gutsbesitzerin sollte in einem Falbelkleide und einer Pelerine und einem
Sonnenschirm erscheinen, und der wohltätige Gutsbesitzer in einem
Offiziersrock mit Achselschnüren und einem Rohrstock.

Darauf folgte das zweite Stück, und zwar ein dramatisches: „Kedrill der
Vielfraß“. Dieser Titel erweckte sogleich mein Interesse, aber wie sehr
ich mich auch bemühte, ich konnte doch nichts Genaues über das Stück
erfahren. Man wußte nur, daß es nicht aus einem Buche stamme, sondern
aus einer Abschrift, und erhalten hatte man es von einem ehemaligen
Unteroffizier aus der Vorstadt, der vielleicht selbst einmal an einer
Soldatenaufführung dieses Stückes teilgenommen hatte. Bei uns in Rußland
haben sich in entlegenen Städten und Gouvernements tatsächlich noch alte
Theaterstücke erhalten, die, wie es scheint, keinem einzigen Literaten
bekannt und vielleicht kein einziges Mal gedruckt worden sind, die ganz
von selbst aufgetaucht zu sein scheinen, Dichtungen, die den Grundstock
eines jeden „Volkstheaters“ darstellen. Es wäre wohl sehr, sehr zu
wünschen, daß jemand von unseren Forschern und Sammlern sich mit etwas
gründlicheren Nachforschungen abgeben würde, als sie bis jetzt unserem
Volkstheater gewidmet worden sind. Denn ein Volkstheater haben wir
sowohl früher gehabt, wie wir es auch jetzt noch haben, und ich glaube
annehmen zu dürfen, daß es durchaus nicht so unbedeutend ist. Ich kann
es nicht glauben, daß alles, was ich in unserem Ostroggtheater gesehen
habe, von unseren Arrestanten „frei aus der Luft“ ersonnen gewesen sei.
Hier handelte es sich vielmehr um ein altes Erbe aus der Überlieferung,
um einmal angenommene Bräuche und Begriffe, wie sie sich von Geschlecht
zu Geschlecht fortpflanzen. Suchen und nachforschen müßte man bei
Soldaten, Fabrikarbeitern, in Fabrikstädten und auch in manchen
entlegenen Städtchen bei den Bürgern. Auch auf Gütern, unter dem Gesinde
der großen Gutsbesitzer haben sie sich erhalten und sind durch diese bis
in die Gouvernementsstädte gedrungen. Ich glaube sogar, daß viele alte
Dichtungen sich nur dank der Abschriften der Gutsdienerschaft vermehrt
und erhalten haben. Hatten doch früher in alten Zeiten die reichen
Gutsherren und die Moskauer Großen eigene Theater auf ihren Gütern,
während die Schauspieler ihre Leibeigenen waren. Diese Theater nun sind
die Grundlage unserer Volksdramatik, wofür wir unzweifelhafte Anzeichen
haben. Was nun den „Vielfraß Kedrill“ anbelangt, so konnte ich vorläufig
nichts erfahren, ausgenommen das eine, daß auf der Szene böse Geister
erscheinen und den Vielfraß Kedrill in die Hölle schleppen würden. Was
aber der Name Kedrill bedeutete und schließlich warum Kedrill und nicht
Kyrill – das vermochte mir niemand zu sagen, und ebensowenig, ob es ein
echt russisches Stück war, oder einem ausländischen entlehnt. Und zum
Schluß, hieß es, werde eine „Pantomime mit Musik“ aufgeführt werden. Das
war natürlich alles sehr interessant.

Der Schauspieler gab es etwa fünfzehn, – ein flottes und geschicktes
Volk. Sie saßen keinen Augenblick still, veranstalteten Proben hinter
den Kasernen, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, versteckten
sich und taten überaus geheimnisvoll. Kurz, sie wollten uns alle mit
etwas Ungewöhnlichem und Ungeahntem überraschen.

An den Arbeitstagen wurde der Ostrogg früh geschlossen, sobald es
dunkelte. Während des Weihnachtsfestes aber wurde eine Ausnahme gemacht:
man schloß nicht vor dem Zapfenstreich, was eine Vergünstigung für die
Theateraufführungen war. Während der ganzen Festwoche wurde täglich vor
dem Abend aus dem Ostrogg eine „Gesandtschaft“ zum wachhabenden Offizier
abgesandt, mit der Bitte, die Aufführung zu erlauben und den Ostrogg
etwas später zu schließen, mit dem Nachsatz, daß auch gestern gespielt
und der Ostrogg später geschlossen worden sei, Unordnungen aber nicht
vorgekommen wären. Der Wachhabende denkt nun wohl folgendes: „Unordnung
hat es gestern allerdings nicht gegeben und wenn sie selbst versprechen,
daß auch heute keine vorkommen wird, so werden sie selbst auf sich acht
haben, das aber ist das Sicherste, was man sich denken kann. Hinzu kommt
jetzt, daß sie, falls ich das Spiel verbiete, womöglich – wer kann denn
sicher sein bei dieser Räuberbande! – mit Absicht irgend etwas
losschießen und noch die Wache hineinziehen. Schließlich kommt noch
hinzu, daß auf Wache sein äußerst langweilig ist, dort aber Theater
gespielt werden soll, und zwar nicht von gewöhnlichen Soldaten, sondern
von Arrestanten – diese aber sind eine ‚interessante Bande‘ und es wäre
doch nicht übel, selbst mal zuzusehen.“ Dazu aber hat der wachhabende
Offizier immer das Recht, und so erlaubt er die Aufführung. Sollte nun
aber ein böser Geist den Offizier ^du jour^ ihm auf den Hals schicken
und dieser fragen: „Wo ist der wachhabende Offizier?“ so ist ein
„Gehorsamst zu melden: sind zur Revision in den Ostrogg gegangen,“ die
klare Antwort und volle Rechtfertigung zugleich.

So kam es denn, daß während der ganzen Festwoche von Seiten des
Wachhabenden jeden Abend die Aufführung erlaubt und der Ostrogg nicht
vor dem Zapfenstreich geschlossen wurde. Die Arrestanten wußten schon
aus alter Erfahrung, daß sie von den Wachhabenden nichts zu befürchten
hatten und machten sich deswegen keine Sorgen.

Am Tage der ersten Aufführung kam Petroff zu mir, um mich abzuholen, wie
er sagte, und wir begaben uns ins „Theater“. Aus unserer Kaserne gingen
alle außer dem Altgläubigen und den Polen. Die Polen entschlossen sich
erst kurz vor der letzten Aufführung, am vierten Januar, das Theater zu
besuchen, und auch das erst nach langen Versicherungen, daß es dort
sowohl gut wie lustig und ungefährlich sei. Der Hochmut der Polen reizte
die Arrestanten nicht wenig, doch als sie endlich am vierten Januar
erschienen, wurden sie sehr höflich empfangen und man ließ sie sogar
nach vorn zu den besseren Plätzen. Was nun die Tscherkessen und im
besonderen Issai Fomitsch anbetrifft, so war unser Theater für sie ein
wahrer Hochgenuß. Issai Fomitsch gab jedesmal drei Kopeken, doch das
letzte Mal legte er ganze zehn Kopeken auf den Teller, während sein
Gesicht in dem Augenblick die Seligkeit selbst war. Die Schauspieler
hatten beschlossen, von den Anwesenden soviel zu sammeln, wieviel ein
jeder geben wollte, in erster Linie, um die Unkosten bestreiten zu
können und in zweiter zur eigenen „Stärkung“.

Petroff versicherte mir, daß man mich auf einen der ersten Plätze
durchlassen würde, wie gepfropft voll auch der ganze Raum und wie schwer
auch das Durchdringen sein sollte, und zwar würde man es aus dem Grunde
tun, weil ich, der ich reicher war als die anderen, wahrscheinlich auch
mehr geben würde, und außerdem verstände ich auch mehr als sie von
solchen Sachen. Petroff hatte recht: es geschah, was er gesagt hatte.
Doch vorher muß ich noch den „Saal“ und die „Bühne“ beschreiben.

Unsere Militärkaserne, in der die Aufführung stattfand, war ungefähr
fünfzehn Schritt lang. Vom Hof trat man zuerst auf die Treppe, von der
Treppe in den Flur und aus dem Flur in die Kaserne. Dieser längliche
Raum war, wie ich schon erwähnte, anders eingerichtet, als die übrigen
Kasernen: die Pritschen waren direkt an den Wänden angebracht, so daß
die Mitte des Raumes frei blieb. Die Hälfte dieser Kaserne, die dem
Eingang und dem Flur zunächst lag, war den Zuschauern überlassen; die
andere Hälfte, die mit der zweiten Kaserne in Verbindung stand, war von
der Bühne eingenommen. Mein erstes Staunen erregte vor allen anderen
Dingen – der Vorhang. Er zog sich, etwa zehn Schritt lang, quer durch
die ganze Kaserne hin. Ja, dieser Vorhang war so wundervoll, daß man
wirklich Ursache hatte, erstaunt zu sein. Ganz abgesehen davon, daß er
mit richtiger Ölfarbe gemalt war, sah man auf ihm noch so etwas wie
Bäume, Lauben, Teiche und Sterne dargestellt. Er bestand aus alten und
neueren Leinwandstücken, soviel wie ein jeder gegeben und gestiftet
hatte, aus alten Fußlappen und Hemden der Arrestanten, die irgendwie zu
einem großen Ganzen zusammengenäht waren, und außerdem bestand noch ein
Teil desselben, zu dem das Zeug nicht mehr gereicht hatte, einfach aus
Papier, das gleichfalls, blatt- und bogenweise, in allen nur möglichen
Kanzleien und Schreiberstuben, erbettelt worden war. Unsere Maler aber,
unter denen sich auch A–ff, unser Brüloff 2, auszeichnete, hatten das
Meisterwerk der Bemalung übernommen. Die Wirkung war erstaunlich. Eine
solche Pracht freute selbst unsere düstersten und pedantischsten
Misanthropen, die aber sonderbarerweise, als es nun zur Aufführung kam,
sich ausnahmslos als dieselben kleinen Kinder zeigten, wie die Jüngsten
und Ungeduldigsten. Alle waren ungemein zufrieden mit dem ersten
Eindruck, sogar ungeheuer, sogar bis zum Eigendünkel zufrieden. Die
Beleuchtung bestand aus Talglichten, die in Stücke geschnitten waren.
Vor dem Vorhang standen zwei Bänke aus der Küche und vor diesen Bänken
noch drei oder vier Stühle, die man in der Stube des Unteroffiziers
gefunden hatte. Die Stühle waren für den Fall hingestellt, daß die
höchsten Gäste erschienen, wie zum Beispiel der Wachhabende, einer der
Verwaltungsbeamten, und vielleicht noch andere desselben Ranges. Die
Bänke aber waren für die Unteroffiziere bestimmt, für die Schreiber der
Verwaltungsstube, die Aufseher und die übrigen Beamten, die wohl noch zu
den Vorgesetzten gehörten, doch nicht etwa von Offiziersrang waren – für
den Fall, daß auch sie zufällig in den Ostrogg kämen. Und so war es
auch: zu keiner Aufführung fehlte es uns an fremden Besuchern, an einem
Abend kamen mehr, am anderen weniger, doch zur letzten Aufführung war
tatsächlich kein einziger Platz auf den Bänken unbesetzt. Hinter den
Bänken endlich kamen die Arrestanten, alle stehend und aus Achtung vor
den Gästen ohne Kopfbedeckung, in Joppen oder Halbpelzen, trotz der
drückenden, schwülen Luft in der Kaserne. Natürlich war dieser Raum für
die ganze Masse der Arrestanten gar zu eng bemessen, denn obschon der
eine buchstäblich auf dem anderen saß, namentlich in den letzten Reihen,
waren auch noch alle Pritschen besetzt, alle Kulissen, und schließlich
fanden sich noch Liebhaber, die beständig hinter die Bühne gingen, in
den anstoßenden Kasernenraum, und von dort aus, also hinter den Kulissen
hervor, zusahen. Die Enge in der vorderen Hälfte der Kaserne war
unbeschreiblich, ähnlich wie ich sie vorher nur einmal in der Badestube
erlebt hatte. Die Tür zum Flur stand weit offen; im Flur, wo eine Kälte
von 20 Grad herrschte, drängten sich gleichfalls Kopf an und über Kopf
die Zuschauer. Wir beide, Petroff und ich, wurden aber sofort
durchgelassen, fast bis dicht an die Bänke, wo man natürlich viel besser
sehen und hören konnte, als in den hinteren Reihen. In mir sah man
gewissermaßen einen Kenner und Kritikfähigen, der schon ganz andere
Aufführungen gesehen hatte. Sie wußten, daß Bakluschin mich mehr als
einmal um Rat gefragt hatte und sich stets ehrerbietig zu mir verhielt,
folglich gebührte mir jetzt Ehre und ein guter Platz. Die Arrestanten
waren gewiß ein ruhmsüchtiges und im höchsten Grade eingebildetes Volk,
– aber das war doch nur äußerlich. Sie konnten wohl über mich lachen,
wenn ich ihnen bei der Arbeit nur schlecht zu helfen vermochte, Almasoff
konnte auf uns Adlige mit Verachtung herabblicken, weil wir nicht
Alabaster zu brennen verstanden, doch zu all ihren Spötteleien und ihrer
ganzen Verachtung gesellte sich doch noch etwas anderes: wir waren
einmal Adlige gewesen, wir hatten einmal zu der Klasse ihrer früheren
Herren gehört, die ihnen vielleicht Unrecht getan und an die sie nicht
mit guten Gefühlen zurückdenken konnten. Hier aber, im Theater, machten
sie mir freiwillig Platz. Sie erkannten es an, daß ich davon mehr
verstand, als sie, daß ich mehr gesehen und besser zu urteilen
vermochte. Selbst diejenigen, die mir am wenigsten gewogen waren – das
wußte ich sehr wohl, – hätten jetzt gern von mir ein Lob ihres Theaters
gehört und gaben mir ohne jede Selbsterniedrigung den guten Platz. So
urteile ich jetzt darüber in der Erinnerung an meinen damaligen
Eindruck. Und es schien mir auch an jenem ersten Theaterabend – dessen
entsinne ich mich genau –, daß in ihrem richtigen Urteil über sich nicht
etwa eine Selbsterniedrigung, sondern nur das Gefühl der eigenen Würde
lag. Der größte und schärfste Charakterzug unseres Volkes ist das Gefühl
für die Gerechtigkeit und das unbedingte Verlangen nach derselben. Das
Großsprechen und Großtun und _um jeden Preis_ immer auf dem ersten Platz
sein wollen, gleichviel, ob er es wert ist oder nicht – das wird man in
unserem Volk nie finden. Man braucht nur die äußere, oft nur angenommene
Schale zu entfernen und den Kern sich etwas aufmerksamer anzusehen,
etwas näher und vorurteilsloser, und man wird in dem Volke Dinge
entdecken, von denen man sich auch nicht einmal hat träumen lassen. Ja,
unsere Gelehrten können unser Volk nur noch sehr weniges lehren. Und ich
sage sogar mit voller Überzeugung – im Gegenteil: sie müssen selbst noch
von ihm lernen.

Petroff hatte mir ganz naiv gesagt, noch bevor wir uns aufgemacht
hatten, man würde mich auch noch aus dem anderen Grunde, weil ich mehr
zahlen würde, nach vorn lassen. Einen festen Preis gab es nicht: ein
jeder gab, wieviel er konnte und wollte. Fast alle gaben etwas, wenn es
auch nur ein Zweikopekenstück war, als man mit dem Teller einsammelte.
Doch wenn man mich zum Teil auch des Geldes wegen nach vorn ließ, in der
Voraussetzung, daß ich mehr geben würde, als die anderen – so lag doch
auch darin wiederum das Gefühl der eigenen Würde, das sie so handeln
ließ. „Du bist reicher als ich, geh du nach vorn, wenn wir hier auch
alle gleich sind, aber du wirst mehr geben und daher ist ein Gast wie du
den Schauspielern angenehmer, – folglich gebührt dir auch der bessere
Platz, denn wir alle sind hier nicht für Geld, sondern aus Achtung vor
etwas Höherem, daher müssen wir uns schon selbst die richtigen Plätze
anweisen.“ Wieviel echter, edler Stolz doch darin liegt! Das ist nicht
Achtung vor dem Gelde, sondern Achtung vor sich selbst. Überhaupt hatte
man im Ostrogg vor dem Gelde, dem Reichtum keine große Achtung,
besonders wenn man die Arrestanten als Masse nimmt. Ja, selbst wenn man
sie einzeln nehmen wollte, so kann ich mich wirklich nicht eines
einzigen entsinnen, der sich im Ernst für Geld erniedrigt hätte. Wohl
gab es welche, die von einem jeden, auch von mir, beständig Geld
borgten, doch dieses Betteln war mehr Unart, Mutwille, Schlauheit, als
gerade Bettelei, – es war mehr Humor, mehr Naivität. Ich weiß nicht, ob
ich mich verständlich ausdrücke ... Aber ich habe ja ganz das Theater
vergessen! Also zur Sache.

Bis zum Aufgang des Vorhangs bot der Anblick des ganzen Raumes ein
seltsames und belebtes Bild. Die ganze große Schar der halbwegs schon
plattgedrückten, von allen Seiten erbarmungslos eingeengten Zuschauer
erwartete mit wahrer Seligkeit in den Gesichtern den Anfang der
wunderbaren Dinge, die da kommen sollten. In den hinteren Reihen hockte
der eine auf dem anderen. Viele hatten sich aus der Küche Holzscheite
mitgebracht. Diese wurden an der Wand aufgestellt und dann kletterte
sein Besitzer, so gut es ging, mit den Beinen auf sie hinauf, oder auch
nur mit den Knieen, stemmte sich mit beiden Händen auf die Schultern des
vor ihm Stehenden und verharrte in dieser Stellung, ohne sich zu rühren,
geschlagene zwei Stunden in unerschütterlicher Zufriedenheit mit sich
und seinem Platz. Andere hatten sich, weiß Gott wie, mit den Beinen auf
die unteren Abstufungen des Ofens erhoben und standen gleichfalls die
ganze Zeit auf den Vordermann gestützt. Das war in den letzten Reihen
ganz an der Wand. An der einen Seitenwand stand eine ganze Mauer auf den
Pritschen, dicht neben den Musikanten. Das waren gute Plätze. Fünf Mann
hatten sich ganz nach oben auf den Ofen begeben, und schauten, platt auf
dem Bauch liegend, lächelnd nach unten. Wer deren Seligkeit
nachempfinden könnte! Auf den Fensterbrettern an der anderen Wand
türmten sich gleichfalls ganze Berge von zu spät Gekommenen oder
solchen, die eben keinen besseren Platz gefunden hatten. Alle verhielten
sich ruhig und sittsam. Alle wollten sich dem hohen Besuch, ihren
Vorgesetzten, von der besten Seite zeigen. Auf allen Gesichtern drückte
sich die naivste Erwartung aus. Alle Gesichter waren rot und von der
Hitze schweißbedeckt. Welch ein seltsamer Widerschein kindlicher Freude,
reinen, erquickenden Vergnügens glänzte auf diesen verunstalteten,
gebrandmarkten Stirnen und Wangen, in diesen Blicken bisher mürrischer,
finsterer Menschen, in diesen Augen, in denen ein so unheimliches Feuer
aufblitzen konnte! Alle hatten ihre Mützen abgenommen, und sah man sie
von der rechten Seite, so erschienen alle Köpfe rasiert. Da hört man von
der Bühne her verschiedene Geräusche, Schritte, Stuhlrücken ... Sogleich
muß der Vorhang sich erheben. Da setzt schon das Orchester ein ...
Dieses Orchester verdient wahrlich, gleichfalls erwähnt zu werden.
Seitlich, auf den Pritschen, hatten sich acht Musikanten niedergelassen:
zwei Geigen – die eine aus dem Ostrogg, die andere hatte man aus der
Festung geliehen, der dazugehörige Künstler fand sich aber unter uns –,
drei Balalaiken, alle selbstgefertigte, zwei Gitarren, und anstatt eines
Kontrabasses eine Handtrommel. Die Geigen wimmerten nur und krietschten,
die Gitarren taugten nicht viel, dafür aber waren die Balalaiken einfach
großartig. Die Fingergewandtheit in der Behandlung der Saiten kam
entschieden dem größten Taschenspielerkunststück gleich. Es wurden nur
Tanzstücke gespielt, und bei den temperamentvollsten Stellen schlugen
die Künstler mit den Fingerknöcheln auf die Decke der Balalaika: der
ganze Ton, der Geschmack, der Rhythmus, der Vortrag, die Behandlung des
Instruments, der ganze Charakter der Wiedergabe des Motivs – alles war
eigen, originell, von den Arrestanten selbst erfunden. Auch einer der
Gitarrespieler spielte sein Instrument vorzüglich. Das war jener Adlige,
der seinen Vater erschlagen hatte. Was nun den Handtrommelschläger
betrifft, so tat er einfach Wunder: bald machte er eine Pirouette mit
einem einzigen Finger, bald fuhr er mit dem Daumen wie Donnergrollen
über das Trommelfell; bald hörte man, einzeln aufeinanderfolgend, laute,
klare, volle Töne, bald wiederum zerstäubte dieser Ton in einem wahren
Erbsenhagel unzähliger feiner, kleiner, fast trillernder, heller
Perlentöne. Und dazu kam noch eine Harmonika, und zum Schluß noch eine
zweite. Mein Ehrenwort, ich hatte bis dahin keine Ahnung davon gehabt,
was man aus ganz einfachen Volksinstrumenten hervorholen konnte. Die
Harmonie, der Rhythmus, das Spiel, und vor allem der Geist, der
Charakter der Auffassung und Wiedergabe des Motivs, verdienten wirklich
Bewunderung. An jenem Abend begriff ich zum erstenmal vollkommen, was
das eigentlich grenzenlos Unbändige und Kühne in den unbändigen und
kühnen russischen Tanzweisen ist.

Da, endlich, ging der Vorhang auf. Alles rührte sich, alle traten von
einem Fuß auf den anderen, in den hinteren Reihen hob man sich auf die
Fußspitzen, einer fiel von seinem Holzscheit herunter, alle bis auf den
letzten sperrten die Mäuler auf und starrten mit weit aufgerissenen
Augen auf die Bühne, und vollständige Stille trat ein ... Die
Vorstellung begann.

Neben mir stand Alei in einer Gruppe mit seinen Brüdern und den
Tscherkessen. Sie alle hingen leidenschaftlich am Theater und besuchten
es später jeden Abend. Alle Muselmänner, Tataren u. s. w. sind, wie ich
mehr als einmal bemerkt habe, leidenschaftliche Liebhaber für alles, was
Schaustück ist. Neben ihnen hatte sich Issai Fomitsch hingehockt, der,
wie es schien, seit dem Augenblick, in dem der Vorhang aufging, sich in
nichts als Gehör und Sehkraft verwandelt hatte und in gierige Erwartung
aller Wunder und Genüsse. Er hätte einem sogar aufrichtig leid getan,
wenn er in seinen Erwartungen enttäuscht worden wäre. Aleis liebes
Gesicht strahlte in so herzerquickender kindlicher Freude, daß es mir –
ich muß gestehen – ein großes Vergnügen bereitete, ihn anzusehen, und
ich weiß noch, wie ich mich jedesmal nach einem spaßigen ‚Stichwort‘ auf
der Bühne, dem gewöhnlich eine Lachsalve folgte, sogleich zu Alei
wandte, um sein Gesicht zu sehen. Er sah mich nicht – oh, ihm war es
jetzt nicht um mich zu tun! Nicht weit von mir, auf der linken Seite,
stand ein älterer, immer finsterer, unzufriedener und brummiger
Arrestant: ihm war Alei gleichfalls aufgefallen, und wie ich bemerkte,
wandte auch er sich ein paar Mal mit einem halben Lächeln zu ihm, um ihn
anzusehen, – er war gar zu reizend. „Alei Ssemjonytsch“ nannte er ihn,
warum „Ssemjonytsch“, das weiß ich nicht.

Man begann mit „Filatka und Miroschka“. Filatka, den Bakluschin mimte,
war einfach großartig! Er spielte seine Rolle erstaunlich naturgetreu.
Man sah sofort, daß er sich in jeden Satz, in jede seiner Bewegungen
hineingedacht hatte. Jedem nichtssagenden Wort, jeder Geste wußte er
Sinn und Bedeutung zu verleihen, die dem Charakter seiner Rolle
vollkommen entsprachen. Jetzt stelle man sich noch vor, daß zu seinem
ganzen Aufgehen in der Rolle und seinem ganzen Verständnis für sie eine
bewundernswerte, angeborene Heiterkeit, Natürlichkeit und sein ganzer
Mutterwitz hinzukamen. Ich glaube, ein jeder, der Bakluschin gesehen
hätte, würde unbedingt zugegeben haben, daß er ein echter, ein geborener
und hochtalentvoller Schauspieler war. Den Filatka habe ich oft genug in
Moskauer und Petersburger Theatern gesehen, doch kann ich mit voller
Überzeugung sagen: die großstädtischen Schauspieler spielten ihn
schlechter als Bakluschin. Im Vergleich zu ihm waren sie Paysans, aber
keine echten Bauern. Sie wollten zu sehr den Bauer spielen. Hinzu kam
außerdem noch, daß Bakluschin durch die Konkurrenz angefeuert wurde:
alle wußten, daß im zweiten Stück die Rolle des Kedrill der Arrestant
Pozeikin spielen würde, der von allen aus irgend einem Grunde für
talentvoller als Bakluschin gehalten wurde, Bakluschin aber litt
darunter wie ein Kind. Wie oft war er in den letzten Tagen zu mir
gekommen, um sein Herz auszuschütten. Zwei Stunden vor der Aufführung
hatte er geradezu Lampenfieber. Wenn das Publikum nun lachte und man ihm
zuschrie: „Bravo, Bakluschin! Bist ’n Deuwelskerl!“ – so strahlte sein
ganzes Gesicht vor Glück und mitreißende Begeisterung blitzte aus seinen
Augen. Die Kußszene Miroschkas mit der Braut (Ssirotkin), in der Filatka
ihm vorher zuschreit: „Wisch dir den Mund ab!“ und dabei sich selbst den
Mund abwischt, war zum Sterben komisch. Alles wälzte sich vor Lachen.
Aber am interessantesten waren für mich doch die Zuschauer. Niemand
dachte mehr an „Anstand“, alle gaben sie sich, ohne Schranken zu kennen,
ihrem Entzücken hin. Die Beifallsrufe ertönten immer häufiger. Hier
versetzt ein Freund dem anderen einen leichten Rippenstoß und teilt ihm
eilig flüsternd seine Eindrücke mit, ohne sich darum zu kümmern oder
auch nur zu bemerken, wer neben ihm steht; dort wendet sich plötzlich
ein anderer nach einer komischen Szene begeistert an die Menge mit einem
Blick, als wolle er alle auffordern, zu lachen, schüttelt einmal kurz
den Kopf und winkt mit der Hand ab („was soll man da noch reden!“), um
sich sofort wieder gierig der Szene zuzuwenden. Ein dritter schnalzt nur
mit der Zunge und schnippt mit den Fingern vor Begeisterung, und da er
sonst keine Bewegungsmöglichkeit hat, tritt er nur von einem Fuß auf den
anderen. Zum Schluß des Stückes hatte die Begeisterung den höchsten Grad
erreicht. Ich will nichts übertreiben. Man denke sich jedoch nur den
Ostrogg, die Ketten an den Füßen, die Unfreiheit, die langen trostlosen
Jahre, die noch vor einem liegen, das ewig einförmige Leben, in dem
jeder Tag dem nächsten wie an trüben Spätherbsttagen ein Regentropfen
dem anderen gleicht, – und nun plötzlich wird allen diesen unterdrückten
und gefangenen Arrestanten erlaubt, eine Stunde lang sich zu freuen,
sich unbeengt zu fühlen, sich frei zu glauben und den schweren Traum zu
vergessen, ein ganzes Theater aufzuführen, – und dazu noch was für
eines! – zum eigenen Stolz und zur Verwunderung der ganzen Stadt: seht,
was wir Arrestanten können! Sie waren natürlich für alles begeistert.
Auch die Kostüme beschäftigten sie sehr. Es war ihnen ungeheuer
interessant, zum Beispiel einen Wanjka Otpetyj, oder einen Nezwetajeff
oder Bakluschin in ganz anderen Kleidern zu sehen, als in dem üblichen
Arrestantenkostüm, in dem sie ihn schon soviel Jahre jeden Tag gesehen
hatten.

„Er ist doch ein Arrestant, derselbe, der er war! – wenn er geht, hört
man ja noch seine Ketten klirren und da kommt er nun im Überzieher, im
runden Hut und im Mantel! – wie ein Staatsrat! Hat sich sogar einen
Schnurrbart angeklebt und Haar auf den halben Kopf! Sieh, da hat er noch
ein rotes Schnupftuch aus der Tasche hervorgezogen! – sieh, wie er sich
zufächelt und den Herrn spielt, ganz als wäre er ohne weiteres selber
einer!“ Und alle sind entzückt.

Der „wohltätige Gutsbesitzer“ erschien im Uniformrock mit
Achselschnüren, und in einer Mütze, auf der man eine Kokarde befestigt
hatte, und machte einen vortrefflichen Eindruck. Daß alles alt und
abgetragen war, tat absolut nichts zur Sache. Für diese Rolle hatte es
zwei Liebhaber gegeben und – wird man es glauben? – beide hatten sich
deswegen wie die kleinen Kinder gestritten, wer sie spielen sollte:
beide wollten sich gar zu gern im Offiziersrock mit Achselschnüren
zeigen! Da waren denn die anderen Schauspieler gezwungen gewesen,
einzugreifen und dem Streit ein Ende zu machen: die Stimmenmehrheit
hatte die Rolle Nezwetajeff zugesprochen, und zwar nicht etwa, weil
dieser hübscher und stattlicher gewesen wäre als der andere und daher
den Herrn besser darstellen konnte, sondern weil Nezwetajeff allen
versichert hatte, daß er mit einem Spazierstöckchen erscheinen und
dasselbe so geschickt schwingen würde, wie ein wirklicher Herr und
erstklassiger Modekenner, was Wanjka Otpetyj nie und nimmer
fertigstellen könne, da er wirkliche Herren überhaupt noch nicht gesehen
habe. Und in der Tat: als Nezwetajeff mit seiner wohltätigen
Gutsbesitzerin auftrat, tat er nichts anderes, als daß er gewandt das
Stöckchen, das er sich weiß Gott woher verschafft hatte, in der Luft
schwang oder Figuren auf den Fußboden zeichnete. Offenbar sah er darin
alle Anzeichen der größten Vornehmheit und der feinsten
Stutzerhaftigkeit. Wahrscheinlich hatte er einmal in jungen Jahren, als
er noch barfüßig auf dem Gutshof umherlief, einen gutgekleideten Herrn
mit einem spanischen Rohrstock gesehen und war von dessen
Geschicklichkeit, mit dem Stöckchen zu spielen, dermaßen gefesselt
worden, daß der Eindruck sich auf ewig, unauslöschlich in seine Seele
eingegraben hatte, und er sich noch nach dreißig Jahren des Verfahrens
zur Bezauberung und zum Entzücken des ganzen Ostrogg entsann.
Nezwetajeff war in seine Beschäftigung dermaßen vertieft, daß er
überhaupt niemand und nichts mehr ansah, ja selbst seine Antworten gab
er, ohne die Augen zu erheben, er zeichnete nur und zeichnete und sein
Blick schien an das Ende seines Stöckchens gleichsam angebunden zu sein.

Die wohltätige Gutsbesitzerin war in ihrer Art nicht weniger
bemerkenswert: sie erschien in einem alten, abgetragenen Musselinkleide,
das einem Scheuerlappen nicht unähnlich war, mit nackten Armen und
nacktem Hals, mit entsetzlich gepudertem und geschminktem Gesicht, mit
einer weißen Nachthaube auf dem Kopf, die unter dem Kinn zugebunden war,
mit einem Sonnenschirm in der einen, und einem Fächer aus bemaltem
Papier, mit dem sie fortwährend fächelte, in der anderen Hand. Eine
Lachsalve begrüßte sie. Aber auch die Dame konnte sich nicht ganz
beherrschen und platzte mehrmals aus. Der Arrestant Iwanoff spielte
diese Rolle. Ssirotkin, den man als Mädchen verkleidet hatte, war
allerliebst. Die Couplets waren vorzüglich. Kurz, das Stück war für alle
ein wahrer Hochgenuß. Eine Kritik gab es nicht und konnte es auch gar
nicht geben.

Hierauf spielte man nochmals die Ouvertüre und der Vorhang erhob sich
von neuem. Jetzt kam „Kedrill der Vielfraß“ an die Reihe.

Kedrill scheint eine Abart vom Don Juan zu sein, wenigstens wird sowohl
der Herr wie der Diener zum Schluß des Stückes von Teufeln in die Hölle
geschleppt. Von dem ganzen Lustspiel wurde aber nur ein Aufzug gespielt,
offenbar ein Bruchstück, denn ein Anfang und ein Ende fehlten, – die
waren verloren. Die Handlung spielt in Rußland, irgendwo auf einer
Poststation. Der Wirt führt einen Herrn in einem Mantel und einem
runden, mit Beulen versehenen Hut ins Zimmer. Ihm folgt sein Diener
Kedrill mit dem Reisekoffer und einem, in blaues Papier eingewickelten,
gebratenen Huhn. Kedrill ist im Halbpelz und hat nur eine Lakaienmütze
auf dem Kopf. Er ist der Vielfraß. Der Arrestant Pozeikin, der Gegner
Bakluschins, spielt ihn; den Herrn spielt derselbe Iwanoff, der im
ersten Stück die wohltätige Gutsbesitzerin dargestellt hatte. Der Wirt,
Nezwetajeff, fühlt sich aber verpflichtet, dem Herrn mitzuteilen, daß es
im Zimmer böse Geister gäbe, worauf er sich zurückzieht. Der Herr, der
finster und besorgt ist, brummt vor sich hin, daß er es schon lange
wisse, und befiehlt seinem Diener Kedrill, die Sachen auszupacken und
das Abendessen herzurichten. Kedrill ist ein Feigling und Vielfraß
zugleich: wie er von den bösen Geistern hört, erbleicht und zittert er
wie ein Espenblatt; er würde gern fortlaufen, fürchtet aber den Herrn.
Und hinzu kommt noch, daß er Hunger hat und essen will. Er ist ein
Leckermaul, ist dumm und schlau in seiner Art, betrügt seinen Herrn auf
Schritt und Tritt und hat doch Angst vor ihm. Er ist ein vorzüglicher
Dienertyp, in dem sich entfernt und etwas undeutlich Züge von Leporello
wiederfinden, und wird von Pozeikin vorzüglich wiedergegeben. Pozeikin
hat entschieden ein großes Talent und ist, meiner Ansicht nach, ein noch
besserer Schauspieler als Bakluschin. Als ich am nächsten Tage
Bakluschin traf, sagte ich ihm natürlich nicht ganz rückhaltlos meine
Meinung: ich hätte ihn gar zu sehr betrübt. Der Arrestant, der den Herrn
darstellte, war gleichfalls kein schlechter Spieler. Er sprach den
größten Unsinn zusammen, doch war seine Diktion richtig und gewandt, die
Gesten dementsprechend. Während Kedrill mit dem Koffer beschäftigt ist,
geht der Herr in tiefen Gedanken hin und her, und spricht vor sich hin –
laut genug, um von allen gehört zu werden –, daß an diesem Abend alle
seine Irrfahrten ihr Ende erreicht hätten. Kedrill horcht interessiert
auf, hört zu, schneidet Gesichter, spricht beiseite und bringt mit jeder
Bemerkung die Zuschauer zum Lachen. Ihm tut der Herr nicht leid, aber er
hat etwas von den bösen Geistern gehört und er will nun herausbekommen,
was man sich darunter zu denken habe. Er fragt seinen Herrn und es
entspinnt sich ein Gespräch. Schließlich erklärt ihm der Herr, daß er
einmal im Augenblick einer großen Gefahr die Hölle um Hilfe angerufen
habe und die Teufel ihm daraufhin geholfen hätten; heute aber sei die
Frist um und vielleicht würden sie, eingedenk der Abmachung, heute noch
kommen, um seine Seele abzuholen. Kedrill fällt sogleich das Herz in die
Hosen. Sein Herr jedoch verliert den Mut nicht und befiehlt ihm, das
Abendessen herzurichten. Bei dem Wort Abendessen belebt sich Kedrill, er
entnimmt das Huhn den Papierhüllen, dem Reisekoffer eine Flasche Wein –
und, und – eh er sich’s versieht – hat er selbst schon ein Stück vom
Huhn in den Mund geschoben und hinuntergeschluckt. Das Publikum lacht.
Da kreischt die Tür ein wenig und der Wind rüttelt an den Fensterläden.
Kedrill erzittert und schiebt, halb unbewußt, ein zweites Stück Fleisch
in den Mund, diesmal ein so großes, daß er fast daran erstickt. Wiederum
Gelächter. „Ist es fertig?“ fragt der Herr, der immer noch auf- und
abgeht. „Sofort, Herr ... ich will es Euch nur ... zubereiten,“
antwortet Kedrill, setzt sich selbst an den Tisch und schickt sich an,
das Essen seines Herrn zu verschlingen. Das Publikum freut sich über die
Schlauheit und Geschicklichkeit des Dieners, sowie auch darüber, daß der
Herr der Dumme ist. Ich muß gestehen, daß auch Pozeikins meisterhafte
Darstellung viel zur Komik beitrug: Die Worte: „Sofort, Herr ... ich
will es Euch nur ... zubereiten,“ sagte er unübertrefflich. Nachdem er
sich also an den Tisch gesetzt hat, macht er sich gierig ans Essen,
zuckt aber bei jedem Schritt des Herrn zusammen, in der Angst, jener
könne plötzlich aufblicken und ihn bemerken. Kaum hat sich jener
umgedreht, da kriecht er auch schon unter den Tisch und vergißt nicht,
das Huhn mitzunehmen. Endlich hat er seinen größten Heißhunger gestillt
und es wird Zeit, auch an den Herrn zu denken.

„Kedrill, bist du noch immer nicht fertig?“ schreit der Herr.

„Bin fertig!“ ist Kedrills prompte Antwort, da er plötzlich gewahr wird,
daß für den Herrn fast nichts mehr übriggeblieben ist. Auf dem Teller
liegt nur noch ein Hühnerbein. Der Herr setzt sich finster und besorgt
an den Tisch und bemerkt natürlich nichts. Kedrill steht mit der
Serviette hinter seinem Tisch. Jedes Wort, jede Handbewegung, jede
Grimasse Kedrills, wenn er, zum Publikum gewandt, mit dem Kopf auf den
dummen Herren weist, ruft bei den Zuschauern unbändiges Gelächter
hervor. Doch siehe, kaum will der Herr zu essen anfangen, da erscheinen
die bösen Geister auf der Bildfläche. Von hier an wird die Sache
unverständlich, und auch die Geister erscheinen nicht in der Gestalt,
wie das Volk sie sich vorstellt: in der Seitenkulisse öffnet sich eine
Tür und es erscheint eine weiße Gestalt, die an Stelle des Kopfes eine
Laterne mit einem Talglicht hat. Ein zweites Phantom, gleichfalls mit
einer Laterne als Kopf, hat eine Sense in der Hand. Warum die Laterne,
warum die Sense und warum sind die Geister in Weiß? Das kann sich
niemand erklären. Übrigens denkt aber auch niemand lange darüber nach.
Es muß wahrscheinlich wohl so sein, wenn es so ist. Der Herr wendet sich
ziemlich mutig gegen die Gespenster und schreit ihnen zu, daß er bereit
sei: sie sollten ihn nur nehmen. Kedrill aber ist erschrocken wie ein
Hase: er kriecht unter den Tisch, doch siehe da, wie groß sein Schreck
auch ist, er vergißt doch nicht, die Flasche vom Tisch mitzunehmen. Die
Geister verschwinden auf ein Weilchen; Kedrill kriecht unter dem Tisch
hervor, doch kaum hat sich der Herr wieder hingesetzt, da kommen
plötzlich wieder drei weiße Gestalten, die den Herrn hinterrücks
ergreifen und in die Hölle schleppen.

„Kedrill! Rette mich!“ schreit der Herr. Aber Kedrill ist es nicht um
ihn zu tun. Diesmal hat er sowohl die Flasche als den Teller mit dem
Hühnerbein und sogar das Brot mit unter den Tisch genommen. Jetzt ist er
allein, die Teufel sind fort, der Herr gleichfalls. Kedrill kriecht
unter dem Tisch hervor, besieht sich und ein Lächeln breitet sich über
sein Angesicht. Er blinzelt verschmitzt, setzt sich auf den Platz des
Herrn und sagt, dem Publikum zunickend, halblaut:

„Jetzt bin ich allein ... ohne Herrn! ...“

Alles lacht darüber, daß er ohne Herrn ist – er aber fügt noch flüsternd
hinzu, vertrauensvoll sich an die Zuschauer wendend und indem er immer
lustiger mit dem einen Auge blinzelt:

„Den Herrn haben ja die Teufel fortgeschleppt! ...“

Das Entzücken der Zuschauer ist grenzenlos! Ganz abgesehen davon, daß
den Herrn die Teufel fortgeschleppt haben, war das von Kedrill so
gesagt, mit einer so verschlagenen, höhnisch-triumphierenden Grimasse,
daß es in der Tat unmöglich war, nicht zu applaudieren. Doch das Glück
Kedrills währt nicht lange. Kaum hat er die Flasche entkorkt, sich
eingeschenkt und das Glas an die Lippen gesetzt, da kehren die Teufel
plötzlich zurück, schleichen sich leise an ihn heran und packen ihn
eins, zwei, drei um den Leib. Kedrill schreit aus voller Kehle, wagt
aber in der Angst nicht, sich auch nur einmal umzusehen. Verteidigen
kann er sich auch nicht: in seinen Armen hält er krampfhaft die Flasche
und das Glas, von denen er sich nicht zu trennen vermag. Mund und Augen
vor Entsetzen weit aufgerissen, sitzt und starrt er mit einem so maßlos
komischen Ausdruck feiger Angst ins Publikum, daß man ihn am liebsten
gemalt hätte, um diesen Gesichtsausdruck festzuhalten. Endlich wird er
hinausgeschleppt, mitsamt der Flasche und dem Glas: er zappelt mit den
Beinen und schreit, was er nur schreien kann. Sein Geschrei tönt auch
noch hinter der Kulisse fort. Doch der Vorhang fällt und alles lacht,
lacht, alle sind hingerissen ... Das Orchester setzt von neuem ein und
spielt jetzt die Kamarinskaja. Leise, kaum hörbar, beginnt die Musik,
dann aber wird sie immer lauter, das Tempo verschnellert sich,
rhythmisch und flott klingen die Schläge auf den Deckel der Balalaiken
dazwischen ... Das ist die Kamarinskaja mit ihrem ganzen Temperament,
und es wäre wirklich gut, wenn Glinka sie zufällig einmal bei uns im
Ostrogg gehört hätte.

Jetzt beginnt die Pantomime ... die Kamarinskaja wird weitergespielt,
denn es ist ja „Pantomime mit Musik“.

Die Bühne stellt das Innere einer Bauernwohnung dar. Auf der Szene sitzt
ein Müller mit seiner Frau. Der Müller sitzt in der einen Ecke und setzt
das Pferdegeschirr instand, das Weib sitzt in der anderen Ecke und
spinnt Flachs. Das Weib spielt Ssirotkin, den Mann Nezwetajeff.

Ich muß bemerken, daß unsere Dekorationen sehr dürftig waren. In diesem
wie auch in den beiden vorhergehenden Stücken mußte man sich mehr
hinzudenken, als man mit den Augen sah. Die Rückwand bildete eine Art
Teppich oder Pferdedecke, die rechte Seitenwand wurde durch einen alten
Bettschirm ersetzt. Links ist nichts vorgebaut, so daß man die
Kasernenwand und die Pritschen sieht. Aber die Zuschauer sind nicht
anspruchsvoll und gern bereit, die Wirklichkeit mit ihrer
Einbildungskraft zu vervollständigen, um so mehr, als die Arrestanten
äußerst fähig dazu sind. „Hat man dir gesagt, daß es ein Garten ist, so
hast du es für einen Garten zu halten, soll es ein Zimmer sein, dann ist
es eben ein Zimmer, eine Hütte, dann eine Hütte, – das bleibt sich ja
doch ganz gleich und viel gefragt wird nicht.“

Ssirotkin sieht in dem Kostüm des jungen Weibes ganz vorzüglich aus.
Unter den Zuschauern werden einige halblaute Komplimente an seine
Adresse laut. Der Müller hat seine Arbeit beendet, nimmt seine Mütze vom
Nagel, nimmt seine Peitsche, tritt zu seinem Weibe und gibt ihr durch
Zeichen zu verstehen, daß er jetzt gehen müsse, falls aber sie in seiner
Abwesenheit sich einfallen ließe, jemand zu empfangen, so – er zeigt ihr
vielsagend die Peitsche. Das Weib hört ihm aufmerksam zu und nickt
verständnisinnig mit dem Kopf: sie scheint die Peitsche bereits zu
kennen – ist sie doch schon des öfteren auf Abwege geraten. Der Mann
geht fort. Kaum hat sich die Tür hinter ihm geschlossen, so droht sie
ihm auch schon mit der Faust nach. Es vergeht eine Weile, – da wird
plötzlich leise geklopft: die Tür öffnet sich und herein tritt der
Nachbar, ein Mann in einem Kittel und mit langem Bart. In der Hand hat
er ein Geschenk: ein rotes Tuch. Das Weib lächelt erfreut. Doch bevor
noch der Nachbar sie umarmen kann, wird von neuem an die Tür geklopft.
Wohin mit ihm? Sie schiebt ihn eilig unter den Tisch und setzt sich
schnell an ihr Spinnrad. Ein zweiter Verehrer erscheint: er ist
Schreiber und steckt in einem Uniformrock. Bis dahin war die Pantomime
tadellos gewesen, jede Bewegung bis ins kleinste richtig. Man konnte
sich wirklich nur wundern, wenn man auf diese improvisierten Künstler
sah, und unwillkürlich dachte man: wieviel Kraft und Talent geht bei uns
in Rußland nutzlos verloren und wieviel Menschen gehen unter in
Unfreiheit und Zwangsarbeit! ... Doch der Arrestant, der den Schreiber
spielte, hatte wahrscheinlich ein Provinz- oder Liebhabertheater
gesehen, und so war er wohl der Meinung, daß alle unsere Schauspieler
von der ganzen Kunst nichts verstünden und nicht so gingen, wie man auf
der Bühne gehen müsse. Und da trat er nun selbst auf und schritt einher,
wie, nach dem Hörensagen, in alten Zeiten die klassischen Helden über
die Bühne geschritten sind: er macht einen langen Schritt und bleibt
stehen, noch bevor er das andere Bein aufhebt, wirft er den Kopf zurück,
biegt die Brust heraus, umfaßt, was im Halbkreise vor ihm ist, mit
stolzem Blick, und – macht den zweiten Schritt. Ist eine solche Gangart
schon bei dem klassischen Helden auf einer klassischen Bühne lächerlich,
um wieviel mehr war sie es dann bei einem Militärschreiberlein in einer
Pantomime. Unser Publikum jedoch glaubte, daß es sicherlich so sein
müsse und nahm die langen Schritte des Schreibers mit vollem Ernst auf,
ohne an eine Kritik auch nur zu denken. Doch noch war der Schreiber
nicht bis zur Mitte des Zimmers gekommen, da hört man schon wieder
klopfen. Die Müllerin ist völlig ratlos. Wohin mit dem Schreiber? –
Schnell in die Truhe, die zum Glück nicht verschlossen ist. Der
Schreiber kriecht in die Truhe und sie drückt den Deckel zu. Diesmal
erscheint ein besonderer Gast, der zwar gleichfalls verliebt ist, aber
sich doch von den anderen unterscheidet: es ist ein Brahmine und er
erscheint sogar in einem echten Kostüm. Unbändiges Gelächter begrüßt ihn
von Seiten der Zuschauer. Den Brahminen spielt der Arrestant Koschkin,
und er spielt ihn vortrefflich. Er hat ein echtes Brahminengesicht.
Mittels verschiedener Gesten erklärt er ihr den Grad seiner
Verliebtheit: er erhebt die Hände zum Himmel, preßt sie auf die Brust,
auf das Herz: doch kaum ist er so recht zärtlich geworden, – da ertönt
ein starker Schlag gegen die Tür. Bereits am Schlage hört man, daß es
der Hausherr ist. Die entsetzte Müllerin verliert vor Schreck gänzlich
den Kopf, und der Brahmine ringt jetzt vor Verzweiflung die Hände, läuft
im Kreise herum und fleht, ihn zu verstecken. Sie schiebt ihn schnell
hinter den Schrank und eilt dann selbst, ohne die Tür zu öffnen, wieder
zu ihrem Spinnrocken und spinnt und spinnt, ohne auf die Schläge ihres
Mannes gegen die Tür zu achten, und in der Aufregung spinnt sie einen
Faden, den sie gar nicht in der Hand hat, und dreht die Spindel, die sie
vom Fußboden aufzuheben vergißt. Ssirotkin wußte den Schreck und die
Kopflosigkeit vorzüglich darzustellen.

Doch da schlägt der Mann die Tür mit dem Fuß ein und tritt mit der Knute
in der Faust zu seiner Frau. Er weiß alles, denn er ist die ganze Zeit
auf der Lauer gewesen, und zeigt ihr mit den Fingern, daß drei bei ihr
versteckt sind. Nun beginnt das Suchen nach den Versteckten. Zuerst
findet er den Nachbar, den er mit Püffen zur Tür hinausstößt. Der
erschrockene Schreiber würde gern entfliehen, hebt aber, um Ausschau zu
halten, zu früh den Kopf und mit ihm den Deckel auf und verrät sich auf
diese Weise selbst. Der Hausherr peitscht ihn tüchtig mit der Knute und
diesmal springt der verliebte Schreiber durchaus nicht mehr klassisch
umher. Jetzt bleibt noch der Brahmine. Der Hausherr sucht ihn lange, bis
er ihn schließlich hinter der Schrankecke entdeckt: er macht ihm zuerst
eine höfliche Verbeugung, erfaßt dann seinen Bart und zieht ihn bis in
die Mitte der Stube. Der Brahmine versucht sich zu verteidigen, schreit:
„Du Verfluchter, du Verfluchter!“ (die einzigen Worte, die in der ganzen
Pantomime gesagt werden), aber der Müller achtet nicht darauf und
verfährt mit ihm nach eigenem Gutdünken. Die Müllerin, die da sieht, daß
nun die Reihe an sie kommt, läßt ihre Arbeit im Stich und läuft fort:
der Spinnrocken fällt polternd hin, die Spindel rollt über den Fußboden
und die Zuschauer wiehern vor Vergnügen. Alei zerrt mich an der Hand und
ruft mir, ohne mich anzusehen, begeistert zu: „Sieh, der Brahmine, der
Brahmine!“ kann sich aber selbst vor Lachen kaum halten. Der Vorhang
fällt. Eine neue Pantomime beginnt.

Doch wozu alle Szenen beschreiben. Es gab ihrer noch zwei oder drei,
alle von unverfälschter Komik und vorzüglich gespielt. Wenn die
Arrestanten sie auch nicht selbst erfunden hatten, so legten sie doch in
jedes Stück einen Teil von sich hinein. Jeder einzelne Schauspieler
improvisierte noch von sich aus hinzu, und so wurde ein und dieselbe
Rolle an jedem Abend anders gespielt. Die letzte Pantomime, mehr
phantastischen Inhalts, endete mit einem Ballett, das zugleich den
Abschluß der ganzen Theateraufführung bildete. Ein Toter sollte begraben
werden. Der Brahmine macht mit zahlreicher Dienerschaft verschiedene
Gesten über dem Sarge, um den Toten zu erwecken, aber es hilft nichts.
Endlich ertönt der Ruf: „Die Sonne geht unter!“ und siehe da, der Tote
erwacht und die Leidtragenden fangen vor Freude an zu tanzen. Der
Brahmine tanzt mit der Leiche und zwar auf ganz besondere Art, nämlich
brahminisch. Und damit schließt das Theater bis zum nächsten Abend. Die
Zuschauer gingen lachend und vollauf befriedigt auseinander, lobten die
Schauspieler und dankten dem Offizier. Von Streit oder Wortwechsel ist
nichts zu hören. Alle sind ganz ungewöhnlich zufrieden, ja sie scheinen
sogar glücklich zu sein und sie schlafen auch ganz anders ein, als
sonst, als wäre ihr unruhiger Geist diesmal beruhigt. Und was war die
Veranlassung dazu? Es ist kein eingebildeter Trugschluß von mir, sondern
volle Wahrheit, wenn ich sage: weil man diesen armen Menschen einmal
nach ihrer Art zu leben erlaubt hatte, einmal sich menschlich des Lebens
zu freuen, einmal, und wenn’s auch nur eine Stunde lang war, nicht nach
der Ostroggvorschrift leben zu müssen – der ganze Mensch veränderte sich
sichtlich, wenn diese Veränderung auch nur von kurzer Dauer war ...
Inzwischen ist es schon Nacht geworden, Mitternacht. Ich zucke zusammen
und erwache zufällig: der Alte betet immer noch auf dem Ofen und wird
wohl noch bis zum Morgenrot beten. Alei schläft still und ruhig neben
mir. Ich denke daran, wie er noch vor dem Einschlafen lachte und mit den
Brüdern über das Theater sprach, und ich betrachtete unwillkürlich sein
liebes Kindergesicht. Allmählich steigen in mir die Bilder der jüngst
vergangenen Zeit auf: der letzte Tag, das Weihnachtsfest, dieser ganze
Monat ... erschrocken hebe ich den Kopf und betrachte beim trüben,
zitternden Schein der Talgkerze meine schlafenden Genossen. Ich sehe
ihre armen Gesichter, sehe ihre armseligen Lagerstätten, sehe diese
ganze trostlose Armut und Nacktheit – ich sehe und sehe, als wollte ich
mich überzeugen, daß es nicht nur die Fortsetzung eines greulichen
Traumes ist, sondern Wahrheit, Wirklichkeit. Aber es ist, es ist
Wahrheit! Da höre ich ein Stöhnen im Schlaf; dort hat einer den Arm
schwer hinter den Kopf geworfen, die Kette klirrt. Ein anderer zuckt im
Schlaf zusammen und phantasiert ein paar Worte. Der Greis aber auf dem
Ofen betet für alle rechtgläubigen Christen, und ich vernehme wieder
sein gleichmäßiges, ruhiges, stilles: „Herr Jesus Christ, erbarme dich
unser! ...“

„Aber ich bin ja doch nicht auf ewig hier, ich bin hier ja nur auf ein
paar Jahre!“ denke ich und mein Kopf sinkt wieder auf das Kissen zurück.




                              Zweiter Teil


                                   I.

                             Das Lazarett.

Bald nach dem Weihnachtsfest erkrankte ich und kam in unser
Militärlazarett. Dasselbe lag ganz einsam draußen im Felde, eine halbe
Werst von der Festung entfernt. Es war ein langgestrecktes einstöckiges
Gebäude, von außen mit gelber Farbe angestrichen; wenn im Sommer die
Anstricharbeit vorgenommen wurde, ging viel Ocker zum Anstrich auf. Auf
dem großen Lazaretthof lagen die Wirtschaftsgebäude, die Dienstwohnungen
für die Medizinalbehörde und ähnliche nützliche Baulichkeiten. In dem
Hauptgebäude befanden sich aber nur die Krankensäle. Dieser Säle gab es
im ganzen sehr viele, doch waren von ihnen nur zwei für die Arrestanten
abgeteilt, die das ganze Jahr und namentlich im Sommer sehr voll lagen,
so daß man nicht selten die Betten zusammenrücken mußte.

Diese beiden Krankensäle der Arrestantenabteilung wurden von aller Art
„unglücklichem Volke“ heimgesucht. Es kamen dorthin die erkrankten
Sträflinge aus dem Ostrogg, Soldaten, die unter Anklage standen, zu
einer Körperstrafe Verurteilte oder bereits Bestrafte, sowie unterwegs
Erkrankte, die noch weiter marschieren mußten; ferner gab es dort auch
welche aus der Strafkompagnie, aus diesem sonderbaren Institut, in das
die nicht ganz zuverlässigen Soldaten zur Besserung hineingesteckt
werden und aus dem sie nach Verlauf von zwei oder mehr Jahren gewöhnlich
als solche Taugenichtse zurückkehren, wie man sie nur selten findet.

Fühlte sich einer der Arrestanten nicht wohl, so ging er – gewöhnlich
früh am Morgen – zum Unteroffizier und meldete sich krank. Er wurde
sofort ins Krankenbuch eingeschrieben und mit diesem Buch unter Eskorte
ins Lazarett geschickt. Dort untersuchte der Arzt alle Neueingetroffenen
aus sämtlichen Militärkommandos, die in der Festung lagen, schrieb
jeden, den er für tatsächlich krank befand, ins Lazarettbuch ein und
schickte ihn in den Krankensaal seiner Abteilung. Auch ich wurde von dem
Unteroffizier in das Buch eingetragen und um zwei Uhr nachmittags, als
die anderen schon zur Arbeit abmarschiert waren, ging ich ins Lazarett.
Der erkrankte Arrestant nahm in der Regel noch so viel Geld mit, wieviel
er nur hatte, außerdem Brot, da er an diesem Tage im Lazarett kein
Mittagessen mehr erwarten konnte, und wenn er Raucher war, noch eine
möglichst kleine Pfeife, Tabak, Feuerstein und Zündbüchse. Diese
letzteren Gegenstände wurden sorgfältig in den Stiefeln verborgen. Ich
betrat den Lazaretthof, nicht ohne ein gewisses neugieriges Interesse
für diese mir noch unbekannte Abwechselung unseres Arrestantenlebens.

Es war ein warmer, trüber, trauriger Tag – einer jener Tage, an denen
Gebäude wie Krankenhäuser immer einen traurigen und griesgrämigen
Eindruck machen. Ich trat zusammen mit dem Soldaten in das
Empfangszimmer, in dem zwei kupferne Wannen standen und bereits zwei
Kranke, unter Anklage Stehende, mit ihren Begleitssoldaten warteten.
Der Feldscher trat ein, besah uns mit Faulheit verratendem
Vorgesetztenhochmut und begab sich darauf mit noch größerer Faulheit zum
diensttuenden Arzt. Dieser erschien sehr bald, untersuchte uns, ging
sehr freundlich mit uns um, und stellte einem jeden den Krankenbericht
aus. Die weitere Untersuchung, die Bestimmung der Arznei, der Kost usw.
war Sache des Arztes, der die Arrestanten-Abteilung unter sich hatte.
Ich hatte schon gehört, daß die Sträflinge ihre Ärzte nicht genug loben
konnten. „Wie Väter!“ sagten sie mir auf meine Fragen vor meinem Abgang
ins Lazarett. Wir kleideten uns um. Die Wäsche und die Kleider, in denen
wir gekommen waren, wurden uns abgenommen. Wir erhielten Hospitalwäsche,
lange Strümpfe, Pantoffeln, Schlafmützen und Schlafröcke aus dickem,
braunem Tuch, die mit einem halb leinwand-, halb pflasterartigen Zeuge
gefüttert waren. Der ganze Rock war äußerst schmutzig, doch das bemerkte
ich erst, als ich schon in ihm stak. Nach dem Kleiderwechsel wurden wir
in die Krankensäle der Arrestantenabteilung geführt, die ganz am Ende
eines überaus langen, hohen und sauberen Korridors lagen. Die äußere
Sauberkeit war überall sehr zufriedenstellend: alles, was uns auf den
ersten Blick ins Auge fiel, glänzte geradezu vor Sauberkeit. Übrigens
konnte es mir auch nur so scheinen nach den Kasernen im Ostrogg. Die
beiden unter Anklage Stehenden kamen in die Arrestantenkrankenstube
links, ich in die Stube rechts. Vor der Tür, die durch einen eisernen
Bolzen zugehalten wurde, stand eine Schildwache mit geladenem Gewehr und
neben ihm ein anderer Soldat, die Nebenwache, die die Schildwache im
Notfall abzulösen hat. Der jüngere Unteroffizier der Lazarettwache
befahl, mich in die Stube zu lassen. Ich trat in ein langes und schmales
Zimmer, in dem an beiden Längswänden die Betten standen, ich glaube,
zweiundzwanzig an der Zahl, und von denen nur drei oder vier nicht
besetzt waren. Die Betten waren von Holz, grün angestrichen, Betten, die
in Rußland allen und jedem nur zu gut bekannt sind, da sie infolge einer
gewissen Vorherbestimmung nie und nimmer ohne Wanzen sind. Ich wählte
mir ein Bett in der Ecke an der Wand, in der die Fenster waren.

Wie ich schon bemerkt habe, lagen hier unter den Kranken auch Sträflinge
aus unserem Ostrogg. Einige von ihnen kannten mich bereits oder hatten
mich wenigstens gesehen. Die Mehrzahl aber bestand aus Gefangenen, denen
eine Strafe bevorstand, und aus Soldaten der Strafkompagnie.
Schwerkranke oder solche, die das Bett nicht verlassen konnten, gab es
nicht viel. Die anderen, nur leicht Erkrankten und die Rekonvaleszenten
saßen entweder auf ihren Bettstellen oder sie gingen im Zimmer auf und
ab, in dem schmalen Gang zwischen den Bettreihen, der aber noch breit
genug zum Durchgehen war. Es war eine drückende, schwüle
Krankenzimmerluft im Raum, geschwängert von allen nur möglichen
unangenehmen Ausdünstungen der Kranken und den verschiedenen Arzneien,
zumal der Ofen in der einen Ecke den ganzen Tag geheizt wurde. Auf
meinem Lager war ein gestreifter Überzug, den ich abnahm. Unter dem
Überzug war eine Bettdecke von Tuch mit Leinwand gefüttert und
Bettwäsche von grober Leinwand und sehr zweifelhafter Sauberkeit. Neben
jedem Lager stand ein kleiner Tisch, auf dem sich ein Krug und eine
zinnerne Tasse befanden, die beide mit einem ziemlich kleinen Handtuch,
das man auch mir ausgehändigt hatte, der Sauberkeit halber überdeckt
werden mußten. Unten hatte der Tisch noch ein Brett, auf das die
Teetrinker ihre Teekessel, andere wieder Holzkannen mit Kwas und noch
verschiedenes Gerät stellten; doch gab es unter den Kranken nur sehr
wenige, die Tee tranken. Die Pfeifen und Tabaksbeutel dagegen, die fast
ein jeder bei sich hatte, selbst die Schwindsüchtigen nicht ausgenommen,
wurden unter den Matratzen versteckt. Die Ärzte und die Krankenwärter
durchsuchten dieselben nie nach verbotenen Sachen, und überraschten sie
einmal einen mit der Pfeife, so taten sie, als bemerkten sie nichts.
Aber auch die Kranken waren immer sehr vorsichtig mit dem Rauchen und
gingen dann immer zum Ofen. Höchstens in der Nacht wurde auf den Betten
liegend geraucht, aber nachts kam niemand in die Krankenstuben, außer
dem wachhabenden Offizier der Hospitalwache, der jedoch nur einmal die
Runde machte.

Ich hatte bis dahin noch nie in einem Hospital gelegen und so war mir
die ganze Umgebung, die Einrichtung, die Disziplin neu. Auch fiel mir
auf, daß ich die Neugier der anderen erregte. Man hatte von mir schon
gehört und betrachtete mich sehr ungeniert, sogar mit einer gewissen
Überlegenheit, wie in der Schule ein Neueingetretener oder im
Sitzungssaal ein Bittsteller betrachtet wird.

Rechts von mir lag ein Schreiber, der uneheliche Sohn eines
verabschiedeten Hauptmanns. Er war Falschmünzer gewesen und lag schon
ein Jahr lang im Lazarett, ohne, wie ich glaube, überhaupt krank zu
sein, doch hatte er den Ärzten versichert, er leide an den Nerven und
damit das Gewünschte erreicht: die Zwangsarbeit und die körperliche
Züchtigung blieben ihm erspart und nach Verlauf eines weiteren Jahres
wurde er nach T–k geschickt, um dort in einem Hospital als Aufwärter
untergebracht zu werden. Er war ein vierschrötiger, kräftiger Bursche
von achtundzwanzig Jahren, ein großer Spitzbube und Rechtsverdreher vor
dem Herrn, nichts weniger als dumm, sehr unterhaltsam und selbstbewußt,
und krankhaft selbstgefällig. Er hatte sich allen Ernstes versichert,
daß er der ehrlichste und wahrheitsliebendste Mensch der Welt und
vollständig unschuldig sei, und in diesem Glauben verblieb er bis an
sein Ende in unerschütterlicher Überzeugung. Er war der erste, der ein
Gespräch mit mir anknüpfte, mich neugierig auszuforschen suchte und mich
ziemlich ausführlich über die äußeren Ordnungsregeln des Hospitals
aufklärte. Selbstverständlich hatte er mir schon vorher mitgeteilt, daß
er der Sohn eines Hauptmanns sei. Er wollte ungeheuer gern zu den
Adligen gezählt werden oder doch wenigstens zu den „Besseren“. Nachdem
er verstummt war, kam einer aus der Strafkompagnie zu mir, setzte sich
hin und begann zu erzählen, daß er viele von den früher verschickten
Adligen gekannt habe, und er nannte sie alle mit dem Taufnamen. Er war
ein bereits ergrauter Soldat, auf dessen Gesicht es förmlich geschrieben
stand, daß er alles log. Er hieß Tschekunoff. Offenbar wollte er sich
bei mir einschmeicheln, da er wahrscheinlich Geld bei mir vermutete. Als
er darauf in der Tat bemerkte, daß ich ein Päckchen Tee und Zucker bei
mir hatte, bot er mir sofort seine Dienste an: einen Teekessel zu
verschaffen und den Tee aufzusetzen. Nun hatte mir aber schon M–tzkij
versprochen, am nächsten Tage durch die Arrestanten, die auf den
Lazaretthof arbeiteten, aus dem Ostrogg einen Teekessel zu schicken.
Doch ungeachtet meiner Einwendung, besorgte Tschekunoff in kürzester
Zeit alles, was nötig war. Er brachte ein gußeisernes Gefäß, sogar eine
Tasse, ließ das Wasser aufkochen und goß es über die Teeblätter, – kurz,
er bediente mich mit ungewöhnlichem Eifer, was ihm sogleich von einem
anderen Kranken einige beißend spöttische Bemerkungen eintrug. Dieser
Kranke war ein Schwindsüchtiger, der mir gegenüber an der anderen Wand
lag, Ustjänzeff mit Namen, ein Soldat – er war derselbe, der in der
Angst vor der bevorstehenden Körperstrafe einen Liter Branntwein mit
Tabak ausgetrunken und sich durch diesen Trank sein Lungenleiden
zugezogen haben sollte. Bis jetzt hatte er schweigend und schweratmend
dagelegen, mich unverwandt und mit ernstem Blick beobachtet und unwillig
jede Bewegung Tschekunoffs verfolgt. Sein ungeheurer, galliger Ernst
verlieh seinem Unwillen etwas überaus Komisches. Endlich hielt er es
nicht mehr aus:

„Sieh doch einer diesen Knecht! Da hat er jetzt glücklich einen Herrn
gefunden!“ sagte er langsam mit Zwischenpausen und mit einer Stimme, die
vor Erregung atemlos zu sein schien. Seine Tage waren bereits gezählt.

Tschekunoff wandte sich unwillig zu ihm.

„Wer ist hier ein Knecht?“ fragte er mit verächtlichem Blick auf ihn.

„Du natürlich!“ antwortete dieser in so überzeugtem Ton, als hätte er
das volle Recht gehabt, Tschekunoff zu schimpfen, ja als wäre er einzig
zu diesem Zweck angestellt.

„Ich ein Knecht?“

„Gerade du. Hört doch, Kinder, er glaubt’s nicht einmal! Wundert sich
noch!“

„Was geht das dich an! Siehst doch, daß er allein ist und sich nicht
selbst bedienen kann – und daß er nicht gewohnt ist, ohne Diener zu
sein, das weiß man doch! Weshalb soll ich ihm da nicht gefällig sein, du
borstige Schnauze!“

„Wer ist eine borstige Schnauze?“

„Du, natürlich!“

„Ich soll eine borstige Schnauze sein?“

„Selbstverständlich du.“

„Und du bist wohl eine Schönheit? Hast selber ein Gesicht wie ein
Krähenei ... wenn ich eine borstige Schnauze sein soll.“

„Sei getrost, die bist du! Da hatte ihn doch Gott schon halbtot gemacht.
Aber nein, da muß er wieder schwatzen! Was machst du dich denn so
breit?“

„Breit! Nein, ich, wißt ihr, verbeuge mich lieber vor einem Stiefel als
vor einem Bastschuh. Mein Vater hat es auch nicht getan und auch mir
befohlen ... ich ... ich ...“

Er wollte noch mehr sagen, begann aber entsetzlich zu husten. Der
Hustenanfall dauerte mehrere Minuten lang an. Er spie sogar Blut. Bald
trat auch kalter, quälender Schweiß auf seiner schmalen Stirn hervor.
Diese Hustenanfälle verhinderten ihn zu sprechen, sonst würde er
ununterbrochen gesprochen haben; man sah es deutlich seinen Augen an,
daß er noch gern den anderen geschimpft hätte, aber in der
Kraftlosigkeit konnte er nur noch mit der Hand einmal abwinken – doch
Tschekunoff hatte ihn fast schon vergessen.

Mein Gefühl sagte mir, daß die Wut des Schwindsüchtigen eher auf mich
gerichtet war, als auf Tschekunoff, denn wegen seines Wunsches, mir
gefällig zu sein, um eine Kopeke zu verdienen, hätte sich niemand über
ihn geärgert oder ihn mit Verachtung behandelt. Und zudem sah doch ein
jeder, daß er es nur um des Geldes willen tat. In dieser Hinsicht ist
das einfache Volk durchaus nicht so pedantisch und versteht es sehr
fein, die Sache vom gesunden Standpunkt aufzufassen. Was Ustjänzeff
mißfiel, das war ich, ich und mein Tee, und daß ich selbst in Fesseln
als Herr auftrat, der nicht ohne Bedienung auskommen kann, obgleich ich
gar nicht um Bedienung gebeten oder überhaupt welche auch nur gewünscht
hatte. In der Tat, ich wollte immer alles selbst machen und besonders
bemühte ich mich, mir niemals den Anschein zu geben, daß ich ein
verzärtelter, anspruchsvoller „Herrensohn“ sei. Darin bestand teilweise
sogar mein ganzer Ehrgeiz, was ich ruhig gestehen will, da hier einmal
die Rede davon ist. Dennoch konnte ich niemals – ich weiß wirklich
nicht, wie das kam – die verschiedenen Dienstgefälligen und Diener, die
sich mir ungebeten aufdrängten, ablehnen, und so wurde ich zuguterletzt
immer von ihnen beherrscht, anstatt daß ich sie beherrschte – so daß in
Wirklichkeit sie meine Herren und ich ihr Diener war. Äußerlich aber
hatte es den Anschein, als könne ich nicht ohne Bedienung auskommen, und
wolle auch hier, in Ketten, den Herrn spielen. Das war mir natürlich
sehr unangenehm. Ustjänzeff aber war ein schwindsüchtiger, reizbarer
Mensch, die übrigen Kranken wahrten dabei durchaus den Anschein des
Gleichmuts, dem sogar gewisses Gepräge von Hochmut nicht fehlte. Ich
entsinne mich noch, daß sie damals alle ein besonderer Umstand
beschäftigte: wie ich aus ihren Gesprächen erfuhr, sollte man noch am
selben Abend einen bringen, den man gerade jetzt mit Spießruten
bestrafte. Die Kranken erwarteten den Betreffenden nicht ohne eine
gewisse Neugier. Übrigens sagten sie, daß die Strafe eine geringe sei:
im ganzen nur fünfhundert Hiebe.

Inzwischen hielt ich ein wenig Umschau. Soviel ich erkennen konnte,
waren die meisten Skorbut- und Augenkranke, – das waren die beiden
vorherrschenden Krankheiten in jener Gegend. Von den anderen wirklich
Kranken lagen fast alle an Influenza, Fieber, Brustleiden darnieder.
Hier in unserer Abteilung war es nicht so wie in den anderen
Krankenräumen, hier waren alle Krankheiten in einem Zimmer zusammen,
sogar die venerischen. Ich habe „von den _wirklich_ Kranken“ gesagt, da
es unter den Kranken auch einige gab, die ohne krank zu sein gekommen
waren – einfach um sich zu „erholen“. Die Ärzte ließen sie aus Mitleid
gern zu, besonders wenn viele Betten leer standen. In der Strafkompagnie
und im Ostrogg war die Verpflegung im Vergleich zum Lazarett so
schlecht, daß viele mit Vergnügen kamen und hier lagen, trotz der
abgeschlossenen Luft und der Unmöglichkeit, das Zimmer zu verlassen. Es
gab sogar besondere Liebhaber des Liegens und überhaupt des
Lazarettlebens, die meisten allerdings aus der Strafkompagnie.

Neugierig betrachtete ich meine neuen Kameraden und, ich weiß noch, das
größte Interesse erregte in mir ein Schwindsüchtiger aus unserem
Ostrogg, der bereits in den letzten Zügen lag, – im zweiten Bett neben
Ustjänzeff, also mir fast gegenüber. Er hieß Michailoff und ich hatte
ihn noch vor zwei Wochen im Ostrogg gesehen. Er war schon lange krank
und hätte schon längst ins Lazarett gehen müssen, er aber bezwang sich
mit einer geradezu eigensinnigen und doch völlig nutzlosen Energie, nahm
jedenfalls alle seine Kräfte zusammen und ging erst zum Weihnachtsfest
ins Lazarett, um dann nach drei Wochen an der Schwindsucht zu sterben.
Mir fiel sein entsetzlich verändertes Gesicht auf, – ein Gesicht, das
mir bei meinem Eintritt in den Ostrogg als eines der ersten aufgefallen
war; ich weiß noch, es stach mir damals geradezu ins Auge. Neben ihm lag
ein Soldat aus der Strafkompagnie, ein schon alter Mann, ein
grauenvoller, ekelerregender Schmutzfink ... Aber ich kann ja
schließlich nicht alle Kranken aufzählen ... Ich habe dieses Alten
einzig aus dem Grunde Erwähnung getan, weil er damals einen nicht
geringen Eindruck auf mich machte und mir in kürzester Zeit eine
recht anschauliche Vorstellung von gewissen Eigenheiten des
Arrestantenlazaretts gab. Dieser Alte hatte gerade den stärksten
Schnupfen. Er nieste fortwährend, nieste eine ganze Woche hindurch, und
sogar im Schlaf in förmlichen Salven fünf bis sechsmal nacheinander,
wozu er jedesmal gewissenhaft sagte: „Gott, daß es auch solche Strafen
gibt!“ Er saß auf seinem Bett und stopfte sich eifrig die ganze Nase mit
Tabak voll, den er einer Papierdüte entnahm, um gründlicher und
regelmäßiger niesen zu können. Er nieste in ein karriertes, baumwollenes
Schnupftuch – das sein persönliches, schon hundertmal gewaschenes,
gänzlich ausgeblichenes Eigentum war, – wobei sich seine kleine Nase
eigentümlich kraus zog, in unzählige, feine Runzeln, und die Stummeln
seiner schwarzgewordenen, alten Zähne mitsamt dem roten, schleimigen
Zahnfleisch sichtbar wurden. Hatte er sich dann ausgeniest und
ausgeschnaubt, so breitete er sofort das Tuch auseinander, besah
aufmerksam die darin reichlich angesammelte Feuchtigkeit, die er dann an
seinem braunen Lazarettschlafrock abwischte, so daß die ganze
Feuchtigkeit am „Staatseigentum“ kleben blieb, sein eigenes Taschentuch
aber nur feucht wurde. Dasselbe tat er ununterbrochen die ganze Woche,
so lange wie sein Schnupfen währte. Dieses mehr als geizige Schonen des
eigenen Schnupftuchs zum Nachteil des von der Regierung gelieferten
Krankenschlafrocks rief in den übrigen Kranken nicht den geringsten
Protest hervor, obgleich doch auch von ihnen jemand in der Folge diesen
Rock erhalten konnte. Aber unser einfaches Volk ist eben sehr genügsam
und bis zur Sonderbarkeit ekelfrei. Mich aber überlief ein Gruseln in
jenem Augenblick, und unwillkürlich begann ich voll Angst, Abscheu und
Neugier den soeben von mir angezogenen Schlafrock zu betrachten. Da erst
wurde ich gewahr, daß er schon seit längerer Zeit durch seinen ziemlich
starken Geruch meine Aufmerksamkeit reizte – ohne daß es mir jedoch zum
Bewußtsein gekommen wäre. Er war auf mir inzwischen warm geworden und so
roch er immer stärker nach Arzneien, Pflastern und, wie mir schien,
einer gewissen Fäulnis, was ja schließlich ganz erklärlich erschien, da
er sicherlich seit undenklichen Zeiten von den Schultern der Kranken
nicht heruntergekommen war. Vielleicht war das leinwandartige
Rückenfutter auch einmal gewaschen worden, genau aber ließ sich so etwas
nicht feststellen. Jedenfalls war dieses Futter von allen nur denkbaren
unangenehmen Säften durchtränkt, von dem Wasser, das Kompressen,
spanischen Fliegen und anderen Umschlägen entfließt. Zudem kamen in
diese Arrestantenabteilung des Militärlazaretts sehr oft Bestrafte,
deren Rücken von Spießrutenstreichen und Stockschlägen wund waren. Sie
wurden mit Kompressen behandelt und daher konnte auch der Schlafrock,
der direkt auf das nasse Hemd kam, nicht trocken bleiben, und alle
Feuchtigkeit, die er aufsog, trocknete allmählich in ihn hinein. So ist
es wohl begreiflich, daß ich jedesmal, wenn ich in all diesen Jahren ins
Lazarett kam – und ich kam ziemlich oft dorthin – mit ängstlichem
Mißtrauen den Schlafrock in Empfang nahm. Doch am wenigsten gefielen mir
die in diesen Schlafröcken sich mitunter vorfindenden Läuse von ganz
besonderer Größe und Wohlgenährtheit. Die Arrestanten akzeptierten sie
mit schadenfrohem Hochgenuß, und wenn unter dem harten, plumpen Nagel
des Arrestantenfingers eines dieser gefangenen Tiere mit einem Knall
sein Leben aufgab, so ließ sich sogar am Gesichtsausdruck des Henkers
die ganze Größe der von ihm empfundenen Genugtuung ermessen. Ebenso
wurden bei uns auch die Wanzen gehaßt, und es kam nicht selten vor, daß
an einem langen, langweiligen Winterabend die ganze Mannschaft sich zu
einem Vernichtungskampf gegen dieses Ungeziefer zusammentat. Mit einem
Wort, äußerlich war im Zimmer alles – abgesehen von der schweren Luft –
nach Möglichkeit sauber und gut – nur daß mit der Sauberkeit des
Unterfutters, wie gesagt, leider kein Luxus getrieben wurde. Die Kranken
hatten sich daran gewöhnt und glaubten wahrscheinlich, daß es gerade so
sein müsse, und überdies waren auch keine besonderen Vorkehrungen zur
Erhaltung der Sauberkeit getroffen. Doch davon später.

Kaum hatte mir Tschekunoff den Tee gebracht – zu dem er, nebenbei
bemerkt, das Wasser aus dem Vorrat unserer Krankenstube genommen hatte,
Wasser, das nur einmal in ganzen vierundzwanzig Stunden gebracht wurde
und in der stickigen Luft bald verdarb, – als sich mit einem gewissen
Geräusch die Tür öffnete und ein soeben mit Spießruten gezüchtigter
Soldat unter verstärkter Eskorte hereingeführt wurde. Da sah ich zum
erstenmal einen in dieser Weise Bestraften. Sie wurden im allgemeinen
sehr oft gebracht oder hereingetragen, wenn es Schwerbestrafte waren,
und die Ankunft eines solchen war für die Kranken stets eine große
Zerstreuung. Nichtsdestoweniger wurden sie mit sehr strenger Miene und
mit einem, ich möchte sagen, forzierten Ernst empfangen. Übrigens hing
der Empfang bis zu einem gewissen Grade von der Größe des Vergehens und
folglich auch von der Größe der Strafe ab. Ein schwer Bestrafter und
seinem Ruf nach großer Verbrecher genoß auch größere Hochachtung und
größere Aufmerksamkeit, als irgend so ein entflohener Soldat, wie zum
Beispiel der, den man in jenem Augenblick hereinführte. Doch wurden
weder in diesem noch in einem anderen Fall mitleidige Worte oder sonst
welche diesbezügliche Bemerkungen geäußert. Schweigend halfen sie dem
Armen und pflegten ihn, namentlich wenn er nicht ohne Hilfe auskommen
konnte. Auch die Feldscher schienen schon zu wissen, daß sie den
Gezüchtigten geübten und geschickten Händen übergaben.

Diese Hilfe bestand gewöhnlich in der ziemlich oft erforderlichen
Erneuerung der Kompressen, einem Bettuch oder Hemde, das in kaltes
Wasser getaucht, nur ein wenig ausgewrungen und auf den zerfleischten
Rücken gelegt wurde, wenn der Bestrafte selbst nicht mehr imstande war,
auf das Trockenwerden derselben zu achten, – und ferner im geschickten
Herausziehen der Splitter aus dem Schorf der Wunden. Diese Splitter
rührten von den Stöcken her, die auf dem Rücken des Betreffenden beim
Schlage zerbrochen waren. Das Herausziehen derselben ist dem Kranken
gewöhnlich sehr unangenehm, doch hat mich immer die ungewöhnliche
Standhaftigkeit im Ertragen eines physischen Schmerzes, wie ich sie bei
diesen Arrestanten sah, nicht wenig gewundert. Ich habe ihrer viele,
sogar grausam Geschlagene gesehen, doch fast kein einziger von ihnen hat
gestöhnt. Nur ihr Gesicht sieht dann ganz verändert aus, ist sehr
bleich, die Augen brennen wie im Fieber, der Blick ist zerstreut,
unruhig, die Lippen zittern, so daß der Arme sie unwillkürlich und nicht
selten blutig beißt.

Der hereingeführte Soldat war ein Bursche von dreiundzwanzig Jahren,
stark und muskulös gebaut, hoch und schön gewachsen, mit einem hübschen
Gesicht und von gebräunter Hautfarbe. Sein Rücken war völlig
wundgeschlagen und bis zum Gürtel entblößt. Um die Schultern hatte man
ihm ein zusammengefaltetes nasses Bettuch gelegt, das bis zum Kreuz
herabreichte und unter dem er an allen Gliedern wie im Fieber zitterte.
Anderthalb Stunden ging er ununterbrochen im Zimmer umher. Ich sah ihm
ins Gesicht: er schien im Augenblick nichts zu denken, er schaute nur
wild und eigentümlich drein, mit unstetem Blick, dem es offenbar schwer
fiel, auf einem Gegenstande aufmerksamer haften zu bleiben. Da schien es
mir, daß er einmal starr auf meinen Tee geblickt hatte. Der Tee war
heiß: der Dampf stieg noch aus der Tasse empor, und der arme Junge
zitterte vor Kälte. Ich forderte ihn auf, zu trinken. Schweigend und
kurz wandte er sich zu mir, nahm die Tasse, trank sie stehend und ohne
Zucker aus, wobei er sich sehr beeilte, und sich augenscheinlich
bemühte, mich nicht anzusehen. Nachdem er getrunken hatte, setzte er die
Tasse schweigend wieder hin und ging, ohne zu danken oder auch nur mit
dem Kopf zu nicken, wieder in den mittleren Gang zurück, um von neuem
hin- und herzugehen. Es war ihm nicht um Dankbarkeit und Kopfnicken zu
tun! Was aber das Verhalten der übrigen zu ihm anbetrifft, so fiel mir
eines auf: sie vermieden sichtlich jedes Gespräch mit ihm. Ja, es
wunderte mich sogar, daß sie nach den ersten Hilfeleistungen ihm
geradezu absichtlich nicht die geringste Aufmerksamkeit mehr schenkten.
Vielleicht taten sie es in dem Wunsch, ihn möglichst in Ruhe zu lassen
und ihm nicht mit Ausfragen und „Teilnahme“ lästig zu werden, womit er
vollkommen zufrieden zu sein schien.

Inzwischen war es dunkel geworden und man zündete die Nachtlampen an.
Einige Kranken besaßen auch ihre eigenen Lichte und Leuchter, doch waren
es nur sehr wenige. Endlich, nach dem Abendbesuch des Arztes, kam der
Unteroffizier und zählte die Kranken, worauf ein Nachtzuber
hereingebracht und unsere Arrestantenabteilung zugeschlossen wurde. Zu
meiner Verwunderung erfuhr ich, daß dieser Zuber die ganze Nacht im
Zimmer bleiben sollte, während der dazu bestimmte Ort nur zwei Schritt
von der Tür direkt am Korridor lag. Aber es war nun einmal so
eingeführt. Am Tage durfte der Sträfling zu diesem Zweck das Zimmer
verlassen, aber nur auf eine Minute; in der Nacht jedoch wurde es ihm
unter keinen Umständen gestattet. Für die Arrestantenabteilung gab es
eben eine besondere Vorschrift und ein Kranker aus dieser Abteilung
mußte selbst in der Krankheit seine Strafe tragen. Von wem diese
Anordnung zum erstenmal getroffen worden war – das weiß ich nicht; ich
weiß nur, daß sie sinnlos war und daß in keiner einzigen anderen die
ganze Nutzlosigkeit jeglichen Formalismus greifbarer hervortrat, als
gerade in dieser Vorschrift. Selbstverständlich rührte sie nicht von den
Ärzten her. Ich sage nochmals, daß die Sträflinge ihre Ärzte nicht genug
loben konnten, sie ihre Väter nannten und die größte Hochachtung für sie
empfanden. Ein jeder sah sich freundlich von ihnen behandelt, hörte ein
gutes Wort, was der Sträfling, der von allen verstoßen war, um so mehr
zu schätzen wußte, als er die Unverfälschtheit, die von Herzen kommende
Aufrichtigkeit dieses guten Wortes und dieser Freundlichkeit erkannte.
Sie hätte ja schließlich nicht zu sein brauchen, es war den Ärzten
durchaus nicht vorgeschrieben, freundlich zu sein und niemand kümmerte
sich darum, ob sie gut oder schlecht mit den kranken Sträflingen
umgingen; folglich waren sie nur aus wahrer Menschenliebe gut. Natürlich
wußten die Ärzte, daß jeder Kranke, gleichviel wer er ist, Sträfling
oder Potentat, der Sonne und Herzlichkeit bedarf. Die Kranken aus den
anderen Sälen, namentlich die Rekonvaleszenten, durften frei auf den
Korridoren umhergehen, sich mehr Bewegung machen, frischere Luft atmen,
da die Luft in den Krankenräumen abgeschlossen und von den
verschiedensten ungesunden Ausdünstungen erfüllt war. Es ist mir selbst
jetzt noch furchtbar und ekelhaft, auch nur daran zu denken, in welchem
Maße diese ohnehin schon schlechte Luft in unserem Krankenraum verpestet
wurde, wenn dieser Zuber die ganze Nacht bei der warmen Temperatur im
Zimmer stand – und noch dazu bei gewissen Krankheiten, bei denen ein
Beiseitetreten unvermeidlich ist. Wenn ich vorhin sagte, daß der
Arrestant auch während der Krankheit seine Strafe trug, so habe ich
damit natürlich nicht gemeint, und ich will es auch durchaus nicht so
hinstellen, als hätte man diese Anordnung einzig zur Strafe erdacht. Das
wäre meinerseits eine überaus sinnlose Verleumdung. Kranke braucht man
nicht mehr zu bestrafen, und daher ist es wohl anzunehmen, daß eine
unerbittliche Notwendigkeit die Vorgesetzten einmal gezwungen hatte,
diese Maßregel zu ergreifen, die in ihren Folgen so überaus verderblich
war. Aber welch eine Notwendigkeit mochte es gewesen sein? Das ist nun
das Ärgerliche, daß man die Notwendigkeit dieser, und außer ihr noch
einer Menge anderer Maßregeln auf keine Weise erklären kann, ja sie sind
sogar dermaßen unverständlich, daß man – von Erklärungen schon ganz zu
schweigen – nicht einmal eine Veranlassung erraten, sich überhaupt
nichts denken kann. Wie soll man eine so zwecklose, unnötige Grausamkeit
erklären? Etwa damit, daß der Arrestant ins Lazarett kommen, sich
absichtlich krank stellen, die Ärzte betrügen, in der Nacht – glauben
Sie das? – an den gewissen Ort gehen und, unter dem Schutz der
Dunkelheit, entfliehen könnte? Ich glaube, man kann kaum verlangen, daß
man die ganze Ungereimtheit dieser Annahme im Ernst nachweist. Wohin
soll er denn entfliehen? Wie entfliehen? Wohin entfliehen? Am Tage
werden sie nur einzeln herausgelassen, dieselbe Vorschrift könnte auch
für die Nacht gelten. Vor der Tür steht eine Schildwache mit geladenem
Gewehr. Der Abort ist von der Schildwache buchstäblich nur zwei Schritte
entfernt und außerdem wird der Kranke noch von der Nebenwache hingeführt
und während der ganzen Zeit nicht aus dem Auge gelassen. Daselbst ist
nur ein einziges kleines Fenster, Sommer und Winter mit Doppelfenstern
und mit einem eisernen Gitter versehen. Draußen unter dem Fenster des
Aborts und der ganzen Fensterreihe der Arrestantenabteilung des
Lazaretts geht wieder eine Schildwache die ganze Nacht auf und ab. Um
durch dieses Fenster zu entfliehen, muß man beide Glasscheiben
zerschlagen und das eiserne Gitter entfernen. Welche Wache wird so etwas
ruhig geschehen lassen? Oder nehmen wir an, er erschlägt vorher die
Nebenwache, und zwar so, daß der Soldat keinen Laut mehr von sich geben
kann und niemand etwas merkt. Aber selbst wenn wir diese Unmöglichkeit
als möglich zulassen, so muß er doch immer noch die Fensterrahmen und
das Gitter herausbrechen. Und nicht zu vergessen, daß dicht neben der
Schildwache die Krankenwärter schlafen und kaum zehn Schritt weiter
steht vor der Tür des anderen Arrestantensaales eine zweite Schildwache
mit geladenem Gewehr und bei ihm wiederum ein Soldat als Nebenwache, und
etwas weiter schlafen wiederum Krankenwärter. Und wohin kann man im
Winter nur in Strümpfen und Pantoffeln, im Schlafrock und in der
Nachtmütze entfliehen? Wenn aber so wenig Gefahr einer Flucht vorhanden
ist – d. h. genau genommen überhaupt keine –, wozu dann eine so unnütze
Qual der Kranken vielleicht in den letzten Tagen und Stunden ihres
Lebens, der Kranken, die der frischen Luft noch mehr bedürfen als
Gesunde? Wozu, wozu? Das habe ich nie begreifen können.

Doch da ich nun einmal diese Frage gestellt habe und auf die unnützen
Qualen zu sprechen gekommen bin, so kann ich nicht umhin, noch auf etwas
anderes hinzuweisen, das gleichfalls jahrelang als Problem vor mir
gestanden hat. Ich kann es nicht unterlassen, auch dieses zur Sprache zu
bringen, bevor ich in meiner Erzählung fortfahre. Ich meine die Fesseln,
von denen keine noch so schwere Krankheit den Arrestanten erlöst.

Ich habe Schwindsüchtige gesehen, die vor meinen Augen in den Ketten
starben und sich die ganze letzte Zeit vor dem Tode in ihnen quälen
mußten. Man schien sich aber dermaßen daran gewöhnt zu haben, daß alle
es als etwas Unabänderliches ansahen. Es ist sogar kaum anzunehmen, daß
jemand darüber auch nur nachgedacht hat, da selbst die Ärzte nicht ein
einziges Mal darauf gekommen waren, die vorgesetzte Behörde um die
Erlaubnis zur Abschmiedung eines Kranken, sagen wir eines
Schwindsüchtigen, zu bitten. Die Ketten sind ja an sich nicht weiß Gott
wie schwer, sie wiegen ungefähr acht bis zwölf Pfund, und zehn Pfund zu
tragen, macht einem gesunden Menschen nichts aus. Nun habe ich aber
gehört, daß die Füße, wenn man lange Zeit Fesseln trägt, abzehren
sollen. Ich weiß freilich nicht, ob es wahr ist, aber es hat doch einige
Wahrscheinlichkeit für sich. Jedes Gewicht, mag es auch noch so gering
sein – in diesem Fall etwa zehn Pfund –, das für immer an den Fuß
befestigt ist, vergrößert das Gewicht des Gliedes in unnatürlicher Weise
und kann daher auf die Dauer sehr wohl einen schlechten Einfluß haben
... Doch nehmen wir an, daß es einem Gesunden nichts ausmacht, so
handelt es sich doch hier um Kranke, und nicht etwa um vorübergehend
Erkrankte, sondern um Schwindsüchtige, bei denen die Arme und Beine
ohnehin schon so abgezehrt sind, daß ihnen jeder Strohhalm schwer wird.
Wahrlich, hätte die Medizinalbehörde auch nur für die Schwindsüchtigen
diese Erleichterung erwirkt, so wäre auch das schon eine große Wohltat
gewesen. Man wird vielleicht einwenden, der Arrestant sei ein
Verbrecher, ein Bösewicht, und habe Wohltaten nicht verdient. Aber sind
wir denn wirklich befugt, die Strafe eines Menschen noch zu verschärfen,
den Gottes Finger schon berührt hat? Und es ist ja auch schwer zu
glauben, daß solches um der Strafe willen geschah. Der Schwindsüchtige
darf ja auch nach dem Gesetz nicht körperlich bestraft werden. Folglich
kann man hierin wieder nur eine geheimnisvolle Maßregel auf Grund der
weisen, einzig seligmachenden Vorsicht sehen. Doch auf Grund welcher
Befürchtungen diese Vorsicht notwendig sein soll – das ist und bleibt
unverständlich. Wer wird denn, in der Tat, befürchten, daß ein
Schwindsüchtiger entfliehen könnte? Welch ein Schwindsüchtiger wird denn
die Dummheit begehen, wenn er bereits Todeskandidat ist, noch einen
Fluchtversuch zu machen, er, der sich kaum schleppen kann, und noch dazu
mit der Aussicht, sogleich erschossen zu werden oder draußen in Nacht
und Nebel, bei Hunger und Kälte wie ein Hund zu verrecken, während er im
Lazarett alles hat, was er noch braucht? Und daß einer Schwindsucht
vortäuschen, die Ärzte betrügen könnte, um vom Lazarett aus zu
entfliehen – ist ausgeschlossen. Schwindsucht ist keine Krankheit, die
sich vortäuschen läßt, dem Schwindsüchtigen sieht man seine Krankheit
schon auf den ersten Blick an. Und dann noch eines: werden denn dem
Menschen wirklich nur zu dem einen Zweck die Fesseln angeschmiedet,
damit er nicht entfliehen könne oder auch nur, um ihm die Flucht zu
erschweren? Durchaus nicht. Die Fesseln sind nichts als Entehrung,
physische wie sittliche Belastung, Schmach und Schande. Als das
wenigstens wird dieses Kennzeichen des Sträflings allgemein aufgefaßt.
Die Flucht aber können sie nie verhindern: selbst der dümmste,
ungeschickteste Arrestant wird es verstehen, ohne besondere Mühe das
Eisen zu durchfeilen oder die Niete mit einem Stein zu zerschlagen.
Nein, die Fußfesseln sind entschieden kein Hindernis. Wenn dem aber nun
einmal so ist, wenn sie dem verurteilten Zwangsarbeiter nur zur Strafe
angeschmiedet werden, so frage ich nochmals: soll man denn wirklich auch
einen Sterbenden noch bestrafen?

Während ich dieses schreibe, steht wieder deutlich das Bild eines
Sterbenden vor mir, eines Schwindsüchtigen, jenes selben Michailoff, der
mir fast gegenüberlag, nicht weit von Ustjänzeff, und der, soviel mir
erinnerlich ist, am vierten Tage nach meiner Übersiedelung ins Lazarett
starb. Vielleicht habe ich auch nur aus diesem Grunde soviel von den
Schwindsüchtigen gesprochen, weil dieses Bild unwillkürlich alle
Eindrücke und Gedanken in meiner Erinnerung wieder wachrief, die ich
damals anläßlich seines Todes hatte. Den Michailoff selbst kannte ich
nur wenig. Er war noch sehr jung, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt,
hoch gewachsen, schlank und von auffallend edlem Äußerem. Er lebte in
der besonderen Abteilung und war bis zur Wunderlichkeit schweigsam,
geradezu lautlos und gewissermaßen „ruhig traurig“, wie die Arrestanten
sagten. Wie sie nach seinem Tode erzählten, sei er im Ostrogg förmlich
„eingetrocknet“. Sie bewahrten ihn in gutem Angedenken. Ich erinnere
mich noch, daß er wundervolle Augen hatte ... – ich weiß nicht, warum
ich mich gerade dieser Augen so deutlich entsinne ...

Er starb um drei Uhr nachmittags, an einem kalten, klaren Tage. Ich weiß
noch, durch die grünlichen, von Eisblumen glitzernden Fensterscheiben
fiel das Wintersonnenlicht in schrägen, breiten Strahlenbündeln ins
Zimmer. Ein ganzer Strom von Licht ergoß sich über den Unglücklichen. Er
war bewußtlos, atmete schwer, und es dauerte mehrere Stunden, bis er
endlich erlöst war. Schon am Morgen hatte man seinen Augen angesehen,
daß er die anderen nicht mehr erkannte: sie traten an sein Bett und
wollten ihm etwas Erleichterung schaffen, denn man sah es deutlich, wie
sehr er sich quälte: er atmete schwer, tief, röchelnd; hoch hob sich
seine Brust, als könne er nicht genug Luft einziehen. Er hatte bereits
die Bettdecke von sich geworfen, die ganze Kleidung, und nun begann er,
sein Hemd sich vom Leibe zu reißen: selbst dieses war ihm zu schwer. Man
half ihm und zog ihm auch das Hemd aus. Es war entsetzlich, diesen
langen, langen, nackten Körper zu sehen, mit den bis auf den Knochen
abgezehrten Beinen und Armen, dem eingefallenen Leib und dem gehobenen
Brustkorb mit den deutlich wie bei einem Skelett sich abzeichnenden
Rippen. Auf seinem ganzen langen Körper lag nur ein kleines Holzkreuz
und ein Amulett, und dann noch die Fesseln, durch deren Eisenring er
jetzt den abgemagerten Fuß, wie es schien, hätte durchziehen können.
Eine halbe Stunde vor seinem Tode verstummten alle oder sie sprachen
fast nur flüsternd. Wer gehen mußte, trat leise, kaum hörbar auf. Es
wurde nur wenig gesprochen, hin und wieder blickte man auf den
Sterbenden, der immer lauter röchelte. Endlich tastete er mit
unsicherer, irrender Hand nach seinem Kreuz, das er am Halse trug, und
begann es gleichfalls fortzuzerren, als wäre ihm auch dieses zu schwer
geworden, als hätte es ihn bedrückt, beunruhigt. Da nahm man ihm auch
das Kreuz ab. Nach zehn Minuten verschied er. Man klopfte an die Tür und
meldete es der Schildwache. Der Krankenwärter trat ein, sah mit stumpfen
Blicken auf den Toten und begab sich zum Feldscher. Dieser erschien
ziemlich bald; es war ein junger guter Mensch, der sich nur etwas mehr
als nötig mit seinem Äußeren beschäftigte, einem Äußeren, das übrigens
ganz glücklich war. Mit schnellen, lauten Schritten ging er durch den
stillgewordenen Raum zum Toten, erfaßte mit ganz besonders freundlicher
Miene, die er sich gleichsam speziell für diesen Fall ausgedacht hatte,
das Handgelenk, um den Puls zu fühlen, befühlte ihn auch noch hier und
da, winkte mit der Hand und ging wieder hinaus. Hierauf wurde die Wache
benachrichtigt: es war ein schwerer Verbrecher aus der besonderen
Abteilung gewesen, folglich mußte auch sein Tod mit besonderen
Zeremonien vermerkt werden. Während nun die Wache erwartet wurde,
äußerte einer der Sträflinge mit leiser Stimme den Gedanken, daß es wohl
gut wäre, dem Toten die Augen zuzudrücken. Ein anderer hörte ihm
aufmerksam zu, trat dann zum Leichnam und drückte ihm die Augen zu. Bei
der Gelegenheit bemerkte er auch das kleine Holzkreuz auf dem Kissen,
nahm es, besah es und legte es dem Toten wieder um den Hals; als es
geschehen war, bekreuzte er sich.

Inzwischen erstarrte das Gesicht des Entschlafenen; ein Sonnenstrahl
spielte auf ihm. Der Mund war halbgeöffnet: zwei Reihen weißer, junger
Zähne glänzten unter den dünnen, am Zahnfleisch klebenden Lippen.

Endlich erschien der Unteroffizier der Wache mit Seitengewehr und im
Helm, ihm folgten zwei Wärter. Er näherte sich mit immer langsamer
werdendem Schritt, mit verwundertem Blick auf die stummen, ernst und
streng ihn ansehenden Sträflinge ringsum. Als er bis auf einen Schritt
vor dem Toten angekommen, blieb er plötzlich wie erstarrt stehen: der
völlig entblößte, bis auf Haut und Knochen abgemagerte Leichnam, an dem
noch die eisernen Fesseln angeschmiedet waren, schien ihn zu
erschrecken. Doch schon im nächsten Augenblick löste er die
Schuppenkette seines Helmes, nahm den Helm ab, was durchaus nicht
notwendig war, und bekreuzte sich langsam und mit tiefer Verneigung. Es
war ein strenges Feldwebelgesicht mit einem schon grau untermischten
Schnauzbart. Ich weiß noch, im selben Augenblick stand nicht weit von
ihm Tschekunoff, ein gleichfalls schon ergrauter Mann. Die ganze Zeit
hatte er schweigend und aufmerksam in das Gesicht des Unteroffiziers
geblickt, ohne auch nur einmal den Blick abzuwenden, um mit einer ganz
eigentümlichen Aufmerksamkeit jede seiner Bewegungen zu verfolgen. Da
trafen sich ihre Blicke und bei Tschekunoff erzitterte plötzlich aus
einem unbekannten Grunde die Unterlippe: er verzog sie so eigentümlich,
öffnete den Mund und sagte, halb ohne zu wollen und mit dem Kopf auf den
Toten weisend, hastig und nicht laut zu ihm: „Hat doch auch eine Mutter
gehabt!“ und ging fort.

Ich weiß noch, diese Worte durchbohrten mich wie ein Messerstich ...
Warum nur hatte er sie gesagt und wie war er überhaupt darauf gekommen?
Da schickte man sich an, den Leichnam hinauszutragen: man hob ihn mit
dem ganzen Lager auf, das Stroh knisterte, und inmitten der allgemeinen
Stille fielen plötzlich die Ketten mit lautem Geklirr zu Boden. Sie
wurden aufgehoben ... Bald war die Leiche hinausgeschafft. Plötzlich
begannen alle laut zu sprechen. Man hörte nur noch, wie der
Unteroffizier im Korridor jemand nach dem Schmied schickte. Der Tote
mußte ausgeschmiedet werden ... Doch ich bin vom Thema abgekommen ...


                                  II.

                       Das Lazarett, Fortsetzung

Der Besuch der Ärzte fand täglich am Morgen statt. Ungefähr um elf Uhr
erschienen sie alle zusammen, ihnen voran schritt der Oberarzt, und
anderthalb Stunden vor ihnen kam unser Abteilungsarzt. Damals war es ein
junger Mediziner, der seine Sache verstand, freundlich und sympathisch
im Umgang und bei den Arrestanten sehr beliebt war, doch entdeckten sie
auch an ihm einen Fehler: „Er ist doch schon gar zu gut,“ sagten sie. Er
war allerdings ein sehr guter Mensch, wenig gesprächig, schien sogar
verlegen zu sein, wenn er bei uns war, errötete beinahe, wenn man ihn um
etwas bat, änderte die Rationen womöglich schon nach der ersten Bitte
und war vielleicht sogar bereit, auch die Medizin nach dem Wunsch des
Kranken zu bestimmen. Übrigens war er wirklich ein prächtiger Junge. Man
wird mir zugeben, daß in Rußland viele Ärzte die Liebe und Achtung des
einfachen Volkes genießen – es ist Tatsache. Ich weiß, meine Worte
werden zunächst paradox erscheinen, besonders wenn man das allgemeine
Mißtrauen des russischen Volkes zu den Medizinern und den ausländischen
Arzneien in Betracht zieht. Und es ist ja wahr, der einfache Mann, der
sich mit einer Krankheit, und nicht selten einer schweren Krankheit,
womöglich jahrelang plagt, wird sich eher von einem alten Kräuterweibe
behandeln lassen, oder sich mit Hausmitteln – die durchaus nicht zu
verachten sind – zu heilen versuchen, als daß er zum Arzt geht oder ins
Hospital, um dort zu liegen. Doch gibt es hierfür einen Grund, der sogar
sehr wichtig ist, jedoch nichts mit der Medizin zu tun hat: das ist, wie
ich bereits angedeutet habe, das Mißtrauen des Volkes zu allem, was den
Stempel des Administrativen, Formellen trägt. Hinzu kommt, daß das Volk
durch verschiedene grauenvolle Geschichten, die meist frei erfunden
sind, mitunter aber zum Teil auch auf Wahrheit beruhen, ein großes
Vorurteil gegen die Hospitäler gefaßt hat und die Ärzte fürchtet. Doch
am meisten schrecken es die deutschen Einrichtungen, die fremden
Menschen ringsum während der ganzen Krankheit, die strengen Vorschriften
inbetreff des Essens, Erzählungen von Beispielen schonungsloser Roheit
der Feldscher und auch Ärzte, vom Aufschneiden der Leichen und Ausnehmen
des Eingeweides, und ähnliches mehr. Und dann denkt das Volk, da die
Ärzte doch den oberen Gesellschaftsklassen angehören: wie sollen wir uns
denn von den vornehmen Herren bedienen und kurieren lassen? Aber schon
nach etwas näherer Bekanntschaft mit den Ärzten verschwinden – Ausnahmen
natürlich zugegeben – alle diese Befürchtungen sehr schnell, was meiner
Meinung nach unseren Ärzten, namentlich den jüngeren, nur zur Ehre
gereicht. Die Mehrzahl von ihnen versteht es, sich die Achtung und sogar
die Liebe des Volkes zu erwerben. Wenigstens behaupte ich es nach dem,
was ich selbst oft genug und an verschiedenen Orten gesehen und erfahren
habe. Und ebenso habe ich keine Veranlassung, vorauszusetzen, daß es an
anderen Orten gar so oft anders sei. Gewiß gibt es in manchen Winkeln
Ärzte, die ihr Hospital nur als Kapitalanlage betrachten und die Kranken
wie die Medizin so gut wie gänzlich vergessen. Gewiß gibt es auch heute
noch solche Ärzte; ich aber rede von der Mehrzahl oder richtiger, von
der Richtung und dem Geist, der sich heute in der Medizin kundtut und
entwickelt. Jene anderen, jene Verräter der Sache, sind Wölfe in der
Schafherde, was sie auch zu ihrer Rechtfertigung vorbringen werden, wie
zum Beispiel die Ausrede von dem „Milieu“, das sie verschlungen habe, –
sie werden doch immer im Unrecht bleiben, besonders wenn sie inzwischen
auch die Nächstenliebe verloren haben. Nächstenliebe, Freundlichkeit,
brüderliches Mitleid mit dem Leidenden ist für diesen oft viel
notwendiger, als alle Arzneien. Es wäre wirklich Zeit, endlich
aufzuhören, die Schuld apathisch auf das „Milieu“ abzuwälzen, mit der
Begründung, daß es uns erstickt habe. Es ist allerdings wahr, daß es
vieles erstickt, alles aber kann es uns doch niemals nehmen. Und wie oft
hat ein geriebener und sachverständiger Schurke nicht nur seine
Schwächen, sondern selbst seine größten Gemeinheiten mit dem Einfluß des
„Milieu“ äußerst gewandt zu verdecken oder sogar zu rechtfertigen
gewußt, besonders wenn er schön zu reden und schön zu schreiben
verstand. ... Übrigens bin ich wieder vom Thema abgewichen.

Ich wollte nur sagen, daß das einfache Volk sich mehr zur medizinischen
Administration mißtrauisch verhält, als zu den Ärzten selbst. Hat es sie
einmal näher kennen gelernt und gesehen, wie sie in Wirklichkeit sind,
so verliert es schnell viele seiner Vorurteile. Die übliche Einrichtung
unserer Heilanstalten entspricht bis jetzt noch in vielen Dingen nicht
dem Volksgeist, steht mit ihren Vorschriften den Angewohnheiten des
einfachen Menschen feindlich gegenüber und kann daher auch nicht sein
volles Vertrauen und seine volle Achtung erwerben. Wenigstens will es
mir so scheinen, nach dem, was ich selbst gesehen habe und nach den
verschiedenen empfangenen Eindrücken.

Unser Abteilungsarzt blieb gewöhnlich bei jedem Kranken stehen,
untersuchte ihn ernst und äußerst gewissenhaft, richtete verschiedene
Fragen an ihn, verschrieb die Medizin, bestimmte das Essen, die Portion.
Zuweilen bemerkte er sehr gut, daß dem angeblich „Kranken“ überhaupt
nichts fehlte, da aber der betreffende Arrestant gekommen war, um sich
von der schweren Arbeit zu erholen oder einige Zeit in einem weichen
Bett zu liegen, anstatt auf nackten Pritschenbrettern, oder immerhin in
einem warmen Zimmer und nicht im feuchten Haftlokal der Hauptwache, wo
in engem Raum die bleichen, elenden Untersuchungsgefangenen – die fast
immer bleich und elend sind (ein Zeichen, daß ihre Verpflegung schlecht
und ihr Seelenzustand bedrückter ist, als der der bereits Verurteilten)
– in dichten Haufen zusammengepfercht gehalten werden, so schrieb er auf
seinen Krankenzettel irgend ein ^febris catarrhalis^ und ließ ihn nicht
selten eine ganze Woche liegen. Über ^febris catarrhalis^ lachten wir
alle. Man wußte ja schon, daß es die in beiderseitigem Einverständnis
zwischen dem Arzt und dem Kranken gewählte Formel für Faulfieber oder
für eine vorgetäuschte Krankheit war, oder „vorrätiges Bauchgrimmen“,
wie die Arrestanten ^febris catarrhalis^ frei nach ihrer Auffassung
übersetzten. Natürlich kam es auch vor, daß der Kranke die Güte des
Arztes ausnutzte und so lange liegen blieb, bis er mit Gewalt
fortgeschickt werden mußte. Dann hätte man unsern jungen Arzt sehen
sollen: er schien ganz zaghaft zu werden, schien sich förmlich zu
schämen, dem „Kranken“ zu sagen, daß er gesund sei und sich bald
ausschreiben lassen müsse, obgleich er doch als Arzt das volle Recht
hatte, ihn ohne alle Redewendungen und Versuche einfach zu
verabschieden, indem er auf sein Krankenzeugnis nur „geheilt“ zu
schreiben brauchte. Er deutete ihm zuerst nur an, dann versuchte er ihn
zu überreden oder gar zu bitten: „hm, so und so, was meinst du, wird es
nicht bald Zeit sein? Du bist ja doch schon gesund, hier ist es jetzt
sehr eng“ usw., usw., bis dem Sträfling schließlich doch das Gewissen
schlug und er selbst um seine Entlassung bat. Der Oberarzt dagegen war,
wenn auch ein nicht minder menschenfreundlicher und ehrenhafter alter
Herr – die Kranken liebten ihn gleichfalls sehr – in dieser Beziehung
unvergleichlich strenger und entschlossener, ja er konnte sogar
unerbittlich streng sein, und gerade deswegen wurde er bei uns ganz
besonders geachtet. Er erschien bald nach dem Abteilungsarzt, begleitet
von allen anderen Ärzten des Hospitals, untersuchte gleichfalls jeden
einzeln, namentlich die Schwerkranken, wußte ihnen stets etwas Gutes,
Ermunterndes zu sagen, häufig sogar ein herzliches Wort, und überhaupt
machte er einen guten Eindruck. Die Patienten mit „vorrätigem
Bauchgrimmen“ wies er nie zurück, nur wenn der Bursche gar nicht wieder
fortgehen wollte, so ließ er ihn ohne viel zu fragen „ausschreiben“.
„Nun, wie steht’s, mein Junge, hast genug gelegen und dich ausgeruht,
geh mal jetzt, ein Mensch muß Ehre im Leibe haben.“ Diese nicht
freiwillig Gehenden waren in der Regel die Faulen, die sich in der
Arbeitszeit, also im Sommer, gern um die Arbeit drückten, oder die eines
Vergehens Schuldigen, die einer Bestrafung entgegensahen. Ich entsinne
mich noch, wie man gegen einen von ihnen zu einem ganz besonders
strengen, ja sogar grausamen Mittel griff, um ihn zum Fortgehen zu
bewegen. Er war mit einer Augenkrankheit gekommen: seine Augen waren rot
und er klagte über starken, stechenden Schmerz in ihnen. Man behandelte
ihn mit spanischen Fliegen, Blutegeln, mit Einspritzungen einer
besonderen Flüssigkeit in die Augen und noch verschiedenen anderen
Mitteln, doch die Krankheit wurde nicht gehoben, die Augen waren und
blieben entzündet. Allmählich aber errieten die Ärzte, daß die Krankheit
nicht echt war: die Entzündung war nicht gerade sehr stark, wurde weder
schlimmer noch besser, – sie blieb immer im selben Stadium. Das war
verdächtig. Die Sträflinge wußten schon lange, daß der Betreffende die
Ärzte betrog, obwohl er es ihnen nicht verraten hatte. Er war ein noch
junger Bursche, sogar hübsch zu nennen, machte aber auf uns alle einen
recht unangenehmen Eindruck: er war verschlossen, mißtrauisch, mürrisch,
sprach mit keinem ein Wort, blickte unter der Stirn hervor, zog sich von
allen zurück, ganz als hätte er einen jeden schlimmer Absichten
verdächtigt. Ich weiß noch, einige befürchteten ernstlich, daß er irgend
etwas Schlimmes anstiften könnte. Er war Soldat aus der Strafkompagnie,
hatte viel gestohlen, war ertappt und zu tausend Stockschlägen und zur
Zwangsarbeit verurteilt worden. Ich habe schon gesagt, daß die
Verurteilten sich bisweilen zu den schlimmsten Ausfällen entschließen,
nur um den Augenblick der Strafe hinauszuschieben: sie werfen sich mit
dem Messer auf einen Offizier oder einen ihrer Schicksalsgenossen, sie
kommen von neuem in Untersuchungshaft, ein neues Verfahren wird gegen
sie eingeleitet und die erste Strafe vorläufig noch hinausgeschoben,
nicht selten auf ganze zwei Monate – das aber ist alles, was sie wollen.
Der Betreffende denkt nicht daran, daß man ihn nach zwei Monaten
zweimal, dreimal so streng bestrafen wird: wenn nur der grauenvolle
Augenblick nicht gleich kam, wenn man ihn nur noch auf ein paar Tage
hinausschieben konnte, mag dann kommen, was kommt! – so mutlos sind
zuweilen diese Unglücklichen. Einige flüsterten sogar unter sich, daß
man sich in acht nehmen müsse, er könne einen in der Nacht noch
erstechen. Übrigens wurde nur so gesprochen, wirkliche Vorkehrungen traf
niemand, selbst die nicht, deren Bett dem seinen zunächst stand. Man
hatte schon bemerkt, daß er in der Nacht seine Augen mit einem Stückchen
Kalk von dem Stück Stubenwand und noch irgend etwas anderem rieb, damit
sie am nächsten Morgen wieder rot wären. Endlich drohte ihm der Oberarzt
ein schmerzhaftes Verfahren an: das Haarseil. Bei hartnäckiger
Augenkrankheit, die lange andauert und durch alle anderen medizinischen
Mittel nicht gehoben werden kann, entschließen sich die Ärzte, um dem
Kranken die Sehkraft zu erhalten, zu einem starken und qualvollen Mittel
zu greifen: sie ziehen ihm einen – Leinwandstreifen durch die Haut, als
wäre er ein Pferd. Unserer nun konnte sich selbst jetzt noch nicht
entschließen, gesund zu werden. Ich weiß nicht, was in diesem Menschen
größer war: Eigensinn oder Feigheit. Zwar war das „Haarseil“ nicht
Stockschläge, doch viel stand es ihnen in der Qual nicht nach. Dem
Kranken wurde hinten am Halse soviel Haut, wieviel man mit der Hand nur
fassen konnte, zusammengenommen; durch diese Haut wurde ein Messer
durchgestochen, wodurch eine breite und lange Wunde über den ganzen
Nacken entstand, und durch diese Wunde wurde dann ein Leinwandstreifen
etwa von der Breite eines Fingers durchgezogen. Nun wurde dieser
Leinwandstreifen täglich hin und her gezogen und folglich die Wunde
immer von neuem wieder aufgerissen, damit sie beständig eitere. Der arme
Teufel ertrug auch diese Marter unter den größten Qualen eigensinnig
noch mehrere Tage, bis er sich dann doch endlich entschloß, die Sache
aufzugeben. Seine Augen wurden an einem Tage vollkommen gesund, und
nachdem auch sein Hals geheilt war, ging er auf die Hauptwache, um die
tausend Stockschläge zu erhalten.

Natürlich ist der Augenblick vor der Bestrafung schwer, dermaßen schwer,
daß ich vielleicht unrecht tue, wenn ich diese Angst vor ihr Kleinmut
und Feigheit nenne. Muß sie denn nicht tatsächlich furchtbar sein, wenn
man eine doppelte, dreifache Bestrafung heraufbeschwört, nur um diesen
Augenblick um ein weniges hinauszuschieben! Aber es gibt auch andere –
von denen ich übrigens auch schon gesprochen habe, – die sich mit noch
nicht ganz geheiltem Rücken bereits ausschreiben lassen, nur um
schneller auch den Rest der Strafe zu empfangen und so bald als möglich
das Haftlokal verlassen zu können, denn das Leben auf der Hauptwache ist
natürlich unvergleichlich langweiliger als jede Zwangsarbeit. Doch außer
dem Unterschied in den Temperamenten spielte in der Entschlossenheit
oder Unentschlossenheit die Gewohnheit an Schläge und Strafen eine große
Rolle. Ein oft Geschlagener festigt sich gleichsam geistig wie
körperlich und sieht schließlich ziemlich skeptisch auf die Strafen,
beinahe wie auf eine nur kleine Unannehmlichkeit, die er kaum noch
fürchtet! Im allgemeinen gesprochen, ist das durchaus wahr. So erzählte
mir einer der Sträflinge aus der besonderen Abteilung, es war ein
getaufter Kalmück, Alexander – oder Alexandra, wie er bei uns genannt
wurde, ein eigenartiges, durchtriebenes, furchtbares Männlein, das
gleichzeitig überaus gutherzig war – wie er viertausend Schläge erhalten
hatte, erzählte es lachend und scherzend, schwor aber gleich darauf, daß
er, wenn er nicht von Kindheit auf, schon vom zartesten Alter an, nur
unter der Knute ausgewachsen wäre, von der sein Rücken während seines
ganzen Lebens in der Horde buchstäblich nie ohne Schorfstreifen gewesen
sei, diese viertausend Hiebe in keinem Fall überlebt hätte. Während er
es mir erzählte, schien er seine Erziehung unter der Knute geradezu zu
segnen.

„Ich wurde für alles geprügelt, Alexander Petrowitsch,“ sagte er einmal
zu mir, als er am Abend, noch bevor das Nachtlicht angezündet wurde, auf
meinem Bettrand saß. „Für alles und jedes, für was es auch sein mochte,
runde fünfzehn Jahre, schon seit jenem ersten Tage, dessen ich mich nach
meiner Geburt erinnern kann, und jeden Tag ein paarmal. Nur wer grad
keine Lust dazu hatte, der schlug mich nicht. So kam’s, daß ich mich zum
Schluß ganz und gar daran gewöhnt hatte.“

Wie er unter die Soldaten gekommen war, weiß ich nicht. Vielleicht hat
er es mir auch erzählt, dann habe ich es aber vergessen. Er war ein
echter Landstreicher und Nomade. Ich erinnere mich nur noch einer
Erzählung, wie ihn entsetzliche Angst erfaßt hatte, als er wegen der
Ermordung seines Vorgesetzten zu viertausend Hieben verurteilt worden
war.

„Ich wußte,“ erzählte er, „daß man mich hart bestrafen und mich, kann
sein, überhaupt nicht mit dem Leben davonkommen lassen würde, wenn ich
auch von Jugend auf an Hiebe gewöhnt war, aber viertausend Hiebe, das
ist doch, hn, – Spaß! Und dazu waren noch alle Vorgesetzten wütend auf
mich! Ich wußte, wußte ganz genau, daß ich nicht durchkommen würde, daß
man mich nicht lebendig wieder losließ. Ich versuchte es zuerst mit der
Taufe, dachte, was kann man wissen, vielleicht vergibt man mir, und
obschon mir die Meinigen genug sagten, daß deswegen nichts davon
geschehen werde, nichts von verzeihen, so dachte ich doch bei mir: ich
will’s doch versuchen, schaden kann’s ja nicht und ihnen wird es doch um
einen Getauften etwas mehr leid tun. Und ich wurde auch wirklich getauft
und bei der heiligen Taufe erhielt ich den Namen Alexander. Nun, aber
die Viertausend blieben immer Viertausend. Wenn man mir auch nur einen
einzigen Hieb abgelassen hätte! Ich fühlte mich wirklich gekränkt. Da
denke ich so bei mir: also so, na wartet, ich werde euch jetzt alle samt
und sonders betrügen! Und was glaubt Ihr, Alexander Petrowitsch, ich
habe sie doch wirklich betrogen! Ich verstand es mehr als fein, mich so
zu stellen, als wäre ich tot, das heißt, nicht ganz fertig, aber immer
so, daß nur noch ein Zipfelchen von der Seele im Körper drin ist und
auch dieses noch jeden Augenblick hinausgehen kann. Man führte mich;
erstes Tausend: brennt wie Feuer, ich schreie; zweites Tausend, – nun,
denke ich, jetzt ist mein Ende gekommen, die Füße trugen nicht mehr,
Verstand zum Teufel. Ich schnell entschlossen – plumps, falle hin, auf
die Erde, mache tote Augen, mein Gesicht wird blau, Atem stockt, Schaum
vor dem Munde. Der Arzt kommt: ‚Wird sogleich,‘ sagt er, ‚sterben.‘ Man
trug mich ins Hospital, ich aber wurde im Handumdrehen wieder lebendig.
So wurde ich dann noch zweimal hinausgeführt, aber erbittert waren sie
auf mich, das waren sie, ich aber betrog sie noch ganze zwei Mal. Als
ich das zweitemal vorkam, nahm ich nur ein Tausend hin, das dritte an
der Zahl, – starb. Als aber das vierte an die Reihe kam, da ging mir
jeder Hieb wie ’n Messer übers Herz, da zählte jeder Hieb für drei, so
schmerzhaft schlugen sie! Sie waren aber auch wütend auf mich! Dieses
verfluchte letzte Tausend – das es der! ... – war all die anderen drei
wert, und wenn ich nicht kurz vor Schluß gestorben wäre – nur
zweihundert blieben noch – so hätten sie mich wahrhaftig mausetot
geprügelt, nun, ich aber gab mich nicht dazu her: ich pfiff ihnen was
und starb wieder. Wieder glaubten sie, und wie sollten sie denn nicht:
der Arzt glaubte doch! Aber bei den letzten zweihundert, da rissen sie,
was sie nur reißen konnten, aus voller Wut, so daß ein andermal selbst
zweitausend leichter sind, aber tot kriegten sie mich doch nicht, da
konnten sie sich die Nase abwischen! Und warum hatten sie mich nicht
totgekriegt? Weil ich eben von Kindesbeinen an unter der Knute
aufgewachsen war. Darum lebe ich auch heute noch. Ja, ich sag wohl, was
man mich geschlagen hat in meinem Leben, was man mich geschlagen hat!“
fügte er zum Schluß der Erzählung hinzu, wie in ernstes Nachdenken
versunken, als bemühe er sich, ungefähr zu berechnen, wieviel Mal und
wie stark man ihn wohl geschlagen haben mochte. „Ach was,“ sagte er dann
nach kurzem Schweigen, „wo soll das einer auszählen, soviel Zahlen gibt
es ja überhaupt nicht!“

Er sah mich an und lachte, aber so gutmütig, daß auch ich nicht ernst
bleiben konnte und ihm als Antwort zulächelte.

„Aber wißt Ihr auch, Alexander Petrowitsch, daß ich, wenn mir nachts
manchmal träumt, dann nichts anderes sehe, als daß ich geprügelt werde.
Andere Träume habe ich überhaupt nicht.“

Er schrie allerdings nicht selten in der Nacht aus voller Kehle, sodaß
ihn die anderen Sträflinge mit Püffen zur Besinnung brachten: „Na,
Teufel, was schreist du denn!“ Er war ein gesunder Bursch, nicht groß
von Wuchs, ein unruhiger Geist, von Charakter äußerst heiter,
fünfundvierzig Jahre alt, stand mit allen auf gutem Fuß, und wenn er
auch eine große Vorliebe für das Stehlen hatte und von den anderen sehr
oft dafür verprügelt wurde, so war das schließlich nichts
Ungewöhnliches, denn wer stahl bei uns nicht und wer wurde nicht dafür
verprügelt?

Hier muß ich noch eines hinzufügen: ich habe mich oft gewundert über die
ungewöhnliche Gutmütigkeit und Arglosigkeit, mit der alle diese
Gezüchtigten von der Züchtigung und von denen, die sie gezüchtigt
hatten, erzählten. Häufig habe ich nicht einmal eine Spur von Groll oder
Haß in einer solchen Erzählung entdecken können, bei der mir nicht
selten das Herz stehen blieb oder laut und stark klopfte. Sie aber
erzählten ganz gleichmütig und lachten wie Kinder. Nur M–tzkij war eine
Ausnahme, er war nicht adlig und man hatte ihn zu fünfhundert
verurteilt. Ich erfuhr es von anderen und fragte ihn einmal, ob es wahr
sei, und wie er es ausgehalten habe. Er antwortete mir merkwürdig kurz –
wie unter einem inneren Schmerz – und bemühte sich, mich nicht
anzusehen, sein Gesicht aber wurde auffallend rot. Erst nach einer
halben Minute sah er mich wieder an und in seinen Augen glühte Haß,
seine Lippen zitterten vor Unwillen. Da fühlte ich, daß er niemals diese
Stunde aus seiner Vergangenheit würde vergessen können. Von den übrigen
jedoch sahen alle – ich bürge allerdings nicht dafür, daß es keine
Ausnahmen gab, – sahen alle ganz anders auf die Sache. Es kann doch
nicht sein, dachte ich zuweilen, daß sie sich für schuldig und ihre
Strafe für durchaus verdient halten, besonders noch wenn sie sich nicht
gegen die ihrigen, sondern gegen ihre Feinde, die Vorgesetzten,
vergangen haben? Die Mehrzahl von ihnen klagte sich niemals an. Ich habe
schon gesagt, daß ich Gewissensbisse nie gesehen, selbst dann nicht,
wenn das Verbrechen an einem aus ihrer eigenen Gesellschaftsklasse
begangen war, von den Verbrechen an den Vorgesetzten ganz zu schweigen.
Ja es schien mir, daß in diesem Falle die vollendete Tatsache mit einem
ganz besonderen, sozusagen praktischen Blick betrachtet wurde: man
dachte an die Macht des Schicksals, an das Unabänderliche des
Geschehenen, – tat es aber nicht etwa aus Berechnung, sondern gleichsam
unbewußt, wie in einem einmal angenommenen alten Glauben. Wenn aber der
Arrestant geneigt ist, sich in seinen Vergehen gegen die Vorgesetzten
für durchaus gerechtfertigt zu halten, ja, diese Frage für ihn überhaupt
nicht existiert, so erkennt er praktisch doch vollkommen an, daß die
Vorgesetzten mit einem ganz anderen Blick auf sein Verbrechen sehen, und
ihn folglich bestrafen mußten. Hier war es ein richtiger Kampf. Der
Verbrecher weiß und zweifelt nicht daran, daß das Urteil seiner
Umgebung, seiner Gesellschaftsklasse ihn freispricht, dasselbe einfache
Volk, unter dem er aufgewachsen ist, das ihn niemals – und das weiß er
ebenso gut – niemals endgültig verurteilen wird, meistenteils ihn aber
vollkommen freispricht, wenn nur das Verbrechen nicht an den eigenen, an
seinen Brüdern, an den ihm Verwandtesten des Volkes begangen ist. Sein
_Gewissen_ ist ruhig, hierin ist er stark, und niemals wird er sich
sittlich verwirren lassen, das aber ist die Hauptsache. Er fühlt
gewissermaßen, daß er etwas hat, worauf er sich stützen kann, und darum
haßt er nicht, sondern faßt das mit ihm Geschehene als ein Ergebnis der
unvermeidlichen Tatsache auf, die nicht durch ihn eingeführt ist und
auch nicht durch ihn beendet werden kann, und noch lange, lange
fortdauern wird in dem nun einmal bestehenden passiven, doch
hartnäckigen Kampfe. Welch ein Soldat wird im Kriege den Feind, den
einzelnen Soldaten des Feindes persönlich hassen? Und doch kann jener
nach ihm schießen, ihn niederschlagen, ihn erstechen ...

Übrigens waren nicht alle Erzählungen so kaltblütig und gleichmütig. Von
dem Leutnant Sherebätnikoff zum Beispiel erzählte man sogar mit einem
gewissen Unwillen, der aber übrigens bei vielen nicht sehr groß war.

Diesen Leutnant Sherebätnikoff lernte ich schon in den ersten Tagen, die
ich im Lazarett verbrachte, kennen – natürlich nicht persönlich, sondern
nur aus den Erzählungen der Sträflinge. Später sah ich ihn einmal auch
in Wirklichkeit, als er gerade auf der Wache war. Er war ein Mann von
nahezu dreißig Jahren, groß, dick, beinahe fett, mit roten, dicken
Wangen, mit weißen Zähnen, und einem Lachen, wie Gogol es zuweilen
schildert. Seinem Gesicht sah man es sofort an, daß er der
unbedachtsamste Mensch der Welt war. Seine Liebe zum Bestrafen und
Peitschenlassen, wenn er einmal zum Exekutor bestimmt wurde, grenzte
förmlich an Leidenschaft. Ich muß vorausschicken, daß ich diesen
Leutnant schon damals für ein Ungeheuer unter seinesgleichen hielt, und
ungefähr ebenso sahen auch die anderen Sträflinge auf ihn. Es gab auch
außer ihm Exekutoren, in alten Zeiten, versteht sich, – d. h., in jenen
jüngst vergangenen Zeiten, die „kaum vorüber und doch kaum glaublich
sind,“ wie Gribojedoff sagt – Exekutoren, die ihre Pflicht in dieser
Sache peinlich genau und mit Eifer zu erfüllen pflegten. Gewöhnlich aber
ging die Bestrafung von Seiten des dazu abkommandierten Leutnants ganz
naiv und ohne jede besondere Begeisterung vor sich. Sherebätnikoff
dagegen war in dieser Beziehung von der Art eines raffinierten
Gastronomen. Er liebte, liebte leidenschaftlich die Kunst des
Bestrafens, und liebte sie nur um der Kunst willen. Er fand einen Genuß
darin und gleich einem in Genüssen gar zu verwöhnten, blasierten
Patrizier des römischen Imperiums erfand er noch verschiedene
Verfeinerungen, sogar die widernatürlichsten, um seine in Fett
erstickende Seele noch ein wenig angenehm zu kitzeln und zu erregen.

Man führt einen Verurteilten zur Bestrafung, Sherebätnikoff ist zur
Leitung der Exekution kommandiert. Allein schon der Anblick der langen
Reihe Soldaten mit den dicken Stöcken begeistert ihn. Zufrieden
schreitet er die Front ab und schärft den Leuten nachdrücklich ein, daß
ein jeder gut und gewissenhaft seine Pflicht erfüllen soll, sonst ...
Die Soldaten wissen schon, was dieses „sonst“ bedeutet. Da wird der
Verbrecher herangeführt, und hat er ihn bisher noch nicht kennen gelernt
und noch nichts näheres über ihn gehört, so konnte Sherebätnikoff mit
ihm zum Beispiel folgendes Stückchen spielen. – Doch ist
selbstverständlich dieses, das ich hier anführe, nur eines von
hunderten, denn der Leutnant war unerschöpflich in solchen Erfindungen.

Jeder Verurteilte wird in dem Augenblick, wenn man seinen Oberkörper
entblößt und seine Hände an die Gewehrkolben gebunden hat, um an ihnen
von den Unteroffizieren durch die ganze „grüne Gasse“ gezogen zu werden,
– in dem Augenblick wird jeder Arrestant, der Sitte getreu, mit
weinerlicher, kläglicher Stimme den Leiter der Exekution zu bitten
anfangen, ihn nicht gar so hart bestrafen zu lassen, wenigstens nicht
mit übermäßiger Strenge.

„Euer Gnaden,“ fleht der Unglückliche, „erbarmt Euch, seid wie unser
himmlischer Vater, tut, daß ewig für Euer Wohlergehen gebetet werde,
bringt mich nicht um, erbarmt Euch!“

Sherebätnikoff hat nur darauf gewartet: er hält sogleich den Vorgang auf
und beginnt – gleichfalls mit gerührter Stimme – folgendes Gespräch:

„Aber, mein Freund,“ sagt er, „was soll ich denn mit dir anfangen! Nicht
ich bestrafe dich, sondern das Gesetz!“

„Euer Gnaden, alles ist in Euren Händen, wolltet Ihr Euch nur erbarmen!“

„Glaubst du denn, daß du mir nicht leid tust? Du glaubst wohl, daß es
mir Vergnügen macht, zu sehen, wie man dich schlägt? Ich bin doch auch
ein Mensch! Bin ich ein Mensch oder nicht, deiner Meinung nach?“

„Ach, Euer Gnaden, wir wissen doch, – Ihr seid unsere Väter und wir Eure
Kinder. Handelt an mir wie ein leiblicher Vater!“ bittet der Arrestant,
der schon zu hoffen anfängt.

„Aber, mein Freund, bedenke doch selbst, du hast doch einen Verstand,
kannst doch selbst urteilen: ich weiß es doch selbst, daß ich aus
Menschlichkeit auch auf dich Sünder nachsichtig und barmherzig blicken
soll ...“

„Ach, Euer Gnaden sagt die reinste Wahrheit!“

„Ja, barmherzig blicken soll, wie sündig du auch bist. Aber hier handelt
es sich doch nicht um mich, sondern um das Gesetz! Denk doch nur nach!
Ich diene doch Gott und dem Vaterlande! Ich nehme doch eine schwere
Sünde auf mich, wenn ich das Gesetz abschwäche, bedenke doch nur das!“

„Euer Gnaden!“

„Nun, aber was! Mag es denn so sein, für dich! Ich weiß, daß ich
sündige, aber mag es denn sein ... Ich werde diesmal noch Gnade vor
Recht walten lassen, werde dich nur leicht bestrafen. Aber wie, wenn ich
dir damit nur schade? Lasse ich dich jetzt nur leicht bestrafen, so
hoffst du, daß es das nächste Mal ebenso sein werde und wirst wieder ein
Verbrechen begehen, – was dann? Ruht doch auf mir, auf meiner Seele die
...“

„Euer Gnaden! Freund und Feind sollen es wissen! Wie vor dem
Richterstuhle des himmlischen Schöpfers ...“

„Nun, schon gut, schon gut! Aber wirst du mir schwören, daß du dich
hinfort gut aufführen willst?“

„Daß mich der Herr zermalme, daß ich in jener Welt ...“

„Schwöre nicht, das ist Sünde. Ich werde auch deinem Wort glauben, –
versprichst du es mir?“

„Euer Gnaden!!!“

„Nun, dann höre mich: ich habe nur wegen deiner Waisentränen Mitleid mit
dir ... Du bist doch Waise?“

„Waise, Euer Gnaden, einsam wie ein Daumen, weder Vater noch Mutter ...“

„Nun, also dann um deiner Waisentränen willen, – aber sieh dich vor, es
ist zum letztenmal ... Führt ihn,“ fügt er mit einer so milden Stimme
hinzu, daß der Arrestant kaum weiß, mit welchen Gebeten er Gott für
einen so barmherzigen Menschen danken soll.

Man führt ihn hin, der Trommelwirbel ertönt, die ersten Stöcke heben
sich.

„Zieht ihn!“ schreit plötzlich aus vollem Halse Sherebätnikoff. „Schlagt
zu, schlagt zu! Prügelt ihn! Noch mehr, noch mehr! Stärker der Waise,
stärker dem Spitzbuben! Tränkt es ihm ein, kräftig, schlagt zu!“

Und die Soldaten schlagen zu aus aller Kraft, Funken sprühen aus den
Augen des Armen, er sperrt den Mund auf und schreit. Sherebätnikoff aber
läuft die Front entlang und lacht, lacht, hält sich die Seiten vor
Lachen, kann sich nicht gerade halten, kann sich nicht aufrichten vor
Lachen, so daß der Herzensjunge einem zum Schluß geradezu leid tut. Und
er freut sich und es amüsiert ihn, und nur von Zeit zu Zeit unterbricht
er sein helles, gesundes Lachen und dann hört man wieder:

„Schlagt zu, schlagt zu! Gebt’s dem Spitzbuben, gebt’s der Waise! ...“

Oder er ersann ein anderes amüsantes Verfahren: man bringt den
Verurteilten, der legt sich wieder auf das Bitten. Sherebätnikoff
verstellt sich diesmal nicht, er spielt den Aufrichtigen.

„Hör mal, mein Lieber,“ sagt er, „ich werde dich wie es sich gehört
bestrafen, denn das hast du verdient. Aber eines kann ich für dich in
Gottes Namen noch tun: ich werde dich nicht an die Gewehrkolben anbinden
lassen. Du wirst allein gehen, aber nach einer neuen Art. Lauf selbst so
schnell du kannst durch die ganze Gasse! Wenn auch jeder Stock dich
deswegen nicht minder trifft, so wird die Sache doch kürzer sein, was
meinst du? Willst du es versuchen?“

Der Sträfling hört ihn verwundert an, mißtrauisch, denkt aber nach:

„Was kann man wissen,“ meint er bei sich selbst, „vielleicht werde ich
dabei tatsächlich besser abschneiden: ich laufe was ich laufen kann, und
die Sache ist fünfmal schneller abgetan, und vielleicht wird nicht
einmal jeder Stock treffen.“

„Gut, Euer Gnaden, ich bin einverstanden.“

„Nun, ich gleichfalls. Los! Gebt acht, aufgepaßt!“ schreit er den
Soldaten zu, da er schon weiß, daß kein einziger Stock den schuldigen
Rücken verfehlen wird, denn auch der fehlschlagende Soldat weiß nur zu
gut, was ihm bevorsteht.

Der Sträfling läuft so schnell er kann, durch die „grüne Gasse“, kommt
aber natürlich kaum bis zum fünfzehnten: die Stöcke fallen wie Blitze,
wie ein Trommelwirbel, von beiden Seiten gleichzeitig auf ihn nieder,
und der Arme stürzt wie gemäht, wie von einer Kugel getroffen zu Boden.

„Nein, Euer Gnaden, lieber schon nach dem Gesetz,“ sagte er, langsam von
der Erde sich erhebend, bleich und erschrocken.

Sherebätnikoff aber, der den Verlauf der Sache schon im Voraus gewußt
hat, schüttelt sich vor Lachen. Doch ich kann ja nicht alle seine
Erfindungen wiedergeben und alles, was man sonst noch über ihn bei uns
erzählte ...

In etwas anderem Ton und Geist sprach man bei uns über einen Leutnant
Ssmekaloff, der vor unserem Platzmajor gewissermaßen den Posten eines
Kommandeurs unseres Ostrogg bekleidet hatte. Erzählte man auch von
Sherebätnikoff bisweilen ziemlich gleichmütig, ohne besonderen Groll, so
freute man sich doch nicht über seine Heldentaten und lobte ihn nicht,
sondern verabscheute ihn offenbar. Ja, man schien ihn sogar mit einem
eigentümlichen Stolz zu verachten. Doch des Leutnants Ssmekaloff
erinnerte man sich bei uns mit Vergnügen. Er war nämlich durchaus nicht
ein besonderer Liebhaber der Prügelstrafe gewesen, und rein
Sherebätnikoffsches Empfinden hatte er überhaupt nicht besessen.
Anderseits aber war auch er gar nicht abgeneigt, auch einmal prügeln zu
lassen. Doch das war ja gerade das Auffallende, daß man sich selbst
seiner Prügelstrafen lächelnd und fast liebevoll erinnerte, – dermaßen
hatte er das Herz der Leute gewonnen! Und wodurch nur? Durch welche
Taten hatte er eine solche Popularität erworben? Es ist wahr, unser
Ostroggvolk wie überhaupt das ganze russische Volk, ist fähig, selbst
Qualen für ein freundliches Wort zu vergessen. Ich spreche davon, wie
von einer Tatsache, ohne sie diesmal von dieser und jener Seite zu
untersuchen. Es war nicht schwer, diesen Ausgestoßenen zu gefallen und
unter ihnen populär zu werden. Der Leutnant Ssmekaloff aber hatte sich
eine ganz _besondere_ Popularität erworben, so daß man sich sogar seiner
Strafen fast mit Rührung erinnerte. „Einen Vater brauchten wir nicht
mehr,“ sagten die Sträflinge und seufzten ordentlich, in Gedanken ihren
früheren zeitweiligen Vorgesetzten, Ssmekaloff, mit dem gegenwärtigen
Platzmajor vergleichend. „Eine Seele war der Mann!“

Er war eigentlich ein einfacher Mensch, in seiner Art vielleicht sogar
gut. Aber es kommt ja nicht selten vor, daß man nicht nur einen
durchschnittlich guten, sondern sogar äußerst guten Menschen zum
Vorgesetzten hat, und doch lieben ihn alle nicht, ja, manch einer wird
noch verspottet. Ssmekaloff verstand es aber, sich so zu geben, daß ein
jeder ihn für einen von den Seinen hielt – „oh, der ist unser!“ – das
aber ist mehr ein Talent, richtiger vielleicht, eine angeborene
Eigenschaft, über die selbst der Besitzer derselben nicht einmal
nachzudenken pflegt. Wie seltsam es auch klingen mag, aber es gibt unter
solchen sehr oft nichts weniger als gute Menschen, und dennoch erfreuen
sie sich sogar großer Beliebtheit. Sie sind nicht launisch, nicht
hochmütig, zeigen dem untergebenen Volke keine Verachtung – und das ist,
wie es mir scheint, der ganze Grund, warum man sie liebt. Da sieht man
nichts vom verzärtelten Herrensöhnchen, da spürt man nichts von
Herrenhochmut, wohl aber ist in ihnen ein ganz besonderer Hauch von
Volklichkeit, der ihnen angeboren zu sein scheint, – Gott! – und wie
fein versteht das Volk diesen Hauch wahrzunehmen! Was gibt das Volk
dafür nicht hin! Selbst den gutmütigsten Menschen ist es bereit, sogar
gegen den strengsten einzutauschen, wenn diesem nur etwas von seinem
eigenen hanfleinenen Geruch anhaftet. Und wenn dieser Mensch nun noch
tatsächlich gutmütig ist, und wär’s auch nur in seiner Weise? Dann ist
er ja völlig unschätzbar, dann wird er bis in den Himmel erhoben.

Der Leutnant Ssmekaloff konnte, wie ich schon gesagt habe, mitunter auch
sehr schmerzhaft bestrafen, aber er verstand es irgendwie so zu machen,
daß man gegen ihn nicht nur keinen Groll hegte, sondern noch zu meiner
Zeit, als schon alles längst vergessen war, sich vergnügt und mit
Wohlgefallen seiner „Stückchen“ bei der Exekution erinnerte. Übrigens
waren diese Stückchen nicht sehr verschiedenartig: die künstlerisch
schöpferische Phantasie des Leutnants langte nicht zu großer
Mannigfaltigkeit. Das heißt, wenn man die Wahrheit sagen soll; so hatte
er nur ein einziges Stückchen in Bereitschaft, mit dem er sich ein
ganzes Jahr lang amüsierte, vielleicht aber war es ihm gerade deswegen
um so lieber, weil es sein einziges war. Es lag viel Naivität in ihm.

Man bringt zum Beispiel den schuldigen Arrestanten. Ssmekaloff erscheint
in eigener Person, mit einem Lächeln, einem Scherzwort, tritt sogleich
an den Arrestanten heran, fragt ihn dies und das, etwas
Nebensächliches, vielleicht über seine persönlichen, häuslichen oder
Ostroggangelegenheiten, fragt es aber durchaus nicht in irgend einer
bestimmten Absicht, und auch nicht um der Phrasen willen, sondern ganz
einfach, – _eben weil er tatsächlich das wissen will, wonach er fragt_.
Man bringt die Ruten und für Ssmekaloff einen Stuhl. Er setzt sich,
raucht seine Pfeife an, so eine lange, lange Pfeife. Der Verurteilte
hält den Augenblick für günstig und fängt zu bitten an ...

„Nein, nein, mein Freund, streck dich mal hin, da ist nichts zu wollen
...“ sagt Ssmekaloff.

Der Arrestant seufzt und legt sich hin.

„Nun, mein Bester, kannst du nicht das Vaterunser auswendig hersagen?“

„Wie denn nicht, Euer Gnaden, ich bin doch auch getauft, habe schon als
Kind Gebete gelernt.“

„Nun, dann sag es mal her.“

Der Sträfling weiß bereits ganz genau, was er herzusagen hat, er weiß
auch schon im Voraus, was die Folge davon sein wird, da derselbe Scherz
sich mindestens schon dreißigmal mit anderen wiederholt hat. Auch
Ssmekaloff weiß, daß es dem Sträfling nichts neues ist; ja, er weiß
sogar, daß selbst die Soldaten, die mit erhobenen Ruten vor dem
liegenden Opfer stehen, den Scherz schon lange kennen, und dennoch
wiederholt er ihn – dermaßen hat er ihm ein für allemal gefallen,
vielleicht gerade aus dem Grunde, weil er ihn selbst erdacht hat,
wahrscheinlich sogar aus literarischem Ehrgeiz.

Der Sträfling beginnt also mit dem Gebet und kommt schließlich auch zu
den Worten: „Dein Wille geschehe ...“

„Halt!“ schreit sofort belebt der Leutnant, und zu den Soldaten mit den
erhobenen Ruten gewandt, fügt er hinzu: „Haut ihn, aber wehe!“ worauf er
in helles Lachen ausbricht.

Die ringsum stehenden Soldaten lächeln gleichfalls; auch der Schlagende
lächelt und viel fehlt nicht, so lächelte auch der Geschlagene,
ungeachtet dessen, daß die Rute schon durch die Luft pfeift, um im
nächsten Augenblick wie ein Rasiermesser über den schuldigen Rücken zu
schneiden. Und Ssmekaloff freut sich, – freut sich namentlich darüber,
daß er es selbst und so gut – sogar im Reim! – ausgedacht hat.

Und Ssmekaloff verläßt den Schauplatz der Exekution vollauf zufrieden
mit sich selbst, und sogar der Bestrafte kehrt nach der Züchtigung fast
ebenso zufrieden mit sich wie mit Ssmekaloff zur Wache zurück, und siehe
da – schon nach einer halben Stunde gibt er im Ostrogg, ganz wie er es
auch jetzt noch tut, zum einunddreißigstenmal zum besten, wie das schon
dreißigmal vorher wiederholte Stückchen auch mit ihm wiederholt worden
war.

„Ja, eine Seele war der Mensch! Und ein seltener Spaßvogel!“

Mitunter war die Begeisterung für den „besten aller Leutnants“ etwas
unverständlich.

„Ja, ging man so an seiner Wohnung vorüber,“ erzählte zuweilen einer,
und sein ganzes Gesicht lächelte in der Erinnerung, „ging ganz ruhig, er
aber saß schon bei sich zu Hause am Fenster, saß im Hausrock, trank Tee,
rauchte sein Pfeifchen. Nun, man grüßte natürlich, nahm die Mütze ab. –

‚Wohin gehst du denn, Akssenoff?‘

‚Zur Arbeit, Michail Wassiljitsch, zuerst geht es nach der Werkstätte,
wir sind dort vonnöten.‘

Da lachte er so vor sich hin ... Ja, wie gesagt, eine Seele war der
Mensch! Eine Seele! – da ist kein Wort zu reden!“

Und pessimistisch meint einer von den Zuhörern:

„Heutzutage kann man solche mit der Laterne suchen.“


                                  III.

                       Das Lazarett, Fortsetzung

Ich bin erst jetzt auf die Bestrafungen wie auch auf verschiedene
Vollstrecker dieser angenehmen Urteile nach dem einmal anerkannten
Gesetz zu sprechen gekommen, da ich erst nach meiner Übersiedelung ins
Lazarett einen anschaulichen Begriff von diesen Dingen erhielt. Bis
dahin hatte ich nur aus den Erzählungen der anderen eine Vorstellung
hiervon erhalten.[7]

In die beiden Krankensäle unserer Abteilung kamen alle mit Spießruten
Gezüchtigten aus den verschiedenen Bataillonen, Arrestantenkompagnien
und übrigen Militärkommandos, die in unserer Stadt und ihrer ganzen
Umgebung lagen. In dieser ersten Zeit, als ich noch alles, was um mich
herum geschah, wißbegierig verfolgte, machten alle diese Gezüchtigten
und zur Züchtigung Verurteilten einen mächtigen Eindruck auf mich, was
ja schließlich ganz natürlich war. Ich war erregt, verwirrt, erschreckt.
Ich weiß noch, daß ich damals mit einemmal anfing, ungeduldig alle
Einzelheiten dieser mir neuen Tatsachen zu erforschen, ich hörte
aufmerksam den Erzählungen der anderen zu, fragte sie nach verschiedenen
Dingen, und wollte mir unbedingte Klarheit verschaffen. Unter anderem
wollte ich um jeden Preis alle Abstufungen der Verurteilungen und
Strafen, alle Abarten der Vollstreckung des Urteils und die Auffassung
der Sträflinge selbst kennen lernen; ich bemühte mich, mir den
psychologischen Zustand des zur Züchtigung Geführten vorzustellen. Ich
habe schon gesagt, daß vor der Bestrafung selten jemand kaltblütig ist,
selbst diejenigen nicht ausgenommen, die bereits wiederholt und sogar
sehr streng gezüchtigt worden sind. Da überfällt den Verurteilten
gewöhnlich eine, ich möchte sagen – stechende, aber rein physische
Angst, die ihn unwillkürlich erfaßt und sich nicht abschütteln läßt, und
die alles Sittliche im Menschen erdrückt. Ich habe auch später noch, in
all den Jahren meines Ostrogglebens, unwillkürlich die vor der
Bestrafung Stehenden beobachtet, vor allen anderen aber diejenigen im
Lazarett, die nach dem Empfang der ersten Hälfte der ihnen zugedachten
Anzahl Hiebe und sobald ihr Rücken zugeheilt war, das Lazarett wieder
verließen, um am nächsten Tage die zweite Hälfte in Empfang zu nehmen.
Diese Teilung der Strafe in zwei Hälften geschieht stets nach dem
Ausspruch des Arztes, der bei jeder Exekution anwesend sein muß. Ist die
Zahl der Schläge sehr hoch, und glaubt man, daß der Verurteilte sie
nicht mit einemmal empfangen kann, so wird sie in zwei oder drei Teile
geteilt, je nachdem was der Arzt während der Bestrafung sagt, ob der
Betreffende noch mehr erhalten kann, oder ob eine Fortsetzung mit
Lebensgefahr für ihn verknüpft ist. Gewöhnlich werden fünfhundert,
tausend, ja sogar tausendfünfhundert Hiebe auf einmal gegeben, ist er
aber zu zwei-, zu dreitausend verurteilt, so wird die Strafe in zwei
oder drei „Serien“ geteilt.

Es fiel mir auf, daß alle, deren Rücken nach der ersten Serie schon
zugeheilt war und die nun das Lazarett verließen, um sich der übrigen
Strafe zu unterziehen, am Tage des Ausschreibens und auch schon vorher
begreiflicherweise düster, mürrisch und auffallend wortkarg waren. Man
sah ihnen eine gewisse geistige Stumpfheit an, eine unnatürliche
Zerstreutheit: sie sprachen kaum ein Wort und schwiegen die ganze Zeit.
Merkwürdig ist, daß auch die anderen Sträflinge fast nie mit ihnen
sprechen und mit keinem Wort dessen Erwähnung tun, was ihnen bevorsteht.
Kein überflüssiges Wort, kein Trost; ja man ist sogar offenbar bemüht,
sie möglichst wenig zu beachten, was den Armen natürlich am angenehmsten
ist. Es gibt ja auch Ausnahmen, wie zum Beispiel ein Orloff, von dem ich
auch schon gesprochen habe. Nach der ersten Hälfte der Strafe war er nur
über eines verdrießlich, nämlich daß sein Rücken nicht zuheilen wollte
und er nicht schnell genug das Lazarett verlassen konnte, um sich dann
sofort der zweiten Hälfte der Strafe zu unterziehen und dann mit dem
nächsten Transport nach Nertschinsk zu wandern – und unterwegs zu
entfliehen. Doch diesen Ausnahmemenschen belebte sein Vorhaben und weiß
Gott, was er sonst noch im Sinn hatte. Er war eine leidenschaftliche,
zähe Natur, war jetzt sehr zufrieden mit sich und der Welt und in sehr
angeregter Stimmung, was er jedoch zu verbergen suchte. Doch hier lag
die Sache noch etwas anders: er hatte vor der ersten Hälfte geglaubt,
man wolle nicht, daß er mit dem Leben davonkomme und daß er sterben
müsse. Ihm waren verschiedene Gerüchte schon während seiner
Untersuchungshaft zu Ohren gekommen, und so hatte er sich bereits auf
seinen Tod gefaßt gemacht. Doch nachdem er nun die erste Hälfte überlebt
hatte, war er sogleich wieder oben auf. Er war halbtot ins Lazarett
getragen worden; ich hatte noch niemals solche Wunden gesehen. Er aber
kam mit Freude im Herzen, mit der Hoffnung, am Leben zu bleiben. Jetzt
glaubte er, daß die Gerüchte offenbar unwahr gewesen und man ihm, wenn
man ihn diesmal am Leben gelassen hatte, folglich auch bei der zweiten
Hälfte nicht totschlagen würde. Und so begann er denn nach der langen
Untersuchungshaft schon von der Überführung in den Osten, von der Flucht
und Freiheit, von Wäldern und Feldern zu träumen ... Aber schon am
zweiten Tage nach der Entlassung aus dem Lazarett starb er in demselben
Krankensaal, auf demselben Lager: die zweite Hälfte der Strafe war zu
viel für ihn gewesen. Übrigens habe ich davon schon gesprochen.

Indessen ertrugen diese Sträflinge, die vor ihrer Bestrafung so schwere
Nächte und Tage durchgemacht hatten, die Bestrafung selbst durchaus
mannhaft, sogar die Kleinmütigsten nicht ausgenommen. Selten habe ich
sie stöhnen gehört, nicht einmal in der ersten Nacht, nicht einmal die
ungewöhnlich hart Bestraften. Überhaupt versteht das Volk Schmerz zu
ertragen. In Betreff des Schmerzes habe ich mich ausführlich erkundigt.
Ich wollte ganz genau wissen, wie groß der Schmerz denn eigentlich war,
womit man ihn vergleichen könnte. Aus welchem Grunde ich darnach fragte,
vermag ich selbst nicht zu sagen, ich weiß nur, daß es von mir nicht aus
müßiger Neugier geschah; ich war aufgeregt, ich war erschüttert. Aber
wen ich auch fragte, niemand konnte mir eine befriedigende Antwort
geben. Es brennt, wie Feuer brennt es – das war alles, was ich erfahren
konnte und zwar war dieses die einzig gleichlautende Antwort aller. „Es
brennt“ – und mehr vermochte niemand zu sagen. Als ich in dieser ersten
Zeit mit M–tzkij näher bekannt wurde, fragte ich auch ihn.

„Es schmerzt,“ sagte er. „... Sehr. Und das Gefühl – es brennt ... wie
Feuer. Als ob der Rücken im stärksten Feuer gebrannt werde.“

Kurz, alle hatten dafür nur die eine Bezeichnung. Übrigens machte ich
gerade damals – ich entsinne mich dessen noch recht genau – eine
Beobachtung, für deren Richtigkeit ich jedoch nicht stehe, die aber von
den übereinstimmenden Aussagen der Sträflinge selbst stark unterstützt
wird. Es ist das die Ansicht, daß die Rutenstreiche, wenn sie in großer
Anzahl gegeben werden, die schwerste Strafe von allen bei uns üblichen
Strafen sind. Man sollte meinen, daß diese Behauptung auf den ersten
Blick unsinnig erscheinen muß. Einstweilen ist es aber Tatsache, daß man
mit fünfhundert, ja sogar mit vierhundert Rutenstreichen einen Menschen
totschlagen kann, mit über fünfhundert ganz sicher. Tausend Streiche
würde selbst der stärkste Mann nicht aushalten, während er fünfhundert
Stockschläge ohne jede Lebensgefahr erträgt. Tausend Stockschläge kann
sogar ein nur mittelstarker Mann ohne Lebensgefahr ertragen. Selbst mit
zweitausend Stockschlägen kann man noch keinen Menschen von mittlerer
Starke und gesunder Konstitution totschlagen. Alle Sträflinge stimmten
darin überein, daß Rutenhiebe schlimmer seien als Stockschläge. „Die
Ruten reißen mehr,“ sagten sie, „es ist ein viel größerer Schmerz.“
Natürlich sind Ruten schmerzhafter als Stöcke. Sie reizen mehr, sie
wirken stärker auf die Nerven, sie erschüttern sie unmäßig, weit mehr
als man ertragen kann. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber in der
erst kürzlich vergangenen „alten Zeit“ gab es bei uns gewisse Gentlemen,
bei denen die Möglichkeit, einen Leibeigenen peitschen zu können,
Gefühle hervorrief, die an den Marquis de Sade und die Marquise de
Brinvilliers erinnern. Ich glaube, in diesen Gefühlen ist etwas, das
jenen Gentlemen das Herz ersterben machte, das schmerzhaft und doch süß
war. Es gibt Menschen, die wie Tiger blutdürstig sind. Wer einmal diese
Macht, die unbegrenzte Herrschaft über einen menschlichen Körper, über
das Fleisch und den Geist eines Menschen, wie man selbst einer ist, der
geschaffen wie wir und nach der Lehre Christi ein Bruder von uns ist, –
wer einmal die Macht und die Freiheit hat, ein anderes Wesen, das
gleichfalls ein Ebenbild Gottes ist, bis zur tiefsten Erniedrigung zu
erniedrigen, – der wird gleichsam unwillkürlich machtlos in seinen
eigenen Gefühlen. Tyrannei ist nichts als Angewohnheit; sie ist mit
Entwicklungsfähigkeit begabt und schließlich artet sie zur Krankheit
aus. Ich bin der Meinung, daß selbst der beste Mensch aus Gewohnheit bis
zum Tierischen verrohen und abstumpfen kann. Blut und Macht berauschen,
sie machen den Menschen trunken: Roheit und Lüsternheit entwickeln sich,
dem Gefühl wie auch dem Verstande wird sogar das Anormalste zugänglich
und schließlich ein Genuß. Der Mensch und Bürger erstirbt im Tyrannen
auf ewig, und eine Rückkehr zur Menschenwürde, zur Reue, – zur
Wiedergeburt ist für ihn fast ausgeschlossen. Zudem wirkt das Beispiel,
die Möglichkeit eines solchen Eigenwillens auf die ganze Gesellschaft
ansteckend: eine solche Macht ist verführerisch. Eine Gesellschaft, die
sich zu derartigen Erscheinungen gleichgültig verhält, ist bereits
selbst in ihrer Grundlage vergiftet. Kurz, das Recht zur Körperstrafe,
das dem einen über den anderen verliehen ist, ist eine der Pestbeulen
der Gesellschaft, ist eines der stärksten Mittel zur Vernichtung jedes
Keimes, jedes Versuches zu einer höheren Menschlichkeit, und die
breiteste Grundlage zur unfehlbaren, unaufhaltsamen Auflösung der
menschlichen Gesellschaft.

Der gewöhnliche Henker wird von der Gesellschaft allgemein verabscheut,
der Henker als Gentleman aber nicht. Erst vor kurzem hat sich die
entgegengesetzte Meinung kundgetan, nur ist sie vorläufig noch in
Büchern abstrakt zum Ausdruck gekommen. Und selbst diejenigen, die sie
aussprechen, haben das Bedürfnis nach Eigenmacht noch nicht ganz in sich
zu ersticken vermocht. Sogar jeder Fabrikbesitzer, jeder Unternehmer muß
zweifellos ein gewisses erregendes Behagen bei dem Gedanken empfinden,
daß sein Arbeiter zuweilen vollkommen nur von ihm allein abhängt, nicht
selten sogar mit seiner ganzen Familie. Das ist Tatsache. Ja, eine
Generation kann sich, wie man sieht, nicht so schnell von dem losreißen,
was sie ererbt hat; nicht so leicht kann der Mensch davon ablassen, was
ihm ins Blut übergegangen ist, was er mit der Muttermilch eingesogen
hat. So schnelle Wandlungen gibt es nicht im Völkerleben. Die Schuld und
die Erbsünde bloß zu erkennen ist noch wenig, sehr wenig: man muß sich
gänzlich von ihr entwöhnen. Das aber geht nicht so schnell.

Ich kam auf den Henker zu sprechen. Die Eigenschaften eines Henkers
finden sich – allerdings nur im Keim – fast in jedem Menschen unserer
Zeit, doch entwickeln sich diese tierischen Eigenschaften nicht in allen
gleich stark. Wenn sie in einem Menschen alle seine anderen
Eigenschaften mit ihrer Entwicklung ersticken, so wird derselbe
natürlich zu einem Ungeheuer. Es gibt zwei Arten von Henkern: die einen
sind freiwillige, die anderen unfreiwillige, verpflichtete. Der
freiwillige Henker steht selbstverständlich in jeder Beziehung noch
tiefer als der unfreiwillige, den jedoch das Volk bis zum Entsetzen
verabscheut, bis zum Ekel, bis zur sinnlosen, beinahe schon mystischen
Angst. Woher kommt nun diese abergläubische Angst vor dem einen Henker
und dieser Gleichmut, dieses Gutheißen, möchte man fast sagen, dem
anderen gegenüber? Es gibt wirklich sonderbare Beispiele hierfür: ich
habe Menschen gekannt, die gut und ehrenhaft und geachtet waren, und
dabei konnten sie es nicht ruhig ertragen, wenn der Gezüchtigte unter
den Rutenstreichen nicht schrie, nicht um Vergebung, um Erbarmen flehte:
er mußte unbedingt schreien und betteln, so war es einmal angenommen, so
mußte es sein. Das galt für notwendig und „anständig“, und als das Opfer
einmal nicht schreien wollte, da hielt sich der Befehlshaber, den ich
persönlich kannte und der sonst zu den, nun ja, zu den guten Menschen
gerechnet werden konnte, fast für persönlich beleidigt. Er hatte anfangs
beabsichtigt, nur leicht zu bestrafen, als er aber das übliche „Euer
Gnaden, unser Vater, erbarmt Euch, laßt mich ewig Gott für Euch bitten,“
und ähnliches nicht vernahm, da geriet er förmlich in Wut und ließ noch
fünfzig überflüssige Streiche hinzugeben, nur um ihn doch noch zum
Schreien und Bitten zu bringen – was ihm dann auch glücklich gelang.
„Das darf man nicht zulassen, es ist eine Frechheit von ihm,“ antwortete
er mir durchaus ernst. Was nun den anderen Henker anbetrifft, den
unfreiwilligen, verpflichteten, so weiß man ja, wer er ist: ein zur
Zwangsarbeit verurteilter Verbrecher, der zum Henkerdienst begnadigt
worden ist, und der, nachdem er zuerst bei einem anderen Henker das
Handwerk erlernt hat, auf Lebenszeit in einem Ostrogg untergebracht
wird. Dort hat er, abgesondert von den anderen, sein eigenes Zimmer,
sogar seine eigene Wirtschaft, befindet sich jedoch stets unter
Aufsicht. Ein lebender Mensch ist natürlich keine Maschine: freilich
schlägt der Henker, nur weil er dazu verpflichtet ist, aber zuweilen
gerät er doch in Eifer; doch wenn er auch nicht ohne eigenes Vergnügen
schlägt, so hat er doch nicht den geringsten persönlichen Haß gegen sein
Opfer. Die Sicherheit des Schlages, die Kenntnis seiner Kunst, der
Wunsch, sich vor seinen Genossen und dem Volke zu zeigen, spornt seinen
Ehrgeiz an. Es ist ihm nur um die Kunst zu tun. Außerdem weiß er, daß er
ein von allen Ausgestoßener ist, daß ihn eine abergläubische Angst
überall empfängt und begleitet, und wer kann es wissen, ob dieses
Bewußtsein keinen Einfluß auf ihn hat, seinen Eifer, seine tierischen
Neigungen nicht anfacht. Sogar jedes Kind weiß, daß Vater und Mutter
sich von ihm lossagen. Eigentümlich, soviel ich Henker zu sehen
Gelegenheit gehabt habe, waren sie ausnahmslos entwickelte Leute,
verständig und klug, und es steckte ungewöhnliche Eigenliebe, sogar
offenbar Stolz in ihnen. Möglich, daß dieser Stolz sich in ihnen als
Gegengewicht zur allgemeinen Verachtung herausbildet, im Bewußtsein des
Entsetzens, das sie ihrem Opfer einflößen, und aus dem Gefühl der
Herrschaft über ihn, – ich weiß es nicht. Vielleicht trug auch das ganze
schauspielhafte Drum und Dran, mit dem er vor dem Volke erscheint, zur
Entwicklung eines gewissen Hochmuts bei. Ich hatte eine Zeitlang
Gelegenheit, oft und aus der nächsten Nähe einem Henker zu begegnen und
ihn zu beobachten. Er war mittelgroß, muskulös, dabei aber hager,
vierzig Jahre alt, mit einem recht sympathischen, klugen Gesicht und
lockigem Haar. Er war stets ungewöhnlich vornehm, ruhig; äußerlich hielt
er sich wie ein Gentleman, antwortete immer kurz, verständig und sogar
freundlich, aber doch etwas hochmütig freundlich, als wäre er wirklich
stolz gewesen. Die wachhabenden Offiziere redeten ihn nicht selten an
und – mein Wort! – sie taten es mit einer gewissen Achtung seiner
Person. Er aber merkte dies sehr wohl, und verdoppelte im Gespräch mit
Vorgesetzten absichtlich seine Höflichkeit, Trockenheit und die eigene
Würde. Je freundlicher der Vorgesetzte mit ihm sprach, um so
zurückhaltender wurde er, und wenn er auch nie die feinste Höflichkeit
vergaß, so bin ich doch überzeugt, daß er sich selbst viel vornehmer
fühlte, als der mit ihm sprechende Vorgesetzte. Das stand förmlich auf
seinem Gesicht geschrieben. Es kam vor, daß er zuweilen an sehr heißen
Sommertagen mit einem sehr langen, dünnen Stock – natürlich unter
Eskorte – ausgeschickt wurde, um die herrenlosen Hunde in der Stadt zu
töten. In unserem Städtchen gab es ungeheuer viel Hunde, die absolut
niemand gehörten, und sie vermehrten sich erschreckend schnell. Im
Sommer, namentlich in der Ferienzeit, waren sie gefährlich, und so wurde
denn auf Befehl der Obrigkeit der Henker zu ihrer Vernichtung
ausgesandt. Doch selbst diese erniedrigende Tätigkeit vermochte ihn dem
Anschein nach nicht im geringsten zu erniedrigen. Man hätte sehen
müssen, mit welch einer Würde er durch die Straßen schritt, in
Begleitung des ermüdeten Soldaten, und allein schon durch sein
Erscheinen die ihn erblickenden Frauen und Kinder erschreckte, und wie
ruhig, ja sogar hochmütig er auf alle ihm Begegnenden herabsah. Übrigens
haben die Henker ein bequemes Leben. Sie haben Geld, essen gut, können
sogar Wein trinken. Das Geld erhalten sie in Gestalt von „Sporteln“, die
die Verurteilten ihnen zahlen. Jeder bürgerliche Verbrecher, dem eine
Bestrafung bevorsteht, wird dem Henker unbedingt etwas schenken, und
wenn es auch das letzte ist, was er hat. Von den Reicheren aber
verlangen sie Geld und bestimmen selbst die Höhe der Summe, entsprechend
ihren mutmaßlichen Mitteln, sogar bis zu dreißig Rubeln, zuweilen aber
noch höher. Mit sehr Reichen handeln sie lange. Natürlich kann der
Henker nicht allzu milde bestrafen, da er dafür mit dem eigenen Rücken
haftet. Doch verspricht er für eine bestimmte Entschädigung, nicht gar
zu schmerzhaft zu schlagen. Fast ausnahmslos geht man auf seinen
Vorschlag ein, denn tut man es nicht, so bestraft er allerdings
barbarisch, was ja ganz in seiner Macht liegt. Mitunter fordert er auch
von einem Unbemittelten eine hohe Summe; dann kommen die Verwandten und
versuchen mit ihm zu handeln, machen ihm viele Bücklinge, doch wehe,
wenn sie seinen Forderungen nicht nachkommen. In solchen Fällen hilft
ihm viel die abergläubische Angst, die er den Leuten einflößt. Es ist
kaum auszudenken, was von den Henkern alles erzählt wird! Übrigens
versicherten die Sträflinge, daß der Henker mit einem einzigen Schlage
einen Menschen totschlagen könne. Wann aber war das erprobt worden? Doch
schließlich, warum nicht? Man sprach davon gar zu überzeugt und der
Henker selbst bürgte mir dafür, daß er es tatsächlich könne. Auch wurde
erzählt, daß er weit ausholen und aus aller Kraft über den Rücken des
Schuldigen schlagen könne, und daß trotzdem nicht die kleinste Wunde
entstehe, nicht einmal ein roter Streifen, und der Geschlagene nicht den
geringsten Schmerz verspüre. Aber von all diesen Tricks sind ja viele
nur zu bekannt. Doch selbst wenn der Henker eine Bestechung nimmt und
milde zu strafen verspricht, so gehört der erste Schlag trotz allem
_ihm_, den gibt er stets aus voller Kraft, den schenkt er für kein Geld.
Es ist dies bei ihnen gewissermaßen schon so Sitte. Die folgenden Hiebe
mildert er, namentlich, wenn man ihm vorher gezahlt hat. Der erste
Streich aber, gleichviel ob man ihm gezahlt hat oder nicht, – der gehört
ihm. Ich weiß wirklich nicht, warum es bei ihnen so angenommen ist.
Vielleicht um das Opfer sogleich an die anderen Schläge zu gewöhnen, in
der Erwägung, daß nach einem sehr schweren Schlage die leichteren nicht
mehr so qualvoll erscheinen, oder auch nur, um dem Opfer zu imponieren,
dem Jungen Angst einzuflößen, ihn zu erschrecken, damit er begreife, mit
wem er es zu tun hat, oder einfach – um sich und seine Macht zu zeigen.
Jedenfalls befindet sich der Henker vor der Exekution in angeregter
Stimmung, er ist sich seiner Kraft und Macht bewußt, er fühlt sich als
Herrscher, er ist gleichsam Schauspieler: die ganze Volksmenge bewundert
ihn, allen flößt er Entsetzen ein, und selbstverständlich ruft er seinem
Opfer nicht ohne Genugtuung zu: „Halt dich fest, es brennt!“ – die
üblichen erschreckenden Worte bei dieser Gelegenheit. Es ist schwer,
sich vorzustellen, bis zu welchem Grade die menschliche Natur sich
entstellen läßt.

In der ersten Zeit meines Aufenthaltes im Lazarett hörte ich stets
wißbegierig diesen Erzählungen der Arrestanten zu. Das Liegen war uns
allen entsetzlich langweilig. Jeder Tag dem anderen so ähnlich! Am
Morgen zerstreute uns noch der Besuch der Ärzte und dann bald nach ihnen
das Essen. Ja, das Essen bildete in dieser Monotonie begreiflicherweise
sogar eine bedeutende Zerstreuung. Die Portionen waren sehr verschieden,
je nach der Krankheit der einzelnen. Die einen erhielten nur Suppe mit
Graupen, andere nur Brei, wieder andere nur Griesmehlbrei, für den es
sehr viele Liebhaber gab. Die Sträflinge waren vom langen Liegen
verweichlicht und liebten Leckerbissen. Die Rekonvaleszenten und auch
die erst halbwegs Gesunden erhielten ein Stück gekochtes Rindfleisch,
einen „Ochsen“, wie man bei uns sagte. Das beste Essen erhielten die
Skorbutkranken: Rindfleisch mit Zwiebeln oder mit Meerrettich und
ähnliches mehr, zuweilen sogar ein Glas Branntwein. Auch das Brot wurde
je nach der Krankheit gegeben, aus Roggenmehl oder Weizenmehl oder aus
beidem gemischt, und gut durchgebacken. Diese Bestimmung der Größe und
Art der Portionen erheiterte die Sträflinge nur. Manche Kranken mochten
nämlich nichts essen, und aßen auch nichts. Dafür aber aßen diejenigen,
die Appetit verspürten, was sie nur wollten. Viele tauschten ihre
Portionen unter einander, so daß Portionen, die nur für den einen
Kranken bestimmt waren, von einem anderen verzehrt wurden. Viele, die
Diät halten mußten, kauften Rindfleisch oder die ganze Portion eines
Skorbutkranken, tranken Kwas oder Branntwein, den sie Skorbutkranken
abkauften, für die er bestimmt war. Einige verzehrten sogar zwei
Portionen. Diese Portionen wurden für Geld gekauft und wieder verkauft.
Das Rindfleisch stand sogar ziemlich hoch im Preise: es kostete nichts
weniger als fünf Kopeken in bar. War in unserem Raum keines zu haben, so
schickte man den Wärter in den anderen Sträflingssaal, und gab es dort
auch keines, dann in die Soldatensäle, in die „freien“, wie man bei uns
sagte. Doch fand sich stets ein Verkäufer. Die Armut war natürlich
allgemein, dafür aber schickten die wenigen, die Geld besaßen, bis hin
auf den Markt nach Kalatschen, sogar nach Naschwerk und ähnlichen
Dingen. Unsere Wärter erfüllten alle diese Aufträge ohne jede
Entschädigung.

Nach dem Mittagessen begann die langweiligste Zeit: alles was getan
wurde, geschah buchstäblich nur aus Langeweile: der eine schlief, der
andere schwatzte, der dritte stritt, der vierte erzählte irgend etwas,
doch so, daß ihn alle hören konnten. Kamen keine neuen Kranken, so war
es noch langweiliger. Dagegen brachte die Ankunft eines Neuen stets
einen gewissen Eindruck hervor, namentlich wenn ihn niemand kannte. Er
wurde eingehend betrachtet, und man mühte sich, herauszubekommen, wer er
war und wie, woher, und für welches Vergehen verschickt. Am meisten
interessierte man sich für die auf dem Transport befindlichen: sie
wußten immer etwas zu erzählen, übrigens niemals von ihren persönlichen
Angelegenheiten; und wenn einer nicht unaufgefordert davon sprach, so
fiel es auch keinem ein, ihn danach zu fragen. Man erkundigte sich nur,
woher der Trupp kam, mit wem er marschiert war, wohin es ging, wie die
Wege sind, usw. Einige, die die neue Erzählung hörten, erinnerten sich
dann auch des einen oder anderen, das sie selbst auf dem Marsch gesehen
oder erlebt hatten. Die mit Spießruten Bestraften erschienen gleichfalls
um diese Zeit – gegen Abend. Sie machten gewöhnlich einen ziemlich
starken Eindruck auf uns alle, wie ich das ja schon erwähnt habe. Aber
die kamen doch nicht jeden Tag, und so war es an den Tagen, wenn niemand
kam, ganz entsetzlich langweilig: alle schienen gleichsam schlaff zu
werden, alle schienen der Gesichter der übrigen unendlich überdrüssig zu
sein, und bald kam es zu Zank und Streit. Man freute sich bei uns sogar
über die Wahnsinnigen, die zur Untersuchung zu uns gebracht wurden. Hin
und wieder stellte sich auch wohl ein Sträfling, um der Bestrafung zu
entgehen, irrsinnig; einige von ihnen wurden bald überführt, oder
richtiger, sie entschlossen sich selbst, ihre Politik zu ändern, so daß
der Sträfling, nachdem er zwei oder drei Tage lang den Verrückten
gespielt hatte, ganz plötzlich, mir nichts dir nichts, wieder vernünftig
wurde, verstummte und dann mit finsterer Miene um seine Entlassung bat.
Weder die Ärzte noch die anderen Sträflinge tadelten oder beschämten
ihn, oder erinnerten ihn an seine verdrehten Possen: schweigend wurde er
entlassen, schweigend begleitet, und nach zwei oder drei Tagen kam er
bestraft zurück. Doch solche Fälle waren im allgemeinen recht selten.
Aber die tatsächlich Verrückten – die waren eine wahrhaftige Heimsuchung
Gottes für das ganze Lazarett. Einige von ihnen, die lachend und
schreiend, tanzend und singend hereintraten, wurden von den Sträflingen
fast mit Entzücken empfangen: „Das ist doch mal eine Unterhaltung!“
meinten sie, beim Anblick eines solchen Grimassenschneiders. Mir aber
war es unsäglich schwer, diese Unglücklichen zu sehen. Ich habe es nie
vermocht, beim Anblick eines Irrsinnigen gleichmütig zu bleiben.

Gleichwohl wurden bald alle der ununterbrochenen Grimassen und des ewig
unruhigen Gebarens des anfänglich so erfreut begrüßten Irrsinnigen
entsetzlich überdrüssig und schon nach zwei Tagen waren sämtliche
Zimmergenossen um den Rest ihrer Geduld gebracht. Einmal strafte uns die
Vorsehung mit einem solchen ganze drei Wochen lang, und es war wirklich
um auf die Wände zu kriechen – hatte man bis dahin noch nie an Flucht
aus dem Lazarett gedacht, so wurde einem dieser Gedanke jetzt unheimlich
nahe gelegt. Und da schickte uns das Schicksal in derselben Zeit noch
einen zweiten Wahnsinnigen! Dieser machte auf mich einen grauenvollen
Eindruck. Es war das im dritten Jahr meines Ostrogglebens. Im ersten
Jahr, oder richtiger, in den ersten Monaten ging ich im Frühling mit
Ofensetzern als Handlanger in eine zwei Werst entfernte Ziegelbrennerei.
Die Brennöfen mußten für den Sommer, wenn das Ziegelbrennen wieder
begann, instand gesetzt werden. Am ersten Morgen machten mich M–tzkij
und B. mit dem in der Brennerei als Aufseher lebenden Unteroffizier
Ostroshskij bekannt. Er war Pole, etwa sechzig Jahre alt, groß von
Wuchs, hager, von angenehmem und sogar imponierendem Äußeren. In
Sibirien lebte er schon seit langer Zeit und wenn er auch aus dem
einfachen Volke stammte und als Soldat nicht sehr gebildet war, so wurde
er doch von M–tzkij und B. geliebt und geachtet. Er las beständig in der
katholischen Bibel. Ich unterhielt mich mit ihm und er sprach so
freundlich, verständig, wußte so interessant zu erzählen und blickte
einen so gutmütig und ehrlich an. Seit der Zeit hatte ich ihn ganze zwei
Jahre nicht gesehen, nur einmal hatte ich gehört, daß er sich in
Untersuchungshaft befinde. Und nun plötzlich wurde er als Irrsinniger zu
uns hereingeführt. Lachend, kreischend trat er ein und begann sofort mit
den unanständigsten Gesten einen Tanz, ähnlich wie die Kamarinskaja, zu
tanzen. Die Sträflinge waren entzückt, begeistert, mir aber wurde sehr
traurig zumut ... Nach drei Tagen wußten wir nicht mehr, was wir mit ihm
anfangen sollten. Er stritt, schimpfte sich mit allen und jedem herum,
raufte, schrie, gröhlte, sang Lieder, sogar in der Nacht, machte in
jedem Augenblick so ekelhafte Bewegungen, daß uns allen geradezu übel
wurde. Er fürchtete sich vor nichts und niemand. Schließlich wurde ihm
eine Zwangsjacke angezogen, zumal er ohne sie auf jeden losging und sich
mit ihm prügelte und balgte. In diesen drei Wochen erhoben sich zuweilen
alle Kranken wie ein Mann und baten den Oberarzt, unseren Friedensstörer
zum Teufel oder in den anderen Arrestantenkrankensaal überführen zu
lassen. Dort aber wurde der Arzt schon nach zwei Tagen gebeten, ihn
wieder zu uns zurückzuschicken. Da es aber zu gleicher Zeit zwei
Verrückte gab, die beide rabiate Schreihälse und Raufbolde waren, so
tauschten die Arrestantensäle immer abwechselnd mit ihren „Landplagen“.
Aber der eine war nicht besser als der andere. Alle atmeten auf, als man
sie endlich irgendwohin fortschickte ...

Auch erinnere ich mich noch eines anderen seltsamen Geisteskranken.
Einmal im Sommer brachte man einen Verurteilten, einen dem Anscheine
nach gesunden, nur etwas eigentümlichen Mann von fünfundvierzig Jahren,
mit einem von Blatternarben völlig verunstalteten Gesicht, kleinen
roten, eingekniffenen Augen und mürrischer, finsterer Miene. Ihm wurde
das Bett neben mir zugewiesen. Er war, wie sich zeigte, ein friedlicher,
ruhiger Mensch, der mit niemand sprach und beständig wie in Nachdenken
versunken dasaß. Es dunkelte bereits, – da wandte er sich plötzlich an
mich: ohne jede Einleitung begann er mir sofort zu erzählen, und zwar
mit einem Gesichtsausdruck, als teile er mir ein ungeheures Geheimnis
mit, daß er zu zweitausend Hieben verurteilt sei, doch werde ihm jetzt
nichts geschehen, da die Tochter des Obersten G. sich für ihn verwende.
Ich blickte ihn verwundert an und äußerte meine Meinung, daß in diesem
Falle die Tochter eines Obersten nichts zu tun vermöge. Ich ahnte noch
nichts, denn er war nicht als Irrsinniger, sondern als gewöhnlicher
Kranker gebracht worden. Ich fragte ihn, woran er denn leide, er aber
sagte, er wisse es selbst nicht, – daß man ihn aus irgend einem Grunde
hergeschickt habe, er aber vollkommen gesund sei, und die Tochter des
Obersten sich in ihn verliebt habe. Sie sei einmal, etwa vor einer
Woche, an der Hauptwache vorübergefahren, als er gerade zum vergitterten
Fensterchen hinausgesehen habe: sie hätte ihn erblickt und sich sofort
in ihn verliebt. Daraufhin sei sie unter verschiedenen Vorwänden bereits
dreimal auf der Hauptwache gewesen, das erstemal zusammen mit dem Vater,
um den Bruder, der dort Dienst hatte, zu sprechen, das zweitemal mit der
Mutter, um Almosen zu geben, und bei der Gelegenheit habe sie ihm im
Vorübergehen zugeflüstert, daß sie ihn liebe und die Aufhebung der
Strafe erwirken werde. Es war auffallend, mit wie feinen Einzelheiten er
mir diese ganze Ungereimtheit erzählte, die natürlich bis aufs Letzte in
seinem armen kranken Kopf entstanden war. An die Aufhebung seiner Strafe
glaubte er unerschütterlich. Von der leidenschaftlichen Liebe dieser
Dame zu ihm sprach er ruhig und überzeugt. Es war, ganz abgesehen von
der Unsinnigkeit des Ganzen, so unglaublich, eine derartig romantische
Liebesgeschichte eines jungen Mädchens von einem nahezu fünfzigjährigen
Greise zu hören, dessen Gesicht mürrisch, finster und von Blatternarben
völlig verunstaltet war. Da sieht man, was die Angst vor der Strafe mit
einer schüchternen, zaghaften Seele machen kann. Vielleicht hatte er in
dem beginnenden Irrsinn, der mit der wachsenden Angst von Stunde zu
Stunde zunahm, tatsächlich jemand durch das Fenster erblickt und – da
hatte dann seine Phantasie einen Ausweg gefunden. Dieser arme Soldat,
der wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal an
vornehme Damen gedacht, erfand plötzlich einen ganzen Roman, an den er
sich instinktiv wie an den letzten Strohhalm anklammerte. Ich hörte ihm
schweigend zu und teilte meine Vermutung den anderen Sträflingen mit.
Als aber diese ihn auszufragen suchten, da verstummte er aus
Schamgefühl. Am nächsten Tage untersuchte und befragte ihn der Oberarzt
lange Zeit, und da er ihm sagte, daß er ganz gesund sei, wie es sich
auch bei der Untersuchung gezeigt, so wurde er als gesund
ausgeschrieben, was wir jedoch erst nach dem Fortgang der Ärzte
erfuhren. So konnten wir sie denn nicht mehr über den wahren Sachverhalt
aufklären. Und zudem waren wir auch selbst noch nicht ganz sicher in
unserer Annahme. Die Schuld an dem Mißverständnis trug jedenfalls der
Vorgesetzte, vielleicht der Unteroffizier der Wache, der ihn ins
Lazarett geschickt hatte, ohne zu erklären, weswegen. Wahrscheinlich war
es eine Nachlässigkeit von ihm gewesen. Vielleicht aber hatten auch die
Absender nur mehr Irrsinn vermutet, als daß sie genau gewußt hätten, was
ihm fehlte, und ihn nur zur Untersuchung ins Lazarett geschickt. Aber
wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls wurde der Arme nach zwei Tagen
zur Züchtigung hinausgeführt, die ihn, wie es schien, infolge seiner
Unvorbereitetheit nicht wenig erschreckt haben mußte. Er glaubte es
nicht, daß man ihn bestrafen würde, glaubte es bis zum letzten
Augenblick nicht, und als man ihn wirklich durch die grüne Gasse zog, da
soll er nach der Polizei geschrieen haben. Im Lazarett wurde er diesmal,
da bei uns alle Betten besetzt waren, in das andere Arrestantenzimmer
gebracht. Ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr, daß er in ganzen acht
Tagen mit keinem einzigen ein Wort gewechselt habe, anscheinend sehr
verwirrt und dabei auffallend traurig gewesen sei ... Bald darauf wurde
er irgend wohin fortgeschickt, nachdem sein Rücken zugeheilt war.
Wenigstens habe ich nie mehr etwas von ihm gehört.

Was nun die Medizin und das Einhalten der Diät anbetrifft, so befolgten,
soweit ich beobachtet habe, die Leichtkranken fast überhaupt nicht die
Anordnungen der Ärzte und nahmen gar keine Medizin ein. Die
Schwerkranken dagegen und überhaupt die wirklich Kranken liebten es
sehr, das Verordnete gewissenhaft zu erfüllen: pünktlich nahmen sie ihre
Mixturen und Pülverchen, doch zogen sie ihnen eigentlich äußere Mittel
vor. Schröpfköpfe, Blutegel, heiße Umschläge und Aderlassungen, die das
einfache Volk so gern hat und denen es so hingebend glaubt, waren eine
gern geduldete Behandlung, die ihnen sogar ein gewisses Vergnügen zu
bereiten schien. Unter anderem interessierte mich auch eine sehr
sonderbare Erscheinung. Dieselben Menschen, die im Ertragen der größten
Schmerzen von Stockhieben und Spießruten so überaus standhaft waren,
klagten nicht selten und jammerten stöhnend über irgendwelche kleinen
Schröpfköpfe. Waren sie nun durch das Liegen und das gute Essen so
verweichlicht oder stellten sie sich nur so – ich weiß es nicht zu
erklären. Freilich waren unsere Schröpfköpfe etwas anderer Art, als die
sonst üblichen. Das Instrument, mit dem die Haut zu diesem Zwecke
durchgeschnitten werden muß, hatte der Feldscher einmal, wohl schon vor
undenklichen Zeiten, verloren oder verdorben – infolgedessen war er
gezwungen, die notwendigen Einschnitte mit der Lanzette zu machen. Für
jeden Schröpfkopf sind bis zwölf solcher Einschnitte erforderlich, die
mit dem Instrument schnell und schmerzlos gemacht werden können: zwölf
kleine Messerchen schlagen alle zu gleicher Zeit ein, in einer
Viertelsekunde, und ein Schmerz ist kaum zu spüren. Die Lanzette dagegen
schneidet verhältnismäßig sehr langsam, der Schmerz wird fühlbar, und da
man zum Beispiel für zehn Schröpfköpfe hundertundzwanzig solcher
Einschnitte machen mußte, so war es alles in allem nicht angenehm. Auch
ich habe es am eigenen Körper erfahren – aber wenn es auch schmerzhaft
und nervenreizend ist, so ist es doch immerhin nicht so schmerzhaft, daß
man sich nicht hätte bezwingen können. Mitunter war es wirklich
lächerlich, zu sehen, wie so ein langer, gesunder Tölpel sich hin und
her wand und jammerte. Es erinnerte einen oft daran, wie mancher Mensch,
der in einer ernsten Angelegenheit fest und ruhig bleibt, zu Hause aber
wegen nichts und wieder nichts launisch ist, das vorgesetzte Essen nicht
anrührt, an allem mäkelt und über alles ungehalten ist: nichts ist ihm
recht, alle regen ihn auf, alle sind unhöflich zu ihm, alle quälen ihn,
– mit einem Wort, er ärgert sich vor lauter Fett, wie man zu sagen
pflegt, d. h. vor lauter Wohlergehen. Solche Menschen trifft man unter
Reichen nicht selten an, doch gibt es sie auch unter dem Volk. In
unserem Ostrogg nun waren sie, infolge des gezwungenen Zusammenlebens
mit anderen, keine Seltenheit. Zuweilen ließen die anderen es sich
angelegen sein, den verweichlichten Bauernsohn zu necken, oder der eine
oder andere schalt ihn gehörig: dann verstummte er sofort, ganz als
hätte er tatsächlich nur darauf gewartet, daß man ihn schimpfte, um dann
mit dem Jammern aufzuhören. Am wenigsten mochte Ustjänzeff dieses
Stöhnen leiden und so ließ er sich auch keine Gelegenheit entgehen, den
Betreffenden zu schimpfen. Überhaupt nahm er jede Schimpfgelegenheit
wahr. Das Schimpfen war ihm zum Vergnügen, zum Bedürfnis geworden, woran
natürlich seine Krankheit die Schuld trug, teilweise aber auch seine
Beschränktheit. Zuerst schaute er den Betreffenden ernst und aufmerksam
an, und dann erst begann er plötzlich, mit ruhiger, überzeugungsvoller
Stimme, ihm die Leviten zu lesen. Er hatte sich in alles einzumischen,
ganz als wäre er bei uns zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der
allgemeinen Sittlichkeit eingesetzt gewesen.

„Den geht alles etwas an,“ sagten die anderen lachend. Übrigens ging man
vorsichtig mit ihm um und vermied auch jeden Streit mit ihm, nur wurde
über ihn zuweilen gelacht.

„Der schwatzt dir aber was zusammen! Das können drei Fuhren nicht
fortschaffen.“

„Was, darf ich es denn nicht? Vor einem Narren zieht man nicht den Hut,
das ist doch bekannt. Warum schreit er denn unter der Lanzette? Wer
Honig liebt, darf auch über Bienenstiche nicht klagen, jetzt hast du
auszuhalten!“

„Was geht das dich an?“

„Nein, wißt ihr,“ unterbrach einer unserer Arrestanten aus dem Ostrogg,
„diese Schröpfköpfe, das ist noch nichts, – ich habe sie ausprobiert;
aber seht, der vermaledeiteste Schmerz ist, wenn einer einen lange am
Ohr zieht.“

Alle lachten.

„Hat man dich denn schon so gezogen?“

„Du dachtest wohl nicht? Selbstverständlich hat man.“

„Das merkt man. Deine Ohren stehen ja wie Scheuklappen ab.“

Der Arrestant, Schapkin hieß er, hatte allerdings sehr abstehende Ohren.
Er war ein Landstreicher, noch jung an Jahren, ein geschickter, stiller
Junge, der immer mit einem gewissen ernsten, versteckten Humor sprach,
der seinen Erzählungen viel Komik verlieh.

„Warum soll ich denn annehmen, daß man dich am Ohr gezogen hat, wie soll
ich darauf kommen, du vernagelter Mensch?“ mischte sich wieder
Ustjänzeff ein, sich unwillig an Schapkin wendend, obgleich jener
durchaus nicht zu ihm, sondern zu allen gesprochen hatte; doch Schapkin
schenkte ihm nicht einmal einen Blick.

„Aber wer hat dich denn so schmerzhaft am Ohr gezogen?“ fragte jemand.

„Wer? Das läßt sich doch wohl denken. Der Richter, natürlich. Das war
nämlich, müßt ihr wissen, wegen Landstreicherei. Wir kamen damals
selbander nach K., ich und noch ein Landstreicher, Jefins mit Namen,
aber ohne weitere Benennung. Unterwegs hatten wir im Dorfe Tolmina
unseren Besitzstand ein wenig aufgefrischt. Das war dort so ein Dorf,
Tolmina mit Namen. Nun, wir kamen also hin, sahen uns um: nicht zu
verachten. Im Felde gibt es vier Freiheiten, in der Stadt aber keine
einzige, wie bekannt. Nun, ganz zuerst ging es ins Wirtshaus, hielten
Umschau. Da kommt zu uns einer, so ’n Abgebrannter, die Ellenbogen
zerrissen, im deutschen Rock. Nun, dies und das.

‚Aber wie geht ihr denn,‘ fragt er, ‚erlaubt, daß ich mich erkundige, –
mit Dokumenten?‘[8]

‚Nein,‘ sagen wir, ‚ohne Dokumente.‘

‚So. Wir gleichfalls. Ich habe hier noch zwei Kollegen,‘ sagt er, ‚die
gleichfalls bei General Kukuschkin dienen.[9] Darf ich nun fragen, ob
ich mich zu Gaste laden kann? Ein halbes Maß werdet ihr doch für uns
haben?‘

‚Mit Vergnügen,‘ sagen wir. Nun wir tranken also. Bei der Gelegenheit
kamen wir auch auf ein Unternehmen zu sprechen, das in unser Fach
schlug. Dort außerhalb der Stadt stand ein Haus, das einem reichen
Bürger gehörte. Und so beschlossen wir, in der Nacht dort einen Besuch
zu machen. Und so kam es denn, daß wir in selbiger Nacht noch alle fünf
bei dem reichen Bürger in die Falle gingen. Man führte uns in Nummer
Sicher und von dort direkt zum Richter. ‚Ich werde sie selbst verhören,‘
sagt er. Er erscheint mit einer Pfeife, ein Glas Tee wird ihm
nachgetragen, so ein gesunder Mann mit Backenbart. Er setzte sich. Aber
da wurden noch drei außer uns hereingeführt, gleichfalls Landstreicher.
Ein ulkiger Mensch ist und bleibt doch so ein Landstreicher: nichts weiß
er, und wenn du ihm auch einen Knüppel an den Kopf schlägst, alles hat
er vergessen, nichts weiß er! Der Richter wendet sich geradeaus an mich.
‚Wer bist du?‘ brummte er mich an wie aus einer Tonne. Nun, versteht
sich, sage wie gewöhnlich: ‚Weiß nicht, Euer Gnaden, habe alles
vergessen.‘

‚Wart mal,‘ sagt er, ‚mit dir werde ich noch reden, deine Visage ist mir
schon bekannt,‘ und dabei glotzt er mich an wie ein Frosch. Ich aber
hatte ihn vorher noch nie gesehn. Darauf fragt er den anderen: ‚Wie
heißt du?‘

‚Mach dich aus dem Staube, Euer Gnaden.‘

‚Was, du heißt – Mach dich aus dem Staube?‘

‚Genau so, Euer Gnaden.‘

‚Nun gut, du heißt Mach dich aus dem Staube, aber du?‘ das fragt er den
dritten.

‚Ich Ebenso, Euer Gnaden.‘

‚Aber wie ist denn dein Name?‘

‚Das ist ja mein Name: Ich Ebenso, Euer Gnaden.‘

‚Aber wer hat dich Schuft denn so getauft?‘

‚Gute Menschen, Euer Gnaden. In der Welt geht es bekanntlich nicht ohne
gute Menschen, Euer Gnaden.‘

‚Wer aber sind denn diese guten Menschen gewesen?‘

‚Das habe ich nicht behalten, Euer Gnaden werden es mir schon gnädig
verzeihen müssen.‘

‚Hast du alle vergessen?‘

‚Alle vergessen, Euer Gnaden.‘

‚Aber du hast doch Vater und Mutter gehabt? ... Dieser entsinnst du dich
doch noch?‘

‚Es ist wohl anzunehmen, Euer Gnaden, daß ich welche gehabt habe, aber
auch ihrer erinnere ich mich nicht mehr, Euer Gnaden.‘

‚Aber wo hast du denn bis jetzt gelebt?‘

‚Im Walde, Euer Gnaden.‘

‚Immer im Walde?‘

‚Immer im Walde.‘

‚Nun, aber im Winter?‘

‚Den Winter habe ich nicht gesehen, Euer Gnaden.‘

‚Nun, und du, wie heißt du?‘

‚Beil, Euer Gnaden.‘

‚Und du?‘

‚Friß und gähne nicht, Euer Gnaden.‘

‚Und du?‘

‚Sei nachsichtig, Euer Gnaden.‘

‚Und alle könnt ihr euch nicht mehr eurer Namen entsinnen?‘

‚Nein, Euer Gnaden.‘

Da steht er, lacht, und die anderen lächeln gleichfalls. Nun, aber ein
andermal schlägt er einem auch mit der Faust zwischen die Zähne, wenn
das Lachen ihm ungelegen ist: ‚Die Burschen alle so gesund,
wohlgenährt,‘ sagt er ...

‚Führt sie ins Gefängnis,‘ sagt er, ‚ich werde noch später mit ihnen
reden. Du aber bleib hier‘ – das sagt er also zu mir. ‚Komm her, setz
dich!‘

Was sehe ich: vor mir steht ein Tisch mit Tinte, Feder und Papier. Ich
denke: was wird er nun mit mir anfangen?

‚Setz dich,‘ sagt er, ‚auf den Stuhl, nimm die Feder, schreibe!‘ Selbst
aber erfaßt er mein Ohr und zieht es auch schon. Ich sehe ihn an wie der
Teufel den Pastor. ‚Verstehe nicht,‘ sage ich, ‚Euer Gnaden.‘

‚Schreib!‘

‚Erbarmen, Euer Gnaden!‘

‚Schreib! Schreib wie du es verstehst!‘ Selbst aber zieht er mich dabei
immer am Ohr, zieht und zieht, und wie er es dabei noch drehte! Nein,
Brüder, ich sage euch, mir wären dreihundert Hiebe lieber gewesen, als
dieses ‚schreib!‘ und weiter nicht als ‚schreib!‘ Von dem mir grün und
blau vor den Augen wurde.“

„Was war denn mit ihm los? – übergeschnappt?“

„Fiel ihm nicht ein. Aber in T–sk hatte ein Schreiberlein vor kurzer
Zeit ein Stückchen losgeschossen: hatte die Kasse unterschlagen und sich
mit dem Inhalt aus dem Staube gemacht, und der hatte gleichfalls
abstehende Ohren gehabt. Nun, es war überall hin gemeldet worden. Ich
aber war den Anzeichen nach so wie er, und da fühlte er mir auf den
Zahn: verstand ich zu schreiben? und wie?“

„So ein Pech! Schmerzte es?“

„Das habe ich dir doch schon gesagt: sogar verteufelt!“

Alles lachte.

„Na, und hast du denn geschrieben?“

„Was geschrieben! Fing wohl an, die Feder zu führen, zu führen, führte,
führte, auf dem Papier nämlich, – da gab er’s auf. Gab mir noch so an
zehn Ohrfeigen mit auf den Weg und damit entließ er mich dann, wollte
sagen, in den Ostrogg.“

„Aber verstehst du denn zu schreiben?“

„Früher verstand ich’s, seitdem man aber mit den Federn schreibt, habe
ich es verlernt ...“

Mit derartigen Erzählungen oder, richtiger gesagt, Schwätzereien wurde
die langweilige Zeit totgeschlagen. Herrgott, war das eine Langeweile!
Die Tage so lang, so lang, so schwül, der eine bis aufs Tüttelchen genau
so wie der andere. Wenn man doch wenigstens irgend ein Buch gehabt
hätte! Und dabei ging ich, namentlich in der ersten Zeit, oft ins
Lazarett, zuweilen weil ich krank war, zuweilen nur, um dort zu liegen.
Nur fort aus dem Ostrogg! Schwer war es im Ostrogg, noch schwerer als
hier: moralisch schwerer. Die Bosheit, Feindschaft, der Neid, Hader, die
fortwährenden Angriffe auf uns Edelleute, die bösen, drohenden
Gesichter! Hier dagegen, im Lazarett, waren alle mehr gleichgestellt,
und lebten freundschaftlicher. Die bedrückendsten Stunden im Laufe des
ganzen Tages kamen abends, wenn das Licht schon angezündet war, und zu
Anfang der Nacht. Früh schon ging man zur Ruh. Das trübe Nachtlicht
leuchtet fern an der Tür als einziger heller Punkt; in unserer Ecke, in
unserer ganzen Hälfte herrscht Halbdunkel. Die Zimmerluft ist schwül und
voll Gestank. Manch einer findet keinen Schlaf, er erhebt sich und sitzt
wohl anderthalb Stunden auf dem Bett, den Kopf mit der Nachtmütze
gesenkt, als dächte er über etwas nach. Da sieht man eine ganze Stunde
zu ihm hinüber und bemüht sich, zu erraten, was er denkt, nur um
gleichfalls auf irgend eine Weise die Zeit totzuschlagen. Oder man
ergibt sich dem Träumen, erinnert sich des Vergangenen, große, helle
Bilder malt die Phantasie. Man erinnert sich so kleiner Einzelheiten, an
die man sonst nie denken und die man wohl nie so durchfühlen würde, wie
hier im Arrestantenlazarett. Oder man denkt an die Zukunft: wie wird es
sein, wenn du aus dem Ostrogg entlassen wirst? Wohin wirst du dann
gehen? Wann wird das sein? Wirst du überhaupt jemals in die Heimat
zurückkehren? Und du denkst und denkst und Hoffnung rührt sich in deiner
Seele ... Ein anderes Mal beginnt man einfach zu zählen: eins, zwei,
drei, vier usw., nur um während des Zählens einzuschlafen. Ich zählte
oft bis dreitausend und schlief doch nicht ein. Dort dreht sich einer
auf die andere Seite, der Strohsack knistert. Ustjänzeff hustet seinen
trockenen, schwindsüchtigen Husten und stöhnt dann schwach, worauf er
jedesmal vor sich hin murmelt: „Gott, ich habe gesündigt!“ So sonderbar
klingt diese kranke, gesprungene, gequälte Stimme inmitten der tiefen
Stille und Nacht ringsum. Auch dort irgendwo in der Ecke schläft man
nicht und es sprechen zwei miteinander von Bett zu Bett. Der eine
erzählt etwas von seinem Leben, von längst, längst Vergangenem,
Vergessenem, von Landstreicherei, von seinen Kindern, seinem Weibe, von
früheren Verhältnissen. Allein schon aus dem fernen, undeutlichen,
murmelnden Geflüster fühlt man, daß alles, wovon er erzählt, niemals
mehr zu ihm wiederkehren wird, und daß er selbst, der Erzähler, nichts
als ein abgeschnittenes, fortgeworfenes Stück von dem Übrigen ist. Der
andere hört zu. Zu mir dringt nur ein ruhiges, gleichmäßiges Gemurmel,
gleich wie wenn fallendes Wasser erzählte, irgendwo fern ... Ich
entsinne mich noch, wie ich einmal in einer langen Winternacht eine
solche Erzählung mit anhörte. Zuerst glaubte ich fast, daß sie mein
eigener Fiebertraum war, und es schien mir, als vernahm und sah ich
alles nur in meiner kranken Phantasie ...




                                  VI.


                            Der Mann der Akulka
                            (Eine Erzählung)


Es war schon spät in der Nacht, wohl in der zwölften Stunde. Ich war
schon eingeschlafen, – da erwachte ich plötzlich. Der trübe Schein des
fernen Nachtlichts erhellte kaum die nächsten Lagerstätten ... Fast alle
schliefen. Sogar Ustjänzeff schlief, und in der Stille hörte man, wie
schwer er atmete und wie der Schleim in seinem Halse bei jedem Atemzuge
brodelte. Da ertönten draußen auf dem Flur die schweren Schritte der
nahenden Ablösung. Ein Gewehrkolben stieß schwer auf den Boden. Die Tür
des Krankenzimmers öffnete sich: der Gefreite trat leise ein und zählte
die Kranken. Nach einer Minute war die Tür wieder verschlossen, die neue
Wache trat an, die Schritte des Wachkommandos entfernten sich, und
wieder trat die Stille ein. Nun erst bemerkte ich, daß nicht weit von
mir, links von meinem Bett, zweie nicht schliefen und miteinander zu
flüstern schienen. Das kam zuweilen vor: es lagen manche monatlang
nebeneinander, ohne daß je ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, und
dann plötzlich in einer Nacht, in einer schweren Stunde, fängt der eine
zu sprechen an und breitet vor dem anderen, lauschenden, seine ganze
Vergangenheit aus.

Offenbar flüsterten sie schon lange miteinander. Den Anfang hatte ich
nicht gehört, und auch jetzt konnte ich nicht alles vernehmen, doch
allmählich gewöhnte sich mein Ohr daran und so vernahm ich bald auch die
einzelnen Worte. Ich konnte nicht schlafen: was sollte ich tun, wenn ich
nicht zuhörte? ...

Der eine erzählte, halbliegend im Bett, den Kopf erhoben und
vorgestreckt, damit ihn der Genosse besser höre. Augenscheinlich war er
erregt, es quälte ihn etwas und er wollte erzählen. Sein Zuhörer saß
finster und gleichmütig auf seinem Lager, die Füße ausgestreckt, hin und
wieder brummte er etwas als Antwort oder zum Zeichen seines Interesses,
was er aber mehr anstandshalber als aus wirklicher Teilnahme zu tun
schien, und stopfte fortwährend aus einem Horn Tabak in die Nase. Er war
ein Soldat aus der Strafkompagnie, Tscherewin hieß er, ein Mann von
ungefähr fünfzig Jahren, ein mürrischer Pedant, ein kalter Raisonneur
und selbstgefälliger Dummkopf. Der Erzähler, Schischkoff, war ein
junger, noch nicht dreißigjähriger Arrestant unserer Zivilabteilung, der
in der Schneiderwerkstätte arbeitete. Bis dahin hatte ich ihm wenig
Beachtung geschenkt; und auch später, solange ich im Ostrogg lebte, zog
es mich nicht zu ihm. Er war ein leerer, unverständiger Mensch. Zuweilen
schwieg er lange Zeit, war mürrisch, unfreundlich, sprach wochenlang
kein Wort. Zuweilen aber mischte er sich in Dinge ein, die ihn nichts
angingen, verbreitete Klatschgeschichten, regte sich wegen der
nichtigsten Sachen auf, trieb sich in allen Kasernen umher, redete
unendlich, schien aus der Haut zu fahren. Verprügelte man ihn, so
schwieg er wieder. Er war feig und geizig. Alle mißachteten ihn und
behandelten ihn auch darnach. Er war klein von Wuchs und mager, mit bald
seltsam unruhigem, bald wieder stumpf brütendem Blick. Hatte er etwas zu
erzählen, so begann er eifrig und erregt, sogar mit lebhaften Gesten –
bis er plötzlich abbrach, oder auf anderes überging, sich von neuen
Einzelheiten hinreißen ließ und ganz vergaß, wovon er zuerst gesprochen
hatte. Er stritt sehr oft mit den anderen, und wenn er es tat, so warf
er dem Gegner unbedingt etwas vor, etwa wie sehr jener ihm Unrecht getan
habe und wie groß seine Schuld vor ihm sei, und er sprach mit Gefühl und
war sogar den Tränen nahe ... Er spielte nicht schlecht die Balalaika
und er spielte sie gern, und an Feiertagen tanzte er sogar, und tanzte
gut, wenn man ihn, was auch vorkam, dazu veranlaßte ... Es war sehr
leicht, ihn zu etwas zu veranlassen ... Nicht, daß er so gehorsam
gewesen wäre, aber er schloß gern Freundschaft und tat dann alles, um
dem neuen Freunde gefällig zu sein.

Es dauerte ziemlich lange, bis ich begriff, wovon sie sprachen. Auch
schien es mir zuerst, daß er immer abwich vom eigentlichen Thema und
sich von Nebensächlichem ablenken ließ. Vielleicht entging es ihm auch
nicht, daß Tscherewin für seine ganze Erzählung überhaupt kein Interesse
übrig hatte, doch wollte er sich, glaube ich, absichtlich einreden, daß
sein Zuhörer ganz Ohr sei. Vielleicht wäre es ihm auch sehr schmerzlich
gewesen, sich vom Gegenteil zu überzeugen.

„... Kam er so auf den Markt,“ erzählte er jetzt weiter, „dann grüßten
ihn alle, sie fühlten sozusagen, das ist ein Reicher!“

„Er handelte, sagst du?“

„Nun, ja, gewiß doch. Unter den Kleinbürgern bei uns war die Armut groß.
Das reine Elend. Die Weiber trugen das Wasser aus dem Fluß das steile
Ufer hinauf, um dort die Gemüsegärten zu begießen, im Herbst aber hatten
sie für die ganze Plage nicht einmal Kohl zur Suppe. Nichts zu wollen.
Nun, er aber hatte ein großes Stück Land, ließ das Feld von Knechten
bearbeiten, hielt ihrer ganze drei, und dann hatte er noch einen ganzen
Bienengarten, handelte mit Honig und auch mit Vieh, und doch war er in
unserem Ort sehr geachtet, mußt du wissen. Alt war er auch schon, an die
siebenzig Jahr, die Knochen wurden ihm schon steif, hatte einen grauen
langen Bart, war ein großer Mann. Kam er so im Fuchspelz auf den Markt,
da wurde er von allen Seiten gegrüßt. Sehr ehrerbietig. – ‚Guten Tag,
Väterchen Ankudim Trofimytsch!‘

‚Hab auch du einen guten Tag,‘ sagt er. Keinen, wie du siehst,
verachtete er.

‚Laßt’s Euch wohlgehen, Ankudim Trofimytsch!‘

‚Danke, wie geht es Euch?‘ fragt er.

‚Ach, unsere Geschäfte sind weiß wie Ruß,[10] wie aber geht es Euch,
Väterchen?‘

‚Auch wir leben,‘ sagt er, ‚trotz unserer Sünden.‘

‚So laßt’s Euch denn wohlgehen, Ankudim Trofimytsch!‘ Niemand also wird
von ihm verachtet, und spricht er, so ist jedes Wort einen Rubel wert.
Er war auch sehr bibelkundig, verstand zu lesen und zu schreiben, er las
aber nur die heilige Schrift. Dann setzte er die Alte, sein Weib, vor
sich hin: ‚Jetzt höre, Weib, und begreife!‘ sagt er, und dann fängt er
an, auszulegen und alles zu erklären, wie das da gemeint ist. Aber seine
Alte war noch gar nicht alt, sie war seine zweite Frau, die er sozusagen
der Kinder wegen geheiratet hatte, denn von der ersten hatte er keine.
Nun, aber von der zweiten, der Maria Stepanowna, hatte er zwei noch
unerwachsene Söhne, von denen der jüngere, Wassjä, ihm noch mit sechzig
Jahren geboren worden war, und außerdem hatte er noch eine Tochter,
Akulka, das war die älteste und damals achtzehn Jahre alt.“

„Und das war sie, deine Frau?“

„Wart, zuerst kommt noch Filka Morosoff. Du, sagt der Filka dem Ankudim,
zahl mir mal jetzt das Geld aus; gib mir alle vierhundert her. Ich will
nicht mit dir handeln und deine Akulka, sagt er, will ich auch nicht.
Jetzt, sagt er, lebe ich blau. Meine Eltern, sagt er, sind jetzt
gestorben, daher werde ich jetzt mein Geld versaufen und dann gehe ich
unter die Soldaten und komme nach zehn Jahren als Feldmarschall wieder.
Ankudim gab ihm auch richtig das Geld ab, denn sein Vater und Ankudim
hatten mit gemeinschaftlichem Kapital gehandelt. – ‚Ein verlorener
Mensch bist du,‘ sagt ihm der Alte. Er aber antwortet ihm: ‚Nun, noch
weiß man nicht, ob ich verloren bin, bei dir aber, du Graubart, kann man
ja nur lernen, mit dem Pfriem Milch zu löffeln. Du,‘ sagt er, ‚willst
mit jeder Kopeke reich werden, sammelst noch jeden Schmutz, weil er sich
vielleicht doch noch zur Kohlsuppe eignet. Ich aber spucke darauf. Du
sammelst und sammelst, bis du des Teufels bist. Ich aber,‘ sagte er,
‚ich habe Charakter! Deine Akulka aber nehme ich trotzdem nicht; ich
habe,‘ sagte er, ‚sowieso schon mit ihr geschlafen ...‘

‚Was!‘ schreit Ankudim, ‚wie wagst du es, eines ehrenhaften Vaters
ehrenhafte Tochter zu beschimpfen! Wann hast du mit ihr geschlafen, du
Schlangenbrut, du Hechtsblut!‘ Und selbst bebt er am ganzen Körper. So
erzählte Filka später.

‚Haha, nicht nur keinen Filka Morosoff wird sie jetzt bekommen,‘ sagt
er, ‚ich werde dafür sorgen, daß Eure Akulka überhaupt keiner mehr
nehmen wird, auch der Mikita Grigorjitsch nicht, denn sie ist ja doch
ehrlos. Schon seit dem Herbst haben wir zusammengelebt, jetzt aber gehe
ich für keine hundert Krebse mehr darauf ein. Versuch doch: leg mir
gleich hundert auf den Tisch, da wirst du sehen, daß ich nicht
einwillige ...‘

Und da hub dann das Prassen an, das war was! Die ganze Erde drehte er
um, durch die ganze Stadt hörte man seine Gelage. Er hatte sich noch
Freunde ausgesucht, einen Haufen Geld besaß er, drei Monate lang wurde
gepraßt, bis alles aus war. ‚Ich werde,‘ sagte er bisweilen, ‚wenn das
Geld alle ist, das Haus verkaufen, alles verkaufen, und dann gehe ich
unter die Landstreicher oder unter die Soldaten!‘ Vom Morgen bis zum
Abend praßte er und fuhr mit einem schellengeschmückten Zweispänner
durch die Stadt. Aber die Mädels liebten ihn wie keinen anderen, so
etwas sieht man gar nicht wieder. Auch verstand er gut zu spielen, und
er spielte auf allen Instrumenten.“

„Dann hatte er also mit der Akulka schon vorher die Sache gehabt?“

„Wart nur. Ich hatte damals auch gerade meinen Vater beerdigt, und meine
Mutter backte Pfefferkuchen, arbeitete also auch für Ankudim, und davon
lebten wir. Wir hatten aber ein schlechtes Leben. Nun, wir hatten auch
unser Landstück hinter dem Walde, säten auch unser Korn, aber nach dem
Tode des Vaters war es doch aus mit der Herrlichkeit, denn auch ich
lebte blau, mußt du wissen. Von der Mutter holte ich das Geld mit
Schlägen heraus ...“

„Das ist nicht gut, wenn du sie geschlagen hast. Das ist eine große
Sünde.“

„Ich war aber, mußt du wissen, vom Morgen früh bis Abend spät besoffen.
Unser Häuschen ging noch an, nichts zu sagen, war es auch verfault, so
gehörte es doch uns, aber innen drin da war nichts zu beißen. Da saßen
wir denn ohne Essen und kauten manche Woche am Hungertuch. Die Mutter
schilt mich, aber was mache ich mir draus! ... Ich, mußt du wissen, wich
damals keinen Schritt von Filka Morosoff. Vom Morgen bis zum Abend war
ich bei ihm. ‚Spiel,‘ sagte er, ‚auf der Gitarre und tanz, ich aber
werde liegen und Geld auf dich werfen, denn ich bin der reichste
Mensch.‘ Und was er nicht alles tat! Nur Gestohlenes nahm er nicht. ‚Ich
bin kein Dieb,‘ sagt er, ‚sondern ein ehrlicher Mensch.‘ – Und eines
Tages sagte er: ‚Kommt, gehen wir und streichen wir der Akulka die
Haustür mit Pech an, denn ich will nicht, daß sie Mikita Grigorjitsch
heiratet. Das ist mir jetzt wichtiger als alles andere,‘ sagt er.

Ankudim aber hatte schon früher die Absicht gehabt, das Mädchen dem
Mikita Grigorjitsch zu geben. Mikita war auch schon alt, ein Witwer mit
einer Brille auf der Nase, und er handelte gleichfalls. Als der nun
hörte, was für Gerüchte über Akulka umgingen, da sagte er natürlich ab.
‚Mir, Ankudim Trofimytsch,‘ sagt er, ‚mir würde es zur großen Unehre
gereichen, und auch will ich in meinen alten Jahren überhaupt nicht mehr
heiraten.‘

Und so gingen wir und strichen Akulkas Tür mit Pech an. Sie aber wurde
dafür geprügelt, unaufhörlich geprügelt ... Marja Stepanowna schreit:
‚Das überlebe ich nicht!‘ und der Alte sagt: ‚In alter Zeit und unter
ehrsamen Patriarchen würde ich sie,‘ sagt er, ‚an dem Scheiterhaufen
totgeprügelt haben, heutzutage aber,‘ sagt er, ‚ist in der Welt nichts
als Finsternis und Fäulnis.‘ Die Nachbarn in der ganzen Straße hatten
die Akulka schreien gehört: sie wurde vom Morgen bis zum Abend
geschlagen. Filka aber sagt auf dem Markt, daß es alle hören: ‚Ein
prächtiges Mädchen ist die Akulka, meine Freundin. Hübsch gewachsen,
rein gekleidet, fragt mal, wen sie liebt! Ich,‘ sagt er, ‚ich habe ihnen
dort eins auf die Nase gegeben, das werden sie nicht sobald vergessen.‘
Da traf auch ich einmal die Akulka, als sie mit Wassereimern ging, ich
aber schrie ihr nach: ‚Guten Tag, Akulina Kudimowna! ich grüße Euer
Gnaden! Sauber bist du, woher kommt das, sag mal, wen du liebst!‘ Sie
aber blickte mich nur einmal an, so große Augen hatte sie, selbst aber
war sie so mager geworden wie ein Holzspan. Als sie mich anblickte,
glaubte ihre Mutter, daß sie mir zulachte, und schrie ihr vom Hoftor zu:
‚Lachst du schon wieder, du Schamlose!‘ Und so wurde sie an diesem Tage
wieder geprügelt. Eine ganze geschlagene Stunde. ‚Ich werde sie noch
totprügeln, sie ist nicht mehr meine Tochter,‘ schrie die Mutter.“

„Sie war also eine Herumtreiberin?“

„Nein, du, höre nur zu, Freundchen. Als wir so immer noch fortfahren,
Filka und ich, zu trinken, da kam eines Tages meine Mutter zu mir, ich
aber lag auf dem Rücken. ‚Was liegst du, Elender,‘ sagt sie, ‚du Räuber,
du Tagedieb!‘ Schimpft mich also. ‚Heirate doch,‘ sagt sie, ‚die Akulka
ist jetzt zu haben, heirate sie. Die Alten werden froh sein, wenn sie
noch einen wie du für sie bekommen. Und dreihundert Rubel geben sie
allein in barem Geld.‘ Ich aber sage: ‚Aber sie ist doch jetzt,‘ sage
ich, ‚vor der ganzen Welt entehrt!‘ – ‚Du Dummkopf,‘ sagt sie, ‚mit dem
Kranz ist alles gutgemacht, und für dich ist es doch um so besser, wenn
sie schuldig vor dir ist: Wir aber werden das Geld brauchen können. Ich
habe schon,‘ sagt sie, ‚mit Marja Stepanowna gesprochen. Sie hörte mir
sehr aufmerksam zu.‘ Ich aber sage: ‚Geld, zwanzig Rubel in Silber auf
den Tisch, dann heirate ich.‘ – Und was glaubst du wohl: ich war in
einem Strich bis zur Hochzeit besoffen. Und da kam noch Filka Morosoff
mit seinen Drohungen:

‚Ich werde dir,‘ sagte er, ‚als Akulinas Mann, alle Rippen eindrücken
und mit deinem Weibe, wenn ich nur will, jede Nacht zusammenschlafen.‘

Ich aber sage ihm: ‚Das lügst du, du Hund!‘ Da aber hat er mir auf
offener Straße solche Schmach angetan, daß ich nach Hause ging und
sagte: ‚Ich will nicht heiraten, wenn man mir nicht sofort noch fünfzig
Rubel auf den Tisch legt!‘“

„Und man gab sie dir auch wirklich zum Weibe?“

„Mir? Weshalb sollte man nicht? Wir waren doch keine ehrlosen Leute.
Mein Vater hatte erst in der letzten Zeit durch eine Feuersbrunst alles
verloren, früher aber hatten wir noch reicher als sie gelebt. Ankudim
sagte wohl: ‚Du hast nichts.‘ – Ich aber antwortete ihm: ‚Das schon,
aber bei Euch hat man die Türpfosten mit Pech beschmiert.‘ – Er aber
sagt: ‚Willst du jetzt noch großtun? Beweise du zuerst, daß sie
unehrlich ist, allen Menschen kann man nicht den Mund zubinden. Hier ist
Gott und dort ist die Tür,‘ sagt er, ‚du brauchst das Geld nicht zu
nehmen. Nur mußt du das erhaltene zurückgeben.‘ Da machte ich denn mit
Filka Morosoff ein Ende: ich ließ ihm durch Mitrij Bykoff sagen, daß ich
ihn jetzt vor der ganzen Welt ehrlos machen würde, aber bis zur
Hochzeit, mußt du wissen, war ich in einem Strich besoffen. Erst vor der
Trauung erwachte ich. Als wir dann aus der Kirche wieder zurückgekommen
waren und man uns hingesetzt hatte, da sagte Mitrofan Stepanytsch, also
der Onkel:

‚Wenn es auch nicht ehrenhaft ist, so ist es doch fest, die Sache ist
jetzt gemacht, vollzogen, und damit abgetan.‘

Der Alte, der Ankudim, war gleichfalls betrunken und weinte, saß auf
seinem Stuhl, und die Tränen rollten ihm über die Backen in den Bart.
Nun, ich aber, Freundchen, machte es damals so: ich steckte eine Knute
in die Tasche, die ich schon vor der Trauung bereitgelegt hatte, und so
beschloß ich denn, mich an der Akulka zu rächen, damit sie wußte, was
das heißt, durch ehrlosen Betrug einen Mann zu bekommen, und damit auch
die anderen erführen, daß ich sie nicht als Narr geheiratet hatte ...“

„Ganz recht! Damit sie es sich für nächstens merkt ...“

„Nein, Freundchen, du wart noch etwas und hör mich an. In unserer Gegend
ist es Sitte, daß man sogleich von der Trauung ins Hochzeitsgemach geht,
die anderen aber trinken inzwischen ruhig weiter. Und so ließ man denn
uns beide allein im Hochzeitsgemach. Sie sitzt so bleich auf dem
Bettrand, kein Blutstropfen im Gesicht. Das war die Angst, mußt du
wissen. Ihr Haar war auch ganz wie Flachs so hell. Und ihre Augen waren
blau und groß. Und immer schwieg sie, nie hörte man sie, ganz wie eine
Stumme im Hause. Ganz wunderbar war sie. Aber was meinst du wohl,
Freundchen, kannst du dir das denken: ich hatte doch schon die Knute
vorbereitet und hier gleich neben dem Bett hingelegt, sie aber war,
Freundchen, sie aber war, wie sich zeigte – vollkommen unschuldig vor
mir.“

„Was!?“

„Ganz und gar. Wie jede andere Ehrenwerte aus ehrenwertem Hause. Aber
nun sag du mir doch, Freundchen, wofür hatte sie nun nach alledem diese
Qualen erduldet! Warum hatte denn der Filka Morosoff sie vor der ganzen
Welt entehrt?“

„Hm, ja ...“

„Da kniete ich denn vor ihr nieder, gleich dort vor dem Bett, faltete
die Hände: ‚Täubchen,‘ sage ich, ‚Akulina Kudimowna, verzeih mir dummen
Menschen, daß ich dich auch für so eine gehalten habe. Verzeih mir,‘
sage ich, ‚mir Elendem!‘ Sie aber sitzt vor mir auf dem Bett, sieht mich
an, legt mir beide Hände auf die Schultern, lacht, aber dabei rollen ihr
die Tränen über die Wangen; sie lacht und weint ... Wie ich da zu den
anderen wieder hinausging, da sagte ich: ‚Begegnet mir jetzt noch einmal
Filka Morosoff, so hat er zum längsten auf der Welt gelebt!‘ Die Alten
aber wußten gar nicht mehr, wie sie noch beten sollten: die Mutter fiel
ihr zu Füßen und schrie fast vor Schluchzen. Der Alte aber sagte:
‚Hätten wir es nur gewußt oder geahnt, so hätten wir dir, meine geliebte
Tochter, einen ganz anderen Mann ausgesucht.‘ Und wie wir am nächsten
Sonntag in die Kirche gingen, da trug ich eine schmucke Fellmütze, einen
Rock aus feinem Tuch und Beinkleider in reichen Falten. Sie trug einen
neuen Hasenpelz und ein seidenes Tüchlein. Siehst du, so gingen wir. Die
Leute hatten ihre Freude an uns ...“

„Nun, schön.“

„Nun, aber höre nur weiter. Am nächsten Tage nach der Hochzeit lief ich
von den Gästen fort, obschon ich betrunken war – riß mich aber los und
lief. ‚Gebt ihn her, den Taugenichts Filka Morosoff, gebt ihn nur her,
den Schuft!‘ so schrie ich, – schrie es auf dem Markt, mußt du wissen.
Nun, ich war ja auch noch betrunken; da wurde ich denn nicht weit von
Wlassoffs eingefangen und mit Gewalt von drei Mann nach Haus gebracht.
Im ganzen Ort aber weiß man’s schon. Die Mädchen und Weiber auf dem
Markt stecken die Köpfe zusammen: ‚Wißt ihr es schon, habt ihr es schon
gehört? Die Akulka ist ja ganz unschuldig gewesen!‘ Filka aber sagte mir
kurz darauf in Gegenwart von anderen, und sagt mir so: ‚Verkauf deine
Frau, – wirst betrunken sein. Bei uns,‘ sagt er, ‚hatte der Soldat
Jaschka nur deswegen geheiratet: bei seinem Weibe hat er nie geschlafen,
dafür aber war er drei Jahre lang betrunken.‘ Ich sage ihm: ‚Du bist ein
Schurke!‘

‚Du aber bist ein Dummkopf,‘ sagt er. ‚Man hat dich doch in betrunkenem
Zustande verheiratet, was konntest du dann da beurteilen?‘

Ich kam nach Haus und schrie: ‚Ihr,‘ sage ich, ‚ihr habt mich betrunken
mit ihr verheiratet!‘ Die Mutter wollte mich wohl noch bereden, ich aber
sagte: ‚Dir sind die Ohren mit Gold vollgestopft, du hörst nichts
anderes. Gib mal die Akulka her!‘ Nun, und dann fing das Prügeln an. Ich
prügelte sie, mußt du wissen, ich prügelte sie zwei Stunden, bis ich
selbst umfiel. Drei Wochen lag sie im Bett, ohne aufzustehen.“

„Es ist ja wahr,“ meinte Tscherewin phlegmatisch, „schlägst du sie
nicht, so ... Hattest du sie denn mit einem Liebhaber überrascht?“

„Nein, das nicht,“ sagte nach einigem Schweigen und gleichsam sich
überwindend Schischkoff. „Es kränkte mich aber doch gar zu sehr, daß die
Menschen mich so beleidigen durften, und der Anstifter von allem war
natürlich der Filka. ‚Deine Frau,‘ sagt er, ‚ist für dich nur ein
Modell,‘ sagt er, ‚damit die Leute sie ansehen.‘ Und einmal feierte er
wieder ein großes Fest und hatte auch mich zu Gast geladen, und da sagte
er: ‚Seine Frau,‘ sagt er, ‚ist edelmütig und ehrerbietig, ist hübsch
und freundlich, und jedermann beneidet ihn jetzt! Aber hast du schon
vergessen, Bursche, wie du selbst ihre Tür mit Pech beschmiert hast?‘

Ich saß dort betrunken auf dem Stuhl, da faßte er mich an den Haaren und
schüttelte mich und drückte mich nieder. ‚Tanz,‘ sagt er ‚Akulinas Mann,
ich werde dich so an den Haaren halten, du aber tanz zu meiner
Belustigung!‘

‚Ein Schurke bist du!‘ schreie ich.

Er aber sagt zu mir: ‚Ich werde mit meiner ganzen Horde zu Akulka
fahren, zu deiner Frau, und sie in deiner Gegenwart mit Ruten prügeln,
soviel ich will.‘ So fürchtete ich denn, glaub oder glaub mir nicht,
einen ganzen Monat, das Haus zu verlassen: wenn er inzwischen kommt,
dachte ich, und ihr und meinem Hause die Schande antut, – was dann? Und
da fing ich denn an, sie zu prügeln ...“

„Wozu da prügeln! Hände kann man binden, von Zungen aber bindest du
keine einzige. Viel schlagen taugt auch nicht. Bestrafe, belehre, dann
aber sei auch wieder gut zu ihr. Dafür ist sie doch Weib.“

Schischkoff schwieg eine Zeitlang.

„Es kränkte mich,“ begann er dann von neuem, „und da wurde mir das
Prügeln zur Gewohnheit: manchen Tag prügelte ich sie vom Morgen bis zum
Abend. Schlage ich sie nicht, so ist es langweilig. Sie saß gewöhnlich
am Fenster, sieht hinaus, schweigt, weint ... Immer weinte sie, sie tat
mir wirklich leid, aber ich schlug sie. Meine Mutter schalt mich oft
genug ihretwegen: ‚Ein Elender bist du,‘ sagt sie, ‚ein
Zuchthausknecht!‘ – Ich aber schreie: ‚Ich werde sie totschlagen! und
daß mir jetzt niemand was zu sagen wagt, denn man hat mich mit Betrug
verheiratet!‘

Zuerst kam noch der alte Ankudim selbst: ‚Du bist doch nicht weiß Gott
was für eine Persönlichkeit, daß man mit dir nicht fertig werden könnte,
ich werde schon einen Richter finden, der dir anderes beibringen wird!‘
Dann aber ließ er es bleiben und kam nicht wieder. Marja Stepanowna aber
war ganz still geworden. Einmal kam sie und bittet unter Tränen: ‚Ich
bin mit einer Belästigung zu dir gekommen, Iwan Ssemjonytsch, sie ist
nicht groß, aber die Bitte ist um so größer. Schenk uns Sonnenlicht und
Freude,‘ sagt sie, verbeugt sich tief vor mir, ‚besänftige dich,
verzeihe du ihr! Böse Menschen haben unsere einzige Tochter verleumdet,
du aber weißt doch selbst, daß du ein unschuldiges Mädchen zum Weibe
bekommen hast ...‘ Und sie verbeugt sich bis zur Erde vor mir, weint.
Ich aber mache mich stolz: ‚Ich will euch alle überhaupt nicht anhören!
Werde jetzt mit euch allen machen, was ich will, denn ich kann mich
jetzt nicht beherrschen. Filka Morosoff aber,‘ sage ich, ‚ist mein
Kamerad und bester Freund ...‘“

„Gingt also wieder beide durch?“

„Wo! Bei dem konnte man überhaupt nicht mehr ankommen! Sein eigen Hab
und Gut hatte er bis aufs Letzte verpraßt und dann hatte er sich einem
reichen Kleinbürger verkauft, um für dessen ältesten Sohn unter die
Soldaten zu gehen. In unserer Gegend aber ist ein solcher bis zu dem
Tage, wo er fortgeführt wird, der erste Herr im Hause dessen, für den er
geht, dann muß dort alles vor ihm im Staube liegen, er aber ist
unumschränkter Herr im Hause. Geld erhält er eine Menge, bis zum Abgang
aber lebt er im Hause, lebt dort ein halbes Jahr womöglich, und wie er
dann die Besitzer behandelt, das ist gar nicht auszureden, – bring nur
die Heiligen hinaus! ‚Ich,‘ sagt er, ‚gehe, mußt du wissen, für deinen
Sohn unter die Soldaten, folglich müßt ihr mich alle achten, oder sonst
sage ich ab!‘ Und so lebte denn auch Filka großartig, schläft mit der
Tochter, zieht den Hausherrn jeden Tag nach dem Essen am Bart, – alles
nur zu seinem Vergnügen. Jeden Tag muß für ihn die Badestube geheizt
werden und für den Dampf muß auf die heißen Ofensteine nicht Wasser,
sondern Branntwein gegossen werden, und viel fehlte nicht, so hätte er
noch verlangt, von den Badeweibern auf den Händen hineingetragen zu
werden. Kommt er von einer Spazierfahrt zurück, so bleibt er auf der
Straße stehen: ‚Ich will nicht durch das Hoftor, reißt den Zaun nieder!‘
sagt er, und so wird neben dem Hoftor der Zaun niedergerissen und dann
erst spaziert er hinein. Endlich war die Zeit vorüber, er mußte unter
die Soldaten. Eine Menge Volks begleitet ihn, die ganze Straße ist voll
Menschen: Filka Morosoff fährt fort! Er aber grüßt nach allen Seiten.
Akulka aber kam gerade aus dem Gemüsegarten zurück. Wie Filka sie
erblickt – es war dicht vor unserem Hoftor, – da schreit er: ‚Halt!‘
springt aus dem Wagen, geht geradenwegs auf sie zu und verbeugt sich bis
zur Erde vor ihr! ‚Du meine Seele,‘ sagt er, ‚mein Licht, zwei Jahre
liebte ich dich, jetzt aber führt man mich mit Musik zu den Soldaten.
Vergib mir,‘ sagt er, ‚du ehrenhafte Tochter eines ehrenhaften Vaters,
denn ich Elender bin sündig vor dir, ich allein trage an allem die
Schuld!‘ Und er verbeugt sich zum zweitenmal bis zur Erde vor ihr. Die
Akulka aber stand zuerst ganz wie erstarrt, dann aber verneigte sie sich
tief vor ihm und sagte: ‚Verzeih auch du mir, kühner Jüngling, doch habe
ich nichts Böses von dir erfahren.‘

Ich ging ihr nach ins Haus: ‚Was hast du ihm gesagt, du Hündin?‘ Sie
aber, glaub oder glaub mir nicht, sie sah mich nur an und sagte: ‚Ich
liebe ihn jetzt mehr als mein Leben!‘“

„Sieh mal an! ...“

„Ich sprach an diesem Tage kein Wort zu ihr ... Erst am Abend sagte ich:
‚Akulka! Jetzt werde ich dich totschlagen,‘ sagte ich. In der Nacht fand
ich keinen Schlaf, ging in den Flur und trank etwas Kwas. Es zeigte sich
schon die Morgenröte am Himmel. Ich ging in die Stube zurück. ‚Akulka,‘
sage ich, ‚steh auf, wir müssen auf das Feld hinaus fahren.‘ Ich hatte
auch früher schon davon gesprochen, daß ich hinfahren würde, die Mutter
wußte es schon. ‚Das ist gut,‘ hatte sie gesagt, ‚jetzt ist Arbeitszeit,
der Knecht aber soll dort schon den dritten Tag faulenzen.‘ Ich schirrte
schweigend das Pferd an, sage kein Wort. Wenn man aus unserem Städtchen
hinausfährt, so beginnt sogleich ein Fichtenwald, auf fünfzehn Werst
zieht er sich hin, und hinter dem Walde lag unser Acker. Als wir so an
drei Werst durch den Wald gefahren waren, hielt ich das Pferd an: ‚Steh
auf, Akulina,‘ sage ich, ‚dein Ende ist gekommen.‘ Sie sah mich an und
erschrak, stieg aus dem Wagen, steht, schweigt. ‚Ich habe dich satt,‘
sage ich, ‚bet zu Gott!‘ Und wie ich sie dann so an den Haaren erfaßte –
ihre Zöpfe waren so lang und dick, wickelte sie mir um die Hand, –
drückte sie hinterrücks nieder und klemmte sie zwischen die Knie, riß
mein Messer hervor, bog ihr den Kopf zurück, und stieß ihr das Messer in
die Kehle ... Wie sie da aufschrie und das Blut spritzte, da warf ich
das Messer fort, umfing sie mit beiden Armen von vorn, warf mich mit ihr
zur Erde, umklammerte sie und schrie über ihr, schrie und schrie; und
sie schreit und ich schreie. Sie zittert und schlägt um sich, will sich
von meinen Armen befreien, das Blut aber, das Blut – strömt mir über das
Gesicht, über die Hände, es sprudelt nur so hervor, sprudelt nur so. Da
überkam mich plötzlich Angst, ich ließ sie liegen, ließ das Pferd
stehen, selbst aber lief ich, was ich laufen konnte, lief und lief,
hinter den Gemüsegarten vorbei, und lief in unsere Badestube, wir hatten
noch so eine alte, die nicht mehr benutzt wurde, die stand da am Hause:
ich verkroch mich unter die Schwitzbänke und sitze da in einer Ecke. Bis
zur Nacht saß ich dort.“

„Und die Akulka? Wie blieb’s denn mit der?“

„Sie aber muß wohl nach mir aufgestanden sein, um gleichfalls nach Haus
zu gehen. Wenigstens hat man sie so hundert Schritt von jenem Ort
gefunden.“

„Also hattest du nicht ganz durchgeschnitten.“

„Ja ...“ Schischkoff stockte einen Augenblick.

„Da ist so eine Ader,“ bemerkte Tscherewin, „wenn du sie, diese selbe
Ader, nicht mit dem ersten Hieb durchschneidest, so lebt der Mensch
immer noch weiter, und wieviel Blut auch herausfließt, der Mensch stirbt
nicht.“

„Aber sie starb doch. Tot hatte man sie am Abend gefunden. Man machte
sofort Anzeige davon, man fing an, mich zu suchen und fand mich noch vor
der Nacht in der Badestube ... Jetzt ist es schon das vierte Jahr, daß
ich hier lebe,“ fügte er nach kurzem Schweigen hinzu.

„Hm ... Es ist ja ... wahr: schlägt man nicht, – dann kommt auch nichts
Gutes heraus,“ meinte ruhig und methodisch Tscherewin, indem er wieder
das Horn hervorzog. Langsam und teilweise mit Unterbrechungen begann er
seinen Tabak zu schnupfen. „Und andererseits wiederum,“ fuhr er fort,
„bist du dabei doch ein großer Dummkopf gewesen, was man dir auch jetzt
noch ansieht. Ich traf auch einmal mein Weib mit einem Liebhaber an. Da
führte ich sie denn in den Schuppen, legte die Pferdeleine doppelt.
‚Wem,‘ fragte ich, ‚schwörst du nun Treue? Wem?‘ Und dann prügelte ich
sie, prügelte, prügelte, mit der Pferdeleine nämlich, anderthalb
Stunden, sie aber schrie: ‚Werde deine Füße waschen,‘ schrie sie, ‚und
das Wasser nachher trinken.‘ Awdotja hieß sie.“


                                   V.

                             Die Sommerzeit

Doch schon ist es Frühling, wir sind im April und Ostern steht vor der
Tür. Allmählich beginnen auch die Sommerarbeiten. Die Sonne wird mit
jedem Tage wärmer und heller, die Luft duftet nach Frühling und hat eine
starke Wirkung auf Körper und Seele. Die anbrechenden schönen Tage
erregen auch den gefesselten Menschen und erwecken in ihm ein Wünschen,
Streben und Sehnen. Ich glaube, bei hellem Sonnenschein verlangt es den
Menschen noch viel mehr nach Freiheit, als an einem trüben Winter- oder
Herbsttage, er trauert viel tiefer um das Verlorene: das ist mir an
allen Gefangenen aufgefallen. Es ist, als freuten sie sich über die
hellen Tage, gleichzeitig aber verstärkt sich in ihnen auch eine gewisse
Ungeduld und Reizbarkeit. Ich habe bemerkt, daß es im Frühling viel
öfter Streit im Ostrogg gab. Häufig hörte man Geschrei, Lärm, Gejohle,
viel öfter kam es zu ausgelassenen Jugendstreichen. Dann aber bemerkte
man bisweilen bei der Arbeit einen nachdenklichen, unverwandten Blick in
die bläuliche Ferne, hinüber zum anderen Ufer des Irtysch, wo sich wie
ein ausgebreitetes Tuch die freie kirgisische Steppe auf
anderthalbtausend Werst hinzog; dann hörte man, wie jemand aufseufzte,
tief, aus voller Brust, ganz als ziehe es ihn unwiderstehlich, diese
ferne, freie Luft einzuatmen und dadurch seine bedrückte, gefesselte
Seele zu erleichtern.

„Ach!“ seufzt dann plötzlich der Arrestant und macht sich, als hätte er
mit einem energischen Entschluß das Träumen und Sehnen abgeschüttelt,
ungeduldig und mürrisch wieder an die Arbeit, greift nach dem Spaten
oder nach den Ziegeln, die von dem einen Ort nach dem andern zu tragen
sind. Nach einer Minute hat er seine plötzliche Empfindung schon
vergessen und lacht oder schimpft bereits, je nach seinem Charakter;
oder er macht sich plötzlich mit ungewöhnlichem, ganz unpassendem Eifer
an seine Arbeitsaufgabe, wenn er eine solche erhalten hat, und arbeitet
mit Anstrengung aller Kräfte, ganz als wolle er durch die schwere Arbeit
irgend etwas in sich erdrücken, was ihn von innen quält und beengt.
Dieses ganze gefesselte, starke Volk stand größtenteils in der Blüte
seiner Jahre und Kräfte ... Schwer sind die Fesseln in dieser Zeit! Ich
will nichts übertreiben, ich will nur die Wahrheit sagen. Ganz abgesehen
davon, daß in der Wärme, in der sonnigen Frühlingsluft – wenn man mit
ganzer Seele, mit seinem ganzen Wesen die rings um einen mit
unermeßlicher Kraft auferstehende Natur fühlt und sieht – das
verschlossene Gefängnis, die ewige Eskorte und das beständige Leben nach
fremdem Willen noch viel schwerer zu ertragen sind, – ganz abgesehen
davon, beginnt doch in dieser Frühlingszeit schon mit der ersten Lerche
in ganz Sibirien und ganz Rußland das Vagabundieren: dann entflieht auch
so manch einer aus den Gefängnissen und flüchtet in den Wald. Dann
schweifen sie, nach den dumpfen, engen Stuben, nach Strafen, Ketten und
Stöcken, in der größten Freiheit überall umher, wo es ihnen besser
gefällt und wo das Leben angenehmer ist. Sie essen und trinken, was sich
gerade findet, was Gott schickt, und in der Nacht schlafen sie zufrieden
irgendwo im Walde ein, oder auf freiem Felde, sorglos, frei, ohne die
quälende Sehnsucht des Gefangenen, – wie die Waldvögel, nachdem sie nur
den Sternen des Himmels gute Nacht gesagt haben, während Gottes Auge
allein über sie wacht. Gewiß hat es mitunter auch sein Unangenehmes, bei
„General Kukuschkin zu dienen“, da heißt es oft Hunger und Müdigkeit
ertragen, oft sieht man in ganzen vierundzwanzig Stunden nichts Eßbares,
vor jedem Menschen muß man sich verstecken, man muß stehlen und plündern
und mitunter auch ermorden. „Der Ansiedler ist wie ein Kind, was er nur
sieht, das nimmt er,“ sagt man in Sibirien. Dasselbe Sprichwort kann
auch auf den Landstreicher angewandt werden. Selten ist er kein Räuber
und fast immer ein Dieb. Allerdings stiehlt er mehr aus Notwendigkeit,
als aus Beruf. Es gibt geradezu eingefleischte Landstreicher. Manch
einer entläuft noch als Kolonist, wenn er die Ostroggjahre schon hinter
sich hat. Man sollte meinen, er sei zufrieden und sichergestellt als
Kolonist, aber nein! – es zieht ihn irgendwohin, es ruft ihn fort. Das
Leben in den Wäldern, das arm und schwer, dafür aber frei und voll
Abenteuer ist, hat etwas Bezauberndes, einen gleichsam geheimnisvollen
Reiz für diejenigen, die ihn einmal empfunden haben. Und plötzlich ist
ein Mensch fortgelaufen, nicht selten ein bescheidener, gewissenhafter
Mann, der ein guter ansässiger Bürger und ein tüchtiger Arbeitsmann zu
werden versprach. Manch einer heiratet sogar und zeugt Kinder, lebt
seine fünf Jahre ruhig an ein und demselben Ort, bis er eines schönen
Morgens, ganz plötzlich, verschwunden ist, Weib, Kinder und die ganze
Gemeinde in Staunen und Verwunderung versetzend. Im Ostrogg machte man
mich auf einen ähnlichen Flüchtling aufmerksam. Er hatte kein einziges
namhaftes Verbrechen begangen, wenigstens hatte nie jemand etwas
derartiges von ihm gehört, er war aber sein ganzes Leben lang
Landstreicher gewesen. Er hatte im Süden Rußlands gelebt, war bis zur
Donau gekommen, war im Kaukasus, in der kirgisischen Steppe und im Osten
Sibiriens gewesen – überall. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihm unter
anderen Verhältnissen bei seiner Abenteuerlust ein zweiter Robinson
Crusoe geworden. Übrigens wurde alles das von anderen über ihn erzählt,
er selbst aber sprach wenig im Ostrogg, eigentlich nur das durchaus
Notwendige. Es war das ein äußerst kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren,
mit friedlichem Charakter, ungewöhnlich ruhigem und sogar stumpfem
Gesichtsausdruck – stumpf bis zur Idiotie. Im Sommer saß er mit Vorliebe
in der Sonne, um sich braten zu lassen, und unfehlbar summte er dann ein
Liedchen vor sich hin, gewöhnlich aber so leise, daß es auf fünf Schritt
nicht mehr zu hören war. Seine Gesichtszüge waren gleichsam hölzern, er
aß wenig und fast nur Brot. Niemals kaufte er sich einen Kalatsch oder
einen Schluck Branntwein, aber es ist auch kaum anzunehmen, daß er
jemals Geld besaß und kaum dürfte er verstanden haben, zu zählen. Zu
allem verhielt er sich unerschütterlich ruhig. Die kleinen Ostrogghunde
fütterte er zuweilen aus der Hand, was sonst niemand bei uns tat ...
Denn der Russe liebt es nicht, Hunde aus der Hand zu füttern. Es hieß,
daß er verheiratet gewesen sei, sogar zweimal, daß er irgendwo auch
Kinder habe ... Für welches Vergehen er in unseren Ostrogg gekommen war,
vermag ich nicht zu sagen. Die anderen Sträflinge erwarteten immer, daß
er entfliehen würde, aber entweder war seine Zeit noch nicht gekommen,
oder er war schon zu alt geworden; jedenfalls lebte er beschaulich
dahin, und verhielt sich etwas stumpf zu dieser ganzen sonderbaren
Umgebung, in die er hineingeraten war. Übrigens kann man nicht dafür
bürgen, daß er im Ostrogg blieb, obschon, sollte man meinen, keinerlei
Berechnung für ihn darin gelegen hätte, zu entfliehen. Dennoch ist, im
großen ganzen genommen, das freie Vagabundenleben im Walde und auf
Wiesen im Vergleich zum Ostroggleben ein Paradies. Der Unterschied liegt
ja so auf der Hand, daß von einem Vergleich überhaupt keine Rede sein
kann. Wenn dieses Leben auch noch so schwer ist, so lebt der Mensch doch
nach seinem eigenen freien Willen. Daher kommt es, daß in Rußland jeder
Gefangene, wo er auch sein mag, im Frühling, sobald die ersten Lerchen
erscheinen und die Tage wärmer werden, unruhig wird. Wenn auch längst
nicht jeder von ihnen zu entfliehen beabsichtigt – ja man kann wohl
sagen, daß infolge der vielen Schwierigkeiten und Gefahren nur einer vom
Hundert sich dazu entschließt – so werden die neunundneunzig andern doch
wenigstens davon träumen, wie und wohin man wohl entfliehen könnte, und
sie trösten sich mit dem Wunsch, mit der bloßen Vorstellung der
Möglichkeit. Manch einer erinnert sich vielleicht auch nur einer früher
von ihm ausgeführten Flucht ... Ich rede jetzt nur von den bereits
Verurteilten; die noch unter Anklage Stehenden entschließen sich viel
eher, zu entfliehen, – die auf bestimmte Zeit Verurteilten dagegen
höchstens zu Anfang ihrer Strafzeit. Denn hat der Arrestant schon zwei
bis drei Jahre abgedient, so beschließt er bei sich, doch lieber die
Strafzeit „gesetzlich abzuleben“ und zu den Ansiedlern geschickt zu
werden, als daß er sich zu einem solchen Wagnis entschließt; er weiß,
daß es ihm, wenn die Flucht mißlingt, bitter schlecht ergeht. Und das
Mißlingen ist so leicht möglich. Höchstens einem von zehn gelingt es
tatsächlich, „sein Schicksal zu wechseln“. Auch von den zu festgesetzter
Strafzeit Verurteilten entschließen sich am ehesten diejenigen dazu,
denen eine gar zu lange Strafzeit bevorsteht. Fünfzehn bis zwanzig Jahre
erscheinen als Ewigkeit und daher ist der Betreffende immer geneigt, an
eine Veränderung seines Geschickes zu denken, selbst wenn er auch schon
zehn Jahre in der Kátorga gewesen ist und ihm nur noch die kleinere
Hälfte bevorsteht. Hinzu kommt, daß auch die Brandmäler die Flucht
teilweise noch aussichtsloser machen. Der technische Ausdruck für Flucht
ist: „sein Schicksal wechseln“. So antwortet auch der auf der Flucht
wieder eingefangene Sträfling, – daß er nur sein Schicksal habe wechseln
wollen. Dieser etwas literarische Ausdruck ist tatsächlich die stehende
Bezeichnung dafür. Jeder Flüchtling hat nicht so sehr im Auge, sich
vollständig zu befreien – er weiß sehr wohl, daß das nicht so leicht ist
–, als eben nur eine Veränderung seines Lebens herbeizuführen,
gleichviel, ob er in ein anderes Gefängnis kommt, oder zu den
Kolonisten, oder ob er wegen eines neuen Verbrechens – das er während
des Vagabundierens begangen hat – von neuem verurteilt wird. Mit einem
Wort: gleichviel wohin, nur fort aus dem Alten, Überdrüssigen, nur fort
aus _diesem_ Ostrogg.

Alle diese Flüchtlinge erscheinen, wenn sie im Laufe des Sommers nicht
irgend einen geeigneten Aufenthaltsort zum Überwintern finden – wenn sie
zum Beispiel nicht auf Jemanden stoßen, der einen Vorteil darin findet,
sie zu beherbergen, oder schließlich, wenn sie sich keinen Paß
verschaffen können, was nicht selten durch Mord geschieht – alle diese
Entlaufenen erscheinen dann im Herbst, wenn sie nicht schon früher
eingefangen sind, gewöhnlich in ganzen Scharen als Landstreicher in den
Städten oder Festungen und Gefängnissen und kommen zum Überwintern in
den Ostrogg, selbstverständlich in der Hoffnung, im Frühling wieder
entfliehen zu können.

Der Frühling hatte auch auf mich seinen Einfluß. Ich weiß noch, wie
sehnsüchtig ich durch die Spalten des Palissadenzaunes spähte und lange
Zeit so stand, die Stirn an einen Pfahl gepreßt, und unverwandt,
unersättlich auf unseren Festungswall schaute, wie dort das Gras grünte
und wie der weite, weite Himmel mit jedem Tage ein tieferes Blau zeigte.
Unruhe und Sehnen wuchs mit jedem neuen Tage in meiner Brust und der
Ostrogg wurde mir immer verhaßter. Die Feindseligkeit der anderen, die
ich als Adliger in diesen ersten Jahren ununterbrochen fühlen mußte,
wurde mir unerträglich, sie vergiftete geradezu mein Leben. In diesen
ersten Jahren ging ich oft, ohne krank zu sein, ins Lazarett, nur um
nicht im Ostrogg zu bleiben, nur um mich von dieser ewigen, durch nichts
aufzuhebenden allgemeinen Feindschaft zu erlösen. „Ihr Geier, ihr habt
uns totgehackt,“ sagten die Arrestanten zu uns. Wie beneidete ich
oftmals die Verbrecher aus dem Volke, die in den Ostrogg kamen! Diese
waren im Augenblick mit allen befreundet. Und darum machte mich der
Frühling traurig und reizbar.

Kurz vor Ostern – ich glaube, es war in der sechsten Fastenwoche – nahm
ich das Abendmahl. Zu Beginn der Fasten war der ganze Ostrogg vom
älteren Unteroffizier in sieben Abteilungen geteilt worden, nach der
Zahl der Fastenwochen. In jeder Abteilung waren etwa dreißig Menschen.
Die sechste Woche, in der ich zum Abendmahl ging, gefiel mir sehr. Die
ganze Abteilung war dann von der Arbeit befreit, und wir gingen täglich
zwei- oder dreimal in die Kirche, die nicht sehr weit vom Ostrogg lag.
Lange war ich nicht mehr in einer Kirche gewesen. Der feierliche
Gottesdienst, der einem noch aus der fernen Kindheit im Elternhause so
gut erinnerlich war, die ernsten Gebete, die Hinknieenden, – alles das
rief in meiner Seele längst, längst Vergangenes wach, erinnerte mich an
Eindrücke der Kinderjahre, und ich weiß noch, wie wir uns freuten, wenn
wir unter Eskorte mit geladenem Gewehr am Morgen über den vom Nachtfrost
hartgefrorenen Boden ins Gotteshaus gingen. Die Eskorte ging übrigens
nicht mit in die Kirche. Wir standen dort zusammengedrängt dicht bei der
Tür, auf dem letzten Platz, von wo aus man nur die tiefe Stimme des
Diakons hörte und hin und wieder den schwarzen Talar und das Silberhaar
des Geistlichen sah. Ich dachte daran, wie ich früher als Kind zuweilen
auf das am Eingang der Kirche zusammengedrängte Volk geschaut hatte, das
vor dicken Epauletten zur Seite trat, oder vor einem wohlgenährten Herrn
oder einer aufgeputzten, doch sehr frommen Dame, die alle unbedingt zur
ersten Reihe strebten und auch dort noch jeden Augenblick bereit waren,
um einen besseren Platz zu streiten. Damals hatte es mir geschienen, daß
dort am Eingang anders gebetet wurde, als bei uns: dort betete man so
still und andächtig, mit so aufrichtiger innerer Demut.

Jetzt stand ich selbst auf diesem Platze, ja nicht einmal auf diesem!
Wir waren gefesselt und gebrandmarkt, uns mieden alle, und man fürchtete
uns sogar. Jedesmal gab man uns Almosen, und ich weiß noch, wie mir das
sogar gewissermaßen angenehm war, es lag eine gewisse verfeinerte, ganz
besondere Empfindung in diesem eigenartigen Freudegefühl. „Mag es nur,
mag es denn sein, wenn es einmal so ist!“ dachte ich. Die Sträflinge
beteten andächtig und ein jeder von ihnen brachte jedesmal seine
armselige Kopeke mit, sei es für ein Licht oder sei es für die
Sammelbüchse. „Auch ich bin doch ein Mensch,“ dachte oder fühlte er
vielleicht, wenn er seine kleine Münze hineinwarf, – „vor Gott sind alle
gleich ...“ Das Abendmahl nahmen wir nach dem Frühgottesdienst. Als der
Geistliche mit dem Kelch in der Hand die Worte sprach: „... und nimm
mich auf wie den sündigen Verbrecher,“ – da knieten alle mit einemmal
nieder, während die Ketten aufklirrten, denn ein jeder schien die Worte
buchstäblich auf sich zu beziehen.

Und dann kam die heilige Osterwoche. Wir erhielten jeder ein Ei und ein
Stück Weizenbrot. Aus der Stadt wurden wieder reiche Gaben geschickt.
Wieder kam der Geistliche mit dem Kreuz, wieder erschienen die höchsten
Vorgesetzten, wieder gab es fette Kohlsuppe und nachher Schlemmerei und
Trunkenheit, ganz genau so wie am Weihnachtsfeste, nur mit dem einen
Unterschied, daß man jetzt bereits auf dem Hof spazieren und sich im
Sonnenschein wärmen konnte. Es war heller, freier, als im Winter,
gleichzeitig aber auch wehmütiger. Wenn die Sehnsucht nur nicht so
gequält hätte! Der lange, endlose Sommertag wurde als Feiertag noch ganz
besonders lang und unerträglich. An den Werktagen wurde die Zeit doch
wenigstens durch die Arbeit verkürzt.

Die Sommerarbeiten waren allerdings viel schwerer als die
Winterarbeiten. Wir waren größtenteils bei den Militärbauten
beschäftigt. Die Sträflinge bauten, gruben, mauerten; andere wiederum
erhielten die Schlosser-, Tischler- und Malerarbeiten zugewiesen, oder
was sonst bei den Aufbesserungsarbeiten erforderlich war. Wieder andere
gingen in die Ziegelbrennerei, um Ziegel zu formen. Diese letztere
Arbeit wurde bei uns für die schwerste gehalten. Die Ziegelei lag von
der Festung drei bis vier Werst entfernt. Im Sommer begab sich täglich
ein Trupp von nahe fünfzig Mann schon um sechs Uhr morgens dorthin. Zu
dieser Arbeit wurden die sogenannten „Schwarzarbeiter“ bestimmt, d. h.
die Nichthandwerker, die nicht in den Werkstätten beschäftigt waren. Sie
nahmen ihr Brot mit, da sie wegen der größeren Entfernung zum
Mittagessen nicht in den Ostrogg zurückkehrten, was einen Marsch von
acht Werst erforderte, und so erhielten sie ihr Mittagessen erst am
Abend. Die Aufgaben aber wurden für den ganzen Tag gegeben, und zwar
waren sie gewöhnlich so groß, daß der Arbeiter kaum mit ihnen fertig
werden konnte, selbst wenn er ununterbrochen arbeitete. Zuerst mußte man
den Lehm graben und aus der Grube herauskarren, dann mußte das Wasser
herangeschleppt, der Lehm getreten werden, und dann hatte ein
jeder, wenn ich nicht irre, noch ganze zweihundert oder gar
zweihundertundfünfzig Ziegel zu formen. Ich bin im Ganzen nur zweimal in
der Ziegelei gewesen. Die Ziegler kehrten erst am Abend zurück, müde,
abgequält, und den ganzen Sommer warfen sie den anderen vor, daß sie die
schwerste Arbeit hatten. Das schien noch ihr Trost zu sein und sie
einigermaßen zu beruhigen. Nichtsdestoweniger gingen viele ganz gern
dorthin: die Ziegelei lag hinter der Stadt, dicht am Irtysch, man konnte
freie Landschaft sehen, Wälder und Menschen. Es war dort doch immerhin
freundlicher, freier, – nicht ewig Festung und Beamte! Man konnte sogar
freier rauchen und schließlich auch ein halbes Stündchen liegen und sich
erholen. Ich aber wurde nach wie vor in die Werkstätten geschickt, oder
zur Alabasterhütte, oder man brauchte mich als Ziegelträger bei den
Bauten. Einmal mußten wir die Ziegel vom Ufer des Irtysch bis zu einer
Kaserne, die neu aufgebaut wurde, etwa siebzig Faden weit und dann noch
über den Festungswall schleppen, und diese Arbeit dauerte ununterbrochen
zwei ganze Monate. Mir aber gefiel sie, obgleich die fingerdicke Schnur,
mit der man die Steine trug, mir immer die Schultern wund rieb. Aber
trotzdem gefiel sie mir, denn ich fühlte, wie meine Kräfte sich
entwickelten. Zuerst konnte ich kaum acht Ziegel tragen, von denen jeder
bis zwölf Pfund wog, zuguterletzt aber trug ich zwölf bis fünfzehn
Ziegel, und das freute mich nicht wenig. In der Kátorga bedurfte man der
physischen Kraft nicht weniger als der moralischen, um alle materiellen
Unannehmlichkeiten dieses Lebens ertragen zu können.

Und ich wollte doch auch _nach_ dem Ostrogg noch leben ...

Übrigens schleppte ich die Ziegel nicht nur aus dem Grunde gern, weil
ich dadurch meinen Körper stärkte, sondern auch noch deshalb, weil man
dann an das Ufer des Irtysch kam. Ich komme so oft auf dieses Ufer zu
sprechen, weil wir einzig von ihm aus die freie Welt Gottes sehen
konnten, die reine, klare Ferne, die sauberen, freien Steppen, die durch
ihre Öde einen eigentümlichen Eindruck auf mich machten. Am Flußufer
brauchte man nur den Rücken zur Festung zu kehren, und man sah sie nicht
mehr, man konnte sie gänzlich vergessen. Alle übrigen Arbeitsplätze
lagen dagegen in der Festung oder in ihrer nächsten Nähe. Ich aber haßte
diese Festung schon vom ersten Tage an und besonders einige Gebäude. Das
Haus unseres Platzmajors schien mir geradezu verflucht und ekelhaft, und
jedesmal überkam mich wilder Haß, wenn ich an ihm vorüberging. Am
Flußufer aber konnte man die ganze Gegenwart vergessen: da bleibt man
denn zuweilen stehen und schaut in die unermeßliche Weite, und Gefühle
bewegen die Brust, wie sie nur ein Gefangener empfinden kann, der durch
das vergitterte Fenster seiner Zelle in die Freiheit hinausschaut. Hier
war mir alles teuer und lieb: die helle heiße Sonne am bodenlosen blauen
Himmel, das ferne Lied eines Kirgisen, das vom kirgisischen Ufer
herübertönt. Da sieht man dann wohl schärfer hin, bis man endlich ein
kleines, verräuchertes Nomadenzelt entdeckt, aus dem ein dünner, kaum
wahrnehmbarer Rauch emporsteigt, und neben ihm eine Kirgisin, die dort
bei ihren zwei Schafen arbeitet. Alles ist arm und wild, aber es ist
frei! Oder man erblickt einen Vogel in der blauen, klaren Luft und
lange, lange folgt mein Blick seinem Fluge: da fliegt er niedrig über
dem Wasser, da – ein paar stärkere Flügelschläge, und er schwingt sich
empor, hoch in die Luft, bald sieht man ihn nur noch wie einen Punkt am
blauen Himmel, bald verschwindet er ganz, dann ist er wieder wie ein
Punkt im Blau ... Selbst die armselige, verkümmerte Feldblume, die ich
an einem Frühlingstage in einem Spalt des steinigten Ufers fand, selbst
die erregte in fast krankhafter Weise meine Aufmerksamkeit. Die Qual des
ganzen ersten Jahres meiner Kátorga war unerträglich und wirkte
aufreibend auf Geist und Körper, – sie war zu bitter. So kam es denn
auch, daß ich in diesem ersten Jahr infolge der eigenen Schmerzen vieles
nicht wahrnahm, was um mich herum war. Ich schloß die Augen und wollte
mich nicht hineinsehen in die Dinge. Daher bemerkte ich auch unter den
bösen, gehässigen Arbeitsgenossen nicht die guten Menschen, – Menschen,
die sogar fähig waren, zu denken und zu fühlen, trotz der ganzen
abstoßenden Schale, die ihr Inneres verbarg. Unter all den boshaften
Bemerkungen überhörte ich ganz die freundlichen und guten Worte, die um
so wertvoller waren, als hier ohne alle äußeren Rücksichten gesprochen
wurde, und nicht selten direkt aus der Seele heraus, – aus einer Seele,
die vielleicht viel mehr als ich gelitten und durchgemacht hatte. Doch
wozu sich darüber so ausführlich verbreiten.

Es freute mich sehr, wenn die Arbeit mich recht müde machte: dann konnte
ich hoffen, am Abend bald einzuschlafen. Das Schlafen war im Sommer eine
wahre Qual, fast noch schlimmer, als im Winter. Die Abende waren
zuweilen wundervoll. Die Sonne, die den ganzen Tag grell auf den
Ostrogghof schien, ging dann endlich unter. Es kam die Abendkühle und
bald darauf die – im Verhältnis zum Tage – fast kalte Steppennacht. Die
Arrestanten gingen gewöhnlich, bevor sie eingeschlossen wurden, in
großen Scharen auf dem Hof umher. Die meisten wurden allerdings von der
Küche angezogen. Dort gibt es immer eine besondere, höchst aktuelle
Ostroggfrage zu besprechen, da wird über dies und jenes
diskutiert, nicht selten wird ein vages Gerücht kritisch auf seine
Wahrheitsmöglichkeit hin untersucht, wenn es auch nicht selten die
größte Ungereimtheit ist, doch nichtsdestoweniger erregt sie mächtig das
Interesse dieser von der Welt abgeschiedenen Menschen. So zum Beispiel
verbreitete sich einmal das Gerücht, daß unser Platzmajor abgesetzt
werden würde. Die Sträflinge sind natürlich leichtgläubig wie Kinder.
Sie wissen ja alle, daß die Nachricht völlig aus der Luft gegriffen, daß
sie von einem bekannten Schwätzer und „unsinnigen“ Menschen verbreitet
worden ist, – von dem Sträfling Kwassoff, dem nie mehr zu glauben man
schon nach längst gefaßtem Beschluß sich vorgenommen hat, da er außer
Lügen überhaupt nichts zu sprechen versteht. Doch ungeachtet aller guten
Vorsätze, ist doch ein jeder ganz Ohr, man spricht hin und her, meint
dieses und jenes, schmückt die Sache noch aus, – kurz, man ist damit
beschäftigt, und es endet damit, daß alle sich über sich selbst ärgern,
denn im Grunde schämt man sich, daß man dem Kwassoff doch wieder
geglaubt hat.

„Wer wird denn den fortjagen!“ meint einer, „der hat einen festen
Nacken, wird schon standhalten!“

„Als ob er nicht auch Vorgesetzte hat, die über ihm stehen!“ mischt sich
ein anderer ein, ein hitziger und nicht dummer Bursche, der in der Welt
schon etwas gesehen hat, dabei aber streitsüchtig ist, wie selten einer.

„Ein Rabe wird dem anderen nicht die Augen aushacken!“ bemerkt mürrisch,
gleichsam nur für sich, ein dritter, ein älterer, bereits ergrauter
Mann, der einsam in der Ecke seine Kohlsuppe löffelt.

„Und diese Vorgesetzten werden gerade kommen, um dich um Rat zu fragen,
ob sie ihn absetzen sollen oder nicht?“ fragt gleichmütig ein vierter
den zweiten, während er leicht mit den Fingerspitzen über die Saiten
seiner Balalaika fährt.

„Und warum sollten sie mich denn nicht fragen?“ greift hitzig der zweite
auf, „das heißt doch soviel, daß wir alle darum bitten, nur müssen dann
auch alle das Maul auftun, wenn man uns zu fragen beginnt. Gewöhnlich
wird aber bei uns nur vorher geschrien, und wenn es dann zur Tat kommt,
dann hat keiner einen Ton!“

„Was erwartest du denn eigentlich?“ fragt der Balalaikaspieler. „Dafür
sind wir hier in der Kátorga.“

„Vor kurzem aber,“ fährt der Streitsüchtige fort, ohne auf den anderen
zu hören, „vor kurzem war noch beim Brotbacken etwas Mehl nachgeblieben,
man kratzte noch alles zusammen, was hier und da verstreut war, und
schickte es fort zum Verkauf. Aber nein! Er erfuhr es, der Markthelfer
hatte es erfahren, ihm sofort hinterbracht, und das Mehl wurde
weggenommen! Das ist nun Ökonomie, wie man sagt. Ist es aber auch
Gerechtigkeit?“

„Aber bei wem willst du dich denn beklagen?“

„Bei wem? Beim Levisor selber, der da kommt!“ – Im Ostrogg sagte man
allgemein Levisor statt Revisor.

„Was für einen Levisor?“

„Ja, das ist wahr, ich habe es auch gehört, daß ein Levisor kommt,“
bemerkte ein junger aufgeweckter Bursche, der einmal „die Herzogin von
Lavallière“ oder so etwas Ähnliches gelesen hatte und früher Schreiber
gewesen war. Er ist stets heiter und ein echter Spaßvogel, und wird vor
allem wegen seiner Kenntnisse geachtet. Ohne das allgemein lebhaft
erweckte Interesse für den verheißenen Revisor auch nur im Geringsten zu
beachten, geht er seelenruhig zur Köchin, oder vielmehr zum Koch, und
sagt ihm, er möge ihm ein Stück Leber geben. Unsere Köchinnen handelten
oft mit solchen Sachen. Sie kauften für ihr Geld ein großes Stück
Fleisch oder Leber, brieten es regelrecht und verkauften es dann den
Sträflingen in kleinen Stücken.

„Für zwei oder vier Kopeken?“ fragt die Köchin.

„Schneid mal für vier: mögen einen die Leute beneiden,“ antwortet der
junge Sträfling. „Ja, was ich sagen wollte ... es kommt nämlich wirklich
ein General aus Petersburg hergefahren, der ganz Sibirien besichtigen
wird. Das ist wahr. Man sprach davon beim Kommandeur in der Vorstube,
habe selbst gehört.“

Die Nachricht verursachte ungeheuere Aufregung. Wohl eine Viertelstunde
dauert das Fragen an: wer das, was für ein General, welchen Ranges, ob
er über dem hiesigen stehe? Überhaupt sprechen die Sträflinge mit
besonderer Vorliebe über die verschiedenen Rangstufen der Vorgesetzten:
wer von ihnen der höhere ist, wer dem anderen befehlen kann, und wem er
selbst gehorchen muß, ja sie streiten sogar und beschimpfen sich
gegenseitig wegen irgend eines Generals, und viel fehlt nicht, so würden
sie sich noch seinetwegen prügeln. Man fragt sich wohl verwundert, was
sie davon haben? Nun, die Sache ist die, daß nach der Kenntnis von
Generälen und überhaupt der höheren Vorgesetzten der Bildungs- und
Verstandsgrad, sowie die ganze Bedeutung und Stellung des Menschen in
seinem früheren Leben, bevor er in den Ostrogg kam, beurteilt wird.
Tatsächlich werden im Ostrogg Gespräche über die höheren Vorgesetzten
für die vornehmste und bedeutendste Unterhaltung angesehen.

„Da seht ihr jetzt, Brüder, daß ich euch die wahrste Wahrheit gesagt
habe, daß man hergefahren kommt, um unseren Platzmajor zu wirbeln!“
triumphiert Kwassoff, ein kleines, rotwangiges, lebhaftes und äußerst
unverständiges Kerlchen.

„Der wird ihn schon mit Schmiergeldern weich schmieren, da sei du
unbesorgt!“ meint der mürrische alte Sträfling, der inzwischen seine
Kohlsuppe verzehrt hat.

„Na, versteht sich!“ meint ein anderer. „Als ob der hier wenig Geld
zusammengeräubert hätte! Als ich herkam, war er erst noch
Bataillonschef. Und vor kurzem wollte er ja noch die Tochter des Popen
heiraten.“

„Aber er hat sie doch nicht geheiratet: man hat ihn einfach vor die Tür
gesetzt – zu arm. Und was ist er denn für ein Bräutigam! Zu Ostern hat
er alles verspielt. Fedjka erzählte es selbst.“

„Ja, der Junge ist zwar kein Verschwender, aber das Geld wird doch nicht
warm bei ihm.“

„Ach, Bruder, auch ich war mal verheiratet. Schlimm genug ist es für
einen Armen, zu heiraten: eh du dich dessen versiehst, ist die Nacht
vergangen!“ mischt sich nun auch Skuratoff ein, der bis dahin nur
zugehört hat.

„Glaub’s schon! Von dir ist ja hier gerade die Rede,“ bemerkte der
lustige Bursch, der früher Schreiber gewesen war. „Du aber, Kwassoff,
bist ein großer Dummkopf, das laß dir gesagt sein. Glaubst du denn
wirklich, daß unser Major einen solchen General bestechen könnte, und
daß ein General extra deswegen herkommen wird, um unseren Major zu
wirbeln? Dumm bist du, mein Lieber.“

„Wieso? Glaubst du, daß ein General nicht mehr nimmt?“ fragt skeptisch
jemand aus der Gruppe.

„Selbstverständlich nimmt er nicht, wenn er aber nimmt, dann nimmt er
nicht wenig.“

„Na natürlich nicht wenig! Immer dem Rang gemäß.“

„Ein General nimmt immer!“ behauptet Kwassoff entschieden.

„Hast du ihm denn schon einmal was gegeben?“ fragt verächtlich der
soeben eingetretene Bakluschin. „Du hast wohl höchstwahrscheinlich einen
General überhaupt noch nicht gesehen!“

„Doch! Gewiß habe ich gesehen!“

„Das lügst du natürlich.“

„Du lügst selber.“

„Kinder, wenn er einen gesehen hat, so soll er sofort sagen, welch einen
General er gesehen hat! Nun, sag mal jetzt, denn ich kenne alle
Generäle.“

„Ich habe den General Siebert gesehen,“ antwortet Kwassoff etwas
unsicher.

„Siebert? Einen solchen General gibt es überhaupt nicht. Den hast du
wohl nur einmal von hinten gesehen, diesen Siebert, als er vielleicht
erst Oberstleutnant war, und da schien dir vor Schreck, daß es ein
General wäre.“

„Nein, ihr, hört mich an,“ schreit Skuratoff dazwischen, „denn seht, ich
bin doch ein verheirateter Mensch. Es gab nämlich wirklich solch einen
General in Moskau, Siebert, einer von den Deutschen, aber von russischer
Mutter. Der ging jedes Jahr zum russischen Popen, um seine Sünden
bezüglich der Damen zu beichten, und immer, wißt ihr, trank er Wasser,
ganz wie eine Ente. Jeden Herrgottstag vierzig Glas echtes Moskauer
Flußwasser soff er aus. Man sagte, daß er sich durch Wasser von irgend
einer Krankheit da kurierte. Sein Kammerdiener hat es mir selbst
erzählt.“

„Der hat dann wohl im Magen Karauschen in Flußwasser gezüchtet?“ meint
der Sträfling mit der Balalaika.

„Na, hört jetzt auf! Hier handelt es sich um eine ernste Sache, ihr aber
... Was ist denn das für ein Levisor, Brüder?“ fragt besorgt Martynoff,
ein alter, stets sehr beschäftigter Arrestant, – ein ehemaliger Husar.

„Weiß Gott, die Bande kann mal was zusammenlügen!“ meint ein alter
Skeptiker. „Und woher sie alles das nur nehmen, und was sie daraus
herausdrehen! Daß sie das gar nicht müde macht! – dieser ewige Unsinn!“

„Nein, diesmal ist es kein Unsinn,“ sagt dogmatisch ein gewisser
Kulikoff, der bis dahin geschwiegen hat. Er ist ein gewichtiger Mann von
nahezu fünfzig Jahren, mit einem auffallend wohlgeformten Gesicht und
einem gewissermaßen verächtlich erhabenen Auftreten, dessen er sich
vollkommen bewußt und auf das er sogar stolz ist. Er hat zum Teil
Zigeunerblut in den Adern, ist „Tierarzt“ und verdient sich als solcher
in der Stadt gutes Geld. Im Ostrogg handelt er mit Branntwein. Er ist
ein kluger Kopf und hat viel gesehen. Jedes Wort spricht er, als würde
er damit etwas Großes verschenken.

„Es ist wirklich wahr,“ fährt er ruhig fort, „ich habe es schon in der
vorigen Woche gehört: ein General kommt her, einer der höchsten, und
wird ganz Sibirien besichtigen. Gewiß wird man auch ihn bestechen, nur
wird es nicht unser Achtäugiger tun: der darf überhaupt nicht wagen, ihm
viel unter die Augen zu kommen. Aber auch zwischen General und General
ist ein Unterschied. Es gibt ihrer sehr verschiedene. Nur sage ich euch,
daß unser Major jedenfalls auf seinem Platz bleiben wird. Das ist
sicher. Wir sind ein stummgemachtes Volk und von den Vorgesetzten kann
man annehmen, daß der eine nicht den anderen angeben wird. Der Revisor
wird nur einen Blick in den Ostrogg werfen und später melden, daß alles
sehr gut gewesen sei ...“

„Das kann schon wahr sein, Brüder, denn der Major scheint Angst gekriegt
zu haben, ist seit dem Morgen besoffen.“

„Und am Abend kommt die zweite Fuhre. Fedjka sagte so vorhin.“

„Einen Mohr wirst du nicht weiß waschen. Ist es denn das erstemal, daß
er besoffen ist?“

„Nein, aber ... was soll denn das heißen, wenn auch der General nichts
kann!“ – „Nein, das müßte doch endlich aufhören, daß man ewig ihre
Dummheiten mitmacht!“ hört man die Sträflinge erregt untereinander
sprechen.

Die Nachricht von dem Revisor verbreitet sich mit Blitzesschnelle im
ganzen Ostrogg. Der Hof wimmelt von Menschen, die erregt einander die
Neuigkeit mitteilen. Andere wiederum schweigen absichtlich und bewahren
ihre Kaltblütigkeit, wodurch sie sich augenscheinlich größere Würde zu
verleihen glauben. Wieder andere verhalten sich völlig gleichgültig. Auf
den Treppenstufen vor den Kasernentüren setzen sich die Balalaikaspieler
hin. Einige fahren noch fort zu reden, einige stimmen Lieder an, doch
alle sind sie an diesem Abend in äußerst angeregter Stimmung.

Um zehn Uhr fand gewöhnlich die Zählung statt, dann wurden wir in die
Kasernen getrieben und für die Nacht eingeschlossen. Die Nächte waren
kurz: um fünf Uhr wurden wir geweckt, schliefen aber nie vor elf ein.
Bis dahin wurde immer noch gesprochen und geschwatzt und zuweilen wurde
in einer Ecke ganz wie im Winter Karten gespielt. In der Nacht nun wurde
die schwüle Hitze unerträglich. Trotz der halboffenen Fenster, durch die
die Nachtkühle hereindrang, wälzten sich doch alle schlaflos auf den
Pritschen, als hätten sie Fieber gehabt. Die Flöhe wimmelten in
Myriaden. Wir hatten sie auch im Winter gehabt, und zwar in genügender
Anzahl, seit dem Frühling aber vermehrten sie sich in einem Maße, wie
ich es trotz aller Versicherungen nicht glauben würde, wenn ich es nicht
selbst erlebt hätte. Und je mehr der Sommer vorrückte, um so schlimmer
wurde die Plage. Es ist wahr, man kann sich auch an Flöhe gewöhnen, das
habe ich an mir selbst erfahren, aber es ist doch schwer, es soweit zu
bringen. Sie können einen dermaßen peinigen, daß man schließlich wie im
Fieber liegt und fühlt, daß man ja doch nicht schläft, sondern nur
deliriert. Wenn dann endlich kurz vor Tagesanbruch die Flöhe sich etwas
beruhigen und man in der Morgenkühle, wie man meint, tatsächlich
einschläft – da ertönt dann plötzlich erbarmungslos der Trommelwirbel
vom Tore her. Mit einem Fluch hört man, sich fester in seinen Halbpelz
wickelnd, die deutlichen, fast einzelnen Schläge, ja man scheint sie
förmlich zu zählen, während noch im Halbschlaf der unerträgliche Gedanke
einem in den Sinn schleicht, daß es auch morgen und auch übermorgen, und
noch viele Jahre so sein wird, bis endlich, endlich die Freiheit kommt.
Aber wann wird das sein, denkt man unwillkürlich, wann kommt diese
Freiheit und wo ist sie? ... Doch jetzt heißt es erwachen und aufstehen!
Wieder beginnt das tägliche Gedränge, Waschen, Gehen ... Die Sträflinge
kleiden sich an, eilen zur Arbeit. Schließlich tröstet man sich damit,
daß man ja noch zur Mittagszeit etwas schlafen kann.

Was man von dem Revisor erzählt hatte, beruhte tatsächlich auf Wahrheit.
Mit jedem Tage bestätigten sich die Gerüchte immer mehr, bis man
schließlich mit Sicherheit erfuhr, daß ein „bedeutender“ General aus
Petersburg abgefahren war, um ganz Sibirien zu inspizieren, und es hieß
sogar, daß er bereits in Tobolsk angekommen sei. Täglich verbreiteten
sich neue Gerüchte im Ostrogg. So hörten wir aus der Stadt, daß
sämtliche Beamte von Furcht befallen und eifrig bemüht seien, alles in
bestem Zustande zu präsentieren. Es hieß, daß man in den höheren Kreisen
Vorbereitungen treffe zu Empfangsdiners, Bällen und Festen. Die
Sträflinge wurden in Scharen ausgesandt, um die Wege in der Festung zu
ebnen, Erdhaufen abzutragen, Zäune und Wegpfosten anzustreichen, hier
und da schadhafte Stellen auszuflicken, – mit einem Wort, man wollte
alles, was er besichtigen könnte, im Augenblick verbessern. Die
Sträflinge begriffen sehr wohl, um was es sich handelte, und
diskutierten immer eifriger und hitziger über das Bevorstehende. Ihre
Phantasie wuchs ins Kolossale. Sie beschlossen sogar „Ansprüche zu
erheben“, wie sie sagten, falls der General fragen sollte, ob sie mit
allem zufrieden wären. Sie stritten beständig unter sich und schimpften
sich gegenseitig wegen der zu erwartenden Dinge. Unser Platzmajor befand
sich in großer Aufregung. Er kam öfter in den Ostrogg, schrie noch mehr,
stürzte häufiger auf die Einzelnen los, versammelte die Sträflinge vor
der Hauptwache und hielt jetzt streng auf Sauberkeit und Ordnung.

Wie mit Absicht sollte es im Ostrogg gerade in dieser Zeit zu einem
kleinen Zwischenfall kommen, der aber den Major nicht, wie man meinen
sollte, ärgerte, sondern im Gegenteil, er schien ihm sogar ein gewisses
Vergnügen zu bereiten: Bei einer Prügelei stieß ein Sträfling dem
anderen seinen Pfriem in die Brust, ein wenig unterhalb des Herzens.

Der Sträfling, der gestochen hatte, hieß Lomoff; der Gestochene wurde
bei uns Gawrilka genannt und war ein eingefleischter Landstreicher. Ich
weiß nicht, ob er überhaupt einen Familiennamen besaß.

Lomoff war früher ein wohlhabender t–scher Bauer im K–schen Kreise
gewesen. Alle Lomoffs hatten zusammengelebt, wie eine einzige Familie:
der alte Vater, seine drei Söhne und deren Onkel, gleichfalls ein
Lomoff. Sie waren reiche Bauern gewesen; man hatte im ganzen
Gouvernement davon gesprochen, daß sie an dreihunderttausend Rubel in
Papieren besaßen. Sie hatten Ackerbau getrieben, Felle bearbeitet,
gehandelt, doch die Haupteinnahme soll ihnen ihr Wuchergeschäft, ferner
das Verstecken und Verhehlen von gestohlenem Eigentum eingetragen haben.
Ungefähr die Hälfte der Bauern des ganzen Kreises schuldete ihnen und
war von ihnen abhängig. Sie waren als kluge und schlaue Leute bekannt,
schließlich aber wurden sie hochmütig, besonders nachdem eine daselbst
sehr angesehene, hochgestellte Persönlichkeit auf der Reise bei ihnen
abgestiegen, mit dem Alten persönlich bekannt geworden war und wegen
seines Scharfsinns und seines Verständnisses für Alles Gefallen an ihm
gefunden hatte. Da glaubten sie plötzlich, daß ihnen niemand mehr etwas
anhaben könne und wagten immer mehr in ihren verschiedenen,
gesetzwidrigen Unternehmungen. Alle murrten über sie und wünschten, daß
sie von ihrer Höhe herabstürzten, sie aber trugen ihre Nasen immer noch
höher. Kreisrichter und Assessoren wurden von ihnen bald überhaupt nicht
mehr angesehen. Endlich aber kam es doch zum Sturz, doch nicht wegen
ihrer heimlichen Gesetzwidrigkeiten, sondern wegen einer Sache, an der
sie völlig unschuldig waren. Zehn Werst von ihrem Dorf besaßen sie einen
großen Meierhof und dort lebten einmal im Herbst ihre sechs kirgisischen
Arbeiter, denen sie noch den Lohn schuldeten. In einer Nacht nun waren
alle sechs Kirgisen erdrosselt worden. Jetzt begann die Untersuchung,
die sich lange hinzog, und im Verlauf derselben wurden noch viele
schlimme Sachen aufgedeckt. Man klagte die Lomoffs der Ermordung ihrer
sechs Arbeiter an. So erzählten es die Lomoffs selbst und der ganze
Ostrogg wußte es schon. Es lag der Verdacht vor, daß sie ihren Arbeitern
eine gar zu große Summe schuldig gewesen waren: und bei ihrem Geiz und
ihrer Geldgier – zwei Dinge, die man ihnen trotz ihres großen Vermögens
mit Recht vorwerfen konnte – hätten sie die Kirgisen beseitigt, um den
Arbeitslohn zu sparen. Während ihrer Untersuchungshaft verloren sie ihr
ganzes Vermögen. Der Alte starb, die Söhne wurden verschickt. Der eine
Sohn und der Onkel waren auf zwölf Jahre in unseren Ostrogg gekommen.
Was aber stellte sich schließlich heraus? Sie waren am Tode der Kirgisen
vollkommen unschuldig. Hier bei uns nämlich gab es einen Gawrilka, einen
bekannten Spitzbuben und Landstreicher – er war ein gewandter, lustiger
Bursch –, der ruhig seine Täterschaft eingestand. Übrigens weiß ich
nicht, ob er es wirklich selbst einmal zugegeben, jedenfalls aber war
der ganze Ostrogg fest überzeugt, daß er die Kirgisen auf dem Gewissen
hatte. Gawrilka war bereits als Landstreicher auf die Lomoffs nicht gut
zu sprechen gewesen, und später war er nur auf kurze Zeit in den Ostrogg
gekommen, als entlaufener Soldat und Vagabund. Die sechs Kirgisen hatte
er in Gemeinschaft mit drei anderen Landstreichern umgebracht. Sie
hatten gehofft, auf dem Meierhof gut leben und viel rauben zu können.

Die Lomoffs wurden bei uns nicht geliebt; einen Grund hierfür vermag ich
nicht anzugeben. Der eine von ihnen war ein kluger junger Bursche mit
gutem Charakter, sein Onkel aber, der den Gawrilka mit dem Pfriem
gestochen hatte, war ein dummer und einfältiger Bauer. Er hatte schon
oft mit anderen Streit gehabt und man hatte ihn auch genug dafür
geprügelt. Gawrilka dagegen hatten alle wegen seines heiteren und
ausgeglichenen Charakters gern. Zwar wußten die Lomoffs, daß sie für
sein Verbrechen verurteilt waren, lebten aber trotzdem in Frieden mit
ihm. Freilich kamen sie nicht viel in Berührung miteinander. Gawrilka
aber beachtete sie gar nicht. Und da war es nun plötzlich zwischen ihm
und dem Onkel Lomoff wegen eines äußerst widerlichen Mädchens zu einem
Streit gekommen. Gawrilka hatte sich mit ihrer Gunst gebrüstet, der Alte
war eifersüchtig geworden und an einem wunderschönen Tage um die
Mittagszeit stach er ihn mit dem Pfriem.

Obschon die Lomoffs während des Prozesses ihr Vermögen verloren hatten,
lebten sie im Ostrogg doch als reiche Leute. Sie hatten offenbar Geld,
besaßen einen Ssamowar, tranken Tee. Unser Major wußte, daß sie Mittel
hatten, und haßte sie über alle Maßen. Es fiel allen auf, daß er ihnen
bei jeder Gelegenheit etwas anzuhaken suchte und sie gern auf einem
Vergehen ertappt hätte, was die Lomoffs damit erklärten, daß er von
ihnen Geld zur Beschwichtigung erwarte, sie aber ihm nichts gaben.

Hätte Lomoff den Pfriem tief hineingestoßen, so wäre Gawrilka gestorben,
so aber hatte er ihn nur leicht verletzt, es war nur eine kleine
Schramme zu sehen. Der Major wurde benachrichtigt. Ich entsinne mich
noch, wie erregt und sichtlich erfreut er angefahren kam. Er wandte sich
ungemein freundlich an Gawrilka, fast als wäre dieser sein leiblicher
Sohn gewesen.

„Nun, mein Lieber, kannst du dich noch zu Fuß ins Lazarett begeben, oder
geht’s nicht? Nein, nein, wir wollen lieber das Pferd anspannen lassen.
– Sofort das Pferd anspannen!“ schrie er voll Eifer dem Unteroffizier
zu.

„Aber ich, Euer Gnaden, ich fühle ja nichts. Er hat ja nur ein wenig
gekratzt, Euer Gnaden.“

„Das weißt du nicht, das kannst du selbst nicht beurteilen, mein Lieber,
du wirst schon sehen ... Es ist eine sehr gefährliche Stelle, und alles
hängt von der Stelle ab ... Gerade in das Herz hat er gestochen, der
Räuber! Dich aber, dich,“ brüllte er plötzlich wild den alten Lomoff an,
„dich habe ich jetzt endlich! ... Auf die Wache mit ihm!“

Und er rächte sich tatsächlich! Lomoff wurde, obgleich die Verletzung
nur eine ganz ungefährliche Stichwunde war, auf Grund der „bösen
Absicht“ zu längerer Zwangsarbeit und zu tausend Spießruten verurteilt.
Dem Major war das Urteil eine große Genugtuung.

Endlich traf der Revisor ein.

Am zweiten Tage nach seiner Ankunft in der Stadt – es war gerade ein
Feiertag – kam er auch zu uns in den Ostrogg. Schon mehrere Tage vorher
war bei uns alles reingewaschen und reingefegt worden, alle Sträflinge
waren frisch rasiert, alle staken in weißen, reinen Anzügen. Im Sommer
gingen vorschriftsmäßig alle in Leinwandjacken und ebensolchen
Beinkleidern. Auf dem Rücken eines jeden war ein schwarzer Kreis von
ungefähr zehn Zentimeter im Durchmesser eingenäht. Eine ganze Stunde
wurden die Sträflinge unterrichtet, wie sie zu antworten hatten, falls
der hohe Gast sie anreden sollte. Das Beigebrachte wurde solange
wiederholt, bis alle die Antwort auswendig kannten. Der Major war wie
besessen vor Aufregung. Eine Stunde vor dem Erscheinen des Generals
standen sämtliche Sträflinge wie Götzenbilder in einer Front und hielten
stramm die Hände an den Hosennähten. Endlich, um ein Uhr mittags,
erschien der General. Er war ein großes Tier und in Petersburg so
einflußreich, daß die Herzen aller Vorgesetzten in ganz West-Sibirien
bei seiner Ankunft erzittern mußten. Er trat mit strenger, ernster Miene
ein. Ihm folgte eine zahlreiche Suite, die zum größten Teil aus den
höheren Persönlichkeiten der Stadt, sowie mehreren Obersten und
Generälen bestand. Unter ihnen fiel besonders ein Herr in eleganter
Zivilkleidung auf, eine vorzügliche Erscheinung im Frack und in
Halbstiefeln, der gleichfalls aus Petersburg gekommen war und ein
ungewöhnlich sicheres, weltmännisches Auftreten hatte. Der General
wandte sich sehr oft und sehr höflich an ihn, was die Sträflinge ganz
besonders interessierte: ein Herr, der nicht Militär war, und dem wurde
solche Ehre erwiesen und noch dazu von einem solchen General! Späterhin
erfuhren sie auch seinen Familiennamen und wer er war, doch wurden
vorher unendlich viele Mutmaßungen über ihn geäußert. Unser Major, der
eingeschnürt, in orangegelbem Uniformkragen, mit roten Augen und
himbeerfarbenem, finnigem Gesicht wie ein Pfosten dastand, schien auf
den General keinen besonders angenehmen Eindruck zu machen. Aus
besonderer Ehrerbietung vor dem hohen Besuch trug er keine Brille. Er
stand etwas abseits, stand wie auf Draht gezogen, und schien mit seiner
ganzen Seele fieberhaft nur den einen Augenblick zu erwarten, in dem er
sich nützlich machen könnte, um dann den Wunsch Seiner Exzellenz in
einer Sekunde zu erfüllen. Leider aber kam man ohne ihn aus. Schweigend
schritt der General durch die Kasernen, warf auch einen Blick in die
Küche, und kostete sogar, wenn ich nicht irre, die Kohlsuppe. Da machte
man ihn auf mich aufmerksam: so und so, ein ehemaliger Adliger.

„Ah! Und wie führt er sich jetzt?“ erkundigte sich der General.

„Bisher befriedigend, Ew. Exzellenz,“ war die Antwort.

Der General nickte mit dem Kopfe, und nach zwei Minuten verließ er den
Ostrogg. Die Sträflinge waren natürlich völlig geblendet und verblüfft,
gleichzeitig aber doch auch nicht wenig enttäuscht: von einem „Ansprüche
zu erheben“, wie sie sagten, konnte selbstverständlich nicht die Rede
sein, was der Major auch schon im voraus gewußt zu haben schien.


                                  VI.

                       Die Tiere unseres Ostrogg

Der Ankauf eines braunen Pferdes, das bei uns nach seiner Farbe nur
Gnjedko genannt wurde, beschäftigte und zerstreute die Sträflinge in
weit angenehmerer Weise als der hohe Besuch. Im Ostrogg wurde beständig
ein Pferd zum Wasserführen, zur Abfuhr des Unrats und zu verschiedenen
anderen Zwecken gehalten. Zur Wartung des Pferdes wurde ein Sträfling
bestimmt, der mit ihm fuhr und dies und jenes zu fahren hatte, natürlich
immer unter Eskorte – es gab genug Arbeit für beide. Unser Brauner hatte
schon sehr lange im Ostrogg gedient, war sonst ein gutes Tier, nur mit
den Jahren etwas alt und steif geworden. Und eines Morgens kurz vor dem
St. Petritage fiel unser Brauner, nachdem er kaum mit dem Wasservorrat
für den Abendbedarf angekommen war, vor seinem Wagen um und verschied
nach wenigen Minuten. Man beklagte ihn aufrichtig, alles versammelte
sich im Kreise um ihn, sprach hin und her, stritt sogar. Unsere
ehemaligen Kavalleristen, Zigeuner und sogenannten „Tierärzte“ legten
bei der Gelegenheit viel Kenntnisse in der Pferdebranche an den Tag, ja
sie schimpften sich sogar untereinander, doch der Braune machte deswegen
nicht Miene, von den Toten aufzuerstehen. Er war und blieb tot, lag auf
dem Sande mit geblähtem Leibe, auf den ein jeder mit dem Finger zu
tippen offenbar für seine Pflicht hielt. Dem Major wurde der
eingetroffene Beschluß Gottes gemeldet und er befahl sofort, daß ein
neues Pferd gekauft werde. Am St. Peterstage kamen bald nach dem
Frühgottesdienst, als im Ostrogg alle vollzählig versammelt waren, die
Händler mit ihren Pferden an, um sie anzubieten. Es versteht sich von
selbst, daß die Wahl den Sträflingen überlassen werden mußte. Bei uns
gab es gute Pferdekenner und so wäre es wohl schwer gewesen,
zweihundertundfünfzig Menschen, von denen sich die meisten viel mit
Pferden beschäftigt hatten, über das Ohr zu hauen. Da kamen nun
Pferdehändler, Kirgisen, Zigeuner, Bauern. Die Sträflinge erwarteten mit
Ungeduld das Erscheinen jedes neuen Pferdes. Sie waren lustig und guter
Dinge, wie Kinder, die sich über etwas freuen. Am meisten behagte ihnen,
daß sie, sie selbst, ganz als wären sie freie Herren, als kauften sie es
für _ihr_ Geld und _für sich_, nun das volle Recht hatten, das Pferd
nach _eigenem_ Gutdünken zu kaufen. Drei Pferde wurden hereingeführt und
wieder hinausgeführt, bis der Kauf schließlich beim vierten zustande
kam. Die eintretenden Pferdeverkäufer schauten sich bald mit einer
gewissen Verwunderung, aus der zuerst ein gelinder Schreck
hervorblitzte, und mit einer gewissen kleinlauten Schüchternheit um –
namentlich immer wieder nach den Wachen, die sie hereingeführt hatten.
Die zweihundertköpfige Schar einer solchen Räuberbande, jeder einzelne
mit zur Hälfte abrasiertem Schädel und die meisten mit gebrandmarktem
Gesicht, in Ketten eingeschmiedet, die bei jeder Bewegung klirren, dazu
noch bei sich zu Hause, in der eigenen Räuberhöhle, über deren Schwelle
kein Fremder treten durfte, – die erweckte in ihnen unwillkürlich einen
Respekt besonderer Art. Die Sträflinge aber überboten sich gegenseitig
in der Prüfung jedes vorgeführten Pferdes. Wohin schauten sie ihm nicht,
was befühlten sie nicht alles an ihm, und dabei taten sie es noch mit so
sachlichen, ernsten und besorgt interessierten Mienen, als wenn von
diesem Kauf das Wohlergehen des ganzen Ostrogg abhing. Die Tscherkessen
schwangen sich sogar auf jedes Pferd hinauf und saßen eine Weile
rittlings auf dem Tiere: ihre Augen blitzten und sie schwatzten lebhaft
in ihrer unverständlichen Sprache, wobei ihre weißen Zähne glänzten und
sie mit ihren braunen Köpfen und den Hakennasen nickten. Manch einer von
den Russen verfolgte ihr Gespräch mit einer Aufmerksamkeit, als wolle er
ihnen in die Augen springen. Da er die Worte nicht verstand, so wollte
er wenigstens am Ausdruck ihrer Augen erraten, was ihre Meinung war, ob
das Pferd etwas taugte oder nicht. Einem unbeteiligten Beobachter würde
eine so krampfhafte Neugier geradezu unbegreiflich erscheinen. Was ging
denn das schließlich diesen Sträfling an, sollte man meinen, nicht
selten sogar einen Sträfling, der vor einem anderen keinen Ton zu sagen
wagte, stets verschüchtert, still, gleichsam „verprügelt“ war. Ganz als
hätte er das Pferd für sich gekauft, als wäre es ihm tatsächlich nicht
gleichgültig gewesen, welches Pferd nun gekauft werden würde. Außer den
Tscherkessen zeichneten sich vor allen anderen die Zigeuner und
ehemaligen Pferdehändler durch ihre Kenntnisse aus: ihnen wurde auch das
erste Wort überlassen. Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einer Art
von Zweikampf zwischen zwei „Kennern“: zwischen dem Sträfling Kulikoff,
der von Geburt halbwegs Zigeuner und in seinem Leben Pferdedieb und
-verkäufer gewesen war, und dem „Tierarzt“ Jolkin, einem schlauen
sibirischen Bauern, der erst seit kurzem im Ostrogg war, dennoch aber
dem Kulikoff die ganze Kundschaft in der Stadt abspenstig gemacht hatte.
Unsere „Tierärzte“ wurden nämlich in der ganzen Stadt sehr hochgeschätzt
und es wandten sich nicht nur Bauern und Kaufleute, sondern sogar die
höchsten Würdenträger an sie, sobald ihre Pferde erkrankten, obschon es
auch Veterinäre in der Stadt gab. Kulikoff hatte bis zur Ankunft Jolkins
keinen Konkurrenten gehabt, sich einer großen Praxis erfreut und viel
klingenden Dank erhalten. Er verstand es nach Zigeunerart vorzüglich,
die Leute zu beschwindeln und sie glauben zu machen, daß er viel mehr
wisse, als es in der Tat der Fall war. Dank seiner guten Einnahmen war
er ein Aristokrat unter uns Sträflingen, und schon lange war es ihm
gelungen, durch seine Gewandtheit und Klugheit, seine Kühnheit und
Entschlossenheit unwillkürlich die Achtung aller Ostroggbewohner zu
erwerben. Jedenfalls hörte man bei uns auf ihn und gehorchte ihm sogar.
Er sprach aber nur wenig: jedes seiner Worte war wie gesagt ein
Geschenk, das er nur in den wichtigsten Fällen gab. Sonst war er ein
ausgesprochener Geck, doch besaß er nicht wenig echte, unverfälschte
Energie, und war zwar nicht mehr jung, dafür aber sehr hübsch und sehr
klug. Mit uns Adligen verkehrte er auffallend höflich, mit einer
Höflichkeit, die sogar eine gewisse Schulung besaß, und dabei doch mit
ungewöhnlicher Wahrung der eigenen Würde. Ich glaube sogar, hätte man
ihn elegant angekleidet und unter dem Namen irgend eines Grafen in einen
vornehmen Residenzklub eingeführt, so würde er sich auch hier
zurechtgefunden haben, er hätte eine Partie Whist gespielt, hätte sich
vorzüglich unterhalten, nicht viel, aber ernst und durchdacht
gesprochen, was jedem seiner Worte ein gewisses Gewicht verlieh, und
wahrscheinlich würde man während des ganzen Abends nicht erraten haben,
daß er kein Graf, sondern ein Landstreicher war. Ich sage das in vollem
Ernst: so klug, so scharfsinnig und gewandt war er in seinen
Kombinationen. Zudem hatte er vorzügliche, wirklich tadellose Manieren.
Offenbar hatte er viel in seinem Leben gesehen. Übrigens war seine
Vergangenheit allen unbekannt; bei uns gehörte er zur besonderen
Abteilung. Mit der Ankunft Jolkins aber, der zwar nur ein Bauer, dafür
aber der schlaueste in seiner Art war, ein Altgläubiger von etwa fünfzig
Jahren, ging es mit dem Ruhm Kulikoffs als Tierarzt merklich zurück und
bald war er fast gänzlich in den Schatten gestellt: in kaum zwei Monaten
hatte ihm Jolkin seine ganze Praxis in der Stadt abspenstig gemacht. Er
heilte und sogar mit Leichtigkeit selbst solche Pferde, die Kulikoff
schon vor langer Zeit als unheilbar aufgegeben hatte, ja sogar solche,
die von den städtischen Tierärzten, den studierten, als unrettbar
verloren hingestellt waren. Dieser Bauer war zusammen mit anderen wegen
Falschmünzerei in den Ostrogg gekommen. Weiß Gott, was ihn geplagt
hatte, sich in seinen alten Tagen noch auf so etwas einzulassen! Einmal
erzählte er uns lachend, wie bei ihnen aus drei echten Goldmünzen nur
eine einzige falsche entstanden sei, – ein etwas unvorteilhaftes
Ergebnis ihrer Experimente. Kulikoff nun fühlte sich nicht wenig
gekränkt durch die Erfolge des anderen, namentlich da sein Ruhm auch
unter den Sträflingen merklich zurückging. Er unterhielt eine Geliebte
in der Vorstadt, ging in einer faltigen Bluse, trug einen silbernen
Fingerring und einen Ohrring, sowie eigene Stiefel mit farbiger
Einfassung, und nun mußte er wegen mangelnder Einkünfte
Branntweinhändler im Ostrogg werden. So erwarteten denn alle, daß es
jetzt bei Gelegenheit des Pferdekaufes zwischen den beiden Feinden noch
zu einer Schlägerei kommen würde. Man beobachtete sie neugierig: ein
jeder von ihnen hatte seine Partei und die Führer derselben waren schon
aufgeregt und begannen bereits, die ersten Schimpfwörter zu wechseln.
Jolkin selbst hatte sein schlaues Gesicht zum sarkastischen Lächeln
verzogen. Doch siehe, es kam anders: Kulikoff fiel es nicht ein, zu
schimpfen, er rächte sich auch ohne Geschimpf meisterhaft. Er begann mit
ruhigem, fast respektvollem Anhören der kritischen Meinungsäußerungen
seines Gegners, bis er ihn plötzlich auf einer einzigen falschen
Bemerkung ertappte und ihn sofort in höflichem, aber bestimmtem Tone
darauf aufmerksam machte, daß er sich irre, und noch bevor Jolkin sich
besinnen und seine Worte zurücknehmen konnte, erklärte er ruhig, daß der
Irrtum gerade in dem und dem bestände. Kurz, Jolkin war höchst
unerwartet und sehr geschickt in allen Punkten geschlagen, und wenn er
auch schließlich immer noch der bessere Kenner blieb, so war doch auch
die Partei Kulikoffs durchaus befriedigt.

„Nein, Kinder, den schlägt man nicht so leicht, der steht seinen Mann!
Den wirft man nicht um!“ meinten die einen.

„Jolkin weiß aber mehr!“ meinten die anderen, doch waren sie plötzlich
ganz friedlich gesinnt. Überhaupt redeten beide Parteien mit einem Mal
in sehr nachgiebigem Tone.

„Nicht daß er gerade mehr weiß, er hat nur eine glücklichere Hand. In
der Viehbehandlung aber, da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu
verlieren!“

„Nein, da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu verlieren!“

„Ja, das ist wahr: da braucht auch Kulikoff nicht den Mut zu verlieren!
...“

Endlich hatte man sich für ein neues Pferd entschieden. Es war ein
junges, hübsches, kräftiges Tier von brauner Farbe mit einem lieben,
lustigen Gesichtsausdruck, wenn man so sagen darf. Selbstverständlich
war es in jeder Beziehung tadellos. Nachdem alles festgestellt war,
begann man zu handeln: man forderte dreißig Rubel, die Sträflinge boten
fünfundzwanzig. Man redete lange hin und her, man legte zu, und man ließ
ab, bis ihnen das Handeln selbst lächerlich wurde.

„Wirst du denn aus deinem Beutel bezahlen?“ fragten die einen, „wozu
handelst du dann?“

„Sollen wir denn noch den Vorgesetzten zu sparen helfen?“ schrien
andere.

„Aber, Brüder, es ist doch immer sozusagen für uns verausgabtes Geld
...“

„Für uns! Da sieht man, Freund, daß die Dummheit nicht gesät wird,
sondern von selber auf die Welt kommt ...“

Schließlich wurde das Pferd für achtundzwanzig Rubel gekauft, der Major
wurde benachrichtigt und das Geld ausgezahlt. Natürlich brachte man
sogleich Salz und Brot und der neue Braune hielt nach allen Ehrungen
seinen Einzug in den Ostrogg. Ich glaube, es gab keinen einzigen
Sträfling, der ihm bei dieser Gelegenheit nicht den Hals geklopft oder
das Maul gestreichelt hätte. Noch am selben Tage wurde der Braune
angeschirrt, um das Wasser herbeizuschleppen, und alles wartete und sah
interessiert zu, wie der neue Braune seine Tonne ziehen würde. Unser
Wasserführer Roman betrachtete sein neues Pferd mit ungemein behaglicher
Zufriedenheit. Er war ein gesetzter Mann von fünfzig Jahren, schweigsam
und von rechtschaffenem Charakter. Überhaupt sind alle russischen
Kutscher sehr gesetzt und schweigsam, als ob es tatsächlich wahr wäre,
daß der beständige Umgang mit Pferden dem Menschen eine gewisse Ruhe und
sogar Vornehmheit verleihe.

Unser Roman war still, freundlich gegen jedermann, schnupfte Tabak und
war schon seit undenklichen Zeiten zum „Pferdedienst“ bestimmt. Der
neugekaufte Braune war bereits das dritte Pferd, und bei uns waren alle
der Meinung, daß die braune Farbe gut zum Ostrogg passe, was auch von
Roman bestätigt wurde. Ein scheckiges Pferd zum Beispiel hätte man unter
keinen Umständen gekauft. Das Wasserführen blieb ewig Roman zugewiesen,
ganz als hätte er darauf ein Recht gehabt, das kein einziger von uns ihm
streitig zu machen gedachte. Als der alte Gnjedko verschied, fiel es
nicht einmal dem Major ein, Roman einen Vorwurf zu machen, ihm eine
Schuld daran beizumessen: das war Gottes Wille und weiter nichts, Roman
aber war ein guter Kutscher. Der neue Gnjedko war bald der Liebling des
ganzen Ostrogg. Die Sträflinge sind sonst ein rüdes Volk, doch zum
Pferde traten sie sehr oft, um es zu streicheln und ihm den Hals zu
klopfen. Zuweilen wenn Roman nach der Rückkehr vom Fluß das Tor schloß,
das ihm vom Unteroffizier aufgemacht wurde, stand Gnjedko solange mit
seiner Wassertonne, wartete auf ihn und sah ihn von der Seite an.

„Geh allein!“ rief ihm dann Roman bisweilen zu – und Gnjedko zog seine
Tonne sofort weiter, zog sie bis zur Küche und blieb dort stehen, um die
„Köchinnen“ und die Sträflinge, die in die Kasernen das Wasser zu tragen
hatten – zu erwarten.

„Bravo, Gnjedko!“ rief man ihm zu, „bist ganz allein gekommen! ...
Verstehst zu gehorchen!“

„Ja, es ist schon wahr, das muß man sagen: ist doch nur ein Vieh,
versteht aber, was man spricht!“

„Das hast du brav gemacht, Gnjedko!“

Und Gnjedko nickt mit dem Kopf und schnauft, ganz als begreife er
wirklich, was man sagt, und als freue er sich über das Lob. Dann bringt
ihm unfehlbar jemand ein Stück Brot mit Salz aus der Küche: Gnjedko
frißt es auf und nickt wieder mit dem Kopfe, als wolle er sagen: „Ich
kenne dich, jawohl, und ich bin ein liebes Pferdchen und du bist ein
guter Mensch!“

Auch ich gab gern unserem Gnjedko ein Stück Brot: es war so angenehm,
seine hübsche Schnauze zu betrachten und seine weichen, warmen Lippen
auf der Handfläche zu fühlen, die geschäftig die Gabe aufsammelten.

Im allgemeinen kann man sagen, daß unsere Sträflinge Tiere sehr gern
hatten, und wenn es nur erlaubt gewesen wäre, so hätten sie sicherlich
eine ganze Menagerie im Ostrogg gegründet, und alle Haustiere und alle
Geflügelsorten eingeführt. Und was könnte wohl den rohen Charakter der
Arrestanten leichter erweichen und veredeln, als ein solcher Umgang mit
Tieren? Doch es war nicht gestattet, Tiere im Ostrogg zu halten: weder
unsere Gefängnisordnung noch der Raum hätten es erlaubt.

Dennoch gab es während meiner ganzen Strafzeit beständig einige Tiere im
Ostrogg: außer dem Braunen waren bei uns noch Hunde, Gänse, der
Ziegenbock Wasjka und eine Zeitlang sogar ein Adler.

Als Ostrogghund lebte bei uns, wie ich schon gesagt habe, Scharik, ein
kluges und gutes Tier, mit dem ich sehr befreundet war. Da aber Hunde im
Volk immer für unreine Tiere gehalten werden, die man überhaupt nicht
beachten sollte, so schenkte bei uns auch dem Scharik fast niemand
irgend welche Aufmerksamkeit. Der Hund schlief auf dem Ostrogghof, lebte
von den Brocken, die man ihm aus der Küche zuwarf, vermochte aber
keinerlei Interesse für sich zu erwecken, obwohl er jeden einzelnen
„persönlich“ kannte und für seinen Herrn hielt. Wenn die Sträflinge von
der Arbeit zurückkehrten, so lief Scharik schon auf den ersten Ruf der
Wache nach dem Gefreiten zum Tor, empfing freudig jeden Trupp, wedelte
mit der Rute, blickte einem jeden erwartungsvoll und freundlich in die
Augen, als erwarte er eine, wenn auch noch so flüchtige Liebkosung. Doch
im Verlauf von mehreren Jahren hatte er noch von keinem einzigen auch
nur die geringste Freundlichkeit erfahren, ausgenommen von mir. Dafür
aber liebte er mich auch am meisten von allen. Ich entsinne mich nicht
mehr, durch welchen Zufall später noch ein anderer Hund in unseren
Ostrogg kam, Bjelka, den dritten aber, Kuljtjäpka, den hatte ich selbst
einmal von der Arbeit noch als kleines Tierchen mitgebracht.

Bjelka war ein seltsames Geschöpf: es hatte ihn einmal jemand überfahren
und daher war sein Rücken in der Mitte eingeknickt, so daß er beim
Laufen, von weitem gesehen, wie zwei Tiere aussah; was für welche das
sein mochten, das ließ sich nicht bestimmen, jedenfalls aber wie zwei
sehr seltsame, weiße, die absonderlich zusammengewachsen sein mußten.
Außerdem war er noch grindig und hatte eiternde Augen, die Rute war fast
ganz unbehaart und beständig eingekniffen. Vom Schicksal mißhandelt,
schien sich das Tier entschlossen zu haben, sich in alles zu ergeben:
niemals bellte es einen an, niemals knurrte es, als hätte es keinen Laut
von sich zu geben gewagt. Bjelka lebte im Gegensatz zu Scharik, der
überall umherlief, fast nur hinter den Kasernen, und erblickte er einen
von uns, so warf er sich, noch bevor man an ihn heran getreten war, zum
Zeichen seiner Ergebenheit und friedlichen Gesinnung auf den Rücken, als
wollte er damit sagen: „Mach mit mir, was du willst, ich aber, wie du
siehst, denke nicht daran, mich zu verteidigen.“ Und fast jeder
Sträfling, vor dem er sich auf den Rücken wälzte, schien es für seine
Pflicht zu halten, ihn mit den Stiefeln zu stoßen.

„So ’ne Mißgeburt!“ sagten sie dazu. Bjelka aber wagte nicht einmal zu
winseln, und nur wenn der Fußtritt gar zu schmerzhaft war, quiente er
mit festem Maul, gleichsam nur innerlich. Ebenso wälzte er sich auch vor
Scharik auf dem Rücken und vor jedem anderen Hunde, wenn er einmal aus
dem Ostrogg hinauslief. Zuweilen sah ich, wie er sich plötzlich auf den
Rücken wälzte und ruhig und ergeben in dieser Stellung verharrte; dann
erblickte man im nächsten Augenblick unfehlbar einen großen Köter, der
auf ihn zugerannt kam, mit langen, schlotternden Ohren, mit Gebell und
Geheul. Doch Hunde lieben bei ihresgleichen Ergebenheit und friedliche
Gesinnung. Der wütende Köter ist sogleich besänftigt, bleibt in einer
gewissen Nachdenklichkeit vor dem auf dem Rücken liegenden Hunde stehen,
bis er dann mit Interesse das ganze Tier beschnuppert. Was mochte wohl
in solchen Augenblicken der zitternde unglückliche Hund denken?
Wahrscheinlich: „Wenn er aber jetzt zubeißt, der Räuber?“ Der große
Köter jedoch verläßt ihn nach aufmerksamer Beschnupperung, da er nichts
Fesselndes an ihm entdeckt zu haben scheint. Bjelka aber dreht sich
wieder um und läuft hinkend einem langen Hundezuge nach, der irgend
einem kleinen Schoßhündchen folgt. Und wenn er auch genau weiß, daß ein
Schoßhündchen niemals mit ihm Freundschaft schließen wird, so ist ihm
doch schon das bloße Mitlaufen ein – Glück in seinem Unglück. An Ehre
und Ehrgeiz hatte er offenbar seit lange aufgehört zu denken. Da ihm
jede Aussicht auf Karriere genommen war, lebte er nur noch, um sein
Dasein zu fristen, wessen er sich auch selbst vollkommen bewußt war. Ich
versuchte einmal, ihn zu streicheln: das war für ihn so neu und
unerwartet, daß er sich plötzlich platt an die Erde drückte, am ganzen
Leibe erzitterte und vor Rührung laut zu heulen begann. Aus Mitleid trat
ich öfter zu ihm, um ihn etwas zu liebkosen. Dafür konnte er mich bald
nicht mehr anders als mit lautem Winseln begrüßen: erblickte er mich
auch nur von weitem, so hub doch schon unfehlbar das weinerliche
krankhafte Winseln an. Eines Tages wurde er auf dem Festungswall von
anderen Hunden zerrissen.

Einen ganz anderen Charakter hatte dagegen Kuljtjäpka. Weshalb ich ihn
eigentlich aus der Werkstätte als noch blinden Nestling mitgenommen
hatte, vermag ich jetzt selbst nicht zu sagen. Es war mir eine angenehme
Zerstreuung, ihn zu füttern, großzuziehen und aufwachsen zu sehen.
Scharik nahm ihn sogleich unter seine Protektion und schlief mit ihm
zusammen. Als Kuljtjäpka größer wurde, erlaubte er ihm, seine Ohren zu
beißen, ihn am Fell zu zerren, und überhaupt mit ihm zu spielen, wie
gewöhnlich alle größeren Hunde mit den jungen zu spielen pflegen.
Sonderbar war nur, daß Kuljtjäpka so gut wie gar nicht in die Höhe
wuchs, sondern nur in die Länge und Breite. Sein Fell war zottig und von
einer unbestimmten hell mausgrauen Farbe; das eine Ohr wuchs nach
unten, das andere nach oben. Von Charakter war er heftig und
begeisterungsfähig, wie schließlich jeder junge Hund, der in der Freude,
den Herrn wiederzusehen, kläfft und quient und winselt, ihm womöglich
das Gesicht lecken will und auch alle seine anderen Gefühle nicht mehr
zurückzuhalten vermag: „wenn du nur meine Begeisterung siehst, Anstand
hat dann nichts mehr zu bedeuten!“ Rief ich: „Kuljtjäpka!“ so kam er,
gleichviel wo er war, plötzlich im Galopp um irgend eine Ecke gelaufen,
wie aus der Erde hervorgezaubert, und stürzte in heller Begeisterung wie
ein geworfener Ball mir entgegen, und nicht selten überpurzelte er sich
unterwegs. Ich hatte diese kleine Mißgeburt unsäglich lieb. Wie es
schien, hatte das Schicksal nichts als Zufriedenheit und Freude für sein
ferneres Leben vorgesehen. Es sollte aber anders kommen: Eines Tages
schenkte ihm der Arrestant Neustrojeff, der sich mit der Anfertigung von
Frauenschuhen und dem Gerben von Fellen beschäftigte, ganz besondere
Aufmerksamkeit. Ihm schien plötzlich etwas an dem Hunde aufzufallen; er
lockte ihn zu sich heran, befühlte sein Fell und rollte ihn hin und her
auf dem Rücken, wozu der ahnungslose Kuljtjäpka vor Vergnügen mit den
Vorderpfoten spielte. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Lange
suchte ich ihn, doch vergeblich. Erst nach zwei Wochen erfuhr ich, wo er
geblieben war: Kuljtjäpkas Fell hatte dem Sträfling Neustrojeff gar zu
sehr gefallen. Er hatte ihm dasselbe abgezogen und daraus
Winterhalbstiefel angefertigt, und mit Sammet überzogen, wie sie die
Frau des Auditeurs bei ihm bestellt hatte. Er zeigte sie mir, als sie
fertig waren. Das Fell sah allerdings vorzüglich aus. Armer Kuljtjäpka!

Es gab bei uns viele Sträflinge, die sich mit der Bearbeitung von Fellen
beschäftigten. Sie brachten nicht selten schöne Hunde mit, die aber
schon nach wenigen Minuten wieder verschwanden. Diese Hunde wurden von
ihnen entweder gestohlen oder gekauft. Einmal erblickte ich hinter der
Küchenkaserne zwei Sträflinge, die sich über irgend etwas zu beraten
schienen. Der eine hielt einen prächtigen, großen schwarzen Hund, von
sicherlich guter und teurer Rasse, an einem Strick. Ein treuloser Diener
hatte ihn heimlich unseren Schuhmachern für dreißig Kopeken in Silber
verkauft. Die Sträflinge beabsichtigten, ihn zu erhängen, was ja weiter
nicht schwierig war. Nachher sollte ihm das Fell abgezogen und der
Kadaver in die große tiefe Ausgußgrube, die im entferntesten Winkel des
Ostrogg lag und im Sommer, namentlich an heißen Tagen, entsetzlich
stank, geworfen werden. Selten nur wurde die Grube gereinigt. Der arme
Hund schien zu ahnen, was ihm bevorstand: forschend und unruhig blickte
er von dem einen zum anderen und nur hin und wieder wagte er, mit seiner
buschigen Rute ein wenig zu wedeln, ganz als wolle er uns durch dieses
Zeichen seines Zutrauens zu uns gütiger für ihn stimmen. Ich entfernte
mich schnell, sie aber verrichteten natürlich, was sie vorhatten.

Auch die Gänse hatten sich ganz zufällig bei uns angesiedelt. Wer sie
zuerst gebracht hatte und wem sie gehörten – das weiß ich nicht, eine
Zeitlang aber erfreuten sie sich großer Beliebtheit bei den Sträflingen
und waren sogar in der Stadt bekannt. Sie waren im Ostrogg selbst
ausgebrütet worden und in der Küche großgezogen. Als die junge Brut
herangewachsen war, gewöhnte sie es sich an, zusammen mit den
Sträflingen zur Arbeit auszuziehen. Kaum ertönte der Trommelwirbel, kaum
begab sich der ganze Arrestantentrupp zum Tor, da kamen auch schon
unsere Gänse mit großem Geschrei herbeigelaufen, mit hängenden Flügeln
und vorgestrecktem Halse, und eine nach der anderen hopste über die hohe
Schwelle der Pforte und begab sich unbedingt zur rechten Flanke des
Trupps, wo sie sich dann gleichfalls aufstellten, in der Erwartung der
allgemeinen Arbeitsverteilung. Jedesmal schlossen sie sich dem größten
Trupp an und während der Arbeitszeit weideten sie dann irgendwo in der
Nähe. Und kaum schickte der Trupp sich an, zur Heimkehr aufzubrechen, da
kamen auch schon die Gänse in langer Reihe angewackelt. In der Stadt
sprach man allgemein davon, daß die Gänse mit den Sträflingen zur Arbeit
gingen.

„Seht doch, da gehen die Arrestanten mit ihren Gänsen!“ sagten zuweilen
die uns unterwegs Begegnenden. „Wie habt ihr ihnen das nur beigebracht?“

„Da habt ihr etwas für eure Gänse,“ fügte ein anderer hinzu und reicht
uns ein Almosen. Doch ungeachtet ihrer ganzen Anhänglichkeit, wurden sie
zu einem Fleischtage nach der Fastenzeit sämtlich niedergemacht.

Unseren Ziegenbock Wasjka dagegen würde man um keinen Preis geschlachtet
haben, wenn er nicht ein besonderes Pech gehabt hätte. Auch von dem Bock
weiß ich nicht, wie und durch wen er in den Ostrogg gekommen war: eines
Tages aber befand sich ein kleines, weißes, allerliebstes Böcklein bei
uns. Diesen Wasjka gewannen im Augenblick alle lieb und bald war er
unsere liebste Zerstreuung und sogar aufrichtigste Freude. Man fand
natürlich sofort auch einen Grund, ihn im Ostrogg zu halten: hatte man
einen Pferdestall, so gehörte doch auch ein Bock dazu. Indessen lebte er
nicht im Pferdestall, sondern zuerst in der Küche und späterhin im
ganzen Ostrogg. Er war ein überaus graziöses, mutwilliges und lustiges
Geschöpf. Er kam sofort zu einem gelaufen, wenn man ihn rief, war immer
munter und spaßig, sprang auf Bänke, Tische, und als er Hörner bekam,
spielten die Arrestanten mit ihm „boxen“. Einmal, als seine Hörnchen
schon sichtbar waren, fiel es dem Lesghier Babai ein, während er wie
gewöhnlich abends mit anderen auf der Treppenstufe saß, mit Wasjka zu
spielen. Sie boxten schon ziemlich lange – der Lesghier gleichfalls mit
der Stirn, was für ihn ein angenehmer Zeitvertreib war –, als plötzlich
unser Wasjka auf die oberste Treppenstufe sprang und, kaum daß Babai
fortsah, sich auf seine Hinterbeinchen erhob, die Vorderhufchen an sich
preßte und mit aller Kraft Babai in den Nacken stieß, so daß dieser
kopfüber von der Treppe herabflog, zur unbändigen Heiterkeit aller
Anwesenden und vor allem Babais selbst. Kurz, unser Wasjka wurde von
allen geliebt. Als er heranwuchs, wurde an ihm nach langer, ernster
Beratung eine gewisse Operation vorgenommen, die unsere „Tierärzte“
vorzüglich auszuführen verstanden. „Sonst würde er nach Bock riechen,“
sagten sie. Hierauf wurde aber Wasjka entsetzlich dick. Allerdings wurde
er auch gefüttert, als wäre er zur Mast bestimmt. Mit der Zeit wurde er
ein prächtiger, großer Bock mit langen Hörnern und von unbeschreiblicher
Dicke. Zuweilen fiel er beim Gehen um. Bald hatte er es sich gleichfalls
angewöhnt, mit den Sträflingen zur Arbeit zu gehen, zu deren und aller
Begegnenden Belustigung. Alle kannten den Ostroggbock Wasjka. Oft, wenn
die Sträflinge am Flußufer zu arbeiten hatten, rissen sie die
geschmeidigen Äste der Wasserweide ab, suchten Laub dazu und Blumen auf
dem Wall, und schmückten damit ihren Wasjka: die Hörner wurden mit den
Weidenruten umflochten, mit Blumen geschmückt und der ganze Leib mit
Girlanden umwunden. Kehrte dann der geschmückte Wasjka wie gewöhnlich an
der Spitze des Trupps in den Ostrogg zurück, so marschierten sie ihm
frohgemut nach und schienen vor jedem Vorübergehenden geradezu stolz zu
sein. Ihre Liebe zu diesem Bock ging schließlich so weit, daß sie wie
kleine Kinder auf die Idee kamen, Wasjkas Hörner zu vergolden! Doch
sprachen sie nur davon, ohne den tollen Einfall auszuführen. Übrigens
fragte ich, wie ich mich noch entsinne, bei der Gelegenheit Akim
Akimytsch, unseren besten Vergolder nach Issai Fomitsch, ob es
tatsächlich möglich wäre, dem Bock die Hörner zu vergolden. Er blickte
zuerst aufmerksam den Bock an, überlegte ernstlich und antwortete dann,
daß man es schließlich könne, „aber es wird nicht lange vorhalten, und
zudem wäre es doch ganz unnütz.“ Und dabei blieb es. Wasjka aber hätte
noch lange gelebt und wäre vielleicht nur an Asthma gestorben, wenn das
Schicksal es nicht anders gewollt hätte: als er eines Tages wieder an
der Spitze der Sträflinge in den Ostrogg zurückkehrte, erblickte ihn
plötzlich der Major, der in seinem Wagen gerade dahergefahren kam.

„Halt!“ schrie er sofort. „Wem gehört der Bock?“

Man erklärte es ihm.

„Wie! Im Ostrogg ein Bock ohne meine Erlaubnis! – Unteroffizier!“

Der Unteroffizier erschien und ihm ward befohlen, den Bock sofort zu
schlachten – „sofort!“ – das Fell abzuziehen, auf dem Markt zu
verkaufen, den Erlös der Arrestantenkasse zu überweisen, und das Fleisch
zur Kohlsuppe zu geben. Im Ostrogg sprach man hin und her, beklagte den
armen Wasjka, wagte aber doch nicht, dem Befehl zuwider zu handeln, und
so wurde Wasjka am Rande unserer Ausgußgrube geschlachtet. Das ganze
Fleisch kaufte ein Sträfling ab und zahlte dafür einen Rubel und fünfzig
Kopeken in Silber. Für dieses Geld wurden Kalatschen gekauft, und der
Sträfling, der den Wasjka erstanden hatte, verkaufte das Fleisch
stückweis unter den Arrestanten zu Braten. Das Fleisch war wirklich
selten schmackhaft.

Auch lebte bei uns im Ostrogg eine Zeitlang ein Karagusch, ein
tatarischer Adler, von der mittelgroßen Art der Steppenadler. Jemand
hatte ihn verwundet und ermattet in den Ostrogg gebracht. Die ganze
Kátorga umstand ihn im Kreise: er konnte nicht fliegen, sein rechter
Flügel hing zur Erde und der eine Fuß war verrenkt. Ich weiß noch, wie
wütend er um sich blickte auf die neugierige Schar, wie er seinen
krummen Schnabel aufsperrte, bereit, sein Leben teuer zu verkaufen. Als
man sich aber an ihm sattgesehen hatte und auseinanderging, da humpelte
er fort, hinkend und fast nur auf dem einen Fuß und mit dem gesunden
Flügel schlagend, humpelte bis in den entferntesten Winkel des Ostrogg,
wo er sich in der Zaunecke an die Pfähle drückte. Hier lebte er ungefähr
drei Monate und in dieser ganzen Zeit verließ er nie seinen Platz.
Anfangs kamen die Sträflinge noch ziemlich oft zu ihm, um ihn zu sehen
und den Hund auf ihn zu hetzen. Scharik stürzte voll Eifer auf ihn los,
wagte aber doch nicht, ihm gar zu nah zu kommen, was die Zuschauer nicht
wenig belustigte. „So ein Tier!“ sagten sie kopfschüttelnd, „will sich
doch nicht ergeben!“ Mit der Zeit aber wurde Scharik mutiger und dann
kränkte er ihn tief: die Angst verging immer mehr und bald hatte er es
sehr geschickt heraus, wenn er von den Sträflingen gehetzt wurde, den
Vogel am kranken Flügel zu fassen. Der Adler verteidigte sich nach
Möglichkeit mit dem Schnabel, und blickte wild und stolz wie ein
verwundeter König, in der Zaunecke verschanzt, auf seine neugierigen
Beobachter. Schließlich wurde er ihnen langweilig: alle vergaßen ihn,
doch fand ich zu meiner Verwunderung täglich ein frisches Stück rohes
Fleisch und eine Scherbe von einer zerschlagenen Schüssel mit frischem
Wasser. So mußte denn doch jemand für ihn sorgen. Anfangs wollte er
überhaupt nicht fressen, mehrere Tage hungerte er, bis er dann doch
Vernunft annahm und zu fressen begann, aber niemals fraß er etwas aus
unserer Hand, oder wenn jemand in der Nähe war. Ich habe ihn oft aus der
Ferne beobachtet: glaubte er sich ganz allein und unbeobachtet, so
entschloß er sich zuweilen, seine Ecke zu verlassen und humpelte dann am
Zaun entlang, vielleicht zwölf Schritt weit aus seiner Ecke, worauf er
wieder umkehrte und dann von neuem dieselbe Strecke zurücklegte,
augenscheinlich um sich Bewegung zu machen. Erblickte er mich, so
humpelte und hopste er so schnell er nur konnte in die Ecke, warf den
Kopf zurück, sperrte den Schnabel halb auf und bereitete sich mit
gesträubten Federn zum Kampfe vor. Er ließ sich durch nichts
besänftigen, keine Freundlichkeit, kein Streicheln half: er hackte und
schlug, nahm von mir keinen einzigen Bissen Rindfleisch aus der Hand,
und wenn ich vor ihm stand, sah er mir nur mit seinem bösen,
durchdringenden Blick aufmerksam in die Augen. Einsam und unnahbar
erwartete er seinen Tod, mit niemand vertraut, mit niemand versöhnt. Da
erinnerten sich die Sträflinge ganz plötzlich seiner, während sie in den
letzten zwei Monaten ihn gänzlich vergessen hatten: und plötzlich
empfand man Mitleid mit ihm. Man sprach davon, daß man ihn aus dem
Ostrogg hinausbringen müsse.

„Mag er krepieren, aber nur nicht im Ostrogg,“ sagten sie.

„Ja, nur nicht hier, er ist ein freier Vogel, der wird sich nicht an den
Ostrogg gewöhnen!“ meinten einige beipflichtend.

„Er ist doch sozusagen anders als wir,“ fügte noch einer hinzu.

„Noch was! – er ist ein Vogel und wir sind doch immerhin Menschen.“

„Der Adler, Brüder, ist der König der Wälder ...“ begann Skuratoff, doch
wollte man ihm diesmal nicht zuhören.

Und nach dem Mittagessen, als die Trommel wieder zur Arbeit rief, nahm
man den Adler, indem man ihm den Schnabel mit der Hand zuhielt, da er
wie besessen um sich hackte, und trug ihn hinaus aus dem Ostrogg. Man
kam bis zum Wall. Einige zwölf Mann, die zu diesem Trupp gehörten,
wollten neugierig sehen, wohin der Adler sich entfernen würde, und
seltsam – alle befanden sich in einer gewissermaßen zufriedenen
Stimmung, ganz als sollten sie selbst in die Freiheit entlassen werden.

„Sieh doch einer das Hundevieh: ich tue ihm Gutes, er aber beißt mich!“
sagte der Arrestant, der den Adler hielt, während er das böse Tier fast
mit Liebe betrachtete.

„Laß ihn los, Mikitka!“

„Der kann, wie man sieht, nicht hinter Schloß und Riegel leben. Dem muß
man Freiheit geben, wahrhaftige freie Freiheit!“

Man warf den Adler vom Wall in die Steppe hinab. Es war im Spätherbst,
an einem kalten und trüben Tage. Der Wind pfiff über die kahle Steppe
und rauschte im gelben, dürren Steppengras, dessen Büschel sich
knisternd bogen. Der Adler entfernte sich geradeaus, humpelnd und
springend, und schlug mit dem gesunden Flügel, während der kranke
nachschleifte – es war, als beeile er sich, so schnell als möglich von
uns fortzukommen.

Die Blicke der Sträflinge folgten ihm neugierig, solange sein Kopf noch
über dem Grase zu sehen war.

„Sieh mal an!“ sagte einer von ihnen gedankenvoll vor sich hin.

„Und sieht sich nicht einmal um!“ sagt ein anderer. „Kein einziges Mal,
Brüder, hat er sich umgesehen, er läuft nur!“

„Glaubtest du denn, daß er noch zurückkommen würde, um sich zu
bedanken?“ fragt ein dritter.

„Das ist so eine Sache mit der Freiheit: der hat sie jetzt gerochen.“

„Ja, das Freisein, wie man sagt.“

„Den werden wir nicht wiedersehen, Brüder ...“

„Was steht ihr da! Marsch, vorwärts!“ schrie in diesem Augenblick ein
Aufseher und trieb die Plaudernden fort.


                                  VII.

                               Der Streik

Vor dem Beginn dieses Kapitels hält es der Herausgeber der
Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Petrowitsch Goräntschikoff für
seine Pflicht, den Lesern folgende Mitteilung zu machen.

Im ersten Kapitel der „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“ ist unter
anderem auch von einem Vatermörder, einem der vier russischen Adligen,
die Rede. Der Verfasser stellt ihn als Beispiel dafür hin, mit welchem
Gleichmut die Sträflinge zuweilen von ihren Mordtaten erzählen konnten.
Es heißt dort ferner, daß dieser Vatermörder seine Schuld nicht
gestanden habe, daß aber nach den Erzählungen einiger Sträflinge aus
seiner Stadt, die alle Einzelheiten des Falles kannten, die Tatsachen
dermaßen überzeugend gewesen waren, daß man unmöglich an seiner
Täterschaft habe zweifeln können. Dieselben Leute hatten dem Verfasser
der „Aufzeichnungen“ erzählt, daß der Mörder ein zügelloses Leben
geführt, Schulden gemacht und seinen Vater nur um der Erbschaft willen
ermordet habe. Übrigens erzählte die ganze Stadt, in der er früher
gelebt hatte, die Geschichte seines Verbrechens durchaus
übereinstimmend, wovon der Verfasser aus zuverlässiger Quelle
unterrichtet ist. In jenem Kapitel der Aufzeichnungen ist noch gesagt,
daß der Mörder im Ostrogg sich beständig in der besten und heitersten
Gemütsstimmung befunden habe: daß er ein unvernünftiger, leichtsinniger,
verdrehter, aber durchaus kein dummer Mensch gewesen sei, und daß der
Verfasser niemals eine besondere Grausamkeit an ihm habe wahrnehmen
können. Zum Schluß jedoch sind noch die Worte hinzugefügt: „Zuerst
glaubte ich es nämlich nicht, daß er ihn ermordet habe.“

Nun hat der Herausgeber dieser „Aufzeichnungen“: „Aus einem Totenhause“
vor kurzem die Nachricht aus Sibirien erhalten, daß der junge Sträfling
tatsächlich unschuldig gewesen sei und zehn Jahre umsonst in der Kátorga
verbracht habe; seine Schuldlosigkeit soll vom Gericht offiziell
anerkannt worden sein, da man die wahren Schuldigen entdeckt habe und
sie ein volles Geständnis abgelegt hätten. Jedenfalls ist der
Unglückliche aus dem Ostrogg bereits entlassen. Der Herausgeber vermag
an der Richtigkeit dieser Nachricht nicht zu zweifeln ...

Es dürfte wohl weiter nichts hinzuzufügen sein. Was könnte man auch über
die ganze Tiefe der Tragik dieses unter so grauenvoller Anklage
vernichteten jungen Lebens sagen ... Es liegt ja alles auf der Hand und
spricht laut genug für sich selbst.

Auch glauben wir, daß, wenn eine solche Tatsache möglich gewesen ist,
diese Möglichkeit allein schon einen neuen und deutlich hervortretenden
Pinselstrich zur Vollendung und Charakteristik des Bildes vom Totenhause
darstellt.

Fahren wir jetzt fort.

                   *       *       *       *       *

Wie ich schon gesagt habe, lebte ich mich endlich ein im Ostrogg. Aber
dieses „endlich“ vollzog sich doch nur mühsam und qualvoll, und gar zu
langsam. Genau genommen brauchte ich fast ein ganzes Jahr dazu, und das
war die schwerste Zeit meines Lebens. Deswegen hat sie sich mir auch so
deutlich eingeprägt. Ich glaube sogar, daß ich mich jeder Stunde dieses
Jahres in der richtigen Reihenfolge erinnern kann. Auch viele andere
Sträflinge konnten sich an dieses Leben nicht gewöhnen. Ich weiß noch,
wie oft ich mich in der ersten Zeit fragte: „Wie mag es in ihnen wohl
aussehen? Sollten sie wirklich ruhig sein?“ Und diese Fragen
beschäftigten mich fortwährend. Ich begriff, daß sie alle sich hier
nicht zu Hause fühlten, sondern wie etwa auf einem Posthof, wie in einem
Biwak, oder auf einer Etappe. Selbst die zu lebenslänglicher
Zwangsarbeit Verurteilten, selbst die fühlten sich hier wie auf der
Durchreise und sehnten sich fort, und sicherlich träumte ein jeder von
ihnen von etwas für ihn fast Unmöglichem. Diese beständige Unruhe, die
sich, wenn auch stumm, so doch sichtbar äußerte, diese seltsame
Heftigkeit und Ungeduld, die manchmal ganz unwillkürlich geäußerten
Hoffnungen, die mitunter so unbegründet waren, daß sie fast einem
Produkt der Fieberphantasie glichen, und – was am auffälligsten war –
nicht selten bei den anscheinend praktischsten Charakteren zutage
traten, – alles das verlieh diesem Ort ein so ungewöhnliches Aussehen,
ein so seltsames Gepräge, daß vielleicht gerade dieser Zug seine
charakteristischste Eigenheit darstellte. Man fühlte es eben schon auf
den ersten Blick, daß es außerhalb des Ostrogg etwas Ähnliches nicht
gab. Hier waren alle Phantasten, und das fiel einem sofort auf:
Phantasten bis zur Krankhaftigkeit – das fühlte man und gerade diese
Verschwärmtheit gab dem Ostrogg ein düsteres, mürrisches Aussehen, so
ein ungesundes Aussehen. Die übergroße Mehrzahl war schweigsam, bösartig
bis zu einem fast auf alles sich erstreckenden Haß, und liebte es nicht,
ihre Hoffnungen zur Schau zu tragen. Einfachheit und Offenherzigkeit
wurden verachtet. Je aussichtsloser die Hoffnungen waren, und je mehr
der betreffende selbst diese Aussichtslosigkeit fühlte, um so
hartnäckiger und verschämter verbarg er sie in seinem Innersten, sich
lossagen aber von ihnen und auf sie verzichten, das vermochte er doch
nicht. Wer weiß, vielleicht schämte sich innerlich so mancher seiner
Träume. Im russischen Charakter liegt soviel Positivität und
Nüchternheit des Blicks, soviel innerer Spott, in erster Linie über sich
selbst ... Vielleicht nun war gerade diese beständige, verborgene
Unzufriedenheit mit sich selbst die Ursache der gereizten Unduldsamkeit
dieser Menschen in ihrer täglichen Berührung miteinander, dieser
Unversöhnlichkeit und dieser Spottlust in ihrem Verkehr untereinander.
Und wenn zum Beispiel einer von den Naiveren und Unbeherrschteren aus
ihrer eigenen Mitte einmal etwas laut aussprach, was sie heimlich alle
dachten, wenn er seine Hoffnungen und Gedanken ausmalte, so wurde er
sofort grob zurechtgewiesen und verspottet. Mich däucht aber, daß die
heftigsten Verfolger in solchen Fällen stets diejenigen waren, die in
ihren eigenen Träumen und Hoffnungen vielleicht noch viel weiter gingen.
Auf die Naiven und Offenherzigen sah man bei uns allgemein wie auf die
flachsten Dummköpfe herab und behandelte sie geringschätzig. Ein jeder
war dermaßen mürrisch, eigenliebig und ehrgeizig, daß er einen
gutmütigen Menschen, der keinen Ehrgeiz besaß, einfach verachtete.

Außer diesen naiven und etwas einfältigen Schwätzern teilten sich die
anderen, d. h. die Schweigsamen, in Gute und Böse oder in Finstere und
Heitere. Der Finsteren und Bösen gab es natürlich unvergleichlich mehr,
und wenn sich unter ihnen auch einige befanden, die von Natur Schwätzer
waren, so waren sie dann ausnahmslos ruhelose Klatschbasen und gehässige
Neider. Sie hatten sich in alle fremden Angelegenheiten zu mischen, von
ihren eigenen Geheimnissen dagegen verrieten sie den anderen nichts. Das
war eben nicht Mode, nicht „angenommen“. Die Guten – nur eine kleine
Schar – waren still, hegten stumm ihre Hoffnungen und waren natürlich
weit mehr als die Finsteren zum Glauben an die Erfüllung ihrer Wünsche
geneigt. Übrigens fällt es mir soeben ein, daß es im Ostrogg noch eine
Abteilung von völlig Verzweifelten gab. Zu denen gehörte auch der Alte
aus dem Dorf Starodubowo, doch gab es solcher im ganzen nur sehr wenige.
Äußerlich war der Alte anscheinend ruhig – ich habe schon von ihm
gesprochen –, doch glaube ich, nach einigen Anzeichen, daß sein
Seelenzustand furchtbar war. Aber er hatte schließlich doch seine
Rettung gefunden: das war das Gebet und der Glaube an sein Märtyrertum.
Der andere alte Sträfling, von dem ich gleichfalls schon gesprochen
habe, der über dem Bibellesen wahnsinnig geworden war und sich mit einem
Ziegelstein auf den Major gestürzt hatte, gehörte wahrscheinlich
gleichfalls zu den Verzweifelten, zu denen, die die letzte Hoffnung
verlassen hatte – und da man ganz ohne Hoffnung nicht leben kann, so
hatte er sich als Rettung ein freiwilliges, fast künstliches Märtyrertum
erdacht. Nach seiner Erklärung habe er sich ohne jeglichen Groll oder
Haß auf den Major gestürzt, einzig in dem Wunsch, Qualen zu erdulden.
Wer kann es wissen, welch ein psychologischer Vorgang sich in seiner
Seele vollzogen hatte! Ohne ein bestimmtes Ziel, ohne nach diesem Ziel
ständig zu streben, lebt kein einziger „lebendiger“ Mensch. Verliert der
Mensch Ziel und Hoffnung, so verwandelt er sich nicht selten vor lauter
Langeweile in ein Ungeheuer ... Bei uns war das Ziel aller aber: die
Freiheit und die Entlassung aus der Kátorga.

Da bemühe ich mich nun, die ganze Einwohnerschaft unseres Ostrogg in
verschiedene Klassen einzuteilen, doch ist denn das überhaupt möglich?
Die Wirklichkeit ist so unendlich verschiedenartig, im Vergleich mit
allen, selbst den raffiniertesten Ergebnissen des abstrakten Denkens,
und duldet keine verallgemeinernden und scharf begrenzenden
Unterschiede. Die Wirklichkeit strebt zur Auflösung in Einern. Auch bei
uns war das Leben ein besonderes, gleichviel welch eines, aber es war
doch eines für sich, und nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ein
besonderes Leben.

In der ersten Zeit meines Ostrogglebens war es mir ganz unmöglich, und
ich hätte es auch gar nicht verstanden, die ganze innere Tiefe dieses
Lebens zu erfassen, und so quälten mich alle seine äußeren Erscheinungen
mit unsäglicher Last. Zuweilen begann ich, diese Menschen, die doch
nicht weniger litten, als ich, förmlich zu hassen. Ich beneidete sie
sogar, und zwar beneidete ich sie deshalb, weil sie doch immerhin unter
ihresgleichen waren, sich gegenseitig verstanden, und in ihrer
Sträflingsgenossenschaft lebten, obwohl im Grunde diese Genossenschaft
unter Stock und Spießrute, dieses gewaltsame Zusammenleben mich nicht
mehr als alle anderen anekelte. Genau genommen sah ein jeder vom anderen
fort, irgendwohin zur Seite. Ich sage nochmals, daß dieser Neid, der
mich in trüben Augenblicken erfaßte, seinen guten Grund hatte. Man sagt
allerdings, daß der Adlige, der Gebildete, es in unseren Gefängnissen
ebenso schwer habe, wie jeder einfache Bauer, nur ist das leider
durchaus nicht der Fall. Ich habe diese Behauptung oder Annahme oft
genug gehört und in letzter Zeit sogar gelesen. Der Grundgedanke ist ja
schließlich richtig und human: alle sind Menschen. Nur ist diese
Auffassung gar zu theoretisch. Hier sind viele praktischen Bedingungen
aus dem Auge gelassen, deren Bedeutung man nur in der Wirklichkeit
ermessen kann. Ich sage es nicht deshalb, weil der Adlige und Gebildete,
wie man annimmt, empfindlicher, zartfühlender und entwickelter ist. Die
Seele und ihre Empfindsamkeit läßt sich nicht in Klassen einteilen oder
auf ein gleichmäßiges Niveau bringen. Selbst die sogenannte Bildung ist
in diesem Fall kein Maßstab. Ich bin als erster zu bezeugen bereit, daß
ich in der allerungebildetsten und niedergedrücktesten Umgebung, gerade
unter diesen Leidenden, Züge von zartester seelischer Entwicklung
wahrgenommen habe. Im Ostrogg kannte man einen Menschen bisweilen
jahrelang und glaubte von ihm, er sei ein Tier und kein Mensch, und man
verachtete ihn. Und plötzlich kommt dann ein zufälliger Augenblick, in
dem sein Inneres in ungewolltem Ausbruch sich aufdeckt – und dann sieht
man in ihm einen solchen Reichtum, soviel Gefühl und Herz, ein so
scharfes Verständnis und ein so persönliches Leiden, daß man erst jetzt
sehend zu werden meint, nachdem man im ersten Augenblick seinen eigenen
Ohren und Augen nicht getraut hat. Und andererseits, wie oft findet man
das Umgekehrte: da sieht man Bildung mit unendlich niedriger Gesinnung
vereint, mit einem Zynismus, daß es einem übel wird, und wie nahe dieser
Mensch einem auch stehen mag, man findet dafür doch keine
Entschuldigung, doch keine Rechtfertigung im Herzen.

Ich will nicht einmal auf den Unterschied der Lebensbedürfnisse
eingehen, auf die Lebensweise überhaupt, die Nahrung u. s. w., einen
Unterschied, der für den Menschen aus der oberen Gesellschaftsschicht
natürlich größer und folglich schwerer zu verwinden ist, als für den
einfachen Landbauer oder Leibeigenen, der nicht selten in der Freiheit
gehungert hat, im Ostrogg dagegen sich täglich sattessen kann. Ich will
zugeben, daß einem Menschen mit nur etwas stärkerem Willen alles das
nichts ausmacht im Vergleich mit anderen Unannehmlichkeiten, obschon das
Abgewöhnen der Lebensangewohnheiten durchaus keine so nebensächliche
Kleinigkeit und längst nicht das Leichteste ist. Es gibt aber Dinge, vor
denen alle diese äußeren Unannehmlichkeiten völlig in den Hintergrund
treten und man weder den Schmutz ringsum, weder die Enge, noch die
einförmige, unsaubere Kost beachtet. Selbst der größte Feinschmecker,
das verzärteltste Muttersöhnchen wird, wenn er im Schweiße seines
Angesichts gearbeitet hat, wie noch nie zuvor in der Freiheit, auch
Schwarzbrot und seinen Kohl mit Schaben essen. An so etwas kann man sich
noch gewöhnen, wie es ja auch im humoristischen Arrestantenliede von dem
einmal reich gewesenen Herrn heißt, der in den Ostrogg geraten war:

   „Gibt man mir auch nur Kraut mit heißem Wasser,
   So fresse ich doch alles auf mit Haut und Haar.“

Nein, wichtiger als alles andere ist, daß von den einfachen Leuten jeder
Neuangekommene bereits nach den ersten zwei Stunden dasselbe wird, was
alle anderen sind: ein mit allen Gleichberechtigter in der
Ostrogggenossenschaft, der sich hier wie jeder andere „_bei sich zu
Hause_“ fühlt. Er wird von allen verstanden und versteht selbst alle, er
ist mit allen bekannt und alle halten ihn für den _Ihrigen_, der zu
ihnen gehört. Ganz anders ist es dagegen mit dem _Adligen_, dem
Gebildeten. Wie gerecht, gut und klug er auch sein mag, er wird dennoch
jahrelang von allen anderen gehaßt und verachtet werden. Man versteht
ihn nicht, und vor allen Dingen – man glaubt ihm nicht. Er ist weder
Freund noch Kamerad, und wenn er es auch schließlich – nach Jahren –
erreicht, daß man ihn nicht mehr beleidigt, so ist er ihnen doch nie ein
Kamerad und wird ewig qualvoll seine Einsamkeit und Fremdheit empfinden.
Diese Ausscheidung als Fremder geschieht von seiten der Arrestanten
zuweilen ohne jedes böse Gefühl, völlig unbewußt. Du bist eben nicht
einer von uns – und das ist alles. Es gibt nichts Schlimmeres, als nicht
in der eigenen Gesellschaftsklasse leben zu können. Der Bauer oder der
Tagelöhner, der von Taganrog nach der Hafenstadt Petropawlowsk geschickt
wird, findet dort sogleich einen ebensolchen russischen Bauern oder
Arbeiter, mit dem er sich schon nach zwei Stunden vorzüglich versteht,
und in kürzester Zeit haben sie sich friedlich in derselben Strohhütte
eingelebt. Nicht so der Vornehme. Ihn trennt die größte Kluft vom
einfachen Volk, und das zeigt sich erst dann in seinem ganzen Umfange,
sobald der Vornehme plötzlich selbst infolge äußerer Umstände seine
früheren Vorrechte verliert und gleichfalls „einfaches Volk“ wird. Mag
man auch sonst täglich mit dem Volk in Berührung gekommen sein, vierzig
Jahre lang womöglich, – gleichviel ob im Dienst, amtlich, oder ganz
einfach freundschaftlich, als Wohltäter, oder in gewissem Sinne Vater
des Volkes – das Wesen dieses Unterschiedes wird man so nicht kennen
lernen: es wird immer nur eine optische Täuschung sein und weiter
nichts.

Ich weiß es sehr gut, daß alle, aber auch alle, die diese meine
Behauptung lesen, sagen werden, ich übertreibe. Ich aber bin überzeugt,
daß ich die Wahrheit sage, denn nicht aus Büchern und nicht spekulativ
habe ich mich davon überzeugt, sondern in der Wirklichkeit, und ich habe
mehr als genug Zeit gehabt, meine Beobachtungen auf ihre Richtigkeit hin
zu prüfen. Vielleicht wird manch einer in der Folge erfahren, wie
richtig sie sind.

Die Ereignisse bestätigen außerdem noch meine Beobachtungen schon vom
ersten Schritt an, was mich nicht wenig erregte und nachträglich
krankhaft auf mich einwirkte. In dieser ersten Zeit schlenderte ich ganz
allein auf dem Hof umher. Ich befand mich damals in einem solchen
Zustande, daß ich nicht fähig war, selbst jene unter den übrigen
wahrzunehmen, die mich in der Folge sogar lieb gewannen, wenn sie sich
auch nie mit mir auf die gleiche Stufe stellten. Gewiß fand auch ich
Kameraden unter den übrigen Adligen, aber diese Kameradschaft vermochte
doch nicht, mich von dem quälenden Druck zu befreien.

Ich will hier einen von jenen Fällen angeben, die mir meine Fremdheit
und die Eigentümlichkeit meiner Stellung im Ostrogg am deutlichsten
zeigten.

Einst – es war im ersten Sommer, schon im August – in der ersten
Nachmittagsstunde eines klaren, heißen Tages, als wir wie gewöhnlich vor
der Nachmittagsarbeit ein wenig ruhten, erhob sich plötzlich die ganze
Kátorga wie ein Mann und stellte sich auf dem Ostrogghof auf. Ich war
bis dahin völlig ahnungslos gewesen. In dieser ganzen Zeit hatte ich
mich dermaßen in mich selbst vertieft, daß ich kaum noch bemerkte, was
um mich her vorging. Im Ostrogg indes hatte es schon seit drei Tagen
dumpf gegärt. Vielleicht aber hatte diese Gärung schon viel früher
begonnen, wie ich es mir später überlegte, als mir unwillkürlich wieder
einiges aus den Gesprächen der Sträflinge einfiel, das ich nur mit
halbem Ohr gehört und weiter nicht beachtet hatte. Desgleichen erinnerte
ich mich, daß die Sträflinge in der letzten Zeit besonders mürrisch,
finster und erbost gewesen waren. Ich schrieb es anfangs der schweren
Arbeit, den langweiligen, endlosen Sommertagen, den unwillkürlichen
Gedanken an Wälder und „Freiheit“ zu, und den kurzen Nächten, in denen
man sich kaum ausschlafen konnte. Vielleicht hatte jetzt alles das zu
einem Ausbruch geführt, doch der einzige Grund desselben, den die
Sträflinge angaben, war – die Kost. Schon seit mehreren Tagen hatte man
sich laut über das Essen beklagt, man war ungehalten gewesen, namentlich
wenn man zum Mittag- und zum Abendessen in der Küche zusammenkam. Man
war unzufrieden mit den Köchinnen, versuchte es sogar mit einer
Veränderung des Küchenpersonals: man wählte einen neuen Koch, doch wurde
dieser sogleich wieder „gewirbelt“ und der alte zurückgerufen. Kurz,
alle Geister befanden sich in einer gewissen Unruhe.

„Die Arbeit ist zum Knochenbrechen und dabei werden wir nur mit Fell und
Fett gefüttert,“ brummt jemand in der Küche.

„Wenn dir das nicht behagt, so bestell doch Kuchen für dich,“ bemerkt
ein anderer, dem Kuchen das schönste zu sein scheint.

„Ach was, Kohl mit Schweinespeck liebe ich sehr, Brüder,“ meint ein
dritter, „denn ... was ich sagen wollte – es schmeckt mir.“

„Aber wenn du dein Lebtag nichts als Schweinespeck zwischen die Zähne
kriegst, wird es dir dann auch noch schmecken?“

„Es ist jetzt doch Fleischzeit,“ sagt ein vierter, „wir dort in der
Ziegelei müssen uns quälen und plagen, nachher aber will man doch was
essen! Was aber ist denn dieses Zeugs für ein Fraß!“

„Ist das überhaupt genießbar, frage ich euch! Hab ich nicht recht?“

„Ja, das Futter ist schlecht.“

„Und der Achtäugige stopft sich dabei natürlich die Taschen.“

„Das ist nicht deine Sache.“

„So–o? Mein Bauch ist doch wohl meine Sache, denke ich! ... Seht, wenn
wir uns allesamt zusammentäten und unsere Forderung vorbrächten, dann
wäre die Sache im Nu erledigt.“

„Forderung?“

„Jawohl!“

„Dann bist du wohl für solche Forderungen noch wenig gedroschen worden.“

„Es ist schon wahr,“ fügt brummig ein anderer hinzu, der bis dahin
geschwiegen hat, „aber sag du uns mal zuerst, was du denn bei der
Gelegenheit eigentlich sagen willst?“

„Ich werde schon sagen! Wenn alle mithalten würden, dann würde ich schon
mit allen zusammen sagen! Einfach Hunger und nichts weiter! Bei uns hat
der eine seine eigene Kost, ein anderer aber hat nichts als
Staatsverpflegung.“

„Seht doch diesen Neidhammel! Dir scheint ja fremdes Gut merklich in die
Augen zu stechen!“

„Laß dich nicht nach Fremdem gelüsten, steh früher auf und verschaffe
dir Eigenes.“

„Verschaffe! Wo soll man sich denn was verschaffen, wo nichts zu
verschaffen ist!“

„Nein, wirklich, Brüder, wozu sitzen wir hier? Sie haben uns doch lange
genug geschunden, werden uns noch das Fell ganz und gar abziehen. Warum
sollen wir nicht einmal auftreten?“

„Warum? Für dich muß man alles immer noch durchkauen, bevor man es dir
in den Mund stopft, selbst durchzukauen scheinst du nicht zu können!
Weil wir in der Kátorga sind – hast du nun kapiert?“

„Und der Achtäugige hat den Nutzen davon. Hat sich noch ein Paar Graue
gekauft.“

„Und den Wein, den spart er auch gerade!“

„Vor kurzem hat er sich mit dem Veterinär beim Kartenspiel geprügelt.
Haben die ganze Nacht gespielt. Fedjka erzählte.“

„Daher schmeckt auch der Kohl nicht mehr.“

„Ach, ihr Schafsköpfe! ... Daraus wird grade was!“

„Wir müssen eben alle Mann vortreten, sehen wir doch zu, was er dann zu
seiner Rechtfertigung sagen wird. Wir müssen alle nur darauf bestehen!“

„Rechtfertigung! Noch was! Er wird dir nur dein Gebiß in die Gurgel
schlagen und damit ist es für ihn erledigt.“

„Und dann kommt man doch vors Gericht ...“

Mit einem Wort, alle waren erregt. Wir hatten in der letzten Zeit
allerdings sehr schlechtes Essen erhalten, und nun kam noch all das
andere hinzu. Die Hauptveranlassung war aber entschieden die allgemeine
wehmütige Stimmung und die beständige geheime Qual. Die Zwangsarbeiter
sind schon ihrer Natur gemäß streitsüchtig und empörerisch, doch kommt
es sehr selten vor, daß sie sich gemeinsam in größerer Anzahl
oder gar alle Mann erheben. Der Grund ist ihre beständige
Meinungsverschiedenheit. Das fühlt auch ein jeder von ihnen – und daher
kam es, daß es bei uns in der Kátorga mehr Streit als Taten gab. Diesmal
aber sollte die allgemeine Aufregung nicht im Sande verlaufen.

Es begann damit, daß man sich in Gruppen versammelte, in den Kasernen
stritt, schimpfte, das ganze Sündenregister unseres Majors vortrug, und
nichts vergaß, was ihn noch verhaßter machen könnte. Einige waren ganz
besonders wütend. Bei allen ähnlichen Gelegenheiten treten stets Hetzer
und Rädelsführer auf, die an sich, nicht nur im Ostrogg allein, sondern
überall ein und dieselben sind. Sie sind ein ganz besonderer Typ, ein
hitziger Menschenschlag, den es nach unbedingter Gerechtigkeit verlangt
und der in der naivsten und ehrlichsten Weise von der bedingungslosen,
unbeschränkten und vor allem sofortigen Erfüllung derselben überzeugt
ist. Sie sind nicht dümmer als andere, es gibt sogar sehr Kluge unter
ihnen, nur sind sie zu feurig, um schlau und berechnend zu sein. Gewiß
gibt es auch bei derartigen Aufständen mitunter Führer, die die Masse
geschickt zu lenken und die Sache zu gewinnen verstehen, doch bilden
diese bereits einen anderen Typ. Der Volksführer, das ist der geborene
Führer des Volkes – ein Typus, der bei uns ziemlich selten ist. Diese
dagegen, von denen ich hier rede, diese Schürer und Rädelsführer der
kleinen Aufstände, die verspielen fast stets ihre Sache und bevölkern
dafür später die Gefängnisse. Sie verspielen durch ihre Hitzigkeit, doch
haben sie gerade durch diese Hitzigkeit ihren Einfluß auf die Masse. Und
schließlich – man folgt ihnen gern. Ihr Feuer und ihr ehrlicher Unwille
wirken auf alle, und zu guterletzt schließen sich ihnen auch die
Unentschlossensten an. Ihr blinder Glaube an das Gelingen verführt
selbst die eingefleischtesten Skeptiker, obgleich dieser Glaube zuweilen
so unbegründet, so kindisch naiv ist, daß man sich nur darüber wundern
kann, wie die Menschen ihnen haben folgen können. Die Hauptsache ist
aber, daß sie als Erste vorangehen, und ohne Furcht zu verspüren ... Sie
stürmen wie die Stiere mit gesenkten Hörnern darauf los, oft sogar ohne
Kenntnis der Sache, ohne Vorsicht, vor allem ohne jenen praktischen
Jesuitismus, mittels dessen nicht selten der niedrigste und schmutzigste
Mensch die Sache durchführt, das Ziel erreicht und trocken aus dem
Wasser kommt. Sie jedoch stürzen geradeaus drauflos und brechen sich
unfehlbar die Hörner. Im gewöhnlichen Leben sind sie gallige, launige,
reizbare und unduldsame Leute. Am häufigsten sind es entsetzlich
beschränkte Menschen, was übrigens zum Teil ihre Kraft ausmacht. Das
ärgerlichste an ihnen ist jedoch, daß sie, anstatt geradeaus auf das
Ziel loszusteuern, oft auf Nebenwege rennen, und anstatt die Hauptsache
im Auge zu behalten, sich von Nebensachen ablenken lassen. Das ist es,
woran sie scheitern. Aber sie sind der Masse verständlich und darin
liegt ihre Kraft ... Übrigens muß ich noch kurz erklären, was ein
solcher „Streik“ eigentlich ist.

                   *       *       *       *       *

In unserem Ostrogg gab es mehrere, die wegen eines solchen „Streiks“
verschickt worden waren. Sie nun ereiferten sich auch jetzt am meisten
von allen. Namentlich einer von ihnen, ein gewisser Martynoff, der
früher Husar gewesen war, ein hitziger, unruhiger und mißtrauischer
Mensch, sonst aber sehr ehrlich und sehr wahrheitsliebend. Der andere
war Wassilij Antonoff, ein gewissermaßen kaltblütig sich erregender
Mensch mit dreistem Blick und hochmütigem, sarkastischem Lächeln,
auffallend entwickelt und gleichfalls ehrlich und wahrheitsliebend.
Doch, ich kann sie ja nicht alle aufzählen. Es gab ihrer eine ganze
Menge. Petroff war überall, blieb bei jeder kleinen Gruppe stehen, hörte
gespannt zu, sprach selbst wenig, war aber sichtlich erregt und als
erster zur Stelle, als man sich auf dem Hof aufzustellen begann.

Unser Ostroggunteroffizier, der bei uns den Dienst eines Feldwebels
hatte, erschien sofort und war nicht wenig erschrocken. Als die Leute
sich alle in Reih und Glied aufgestellt hatten, baten sie ihn höflich,
den Major zu benachrichtigen, daß die Kátorga ihn bezüglich einiger
Punkte persönlich zu sprechen und um etwas zu bitten wünsche. Gleich
nach dem älteren Unteroffizier erschienen auch alle Invaliden, die sich
den Sträflingen gegenüber, auf der anderen Seite des Hofes, aufstellten.
Der Auftrag, der dem Unteroffizier zuteil wurde, war allerdings
unerhört, und entsetzte diesen geradezu. Doch die Meldung verweigern,
das durfte er nicht. Erstens konnte, wenn die „ganze Kátorga“ sich
erhoben hatte, weiß der Teufel was noch alles daraus entstehen. Alle
unsere Vorgesetzten waren bezüglich der Kátorga vom ersten bis zum
letzten auffallend ängstlich. Und zweitens, selbst, wenn sich
alle sofort wieder besonnen hätten und bis auf den letzten
auseinandergegangen wären, selbst dann hätte der Unteroffizier von dem
Geschehenen den Vorgesetzten benachrichtigen müssen. Bleich und fast
zitternd begab er sich sofort eilig zum Major, ohne auch nur einen
Versuch gemacht zu haben, die Sträflinge vorher auszufragen oder sie zu
ermahnen. Er sah vielleicht auch ein, daß man mit ihm jetzt überhaupt
nicht geredet hätte.

Völlig ahnungslos war auch ich hinausgegangen und hatte mich gleichfalls
in Reih und Glied gestellt. Alle Einzelheiten der Sache erfuhr ich erst
später. In jenem Augenblick aber glaubte ich, daß es sich um nichts
anderes als um eine Zählung handelte. Da ich aber keine Wachen sah,
wunderte ich mich und blickte um mich. Alle Gesichter waren erregt und
alle sahen gereizt aus. Einige waren sogar bleich, alle waren besorgt
und schweigsam in der Erwartung dessen, was und wie man mit dem Major
reden würde. Auch bemerkte ich, daß viele mich sehr verwundert ansahen,
doch wandten sie sich schweigend wieder von mir ab. Es schien sie
ersichtlich zu befremden, daß ich mich mit ihnen zusammen aufgestellt
hatte. Offenbar glaubten sie nicht, daß ich gleichfalls, zusammen mit
ihnen, „Streik machen“ wolle. Bald aber wandten sich alle fast
gleichzeitig wieder nach mir um und blickten mich fragend an.

„Wozu bist du denn hier?“ fragte mich plötzlich grob und laut Wassilij
Antonoff, der etwas weiter von mir stand und mich sonst immer höflich
mit „Sie“ angeredet hatte.

Ich sah ihn verständnislos an, immer noch bemüht zu begreifen, was das
alles zu bedeuten hatte; doch begann ich schon zu erraten, daß etwas
Besonderes vor sich ging.

„Ja, was hast du denn hier zu stehen? Pack dich in die Kaserne,“ sagte
ein junger Bursch der Militärabteilung, mit dem ich bis dahin noch nie
gesprochen hatte, ein sonst stiller und guter Junge. „Das hier ist nicht
deine Sache.“

„Aber es stellen sich doch alle auf,“ entgegnete ich, „ich glaubte, daß
man eine Zählung vornehmen wolle.“

„Also der ist auch herausgekrochen!“ rief jemand.

„Ei seh, na seh!“ ein anderer.

„Fliegenknacker!“ sagte ein dritter mit unbeschreiblicher Verachtung.
Diese neue Bezeichnung für uns Adlige rief allgemeines Lachen hervor.

„Den geht doch die Küche nichts an,“ meinte jemand.

„Die sind überall im Paradies. Hier ist Kátorga, sie aber stopfen sich
mit Weißbrot und kaufen noch ihre Spanferkel dazu. Du futterst doch
eigene Kost, was hast du hier zu suchen?“

„Es ist dies hier kein Platz für Sie in diesem Augenblick,“ sagte
plötzlich Kulikoff, freundlich auf mich zutretend; er erfaßte meinen Arm
und führte mich aus den Reihen.

Er selbst war bleich, seine dunklen Augen blitzten und er biß sich die
Unterlippe. Augenscheinlich erwartete er nicht gerade kaltblütig den
Major. Ich beobachtete Kulikoff gern in solchen Augenblicken, d. h. in
allen Fällen, wo er sich zeigen mußte. Er war dabei entsetzlich eitel,
aber er brachte doch immer etwas zustande. Ich glaube, selbst zu seiner
Hinrichtung wäre er mit einem gewissen Chik, mit Eleganz gegangen.
Jetzt, als mich alle mit „du“ anredeten und schimpften, verdoppelte er
offenbar absichtlich seine Höflichkeit mir gegenüber, und gleichzeitig
waren seine Worte von einer ganz besonderen Färbung, etwa
überlegen-bestimmt; jedenfalls duldeten sie keinen Widerspruch.

„Wir sind hier in einer eigenen Angelegenheit, Alexander Petrowitsch,
Sie aber sind hier diesmal überflüssig. Gehen Sie jetzt fort und warten
Sie ab ... Sehen Sie, dort in der Küche sind die Ihrigen, gehen Sie
dorthin.“

Durch das offene Fenster erblickte ich in der Küche tatsächlich unsere
Polen. Aber außer ihnen schienen dort noch andere zu sein. Nicht wenig
verwundert begab ich mich zur Küche. Lachen, Schimpfworte und Schnalzen
– das im Ostrogg statt des Auspfeifens üblich war – tönte mir nach.

„Das paßt ihm nicht, glaub’s schon!“ ... „Seht mal, da geht er hin!“ ...
„Putz Katz!“ ...

So hatte man sich bis dahin noch nie zu mir verhalten und daher war es
mir in diesem Augenblick sehr schwer zumut. Im Flur vor der Küche traf
ich T. Er war ein junger Adliger, ohne große Bildung, doch ein fester
und großzügiger Charakter, – derselbe, der B. unterwegs auf dem Rücken
getragen hatte und ihm rührend zugetan war. Er war der einzige von uns
Adligen, mit dem die Sträflinge eine Ausnahme machten: sie hatten ihn
aufrichtig gern, ja sie liebten ihn sogar. Er war kühn, männlich und
stark, und das äußerte sich in jeder seiner Bewegungen.

„Was tun Sie, Goräntschikoff,“ rief er mir zu, „kommen Sie doch her!“

„Aber was ist denn dort los?“

„Sie wollen ihre Ansprüche geltend machen, sehen Sie denn das nicht?
Natürlich werden sie damit nichts erreichen: wer wird denn Arrestanten
Glauben schenken? Man wird die Anstifter suchen und wenn wir unter ihnen
sind, selbstverständlich uns die ganze Schuld in die Schuhe schieben.
Vergessen Sie nicht, wofür wir hierher gekommen sind. Die anderen würde
man nur gelinde prügeln, wir aber kämen sofort vor Gericht. Der Major
haßt uns und es würde ihn freuen, wenn er uns etwas anhaben könnte.
Damit würde er die eigene Schuld auf uns abwälzen.“

„Und von den übrigen würde doch keiner für uns einstehen,“ sagte
M–tzkij, als wir in die Küche eintraten.

„Ja, denen würden wir nicht leid tun!“ meinte auch T.

In der Küche waren außer den Adligen noch viele andere Sträflinge, im
ganzen vielleicht dreißig an der Zahl. Sie alle wollten von dem Vorhaben
der übrigen nichts wissen, oder wenigstens nichts damit zu tun haben –
die einen aus Feigheit, die anderen, weil sie von der völligen
Nutzlosigkeit jedes Ansprucherhebens fest überzeugt waren. Unter ihnen
bemerkte ich auch Akim Akimytsch, den gebotenen Feind aller ähnlichen
Demonstrationen, die dem regelmäßigen Gang des Dienstes und wohl auch
der Sittsamkeit störend entgegentraten. Schweigend und seelenruhig
wartete er den Ausgang der Sache ab, regte sich nicht im mindesten auf,
sondern war im Gegenteil vollkommen überzeugt von dem unfehlbaren
Triumph der Ordnung und des obrigkeitlichen Willens. Auch Issai Fomitsch
war hier; er stand in völliger Verständnislosigkeit da, ließ die Nase
hängen und hörte gierig und ängstlich unserem Gespräch zu. Ihm war
ersichtlich äußerst bänglich zumut. Und auch die übrigen polnischen
Sträflinge hatten sich zu ihren Adligen gesellt. Ferner sah ich daselbst
einige ängstliche Russen, jene, die stets schweigsam waren und
gewissermaßen verprügelt aussahen. Sie wagten nicht, es mit den anderen
zu halten, und warteten traurig ab, womit es enden würde. Endlich waren
dort noch einige von den finsteren und schroffen Charakteren, die sonst
keine schüchternen Menschen waren. Sie hielten aus Eigensinn nicht mit,
und natürlich auch infolge ihrer Überzeugung, daß der ganze Streik nur
ein Unsinn sei und nichts als Schlechtes zur Folge haben könne. Doch
wollte es mir trotzdem scheinen, daß sie sich hier nicht ganz behaglich
fühlten und nicht gerade sehr selbstbewußt dreinschauten. Zwar wußten
sie, daß sie bezüglich des Streiks im Recht waren, was auch die Folge
bestätigte, aber sie empfanden sich doch gleichsam als Abtrünnige, als
Verräter der Genossen, als hätten sie diese dem Platzmajor ausgeliefert.
Unter ihnen befand sich auch Jolkin, jener selbe sibirische Bauer, der
als Falschmünzer in die Kátorga gekommen war und Kulikoff die ganze
Veterinärpraxis abspenstig gemacht hatte. Der Alte aus Starodubowo war
gleichfalls hier und von den Köchinnen waren alle in der Küche
geblieben, – wahrscheinlich in der Erwägung, daß auch sie einen Teil der
Verwaltung ausmachten und es ihnen folglich nicht zustand, gegen die
„Eigenen“ aufzutreten.

„Aber wie,“ begann ich etwas unsicher, mich an M–tzkij wendend, „außer
diesen hier sind doch alle gegangen.“

„Was geht das uns an?“ brummte B. unwirsch.

„Wir würden hundertmal mehr riskieren als sie, wenn wir gingen, und wozu
schließlich? ^Je hais ces brigands.^ Und können Sie denn auch nur einen
Augenblick glauben, daß eine Demonstration zustande kommen wird? Ich
habe keine Lust, auf solchen Blödsinn hereinzufallen.“

„Es wird ja doch nichts draus werden!“ meinte verächtlich ein
starrköpfiger und verbitterter Alter. Almasoff, der neben ihm stand,
pflichtete ihm sofort bei:

„Man wird einem jeden nur so an fünfhundert aufzählen und das wird alles
sein.“

„Der Major ist gekommen!“ rief plötzlich jemand und alle drängten zum
Fenster.

Der Major stürzte in den Ostrogg, wütend, aufgebracht, purpurrot im
Gesicht, die Brille auf der Nase. Schweigend, aber durchaus entschlossen
trat er vor die Front. In solchen Fällen war er stets mutig und verlor
nicht die Geistesgegenwart. Übrigens war er dann aber auch stets
halbbetrunken. Selbst seine schmierige Offiziersmütze mit dem
orangegelben Streifen und die schmutzigen silbernen Epauletten hatten in
diesem Augenblick etwas Unheilverkündendes. Ihm folgte der Schreiber
Djätloff, eine im Ostrogg sehr wichtige Persönlichkeit, denn eigentlich
bestimmte er allein alles, und außerdem hatte er sogar auf den Major
großen Einfluß, – ein schlauer Bursch, der immer nach seinem eigenen
Kopf handelte, doch sonst kein schlechter Mensch war. Die Sträflinge
waren mit ihm zufrieden. Nach ihm kam der Unteroffizier, über dessen
Haupt sich allem Anscheine nach bereits ein Hagelwetter ergossen hatte
und der ein noch zehnmal größeres erwartete, und nach diesem drei oder
vier Wachen, nicht mehr.

Die Sträflinge, die ohne Kopfbedeckung dastanden – wenn ich nicht irre,
seit dem Augenblick, in dem sie nach dem Major geschickt hatten –
richteten sich jetzt alle gerader auf und ordneten sich: ein jeder trat
von einem Fuß auf den anderen, und dann schien alles auf dem Platz zu
erstarren, in der Erwartung des ersten Wortes oder ersten Schreies des
Vorgesetzten.

Der ließ nicht lange auf sich warten: schon nach dem zweiten Wort
gröhlte der Major aus voller Kehle, ja er schien diesmal förmlich zu
kreischen, denn er war gar zu wütend. Durch das Fenster sahen wir nur,
wie er vor der Front hin- und herraste, auf einzelne losstürzte,
ausfragte, schrie. Übrigens konnten wir bei der großen Entfernung weder
seine Fragen noch die Antworten der Sträflinge vernehmen. Nur die
einzelnen Schreie drangen bis zu uns hin:

„Verschwörer! ... Spießruten! ... Aufwiegler! ... Du bist der
Aufwiegler, du, gerade du!“ – Damit stürzte er plötzlich auf einen von
ihnen los.

Eine Antwort hörten wir nicht. Nach einer Minute sahen wir, wie ein
Sträfling vortrat und sich zur Hauptwache entfernte. Nach Verlauf einer
weiteren Minute sahen wir einen zweiten ihm folgen, darauf einen
dritten.

„Alle vors Gericht! Ich werde euch! Wer ist dort in der Küche?“ schrie
er plötzlich gellend, als er uns im Fenster erblickte. „Alle her! Jagt
sie alle her!“

Der Schreiber Djätloff kam in die Küche, wo ihm erklärt wurde, daß man
hier keine Ansprüche mache. Er kehrte sofort zurück und meldete es dem
Major.

„Ah, also die machen keine!“ sagte er um zwei Töne tiefer und sichtlich
erfreut. „Gleichviel, alle her!“

Wir gingen hinaus. Ich fühlte, daß wir uns im Grunde alle schämten, so
herauszutreten. Und wir gingen auch alle mit gesenkten Köpfen.

„Ah, Prokoffjeff! Jolkin gleichfalls, und auch du, Almasoff ... Stellt
euch, stellt euch alle hierher, so, in eine Gruppe,“ sagte der Major
geschäftig, aber mit auffallend milder, weicher Stimme und mit
freundlichem Blick auf uns. „Ah, und auch du, M–tzkij, bist also hier
... Alle aufschreiben. Djätloff! Sofort alle Namen aufschreiben, die
Zufriedenen separat und die Unzufriedenen separat, alle bis auf den
letzten, und das Protokoll sofort mir zuzuschicken! – Ich werde euch
alle ... vors Gericht bringen! Ich werde euch! – ihr Spitzbuben! ...“

Die Drohung mit dem Protokoll verfehlte ihre Wirkung nicht.

„Wir sind ja zufrieden!“ rief plötzlich eine Stimme aus der Gruppe der
Unzufriedenen, doch klang sie nicht sehr entschlossen.

„Ah, also zufrieden! Wer ist zufrieden? Wer zufrieden ist, der trete
vor.“

„Sind zufrieden, alle sind zufrieden!“ hörte man mehrere Stimmen.

„So–o! Also zufrieden! Dann hat euch jemand aufgehetzt? Dann gibt es
hier also Aufwiegler, Empörer? Um so schlimmer für sie! ...“

„Gott, was ist denn das!“ hörte man da plötzlich eine Stimme aus der
Menge.

„Wie, was, wer hat da geschrien?“ brüllte sofort der Major los, und er
stürzte fort in die Richtung, woher dieser Ausruf gekommen war. „Das
warst du, Rastorgujeff! Hast du soeben geschrien? Nach der Wache!“

Rastorgujeff, ein etwas pausbackiger, großer, junger Bursch, trat vor
und begab sich langsam zum Tor. Er war es nicht gewesen, der geschrien
hatte, da aber der Major ihn beschuldigte, widersprach er nicht und
ging.

„Nur das Wohlleben macht euch unzufrieden!“ schrie ihm der Major noch
nach. „Du dicke Fratze, hast in drei Tagen nicht ... Ich werde euch
schon! Die Zufriedenen sollen alle vortreten!“

„Wir sind ja doch zufrieden, Euer Gnaden,“ hörte man finster einige zehn
Stimmen sagen; die übrigen schwiegen hartnäckig.

Der Major hatte nur darauf gewartet. Auch er schien die Sache bald
erledigen zu wollen, und zwar diesmal möglichst einträchtig.

„Ah, jetzt sind plötzlich _alle_ zufrieden!“ sagte er, sich beeilend.
„Das sah ich ja voraus ... das wußte ich! Es stecken natürlich
Aufwiegler dahinter! Ja, es gibt unter ihnen offenbar Hetzer!“ fuhr er,
sich an Djätloff wendend, fort. „Das muß man genauer untersuchen. Jetzt
aber ... jetzt ist es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Sofort zum Abmarsch
trommeln!“

Er wohnte selbst dem Abmarsch der Arrestanten bei, die schweigend und
traurig zur Arbeit aufbrachen, schließlich noch zufrieden damit, daß sie
wenigstens ihm aus den Augen kamen.

Gleich darauf begab sich der Major auf die Hauptwache und „erledigte“
die Anstifter, war aber nicht allzustreng. Er beeilte sich ersichtlich
dabei. Einer von ihnen hatte schon um Verzeihung gebeten, erzählten
später die anderen, und da habe er sofort verziehen. Jedenfalls merkte
man es ihm an, daß er nicht ganz so sorglos war und sich vielleicht
sogar seine Schuld eingestand. Eine derartige Demonstration ist immerhin
eine kitzlige Sache, und wenn man auch dieses Ungehaltensein der
Sträflinge kaum eine Demonstration nennen konnte, so war es doch
nichtsdestoweniger ungemütlich, unangenehm. Am peinlichsten war dabei,
daß sich alle zusammen erhoben hatten. Jetzt hieß es, die Sache so
schnell als möglich vertuschen, was es auch koste. Die „Aufwiegler“
wurden bald wieder entlassen. Am nächsten Tage war das Essen besser,
doch leider nicht auf lange Zeit. Der Major kam öfter in den Ostrogg und
fand immer häufiger Unordnung. Unser Unteroffizier ging mit besorgter
Miene und gänzlich aus dem Konzept gebracht umher, als könne er sich vor
Verwunderung immer noch nicht fassen. Was nun die Arrestanten
anbetrifft, so konnten sie sich noch lange nicht beruhigen, nur regten
sie sich nicht mehr in derselben Weise auf, sondern schienen gleichsam
stumm erregt zu sein, gewissermaßen verblüfft und befremdet. Einige
ließen sogar die Köpfe hängen. Andere brummten, wenn sie auch sonst
nicht viel über den ganzen Vorfall sprachen. Manche wiederum
verspotteten sich selbst, taten es in seltsam gereiztem Ton, ganz als
wollten sie sich selbst für ihren „Streik“ strafen.

„Da hast du’s jetzt, Freundchen, beiß jetzt zu!“ sagt einer.

„Deine Scherze mußt du mit Arbeit bezahlen!“ sagt ein anderer.

„Unsereinem wirst du doch nicht ohne Stock was erklären, das weiß man
doch. Dankt Gott, daß er nicht alle durchgeprügelt hat.“

„Nächstens denk mehr und schwatz weniger, das wird besser sein!“ knurrt
jemand bissig den anderen an.

„Was stellst du denn für Lehren hier auf, willst wohl unser Schulmeister
sein?“

„Warum soll ich nicht lehren?“

„Wer bist du denn überhaupt?“

„Ich bin vorläufig noch ein Mensch, aber wer bist du denn, wenn man
fragen darf?“

„Ein Hundeknochen bist du, aber kein Mensch!“

„Na, na, genug geschimpft! Was gackert ihr da wieder!“ schreit man den
Streitenden von allen Seiten zu ...

Am Abend desselben Tages, an dem die Demonstration stattgefunden hatte,
traf ich nach der Rückkehr von der Arbeit Petroff hinter den Kasernen.
Er suchte mich bereits. Als er mir entgegentrat, murmelte er etwas, das
wie ein unbestimmter Ausruf klang, verstummte aber zerstreut und ging
mechanisch neben mir her. Mir lag der ganze Vorfall noch schmerzlich auf
der Seele, und da schien es mir plötzlich, daß Petroff mir einiges
erklären könnte.

„Sagen Sie, Petroff, ärgern sich denn die Ihrigen nicht über uns?“
fragte ich ihn.

„Wer?“ fragte er.

„Die Sträflinge über uns ... uns Adlige?“

„Weswegen sollten sie sich über euch ärgern?“

„Nun, weil wir doch nicht mithielten, als sie die Demonstration
veranstalteten?“

„Ja, aber warum hätten Sie denn mithalten sollen?“ fragte er, als bemühe
er sich, mich zu verstehen. „Sie haben doch eigenes Essen.“

„Ach Gott! Es gibt ja doch auch unter den anderen welche, die eigene
Kost essen, und doch waren sie mitgegangen. Nun, und so hätten auch wir
gehen sollen ... aus Kameradschaft.“

„Ja ... aber was sind Sie uns denn für ein Kamerad?“ fragte er
verwundert.

Ich blickte ihn schnell an: er verstand mich tatsächlich nicht, er
begriff nicht, was ich meinte. Dafür aber verstand ich ihn in diesem
Augenblick vollkommen. Zum erstenmal wurde mir jetzt ein Gedanke klar,
der sich schon lange dunkel in mir geregt und mich verfolgt hatte, ich
begriff mit einem Mal, was ich bis dahin nur unklar geahnt. Ich begriff,
daß man mich niemals als Kamerad anerkennen würde, und wenn ich auch
doppelt und dreifach sibirischer Sträfling wäre, und wenn ich mich auch
in der besonderen Abteilung befunden hätte, zu ewiger Zwangsarbeit
verurteilt. Ich entsinne mich noch lebhaft, welch einen Ausdruck
Petroffs Gesicht in diesem Augenblick hatte. In seiner Frage: „Aber was
sind Sie uns denn für ein Kamerad?“ lag soviel unverfälschte Naivität,
ein so offenherziges Nichtverstehenkönnen! Ich fragte mich: liegt in
diesen Worten nicht Ironie, Bitterkeit, Spott? Doch nein, es war nichts
davon in ihnen: du bist uns einfach kein Kamerad, und das ist alles. Geh
du deines Weges, wir gehen unseres Weges; du hast deine Interessen und
wir unsere.

Und in der Tat, so war es auch. Ich glaubte zuerst, daß man uns jetzt
völlig totmachen würde, daß wir von nun an überhaupt kein Leben mehr im
Ostrogg haben würden. Doch nichts von alledem geschah: nicht den
geringsten Vorwurf, nicht die leiseste Andeutung eines Tadels hörten wir
und es verstärkte sich ihre Feindschaft gegen uns nicht im mindesten.
Bei Gelegenheit wurden wir nur wie gewöhnlich verspottet, so wie wir
auch früher verspottet worden waren, nicht mehr und nicht weniger.
Übrigens waren sie ebensowenig auch über die anderen ungehalten, die
sich an der Demonstration gleichfalls nicht beteiligt und sich in die
Küche zurückgezogen hatten, sowie auch über die nicht, die zuerst gesagt
hatten, daß sie mit allem zufrieden seien. Man verlor darüber nicht
einmal ein Wort. Namentlich letzteres konnte ich nicht begreifen.


                                 VIII.

                             Die Kameraden

Mich zog es natürlich mehr zu Meinesgleichen, d. h. zu den übrigen
„Adligen“, besonders in der ersten Zeit. Doch von den drei ehemaligen
russischen Adligen, die im Ostrogg lebten – Akim Akimytsch, dem Spion
A–ff und jenem, den man für einen Vatermörder hielt – war Akim Akimytsch
der einzige, den ich näher kannte und mit dem ich mich zuweilen
unterhielt. Um die Wahrheit zu sagen, muß ich gestehen, daß ich mich an
diesen sozusagen nur in der Verzweiflung wandte, in Stunden der größten
Langeweile, und wenn ich außer ihm niemanden sah, an den ich mich hätte
wenden können. Im vorhergehenden Kapitel machte ich zwar den Versuch,
die ganze Ostroggbevölkerung zu klassifizieren, jetzt aber, da ich auf
Akim Akimytsch zu sprechen gekommen bin, jetzt fällt es mir ein, daß man
zu den bereits genannten noch eine Klasse hinzufügen muß. Allerdings
hatte sie nur einen einzigen Vertreter. Das war die Klasse der –
vollkommen gleichgültigen Sträflinge. Vollkommen Gleichgültige, d. h.
solche, denen es ganz gleich war, ob sie in der Freiheit oder in der
Kátorga lebten, konnte es bei uns natürlich überhaupt nicht geben – Akim
Akimytsch aber stellte, glaube ich, eine Ausnahme dar. Er hatte sich im
Ostrogg so eingerichtet, als hätte er beabsichtigt, bis an sein
Lebensende dort zu wohnen: alles, was er besaß, angefangen von der
Matratze, den Kopfkissen, ferner alle seine Küchengeräte, kurz, sein
ganzer Besitz, – alles war so ordentlich, so tadellos aufgebaut, war so
fest und dauerhaft, und schien für eine lange Zeit berechnet. Von
Biwakmäßigem, nur Zeitweiligem war an ihm keine Spur zu bemerken. Ihm
stand noch eine ganze Reihe von Jahren im Ostrogg bevor, doch ist es
nicht anzunehmen, daß er jemals an seine Entlassung aus der Kátorga auch
nur gedacht hätte. Indes – wenn er sich auch mit der Wirklichkeit
ausgesöhnt hatte, so hatte er es doch nicht auf Wunsch seines Herzens
getan, sondern allenfalls aus Subordination, – was bei ihm allerdings
ein und dasselbe war.

Er war ein guter Mensch und half mir auch zuweilen mit Rat und Tat,
namentlich in der ersten Zeit, mitunter aber – es tut mir herzlich leid,
daß es so war –, mitunter aber erweckte er in mir eine so beispiellose
Langeweile, die meine Stimmung noch um ein Erhebliches verschlechterte.
Hatte ich doch sowieso nur aus Langeweile ein Gespräch mit ihm
angeknüpft! Zuweilen lechzte man geradezu nach einem lebendigen Wort,
gleichviel ob es nun bitterböse, gereizt, freundlich oder wütend war:
wir hätten uns dann doch wenigstens gemeinschaftlich über unser
Schicksal geärgert! Er aber schweigt, klebt seine Laternen, oder
erzählt, wie in dem und dem Jahre die Parade verlaufen war, wer sein
Divisionskommandeur gewesen, wie er geheißen, nennt ihn zweimal mit
Namen, Taufnamen, Vaternamen und Familiennamen, und ob er mit der
Truppenschau zufrieden gewesen war oder nicht, erzählt wie die
Schützensignale eine gewisse Veränderung erfahren hatten ... und
ähnliches in Mengen. Und alles das wird mit einer so gleichmäßigen, so
würdevollen Stimme vorgetragen, ganz wie Wasser aus der Regenröhre
tropft. Nie habe ich bemerkt, daß er sich auch begeistert hätte, selbst
dann kaum, wenn er mir erzählte, daß er für die Teilnahme an irgend
einer militärischen Operation im Kaukasus des Ordens der „heiligen Anna“
gewürdigt worden war. Nur seine Stimme nahm bei dieser Mitteilung etwas
ganz ungemein Wichtiges und Solides an; er senkte sie ein wenig, was sie
geradezu geheimnisvoll machte, namentlich wenn er „der heiligen Anna“
aussprach, und etwa drei Minuten darauf wurde er ganz besonders stumm
und würdevoll ... In diesem ersten Jahr hatte ich oft Augenblicke – sie
kamen immer ganz plötzlich –, in denen ich diesen Akim Akimytsch
förmlich zu hassen begann, ohne im Grunde zu wissen weshalb, und in
denen ich mein Schicksal dafür verfluchte, daß es mich gerade mit ihm
Kopf an Kopf auf der Arrestantenpritsche plaziert hatte. Gewöhnlich
machte ich mir bereits nach Verlauf einer Stunde Vorwürfe deswegen ...
Aber das war nur im ersten Jahr – späterhin söhnte ich mich im Herzen
vollkommen mit ihm aus und schämte mich meiner anfänglichen Dummheiten.
Äußerlich haben wir beide stets in Frieden gelebt.

Außer diesen drei Russen waren zu meiner Zeit noch einige polnische
Adlige in unserem Ostrogg. Mit einigen von ihnen verkehrte ich recht
freundschaftlich und sogar sehr gern; aber leider war mir ein Verkehr
nicht mit allen möglich. Die Besseren von ihnen waren – ich weiß nicht,
was! Allenfalls könnte man sie krank nennen und im höchsten Grade
reserviert und unduldsam. Mit zweien von ihnen sprach ich späterhin
überhaupt nicht mehr. Gebildet waren nur drei: B., M. und der alte Sh.,
der früher irgendwo Professor der Mathematik gewesen war, – ein guter,
freundlicher Mensch, ein großer Sonderling, doch trotz der Bildung ein
äußerst beschränkter Geist. Ganz anders waren M. und B. Mit M. stand ich
mich stets sehr gut. Niemals stritten wir uns, ich achtete ihn, aber ihn
zu lieben, mich ihm anzuschließen – das hätte ich nie vermocht. Er war
ein unendlich mißtrauischer und verbitterter Mensch, der sich jedoch
erstaunlich zu beherrschen wußte. Diese gar zu große Selbstbeherrschung
nun war es gerade, was mir nicht gefiel: man fühlte unwillkürlich, daß
er niemals und vor keinem einzigen Menschen seine Seele ganz aufdecken
würde. Vielleicht irrte ich mich auch. Sonst war er eine starke und
durchaus edle Natur. Diese außergewöhnliche, sogar ein wenig jesuitische
Gewandtheit und Vorsicht im Umgang mit Menschen verriet natürlich seinen
heimlichen, großen Skeptizismus. Und dennoch litt diese Seele
gerade unter ihrer Zweiheit: dem Skeptizismus und dem tiefen,
unerschütterlichen Glauben an einige seiner Überzeugungen und
Hoffnungen. Doch ungeachtet seiner großen Lebenskunst verharrte er die
ganze Zeit in unversöhnlicher Feindschaft mit B. und mit dessen Freunde
T. B. war ein kranker Mensch, jedenfalls zur Schwindsucht geneigt,
reizbar und nervös, doch im Grunde selten gut und sogar großzügig. Seine
Reizbarkeit stieg zuweilen bis zur größten Unduldsamkeit und
Launenhaftigkeit. Ich ertrug seinen Charakter zuletzt nicht mehr und
brach meinen Verkehr mit ihm ab, hörte aber nie auf, ihn zu lieben,
während ich M., mit dem ich mich nie stritt, nie zu lieben vermochte.
Als ich B. die Freundschaft gekündigt hatte, mußte ich auch auf seinen
Freund T. verzichten. (Ich habe von ihm schon im vorhergehenden Kapitel
gesprochen, – er war derselbe, der mich am Tage der Demonstration in die
Küche zurückrief.) Das tat mir nun sehr leid. Dieser T. war freilich ein
ungebildeter Mensch, doch dafür unglaublich gut, mutig, ehrlich – mit
einem Wort, ein prächtiger junger Mann. Der Grund für unser Zerwürfnis
lag einfach darin, daß er seinen Freund B. dermaßen liebte und
hochschätzte, daß er alle, die mit B. die Freundschaft brachen, sogleich
für seine eigenen Feinde hielt. Auch mit M. brach er später B.s wegen.
Übrigens waren sie alle psychisch krank, verbittert, reizbar,
mißtrauisch. Aber das ist ja auch begreiflich – sie hatten es dort sehr
schwer, viel schwerer als wir Russen. Sie waren weit entfernt von ihrer
Heimat und einige von ihnen waren zu langer Zeit verurteilt, zu zehn, zu
zwanzig Jahren. Doch der Hauptgrund ihres Unglücks war, daß sie
unendlich voreingenommen auf ihre ganze Umgebung blickten, in den
übrigen Sträflingen nichts als tierische Roheit sahen und in ihnen
keinen einzigen guten Zug, nichts Menschliches wahrnehmen konnten und
nicht einmal wollten – auf diesen unglücklichen Gesichtspunkt waren sie
durch die Macht der Verhältnisse verwiesen worden. Da ist es denn auch
begreiflich, daß die Qual sie zu ersticken drohte. Zu den Tscherkessen,
den Tataren und Issai Fomitsch waren sie sehr freundlich und
liebenswürdig, alle anderen aber wurden mit Ekel von ihnen gemieden. Nur
der eine Greis aus Starodubowo hatte ihre Achtung erworben.
Bemerkenswert ist dabei, daß kein einziger der russischen Sträflinge
während dieser ganzen Zeit, die ich im Ostrogg verbrachte, sich über
ihre Nation, ihren Glauben oder ihre Denkweise absprechend geäußert
hätte, wie es in unserem einfachen Volk zuweilen bezüglich der
Ausländer, namentlich der Deutschen, vorkommt, allerdings nur äußerst
selten. Übrigens macht man sich auch über die Deutschen bisweilen nur
etwas lustig: der deutsche biedere Bürger hat für den einfachen Russen
etwas überaus Komisches. Mit den polnischen Adligen gingen dagegen die
Sträflinge viel besser um, als mit uns russischen Adligen. Jene aber
schienen das nie bemerken und zugeben zu wollen.

Ich sprach von T. Er hatte, als sie aus ihrem früheren Verbannungsort in
unseren Ostrogg marschiert waren, den schwächlichen, bald völlig
erschöpften B. fast die ganze Zeit getragen. Zuerst waren sie nach U.
verbannt gewesen, wo sie es, nach ihren Worten, gut gehabt hatten, d. h.
viel besser als in unserem Ostrogg. Da hatten sie aber mit anderen
Verbannten, die in einer anderen Stadt lebten, eine Korrespondenz
angeknüpft – eine ganz unschuldige –, worauf die Vorgesetzten es für
nötig befunden hatten, sie unter die scharfen Augen der höheren
Vorgesetzten in unsere Festung zu schicken. Ihr dritter Kamerad war Sh.
Bis zu ihrer Ankunft war M. allein im Ostrogg gewesen. Der wird nicht
wenig in seinem ersten Gefängnisjahr gelitten haben.

Dieser Sh. war derselbe ewig betende Greis, von dem ich schon einmal
gesprochen habe. Alle unsere politischen Verbrecher waren junge Leute,
einige sogar sehr jung; nur Sh. allein hatte die fünfzig bereits
überschritten. Er war ein durchaus ehrlicher, aber doch etwas
eigentümlicher Mensch. B. und T. mochten ihn äußerst wenig, ja sie
sprachen nicht einmal mit ihm, was sie damit begründeten, daß er
eigensinnig und albern sei. Ich weiß nicht, inwieweit sie in diesem Fall
recht hatten. In einem Ostrogg, wo soviel Menschen gegen ihren Willen
zusammengepfercht leben müssen, kann man sich, wie ich glaube, leichter
entzweien und sich gegenseitig hassen, als in der Freiheit. Es kommt
hier gar zu vieles noch hinzu. Freilich war Sh. in der Tat ein ziemlich
stumpfer und vielleicht sogar unangenehmer Mensch. Alle seine anderen
Kameraden waren gleichfalls nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen.
Ich stritt mich zwar nie mit ihm, doch trat ich ihm auch nie näher. Sein
Fach, die Mathematik, schien er allerdings zu kennen. Ich erinnere mich
noch, wie er sich in seiner halbrussischen Sprache vergeblich bemühte,
ein ganz besonderes, von ihm selbst erfundenes astronomisches System zu
erklären. Die anderen Polen hatten mir aber schon gesagt, daß er es auch
einmal veröffentlicht habe, von der wissenschaftlichen Welt jedoch nur
ausgelacht worden sei. Eigentlich glaube ich, daß er geistig nicht ganz
normal war. Er konnte tagelang ununterbrochen knieend beten, wodurch er
sich unter den Sträflingen allgemeine Achtung erworben hatte, die man
ihm noch bis an sein Ende zollte. Er starb an einer schweren Krankheit
in unserem Lazarett – vor meinen Augen. Die Achtung der Sträflinge hatte
er übrigens sogleich nach seiner Ankunft im Ostrogg erworben.

Auf dem Marsch von U. bis in unsere Festung hatte man die Sträflinge
nicht rasiert, sie waren mit struppigen Bärten angekommen, so daß unser
Platzmajor, als man sie ihm so vorgeführt hatte, ob solcher Mißachtung
der Subordination in rasende Wut geraten war.

„Was sind das für Sträflinge?“ soll der Major sofort losgebrüllt haben,
„das sind ja Landstreicher, Räuber!“

Sh., der damals noch schlecht Russisch verstand und geglaubt hatte, daß
man sie frage, was sie sind, Landstreicher oder Räuber, hatte darauf
geantwortet:

„Wir sind keine Landstreicher, wir sind politische Verbrecher.“

„Wa–a–as! Du wirst noch grob! Wirst noch grob?“ brüllte der Major. „Auf
die Hauptwache! Hundert Rutenhiebe, sofort, unverzüglich!!“

Der Greis wurde gezüchtigt. Er streckte sich widerspruchslos hin, biß
die Zähne in den Arm und ertrug die Strafe ohne einen Schrei oder ein
Gestöhn, ohne sich zu rühren. B. und T. hatten inzwischen den Ostrogg
betreten, wo M., der sie beim Tor erwartet hatte, ihnen sogleich um den
Hals gefallen war, obschon er sie bis dahin noch niemals gesehen. Erregt
durch den Empfang auf der Wache, hatten sie ihm von Sh. erzählt. Ich
entsinne mich noch, wie M. mir diesen Augenblick schilderte:

„Ich war außer mir,“ sagte er, „ich wußte nicht, was mit mir geschah,
ich zitterte wie im Fieber, während ich Sh. vor dem Tor erwartete. Er
mußte von der Wache, wo er bestraft wurde, direkt in den Ostrogg kommen.
Da öffnete sich plötzlich das Tor: Sh. trat ein und ging, bleich, mit
blutleeren, bebenden Lippen, ohne den Blick zu erheben, durch die
versammelte Schar der ihn erwartenden Sträflinge, die bereits erfahren
hatten, daß ein Adliger gezüchtigt wurde, – er ging geradeaus in die
Kaserne, ging zu seinem Pritschenplatz, kniete, ohne ein Wort zu sagen,
nieder und begann zu beten. Die Sträflinge waren verwundert und sogar
gerührt ... Als ich diesen Greis sah,“ fuhr M. fort, „der in der Heimat
Weib und Kind zurückgelassen hatte, als ich diesen Greis im Silberhaar,
schmachvoll gezüchtigt, im Gebet auf den Knien sah, – da hielt ich es
nicht aus, ich stürzte hinter die Kaserne und war zwei Stunden lang wie
bewußtlos, ich war wie wahnsinnig ... Die Sträflinge achten ihn seit der
Zeit sogar sehr und gehen stets ehrerbietig mit ihm um. Besonders gefiel
ihnen, daß er während der Züchtigung nicht geschrien hatte.“

Hier muß ich aber, um die Wahrheit nicht in ein schiefes Licht zu
rücken, eine Bemerkung machen: nach diesem einen Fall darf man sich über
die Behandlung der verschickten Adligen, gleichviel ob sie Russen oder
Polen oder sonst wer sind, von seiten der sibirischen Vorgesetzten keine
Vorstellung machen. Dieses Beispiel zeigt nur, daß man bisweilen auch
auf einen schändlichen Menschen stoßen kann, und wenn nun zufällig
dieser Mensch an einem Ostrogg Kommandeur ist, so wird das Leben des
Verbannten, falls dieser ihm aus irgend einem Grunde nicht gewogen ist,
allerdings ein entsetzliches sein. Andererseits aber läßt es sich auch
nicht leugnen, daß in Sibirien die höchsten Vorgesetzten, von denen der
Ton und die ganze Stimmung aller übrigen Kommandeure abhängt, bezüglich
der verbannten Adligen sehr feinfühlig sind, und daß diese gewöhnlich
viel nachsichtiger behandelt werden, als die anderen Sträflinge. Die
Gründe hierfür sind leicht erklärlich: diese höheren Vorgesetzten sind
erstens selbst Adlige, zweitens ist es schon früher oft vorgekommen, daß
ein Adliger sich nicht gutwillig unter die Ruten gestreckt und sich auf
die Exekutoren gestürzt hat. Und drittens – und dieses scheint der
Hauptgrund zu sein – kam schon vor langer Zeit, vor etwa fünfunddreißig
Jahren, eine große Anzahl Adliger nach Sibirien, und diese Verbannten
hatten sich in den dreißig Jahren so zu verhalten gewußt, daß sie die
Sympathie ganz Sibiriens erwarben, und daher blickte denn auch die
Obrigkeit zu meiner Zeit gleichsam aus alter Gewohnheit ganz
unwillkürlich mit anderen Augen auf die adligen Verbannten, als auf die
Sträflinge aus den unteren Volksschichten. Nach ihrem Beispiel hatten
sich auch die niedrigeren Kommandeure mit denselben Augen zu sehen
gewöhnt, da sie eben Auffassung und Ton stets von oben annahmen, ihm
gewissermaßen gehorchten und sich ihm unterordneten. Freilich gab es
auch unter den Kommandeuren welche, die im Geheimen die höheren
Verhaltungsmaßregeln bekrittelten und äußerst zufrieden gewesen wären,
wenn man ihnen erlaubt hätte, nach eigenem Gutdünken zu handeln, was man
denn doch nicht so ganz tat. Ich habe allen Grund, dieses anzunehmen,
und zwar glaube ich es aus folgendem zu ersehen.

Die zweite Klasse der Kátorga, in der auch ich mich befand und die aus
den Festungsgefangenen unter militärischem Kommando gebildet wurde, war
unvergleichlich schwerer, als die beiden anderen Klassen, die dritte
(die Fabrikklasse) und die erste (die Bergwerkklasse). Nicht nur für die
Adligen war sie schwerer, sondern auch für alle anderen Arrestanten:
eben aus dem Grunde, weil das Oberkommando und die ganze Ordnung
dieser Klasse – ausschließlich militärisch und daher den
Arrestanten-Strafkompagnien in Rußland sehr ähnlich war. Das
militärische Oberkommando ist viel strenger, alles ist enger begrenzt,
man ist beständig in Ketten, beständig unter Eskorte, beständig unter
Schloß und Riegel. In den zwei anderen Klassen dagegen ist das alles
nicht so streng. Wenigstens erzählten das unsere Sträflinge, von denen
mehrere die Dinge aus eigener Erfahrung kannten. Sie wären stets mit
Freuden in die erste Klasse eingetreten, die sonst für die schwerste
gehalten wird, und sogar sehr oft gaben sie diesem Wunsch Ausdruck. Von
den Arrestanten-Strafkompagnien in Rußland aber sprachen alle, die in
ihnen gewesen waren, mit wahrem Entsetzen und versicherten uns, daß es
in ganz Rußland keine schwerere Strafe gebe, als in diese
Arrestanten-Strafkompagnien, wie sie in einigen unserer Festungen
bestehen, zu kommen, und daß unser Leben in Sibirien im Vergleich mit
jenem dort geradezu ein Paradies sei. Daher glaube ich mit Recht
annehmen zu dürfen, daß man (wenn man bereits in unserem Ostrogg – trotz
des militärischen Oberkommandos, unter den Augen des Generalgouverneurs
und schließlich angesichts solcher, zuweilen vorkommender Fälle, daß
einige unbeteiligte, doch immerhin offiziöse Personen aus Neid oder aus
Diensteifer heimlich an Ort und Stelle zu denunzieren bereit waren – die
Verbrecher besseren Standes nachsichtiger behandelt, als die
gewöhnlichen) in der ersten und dritten Arrestantenklasse die Adligen
noch viel milder behandelt wird und daß ich nach unserem Ostrogg auch
sehr wohl über das ganze übrige Sibirien urteilen kann. Alle Gerüchte
und Erzählungen, die ich über die Sträflinge der zwei anderen Klassen
gehört habe, bestätigen meine Annahme. In der Tat gingen die
Vorgesetzten mit uns Adligen aufmerksamer und vorsichtiger um.
Erleichterungen in der Arbeit oder Vorzüge in der Verpflegung kamen
natürlich nie vor: wir hatten dieselben Arbeiten, dieselben Fesseln,
dieselben Ketten, – mit einem Wort, äußerlich war alles genau so wie bei
den übrigen. Und es war ja auch nicht gut möglich, Erleichterungen zu
verschaffen. In dieser Stadt gab es damals – in jener _kaum vergangenen
alten_ Zeit – soviel Denunziationen, soviel Intrigen, soviel einander
Gruben grabende Freunde, daß es nur zu begreiflich war, wenn das
Oberkommando Angaben fürchtete. Welch eine Beschuldigung wäre aber
damals furchtbarer gewesen, als daß man mit den Sträflingen adliger
Herkunft Nachsicht übe! So kam es denn, daß jeder Vorgesetzte solche
Nachsicht zu zeigen sich fürchtete und wir ebenso gehalten wurden, wie
alle anderen, – nur die Körperstrafe bildete eine Ausnahme. Man hätte
uns ohne Weiteres züchtigen können, wenn wir es verdient hätten. Das
verlangte die Pflicht und die allgemeine Gleichheit der Sträflinge. Aber
nichtsdestoweniger hätte man uns doch nicht so mir nichts dir nichts
durchgeprügelt. Den anderen dagegen wurde eine solche Behandlung
zuweilen zuteil, namentlich von seiten einiger geringeren Vorgesetzten,
die mit Vorliebe aus eigener Macht Anordnungen trafen und gern sich als
Bevollmächtigte wichtig taten. Wir wußten, daß unser Festungskommandant,
als er den Vorfall mit dem bejahrten Sh. erfahren, sich ernstlich über
den Major geärgert hatte. Man erzählte bei uns, er habe ihm anempfohlen,
sich mit seinen Händen etwas mehr in acht zu nehmen. Ferner wußte man
bei uns auch, daß selbst der Generalgouverneur (der sonst ziemliches
Zutrauen zum Major besaß und ihm vielleicht sogar wohlgeneigt war, da er
in ihm einen guten Befehlsvollstrecker und nicht unbegabten Menschen
sah), nachdem ihm nun dieses eigenmächtige Verfahren zu Ohren gekommen
war, gleichfalls einen Verweis erteilt hatte. Der Major schrieb sich die
Lehre hinter die Ohren. Wie gern er auch zum Beispiel M. etwas angetan
hätte, den er auf Grund der Verleumdungen A–ffs haßte, – so konnte er
ihn doch auf keine Weise züchtigen lassen, obschon er krampfhaft einen
Vorwand suchte. Von der Bestrafung Sh.s erfuhr bald die ganze Stadt, und
die öffentliche Meinung wandte sich scharf gegen den Major. Viele hatten
ihn zur Rede gestellt und ihm sehr unangenehme Vorwürfe gemacht. Ich
entsinne mich jetzt auch wieder meiner ersten Begegnung mit dem
Platzmajor. Uns, d. h. mich und noch einen anderen Adligen, der mit mir
marschierte, hatte man bereits in Tobolsk vor diesem unangenehmen
Menschen gewarnt. Die damals dort angesiedelten Adligen, die schon seit
fünfundzwanzig Jahren in der Verbannung lebten, uns mit großer
Herzlichkeit empfingen, und mit denen wir während der ganzen Zeit, die
wir dort auf dem Transporthof verbrachten, in Beziehung standen, warnten
uns dringlich vor unserem zukünftigen Vorgesetzten und versprachen alles
zu tun, was sie nur könnten, um uns vor seinen Verfolgungen zu sichern.
Und in der Tat, die drei Töchter des Generalgouverneurs, die aus Rußland
hingekommen und damals beim Vater zum Besuch waren, hatten von ihnen
Briefe erhalten und, wie ich glaube, zu unseren Gunsten mit dem Vater
gesprochen. Aber was konnte schließlich der Generalgouverneur tun? Er
hat dem Major vielleicht nur gesagt, er möge etwas rücksichtsvoller mit
uns umgehen. – Ungefähr um drei Uhr nachmittags kamen wir beide in der
Stadt an und die Eskorte führte uns sofort zu unserem Major. Während wir
im Vorzimmer auf ihn warteten, wurde nach dem Unteroffizier in den
Ostrogg geschickt. Kaum war dieser erschienen, als auch der Platzmajor
heraustrat. Sein rotes, finniges und böses Gesicht machte auf uns einen
äußerst unangenehmen Eindruck, – ganz als wäre eine wütende Spinne auf
eine arme Fliege losgestürzt, die sich in ihrem Netz gefangen hat.

„Wie heißt du?“ fragte er meinen Kameraden. Er sprach schnell, schroff,
wie gehackt und wollte augenscheinlich auf uns Eindruck machen.

Mein Freund nannte seinen Namen.

„Und du?“ fuhr er fort, zu mir gewandt. Seine Brillengläser glänzten.

Ich antwortete.

„Unteroffizier! Sofort in den Ostrogg führen, in der Wache nach Zivil
rasieren, unverzüglich, den halben Kopf. Morgen andere Fesseln
anschmieden. Was sind das für Mäntel? Woher habt ihr die erhalten?“
fragte er plötzlich, jetzt erst unsere grauen Kapots mit dem gelben
Kreise auf dem Rücken bemerkend, die man uns in Tobolsk gegeben hatte
und in denen wir vor seinen erlauchten Augen erschienen waren. – „Das
ist eine neue Art! Das ist sicher eine neu eingeführte Form ... die
vorläufig noch projektiert wird ... aus Petersburg ...“ sprach er halb
vor sich hin, indem er zuerst mich, dann meinen Freund hin- und
herdrehte. „Haben sie sonst nichts mitgebracht?“ fragte er plötzlich den
Gendarmen, der mit uns gekommen war.

„Nur eigene Kleider, Euer Gnaden,“ meldete der Gendarm, der sich im Nu
stramm aufgerichtet hatte, fast zusammenzuckend vor Schreck. Alle
kannten den Major, oder hatten von ihm gehört, allen flößte er Furcht
ein.

„Alles ihnen abnehmen. Nur die Wäsche können sie behalten, aber auch nur
die weiße; bunte, falls sie welche haben, konfiszieren. Alles übrige in
der Auktion verkaufen. Das Geld in die Kasse. Der Arrestant hat kein
Eigentum,“ fügte er mit strengem Blick auf uns hinzu. „Nehmt euch in
acht, daß ihr euch gut führt! Daß mir nichts von euch zu Ohren kommt!
Sonst – kör–per–liche Züch–tigung! Für das geringste Vergehen – Hie–be!
...“

Dieser Empfang machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich an jenem
ganzen Abend fast krank war. Allerdings kam auch das noch hinzu, was ich
im Ostrogg sah. Aber von meinem Eintritt habe ich ja schon gesprochen.

Ich sagte vorhin, daß man uns Adligen vor den anderen Sträflingen nicht
die geringste Vergünstigung oder Arbeitserleichterung gewährte oder zu
gewähren wagte. Einmal aber versuchte man es dennoch: B. und ich wurden
ganze drei Monate täglich als Schreiber in die Verwaltungskanzlei
geschickt. Doch das geschah heimlich und war von der Militärverwaltung
veranlaßt worden. Das heißt, es wußten darum freilich auch noch andere,
die es gerade wissen mußten, doch taten sie, als waren sie völlig
ahnungslos. Das geschah noch unter dem Kommandeur G–ff.

Dieser Oberstleutnant G–ff kam uns wie vom Himmel geschickt, blieb aber
nur kurze Zeit bei uns – ein halbes Jahr, wenn ich mich nicht irre, oder
noch weniger – dann kehrte er nach Rußland zurück. Er machte auf alle
Sträflinge einen mächtigen Eindruck: man liebte ihn nicht nur, man
vergötterte ihn förmlich. Wie er es fertigbrachte, vermag ich nicht zu
sagen, aber er eroberte alle Herzen in einem Augenblick. „Ein Vater ist
er uns, ein leiblicher Vater! Jetzt brauchen wir keinen anderen Vater
mehr!“ sagten die Sträflinge von ihm, solange er die Militärabteilung
befehligte. Ich glaube, er war ein großer Damenfreund und echter
Lebemann; als Erscheinung nicht groß von Wuchs, mit dreistem,
selbstbewußtem Blick. Gleichzeitig jedoch war er sehr freundlich gegen
die Sträflinge, fast sogar liebevoll, und er hatte sie auch wirklich wie
ein Vater gern. Weshalb er sie so liebte, weiß ich nicht, jedenfalls
aber konnte er keinen Sträfling sehen oder an sich vorübergehen lassen,
ohne ihm ein freundliches, ermunterndes Wort zu sagen, ohne mit ihm zu
scherzen; und, was die Hauptsache war, es war dabei nicht die leiseste
Spur von Vorgesetztenfreundlichkeit zu sehen, oder auch nur etwas, das
ihre Ungleichheit angedeutet hätte. Er war wie der beste Freund. Doch
trotz dieses instinktiven Demokratismus in ihm, hat sich kein einziger
Sträfling jemals vor ihm etwas zu schulden kommen lassen, sei es durch
Unehrerbietigkeit oder gar Familiarität. Im Gegenteil. Wenn der
Sträfling ihm begegnete, verklärte sich nur sein ganzes Gesicht, und,
die Mütze in der Hand, wartete er lächelnd, bis jener sich ihm näherte.
Und wenn er nun gar mit ihm sprach – so war das ja weit mehr, als wenn
ein anderer ihn reich beschenkt hätte! Es gibt zuweilen so volkstümliche
Leute. Er schaute wie ein kühner Bursche drein und hatte etwas
Aufrichtiges und Mutiges in seinem Gang. „Unser Adler!“ nannten ihn
bisweilen die Sträflinge.

Große Arbeitserleichterungen konnte er ihnen zwar nicht gewähren: er
hatte nur die allgemeinen Arbeiten zu bestimmen, die sowohl unter ihm
wie unter all seinen Vorgängern und Nachfolgern immer ein und dieselben
blieben, und nach der einmal gegebenen Vorschrift ausgeführt werden
mußten. Nur wenn er mitunter einen Trupp bei der Arbeit antraf und sah,
daß die Arbeit bereits beendet war, so schickte er sie früher als vor
dem Trommelzeichen nach Hause. Vor allem gefiel sein Zutrauen zu den
Leuten, das Fehlen kleinlicher Pedanterie und namentlich einiger
kränkender Behandlungsformen, wie sie an manchen Vorgesetzten so
unangenehm waren. Hätte er tausend Rubel verloren, und hätte ein
Sträfling sie gefunden, – so würde er sie ihm unfehlbar wiedergebracht
haben, und wenn er auch der größte Dieb von allen gewesen wäre. Ja, ich
bin überzeugt, daß er es getan hatte. Nun kann man sich denken, wie sehr
es die Sträflinge erregte, als sie eines Tages erfuhren, daß ihr
„Adler-Kommandeur“ sich mit unserem verhaßten Platzmajor tödlich
entzweit hatte. Das war noch im ersten Monat nach seiner Ankunft bei
uns. Unser Major hatte einmal mit ihm im selben Regiment gestanden.
Jetzt hatten sie nach langer Trennung als alte Freunde ihr Wiedersehen
gefeiert und gehörig gezecht. Plötzlich aber waren sie aneinander
geraten. Es war zu einem Streit gekommen und G–ff wurde sein Todfeind.
Es hieß sogar, daß sie bei der Gelegenheit handgemein geworden wären,
was bei dem Major weiter nicht erstaunlich war, da er in der
Betrunkenheit sehr oft tätlich wurde. Als die Sträflinge dieses
erfuhren, kannte ihre Freude keine Grenzen.

„Wie könnte wohl der Achtäugige mit einem solchen Mann in Frieden leben!
Jener ist ein Adler, unser Major aber ist ...“ es folgte gewöhnlich ein
Wort, das für die Wiedergabe nicht ganz geeignet ist. Geradezu
fieberhaft interessierte man sich für den Ausgang der Prügelei, und ich
glaube, wenn das Gerücht von dem stattgefundenen Kampfe sich als unwahr
erwiesen hätte – was es vielleicht auch war –, so hätte dies den
Sträflingen großen Verdruß bereitet.

„Nein, sicherlich hat der Kommandeur ihn verhauen, – er ist kleiner und
gewandter, jener aber soll sich, wie man hört, aus Angst vor ihm unter
das Bett verkrochen haben.“

Bald aber fuhr G–koff fort und der Ostrogg versank wieder in Trübsinn.
Doch waren unsere Offiziere alle sehr sympathisch. Solange ich im
Ostrogg war, erhielten wir drei- oder viermal neue Kommandeure der
Militärabteilung, – „aber solch einen, wie unser Oberstleutnant G–koff
war, werden wir nie wiedersehen; – der war ein Adler, ein Adler und
Verteidiger!“ sagten die Sträflinge.

Dieser G–koff hatte uns Adlige sichtlich gern, und auf ihn war es auch
zurückzuführen, daß man B. und mir in der Kanzlei Arbeit verschaffte.
Nach seiner Abreise arbeiteten wir dort regelmäßig weiter; die Offiziere
verhielten sich alle sehr sympathisch zu uns, namentlich einer von
ihnen. Wir gingen täglich hin, schrieben Aktenstücke ab, unsere
Handschrift verbesserte sich sogar, als plötzlich von oben der Befehl
kam, uns sofort wieder zu unserer früheren Zwangsarbeit zu verwenden: es
hatte jemand bereits Gelegenheit gehabt, zu denunzieren! Übrigens waren
wir ganz froh darüber: diese Kanzleiarbeit war uns beiden mittlerweile
entsetzlich langweilig geworden! Hierauf gingen wir etwa zwei ganze
Jahre fast stets zusammen zu derselben Arbeit, größtenteils in die
Werkstätte. Bei der Arbeit schwatzten wir gewöhnlich; wir sprachen von
unseren Hoffnungen, Überzeugungen ... B. war ein prächtiger Mensch, nur
waren seine Ansichten mitunter recht wunderlich und eigenartig. Es kommt
oft vor, daß bei einer gewissen Art Menschen, sogar sehr klugen
Menschen, vollkommen paradoxe Begriffe sich entwickeln, von denen sie
nicht abzubringen sind. Für diese Begriffe aber hat der Mensch soviel im
Leben gelitten, er hat sie so teuer erkauft, daß es ihm gar zu
schmerzlich, wenn nicht fast unmöglich wäre, sich von ihnen loszureißen.
B. hörte wie unter Schmerzen jeden meiner Widersprüche an und antwortete
mir beißend scharf. Vielleicht war er auch mehr im Recht, als ich – ich
weiß es nicht. Zum Schluß aber gingen wir auseinander, was mir sehr leid
tat und sehr naheging: wir hatten schon soviel miteinander geteilt.

M. wurde mit den Jahren immer finsterer und verschlossener. Der Schmerz
verzehrte ihn. Früher, in der ersten Zeit, die ich im Ostrogg
verbrachte, war er viel mitteilsamer, seine Seele trat doch immerhin
öfter und mehr hervor. Damals, als ich kam, lebte er schon das dritte
Jahr im Ostrogg. Anfangs interessierte er sich für vieles von dem, was
während dieser Jahre in der Welt geschehen war, und von dem er keine
Ahnung hatte. Er fragte mich aus, hörte gespannt zu, regte sich auf. Mit
der Zeit aber fing er an, sich gleichsam zu konzentrieren, sich in sein
Innerstes zurückzuziehen. Die Kohlen bedeckten sich von selbst mit
Asche, seine Verbitterung wuchs.

„^Je hais ces brigands!^“ sagte er oft zu mir mit haßerfülltem Blick auf
die Sträflinge, die ich bereits näher kennen gelernt hatte, und alles
was ich zu deren Gunsten vorbrachte, war vollkommen in den Wind
gesprochen. Er begriff überhaupt nicht, was ich sprach, mitunter aber
gab er mir auch zerstreut recht, doch schon am nächsten Tage sagte er
dann wieder: „^Je hais ces brigands.^“

Mit ihm sprach ich ziemlich oft französisch, was jedoch einen der
Arbeitsaufseher, den Pionier Dranischnikoff, aus unbekanntem
Gedankengang veranlaßte, uns Grützköpfe und Spitzbuben zu nennen. Nur in
einem Fall belebte sich M.: wenn er von seiner Mutter sprach.

„Sie ist alt ... sie ist krank,“ sagte er, „sie liebte mich mehr als
alles auf der Welt, ich aber weiß hier nicht einmal, ob sie lebt oder
tot ist. Wird es doch schon genug für sie gewesen sein, als sie erfahren
mußte, daß ich Spießruten gelaufen bin ...“ M. war nicht adlig und so
hatte man ihn vor seinem Abgang in die Verbannung körperlich bestraft.
Wenn er sich dieser Bestrafung erinnerte, biß er die Zähne zusammen und
blickte angestrengt zur Seite. In der letzten Zeit suchte er immer
häufiger die Einsamkeit. An einem Vormittag kurz vor zwölf wurde er
plötzlich zum Kommandanten unserer Festung befohlen. Dieser trat ihm mit
einem heiteren Lächeln entgegen.

„Nun, M., was hat dir denn heute Nacht geträumt?“ fragte er ihn.

„Ich erschrak,“ erzählte M. später im Ostrogg, „es war mir, als hätte
man mein Herz durchbohrt.“

„Daß ich einen Brief von meiner Mutter erhielt,“ antwortete er.

„Das ist noch zu wenig!“ entgegnete der Kommandant. „Du bist frei! Deine
Mutter hat für dich gebeten ... ihre Bitte ist erhört worden. Hier ist
ihr Brief, und hier ist auch der Entlassungsbefehl. Du wirst den Ostrogg
sofort verlassen.“

Bleich und noch halb besinnungslos kehrte M. zu uns zurück. Wir
beglückwünschten ihn alle. Mit bebenden Händen drückte er unsere Hände.
Auch von den übrigen Sträflingen kamen sehr viele, um ihn zu
beglückwünschen und sie freuten sich über sein Glück.

Er kam in die Kolonie und blieb in unserer Stadt, wo er bald eine
Anstellung erhielt. In der ersten Zeit kam er oft zum Ostrogg und
brachte uns Nachrichten, von denen ihn und uns besonders die politischen
interessierten.

Von den übrigen vier Adligen, also außer M., T., B. und Sh., waren zwei
noch sehr junge Leute, beide nur auf kurze Zeit verschickt, beide wenig
gebildet, dafür aber ehrlich, einfach und offenherzig. Der dritte,
A–tschukoffskij, war beinahe einfältig, an ihm war jedenfalls nichts
weiter bemerkenswert. Und der vierte, ein gewisser B–m, ein schon
bejahrter Mann, machte auf uns alle einen sehr schlechten Eindruck. Ich
weiß nicht, wie er unter die „Politischen“ gekommen war; er selbst
leugnete es, daß er zu ihnen gehöre. Das war ein roher, kleinlicher
Charakter, mit den Angewohnheiten und der Lebensauffassung eines
Krämers, der durch erfeilschte Kopeken reich geworden war. Er war
gänzlich ungebildet und interessierte sich für nichts, außer für sein
Handwerk. Er war nämlich Maler, aber kein gewöhnlicher, sondern ein
unvergleichlicher, unübertroffener! Bald hatten sich auch die
Vorgesetzten von seinem Talent überzeugt, und verwendeten ihn nur noch
zum Anstreichen und „Bemalen“ der Zimmerwände und -decken. In zwei
Jahren hatte er fast alle Dienstwohnungen neu angestrichen. Die
Einwohner zahlten ihm natürlich auch ein Überflüssiges für seine Mühe,
und so lebte er nicht schlecht. Das beste dabei war, daß man mit ihm
zusammen auch seine anderen Kameraden zur selben Arbeit schickte. Von
diesen, die beständig mit ihm zur Arbeit gingen, erlernten zwei das
Handwerk tadellos. Ja, der eine, T–schewskij, malte bald nicht
schlechter als er. Da befahl auch unser Platzmajor, der vom Staate
gleichfalls freie Wohnung hatte, diesen B–m zu sich und trug ihm auf,
alle Wände und Zimmerdecken schön anzumalen. Hier nun gab sich B–m ganz
besondere Mühe; selbst beim Generalgouverneur sollen die Wände nicht so
schön gewesen sein. Das Haus, das der Major bewohnte, war ein
einstöckiges Gebäude, von Holz natürlich, sehr alt, sehr schäbig von
außen; von innen aber wurde es wie ein Palais angestrichen, worüber der
Major entzückt war ... Er rieb sich die Hände vor Vergnügen und sagte
immer wieder, daß er jetzt unbedingt heiraten müsse.

„Wenn man eine solche Wohnung hat, dann geht es nicht anders, dann muß
man heiraten!“ sagte er in allem Ernst.

Mit B–m war er jetzt überaus zufrieden und durch B–m auch mit den beiden
anderen Adligen, die mit diesem bei ihm arbeiteten. Die Arbeit dauerte
einen ganzen Monat. In dieser Zeit änderte der Major seine Meinung über
uns vollständig und verhielt sich von da an sehr gönnerhaft zu allen
Adligen. Ja, eines Tages ging er sogar so weit, daß er plötzlich den
alten Sh. zu sich rufen ließ.

„Sh–kij,“ sagte er, „ich habe dich beleidigt. Ich habe dich unnütz
prügeln lassen, ich weiß es. Jetzt bereue ich es. Begreifst du, was das
heißt? _Ich, ich, ich_ – bereue es!“

Sh. antwortete, daß er es begreife.

„Begreifst du, daß _ich, ich_, dein Vorgesetzter, dich zu mir habe rufen
lassen, um dich um Verzeihung zu bitten! Fühlst du auch die ganze Große
dieser Tat? Wer bist du vor mir? – Ein Wurm! Sogar noch weniger als ein
Wurm: du bist ein Arrestant! Ich aber bin – von Gottes Gnaden[11] ein
Major! Ein Major! Begreifst du auch, was das heißt?“

Sh. antwortete, daß er auch dieses begreife.

„Nun, dann will ich mich jetzt mit dir aussöhnen. Aber fühlst du auch,
fühlst du es auch vollständig, ganz und gar? Bist du überhaupt fähig, zu
begreifen und zu fühlen? Bedenk doch nur: ich, ich, der Major! ...“ u.
s. w.

Sh. erzählte mir selbst die ganze Szene. So schlummerte denn vielleicht
auch in diesem ewig betrunkenen, unsinnigen und unordentlichen Menschen
noch ein menschliches Empfinden. Wenn man seine Begriffe und seine
Entwicklung in Betracht zieht, so kann man ja eine solche Handlung fast
für eine großmütige Tat ansehen. Übrigens wird wohl auch sein
betrunkener Zustand mit die Veranlassung dazu gewesen sein.

Doch sein schöner Traum verwirklichte sich nicht: es kam nicht zur
Heirat, obschon er sich bis zur Beendung des Anstriches völlig dazu
entschlossen hatte. Anstatt vor den Altar kam er vor ein Gericht und
erhielt den Wink, seinen Abschied zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit
wurden dann alle seine alten Sünden aufgedeckt. Früher war er in der
Stadt, wenn ich mich nicht täusche, Polizeimeister gewesen ... Der
Schicksalsschlag traf ihn vollkommen unerwartet. Im Ostrogg freute man
sich unbeschreiblich über seinen Abgang: als die Nachricht kam, wurde
der Tag sofort zum Fest, zum Triumphtage! Man erzählte, der Major habe
wie ein altes Weib geweint und geschrien, doch war jetzt nichts mehr zu
ändern. Er trat aus dem Dienst, verkaufte seine beiden Schimmel und mit
der Zeit sein ganzes Hab und Gut und soll später in Armut gelebt haben.
Wir begegneten ihm einmal: er trug einen schäbigen Überzieher und eine
Mütze mit einer Kokarde. Haßerfüllt blickte er auf den Arrestantentrupp.
Mit seiner ganzen Zaubermacht war es vorüber, seitdem er den Waffenrock
abgelegt hatte: in diesem war er ein Gewitter, ein Gott gewesen; im
Überzieher aber wurde er plötzlich ganz nichtssagend und erinnerte an
einen alten Diener. Es ist wirklich sonderbar, wieviel bei solchen
Menschen die Uniform ausmacht.


                                  IX.

                               Die Flucht

Bald nach der Absetzung unseres Platzmajors erlebten wir große
Veränderungen in unserem Ostrogg. Die Kátorga wurde aufgehoben und an
ihrer Stelle eine Arrestantenkompagnie unter Militärverwaltung
eingeführt, nach dem Muster der russischen Arrestantenkompagnien. Das
bedeutete, daß von nun an keine Verbannten der zweiten Klasse mehr in
unseren Ostrogg kamen, sondern nur noch militärische Sträflinge, also
Leute, die nicht aller Rechte beraubt waren, die Soldaten wie alle
anderen Soldaten waren, nur daß sie sich ein Vergehen hatten zu schulden
kommen lassen, dafür bestraft und zu einer verhältnismäßig kurzen Zeit
verurteilt worden waren (sechs Jahre waren das höchste) und nach ihrem
Austritt aus dem Ostrogg wieder in ihre Bataillone als Gemeine
zurückkehren konnten. Nur diejenigen, welche dann zum zweitenmal etwas
verbrochen hatten, wurden wie früher zu zwanzig Jahren verurteilt.

Wir hatten auch vordem schon eine Militärabteilung gehabt, doch hatte
sie nur deshalb bei uns gelegen, weil man sie sonst nirgendwo hatte
unterbringen können. Jetzt aber wurde der ganze Ostrogg zu einer solchen
Militärabteilung. Doch blieben die früher hierher geschickten
Zwangsarbeiter, die aller Rechte beraubt und gebrandmarkt waren, und
deren eine Kopfhälfte von der Stirn bis zum Nacken rasiert wurde, bis
zum Ablauf ihrer Strafzeit in unserem Ostrogg. Neue dagegen kamen nicht
hinzu, die Zahl der vorhandenen verringerte sich mit jedem Jahr, so daß
nach zehn Jahren der letzte seine Frist im Ostrogg abgebüßt haben würde.
Nur die besondere Abteilung blieb bestehen und in diese wurden nach wie
vor schwere Verbrecher aus dem Militär geschickt – „bis zur Einführung
der schwersten Zwangsarbeiten in Sibirien“. So kam es denn, daß sich das
Ostroggleben für uns genau genommen ohne jede Veränderung fortsetzte:
dieselbe Kost, dieselbe Arbeit, fast auch dieselbe Ordnung, nur das
Oberkommando hatte sich verändert und war komplizierter geworden. Wir
hatten jetzt einen Kompagniechef, einen Stabsoffizier und dann noch vier
Leutnants, die abwechselnd im Ostrogg die Wache bezogen. Die Invaliden
wurden durch zwölf Unteroffiziere und einen Oberaufseher ersetzt. Wir
wurden in Abteilungen zu je zehn Mann eingeteilt, für sie wurden
Gefreite aus den Sträflingen ernannt, natürlich nur nominell, und
selbstverständlich gehörte jetzt auch Akim Akimytsch zu den Gefreiten.
Diese ganze neue Institution sowie der ganze Ostrogg mit allen seinen
Aufsehern und Sträflingen unterstand auch jetzt dem Festungskommandanten
als höchstem Befehlshaber. Und das war schließlich alles.

Natürlich regten sich die Sträflinge anfangs mächtig auf, es wurde viel
über die Neuerungen gesprochen, gestritten, man versuchte, das
bevorstehende zu erraten, die neuen Vorgesetzten zu kritisieren. Als man
aber sah, daß in Wirklichkeit alles beim alten blieb, da beruhigte man
sich im Augenblick und unser Leben nahm wieder seinen alten Gang. Doch
die Hauptsache war, daß man uns von unserem früheren Major erlöst hatte:
alle schienen jetzt aufzuatmen und neuen Mut zu schöpfen. Das
Verschüchterte war verschwunden, ein jeder wußte jetzt, daß er im
Notfall mit seinem Vorgesetzten persönlich sprechen, daß man höchstens
aus Versehen einen Unschuldigen bestrafen konnte. Selbst der Branntwein
wurde bei uns unter genau denselben Bedingungen weiterverkauft, wie
früher, obgleich wir doch jetzt an Stelle der gutmütigen Invaliden
Unteroffiziere hatten. Diese Unteroffiziere waren, wie es sich zeigte,
anständige und vernünftige Leute, die ihre Stellung schließlich ganz gut
begriffen. Einige von ihnen zeigten zu Anfang allerdings die Absicht,
als Vorgesetzte aufzutreten, und glaubten in ihrer Unerfahrenheit, mit
den Arrestanten wie mit Soldaten umgehen zu können. Doch auch sie
begriffen bald, daß es sich hier um etwas anderes handelte. Anderen, die
es nicht sobald begreifen wollten, wurde der Standpunkt von den
Sträflingen selbst klargemacht. Mitunter geriet man sogar ziemlich
scharf aneinander: man verleitete z. B. einen Unteroffizier zum
Mittrinken, machte ihn trunken, und nachher „erinnerte“ man ihn daran –
natürlich auf eigene Art –, daß er mit ihnen gezecht hatte und ...
folglich ... Es endete damit, daß die Unteroffiziere sich gleichgültig
zu dem Branntweinverkauf verhielten, oder richtiger, sich bemühten, gar
nicht zu sehen, wie man die Branntweinschläuche durchschmuggelte und
verkaufte. Ja schließlich gingen auch sie, ganz wie früher die
Invaliden, auf den Markt und kauften für die Sträflinge Semmeln,
Rindfleisch und was diese sonst noch brauchten, – alles, was sie ohne
große Verantwortung ihnen verschaffen konnten. Aus welchem Grunde diese
ganze Neuerung eingeführt worden war, vermag ich nicht zu sagen. Es
geschah dies in den letzten Jahren meiner Strafzeit. Zwei Jahre mußte
ich noch unter den neuen Verhältnissen im Ostrogg zubringen ...

Ich denke natürlich nicht daran, alles aus diesem Leben im Ostrogg, von
jedem einzelnen Jahr zu berichten. Wollte ich der Reihe nach alles
erzählen, was ich dort in der Zeit gesehen, erlebt und empfunden habe,
so müßte ich drei-, wenn nicht viermal soviel schreiben, als ich bis
jetzt schon geschrieben habe. Und eine solche Beschreibung würde
schließlich unwillkürlich eintönig wirken. Alle meine Erlebnisse würden
doch zu sehr auf einen Ton gestimmt sein, namentlich wenn der Leser nach
dem bereits Geschriebenen sich schon ein einigermaßen richtiges Bild von
dem Leben unserer sibirischen Sträflinge der zweiten Klasse gemacht hat.
Ich wollte unseren ganzen Ostrogg und alles, was ich in diesen Jahren
dort durchlebt habe, in einem anschaulichen und möglichst klaren Bilde
zeigen, doch ob es mir auch gelungen ist – das weiß ich nicht.
Vielleicht steht es nicht mir zu, darüber zu urteilen. Doch wie dem auch
sei, jedenfalls glaube ich, daß ich hiermit schließen kann; zudem
überkommt mich selbst in der Erinnerung an jenes Leben die alte Qual.
Und dann – wie könnte ich mich jetzt noch aller Einzelheiten in der
richtigen Reihenfolge entsinnen? Die späteren Jahre sind in meinem
Gedächtnis fast wie ausgelöscht. Vieles habe ich sicherlich ganz
vergessen. Ich entsinne mich nur noch, daß alle diese Jahre, die im
wesentlichen einander so ähnlich waren, daß man sie kaum unterscheiden
konnte, träge und langweilig vorüberzogen. Ich weiß nur noch, daß diese
langen, langweiligen Tage so einförmig waren und so langsam vergingen,
wie nach einem Regen das Wasser vom Dach in langsamen Tropfen
herabtropft. Ich weiß noch, daß nur der leidenschaftliche Wunsch nach
Auferstehung, nach Erneuerung, nach neuem Leben mich im Warten stärkte
und mich noch hoffen ließ. Und schließlich erstarkte ich: ich wartete,
ich zählte jeden Tag, und wenn ihrer auch noch Tausende nachblieben, so
zählte ich doch mit Wonne jeden einzelnen ab, begleitete, begrub ihn,
und freute mich beim Anbruch des neuen Tages, daß mir jetzt nicht mehr
tausend, sondern nur noch neunhundertneunundneunzig bevorstanden. Ich
weiß noch, daß ich in dieser ganzen Zeit trotz der Hunderte von
Kameraden, stets einsam war, und daß ich zum Schluß diese Einsamkeit
lieb gewann. In dieser geistigen Einsamkeit durchlebte ich von neuem
mein ganzes Leben, ich untersuchte alles bis zur letzten Einzelheit in
ihm, ich dachte über alles und jedes nach, ich kritisierte meine ganze
Vergangenheit, hielt streng und unerbittlich über mich selbst Gericht,
und in mancher Stunde segnete ich die Vorsehung dafür, daß sie mir diese
Einsamkeit geschickt hatte, ohne die ich niemals zu diesem Gericht über
mich selbst gekommen wäre, zu dieser strengen Kritik meines früheren
Lebens. Und mit welchen Hoffnungen füllte sich mein Herz doch damals!
Ich wollte, ich beschloß, ich schwor mir, daß es in meinem neuen Leben
nicht mehr jene Fehler, jene Fehltritte geben sollte, die früher von mir
begangen worden waren. Ich entwarf ein vollständiges Programm für mein
zukünftiges Leben und ich nahm mir fest vor, ihm treu zu folgen. Ein
blinder Glaube war in mir, daß ich das alles erfüllen würde und auch
erfüllen könnte ... Ich erwartete sehnsüchtig die Freiheit, ich rief sie
schneller herbei: ich wollte mich von neuem erproben, im neuen Kampf.
Bisweilen ergriff mich eine krampfhafte Ungeduld ... Doch ist es mir
schmerzlich, jetzt an meinen Seelenzustand in jener Zeit zu denken.
Natürlich geht das nur mich allein an ... Ich habe es ja nur
geschrieben, weil ein jeder es begreifen und wohl dasselbe durchmachen
wird, der in der Blüte seiner Kraft auf Jahre in ein Gefängnis muß.

Doch wozu davon reden! ... Es ist besser, ich erzähle noch etwas, um
nicht gar so schroff abzuschließen.

Es fällt mir soeben ein, daß man ja verwundert fragen könnte, ob denn
niemand entflohen ist oder niemand in dieser ganzen Zeit wenigstens
einen Fluchtversuch gemacht hat? Ich habe schon gesagt, daß ein
Sträfling, der zwei oder drei Jahre bereits im Ostrogg gewesen ist,
diese Zeit unwillkürlich zu schätzen beginnt und zu der Ansicht kommt,
daß es denn doch klüger ist, auch die anderen Jahre ohne Scherereien,
ohne Wagnisse zu verbüßen und dann gesetzmäßiger Kolonist zu werden.
Doch diese Berechnung hat nur einer, der nicht zu sehr langer Strafzeit
verurteilt ist. Ein zu vielen Jahren Verurteilter dagegen ist fast immer
geneigt, das Wagnis zu versuchen ... Nur schien es bei uns eben nicht
Sitte zu sein, zu entfliehen. Ob man nun zu ängstlich dazu war, oder ob
die militärische Aufsicht gar zu streng oder die Lage unserer Stadt
ungeeignet schien (auf der einen Seite die nackte Steppe, auf der
anderen die Wälder erst in ziemlicher Entfernung) – das ist schwer zu
sagen. Ich glaube, alle diese Gründe wirkten zusammen, und so verging
ihnen die Lust dazu. Es war bei uns tatsächlich ziemlich schwer, zu
entfliehen. Aber dennoch geschah es einmal: zwei von uns wagten es; sie
waren beide zu vielen Jahren verurteilt ...

Nach dem Abgang unseres Majors war A–ff – der für ihn im Ostrogg
spioniert hatte – völlig allein und seines Gönners beraubt. Er war ein
noch junger Mensch, doch sein Charakter festigte sich mit den Jahren und
wurde stärker, bestimmter. Überhaupt war er ein dreister, entschlossener
und sogar reiflich überlegender Mensch. Wenn er auch fortfuhr, bei uns
zu spionieren, und sicherlich mit verschiedenen lichtscheuen Dingen
Handel getrieben haben würde, wenn man ihn wieder in Freiheit gesetzt
hätte, so ist es doch anzunehmen, daß er jetzt nicht mehr so dumm und
unbedachtsam hereingefallen wäre, wie zum erstenmal, als er für seine
Dummheit in den Ostrogg gekommen war. Ich glaube, er hatte sich bei uns
mittlerweile im Ausstellen falscher Pässe geübt; doch will ich es nicht
gar zu positiv behaupten: ich habe es nur von den anderen Sträflingen
erzählen gehört. Man sagt, er habe sich darin schon damals geübt, als er
zum Platzmajor ging, und natürlich wird er daraus den größtmöglichen
Nutzen gezogen haben. Jedenfalls war er ein Mensch, der sich zu allem
entschließen konnte, um sein „Schicksal zu wechseln“. Ich hatte
Gelegenheit, ihn gründlich kennen zu lernen: sein Zynismus ging bis zur
empörendsten Frechheit, bis zum kältesten Spott und erregte in mir
unüberwindlichen Ekel. Ich glaube, wenn er einen Schluck Branntwein
hätte trinken wollen, dieser aber nicht anders als durch die Ermordung
eines Menschen zu erlangen gewesen wäre, so hätte er unfehlbar diesen
Menschen erschlagen – wenn es sich heimlich tun ließ, so daß niemand
etwas davon erfuhr. Im Ostrogg hatte er das Berechnen gelernt.

Auf diesen Menschen nun hatte der Sträfling der besonderen Abteilung
Kulikoff seine Aufmerksamkeit gelenkt.

Von diesem Kulikoff habe ich schon mehrmals gesprochen. Er war nicht
mehr jung, doch leidenschaftlich, zäh, stark und erfreute sich
verschiedener außerordentlicher Fähigkeiten. Es stak viel Kraft in ihm
und er wollte unbedingt noch einmal in Freiheit „leben“. Leute seines
Schlages wollen noch im höchsten Alter „leben“. Wenn ich mich darüber
gewundert hätte, daß bei uns niemand einen Fluchtversuch machte, so
hätte ich dabei zuerst wohl an Kulikoff gedacht. Und richtig: es war
Kulikoff, der sich dazu entschloß. Wer von beiden den größeren Einfluß
auf den anderen besaß – A–ff auf Kulikoff oder dieser auf ihn? – vermag
ich nicht zu sagen, jedenfalls aber waren beide einander wert und
eigneten sich vorzüglich zur Ausführung ihrer Idee. Sehr bald hatten sie
sich angefreundet. Ich glaube, Kulikoff hatte darauf gerechnet, daß A–ff
die falschen Pässe anfertigen würde. A–ff war adlig, gehörte zur guten
Gesellschaft – das verhieß eine gewisse Abwechselung für die zukünftigen
Abenteuer. Wenn man sich nur erst nach Rußland durchschlagen könnte! Wer
weiß es, wie sie sich verabredet und welche Hoffnungen sie gehabt haben;
sicherlich aber gingen diese Hoffnungen über den Horizont der
gewöhnlichen sibirischen Landstreicher hinaus. Kulikoff war ein
gebotener Schauspieler, er konnte viele und die verschiedensten Rollen
im Leben spielen, er konnte mit Recht auf vieles hoffen, zum mindesten
auf Abenteuerlichkeit in seinem Leben. Solche Leute mußten sich im
Ostrogg unwillkürlich wie lebendig begraben fühlen. Und so verabredeten
sich die zwei, zu entfliehen.

Nun war es aber unmöglich, die Flucht ohne einen Eskortesoldaten
auszuführen. Es hieß also, einen Soldaten überreden.

In einem der Bataillone, die in der Festung lagen, diente ein Pole, ein
energischer Mensch, der eigentlich ein besseres Schicksal verdient
hatte, nicht mehr jung, ernst und tapfer. In der Jugend war er sogleich
nach seiner Ankunft in Sibirien aus Heimweh entflohen. Man hatte ihn
wieder eingefangen, bestraft und auf zwei Jahre in die Strafkompagnie
gesteckt. Als er dann wieder ins Bataillon zurückgekehrt war, hatte er
sich bedacht und seine Zeit gewissenhaft abzudienen begonnen. Dafür war
er bald zum Gefreiten befördert worden. Er war ein ehrgeiziger,
selbstbewußter Charakter: er blickte und sprach wie einer, der seinen
eigenen Wert kennt. Ich sah ihn ziemlich oft unter unseren
Eskortesoldaten und auch die Polen hatten mir schon einiges von ihm
erzählt. Es schien mir, daß sein früheres Heimweh sich in ihm mit der
Zeit in versteckten, dumpfen, ewigen Haß verwandelt hatte. Dieser Mensch
konnte sich gleichfalls zu allem entschließen, und Kulikoff täuschte
sich nicht, wenn er ihn zum Spießgesellen erwählte. Sein Familienname
war Koller. Sie verabredeten sich alle drei und bestimmten auch den Tag
dazu. Es war im Juni in der heißen Zeit. Das Klima Sibiriens ist
ziemlich gleichmäßig: im Sommer ist das Wetter fast unveränderlich heiß,
was ja dem Landstreicher sehr zustatten kommt. Natürlich konnten sie
nicht direkt aus der Festung entfliehen: die ganze Stadt liegt gänzlich
frei, ist von allen Seiten offen. Die Wälder beginnen erst in einiger
Entfernung, die für den Flüchtling immerhin ziemlich groß ist. Ferner
mußten sie sich erst umkleiden und zu dem Zweck auf unauffällige Weise
in die Vorstadt gelangen, wo Kulikoff schon seit langer Zeit einen
Zufluchtsort hatte. Ich weiß nicht einmal, ob ihre Freunde dort in der
Vorstadt in das Geheimnis eingeweiht waren. Es ist freilich anzunehmen,
daß sie es waren, obgleich es späterhin nicht ganz zu erweisen war. In
jenem Jahr hatte in einem Winkel der Vorstadt ein junges und recht
hübsches Mädchen, das Wanjka-Tantka genannt wurde, eine besondere
Betätigung begonnen und berechtigte zu großen Hoffnungen, die sie in der
Folge auch teilweise erfüllte. Sie wurde „die Flamme“ genannt. Wie mir
scheint, hatte auch sie hier ihre Hand mit im Spiel, denn Kulikoff war
von ihr schon ein ganzes Jahr lang geplündert worden.

Unsere beiden Flüchtlinge verließen an einem Morgen wie gewöhnlich den
Ostrogg, um sich zur Arbeit zu begeben, hatten es jedoch so
eingerichtet, daß man sie mit dem Sträfling Schilkin, einem Ofensetzer
und Stuckateur, in eine leerstehende Bataillonskaserne schickte, aus der
Soldaten vor längerer Zeit ins Manöver ausgezogen waren. A–ff und
Kulikoff wurden mit Schilkin als Handlanger mitgeschickt. Koller stellte
sich zu ihnen als Eskorte; da aber drei Sträflinge zwei Mann als
Bedeckung erforderten, so wurde dem Koller, als altem Soldaten und
Gefreiten, auf dessen Vorschlag gern nur ein junger Rekrut mitgegeben,
damit dieser das Eskortieren und Bewachen lerne. Daraus ersieht man,
einen wie ungeheuren Einfluß unsere Flüchtlinge auf Koller gehabt haben
müssen, wenn er ihnen aufs Wort geglaubt und sich nach langjährigem und
in der letzten Zeit erfolgreichem Dienst, als kluger, solider und
überlegungsfähiger Mensch der er war, entschlossen hatte, ihnen zu
folgen.

Um sechs Uhr morgens langten sie in der Kaserne an. Außer ihnen war dort
niemand. Nachdem sie ungefähr eine Stunde gearbeitet hatten, sagten
Kulikoff und A–ff dem Schilkin, daß sie in die Werkstätte gehen würden,
erstens um dort jemand zu sprechen, und zweitens um bei der Gelegenheit
auch noch ein Werkzeug von dort mitzunehmen, das ihnen hier fehlte. Mit
Schilkin mußte man schlau umgehen und so natürlich als möglich. Er war
Moskauer, Ofensetzer von Beruf, ein Typ der Moskauer Kleinbürger,
schlau, hinterlistig, klug und wenig gesprächig. Äußerlich war er ein
schwächliches und ausgemergeltes Kerlchen. Man sollte meinen, daß die
Natur ihn dazu bestimmt hatte, bis an sein Lebensende in Rock und Weste
nach Moskauer Art zu gehen, doch siehe, das Schicksal hatte es anders
gewollt, und er hatte sich nach langen Irrfahrten bei uns in der
besonderen Abteilung auf ewig niedergelassen, als einer der größten
militärischen Verbrecher. Womit er sich diese Laufbahn verdient hatte,
ist mir unbekannt; eine besondere Unzufriedenheit mit ihr ist mir jedoch
nie an ihm aufgefallen. Er führte sich ruhig und gleichmäßig auf, und
betrank er sich zuweilen auch wie ein Schuster, so benahm er sich doch
selbst im Rausch noch gut. Er wußte natürlich nichts von dem Vorhaben
der anderen, doch mußten sie vorsichtig sein, denn er hatte scharfe
Augen. Es versteht sich wohl von selber, daß Kulikoff ihm durch einen
Wink zu verstehen gab, weshalb sie eigentlich gingen: doch nur um den
Branntwein, der schon seit gestern dort verborgen sei, abzuholen! Das
rührte Schilkin: er ließ sie ohne jeden Argwohn fortgehen und blieb mit
dem jungen Rekruten zurück, Kulikoff, A–ff und Koller jedoch begaben
sich geradenwegs in die Vorstadt.

Es verging eine halbe Stunde: sie kehrten nicht zurück. Das machte
Schilkin plötzlich stutzig und er begann nachzudenken. Jetzt entsann er
sich, daß Kulikoff bei auffallend guter Laune gewesen war und A–ff
zweimal mit ihm geflüstert hatte, wenigstens hatten sie sich beide
wiederholt zugeblinzelt, – das hatte er bemerkt und dessen entsann er
sich jetzt deutlich. Auch Koller war anders gewesen als sonst: warum
hatte er zum Beispiel vor dem Fortgehen dem Rekruten eine solche Predigt
gehalten: was er in seiner, Kollers, Abwesenheit zu tun habe? Das war
zum mindesten von Koller etwas unnatürlich. Mit einem Wort, je mehr
Schilkin sich die Sachlage vergegenwärtigte, um so verdächtiger erschien
sie ihm. Inzwischen verging die Zeit, die drei aber kehrten noch immer
nicht zurück, und Schilkins Unruhe wuchs mit jeder Minute ... Er begriff
nur zu gut, wieviel er dabei selbst zu fürchten hatte, denn auf ihn
konnte sehr leicht der Verdacht der Vorgesetzten fallen. Man konnte
denken, daß er die Kameraden wissentlich habe entlaufen lassen, nach
gemeinsamer Abmachung, und daß dieser Verdacht, wenn er nicht sofort von
dem Vorgefallenen Mitteilung machte, noch an Wahrscheinlichkeit gewinnen
würde. Er durfte also keine Zeit verlieren. Jetzt erinnerte er sich
auch, daß Kulikoff und A–ff in der letzten Zeit ganz besonders eng
miteinander befreundet gewesen, daß sie oft die Köpfe zusammengesteckt
und getuschelt hatten, und fern von allen anderen hinter den Kasernen
hin- und hergegangen waren. Ja, es fiel ihm sogar ein, daß er schon
früher sich etwas in Bezug auf die beiden gedacht hatte ... Forschend
blickte er auf seinen Eskortesoldaten: der stand, auf sein Gewehr
gestützt, gähnte und reinigte sich in der unschuldigsten Weise mit dem
Finger die Nase, so daß Schilkin ihn nicht einmal der Mitteilung seiner
Gedanken für würdig hielt, sondern dem Burschen einfach befahl, ihm in
die Militärwerkstätte zu folgen. Dort mußte er sich erkundigen, ob sie
dagewesen waren. Er ging hin, fragte, doch niemand hatte sie dort
gesehen. Jetzt gab es für Schilkin keinen Zweifel mehr.

„Wären sie nur in die Vorstadt gegangen,“ dachte er, „um dort zu trinken
und sich zu amüsieren, wie Kulikoff das zuweilen tut, so hätten sie sich
doch nicht unter einem falschen Vorwand aus dem Staube gemacht. Dann
hätten sie es mir doch gesagt!“

So verließ denn Schilkin die Werkstätte und begab sich – nicht zu seiner
Arbeit zurück, sondern direkt in den Ostrogg.

Es war schon fast neun Uhr, als er beim Feldwebel erschien und diesem
meldete, was vorgefallen war. Der Feldwebel erschrak und wollte ihm
zuerst kaum glauben. Schilkin hatte es ihm allerdings nur als Verdacht,
als Möglichkeit mitgeteilt. Dann aber eilte der Feldwebel doch zum
Major, der Major sofort zum Festungskommandanten, und nach einer
Viertelstunde waren alle notwendigen Maßregeln getroffen. Der
Generalgouverneur wurde gleichfalls benachrichtigt. Es waren wichtige
Verbrecher und man konnte sich ihretwegen aus Petersburg viele
Unannehmlichkeiten holen.

A–ff wurde zu den „Politischen“ gerechnet – obgleich er doch nur andere
Politische anzuzeigen versucht hatte –, und Kulikoff gehörte zur
besonderen Abteilung, war also ein „Erzverbrecher“, und dazu noch ein
militärischer. Bis dahin war es noch nie vorgekommen, daß jemand aus der
besonderen Abteilung entflohen wäre. Nun kam noch hinzu, daß nach der
Vorschrift jeder Arrestant der „besonderen“ von zwei Soldaten begleitet
werden mußte, oder wenn ihrer mehr waren, von je einem – diese
Vorschrift war aber im vorliegenden Fall nicht eingehalten worden. Kurz,
die Sache war sehr unangenehm. Man sandte sofort reitende Boten in alle
umliegenden Dörfer, Kosaken wurden zur Verfolgung ausgesandt, man
schrieb an alle benachbarten Kreise und Gouvernements – mit einem Wort,
man war sehr besorgt und tat sein Möglichstes.

Währenddessen herrschte bei uns im Ostrogg eine Aufregung anderer Art.
Die Sträflinge erfuhren, je nachdem, wie sie von der Arbeit
zurückkehrten, sogleich das große Ereignis. Die Kunde davon hatte sich
schon im ganzen Ostrogg verbreitet, und alle hatten sie mit einer
ungeheuren, heimlichen Freude vernommen. Bei jedem schien das Herz zu
erbeben ... Abgesehen davon, daß dieser Zwischenfall die Monotonie des
Ostrogglebens unterbrach, fand auch die Flucht, und noch dazu eine
solche Flucht, in jeder Seele einen vertrauten Widerhall – in allen
Herzen regte sich so etwas wie Hoffnung, Verwegenheit, da doch jetzt die
Möglichkeit, „sein Schicksal zu wechseln“, durch sie bewiesen war!

„Aber es _sind_ doch zwei entflohen, warum soll man es denn nicht
können! ...“ Und ein jeder wurde bei diesem Gedanken mutiger und blickte
herausfordernd die anderen an. Wenigstens wurden alle plötzlich ungemein
stolz, und sogar auf die Unteroffiziere blickte man jetzt merklich von
oben herab. Natürlich erschienen sofort alle Offiziere, sogar der
Festungskommandant kam angefahren. Unsere Sträflinge aber benahmen sich
sehr selbstbewußt und schauten fast mit einer gewissen Verachtung, mit
einem schweigsamen, strengen Ernst drein, als hätten sie damit sagen
wollen:

„Wir verstehen eine Sache anzufassen!“

Man hatte selbstverständlich einen allgemeinen Besuch der Vorgesetzten
und eine peinliche Durchsuchung vorausgesehen, und daher alles Verbotene
schnell und sorgfältig versteckt. Man wußte, daß Vorgesetzte in solchen
Fällen hinterher sehr klug zu sein pflegen. Und so geschah es auch:
alles wurde durchwühlt, durchsucht, und das Ergebnis war – daß man
nichts fand. Zur Nachmittagsarbeit wurden die Sträflinge unter
verstärkter Eskorte ausgeschickt. Am Abend kamen die Wachthabenden alle
Augenblicke in den Ostrogg. Die Sträflinge wurden einmal mehr als
gewöhnlich gezählt; und bei der Gelegenheit verzählte man sich dann noch
einmal. Dadurch entstand große Verwirrung; schließlich wurden alle auf
den Hof hinausgetrieben und von neuem gezählt. Und dann wurde in jeder
Kaserne noch einmal gezählt ... Kurz, es gab viel Scherereien.

Aber die Sträflinge fragten nicht viel danach, alle blickten sie
auffallend selbstbewußt drein, und wie es in solchen Fällen gewöhnlich
geschah, benahmen sie sich an diesem ganzen Abend außerordentlich
gesetzt – einfach musterhaft! Jede Miene drückte aus: „Ihr könnt uns
doch nichts anhaben!“

Die Vorgesetzten glaubten natürlich, daß sich im Ostrogg noch
Spießgesellen oder wenigstens Mitwisser befanden, und so ward den
Unteroffizieren befohlen, die Ohren offen zu halten. Doch die Sträflinge
machten sich darüber nur lustig.

„Das ist doch kein Unternehmen, bei dem man Mitwisser hinterläßt!“

„So etwas wird vorsichtig und im stillen gemacht, nicht aber an die
große Glocke gehängt.“

„Und sind denn Kulikoff und A–ff Leute, die ihre Spur nicht zu
verwischen verstehen? Sie haben es meisterhaft ausgeführt, alles klappt
bei ihnen! Diese Jungen können was, die gehen selbst durch feste Türen!“

Mit einem Wort – Kulikoff und A–ff waren die Helden des Tages, alle
schienen förmlich stolz auf sie zu sein. Wußte man doch, daß die
Erinnerung an ihre Tat bis zu den fernsten Nachkommen der Zwangsarbeiter
fortbestehen, ja daß sie den ganzen Ostrogg überleben würde!

„Ein meisterhafter Streich!“ sagten die einen.

„Da haben sie nun immer geglaubt, daß von hier niemand entfliehen würde!
Da haben sie’s jetzt, man ist _doch_ entflohen! ...“ sagten andere.

„Entflohen!“ rief ein dritter aus, und blickte sich mit einer gewissen
Autorität im Kreise um.

„Aber _wer_ ist denn entflohen! ... Etwa so einer wie du?“

Zu jeder anderen Zeit würde der Sträfling, an den diese verächtlichen
Worte gerichtet waren, unbedingt seine Ehre verteidigt haben. Diesmal
aber schwieg er bescheiden.

„Es ist ja wahr, nicht alle sind wie Kulikoff und A–ff. Zeig erst, wer
du bist ...“

„Nein, wirklich, Brüder, wozu leben wir eigentlich hier?“ unterbricht
das Schweigen ein vierter, der ruhig am Küchenfenster sitzt, die Wange
in die Hand stützt und, mit einem innerlich selbstzufriedenen Gefühl,
etwas singend spricht. „Was tun wir hier? Wir leben, ohne Menschen zu
sein, wir sind begraben, ohne gestorben zu sein ...“ und er seufzt.

„Das geht nicht so einfach ... Das kann man nicht wie einen Stiefel vom
Fuß abziehen. Was seufzest du?“

„Aber da haben wir doch Kulikoff ...“ mischt sich ein Heißsporn ein, ein
junger Gelbschnabel.

„Kulikoff!!“ ruft sofort ein anderer mit verächtlichem Blick auf den
dummen Milchbart. – „Kulikoff!!“

Das heißt soviel als: gibt es denn viele Kulikoffs?

„Nun, und auch A–ff, Brüder, ist doch ein gewandter Junge, weiß der
Teufel!“

„Ha! der krempelt selbst den Kulikoff zwischen den Fingern um!“

„Wer weiß, wie weit sie jetzt schon sind, – was meint ihr?“

Und sofort begann man, über die Frage zu sprechen, wie weit sie wohl bis
jetzt gekommen sein mochten. In welcher Richtung mochten sie sich
entfernt haben? Welcher Weg wäre der beste? Welches Dorf das nächste?

Einige kannten die Umgegend, ihnen nun hörte man mit Interesse zu. Man
sprach auch von den Einwohnern der benachbarten Dörfer und meinte, daß
sie nicht sehr „günstig“ seien. In der Nähe der Stadt sei das Landvolk
zu gerieben. Die würden den Flüchtlingen keinen Beistand leisten,
sondern sie einfangen und ausliefern.

„Mit diesem Bauernvolk, Brüder, ist in hiesiger Gegend nichts zu wollen:
echte Bauern.“

„Dumm.“

„Ein Sibirier ist nicht dumm. Sieh dich nur vor, daß er dich nicht
totschlägt.“

„Nun ja, aber unsere ...“

„Versteht sich, hier handelt es sich doch nur darum, wer dem anderen
über ist. Auch die Unsrigen sind nicht dumm.“

„Nun, wenn wir nicht sterben, werden wir wohl noch von ihnen hören.“

„Was, glaubst du, daß man sie fangen wird?“

„Ich glaube, daß man sie nie im Leben fängt!“ meint ein Hitzkopf und
schlägt mit der Faust auf den Tisch.

„Hm! Es kommt darauf an.“

„Ich aber, Brüder, denke,“ mischt sich Skuratoff ein, „daß man mich,
wenn ich Landstreicher wäre, nie und nimmer fangen würde!“

„Jawohl, dich!“

Gelächter erschallt. Einige aber stellen sich, als wollten sie nichts
hören.

Skuratoff ist schon in seinem Element.

„Nie und nimmer würde man mich fangen!“ bekräftigt er energisch. „Ich,
Brüder, ich habe das schon oft bei mir gedacht und mich über mich selber
gewundert: ich glaube, ich würde durch jeden Spalt kriechen; aber fangen
würden sie mich nicht.“

„Hab keine Bange: wirst schon hungrig werden und den Bauer um Brot
betteln.“

Allgemeines Gelächter.

„Brot? – Du lügst!“

„Was schnatterst du da! Du hast ja doch selbst mit Onkel Wassei den
Kuhtod erschlagen[12] und bist dafür hierher gekommen.“

Das Gelächter verstärkt sich. Die Ernsten blicken mit größerem Unwillen
drein.

„Das lügst du!“ schreit Skuratoff, „das hat dir Mikitka von mir
vorgelogen, und nicht einmal von mir, sondern von Wasjka, ich aber wurde
so mit hineingezogen! Ich bin Moskauer und von Kindesbeinen an in der
Landstreicherei bewandert. Als mir unser Unterdiakon noch das Lesen
beibrachte, zog er mich bisweilen schmerzhaft am Ohr: sag, schrie er,
‚erbarme dich mein, Herr, in deiner großen Barmherzigkeit‘, und so
weiter, – ich aber sagte: ‚und führe mich auf die Polizei, Herr, in
deiner großen Barmherzigkeit‘, und so weiter ... Und das war so meine
Handlungsweise von Kindesbeinen an.“

Wieder lachten alle. Das aber war ja alles, was Skuratoff wünschte. Es
war ihm ganz unmöglich, keinen Unsinn zu schwatzen. Doch bald hörte man
nicht mehr auf sein Geschwätz und wandte sich wieder ernsten Gesprächen
zu. Es redeten mehr die Alten und die Sachkenner. Die Jüngeren und
Bescheidenen freuten sich nur, mit den Blicken an ihnen hängend, und
streckten die Köpfe vor, um ihnen zuzuhören. Es hatte sich eine große
Versammlung in der Küche gebildet. Unteroffiziere waren natürlich nicht
zugegen, sonst hätte man nicht so offen gesprochen. Unter den besonders
freudigen Gesichtern bemerkte ich einen Tataren, Mametka mit Namen, eine
äußerst komische Erscheinung mit braunem Gesicht und breiten
Backenknochen. Er sprach fast überhaupt nicht russisch und verstand auch
nicht, was man sprach, steckte aber dennoch seine Nase in den Kreis der
Zuhörer und hörte, hörte mit wahrer Wonne zu.

„Nun, was, Mametka, jakschí?“ fragte ihn der von allen verlassene
Skuratoff, ob es ihm gefiele.

„Jakschí! Uch, jakschí!“ antwortete sofort belebt und Skuratoff mit
seinem komischen Kopf eifrig zunickend Mametka: „Jakschí!“

„Man wird sie doch nicht einfangen? Jok?“

„Jok, jok!“ Und Mametka nickte wieder eifrig mit dem Kopfe und bewegte
diesmal sogar die Arme dazu.

„Also es bleibt dabei, die Sache ist erledigt und abgetan?“

„Ja, ja, jakschí!“ bestätigte Mametka wieder kopfnickend.

„Nun, dann also jakschí!“

Und Skuratoff geht, nach einem geschickten Schlag auf Mametkas Mütze,
sodaß diese ihm auf die Augen fällt, in der vergnügtesten Stimmung zur
Küchentür hinaus, den armen Mametka in einiger Verwunderung
zurücklassend.

Eine ganze Woche dauerte die strenge Aufsicht im Ostrogg. Indessen mühte
man sich vergeblich, der Flüchtlinge habhaft zu werden. Ich weiß nicht,
durch wen die Sträflinge von den Streifzügen der Häscher benachrichtigt
wurden, doch wußten sie alles. In den ersten Tagen lauteten die
Nachrichten immer noch günstig für die Flüchtlinge: es war nichts von
ihnen zu sehen noch zu hören, sie waren spurlos verschwunden. Die
Sträflinge spotteten nur über die Häscher. Niemand beunruhigte sich mehr
wegen der Entlaufenen.

„Nichts werden sie finden, nichts einfangen!“ wurde selbstzufrieden oft
genug gesagt.

„Gut, wenn sie noch die Abdrücke ihrer Absätze sehen werden!“

„Gepfiffen, die werden grad wiederkommen!“

Auch hatte man bei uns erfahren, daß alle Bauern der Umgegend aufgeboten
waren, um beim Kesseltreiben behilflich zu sein, daß alle verdächtigen
Wälder und Schluchten umzingelt wurden.

„Unsinn!“ sagte man bei uns spöttisch. „Sie haben sicherlich jemand
gefunden, bei dem sie sich vorläufig aufhalten!“

„Versteht sich!“ meinten auch andere. „Die werden doch nicht dumm sein:
die haben doch alles schon früher vorbereitet.“

Man ging noch weiter in den Vermutungen; ja man äußerte sogar die
Ansicht, daß die Flüchtlinge sich vielleicht noch in der Vorstadt
aufhielten, sich vielleicht irgendwo in einem Keller versteckt hatten,
bis die Aufregung sich gelegt und ihnen die Haare gewachsen waren – „sie
können ja dort sechs Monate sitzen, sogar ein ganzes Jahr, und dann erst
brechen sie auf ...“

Alle befanden sich in einer gewissermaßen romantischen Stimmung. Da
verbreitete sich plötzlich, am achten Tage nach der Flucht, das Gerücht,
daß man ihnen auf der Spur sei. Natürlich wurde diese sinnlose
Behauptung mit Verachtung zurückgewiesen. Am Abend aber wurde es noch
bestätigt. Die Sträflinge gerieten in Aufregung. Am nächsten Tage sprach
man schon am Morgen in der ganzen Stadt, daß man sie bereits gefangen
habe und zurückbringe. Nach dem Mittag erfuhr man Näheres: Man sei ihrer
in einem siebzig Werst entfernten Dorfe habhaft geworden, hieß es. Und
endlich wußte man alles ganz genau. Der Feldwebel erklärte, als er vom
Major kam, daß man sie am Abend bestimmt in die Hauptwache beim Ostrogg
einliefern würde. Jetzt konnte man nicht mehr zweifeln. Es ist schwer,
den Eindruck zu schildern, den diese Nachricht auf die Sträflinge
machte. Zuerst schienen sie alle wütend zu sein, dann aber wurden sie
traurig, bis sich schließlich gewisse Anzeichen von Spottlust bemerkbar
machten. Ja, man spottete, aber nicht mehr über die Häscher, sondern
über die Eingefangenen. Zuerst lachten nur einige, dann aber fast alle,
ausgenommen nur wenige Ernste und Charakterfeste, die unabhängig dachten
und die man nicht so leicht von ihrer Ansicht abbringen konnte. Diese
blickten mit einer gewissen Verachtung auf die leichtsinnige Masse und
behielten ihre Gedanken für sich.

So kam es denn, daß man im selben Maße, wie man Kulikoff und A–ff früher
in den Himmel gehoben hatte, sie jetzt wiederum klein machte; ja man
schien es mit Genugtuung zu tun, als hätten jene alle durch irgend etwas
beleidigt. Man sagte mit verächtlicher Miene, sie hätten zu großen
Appetit gehabt und seien deswegen nach Brot ins Dorf gegangen, das aber
war die größte Erniedrigung für einen Landstreicher. Doch waren diese
Erzählungen unrichtig: sie hatten sich in einen Wald geflüchtet, der
Wald war umzingelt worden, worauf sie, als sie keine Rettungsmöglichkeit
mehr sahen, sich selbst ergeben hatten – es war ihnen einfach nichts
anderes übrig geblieben.

Als man sie nun kurz vor Abend tatsächlich brachte, an Händen und Füßen
gefesselt, begleitet von vielen Gendarmen, da eilte die ganze Kátorga
zum Palissadenzaun, um durch die Spalten zu sehen, was mit ihnen
geschah. Natürlich sahen sie nichts, außer dem Wagen des Majors und der
Equipage des Festungskommandanten vor der Wache. Die Flüchtlinge wurden
in einem besonderen Arrestzimmer untergebracht, eingeschmiedet, und
sollten am nächsten Tage verhört werden. Der Spott und die Verachtung
der Sträflinge vergingen aber schon bald ganz von selbst. Man erfuhr die
näheren Umstände der Gefangennahme, man erfuhr auch, daß ihnen nichts
anderes zu tun übrig geblieben war, und so interessierte man sich mit
aufrichtiger Teilnahme nur noch für ihr ferneres Schicksal.

„Man wird ihnen mindestens tausend aufzählen,“ meinten die einen.

„Was Tausend!“ sagten andere, „totschlagen wird man sie, aber nicht
Tausend! A–ff wird vielleicht noch mit Tausend davonkommen, Kulikoff
aber wird totgeprügelt, denn ihr müßt doch nicht vergessen, Brüder, daß
er doch zur ‚Besonderen‘ gehört!“

Indessen hatten beide Parteien nicht das Richtige erraten. A–ff erhielt
nur fünfhundert, da man seine sonst gute Aufführung in Betracht zog und
da es sein erstes Vergehen war. Kulikoff wurde, glaube ich, zu
tausendfünfhundert verurteilt und noch ziemlich milde bestraft. Sie
hatten beide, als kluge Burschen, sich vor Gericht nicht widersprochen,
sondern bestimmt und deutlich erklärt, daß sie direkt aus der Festung
entflohen seien, ohne irgendwo unterzuschlüpfen. Am meisten tat mir
Koller leid: er verlor alles, seine letzten Hoffnungen, wurde am
strengsten bestraft – mit zwei Tausend, wenn ich nicht irre – und dann
noch als Arrestant irgendwohin in einen anderen Ostrogg fortgeschickt.

A–ff wurde sehr nachsichtig bestraft; offenbar schonte man ihn; auch
halfen ihm die Ärzte. Er aber spielte den Mutigen, und erzählte laut im
Lazarett, daß er jetzt erst die Taufe bestanden habe, jetzt sei er zu
allem bereit und würde noch ganz andere Dinge anstiften. Kulikoff benahm
sich wie gewöhnlich: wohlerzogen, vornehm, und als er nach der Strafe in
den Ostrogg zurückkehrte, tat er, als hätte er sich nie aus ihm
entfernt. Aber nicht so blickten die Sträflinge auf ihn: obgleich
Kulikoff immer und überall sich gut aufzuführen verstand, schienen die
Sträflinge innerlich doch aufgehört zu haben, ihn nach alter Art zu
achten. Sie gingen mit ihm jetzt mehr wie mit einem ihnen
Gleichstehenden um. Ja, mit diesem mißglückten Fluchtversuch erlosch
Kulikoffs Ansehen. Der Erfolg bedeutet so viel bei den Menschen.


                                   X.

                     Die Entlassung aus dem Ostrogg

Die Flucht ereignete sich erst im letzten Jahr meiner Kátorga.

Dieses letzten Jahres erinnere ich mich fast ebenso deutlich, wie meines
ersten im Ostrogg, namentlich der letzten Monate, Wochen und Tage. Doch
wozu soll ich von den Einzelheiten erzählen: ich will nur sagen, daß
dieses letzte Jahr trotz meiner ganzen Ungeduld, es endlich hinter dem
Rücken zu haben, dennoch leichter war, als alle vorhergehenden Jahre.
Hinzu kam, daß ich jetzt unter den Sträflingen schon Freunde hatte, die
endgültig zur Überzeugung gekommen waren, daß ich ein guter Mensch sei.
Viele von ihnen waren mir sogar aufrichtig zugetan. Der Pionier
Bakluschin weinte beinahe, als er mich und meinen Kameraden aus dem
Ostrogg geleitete, und als wir dann noch einen ganzen Monat in der Stadt
in einem der Regierungsgebäude leben mußten, kam er fast jeden Tag zu
uns, nur um uns wieder zu sehen. Aber es waren unter ihnen auch einige,
die sich bis zum Schluß unfreundlich zu mir verhielten, denen es – weiß
Gott, warum – sogar schwer gefallen wäre, auch nur ein Wort zu mir zu
sagen. Es schien förmlich eine Mauer zwischen uns zu stehen.

In dieser letzten Zeit hatte ich größere Vergünstigungen, als in allen
anderen Jahren. In der Stadt waren unter den Offizieren Bekannte von
mir, sogar alte Schulkameraden, mit denen ich die früheren Beziehungen
erneuerte. Durch sie konnte ich jetzt auch in den Besitz von mehr Geld
gelangen, konnte Briefe in die Heimat schicken und sogar Bücher
erhalten. Mehrere Jahre schon hatte ich kein Buch gelesen. Es dürfte
wohl jedem, der so etwas nicht selbst durchgemacht hat, schwer sein,
sich vorzustellen, einen wie eigenartigen Eindruck das erste, im Ostrogg
gelesene Buch auf mich machte. Ich begann am Abend zu lesen, nachdem man
unsere Kaserne bereits geschlossen hatte, und ich las die ganze Nacht
hindurch, bis zum Sonnenaufgang. Es war nur eine Nummer einer
Zeitschrift. Wie eine Nachricht aus dem Jenseits kam sie mir vor. Das
war ja doch mein ganzes früheres Leben, das sich jetzt klar und grell
vor mir erhob, und ich bemühte mich, aus dem Gelesenen zu erraten, um
wieviel ich zurückgeblieben war. Hatten sie viel dort ohne mich
durchlebt? Was regt jetzt die Gemüter dort auf? Mit welchen Fragen
beschäftigen sie sich jetzt? Ich dachte über jedes Wort nach, ich las
zwischen den Zeilen, ich vermutete in jedem Satz einen geheimnisvollen
Sinn, Anspielungen auf Früheres. Ich suchte die Spuren von all dem, was
früher, zu meiner Zeit, die Geister erregt hatte, und es tat mir so weh,
an dieser Wirklichkeit sehen zu müssen, in welchem Maße ich in dem neuen
Leben ein Fremder geworden war, ein abgeschnittenes, vergessenes Stück
Leben. Jetzt mußte man sich an das Neue gewöhnen, sich mit der neuen
Generation bekannt machen. Gierig las ich einen Artikel, unter dem der
Name eines meiner Bekannten, eines mir früher nahe gewesenen Menschen
stand ... Doch schon stieß ich auf neue Namen: es waren neue Größen
erschienen. Fieberhaft wollte ich mehr von ihnen erfahren, sie näher
kennen lernen, und es ärgerte mich entsetzlich, daß ich so wenig Bücher
erhalten konnte, daß es so schwer war, sich welche zu verschaffen.
Früher, unter dem „Achtäugigen“, wäre es geradezu sehr gefährlich
gewesen, Bücher im Ostrogg zu haben. Bei einer Durchsuchung wären sie
ihm unfehlbar in die Hände gefallen, und dann hätte er ohne weiteres
gefragt: „Woher hast du die Bücher? Von wem? Du unterhältst hier also
Beziehungen? ...“ Was aber hätte ich auf diese Fragen antworten können?
Und so vertiefte ich mich, da ich ohne Bücher leben mußte, in mich
selbst, stellte mir Fragen, versuchte sie zu lösen, quälte mich
bisweilen mit ihnen ... Doch wer kann das alles wiedergeben! ...

Ich war im Winter in den Ostrogg gekommen, also wurde ich auch im Winter
wieder aus ihm entlassen, am selben Tage desselben Monats, in dem ich
eingetreten war. Mit welcher Ungeduld erwartete ich den Winter! Mit
welcher Freude sah ich zu Ende des Sommers den Wald sich färben, sah
ich, wie das Steppengras gelb und dürr wurde. Der Sommer verging, es kam
der Herbst, und seine Stürme heulten, dann tanzten die ersten
Schneeflocken hernieder ... Endlich, endlich kam der Winter, den ich so
lange ersehnt hatte! Mein Herz klopfte oft dumpf und stark im großen
Vorgefühl der Freiheit. Doch eines war sonderbar: je mehr die Zeit
verging und je näher der Tag der Freiheit rückte, um so geduldiger und
geduldiger wurde ich. Ja, in den letzten Tagen wunderte ich mich sogar
darüber und machte mir deswegen Vorwürfe: es schien mir, daß ich
vollkommen kaltblütig und gleichmütig geworden sei. Viele Sträflinge,
die mir in der arbeitsfreien Zeit auf dem Hof begegneten, redeten mich
an und beglückwünschten mich:

„Na, Väterchen Alexander Petrowitsch, Ihr geht ja nun bald, kehrt in die
Freiheit zurück, ja, ja. Bald werdet Ihr uns alte Klepper verlassen!“

„Nun, Martynoff, Ihr bleibt doch auch nicht mehr lange hier. Wieviel
Jahre habt Ihr noch?“ fragte ich.

„Wer ich? Nun ja, was soll man da reden! So an sieben Jahr werde ich
immer noch hier bleiben ...“

Und er seufzt, ohne dabei etwas zu denken, steht, blickt zerstreut
drein, als schaue er innerlich in die Zukunft ... Viele beglückwünschten
mich freudig und von ganzem Herzen. Es schien mir, als wären sie jetzt
alle freundlicher zu mir. Ich gehörte in ihren Augen gewissermaßen nicht
mehr zu ihnen. K–tschinskij, ein adliger Pole, ein stiller, sanfter
Jüngling, der gleich mir gern einsam hinter den Kasernen umherstrich und
durch die Bewegung in der frischen Luft gleichfalls seine Gesundheit vor
dem schädlichen Einfluß der schwülen Nächte in der Kaserne bewahren
wollte, sagte lächelnd zu mir:

„Ich erwarte mit Ungeduld Ihre Entlassung ... Wenn Sie gegangen sind,
_dann werde ich wissen_, daß ich gerade noch ein Jahr auf die Freiheit
zu warten habe.“

Ich muß hier nebenbei bemerken, daß die Freiheit im Ostrogg infolge der
Entwöhnung von ihr und des ewigen Träumens noch viel freier erschien,
als sie in Wirklichkeit ist. Die Sträflinge vergrößerten ganz
unwillkürlich den Begriff der wirklichen Freiheit – und das ist ja
schließlich auch so verständlich und für den Sträfling charakteristisch.
Selbst der letzte zerlumpte Stiefelwichser oder Offiziersbursche wurde
bei uns fast für einen König gehalten, fast für das Ideal eines freien
Menschen – nur weil er gleichmäßig geschnittenes Haar trug, weil er ohne
Fesseln und ohne militärische Eskorte gehen durfte.

Am Vorabend des letzten Tages ging ich in der Dämmerung _zum letztenmal_
am Palissadenzaun entlang, ging am Zaun um den ganzen Ostrogg herum.
Wieviel tausendmal war ich in all diesen Jahren an diesen Palissaden
vorübergegangen! Hier hinter den Kasernen strich ich im ersten Jahr
meiner Verbannung ruhelos umher, allein, einsam und wie zerschlagen. Ich
weiß noch, wie ich damals gezählt hatte, wieviel tausend Tage mir hier
bevorstanden. Gott, wie lange ist das doch her. Hier in dieser Ecke
hatte unser Adler gelebt, und hier war ich mit Petroff oft
zusammengetroffen. Er verließ mich auch jetzt nicht. Er trat zuweilen
auf mich zu und ging dann, als erriete er meine Gedanken, schweigend
neben mir her, und es war, als wunderte er sich im stillen über irgend
etwas. In Gedanken verabschiedete ich mich auch von diesen geschwärzten
Blockhäusern; wie ungastlich waren sie mir _damals_ erschienen, in der
ersten Zeit. Auch sie sahen jetzt wohl älter aus, als damals, doch ich
gewahrte es nicht. Wieviel Jugend ist hier hinter diesen Wänden unnütz
begraben, wieviel große Kraft verkam hier nutzlos! Man muß es doch
einmal aussprechen: Dieses Volk war doch ein ungewöhnliches Volk! Es ist
ja doch das allerbegabteste, allerstärkste Volk in unserem ganzen
russischen Volke! Aber nutzlos verkamen die mächtigen Kräfte, verkamen
unnormal, ungesetzmäßig, unwiderbringlich. Wer aber ist schuld daran?

Das ist es ja: wer ist schuld daran?

... Am nächsten Morgen ging ich schon früh, noch vor dem Aufbruch zur
Arbeit, als es kaum erst zu tagen begann, in alle Kasernen, um mich von
allen Sträflingen zu verabschieden. Viel schwielige, starke Hände
streckten sich mir freundlich entgegen. Manch einer drückte meine Hand
wie ein guter Freund, doch waren solcher nicht allzu viele. Die anderen
fühlten es nur zu gut, daß ich noch heute ein ganz anderer Mensch werden
würde, als sie. Sie wußten, daß ich in der Stadt Bekannte hatte, daß ich
mich von hier sogleich zu den _Herren_ begeben würde und mich als
Gleichstehender neben jene setzen konnte. Das begriffen sie und so
verabschiedeten sie sich von mir wohl freundlich, fast sogar als hätten
sie mich gern, aber doch längst nicht wie von einem Kameraden, sondern
allenfalls wie von einem Herrn. Einzelne wandten sich sogar schroff von
mir ab und antworteten mir nicht auf meinen Abschiedsgruß. Einzelne
sahen mich fast mit verstecktem Haß an.

Da ertönte die Trommel und alle begaben sich zur Arbeit, ich aber blieb
zurück. Ssuschiloff war an diesem Morgen früher als alle anderen
aufgestanden und hatte sich eifrig bemüht, mir noch Tee zu bereiten.
Armer Ssuschiloff! Er brach in Tränen aus, als ich ihm meine
abgetragenen Kleidungsstücke, einige Hemden, die ledernen Fußschoner und
noch einiges Geld schenkte.

„Mir ist’s doch nicht darum zu tun, doch nicht darum!“ murmelte er,
krampfhaft bemüht, seine zitternden Lippen zur Ruhe zu zwingen, „wie
soll ich denn ohne Euch weiterleben, Alexander Petrowitsch? Mit wem
bleibe ich denn jetzt hier zurück?“

Auch von Akim Akimytsch nahm ich zum letztenmal Abschied.

„Nun, auch Ihre Frist ist jetzt bald abgelaufen!“ sagte ich zu ihm.

„Ich muß noch lange bleiben, sehr lange noch muß ich hier bleiben,“
murmelte er und drückte mir die Hand. Da fiel ich ihm um den Hals und
wir küßten uns.

Zehn Minuten nach dem Abmarsch der Sträflinge verließen auch wir den
Ostrogg, um nie wieder in ihn zurückzukehren – ich und mein Kamerad, mit
dem ich gekommen war. Wir mußten uns in die Schmiede begeben, um uns
dort die Ketten abschmieden zu lassen. Doch schon begleitete uns keine
Eskorte mit geladenem Gewehr: wir gingen mit einem Unteroffizier. Das
Abschmieden besorgten in der Militärwerkstätte unsere eigenen
Sträflinge. Ich wartete bis mein Kamerad von den Fesseln befreit war,
dann trat ich selbst an den Amboß. Die Schmiede drehten mich mit dem
Rücken zu ihnen um, hoben von hinten meinen Fuß und legten ihn auf den
Amboß ... Sie waren so geschäftig bei der Arbeit und wollten sie
ersichtlich so gewandt und gut als nur möglich machen.

„Die Niete zuerst, kehr die Niete nach oben! ...“ kommandierte der
Älteste, „halt jetzt fest, so, nun ... Schlag jetzt mit dem Hammer ...“

Die Fesseln fielen. Ich hob sie auf ... Ich wollte sie noch einmal in
der Hand halten, sie noch zum letztenmal sehen. Es war mir, als wunderte
ich mich darüber, daß sie soeben noch an meinen Füßen gewesen waren.

„Nun, mit Gott! Mit Gott!“ sagten die Sträflinge mit ihren rauhen,
trockenen Stimmen, in denen aber diesmal etwas wie Zufriedenheit klang.

Ja, mit Gott! Freiheit, neues Leben, Auferstehung von den Toten ...
Welch herrlicher Augenblick!




                                Fußnoten


[1] Festungsbaustrafe oder Zwangsarbeit in den Bergwerken. Auch
veraltete Bezeichnung für eine Galeere und die Galeerenstrafe. E. K. R.

[2] Getränk aus gesäuertem Schwarzbrotteig und Malz. E. K. R.

[3] Das kringelartige Weizengebäck wird von Aufkäufern gewöhnlich auf
eine Schnur gereiht. E. K. R.

[4] Timotheus – der Henker. E. K. R.

[5] Ein Getränk aus Wasser, Honig und Gewürz. E. K. R.

[6] „Schlecht, schlecht!“ E. K. R.

[7] Was ich hier von den Strafen und Hinrichtungen erzähle, war zu
meiner Zeit. Jetzt soll vieles schon verändert worden sein oder bald
gänzlich abgeschafft werden. F. M. Dostojewski.

[8] Mit einem Paß.

[9] D. h. im Walde, wo der Kuckuck schreit: er ist gleichfalls
Landstreicher. F. M. Dostojewski.

[10] D. h. ebensowenig wie Ruß weiß ist, ebensowenig machen wir
Geschäfte. E. K. R.

[11] Sein buchstäblicher Ausdruck, der übrigens zu meiner Zeit nicht nur
von unserm Major allein gebraucht wurde, sondern von vielen kleineren
Kommandeuren, vornehmlich von Emporkömmlingen. F. M. Dostojewski.

[12] Sie haben einen Mann oder ein Weib erschlagen, im Glauben, daß die
Betreffenden die Seuche in den Wind getan, durch welche die Rinder
fallen. In Ostrogg gab es einen solchen Mörder. F. M. Dostojewski.


                     Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                   Zweite Abteilung: Achtzehnter Band
           R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1917.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Issai (Issaij)
   Lavallière (Lavalière)
   M–tzkij (M–zkij)
   Ssamowar (Samowar)
   Wassjä (Wassja)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben und des
russischen Originals, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 49]: (mehrfache Fälle)
   ... „Wasser, Kinder! Unser Nivalid Petrowitsch ist ...
   ... „Wasser, Kinder! Unser Nevalid Petrowitsch ist ...

   [S. 115]: (mehrfache Fälle)
   ... Tschetschenre und drei Dagestanische Tataren. Der ...
   ... Tschetschenze und drei Dagestanische Tataren. Der ...

   [S. 173]:
   ... „Der versteht nicht einmal Hühner zu futtern, hier ...
   ... „Der versteht nicht einmal Hühner zu füttern, hier ...

   [S. 290]:
   ... selbst die richtigen Plätze anweisen. Wieviel echter, ...
   ... selbst die richtigen Plätze anweisen.“ Wieviel echter, ...

   [S. 502]:
   ... gleichgültigen Sträflinge. Vollkommen Gleichgültiger, ...
   ... gleichgültigen Sträflinge. Vollkommen Gleichgültige, ...

   [S. 502]:
   ... d. h. solcher, denen es ganz gleich war, ob sie ...
   ... d. h. solche, denen es ganz gleich war, ob sie ...

   [S. 559]:
   ... wem bleibe ich denn jetzt hier zurück!“ ...
   ... wem bleibe ich denn jetzt hier zurück?“ ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 18: AUS EINEM TOTENHAUSE ***


    

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are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
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forth in Section 3 below.

1.F.

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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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facility: www.gutenberg.org.

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