Sämtliche Werke 17 : Onkelchens Traum und andere Humoresken

By Fyodor Dostoyevsky

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Title: Sämtliche Werke 17
        Onkelchens Traum und andere Humoresken

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
        Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: May 18, 2025 [eBook #76110]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1909

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 17 ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

           Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
                    Dmitri Philossophoff und anderen
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


                   Zweite Abteilung: Siebzehnter Band


                           F. M. Dostojewski




                            Onkelchens Traum
                               und andere
                               Humoresken


               München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag


            R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918


             Copyright 1918 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
                     Verlag in München und Leipzig

                Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt.




                                 Inhalt


            Vorwort                                        V
            Onkelchens Traum                               1
            Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett  243
            Das Krokodil                                 321




                                Vorwort


Die beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen Erzählungen
stehen im Anschluß an Dostojewskis humoristischen Roman „Das Gut
Stepantschikowo“. Sie teilen mit ihm die allgemeine humoristische
Anschauung und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung
„Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ bestand ursprünglich aus
zwei getrennten Geschichten („Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige
Gatte“), die erst später von Dostojewski zu einer einzigen
zusammengezogen wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre: die
Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach wie vor einen
Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen ist.

Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine
politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische Satire aus dem Jahre 1864.
Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen Band mit
eingestellt.

                                                              E. K. R.




                            Onkelchens Traum


                   Aus den Mordassoffschen Chroniken


                                   I.

Marja Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die erste Dame in Mordassoff
– darüber kann kein Zweifel bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie
sich um keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von ihr allein
abhängig. Freilich wird sie infolgedessen auch von keinem Menschen
geliebt. Freilich hassen sie deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen.
Aber dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es, was sie
gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch ist, meine ich, ein
Beweis hoher politischer Begabung. Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja
Alexandrowna, die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht
nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren hat: wie kommt
es, frage ich, daß sie sich bei alledem so zu benehmen weiß, daß bei
ihrem Anblick kein Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die
erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch Mordassoffs vor sich
zu haben? O, ganz im Gegenteil: man ist überzeugt, daß ihre bloße
Anwesenheit jeden Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer
erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern werden und
kein anderes Gespräch mit ihr möglich ist, als eines über die höchsten
Themata. Sie weiß z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so kapitale
und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit erzählen und so
beweisen würde, wie nur sie allein Ähnliches zu beweisen versteht, in
Mordassoff sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen
würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen, was diese Dinge
anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im äußersten Fall, Freundinnen.
Sie erschreckt nur den Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht
es vor, den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten, anstatt sie
endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit, das nennt man Taktik! Marja
Alexandrowna zeichnet sich unter uns durch ihr einwandsloses
^Comme-il-faut^ aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser
Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie versteht zum
Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem einzigen Wort zu zerschmettern,
zu vernichten, zu töten; währenddessen aber tut sie, als hätte sie
überhaupt nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen.
Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten Gesellschaft
eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen Taktfragen hätte sie sogar einen
Pinelli[1] glänzend besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele,
die Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert von ihrem
Empfang und korrespondierten nachher noch lange mit der freundlichen
Gastgeberin. Einer ihrer Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht
verewigt, das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste zeigte. Ein
durchreisender Literat hatte ihr sogar eine Novelle gewidmet, die er auf
einer Abendgesellschaft bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und
guten Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter aus Karlsruhe, der
uns absichtlich mit seinem Besuch beehrte, um hierselbst eine besondere
Würmerart mit Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu
erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in Quart geschrieben
hat, war von dem Empfang und der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas
dermaßen entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe aus der
Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann natürlich nicht
unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna wurde in gewisser Beziehung sogar
mit Napoleon verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur im Scherz und
von ihren Feinden, mehr um der Karikatur als um der Wahrheit willen.
Dessen ungeachtet – und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen
Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige Frage zu
stellen: weshalb – bitte, mir darauf zu antworten – weshalb wurde dem
großen Napoleon schließlich schwindlig, als er gar zu hoch
hinaufgeklettert war? Die Anhänger der alten Dynastie schreiben das dem
Umstand zu, daß Napoleon nicht nur kein Sproß aus königlichem Hause,
sondern nicht einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und daß es
folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche Höhe einen Schrecken
eingejagt habe und ihm bei dem Gedanken an seine geringe Herkunft und
den ihn zukommenden niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden
sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung, die lebhaft an die
Glanzzeit des alten französischen Hofes erinnert, will ich es wagen,
folgende Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna nie und
unter keinen Umständen schwindlig und warum bleibt sie immer und trotz
aller Vorkommnisse die erste Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel
Fälle, in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen, wie
Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre ziehen wird!“ Doch siehe,
die schwierigen Verhältnisse kamen, bestanden, gingen vorüber – und es
geschah nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar noch
besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein jeder dessen erinnern, wie
ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch, infolge von Unbegabtheit oder
Schwachsinn seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch seine
Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals geschickten Revisors erweckt
hatte. Da glaubten denn alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren,
kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln würde. Doch
nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna sah ein, daß sie doch
nichts mehr ausrichten würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren
Einfluß auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb ihr
Haus jetzt denn auch immer noch als das erste Haus in Mordassoff gilt.
Die Frau unseres Staatsanwalts, Anna Nikolajewna Antipowa, die
geschworene Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach allerdings
ihre größte Freundin – frohlockte damals bereits über ihren Sturz. Als
man aber sah, daß Marja Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen
ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer hinabreichten,
als man anfänglich geglaubt hatte.

Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij Matwejewitsch zu sprechen
gekommen sind, will ich auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß
ich bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung ist
und sogar sehr gute Manieren hat – nur hat er die Angewohnheit, in
kritischen Augenblicken etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er
einen an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich und
würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn er in weißer Binde
erscheint. Leider aber währt der gute Eindruck genau nur bis zu dem
Augenblick, in dem er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann –
Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann würde man sich am liebsten
... sagen wir: die Ohren zuhalten.

Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna anzugehören:
Das ist die allgemeine Meinung. Einzig dank der Genialität seiner Frau
hatte er denn auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner Ansicht
nach wäre sein Platz von Anfang an in einem Gemüsegarten gewesen, wo er
sich als Vogelscheuche sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und
zwar ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen wirklichen,
unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und deshalb war es von Marja
Alexandrowna sehr klug gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf
ihr drei Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie
hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt, ihr ganzer
Besitz und ihre einzige Einnahmequelle, aus der sie alle Ausgaben
bestreitet, die selbstverständlich nicht gering sind, da sie doch nach
wie vor ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie ihren Gemahl
einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten, weil er eine gute Anstellung
hatte, ein gutes Gehalt bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber
mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende war, da wurde er als
ein vollkommen untaugliches und überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die
Folge davon war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen,
ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten. Afanassij
Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem Lande wie im Wollkorbe. Ich habe
ihn vor kurzem einmal besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm mit
ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene weiße
Halsbinden um, putzt eigenhändig seine Stiefel – nicht weil er keine
Bedienung hätte, sondern nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern,
wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er Tee, nimmt mit
besonderer Vorliebe ein Bad und ist vollkommen zufrieden. Und entsinnen
Sie sich noch der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa
anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der einzigen Tochter Marja
Alexandrownas und Afanassij Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist
fraglos eine Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen, aber –
sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist noch nicht verheiratet.
Unter den Gründen, mit denen man diese Tatsache zu erklären versucht,
sind die dunklen Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen Sinas zu
einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch nicht ganz verstummt sind –
sicherlich die am meisten besprochenen. Man spricht noch immer von einem
Liebesbrief, den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff von Hand zu
Hand gewandert sei. Einstweilen aber: wer hat denn diesen Brief oder
Zettel – er soll nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen?
Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er dann schließlich
geblieben? Alle haben von ihm gehört, gesehen aber hat ihn kein
einziger. Ich wenigstens habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst
gesehen hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche
Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht. Nehmen wir aber jetzt
an, daß Sina tatsächlich einen solchen Zettel geschrieben – ich glaube
sogar bestimmt, daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle
Hochachtung haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas? Wie geschickt
und mit welcher Sicherheit sie dem unangenehmen, skandalösen Klatsch die
Spitze abzubrechen verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung
ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen Verleumdung
überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr! Indessen aber – nur Gott allein
wird es wissen, wie sie gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen
Tochter unbefleckt zu erhalten. Und andererseits: ist es denn nicht sehr
begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet hat: was gibt es denn hier
für Freier? Und Sina kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat
jemand, frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit gesehen?
Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man sagt, Mosgljäkoff werbe um
sie, aber es ist nicht anzunehmen, daß sie ihn heiraten wird. Was ist
denn dieser Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht häßlich, ein
Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne Schulden, Petersburger. Aber
immerhin – der Kopf ist nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit
irgendwelchen allerneuesten Ideen! Und was sind denn schließlich
hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei den neuesten Ideen! Nein, ich
habe es gleich gesagt – aus dieser Heirat wird nichts!

Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat, ist von mir vor
ganzen fünf Monaten geschrieben worden, und zwar nur aus Begeisterung.
Ich will es nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine kleine
Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, etwas in der Art einer
Verherrlichung dieser großen Frau zu schreiben, vielleicht in der Form
eines scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster der Briefe,
die in der alten, goldenen, doch – Gott sei Dank! – unwiederbringlichen
Zeit in der „Nordischen Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen.
Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und mir außerdem noch
eine gewisse literarische Schüchternheit angeboren ist, so blieb mein
Manuskript in meinem Schreibtischfach als literarischer Versuch und als
Erinnerung an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der Muße und des
Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen fünf Monate, bis schließlich
eines Tages unsere liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh
morgens rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K. kam an und
stieg im Hause Marja Alexandrownas ab.

Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der Fürst hielt sich nur
drei Tage in Mordassoff auf, doch diese drei Tage sind uns allen
unauslöschlich in der Erinnerung geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß
der Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt hat. Die
Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich die bemerkenswertesten
Seiten in den Annalen der Stadt Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun
literarisch zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser zu
unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem Schwanken endgültig
entschlossen.

Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte Geschichte der
Erhöhung, des größten Ruhmes und des feierlichen Falles Marja
Alexandrownas und ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und
für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht sich, vorher
muß ich noch erklären, weshalb es ein solches Ereignis war, daß der
Fürst K. in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg.
Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von der Person des
Fürsten erzählen. So werde ich es auch tun. Zudem ist die Kenntnis der
Lebensgeschichte dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren
Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können. Also, ich beginne.


                                  II.

Ich muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren nach durchaus noch kein
Greis war. Doch dessenungeachtet kam einem bei seinem Anblick
unwillkürlich der Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse:
dermaßen verlebt oder verbraucht war der Mann und sah er aus. In
Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten stets äußerst sonderbare,
mitunter selbst phantastische Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der
alte Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden aber alle, daß
ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend Seelen besaß, unter seinen
Verwandten bekannte Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur
gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte spielen können,
auf seinem prächtigen Gut von aller Welt völlig zurückgezogen lebte.
Viele Honoratioren hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als
er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie versicherten,
daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen können und alles eher als
ein Einsiedler gewesen sei.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus glaubwürdigster Quelle
Folgendes von seiner Lebensgeschichte erfahren:

Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange her ist, war der Fürst
in glänzendster Weise ins Leben eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war
mehrmals im Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots gemacht
und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet. Wie es sich
wohl von selbst versteht, verlebte er sein ganzes Vermögen, so daß er
sich, als das Alter kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm
irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln, das bereits
versteigert werden sollte, und so war er denn nach Mordassoff gefahren
und hatte dort ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt zu
denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und die Folge davon
war, daß er in diesem halben Jahr das Letzte, was ihm noch geblieben
war, gleichfalls durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf
verschiedene Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen verzichten konnte.
Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger Mensch war, freilich nicht ohne
einige besondere fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die aber in
Mordassoff für als ausschließlich der höchsten Gesellschaft eigen
angesehen wurden, und daher, statt Verdruß zu erwecken, sogar einen
guten Eindruck machten. Namentlich die Damen waren von ihrem lieben Gast
außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar manche interessante
Erinnerung an ihn. Unter anderem erzählte man, daß der Fürst einen
halben Tag zum Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus
zusammensetzbaren Stücken bestände. Niemand wußte sich zu erklären, wann
und wo er sich aller der ihm fehlenden Körperteile zu entledigen
vermocht hatte. Er trug eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart,
und sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war unecht. Ihm
war buchstäblich jedes Haar angeklebt und jedes glänzte im schönsten
Schwarz. Er schminkte und puderte sich täglich. Es wurde sogar
behauptet, daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen Haaren
unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln in seinem Gesicht
glätte. Auch hieß es, daß er ein Korsett trage, da er bei einem
ungeschickten Sprung aus dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in
Italien – sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit dem linken Fuß hinkte
er. Es wurde behauptet, daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten
in Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers eingebüßt
habe und zum Ersatz ihm ein Holz- oder Korkfuß angesetzt worden sei.
Aber schließlich, was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch, daß
sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein sehr teures, sehr
kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne waren alle unecht. Ganze Tage lang
wusch er sich mit den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten,
parfümierte und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens entsinnt man
sich, daß der Fürst damals schon merklich gealtert war und entsetzlich
schwatzhaft wurde. Seine Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle
wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber geschehen, daß
gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten, eine uralte Greisin, die
beständig in Paris lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten
hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem Monat ihren einzigen
Erben begraben hatte. So wurde plötzlich und unerwartet der Fürst ihr
gesetzmäßiger Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles
Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt er ganz allein.
Ohne lange zu säumen, machte er sich nach Petersburg auf, um dort die
Angelegenheit zu erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem lieben
Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam bezahlten, wozu eine
Kollekte veranstaltet worden war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem
Abend bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und gelacht und
die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt. Zum Schluß habe er versprochen,
sich so bald als möglich in Duchanowo, so hieß sein neues Gut,
niederzulassen, und dann – darauf habe er sein Wort gegeben – würde er
fortwährend Feste, Picknicks, Bälle und italienische Nächte mit
Feuerwerk und Lampions veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner
Abfahrt sprachen die Damen nur von den verhießenen Freuden und
erwarteten ihren alten Freund mit größter Ungeduld. Inzwischen aber
begnügte man sich mit kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte
Herrenhaus und der große Park besichtigt wurden. In diesem Park gab es
Akazienhecken, die zu Löwen und anderen Tieren zurechtgestutzt waren,
künstliche Hünengräber, Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit
holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben, Pavillons,
Monplaisirs und noch viele andere Späße.

Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen Verwunderung und
Enttäuschung zeigte er sich nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich
auf seinem Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten
sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann man sagen, daß die
Lebensgeschichte des Fürsten seit eben dieser Zeit schleierhaft und
phantastisch wird. So erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht
gerade Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und dereinstigen
Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche unter irgend jemandes
Vormundschaft hätten stellen wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er
wieder sein ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten
sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe einsperren wollen, doch
einer seiner Verwandten, ein angesehener Mann, sei für ihn eingetreten
und habe den anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem ja
ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich bald von selbst
sterben würde – und dann bekämen sie das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch
ich sage nochmals: wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch dazu
bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem Vorhaben seiner Verwandten
sollen den armen Fürsten so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen
Charakter vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte! Einige
unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit Glückwünschen zu ihm aufs Gut
gefahren: doch sie waren entweder überhaupt nicht, oder in sehr
seltsamer Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe seine
früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder habe sie nicht erkennen
wollen.

Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm. Er kehrte mit der
Nachricht zurück, daß der Fürst seiner Meinung nach tatsächlich „etwas
verdreht“ sei, und er machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn
man ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die Damen sprachen laut
ihren Unwillen darüber aus. Endlich erfuhr man einen Umstand von
erschütternder Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte
Stepanida Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe, Gott weiß was für
eine Weibsperson, die aus Petersburg mit ihm angekommen war, dick und
bejahrt, die nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in der Hand
umherging; daß der Fürst ihr in allem wie ein Kind gehorche und ohne
ihre Erlaubnis keinen Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig
bediene, sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und wie einen Säugling
einlulle, und schließlich, daß sie es sei, die jeden Besuch von ihm
fernhalte, namentlich seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum
Zweck verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo
kamen. In Mordassoff wurde viel über diese unbegreifliche Verbindung
gesprochen, besonders seitens der Damen. Zu alledem wurde noch
hinzugefügt, daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des
Fürsten unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt das
Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter und Förster absetze und
die Einnahmen empfange – doch mache sie alles so gut, daß die
Leibeigenen ihr Schicksal geradezu priesen.

Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte man, daß er seine Tage
fast ausschließlich im Ankleidezimmer zubrachte und sich nur mit dem
Anpassen von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige Zeit in
der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe, mit ihr Karten spiele,
sich die Karten lege, hin und wieder auf einer frommen englischen Stute
ausreite, wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in einem gedeckten
Wagen begleite – „für alle Fälle“, versteht sich: denn der Fürst reite
nur aus Eitelkeit, könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen
hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem eleganten Paletot,
breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem Damenhalstuch, mit seinem Monokel
im Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze, und mit
Kornblumen in der linken Hand. Stepanida Matwejewna begleitete ihn
regelmäßig und hinter ihm gingen zwei galonierte Diener und folgte –
„für alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen: kam ihnen
unterwegs ein Bauer entgegen und grüßte er sie, zur Seite tretend, tief
und ehrerbietig: „Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden
unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich sein Monokel auf ihn
und antwortete freundlich mit gnädigem Kopfnicken: „^Bonjour, mon ami,
bonjour!^“

Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff von Mund zu Mund. Es
schien ganz unmöglich zu sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte
ja auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war die Verwunderung,
als eines schönen Morgens das Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst,
dieser Einsiedler und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff
angelangt und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen sei. Alles geriet
in Aufregung, alle erwarteten eine Aufklärung, alle fragten einander,
was das zu bedeuten habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja
Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten erschien ihnen als
ein gar zu großes Wunder. Sie schrieben sich Zettelchen, machten
einander Morgenvisiten, schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf
Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber, daß der Fürst
gerade bei Marja Alexandrowna abgestiegen war. Und am meisten ärgerte
sich darüber Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über Tanten,
Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt mit ihr verwandt war. Aber
ich sehe, um alle diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja
Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin uns zu folgen wir
den verehrten Leser untertänigst bitten. Es ist allerdings noch früh,
kaum zehn Uhr, aber ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde,
nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen wird.


                                  III.

Zehn Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja Alexandrownas, an der großen
Straße, in jenem Zimmer, das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten
„^mon salon^“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar ein Boudoir. In diesem
Salon ist der Fußboden gut gestrichen und die Wände sind mit hübschen
Tapeten versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende Farbe. An
einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin ein Spiegel, vor dem Spiegel
eine bronzene Stutzuhr mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack
zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel, von denen die
Überzüge entfernt sind. Vor diesen Spiegeln stehen auf kleinen Tischen
wieder Uhren. An der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina
verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem brennenden Kamin
sind weiche Polstermöbel gruppiert, nach Möglichkeit in malerischer
Unordnung, zwischen ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende
des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer blendend weißen
Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner Ssamowar neben einem reizenden
Teeservice. Das Eingießen des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna
Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja Alexandrownas bei dieser
lebt. Zwei Worte über sie. Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt,
brünett, mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen Augen.
Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren Charakter, lacht viel und
gern, ist ziemlich schlau, klatscht natürlich, und versteht es, ihr
Schäfchen ins trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide
irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal heiraten; ihr erster Mann
war aktiver Offizier. Im übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf.

Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am Kamin in vorzüglicher
Stimmung und in einem hellgrünen Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist
unsäglich erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig mit seiner
Toilette beschäftigt und folglich noch unsichtbar ist. Sie ist so froh,
daß sie ihre Freude nicht einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein
junger Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt. Seinen Augen
sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen gefallen will. Er ist
fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät
er leicht in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und geistreich
gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich. Aber wir haben ja
schon von ihm gesprochen: das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der
zu großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna findet im stillen,
daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber trotzdem die Liebenswürdigkeit
selbst zu ihm. Er wirbt um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen
Worten, bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick wendet er
sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor und Geist zum Lächeln zu
bringen. Sie aber ist auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In
diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre schmalen Finger
blättern in einem Kalender. Sie gehört zu jenen Erscheinungen, die
allgemeine – ich möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen, wenn
sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum eintreten. Sie ist
unbeschreiblich schön: von hohem, schlankem Wuchs, mit prächtigem
braunen Haar, wundervollen, fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut:
Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin, das Füßchen
verführerisch, der Gang königlich. Heute ist sie ein wenig bleich; dafür
aber wird man ihre blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten
sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen Zähne glänzen,
drei Nächte noch im Traume sehen, wenn man sie einmal in Wirklichkeit
gesehen hat. Sie sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff
scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu fürchten, wenigstens
fühlt er sich nicht ganz geheuer, wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre
Bewegungen sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches
weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders gut; doch übrigens,
was steht ihr nicht gut? An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus
Haar geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht aus dem Haar
der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es
ist. An diesem Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar traurig,
als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist Marja Alexandrowna zu
ununterbrochenem Reden bereit, wenn sie auch mitunter gleichfalls einen
besonderen, gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet –
was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz als fürchte auch sie ihre
Tochter.

„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“ beteuert sie, „daß
ich es jedem Menschen, der an meinem Hause vorübergeht, aus dem Fenster
zurufen könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden Überraschung,
die Sie mir und Sina bereitet haben, indem Sie zwei Wochen früher
gekommen sind, als Sie es versprochen hatten; das versteht sich von
selbst! Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben Fürsten
hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr ich diesen bezaubernden
alten Herrn liebe! Doch nein, nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie
gehören zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters nie
verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so beredt schildern wollte!
Wissen Sie auch, was er mir in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs
Jahren – weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen: Du warst
ja damals bei deiner Tante zum Besuch ... Sie werden es mir nicht
glauben, Pawel Alexandrowitsch; ich war seine Führerin, seine Schwester,
seine Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war etwas Naives,
Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis zueinander ... Ich weiß
nicht, wie ich es ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb
er sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, ^ce pauvre
prince^! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie ihn damit
vielleicht sogar gerettet haben, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind,
ihn zu mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen langen sechs
Jahren an ihn gedacht. Sie werden es mir nicht glauben: mir hat sogar in
der Nacht von ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau habe ihn
behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber Gott sei Dank, jetzt haben
Sie ihn endlich aus diesen Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die
Gelegenheit benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie mir
doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles gelungen ist? Beschreiben
Sie mir so ausführlich als möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als
Sie ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache, während doch
gerade alle diese Details, wie man sagt, den Charakter geben! Ich liebe
über alles die Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich meine
Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und ... solange er noch mit
der Toilette beschäftigt ist ...“

„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt habe, Marja
Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff sofort bereitwillig auf, da er es
vielleicht auch noch zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören,
war für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze Nacht durch und,
versteht sich, schlief die ganze Nacht nicht, – Sie können sich denken,
welche Eile ich hatte!“ fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit
einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und auf den Stationen
wegen der Pferde Lärm geschlagen: wenn man es niederschreiben und
drucken lassen wollte, so würde es eine ganze Dichtung im neuesten
Geschmack werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt sechs Uhr
morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo. Zitternd vor Kälte –
ich wollte mich nicht einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden.
Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und ihren Säugling
erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie ihn nicht mehr stillen ...
Wundervoller Sonnenaufgang. Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot
und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem Wort, ich eile
Hals über Kopf weiter. Um die Pferde habe ich regelrecht gekämpft, nahm
sie einem Kollegienassessor fort und forderte ihn fast zum Duell. Man
erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein Fürst von dort
abgefahren sei, er fuhr mit eigenen Pferden, habe dort genächtigt. Höre
nur mit halbem Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich von
der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches in einer modernen
Elegie gelesen. Genau auf der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der
Weg zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich sehe,
etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer Reisewagen liegt auf der
Seite, der Kutscher und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem
Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes Geschrei.
Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte: lieg mal zu auf der Seite,
gehöre nicht zu deiner Gemeinde. Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie
Heine sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich, mein Ssemjon
und der Kutscher – gleichfalls eine russische Seele – eilen zur Hilfe
und so stellen wir, sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage
wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht hat, da sie ja
auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern halfen noch mit Stangen, fuhren
zur Stadt, erhielten von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich
jener alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er selbst, Fürst
Gawrila! Das war eine Überraschung! Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er
aber erkannte mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das heißt,
er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den zweiten Blick.
Einstweilen aber ... unter uns: ich glaube, daß er selbst jetzt noch
nicht recht weiß, wer ich eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für
einen ganz anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten.
Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in Petersburg zum letztenmal
gesehen. Damals war ich, wie Sie sich denken können, noch ein halber
Knabe. Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken
Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie soll er sich noch meiner
entsinnen! Stelle mich vor: er ist entzückt, umarmt mich, selbst aber
zittert er noch von dem Schreck und weint, bei Gott, _weint_, ich habe
es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen dies und das – ich
beredete ihn endlich dazu, in meinen Wagen einzusteigen und – sei’s auch
nur auf einen Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich etwas zu
zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos ein ... Erklärt
mir, daß er in das Kloster Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre,
den er überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna – wer von uns
Verwandten hat nicht von Stepanida Matwejewna gehört? – mich hat sie
noch vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo hinausgejagt –,
daß also seine Stepanida Matwejewna einen Brief erhalten habe, des
Inhalts, daß in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege: ihr
Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht und habe auch kein
Interesse dafür übrig; vielleicht sind es beide, sowohl der Vater wie
die Tochter ... vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort
im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz zu fassen – sie war
dermaßen in Verwirrung geraten, daß sie sich entschlossen hatte, auf
etwa zehn Tage ihren Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um
diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der Fürst saß
inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen zweiten, setzte sich zur Probe
eine Perücke nach der anderen auf, pomadisierte sich, färbte seinen
Schnurrbart, legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference,
allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über seine Kräfte – ohne
Stepanida Matwejewna! Da hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich
ins Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von den dienstbaren
Geistern, der Stepanida Matwejewna sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet,
hatte zwar einiges einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf
bestanden. Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren, hatte in
Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang von der Station
weitergefahren, um genau vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem
berühmten Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast in den
Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn, mit mir zu unserer
gemeinsamen Freundin, der hochverehrten Marja Alexandrowna zu fahren ...
Er sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von allen, die er
jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir hier, der Fürst aber frischt
vorläufig noch seine Toilette auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den
er nicht vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem Fall
und unter keinen Bedingungen vergessen wird, mitzunehmen, denn er würde
eher zu sterben einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne einige
Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen erscheinen würde ... Und
das ist die ganze Historie. – Allerliebst – nicht wahr?“

„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du nicht auch, Sina?“ ruft
Marja Alexandrowna entzückt aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er
es zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul – eine Frage:
erklären Sie mir doch einmal ausführlich Ihre Verwandschaft mit dem
Fürsten! Sie nennen ihn Onkel?“

„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna, wie und inwiefern ich
mit ihm verwandt bin: ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ...
doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie gesagt.
Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden zuschulden kommen
lassen – ich bin vollkommen schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr
meine Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine Tante Aglaja
Michailowna nichts anderes zu tun, als die ganze Verwandtschaft an den
Fingern herzuzählen. Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser
Reise nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst gefahren. Ich
nenne ihn ganz einfach Onkelchen – und er fühlt sich angeredet. Das aber
ist ja schließlich die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere ganze
Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“

„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung, daß nur Gott allein Sie
auf den Gedanken hat bringen können, mit ihm geradeswegs zu mir zu
kommen! Ich zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles
hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus, statt in meines,
geraten wäre! Man hätte ihn ja hier zerrissen, zerrissen, jeden Knochen
zerpflückt, man hätte ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt
wie auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn womöglich
bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen, Pawel Alexandrowitsch,
was es hier für gierige, niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“

„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen sollen, wenn nicht zu
Ihnen! – wie Sie wirklich sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja
Petrowna aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht zu Anna
Nikolajewna – was meinen Sie?“

„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer nicht sehen läßt? Das ist
doch etwas sonderbar,“ sagt Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig
erhebt.

„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der wird noch ganze fünf
Stunden zu seiner Toilette brauchen! Zudem, da er ja kein Atom
Gedächtnis mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben, daß
er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein außergewöhnlicher
Mensch, müssen Sie nicht vergessen, Marja Alexandrowna!“

„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“

„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna, sondern die reinste
Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch halbwegs nur eine Komposition, aber
kein Mensch! Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen noch
vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche! Das ist ja nur noch
eine Erinnerung an einen Menschen, man hat ihn sozusagen nur zu
beerdigen vergessen! Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen, Beine von
Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn, und auch sprechen tut er
nicht anders als mit Hilfe gewisser Federn!“

„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger Mensch sind, wie ich
sehe!“ ruft Marja Alexandrowna aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und
schämen Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als Verwandter! –
so von diesem ehrwürdigen alten Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts
von seiner grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe
aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie doch, daß er sozusagen ein
Überbleibsel, eine Ruine, ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist.
Mein Freund, ^mon ami^! Ich begreife vollkommen, daß Sie infolge
irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig sprechen, den
Leichtsinnigen spielen. Aber, mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu
Ihren neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer neuen Richtung edel
und ehrenhaft ist. Ich fühle es, daß es in diesen neuen Ideen sogar
etwas Erhabenes gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen
wir, die praktische Seite der Sache zu sehen. Ich habe in der Welt
gelebt, ich habe mehr als Sie gesehen, und schließlich, ich bin Mutter,
Sie aber sind noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet ihm in
unseren Augen vielleicht manches Lächerliche an. Ja, das letzte Mal
sprachen Sie sogar davon, daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und
daß man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber das kommt alles
nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll Shakespeare haben! Glauben Sie mir,
Pawel Alexandrowitsch, Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit
abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde er bei all seinem
ganzen Verstande doch keine Silbe von unserem gegenwärtigen Leben
begreifen. Wenn es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes und
Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und allein in der höheren
und höchsten Gesellschaft. Ein Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst,
ist auch in einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da hat
sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna fast ein Schloß gebaut,
aber dennoch ist er nur der Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr!
Und auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich auch mit
fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer nur die frühere Natalja
Dmitrijewna und wird nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil
gleichfalls ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie von ihr
abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine Fremde in ihrem Kreise –
das aber ist ein schlechtes Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt.
Übrigens werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen,
als ich, ^mon cher Paul^, und Sie werden Ihren Shakespeare mit der Zeit
hübsch vergessen. Das sage ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen.
Ich bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig sind und sich
nur so ... nach der Mode richten. Ach, da bin ich nun ins Schwatzen
hineingekommen. Bleiben Sie ruhig hier, ^mon cher Paul^, und vergessen
Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben gehen und mich nach
dem Fürsten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend wessen, und mit
meinen Dienstboten ...“

Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das Zimmer, denn sie dachte an
ihre Dienstboten.

„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu sein, daß der Fürst
nicht bei dieser Modedame, der Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat
diese unverschämte Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm verwandt
sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen wollen vor Ärger!“
bemerkte Nastassja Petrowna. Als sie aber bemerkte, daß ihr nicht
geantwortet wurde, sah sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel
Alexandrowitsch genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache stand,
und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte sie irgend etwas
vergessen, das sie zum Tee brauchte. Übrigens wußte sie sich sofort
dafür zu entschädigen: sie versteckte sich hinter der Tür und horchte.

Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick zu Sina. Er war
unbeschreiblich erregt, seine Stimme zitterte.

„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht böse?“ fragte er mit
zaghafter und flehender Miene.

„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die leicht errötete und ihre
wundervollen Augen zu ihm erhob.

„Weil ich früher als verabredet hergekommen bin! Sinaïda Afanassjewna,
ich hielt es nicht aus, ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten
... Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin hergeeilt, um
meinen Schicksalsspruch zu erfahren ... Doch Sie ziehen die Brauen
zusammen, Sie ärgern sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts
Positives erfahren?“

Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt.

„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie wieder darauf
zurückkommen würden,“ antwortete sie, nachdem sie den Blick gesenkt
hatte, mit fester und strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet.
„Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war, so ist es – je
schneller abgetan, um so besser. Sie verlangen oder bitten wieder um
eine Antwort. Wie Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal
wiederholen, denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie. Ich sage es
Ihnen nochmals – ich habe mich noch nicht entschlossen und kann Ihnen
daher auch nicht das Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches
Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel
Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge ich hinzu, daß ich Ihnen
noch nicht endgültig absage. Und merken Sie sich noch eines: wenn ich
Ihnen jetzt noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem
Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe Nachsicht habe. Ich
wiederhole es: ich will vollkommen frei sein und wenn ich Ihnen
schließlich sagen sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht
beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche Hoffnungen
gemacht habe. So, das ist alles!“

„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff mit kläglicher Stimme
aus. „Ist denn das eine Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die
geringste Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“

„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, und dann schließen Sie
daraus, auf was Sie wollen. Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts
mehr hinzufügen. Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern sage nur:
warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen: daß ich die volle
Freiheit habe, Ihnen endgültig abzusagen, sobald ich will. Und dann noch
eines, Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die Antwort
verabredeten Termin gekommen sind, um auf Umwegen etwas zu erreichen, in
der Hoffnung, vielleicht auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen wir
an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so haben Sie sich in Ihrer
Berechnung sehr getäuscht. Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie?
Doch jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis dahin mit
keinem Wort mehr daran.“

Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und ohne die geringsten
Stockungen gesprochen, als hätte sie sie früher schon auswendig gelernt.
Monsieur Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In dem
Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück. Ihr folgte fast auf dem
Fuße Frau Sjäblowa.

„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina! Nastassja Petrowna,
bereiten Sie schnell neuen Tee!“ – Die Dame schien nicht wenig erregt zu
sein.

„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen. Ihre Zofe Anjutka ist in
unsere Küche gekommen, um auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“
rief Nastassja Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem Ssamowar.

„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna über die Schulter.
„Als ob ich mich dafür interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt!
Sie können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre Küche schicken
werde. Und es wundert mich, es wundert mich aufrichtig, weshalb Sie mich
immer für eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, und nicht
nur Sie allein, sondern die ganze Stadt. Ich verlasse mich auf Sie,
Pawel Alexandrowitsch! Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst,
weshalb sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? Dieser
Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag sie doch, mag sie doch die Erste
sein! Ich werde als erste zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen.
Und schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme sie stets in
Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen! Sie wird von allen
verleumdet. Aber weshalb fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung
und putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung nach ist es
aber doch besser, Putz zu lieben, als etwas anderes, wie zum Beispiel
Natalja Dmitrijewna, die ... so etwas liebt, daß man es nicht einmal
aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna Nikolajewna ewig zu Besuch
fährt und nie zu Hause sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch
überhaupt keine Erziehung, keine Bildung genossen, und daher fällt es
ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen und sich zwei Minuten
nacheinander mit ein und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und
liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht. Aber weshalb
versichert man ihr denn ewig, daß sie hübsch sei, wenn sie nur ein
weißes Gesicht hat und nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die
Zuschauer – schön! Aber weshalb beteuert man ihr denn fortwährend, daß
sie so wundervoll tanze? Sie trägt ganz entsetzliche Hüte und noch
ärgeren Kopfputz, – aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen
Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so viel
Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei, ein Konfektpapier ins
Haar zu stecken – und sie wird es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber
das ist doch hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier nicht?
Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens und abends zu ihr und
womöglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch bis
fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem gibt es hier so viel
schlechte Beispiele! Und schließlich ist das alles _vielleicht_ nur
Verleumdung. Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen!
... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der Fürst! Das ist er, er! Jetzt
würde ich ihn unter Tausenden erkannt haben! Endlich sehe ich Sie
wieder, ^mon prince^!“ rief Marja Alexandrowna aus und eilte dem
eintretenden Fürsten entgegen.


                                  IV.

Auf den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen Fürsten durchaus nicht
für einen alten Mann, geschweige denn für einen Greis halten. Erst nach
näherem und aufmerksamerem Beobachten werden Sie sehen, daß er
gewissermaßen eine auf Federn gespannte Leiche ist. Alle Künste sind
angewandt, um diese Mumie als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich
naturgetreue Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege
glänzen im schönsten Schwarz und bedecken die Hälfte des Gesichts. Das
übrige Gesicht ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie
überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? – Das vermag niemand zu
erklären. Gekleidet ist er nach neuester Mode, als wäre er aus einem
Modejournal ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas
Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich ist, jedenfalls
etwas höchst Modernes und Neues, das ausschließlich für Morgenvisiten
geschaffen ist. Handschuhe, Binde, Weste, Wäsche – alles ist von
blendender Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der Fürst hinkt ein
wenig, tut es aber so geschickt, als wäre auch das Hinken von der Mode
vorgeschrieben. In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar in
demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt eine Wolke von
Wohlgeruch. Wenn er spricht, zieht er manche Worte ganz besonders in die
Länge, – vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht
deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht jedoch auch um
des größeren Eindrucks willen. Einige Silben spricht er ganz
ungewöhnlich süß aus, den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum
Beispiel, klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher, wenn
möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse Nachlässigkeit, in
der er sich im Laufe seines langjährigen Lebemannslebens fleißig geübt
hat. Übrigens, wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten
Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von ihm aus gewissermaßen
unbewußt geschehen, wie etwa eine alte, unklare Erinnerung, eine längst
durchlebte Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle Korsetts,
Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen machen können. Und deshalb
tun wir besser, wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht
gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis schon vor langer
Zeit verloren hat, oft sogar vergißt, was er vor einer Minute
gesprochen, sich beständig versieht, viel zusammenlügt und aufschneidet.
Es gehört sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch führen
zu können. Marja Alexandrowna aber verläßt sich auf sich und so gerät
sie beim Erscheinen des Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung.

„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht im geringsten
verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide Hände des Gastes und führt ihn
zu einem bequemen Ruhestuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst.
Sechs Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, und keinen
Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen Zeit von Ihnen erhalten!
O, Sie haben mir großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen
gewesen bin, ^mon cher prince^! Aber, – Tee, Tee! Ach, mein Gott!
Nastassja Petrowna, Tee!“

„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt der Fürst (wir haben zu
erwähnen vergessen, daß er auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut
er, als wäre es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld! und
den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr wollte ich Sie un–be–dingt
be–suchen,“ fährt er langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man
riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“

„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“ sagt Marja
Alexandrowna.

„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt sich Mosgljäkoff
ein, da er sich bemerkbar zu machen wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn
mit einem strengen Blick.

„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges ... Und so unterblieb
es. Und was macht Ihr Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer
noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“

„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna stockend. „Mein Mann ist nicht
Staatsanwalt ...“

„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für Anna Nikolajewna
Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige Mosgljäkoff aus, verstummte aber
sogleich, denn Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden.

„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und ... es entfällt mir immer! –
nun ja, Antipowna, wie gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst.

„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt Marja Alexandrowna mit
bitterem Lächeln. „Ich bin nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur
gestehe – ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht erkannt
zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt, Fürst. Ich bin Ihre
einstige Freundin, bin Marja Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich
ihrer noch? ...“

„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich! Und ich war ge–rade der
Mei–nung, daß Sie eben – wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna
Wassil–jewna seien ... ^C’est délicieux!^ Al–so, ich bin nicht dorthin
gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß du mich gerade zu dieser
Anna Mat–wejewna brächtest. ^C’est charmant!^ Anbei ... das kommt nicht
selten bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin ich will.
Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer zufrieden, was auch geschehen
möge. Dann sind Sie al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist
in–teressant ...“

„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja Alexandrowna. O wieviel ich
Ihnen jetzt verzeihen muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten
Freunde vergessen!“

„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“ lispelt der Fürst und
mustert Sina.

„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch nicht, Fürst. Sie war
damals nicht hier, als Sie uns besuchten, wissen Sie noch, vor sechs
Jahren?“

„Das ist Ihre Tochter! ^Charmante! charmante!^“ brummt der Fürst und
mustert gierig das junge Mädchen. „^Mais quelle beauté!^“ flüstert er,
sichtlich überrascht, erstaunt.

„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna und lenkt die
Aufmerksamkeit des Fürsten auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem
Präsentierteller vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse und
betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen hat.

„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was für ein net–ter Knabe! U–u–nd
sicherlich ... führt er sich gut auf?“

„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe ja von
einem so entsetzlichen Unglück gehört! Glauben Sie mir, ich war außer
mir vor Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen? Sehen Sie sich
vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“

„In den Graben! In den Graben! In den Graben hat mich der Kutscher
geworfen!“ ruft der Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte,
es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges, und ich erschrak
dermaßen, sage ich Ihnen, daß – vergieb mir, Herr! ... Der Himmel
erschien mir so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das hatte ich
nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus nicht erwartet! Und schuld
daran ist ganz allein mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem auf
dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und untersuche die
Angelegenheit gründ–lich. Ich bin ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben
abgesehen hatte.“

„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch, „werde alles
untersuchen. Nur hören Sie mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur
Feier des heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“

„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen! Ich bin ü–ber–zeugt,
daß es von ihm ein Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von
Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie sich: er hat,
wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt! Es hat sich in ihm
eine ge–wis–se Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein Kommunist
im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe sogar Angst, ihm auch nur zu
begegnen!“

„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen haben, Fürst!“ ruft
Marja Alexandrowna aus. „Sie werden es mir nicht glauben, wie sehr ich
selbst unter diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen Sie
sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt, aber sie sind so dumm,
daß ich wirklich vom Morgen bis zum Abend meine liebe Not mit ihnen
habe. Sie können es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“

„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte ... ich habe es sogar
ganz gern, wenn der Die–ner zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der
wie alle alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig
zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei – und es macht seine Wür–de
aus, wenn er treuherzig und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen Fällen.
Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine gewisse Fei–erlichkeit kommt
in sein Gesicht, wie gesagt, es verleiht ihm eine gewisse
Wohlerzogenheit, ich aber verlange von einem _Menschen_ vor allen Dingen
_Wohl–erzogenheit_. Da habe ich meinen Terentij. Du erinnerst dich doch
noch Terentijs, mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte
ich ihn von vornherein zum Portier. Du sollst mein Portier sein, sagte
ich. Phä–no–menal dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber
welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein Doppelkinn so frisch
und rosig! Nun, und in der weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler
Gala macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe ihn von Herzen
lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich ihn ansehe und schließlich alles
darüber vergesse: entschieden, als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe,
– so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der deutsche
Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter, fetter Truthahn.
Vollkommenes Comme-il-faut eines bedienenden Menschen! ...“

Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und klatscht sogar leise
Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert ihr bereitwillig: ihn
interessiert der Onkel außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa
lacht. Und sogar Sina lächelt.

„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Esprit Sie haben,
Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden
noch so kleinen Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft
zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen vier Wänden
einzuschließen! Bei solchem Talent! Aber Sie könnten ja sogar
schriftstellern, Fürst! Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol
wiederholen! ...“

„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm berührt. „Ich könnte
wieder–ho–len ... und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich.
Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville geschrieben. Und es kamen
darin auch einige ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber nie
gespielt worden ...“

„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr Vaudeville lesen könnte!
Und, weißt du, Sina, gerade jetzt käme es uns so zustatten! Man plant
hier nämlich eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen Zweck,
Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und da nun Ihr Vaudeville!“

„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu schreiben ... nur, wie
gesagt, habe ich es voll–kommen vergessen. Ich weiß nur noch, es waren
da zwei oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt graziös seine
Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich im Aus–lande war, machte ich
tat–säch–lich Fu–rore. Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen auf
freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener Kongreß tanzte er be–zau–bernd
den Krakowjak.“

„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“

„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt, vielleicht war es auch nicht
Lord Byron, sondern irgend ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord
Byron, ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, sondern ein
Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne ich mich vollkommen. Das war ein äußerst
origi–neller Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später aber stellte
es sich heraus, daß er nur so etwas wie ein Koch war. Nur tanzte er
ent–zück–end den Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein.
Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn:

   Unser wun–der–voller Po–le
   Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ...

Und dann ... und dann ... das habe ich nun lei–der vergessen ... wie es
weiter ging ...

   Doch als er sich brach das Bein,
   Da stellte er das Tanzen ein ...“

„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ ruft Mosgljäkoff aus,
dessen Stimmung immer heiterer wird.

„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet Onkelchen, „oder in der
Art we–nigstens. Wie gesagt, vielleicht war es auch anders, nur war es
ein sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ... ich habe jetzt einige
Er–leb–nisse vergessen. Das kommt bei mir von der Beschäftigung ...“

„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie sich denn während dieser
ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit beschäftigt?“ erkundigt sich Marja
Alexandrowna interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, ^mon cher
prince^, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld, Näheres darüber
zu erfahren ...“

„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt, wissen Sie,
verschiedenes. Wenn man ... sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber,
wissen Sie, gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“

„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft, Onkelchen?“

„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde ich mir so etwas ein, daß
ich mich später über mich selbst wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A
propos! Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur von Kadujeff?“

„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“ ruft Pawel
Alexandrowitsch aus.

„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die ganze Zeit für den
Vi–ze-Gou–verneur, und denke noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein
ganz an–deres Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so
wür–de–volles, klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich kluger Mensch war er
und fortwährend schrieb er Gedichte, bei verschiedenen Ge–le–genheiten.
Ein wenig, so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“

„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich schwöre es
Ihnen, mit einem solchen Leben richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf
ganze fünf Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören! Sie
sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, wen Sie wollen, von
denen, die Ihnen wirklich zugetan sind – und ein jeder wird Ihnen sagen,
daß Sie ein verlorener Mensch sind!“

„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus.

„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu Ihnen, wie Ihre
Schwester! Ich sage es Ihnen nur deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil
die Erinnerung an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich für
einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln wollte? Nein, Sie müssen
Ihr Leben von Grund aus verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken,
sich überanstrengen, werden Sie sterben ...“

„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ fragt erschrocken der
Fürst. „Und denken Sie sich, Sie haben es erraten: mich quälen
ent–setz–lich meine Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ...
Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der Gelegenheit
er–staun–liche Symptome – ich werde sie Ihnen ausführlich beschreiben
... Erstens ...“

„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“ unterbricht ihn
Pawel Alexandrowitsch, „jetzt aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“

„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das ist vielleicht auch nicht so
in–ter–es–sant. Ich habe es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch
im–mer–hin eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene
E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein Lieber, ich werde dir am Abend
einen Fall aus–führ–lich erzählen ...“

„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen, sich im Auslande davon
zu heilen,“ unterbricht ihn noch einmal Marja Alexandrowna.

„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde un–be–dingt ins Aus–land
fahren. Ich entsinne mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande
war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte fast geheiratet, ^une
Vicomtesse^, eine Fran–zö–sin. Ich war damals sehr ver–liebt und wollte
ihr mein ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te
sie, sondern ein an–derer. Und welch ein selt–samer Zufall: ich war nur
auf zwei Stunden fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher
Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang in einer Irrenanstalt.“

„Aber, ^cher prince^, ich habe einzig deshalb davon gesprochen, weil Sie
im Ernst an Ihre Gesundheit denken müssen. Im Auslande gibt es so gute
Ärzte ... und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung auf sich
hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo verlassen, wenigstens für
einige Zeit!“

„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer Zeit entschlossen, und
wissen Sie, ich beabsichtige, mich hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“

„Hydropathisch?“

„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch behandeln lassen.
Ich war damals in einem Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich
habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische Dame, sie
wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein. Und bei ihr befand sich auch ihre
Tochter, die war fünfzig Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge
hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in Ver–sen. Später
hat–te sie noch ein Miß–geschick: sie hatte ihre leibeigene Magd
erschlagen und war dafür vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen
ein, mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt, nichts. Nun
ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus
Höf–lich–keit, denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke:
vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden. Ich trank und
trank, trank und trank, trank einen ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen
Sie, diese Hy–dro–pathie ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen
gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt wäre,
jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein würde ...“

„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung, Onkelchen! Sagen
Sie, Onkelchen, haben Sie jemals Logik getrieben?“

„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt streng die pikierte
Marja Alexandrowna.

„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur ist es sehr lange
her. Ich habe auch Phi–lo–sophie gelernt in Deutsch–land, habe einen
ganzen Kursus durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder
ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben mich mit diesen
Krankheiten der–ma–ßen erschreckt, daß ich ganz er–schüttert bin. Wie
gesagt, ich werde sogleich wiederkommen ...“

„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte Marja
Alexandrowna aus.

„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen neuen Gedanken
nie–der–schreiben ... ^au revoir^ ...“

„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch und biegt sich
vor Lachen.

Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld.

„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber Sie lachen!“
beginnt sie mit Eifer. „Über einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen
Verwandten, zu lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen,
und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für Sie errötet, Pawel
Alexandrowitsch! Aber so sagen Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so
lächerlich an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an ihm
finden!“

„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er den größten Unsinn
zusammenschwatzt? ...“

„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen Lebens, seines
fünfjährigen Gefängnislebens unter der Aufsicht dieses höllischen
Weibes! Man muß ihn bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar
_mich_ nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist doch
sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man muß ihn unbedingt retten!
Ich berede ihn nur aus dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich
hoffe, daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen wird!“

„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten, Marja Alexandrowna!“ ruft
Pawel Alexandrowitsch aus.

„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich, Monsieur Mosgljäkoff!“

„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich ganz im Ernst! Warum
soll man ihn denn nicht verheiraten? Das ist doch eine Idee! ^C’est une
idée comme une autre!^ Was kann ihm das schaden, sagen Sie doch, bitte!
Er ist, im Gegenteil, in einer solchen Lage, daß dieses Mittel ihn
retten könnte! Nach dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens
wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild – verzeihen Sie den
Ausdruck – befreit sein. Zweitens – und das ist die Hauptsache – nehmen
wir an, daß er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe, eine
nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen arme Witwe, die ihn
wie eine Tochter pflegt, und die auch begreift, wie viel sie ihm dafür
Dank schuldig ist, daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann
man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes, herzliches und edles
Wesen, das beständig bei ihm ist, anstelle dieses ... Weibes? Versteht
sich, sie darf nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die
Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna fixiert hat?“

„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche Braut finden?“ fragte
Nastassja Petrowna Sjäblowa, die aufmerksam zuhört.

„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht Sie, wenn Sie nur
wollen! Erlauben Sie: weshalb sollten Sie zum Fürsten _nicht_ passen?
Erstens – Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe, drittens –
adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja tatsächlich nicht reich),
fünftens – Sie sind eine sehr vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn
lieben, auf den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin ist,
mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn ins Ausland bringen,
werden ihn mit Brei und Konfekt füttern, und alles das bis zu der
Minute, in der er das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre
geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb Monaten.
Dann sind Sie Fürstin, Witwe, reich, und zur Belohnung heiraten Sie
einen Marquis oder einen Generalintendanten! ^C’est joli, n’est-ce
pas?^“

„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube ich, aus lauter Dankbarkeit
in ihn verlieben, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“
ruft Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen Augen blitzen
auf. „Nur ist das alles – Scherz!“

„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie mich mal recht nett, und
dann schneiden Sie mir einen Finger ab, wenn Sie nicht heute noch
verlobt sind! Es ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu
irgend etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘ Sie haben es
doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn so, daß er selbst nichts davon
merkt. Wir können ihn ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu
seinem Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens auf alle Fälle
etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“

Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft. Und wie vernünftig
Frau Sjäblowa auch sein mag – ihr wässert dennoch der Mund.

„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß ich heute ganz unmöglich
angekleidet bin,“ antwortet sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und
schon lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn heute nicht
wirklich wie – eine – Köchin aus?“

Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna mit eigentümlich
starrer Miene unbeweglich auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn
ich sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel Alexandrowitschs mit
einem gewissen Schreck vernahm und im Augenblick geradezu erstarrte ...
Endlich besann sie sich.

„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber es bleibt doch ein
Scherz und eine Ungereimtheit, und vor allem ist es hier durchaus
unschicklich,“ unterbricht sie Mosgljäkoff scharf.

„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna, weshalb soll es denn
eine Ungeschicklichkeit und unschicklich sein?“

„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb, weil Sie in meinem
Hause sind und der Fürst mein Gast ist, und weil ich niemandem erlauben
werde, die meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich fasse Ihre
Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. Aber Gott sei Dank! Da
ist ja der Fürst!“

„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins Zimmer eintretend. „Es
ist er–staunlich, ^cher ami^, wie viel neue Gedan–ken ich heute habe.
Zu–wei–len aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten,
zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht. Und so sitze ich oft
einen ganzen Tag.“

„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall im Wagen, Onkelchen. Das
hat Ihre Nerven erschüttert und nun ...“

„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem Um–stande zu, und finde
den Fall sogar nütz–lich. Deshalb habe ich mich auch entschlossen,
meinem Fe–o–fil zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er es nicht
auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst du dazu? Zudem ist er sowieso
vor kurzem bestraft worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“

„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er hat doch einen Bart von der
Größe des Königreichs Preußen!“

„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen. Wie gesagt, mein Lieber,
du hast voll–kom–men recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein
künst–licher Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall: plötzlich
schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man hat eine neue Sendung Bär–te
aus dem Aus–lande erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te,
sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches usw., und alle von
vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten Prei–sen. Wart, denke ich, ich
werde doch einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu sehen, wie ein
falscher aussieht. Und ich bestellte einen Kut–scherbart, denn so ein
Bart macht doch stattlicher. Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen
natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist. Wie gesagt, was
tun: soll man den echten abnehmen lassen oder den geschickten
zurücksenden und den natürlichen tragen? Ich dachte und dachte, und
beschloß, ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“

„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der Natur steht,
Onkelchen?“

„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als ihm der Bart
abgeschnit–ten wurde! Als hätte er mit seinem Bart seine ganze Karrie–re
verloren ... Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“

„Ich bin bereit, Onkelchen.“

„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur fahren werden!“ ruft
Marja Alexandrowna erregt aus. „Sie gehören jetzt _mir_, mein Fürst, Sie
gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich
nichts über die hiesige Gesellschaft sagen. Vielleicht wollen Sie auch
Anna Nikolajewna besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen nehmen!
Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt, daß die Zeit Ihnen die Augen
öffnen wird. Vergessen Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre
Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben Sie mir, Fürst,
ich zittere für Sie! Sie kennen sie nicht, nein, Sie kennen diese
Menschen noch nicht, wenigstens vorläufig nicht ...“

„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna. Es wird so sein, wie
ich es Ihnen versprochen habe,“ sagt Mosgljäkoff.

„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen! Ich erwarte Sie zum
Mittag zurück, Fürst. Wir speisen früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein
Mann auf dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen! Wenn Sie
wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie liebt!“

„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen Mann?“ fragt der Fürst.

„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! Sie haben ja alles,
alles vergessen, was früher war! Mein Mann Afanassij Matwejitsch –
entsinnen Sie sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber
Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen Sie sich nicht, Fürst
– Afanassij Matwejitschs? ...“

„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken Sie sich, ^mais c’est
delicieux^! Dann haben Sie also auch einen Mann? Was für ein
son–der–barer Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes
Vau–de–ville: Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da ... wie war es doch,
da habe ich es nun vergessen! Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie
gesagt, sehr geistvoll ...“

„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau schon aus dem
Haus‘, Onkelchen,“ souffliert Mosgljäkoff.

„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber, gerade ‚aus dem Haus‘.
Charmant, charmant! So daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du
verfällst immer auf den richtigen Vers, mein Lieber. Nun ja: ich entsann
mich noch ganz genau, daß die Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant!
Wie gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede war ...
Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein Lieber. ^Au revoir, madame, adieu
ma charmante demoiselle!^“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt sich vor Sina
und küßt seine Fingerspitzen.

„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie es nicht, schnell
zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja Alexandrowna nach.


                                   V.

„Wenn Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas in der Küche nach dem
Rechten sehen wollten,“ sagt sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet
hat. „Ich habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das Essen
unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß er betrunken ist ...“

Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft sie Marja Alexandrowna
einen mißtrauischen Blick zu und bemerkt sogleich, daß diese sich in
ungewöhnlicher Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen
Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den Saal, von dort durch
einen Korridor in ihr Zimmer und von dort in eine kleine dunkle Kammer,
in der einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen und in
Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses aufbewahrt wird. Auf den
Fußspitzen schleicht sie zu einer verschlossenen Tür, hält den Atem an,
beugt sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht. Diese Tür
ist eine der drei Türen desselben Zimmers, in dem jetzt Sina und deren
Mutter allein zurückgeblieben sind.

Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna zwar für eine durchtriebene,
aber doch mehr leichtsinnige Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der
Gedanke gekommen, daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen würde, an
den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick ist aber Marja Alexandrowna
so beschäftigt und aufgeregt, daß sie keine Zeit hat, an
Vorsichtsmaßregeln zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und
blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen Blick und eine
bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf.

„Sina!“

Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter zu und erhebt den
Blick ihrer dunklen, verträumten Augen.

„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr Ernstes zu reden.“

Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter, faltet die Hände, lehnt
sich an den Flügel und wartet. In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und
Spott wieder, was sie übrigens zu verbergen sucht.

„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute _jener_ Mosgljäkoff gefallen
hat?“

„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“ antwortet Sina gleichsam
wider Willen.

„Ja, ^mon enfant^; aber es scheint mir, daß er mit seinem ... Werben gar
zu lästig wird.“

„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte seine
Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“

„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig entschuldigt.
Im Gegenteil, du fielst immer über ihn her, sobald ich nur von ihm
sprach.“

„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer verteidigtest und
jetzt als erste über ihn herfällst.“

„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina: früher wollte ich dich
gern mit ihm verheiratet wissen. Es war mir schwer, deinen ewigen
Kummer, deine Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel,
was du auch von mir denkst! – und die meinen Schlaf in jeder Nacht
vergiftet. Ich hatte mich überzeugt, daß nur eine einschneidende
Veränderung in deinem Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung
soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und können zum Beispiel
nicht ins Ausland fahren. Die hiesigen Esel wundern sich, daß du
dreiundzwanzig Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden
allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem unserer Räte geben
oder Iwan Iwanowitsch, unserm Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich?
Mosgljäkoff ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch der beste
von allen. Er ist aus guter Familie, er hat einflußreiche Verwandschaft,
er besitzt hundertundfünfzig Seelen – das ist doch immerhin besser, als
von Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern zu leben.
Deshalb hatte ich auch mein Auge auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es
dir, ich habe nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin
überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten hat. Und wenn Gott
dir jetzt etwas Besseres geschickt hat – o! Wie gut ist es dann, daß du
ihm noch nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute nichts
Bindendes gesagt, Sina?“

„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch alles mit zwei Worten
sagen läßt?“ fragt Sina gereizt.

„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort kannst du deiner Mutter
sagen? Doch was rede ich unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht
mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber für deine Mutter.“

„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns beide noch wegen eines Wortes
streiten! Verstehen wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit
genug gehabt, uns kennen zu lernen!“

„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst nicht, daß ich zu allem,
zu allem bereit bin, um dich sicher zu stellen!“

Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an.

„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten, um mich
_sicher zu stellen_?“ fragte sie mit einem seltsamen Lächeln.

„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da du selbst darauf zu
sprechen kommst, so will ich dir sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du
den Fürsten heiraten könntest.“

„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“ rief Sina heftig aus.
„Der größte Unsinn! Und auch finde ich, Mama, daß du gar zu viel
dichterische Begeisterung hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein
weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt. Du hast beständig
Projekte. Deren Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab.
Noch als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn hattest. Und als
Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte und beteuerte, daß man den alten
Mann verkuppeln müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken
gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du daran denken und gerade
_das_ mir jetzt vorschlagen wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne
in bezug auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich quälen, so
bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen Projekt mehr zu sprechen,
hörst du, Mama, – kein Wort, und es würde mich freuen, wenn du das
behieltest!“ Sie war atemlos vor Zorn.

„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes Kind!“ entgegnete Marja
Alexandrowna mit gerührter Stimme, in der Tränen zu zittern schienen.
„Du sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine Mutter würde das
ertragen, was ich täglich von dir ertrage! Aber du bist gereizt, du bist
krank, du leidest, ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß
dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn ich nun tatsächlich an
diese Verbindung gedacht hätte – weshalb hältst du diesen Gedanken für
unsinnig? Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen, als
vorhin, – ich meine, als er bewies, daß der Fürst heiraten müsse, nur,
versteht sich, nicht diesen Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich
natürlich versehen.“

„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das nur so, aus Neugierde, oder
mit einer bestimmten Absicht?“

„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“

„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem auch ein solches
Schicksal beschieden sein kann!“ rief Sina aus und stampfte mit dem Fuß
vor Empörung. „Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen von
allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche eines Greises
auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu heiraten, diesen Klappergreis, um
ihm dann sein Geld abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu
wünschen, das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern außerdem noch
so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu solchen Gedanken nicht Glück
wünschen kann, Mama!“

Eine ganze Minute dauerte das Schweigen.

„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor zwei Jahren war?“

Sina zuckte zusammen.

„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du hast mir feierlich
gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“

„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir nur dieses eine Mal
zu erlauben, das Versprechen, das ich bis jetzt noch niemals vergessen
habe, zurückzuziehen. Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache
zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre Schweigen waren entsetzlich!
So kann es nicht weitergehen! ... Ich bin bereit, dich auf den Knien
anzuflehen – erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen! Hörst du,
Sina, deine leibliche Mutter fleht dich auf den Knien an! Und ich gebe
dir feierlich mein Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die ihre
Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner Form, und in keinem Fall,
selbst wenn es sich um die Rettung meines Lebens handelte, davon mehr
sprechen werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal geht es
nicht anders, ich muß!“

Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden Erfolg dieser
Worte.

„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde.

„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu deinem verstorbenen Bruder
Mitjä ein junger Lehrer ...“

„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama! Wozu diese ganze
Redekunst, alle diese Einzelheiten, die doch vollkommen überflüssig
sind, die doch nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt sind?“
unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie angeekelt.

„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen bin, mich vor dir zu
rechtfertigen. Zudem will ich dir diese Angelegenheit von einem ganz
anderen Standpunkt aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt aus,
von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt bist. Und schließlich, damit du
die Folgerung begreifst, die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube
nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will! Nein, Sina, du
wirst in mir eine wirkliche Mutter finden, und vielleicht wirst du
tränenüberströmt zu meinen Füßen, zu den Füßen der ‚_niedrigen Frau_‘,
wie du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten, die du so
lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht hast. Darum will ich
alles sagen, Sina, alles, von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“

„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen die Notwendigkeit
dieser Rede verwünschte.

„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der Kreisschule, fast noch ein
Knabe, machte auf dich einen mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck.
Ich vertraute zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen Stolz und
hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es muß doch einmal alles gesagt
werden –, um auch nur das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und
plötzlich kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen, daß du ihn zu
heiraten beabsichtigst! Sina! Das war ein Dolchstich in mein Herz! Ich
schrie nur auf und verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich ja
noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig, meine ganze Macht zu
gebrauchen, die du damals Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer
Knabe, der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur zwölf Rubel
hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die nur aus Mitleid in der
„Bibliothek zur Aufklärung“ abgedruckt werden und der von nichts anderem
als nur von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß – dieser
Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs! Aber das ist ja ein Ding
der Unmöglichkeit! Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran
bringt mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab; aber keine Macht der
Welt vermag dich aufzuhalten. Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur
mit den Augen und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du aber
bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du kommst sogar mit ihm
zusammen, und was am furchtbarsten ist, du entschließt dich, mit ihm zu
korrespondieren. In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte. Mir werden
von allen Seiten Stiche versetzt; man freut sich, man posaunt es schon
aus, und plötzlich gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es
kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich als deiner
vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel – ich kann ihn unmöglich einen
Mann nennen! – und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum zu
zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß du ihm eine Ohrfeige
gibst. Ja, Sina, auch dieses weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der
Unglückliche zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem Lump
Sanschin und nach einer Stunde befindet sich dieser Brief in den Händen
Natalja Dmitrijewnas, meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser
Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich zu vergiften. Kurz, es
ist ein entsetzlicher Skandal zu erwarten! Dieser Schmierpinsel
Nastassja kommt erschrocken zu mir gelaufen mit der furchtbaren
Nachricht, daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in den
Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach zwei Stunden wird die ganze
Stadt um deine Schmach wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in
Ohnmacht, – aber mit welchen Schlägen hast du mein Herz getroffen, Sina!
Diese Schamlose, dieses Scheusal Nastassja verlangt zweihundert Rubel
bar und dafür schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich selbst
laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden Bumstein und verpfände
meinen Schmuck, das Andenken meiner seligen Mutter! ... Nach zwei
Stunden ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn gestohlen.
Sie hat die Schatulle erbrochen – deine Ehre ist gerettet, der Beweis
vernichtet! Aber in welcher Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen
lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal in meinem Leben,
daß ich vereinzelte graue Haare hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über
diesen Knaben urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht mit
einem bitteren Lächeln, daß es der größte Wahnsinn gewesen wäre, ihm
dein Leben anzuvertrauen. Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind,
du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn – denn er ist
deiner stets unwürdig gewesen –, sondern das Phantom deines einstigen
Glücks kannst du nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf
dem Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber, in deiner
Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange er noch lebt, um sein Herz
nicht zu zerreißen, denn er quält sich noch immer mit seiner Eifersucht
herum, wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit einer so
tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß, seitdem er von
Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt er spionieren, auflauern und
ausfragen. Du schonst ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott
allein weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt habe! ...“

„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher Qual. „Das mit
dem Kissen war wohl sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es
denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“

„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich auf mich, mein Kind!
Meine Augen sind in diesen zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich
habe meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir, ich selbst
habe mich in dieser Zeit in vielem verändert! Ich habe längst deine
Gefühle begriffen und ich gestehe es, erst jetzt kann ich die ganze
Größe deines Schmerzes nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf
machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit nur für Romantik hielt,
die dieser verwünschte Shakespeare heraufbeschworen hat, dieser
Dummkopf, der seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht
haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines Schreckens, wegen der
Maßregeln, die ich ergriff, wegen der Strenge meines Urteils verdammen?
Jetzt aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren gesehen
habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle. Glaube mir, ich habe
dich vielleicht besser verstanden, als du dich selbst verstehst. Ich bin
überzeugt, daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine eigenen
goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine erhabenen Ideale. Auch ich
habe geliebt und vielleicht noch leidenschaftlicher als du. Auch ich
habe gelitten. Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und darum
– wer kann mich deshalb verurteilen, und vor allem – kannst du mich
deshalb verurteilen, weil ich die Verbindung mit dem Fürsten für die
beste Rettung halte, für das Notwendigste, was du in deiner
augenblicklichen Lage tun kannst und tun mußt?“

Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede an, denn sie wußte, daß
ihre Mutter nicht ohne Grund einen solchen Ton anschlug. Die letzte
unerwartete Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf.

„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit diesem Fürsten zu
verheiraten?“ rief sie verwundert aus und sah erschrocken die Mutter an.
„Dann sind es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine feste
Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten? Und ... und ...
inwiefern wird mich denn diese Heirat retten und weshalb ist sie so
notwendig? Und ... und ... was hat das damit zu schaffen, was du soeben
hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte? ... Ich verstehe dich
nicht, Mama!“

„Ich wundere mich, ^mon ange^, wie du das nicht verstehen kannst!“ ruft
Marja Alexandrowna aus, die jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein
das, daß du in eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere
Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest, das für dich voll ist
von unangenehmen Erinnerungen, in dem du keinen einzigen Freund hast,
weder unter den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet
worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich wegen deiner Schönheit
hassen. Du könntest noch in diesem Frühling nach Italien fahren, in die
Schweiz, nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra ist, der
Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen hier mit dem
unanständigen Namen ...“

„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits verheiratet wäre
oder zum mindesten als hätte der Fürst bereits um mich angehalten!“

„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß, was ich rede. Erlaube,
daß ich fortfahre. Den ersten Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt
der zweite: ich begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen
du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest ...“

„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn niemals geheiratet
hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach Sina heftig und ihre Augen
blitzten.

„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife, mein Kind! Es ist
furchtbar, einem zu gehören, den einem Manne Liebe schwören müssen, den
man nicht liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den man
nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine Liebe: nur ihretwegen würde
er dich heiraten, das sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft,
wenn du dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –! Ich habe
es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe zur Genüge ausgekostet! Dein
Vater hat mich unglücklich gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend
ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“

„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“ sagte Sina.

„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach, Sina! Mir wollte das
Herz zerspringen, als ich – aus Berechnung – deine Vermählung mit
Mosgljäkoff wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht zu
verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn nicht lieben kannst
... und er ist ja auch garnicht _fähig_, solche Liebe zu verlangen ...“

„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch, daß du dich von Grund
aus täuschst, von Anfang an, gerade in der Hauptsache! Begreife doch,
daß ich mich nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich überhaupt
nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe unverheiratet! Du hast
mich zwei Jahre lang gefoltert, bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du
wirst dich damit aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt! So
wird es sein!“

„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen nicht so auf, noch
bevor du alles gehört hast! Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube
mir, daß ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre und du
wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der Fürst wird vielleicht noch ein
Jahr leben, zwei wäre viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine
junge Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen davon, daß du
nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich und unabhängig bist! Mein Kind,
du hörst vielleicht mit Verachtung all diese Berechnungen –
Berechnungen, die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind. Aber –
ich bin Mutter und welche Mutter wird mich wegen meiner Fürsorge
verurteilen? Und schließlich, wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben
immer noch bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er noch
lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten habe, – so denk doch
nur, daß du, wenn du den Fürsten heiratest, ihn seelisch auferstehen
machst, ihm eine große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde
Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß Eifersucht auf den
Fürsten unmöglich ist, sie wäre lächerlich. Er wird begreifen, daß du
aus Berechnung geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich
begreifen, daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten kannst, wenn
du willst ...“

„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten, nimm ihm das
Geld ab, warte dann auf seinen Tod, um nachher den Geliebten zu
heiraten. Du verstehst sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich
dazu verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe dich, Mama,
verstehe dich vollkommen! Du kannst dich nie enthalten, selbst in einer
schändlichen Angelegenheit nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du
doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine Schändlichkeit,
aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige ein.‘ Das wäre wenigstens
aufrichtig gewesen.“

„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt nur von diesem
Standpunkt aus die Sache ansehen, – vom Gesichtspunkte des Betruges und
der Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich, für Betrug?
Aber, um aller Heiligen willen, wo ist denn hier Betrug, was ist hier
schändlich? Geh zum Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man
ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du, die du eine solche
Schönheit bist, du opferst diesem Greise deine besten Jahre! Du wirst
wie ein wundervoller Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie ein
grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie diese Nessel, diese
schamlose Person, die ihn behext hat und seine Säfte aussaugt? Ist denn
sein Geld, sein Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn
hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht, was du sprichst,
Sina!“

„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man einen Krüppel heiraten
muß! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“

„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man kann es sogar von einem sehr
hohen, sogar von einem christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind!
Du hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn gesagt, daß du
barmherzige Schwester werden wolltest. Dein Herz hat gelitten und ist
jetzt verstockt. Du hast gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben
könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so wende deine
Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande zu, tue es aufrichtig wie ein
Kind mit dem ganzen Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und Gott
wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls gelitten, er ist
unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne ihn seit mehreren Jahren und
habe stets eine unbegreifliche Sympathie für ihn empfunden, eine Art
Liebe sogar, als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein Freund, sei ihm
eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug – wenn einmal alles gesagt
werden muß! – Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun, um
der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das nicht. Er ist ein
halber Mensch, – hab Mitleid mit ihm: du bist Christin! Zwinge dich
dazu: solche Taten werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt.
Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu verbinden, die
übelriechende Lazarettluft einzuatmen. Es gibt aber Engel Gottes, die
alle diese Pflichten erfüllen und obendrein Gott für ihre Bestimmung
noch danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes Herz – eine
Beschäftigung, eine große Tat, und deine Wunden würden vernarben. Wo ist
hier nun Egoismus, wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir nicht! Du
denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn ich dir von Pflichten
und großen Taten rede. Du kannst es nicht verstehen, daß ich, eine
weltliche, eitle Frau, ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann?
Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber gib wenigstens zu,
daß ihre Worte vernünftig sind. Wenn du willst, so denk, daß nicht ich
rede, sondern irgend ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre mir
den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare Stimme zu dir
spricht ... Dich verwirrt doch hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst,
für Geld geschehen solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte doch
auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte nur das Notwendigste
für dich und alles übrige verteile unter die Armen. Hilf zum Beispiel
ihm, diesem unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“

„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise, wie zu sich selbst.

„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“ antwortete die
triumphierende Marja Alexandrowna, „sie wird sie hinter seinem Rücken
annehmen. Du hast deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt
hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem halben Jahr. Ich
weiß es. Ich weiß auch, daß die Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um
ihren unglücklichen Sohn ernähren zu können.“

„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“

„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja Alexandrowna sofort auf,
und wahre Begeisterung erfaßte sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte
sie beglückt, „ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei
schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist denn das, der das
sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte ich mich bei Kalist Stanislawitsch
nach ihm: ich interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina.
Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit allerdings
gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich überzeugt, daß es
Schwindsucht nicht sein könne, sondern nur so – ein ziemlich ernstes
Brustleiden. Du kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte
mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen Verhältnissen,
namentlich in einem anderen Klima, nach einem Luftwechsel und unter
anderen Eindrücken sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir,
daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon gehört, sogar gelesen
– daß bei Spanien eine besondere Insel sei, Madeira, glaube ich –
jedenfalls hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke, sondern
auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund geworden sind. Viele
fahren nur zu dem Zweck hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu
lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch Kaufleute,
jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra, diese Myrten, diese
Zitronenbäume und diese Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese
Umgebung muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine poetische Natur
machen. Du glaubst vielleicht, daß er deine Unterstützung, dein Geld für
diese Reise nicht annehmen wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut!
Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. Mach ihm
Hoffnung, versprich ihm deine Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst,
wenn du Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen Weise sagen.
Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem unterstützen, Sina. Du tust es,
um sein Leben zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles
erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er wird selbst seiner
Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken, wird Medizin einnehmen und die
Vorschriften der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen, um das
verheißene Glück genießen zu können. Und wenn er gesund geworden ist, so
wirst du ihn zwar nicht heiraten, aber er wird dann doch wenigstens
gesund sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich kann
man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht hat ihn das Leben inzwischen
zum Besseren verändert, und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du
ihn ja später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig. Du kannst,
wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung in der Welt verschaffen, er
kann durch dich Karriere machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher
sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände euch bevor,
wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet? Allgemeine Verachtung,
Armut. Schulbuben an ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit
seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares, ewiges
Leben in Mordassoff und dann sein unvermeidlicher, naher Tod. Während du
ihm so, wenn du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu einem
nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit gibst. Indem du ihm
verzeihst – zwingst du ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein
schändlicher Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines neuen
Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn mit der Hoffnung und
söhnst ihn mit sich selbst aus. Er kann dann in den Staatsdienst treten,
kann sogar zu Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht gesund
wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt mit sich selbst,
in deinen Armen – denn du kannst ja selbst in diesem Augenblick bei ihm
sein –, überzeugt von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten der
Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel! O, Sina! Alles das ist
in deiner Macht! Alle Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles
durch die Verbindung mit dem Fürsten!“

Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es folgte ein ziemlich
langes Schweigen. Sina befand sich in unbeschreiblicher Aufregung.

Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben und wir
können sie auch nicht alle erraten. Es scheint, daß Marja Alexandrowna
den richtigen Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da sie nicht
wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz befand, hatte sie zuerst alle
Möglichkeiten versucht, bis sie zu guter Letzt erriet, welcher der
richtige Weg war. Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten
Stellen dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich nicht
ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen, obschon sie wußte, daß sie
damit Sina nicht täuschen würde.

„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna, „sie wird mir
doch nicht glauben. Wenn man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn
ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr offen nicht
sagen darf!“

Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los und erreichte es
auch: Sina hörte schließlich gespannt zu, ihre Wangen glühten und sie
atmete erregt.

„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn auch das totenblasse
Gesicht deutlich aussprach, was dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama
...“

In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch im Vorzimmer und
einer schrillen, scharfen Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte,
unterbrochen. Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf.

„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel schickt mir diese Elster auf
den Hals! Aber ich habe sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen!
Was soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen! Ich muß!
Sie kommt bestimmt mit Nachrichten, sonst würde sie es doch nicht wagen,
zu erscheinen. Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt wissen ...
Ich darf nichts unbeachtet lassen! – Aber nein, wie dankbar ich Ihnen
bin für Ihren Besuch!“ rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden
Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur meiner erinnert,
meine teure Ssofja Petrowna? Welch eine ent–zück–ende Überraschung!“

Sina lief aus dem Zimmer.


                                  VI.

Ssofja Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten, glich nur seelisch
einer Elster. Körperlich erinnerte sie eher an einen dünnen Sperling.
Sie war eine kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden Augen
in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen und anderen gelben Flecken
bedeckt war. Ihr kleiner, ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen,
festen Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid, das
beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur zwei Sekunden lang, sich
ruhig verhalten konnte. Sie war eine geradezu bösartige, rachsüchtige
Klatschbase. Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen zu Kopf
gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft beraubt hatte. Mit ihrem
Mann jedoch, dem Oberst a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm
bei der Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie jeden Morgen
vier Gläschen Branntwein und am Abend dieselbe Portion, und haßte bis
zum Wahnsinn Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche die Tür
gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna Paskudina, die dabei geholfen
hatte.

„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, ^mon ange^,“ begann
sie mit ihrer kreischenden Stimme. „Es ist ganz überflüssig, daß ich
mich gesetzt habe. Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns
geschehen. Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und das wegen dieses
Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen – ^vous comprenez!^ – suchen ihn,
fangen ihn, reißen ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu
sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es nicht glauben! Sie
glauben es nicht! Aber wie haben Sie sich nur entschließen können, ihn
von sich fortzulassen? Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja
Dmitrijewna ist?“

„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna auf und sprang mit
einem Satz von ihrem Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum
Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, aber nur
auf einen Augenblick!“

„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie ihn wieder einfangen
können! Den Gouverneur hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er
zu Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben, daß er bei ihr
speisen würde, Nataschka aber, die jetzt in einem fort bei ihr sitzt,
hat ihn sofort zum Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt
Ihren Fürsten!“

„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch versprochen ...“

„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch gleichfalls hingefahren!
Seien Sie froh, wenn er dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und
wieder alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst wird an
den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft werden. Und was sie da
alles klatscht, diese Nataschka! Sie sagt es ganz ungeniert und laut,
daß Sie sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen Zwecken –
^vous comprenez^? Sie setzt es ihm selbst auseinander. Er begreift
natürlich nichts, sitzt da wie ein begossener Pudel und sagt zu allem:
‚Nun ja, nun ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort
hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich: fünfzehn Jahre
alt und immer noch zieht sie dem Mädchen kurze Kleider an! Immer noch
bis zu den Knien, wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie nach
der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls im kurzen Kleide,
nur war das noch kürzer, nicht einmal bis zu den Knien, – ich habe es
durch mein Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen rote Mützen mit
Federn gesetzt – was das zu bedeuten hatte, weiß ich nicht! Und dann
mußten diese beiden Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen!
Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er schnalzte! ‚Diese
Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘ und betrachtete sie vom Kopf bis zu
den Füßen durch sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide ganz
erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm, und das soll ein Tanz
sein! Ich habe selbst getanzt, wissen Sie, mit einem Schal, als ich
Madame Jarnies Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich einen
wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar Senatoren klatschten mir
Beifall! Dort wurden nur Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier
aber war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham, ich verging, ich
verging! Ich hielt es einfach nicht aus! ...“

„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna? Sie sind doch ...“

„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt. Ich sage das einem
jeden ganz offen. ^Mais, ma chère^, ich wollte wenigstens durch einen
Türspalt diesen Fürsten mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich
ihn denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren sein, wenn
es sich nicht um diesen elenden Fürsten gehandelt hätte? Denken Sie
sich: allen wird Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst
spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht getan ... Diese
Verleumderin! Ich werde ihr aber jetzt! ... Doch adieu, ^mon ange^,
adieu, ich eile, ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna
zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur sagen Sie jetzt Ihrem
Fürsten Lebewohl! Den werden Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er
hat ja kein Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt bei
sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie ... ^vous comprenez?^ – in
bezug auf Sina ...“

„^Quelle horreur!^“

„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze Stadt spricht nur noch
davon. Anna Nikolawjewna will ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten
und dann, versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum Trotz, um
Sie zu schikanieren, ^mon ange^. Ich habe durch einen Zaunspalt in ihren
Hof gelauert: ein Hasten und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der
Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt ... sogar nach
Champagner ist geschickt worden. Eilen Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn
unterwegs auf, wenn er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt!
Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur, damit diese
geriebene, abgefeimte, ungebildete Person über uns lachen kann! Sie ist
nicht einmal meine Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt ist!
Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin in Madame Jarnies
aristokratischer Pension erzogen worden ... ^Mais adio, mon ange!^ Ich
habe meinen Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“

Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna zitterte vor
Aufregung, aber der erteilte Rat war äußerst klar und praktisch. Sie
hatte keine Zeit zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte
Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna eilte in das Zimmer
ihrer Tochter.

Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, bleich
und verstört in ihrem Zimmer umher. Ihre Augen waren verweint, doch in
ihrem Blick, den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit. Sie
unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches Lächeln erschien
auf ihren Lippen.

„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen, „du hast viel von
deiner Redekunst an mich vergeudet, gar zu viel. Du hast mich aber doch
nicht blind gemacht. Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich
gegebenenfalls die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte, wenn
ich dazu nicht im geringsten berufen bin, eine niedrige Handlungsweise
mit edlen Zielen rechtfertigen zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der
mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht betören können und ich
will, daß du das vor allem weißt!“

„Aber, ^mon ange^!“ rief etwas ängstlich Marja Alexandrowna aus.

„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich bis zu Ende anzuhören. Trotz
der vollen Erkenntnis dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz
meiner vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit dieser
Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen Vorschlag vollkommen ein, hörst
du: _vollkommen_, und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den
Fürsten zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen
Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem Heiratsantrag zu bringen.
Wozu ich es tue? – Das ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich
entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen: ich werde
ihm die Stiefel reichen, ich werde seine Wärterin sein, ich werde ihm zu
seinem Vergnügen vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu verdecken;
ich werde alles, alles tun, nur damit er es nicht bereut, daß er mich
geheiratet hat! Doch als Gegenleistung für meinen Entschluß verlange
ich, daß du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen willst,
daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem Tone davon zu sprechen
angefangen hast, so – ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen
Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben aufrichtig! Diese
Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Ich kann nicht
darauf eingehen, wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“

Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten Entschluß ihrer Tochter so
bestürzt, daß sie eine ganze Weile wie taub und stumm vor ihr stand und
sie nur aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch nicht einmal
denken vor Verwunderung. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, lange
noch mit der trotzigen „Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes
Anstandsgefühl sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und nun
hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem einverstanden und zu
allem bereit war, und sogar gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es _so_
stand, dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“, – und
Freude erglänzte in Marja Alexandrownas Augen.

„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du bist mein Fleisch und
mein Blut!“

Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte zur Tochter, um sie in
ihre Arme zu schließen.

„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine Umarmungen gebeten, Mama!“
wehrte sich Sina mit angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein
Entzücken nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf meine Frage
und nichts weiter.“

„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind! Ich vergöttere dich, du
aber stößt mich von dir ... ich tue es doch nur in der Sorge um dein
Glück ...“

Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna liebte ihre Tochter
tatsächlich, nur tat sie es – auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der
Erfolg und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina begriff, daß die
Mutter sie liebte und – diese Liebe bedrückte sie.

„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so aufgeregt,“ sagte sie, um
die Mutter zu beruhigen.

„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“ versicherte
Marja Alexandrowna, im Augenblick wieder belebt, „ich begreife es doch,
daß du erregt bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit
... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen aufrichtig, glaube mir:
Wenn du mir nur glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen
bestimmten Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre, noch nicht habe,
Sinachen, und das ist ja auch ganz unmöglich. Du, als kluges Köpfchen,
wirst doch verstehen, weshalb nicht. Ich sehe sogar einige
Schwierigkeiten voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase da die Ohren
vollgeblasen ... Ach, mein Gott! Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin
vollkommen aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde das
Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine Überzeugung ist
durchaus nicht poetischer Natur, wie du vorhin sagtest, mein Engel. Sie
beruht auf der Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der
völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber ist doch derart! ...
ist doch ein solcher Kanevas, daß man alles auf ihm ausnähen kann – was
man nur will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört! Aber wie
sollen denn diese Gänse mich überlisten!“ rief Marja Alexandrowna stolz
aus, schlug mit der Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß
nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste, daß man sofort
beginnt ... Wenn es nur irgend geht, muß heute noch das Hauptsächlichste
erledigt werden.“

„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... _aufrichtiges Geständnis_: Weißt
du, weshalb ich mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht
traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen kann. Ich habe dir
gesagt, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit entschlossen habe, wenn
aber die Einzelheiten deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu
schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann nicht
aushalten und mich dann von dem ganzen Vorhaben zurückziehen werde. Ich
weiß, daß das eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit
zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in dem sie schwimmt, – doch
was soll ich tun? Es wird ja bestimmt so sein! ...“

„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere Schändlichkeiten,
^mon ange^?“ wagte die Mutter schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es
sich doch nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen sich
doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt aus zu sehen, und
alles wird dann sogar sehr anständig erscheinen ...“

„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht Verstecken mit mir! Du
siehst doch, ich bin mit allem, mit allem, einverstanden! – was willst
du denn noch mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge bei
ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das jetzt – meine einzige
Beruhigung.“

Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen.

„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann in den Gedanken nicht
ganz übereinstimmen und dennoch sich gegenseitig achten. Nur, – wenn
dich die Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie schmutzig
sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen mir: ich schwöre dir,
daß kein Tröpfelchen Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn
vor allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich und alles wird
vorzüglich und durchaus anständig arrangiert werden, die Hauptsache ist
– durchaus anständig, sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten
Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines, unvermeidliches
Skandälchen geben sollte, – so ... irgendwie! – so sind wir dann doch
schon über alle Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen sie
dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns an? Sie werden uns
ja doch nur beneiden. Und sind diese Menschen es denn überhaupt wert,
daß man sich um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen, sei
mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz sie so fürchtest!“

„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du willst mich nur nicht
verstehen!“ antwortete Sina gereizt.

„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich sage ja nur, daß sie
selbst an jedem Tage, den Gott werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du
aber würdest dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber was fällt mir
ein! Was rede ich dumme Person! Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist
hier eine Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du
sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir. Ich werde es dir
beweisen, mein Kind. Erstens, ich wiederhole: es hängt alles nur davon
ab, von welchem Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“

„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“ unterbrach Sina sie
zornig und stampfte mit dem Fuß auf.

„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde nicht! Ich habe mich
wieder verplappert ...“

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna folgte unruhig
ihrer Tochter und suchte zaghaft deren Blick, wie etwa ein kleines,
unartig gewesenes Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht.

„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen willst,“ sagte Sina, die
ihren Ekel niederrang. „Ich bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen
wirst. Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich, Mama, wird
es eine Schande sein.“

„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein Engel – deshalb mach dir
keine Sorgen! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns
einigen – um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen.
Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern ich mich trocken
herausgearbeitet habe! Ich habe noch ganz anderes erlebt und
durchgehalten! Nun, erlaub mir nur wenigstens, dies da zu versuchen!
Jedenfalls ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich mit
dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles übrige wird nur davon
abhängen! Aber ich fühle auch das schon alles voraus. Sie werden sich
alle empören, aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen
wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“

„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich.

„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich nicht, Sinachen! Ich
schwöre dir, ich werde ihn so weit bringen, daß er uns noch helfen wird!
Du kennst mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was ich in der
Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen! Vorhin, als ich von der
Ankunft dieses Fürsten hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im
Augenblick wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’ doch selbst,
wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet bei uns absteigen
würde? Eine solche Gelegenheit wird es ja in tausend Jahren nicht wieder
geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist ehrlos, daß du einen
Greis und Krüppel heiratest, sondern daß du einen heiratest, den du
verabscheust und nicht ertragen kannst und dennoch in _Wirklichkeit_
seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du doch nicht eine
wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist doch keine Ehe! Das ist einfach
ein häuslicher Kontrakt! Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem Esel,
gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du weißt ja gar nicht, wie
schön du heute bist! Du bist nicht nur schön, du bist geradezu
wunderbar! Ich würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich
verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel sind sie alle! Wie soll man
diese Hand nicht küssen?“ – Und Marja Alexandrowna küßte
leidenschaftlich der Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper,
mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht anders, mit Gewalt zur
Heirat zwingen, den Esel! Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du
wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im Glück lebst? Wir
haben uns ja oft gestritten, mein Engelchen, aber immerhin hast du doch
keinen so treuen Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“

„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast, so ist es vielleicht gut
für dich ... etwas zu tun. Hier aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina
ungeduldig.

„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es höchste Zeit, daß ich
gehe! Ach! Ich habe hier so lange geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam
zur Besinnung. „Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen. Ich
fahre im Augenblick! Ich werde einfach vorfahren, Mosgljäkoff
herausrufen lassen und dann ... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen,
wenn’s darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen, mein
Täubchen, laß den Mut nicht sinken, zweifle nicht, sei nicht traurig,
vor allem – sei nicht traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst
vornehm arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von welchem
Standpunkt aus man die Sache auffaßt ... nun, leb wohl, leb wohl! ...“

Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte dann in ihr Zimmer,
drehte sich dort einen Augenblick vor dem Spiegel und zwei Minuten
später rollte sie schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für
den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die Straßen von
Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte „^en grand^“.

„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“ dachte sie, als
sie in ihrem Wagen saß. „Sina ist einverstanden, folglich ist die halbe
Arbeit schon getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn!
Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ... endlich! Also auch auf dein
Köpfchen können andere Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr
aber auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die Wirkung hat
endlich einmal nicht versagt: Aber ... es ist ja ganz unfaßlich, wie
schön sie heute aussieht! Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach
meinem Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ... Der Shakespeare wird ihr
schon aus dem Kopf kommen, wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge
kennen lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und ihren Lehrer! ... Hm
... Aber was für eine Fürstin sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an
ihr. Diese Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr – und eine
Königin hat einen angesehen! Wie, wie soll man denn nicht seinen eigenen
Vorteil begreifen? Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch
das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin bei ihr sein. Ich werde
schon dafür sorgen, daß sie in allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne
mich aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin sein, auch
in Petersburg wird man mich kennen lernen. Leb wohl dann, erbärmliches
Städtchen! Dieser Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird sterben
und dann werde ich sie mit einem regierenden Fürsten verheiraten! ...
Nur eines macht mir Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut?
Bin ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht? Sorgen
macht sie mir, weiß Gott ... ich fürchte sie fast ...“

Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es läßt sich nicht leugnen:
sie hatte allen Grund, besorgt zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen
ganz mit Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft.

Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch lange auf und ab in
ihrem Zimmer, die Arme verschränkt und mit ihren Gedanken beschäftigt.
Sie dachte über vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder:
„Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit dazu gewesen!“ Was
hatte dieser Ausruf zu bedeuten? Mehr als einmal blitzten Tränen in
ihren langen, seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer Stimmung
Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer Mutter waren ganz überflüssig.
Umsonst bemühte sie sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen:
Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle Folgen gefaßt
gemacht.

„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa, als sie nach der Abfahrt
der Frau Oberst Karpuchina aus der dunklen Kleiderkammer wieder
hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa Schleife anstecken,
für diesen elenden Fürsten! Auch ich dumme Gans glaubte, daß er mich
heiraten würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber Marja
Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel sein, ich soll mich mit
zweihundert Rubel bestechen lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas
abließe oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich nahm das Geld
auf ehrliche Weise; ich nahm es für die mit dem Vorhaben verknüpften
Ausgaben ... Vielleicht habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das
dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen oder andere
dafür bezahlt habe! Ich habe doch für dich gearbeitet und du schonst
deine Hände! Du willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal, ich
werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch beiden zeigen, was für
ein Schmierpinsel ich bin! Ihr sollt einmal Nastassja Petrowna und deren
ganze Bescheidenheit kennen lernen!“


                                  VII.

Doch Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer Eingebung fortreißen. Sie
hatte einen großen und gewagten Plan. Ihre Tochter an einen Krösus,
einen Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß niemand es
erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche und Schutzlosigkeit ihres
Gastes, sie gewissermaßen auf „diebische Weise“, wie ihre Feinde
unfehlbar sagen würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt,
sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan verlockend
vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens wurde die, welche ihn entworfen
hatte, doch wohl mit ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe mich
aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“ hatte sie zu
Sina gesagt und sie hatte recht. Was wäre sie denn auch sonst für eine
Heldin gewesen!

Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig einem Überfall auf offener
Straße, doch Marja Alexandrowna schenkte auch dem nicht gar zu viel
Aufmerksamkeit. Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich richtigen
Gedanken: „Sind sie erst getraut, so können sie die Trauung nicht mehr
ungeschehen machen,“ – ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke,
der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen Vorteilen anlockte, daß es
Marja Alexandrowna bei der blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt
überlief und sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte. Überhaupt
befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung und saß wie auf Nadeln. Als
inspirationsfähige Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte
sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich, vorläufig noch
skizzenhaft, überhaupt – ^en grand^, halb noch schleierhaft sah sie ihn
vor ihrem geistigen Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und
verschiedene unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja Alexandrowna
glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht etwa aus Furcht vor dem
Mißlingen auf, – o nein! Sie wollte nur schneller beginnen, sich
schneller in den Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte
sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse und möglichen
Zwischenfälle. Ich will das deutlicher erklären. Die größte Gefahr ahnte
und erwartete Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern, den
Mordassowern, und vornehmlich von der höheren Gesellschaft der
Mordassower Damen, deren unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte.
Zum Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in der Stadt
bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich noch niemand ein Wort
darüber gesprochen hatte. Aus mehrfach gemachter trauriger Erfahrung
wußte sie, daß es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben hatte,
selbst wenn es das geheimste war, das nicht binnen zwölf Stunden jedes
Hökerweib auf dem Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht
sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die Gefahren, aber
solche Vorahnungen betrogen sie nie. Auch diesmal betrogen sie sie
nicht. Was aber inzwischen geschehen war und was sie noch nicht mit
ganzer Sicherheit wußte, war folgendes:

Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach der Ankunft des Fürsten
in Mordassoff, verbreiteten sich in der Stadt absonderliche Gerüchte.
Wie und wo sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet hatten
sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten einander, daß Marja
Alexandrowna ihre Sina mit dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß
Mosgljäkoff der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so gut wie
besiegelt und unterschrieben sei. Was war die Veranlassung zu diesen
Gerüchten gewesen? Sollten die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut
gekannt haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer
tiefinnerlichen Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder die
Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der gewöhnlichen Ordnung der
Dinge – denn so etwas läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde
abmachen – noch die freie Erfindung derselben – denn es vermochte
niemand anzugeben, woher dieses Gerücht stammte – konnten den
Mordassowern den Glauben daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich
hartnäckig weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger wurde. Am
erstaunlichsten ist aber, daß es sich schon zu der Zeit zu verbreiten
begann, als Marja Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit Sina
anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn der Provinzler sein.
Der Instinkt des Kleinstädters grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare
– und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf dem intimsten,
langjährigen Studium des Nächsten, das mit größtem Interesse getrieben
wird. Ein jeder Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt
absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor seinen ehrenwerten
Mitbürgern zu verbergen. Alle kennen einen auswendig, ja sie wissen
sogar das, was man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der
Kleinstädter müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach Psychologe
und Gedankenleser sein. Deshalb hat es mich auch zuweilen aufrichtig
gewundert, daß ich in der Provinz so oft statt dieser Psychologen und
Gedankenleser so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch das war nur
nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige Bemerkung.

Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung. Die Verheiratung mit dem
Fürsten erschien einem jeden dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“,
daß das Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen weiter
auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken: Sina wurde fast noch mehr
gehaßt, als Marja Alexandrowna, – weshalb? – das vermag ich nicht zu
sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der Grund zu diesem Haß.
Vielleicht kam auch noch hinzu, daß Marja Alexandrowna immerhin von
„unserem Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde man es –
wer weiß? – noch bedauert haben. Sie unterhielt die Gesellschaft mit
ihren beständigen Geschichten. Ohne sie wäre es vielleicht langweilig
gewesen. Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in den Wolken und
nicht in der Stadt Mordassoff. Sie paßte nicht zu diesen Leuten, sie
stand nicht auf ihrer Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm
sich vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich
hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte „diese Sina“, von der man
sich sogar „skandalöse Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina –
Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft
hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet ist, heiratet sie
dann vielleicht einen Herzog, vielleicht sogar einen General oder
vielleicht gar einen Gouverneur – und der Gouverneur unseres
Gouvernements war gerade Witwer und hatte eine große Schwäche für das
schöne Geschlecht. Dann würde sie die erste Dame im Gouvernement sein –
und, versteht sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich,
weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen Unwillen in
Mordassoff hätte hervorrufen können, als diese von der Vermählung Sinas
mit dem Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von allen
Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde und eine Gemeinheit. Man
sagte, der Alte sei nicht bei vollem Verstande, er sei betrogen worden,
übertölpelt und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche. Einige
meinten sogar, daß man den Alten aus diesen blutgierigen Krallen
erretten müsse, daß es geradezu Räuberei sei, und schließlich –
inwiefern sei denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch andere
junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten!

Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen ahnte Marja Alexandrowna
vorläufig nur, aber das genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle,
aber auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich war, zu
greifen bereit wären, um die Verwirklichung ihrer Pläne zu verhindern.
Wollte man doch den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß
sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es ihr auch gelingen
sollte, den Fürsten wieder einzufangen, so konnte sie ihn in ihrem Hause
doch nicht festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute, daß
vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps der Mordassower Damen
in ihrem Salon erscheinen würde und noch dazu unter solchem Vorwande,
daß man sie unmöglich _nicht_ empfangen konnte? Läßt man an der Tür
absagen, so kommen sie durch das Fenster herein: ein fast unmöglicher
Fall, sollte man meinen, der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff
vorgekommen ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde zu verlieren –
und dabei war noch nichts getan worden, nicht einmal angefangen hatte
sie ihr Werk! Da kam ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im
Augenblick in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall werden wir an
der richtigen Stelle nicht zu sprechen vergessen, vorläufig aber sagen
wir nur, daß unsere Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von
Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu einem
regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich sein sollte, um
sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen. Sie wußte noch nicht, wie sie
es machen und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie mit
unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff untergehen
würde, als daß auch nur ein Jota ihrer Absichten nicht in Erfüllung
ginge.

Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet hätte. Sie traf
den Fürsten auf der Straße an und brachte ihn zu sich zum Mittagessen.
Wenn man jetzt fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer
Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna Nikolajewna mit einer
langen Nase auf den Gast vergeblich warten zu lassen, so bin ich
gewissermaßen verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage
geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas halte. _Sie_ sollte
irgend so eine Anna Nikolajewna Antipowa nicht besiegen können? Sie
verhaftete einfach den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer
Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen
– und dazu gehörten auch die Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen
Skandal befürchtete – setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage.
Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna vor ihren Feindinnen
aus, daß sie in entscheidenden Momenten nicht viel nach anderen fragte
und nicht einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun einmal zu
ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg alles rechtfertige.
Freilich leistete auch der Fürst keinen bedeutenden Widerstand, vergaß
vielmehr nach seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und war
dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne Unterlaß, war bei sehr
guter Laune, machte Witzchen und erzählte Anekdoten, die er nicht
beendete, oder er ging von der einen auf eine andere über, ohne es
selbst zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei Glas Champagner
getrunken. Bei Tisch trank er auch noch, denn Marja Alexandrowna
schenkte ihm eigenhändig ein, bis er dann endgültig den letzten Rest
seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor. Das Essen an sich
war tadellos. Der „schändliche“ Nikitka hatte es zum Glück nicht
verdorben. Die Hausfrau belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer
bezaubernden Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen Anwesenden um
so langweiliger. Sina war gewissermaßen feierlich stumm. Mosgljäkoff
fühlte sich offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er schien
über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich selten an ihm zu
bemerken war, so beunruhigte es Marja Alexandrowna nicht wenig.
Nastassja Petrowna Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und
machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche Zeichen, die
dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte. Wäre die Hausfrau nicht so
liebenswürdig und heiter gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an
einen Leichenschmaus erinnert.

Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in unbeschreiblicher
Aufregung. Allein schon Sinas ernstes Gesicht und ihre verweinten Augen
ängstigten sie unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große
Schwierigkeit überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt keinen
Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte Mosgljäkoff aber sitzt und
rührt sich nicht, wie ein alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und
nur andere stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart! Marja
Alexandrowna erhob sich mit besorgtem, fast angstvollem Herzen. Wie groß
war daher ihre Verwunderung, ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so
ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie die Tafel
aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet erklärte, daß er zu
seinem größten Leidwesen, versteht sich – sie verlassen müsse.

„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna mit ungeheurem Mitgefühl.

„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff etwas unruhig und
betreten an, „es ist mir etwas äußerst Seltsames passiert. Ich weiß
nicht einmal, wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um
Gotteswillen einen Rat!“

„Was, was ist es denn?“

„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener Kaufmann ... der kam mir
heute auf der Straße entgegen. Der gute Alte ist mir entschieden böse,
macht mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin ich zum
dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht ein einziges Mal bei ihm
gewesen. Nun und heute mußte er mich fassen und da hat er mich denn
aufgefordert: ‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist es punkt
vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten Sitte, sobald er vom
Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr um fünf. Was soll ich tun? gewiß,
es ist ja, Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes! Er hat
doch meinen seligen Vater aus der Schlinge gezogen, damals, als dieser
Kronsgelder verspielt hatte. Und deshalb wurde er dann auch mein Pate.
Wenn meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande kommt – nun, ich
habe doch nur hundertundfünfzig Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital
von einer Million Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr.
Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er einem schließlich
noch Hunderttausend testamentarisch. Und siebzig Jahre alt – bedenken
Sie doch nur!“

„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch! Weshalb zögern Sie denn?“
rief Marja Alexandrowna in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so
fahren Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin! Mit solchen
Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb! – ich wunderte mich die ganze
Zeit während des Essens. Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, ^mon
ami^, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon gleich am Morgen
Ihre Aufwartung machen müssen, um ihm zu zeigen, daß seine
Freundlichkeit Ihnen schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach,
diese Jugend, diese Jugend!“

„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“ rief Mosgljäkoff
verwundert aus, „Sie haben doch noch selbst verschiedene absprechende
Bemerkungen über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch vor
kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen Bart, stehe mit
Schankwirten auf gleicher Stufe, mit ganz gewöhnlichen Leuten?“

„Ach, ^mon ami^! Ich kann mich doch auch einmal irren, ich bin nicht
unfehlbar! Ich entsinne mich dessen nicht mehr so genau ... vielleicht
war ich in einer Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten Sie
noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich war das Egoismus
meinerseits, aber jetzt muß ich doch unwillkürlich von einem anderen
Standpunkte aus urteilen, und welche Mutter würde es mir in diesem Falle
verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern Sie keinen Augenblick!
Sie müssen auch den Abend bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! –
erzählen Sie ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe und
überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie es nur nicht
ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott! Wie konnte ich nicht früher
darauf verfallen! Ich hätte Sie sofort hinschicken müssen!“

„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff war entzückt.
„Von nun an, Ehrenwort, werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben
Sie mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ... Nun, auf
Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen Sie mich, bitte,
bei Sinaïda Afanassjewna. Aber ich kehre ja ...“

„Ich segne Sie, ^mon ami^! Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht vergessen,
ihm von mir zu erzählen! Er ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe
schon längst meine Meinung über ihn geändert ... Und übrigens habe ich
immer dieses Altrussische, Unverfälschte an ihm geliebt ... ^Au revoir,
mon ami, au revoir!^“

„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom Halse nimmt! Nein, da
sieht man, Gott selbst steht mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor
Freude.

Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer und zog seinen Pelz
an, als plötzlich, wie aus der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna
Sjäblowa vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet.

„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am Arm fest.

„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate – er hat geruht, mich aus
der Taufe zu heben ... Ein reicher Alter, wird mir vielleicht was
hinterlassen, da muß man ihn günstig stimmen!“ ...

Mosgljäkoff war in der besten Stimmung.

„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf die Braut!“ sagte Nastassja
Petrowna schroff.

„Wieso verzichten?“

„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon gehört! Machen Sie doch
nur die Augen auf: da will man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe
es selbst gehört.“

„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja Petrowna!“

„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht gefällig, sich selbst
davon zu überzeugen? Werfen Sie den Pelz fort und kommen Sie!“

Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von den Schultern und
folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen. Sie führte ihn in dieselbe
dunkle Kleiderkammer, in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte.

„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe entschieden nicht!
...“

„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein wenig bücken und zuhören.
Die Komödie wird sicherlich bald beginnen.“

„Was für eine Komödie?“

„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie besteht darin, daß man Sie
einfach betrügt. Am Vormittag, als Sie mit dem Fürsten ausgefahren
waren, hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde beredet,
diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch solche Köder ausgehängt,
daß mir geradezu übel wurde. Ich habe hier alles gehört. Sina willigte
ein. Und wie reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält Sie
einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz offen, daß sie Sie unter
keiner Bedingung heiraten würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte
mir noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“

„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist, wenn das wahr ist!“
stotterte Mosgljäkoff, der mit dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna
ansah.

„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere Dinge hören.“

„Wo soll ich denn horchen?“

„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“

„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht fähig, andere zu
belauschen ...“

„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber, stecken Sie die Ehre mal in
die Tasche: sind Sie hergekommen, so horchen Sie!“

„Aber ...“

„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen Sie bitte mit langer
Nase ab! ... Ich tue es nur zu seinem Besten und er wird jetzt noch
hochmütig! Mir kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal bis
zum Abend hier bleiben ...“

Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum Spalt. Sein Herz
schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er wußte kaum, was er
tat.


                                 VIII.

„So haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht bei Natalja
Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja Alexandrowna, die mit gierigem Blick
das Feld der bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit einem
möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte. Das Herz klopfte ihr vor
Aufregung und Erwartung.

Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt worden, in dem ihn
die Hausfrau auch am Morgen empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge
geschahen bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf den sie sehr stolz
war. Der alte Herr konnte sich nach den sechs Glas Champagner nicht mehr
ganz sicher auf den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß. Marja
Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit nur von kurzer Dauer sein
könnte und der Gast bald schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den
Augenblick ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige Greis mit
eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete und ihr Mutterherz
erzitterte vor Glück.

„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst. „Und wissen Sie, eine
beispiellose Frau, diese Natalja Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“

Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch mit ihren großen Plänen war,
so traf sie doch ein so lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz.

„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und ihre Augen blitzten. „Wenn
sogar diese Natalja Dmitrijewna eine beispiellose Frau sein soll, dann
weiß ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann kennen Sie
ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten! Das ist doch nichts als
eine Ausstellung der eigenen Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine
Komödie, nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese Schale etwas
auf und Sie werden eine ganze Hölle unter Blumen entdecken, ein ganzes
Wespennest, in dem Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“

„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das wun–dert mich!“

„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, ^mon prince^! Hör, Sina, ich muß, ich
muß doch dem Fürsten diesen lächerlichen und beschämenden Vorfall mit
dieser Natalja erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt doch noch?
Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen gepriesene Natalja Dmitrijewna,
die Sie so entzückt hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich
bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen – nur um Sie
zu erheitern, um Ihnen hier in einer lebenden Probe, sozusagen durch ein
optisches Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor zwei
Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir. Es wurde Kaffee gereicht,
ich aber mußte aus irgend einem Grunde den Salon auf einen Augenblick
verlassen. Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch an Stückzucker
in der silbernen Dose hatte: sie war noch ganz voll. Ich kehre zurück
und was sehe ich? – es liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der
Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im Zimmer gewesen. Wie
finden Sie das! Sie ist eine reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine
Zwischenfall ist natürlich lächerlich, aber hiernach können Sie auf die
Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“

„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig erstaunt. „Was für eine
un–natürliche Habgier! Und sie hat alles allein aufgegessen?“

„Nun sehen Sie, was für eine _beispiellose_ Frau sie ist, mein Fürst!
Wie gefällt Ihnen diese schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich,
noch in derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so
widerlichen Handlung entschlossen hätte!“

„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist doch immerhin ^belle
femme^.“

„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber ich bitte Sie, Fürst, sie ist
doch einfach ein Marktweib! Ah, ^mon prince, mon prince^! Was haben Sie
da gesagt! Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet ...“

„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie, sie ist so gebaut ... Nun
ja, und dieses Mädchen, das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut
...“

„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein Kind, Fürst! Sie ist
erst vierzehn Jahre alt!“

„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös und bei ihr
entwickeln sich gleichfalls ... Formen. So ein net–tes Ding. Und die
an–de–re, die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls ...“

„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird von ihnen oft ins Haus
gerufen.“

„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig, wie gesagt, wenn sie doch
we–nig–stens die Hände vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie
gesagt, gleichfalls ver–führerisch ...“

Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst Sina immer aufmerksamer
und immer lüsterner durch sein Lorgnon.

„^Mais quelle charmante personne!^“ murmelte er halblaut und schnalzte
fast vor Wonne.

„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns ein Lied! Wenn Sie
wüßten, wie schön sie singt, Fürst! Man kann sagen, sie ist eine
Künstlerin, eine vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“
fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina zum Flügel ging – sie
hatte einen so ruhigen, fast schwebenden Gang, der dem Alten noch den
letzten Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für eine Tochter sie
ist! Wie sie zu lieben versteht, wie zärtlich sie zu mir ist! Welche
Gefühle, welch ein Herz!“

„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich habe nur eine einzige Frau
gekannt, in meinem ganzen Leben, mit der ich ihre Schön–heit
ver–glei–chen könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer mehr
wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin Nainskij, sie starb vor et–wa
dreißig Jahren. Eine wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher
Schönheit ... später heiratete sie noch ihren Koch ...“

„Ihren Koch, Fürst!?“

„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen ... im Aus–lande. Sie hatte
ihm dort im Aus–lande einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine gu–te
Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ... mit einem kleinen Schnurr–bart
...“

„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein Fürst?“

„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen bald auseinander.
Er plünderte sie vollkommen aus und fuhr dann fort. Sie waren wegen
einer Sau–ce in Streit geraten ...“

„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina.

„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie sie singt Fürst! Lieben
Sie Musik?“

„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr Musik. Im Aus–lande war ich
mit Beet–ho–ven bekannt.“

„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war mit Beethoven bekannt!“
wiederholt Marja Alexandrowna entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich
mit Beethoven bekannt?“

„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem Fuß. Seine Nase hatte er
be–ständig in der Tabaksdose. So ein komischer Mensch!“

„Beethoven?“

„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt, auch nicht
Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr
viel Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt ...“

„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina.

„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt du noch, soviel
mittelalterlich Ritterliches war, diese Schloßherrin und ihr Troubadour
... Ach, Fürst! Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen,
diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben! Diese Troubadours,
Herolde, Turniere ... Ich werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich
hierher, Fürst, etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“

„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch, diese Burgen,“ murmelte
der Fürst entzückt, während er sein einziges Auge in Sina geradezu
hineinbohrte. „Aber ... ^mon Dieu!^ – diese Romanze! ... Aber ... ich
kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer Zeit gehört ... Sie
er–in–nert mich so daran ... Ah, ^mon Dieu^!“

Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit dem Fürsten geschah,
als Sina sang. Sie sang eine alte französische Ballade, die einmal sehr
beliebt gewesen war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr reiner,
klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein; ihr wundervolles
Gesicht mit den herrlichen Augen, ihre schmalen, zarten Finger, mit
denen sie die Blätter umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu
einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich hebende und senkende
junge Brust, ihre ganze Gestalt, die stolz, schön und edel vor ihm stand
– alles das schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann. Er
verschlang sie mit den Blicken, als sie sang, er schluckte nur noch vor
Aufregung. Sein Greisenherz, das von Champagner, Musik und Erinnerungen,
die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer schneller und
lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft hatte. Er hätte vor Sina
niederknieen und weinen mögen, nachdem sie geendet hatte.

„Oh, ^ma charmante enfant^!“ rief er aus und küßte ihre Hand, „^vous me
ravissez!^ Erst jetzt, erst jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ...
aber ... oh, ^ma charmante enfant^ ...“

Und die Stimme versagte ihm sogar.

Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick gekommen war.

„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich dazwischen.
„Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft, soviel seelischer Reichtum, und Sie
graben sich für Ihr ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man
sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen! Das ist doch
unverzeihlich! Besinnen Sie sich, Fürst! So sehen Sie doch mit klarem
Blick auf das Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes in Ihrem
Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend, an die heiteren sorglosen
Tage: erwecken Sie sie wieder, lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie
doch wieder in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins Ausland,
nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, Fürst. Brauchen Sie einen
Führer, ein Herz, das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt?
Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur ein Wink genügt und sie
werden in Scharen angelaufen kommen! Ich werde die erste sein, die alles
hinwirft und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich habe unsere
Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich werde meinen Mann
verlassen und Ihnen folgen ... und selbst wenn ich noch jünger wäre,
wenn ich so schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich Ihre
Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre Frau, wenn Sie es nur
wünschten!“

„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie ^une charmante personne^ waren, zu
Ih–rer Zeit,“ sagte der Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren
feucht.

„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete Marja Alexandrowna mit
hohem Gefühl. „Ich habe gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist
sie – meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der ich alle meine
Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben Bewerber zurückgewiesen, nur um
sich nicht von mir trennen zu müssen.“

„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn Sie mich ins Ausland
be–glei–ten? In dem Fall werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief
der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt fahren! Und wenn ich
mir mit der Hoffnung schmeicheln könnte ... Aber sie ist ja ein
be–zau–berndes, ein be–rück–endes Kind! Oh, ^ma charmante enfant^ ...“
Und der Fürst küßte ihr von neuem die Hand. Der Arme, er wollte sogar
vor ihr niederknien!

„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich mit der Hoffnung
schmeicheln könnten?“ griff Marja Alexandrowna auf, die neue
Beredsamkeit in sich fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten
Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der Beachtung einer Frau?
Nicht Jugend macht die Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie
sozusagen ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant der
feinsten, der ritterlichsten Gefühle und ... Manieren! Hat sich denn
Maria nicht in den alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen,
daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe Louis ... ich habe
vergessen, des wievielten – noch in alten Jahren, als Greis, das Herz
einer der ersten Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat Ihnen
gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat Sie auf diesen Gedanken
gebracht? Können denn Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit
Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit, Geist,
Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie brauchen ja nur irgendwo im
Auslande, in einem Kurort mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer
Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede nicht unbedingt von
ihr, ich führe sie nur als Beispiel an – und Sie werden sehen, was für
einen kolossalen Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück
Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten! Sie führen
sie am Arm feierlich in die Säle. Sie wird in den glänzendsten
Gesellschaften singen und Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen
um sich streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen, um
dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird davon reden, denn alle Zeitungen,
alle Feuilletons in den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, ^mon
prince^! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln
dürften?“

„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das ist in den Zeitungen ...“
murmelte der Fürst, der die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und
immer gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det hat –
singen Sie mir dann noch einmal diese Ro–man–ze vor, die Sie soeben
sangen!“

„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere Romanzen, noch bessere
... Entsinnen Sie sich noch des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben
es sicherlich gehört!“

„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich habe es ver–ges–sen.
Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze, dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen
hat! Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze hören ...“
bat der Fürst wie ein eigensinniges Kind.

Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der Arme nicht mehr bezwingen
und sank vor ihr auf die Knie nieder. Er weinte sogar.

„Oh, ^ma belle châtelaine^!“ Seine Stimme zitterte vor Altersschwäche
und Aufregung. „Oh ^ma charmante châtelaine^! O, mein liebes Kind! Sie
haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes ... Ich
glaubte immer, daß alles besser werden würde, als es dann wurde. Ich
sang damals Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze ...
jetzt aber ... ich weiß nicht mehr, was jetzt ist ...“

Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und stockend hervor. Seine
Zunge wurde merklich steif. Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man
sah nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war – und so
beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl ins Feuer zu gießen.

„^Mon prince!^ Aber Sie werden sich ja schließlich noch in meine Sina
verlieben!“ rief sie aus. Sie fühlte, daß der Augenblick entscheidend
war.

Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen.

„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief der Alte aus, plötzlich
wie neu belebt, während er immer noch vor ihr kniete und vor Aufregung
am ganzen Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben! Und
wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber er–he–ben Sie mich, ich bin ein
we–nig schwach ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen dürf–te, ihr
mein Herz an–zu–bieten, so ... würde ich ... sie würde mir jeden Tag
Ro–manzen vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ... im–mer
an–se–hen ... Ah, ^mon Dieu^!“

„^Mon prince, mon prince!^ Sie halten um ihre Hand an! Sie wollen sie
mir fortnehmen, meine Sina, meinen Liebling, meinen Engel, mein
Sinachen! Kind, ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich mir
aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich nicht! – aus den
Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna stürzte sich auf die Tochter und
umschlang sie krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark
zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas zu eifrig. Sina litt mit
jeder Fiber und sah mit unerträglichem Ekel auf die ganze Komödie. Aber
sie schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter zur
Durchführung ihres Planes nötig hatte.

„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht von ihrer Mutter trennen
zu müssen!“ beteuerte Marja Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz
die bevorstehende Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf, wie sie Sie
ansah ... Sie haben sie mit Ihrem Aristokratismus besiegt, Fürst, mit
dieser ausgesuchten Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! – das
fühle ich!“

„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer noch wie ein
Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor.

„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna aus und warf
sich von neuem der Tochter an den Hals.

Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende zu machen. Sie reichte
dem Fürsten stumm ihre wundervolle Hand und zwang sich sogar zu einem
Lächeln. Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen und
bedeckte es mit hundert Küssen.

„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor, hingerissen in
seiner Begeisterung.

„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an, „siehe diesen Menschen! Er
ist der ehrenhafteste, der edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das
ist ein mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie weiß es,
zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb sind Sie hergekommen! Ich übergebe
Ihnen meinen kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie ihn,
Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche Mutter würde mir meinen
Schmerz nicht nachfühlen?“

„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu.

„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren, Fürst! Ihr Degen wird den
Verleumder oder den Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu
strafen wissen!“

„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“

„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt erst beginne ich zu
leben ... Ich will, daß die Hochzeit sofort sei, im Augenblick ... ich
... Ich will so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe ich
Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen ...“

„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle Gefühle!“ rief Marja
Alexandrowna aus. „Und Sie konnten, Fürst, Sie konnten sich so
vergraben, sich so von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen
tausendmal vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an diese höllische
...“

„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche Angst!“ stammelte der Fürst
halb weinend mit unsicherer Stimme. „Sie wollten mich in eine
Ir–ren–an–stalt ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“

„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese unmenschlichen
Menschen! O, diese Niedertracht! ^mon prince^ – ich habe schon früher
davon gehört! Aber das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und
weshalb nur, aus welchem Grunde?“

„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“ antwortete der Alte,
der sich vor Schwäche hinsetzte. „Ich, wissen Sie, ich war auf einem
Ball und erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te ihnen nicht
ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand die Ge–schich–te!“

„Und das allein war der Grund, Fürst?“

„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt, mit Fürst Pjotr
De–men–tjitsch, und war ohne sechs ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge
und drei Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei Kö–ni–ge ...
Nein! einen König! Und dann erst kamen die Da–men ...“

„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit! Sie weinen,
mein Fürst! Aber jetzt brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde
ich bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von Sina trennen,
und dann wollen wir doch sehen, ob sie noch ein Wort zu sagen wagen!! –
... Und Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie wird sie
beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen, daß Sie dann noch fähig
sind ... das heißt, sie werden sich sagen, daß eine solche Schönheit
doch nicht einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie stolz das
Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die Augen sehen ...“

„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die Augen sehen,“ murmelte der
Fürst und die Augen fielen ihm zu.

„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“ dachte Marja
Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz meine Worte!“

„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie müssen sich jetzt
unbedingt beruhigen, sich erholen,“ sagte sie gütig zuredend, indem sie
sich mütterlich zu ihm beugte.

„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“ sagte er.

„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen ... Warten Sie,
ich werde Sie selbst geleiten ... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen,
wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf dieses Porträt,
Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter, – eines Engels, aber nicht einer
Frau! O, weshalb weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine
Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“

„Eine Hei–li–ge? ^c’est joli^ ... Ich habe gleich–falls eine Mutter
gehabt ... ^une princesse^ ... und – denken Sie sich – es war eine
außer–ge–wöhn–lich vol–le Frau ... Aber, wie gesagt, ich wollte etwas
an–de–res sagen ... Ich bin etwas er–mü–det. ^Adieu, ma charmant
enfant!^ ... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ... morgen ... Nun
ja, gleichviel! ^au revoir, au revoir!^“ Er wollte noch mit der Hand
einen Gruß senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre fast
gefallen.

„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf meinen Arm!“ rief ihm
Marja Alexandrowna zu.

„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen. „Jetzt erst beginne
ich zu leben ...“

Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge eine erdrückende Last auf
ihren Schultern. Ihr ward fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst
verachten mögen. Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften Händen,
zusammengebissenen Zähnen stand sie, den Kopf gesenkt und rührte sich
nicht. Tränen der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde die Tür
aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer.


                                  IX.

Er hatte alles gehört, alles!

Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein – denn eintreten konnte
man es wahrlich nicht nennen. Sina sah ihn verwundert an.

„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe ich endlich erfahren,
was Sie sind!“

„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie einen Wahnsinnigen
verständnislos ansah; plötzlich aber begriff sie und Zorn blitzte in
ihren Augen.

„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie trat auf ihn zu.

„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff feierlich, trat aber
doch unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück.

„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür gelauscht?“

„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser niedrigen Tat
entschlossen, dafür aber habe ich jetzt erfahren, daß Sie die aller ...
Ich weiß nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen
... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während sein Mut unter
ihrem Blick immer mehr dahinschwand.

„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen können Sie mich denn
beschuldigen? Welch ein Recht haben Sie überhaupt, mir etwas
vorzuwerfen? Welches Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“

„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie fragen das noch? Sie heiraten
den Fürsten und ich soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr
Wort gegeben! Ganz einfach!“

„Wann?“

„Wieso wann?“

„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder in mich drangen,
deutlich gesagt, daß ich Ihnen nichts Bestimmtes versprechen könne.“

„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht zurückgewiesen, Sie haben
mir nicht endgültig abgesagt! Sie haben mich also für den Notfall
aufbewahrt! Sie haben mich angelockt!“

In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches Gefühl wieder;
wie etwa von einem scharfen, durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie
bezwang sich.

„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete sie langsam und
deutlich, wenn auch in ihrer Stimme ein leises Zittern zu hören war, „so
habe ich es nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten, noch
ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen nicht sofort Nein zu sagen,
sondern Sie näher kennen zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn
Sie sich überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter Mensch bin,
dann werden Sie mich vielleicht doch nicht abweisen‘. Das sind Ihre
eigenen Worte, die Sie zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können
sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir zu sagen, daß ich
Sie angelockt hätte! Sie haben aber doch meinen Widerwillen bemerkt, als
ich Sie zwei Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah, und
diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen, im Gegenteil, ich
habe ihn offen gezeigt. Und Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst
fragten mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher
wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen nicht anlockt,
vor dem man seinen Widerwillen weder verbergen kann noch _will_. Sie
haben es gewagt, mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt.
Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir über Sie etwa folgendes gedacht
habe: ‚Wenn er auch nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so
kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich könnte man
ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich mich zu meinem Glück noch
rechtzeitig überzeugt habe, daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß
noch ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes übrig, als
Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche Reise zu wünschen. Leben Sie
wohl!“

Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam das Zimmer.

Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren hatte und geriet außer
sich.

„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“ schrie er, „so bin ich
denn ein Dummkopf! Gut! Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde
ich der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter den Fürsten
umgarnt haben, nachdem er von Ihnen genügend angeheitert worden ist!
Allen werde ich es erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“

Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um zu antworten, bedachte
sich aber, zuckte nur verächtlich mit der Achsel und schlug die Tür
hinter sich zu.

Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna in der anderen
Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs letzten Ausruf vernommen, erriet in einer
Sekunde den ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war noch nicht
fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff
konnte ja die Neuigkeit in der ganzen Stadt verbreiten, während doch
gerade die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für noch so kurze
Zeit, die erste Bedingung war! Marja Alexandrowna hatte ihre eigenen
Berechnungen. Nur einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und
dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung Mosgljäkoffs
entworfen.

„Was haben Sie, ^mon ami^!“ fragte sie, trat auf ihn zu und streckte ihm
freundschaftlich die Hand entgegen.

„Was! Noch ‚^mon ami^‘!“ schrie Mosgljäkoff in rasender Wut. „Nach
allem, was Sie getan haben, noch ^mon ami^! Das verbitte ich mir, meine
Gnädigste! Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen zu können!“

„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie in einer so
_sonderbaren_ Stimmung angetroffen habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist
das für ein Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren Sie
sich einer Dame gegenüber bedienen.“

„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles was Sie wollen, nur keine
Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff. Ich weiß nicht, was er eigentlich
sagen wollte, jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen sein.

Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an.

„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger Stimme und wies auf
denselben Stuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten der Fürst gesessen
hatte.

„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff
war ganz verdutzt. „Sie sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir,
sondern womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da – da – das geht
doch nicht! ... Dieser Ton! ... Aber das übersteigt doch jedes Maß der
menschlichen Geduld! ... Wissen Sie das auch?“

„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „Sie werden mir erlauben,
Sie immer noch so zu nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als
mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich, Sie sind mitten ins Herz
getroffen – und deshalb wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem
solchen Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen, Ihnen alles
aufzudecken, mein ganzes Herz, um so mehr, als ich mich selbst ein wenig
schuldbewußt vor Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“

Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend, weich und auch in ihrem
Gesicht drückte sich Leiden aus. Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr
gegenüber.

„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone fort und sah ihn
vorwurfsvoll an.

„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich es nicht getan hätte!
Dann wäre ich ja der richtige Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles
erfahren, was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er frech. Sein
eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn noch mehr auf.

„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich zu einer solchen
Handlung entschließen können? – O, mein Gott!“

Mosgljäkoff sprang auf.

„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch unerhört! Denken Sie doch
gefälligst daran, wozu _Sie_ sich bei _Ihrer_ Erziehung und Ihren
Grundsätzen entschlossen haben, und dann verurteilen Sie andere!“

„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine Heftigkeit zu
beachten, „wer hat Sie dazu verleitet, uns zu belauschen, wer hat es
Ihnen erzählt, wer hat hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst
wissen will.“

„Verzeihung – das sage ich nicht.“

„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe gesagt, ^cher Paul^, daß
ich schuldbewußt vor Ihnen dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann
werden Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine solche
zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß ich Ihnen das Beste
gewünscht habe.“

„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über die Hutschnur! Glauben Sie mir,
daß Sie mich jetzt nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer
Junge!“

Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in den Fugen knackte.

„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger zu sein, wenn es Ihnen
möglich ist. Hören Sie mir aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst
in allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen sogleich
alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von mir den ganzen Sachverhalt bis
auf die kleinsten Details erfahren, ohne sich durch Belauschen
erniedrigen zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt
habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das Ganze doch noch nichts
als ein in der Luft schwebender Plan war. Es konnte ja ebensogut auch
nichts daraus werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen. Zweitens:
beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina liebt Sie bis zum Wahnsinn
und es hat mir unglaubliche Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und
durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“

„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen gehabt, den
glänzendsten Beweis für diese Liebe _bis zum Wahnsinn_ zu vernehmen,“
bemerkte Mosgljäkoff ironisch.

„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? Soll das die Rede
eines Verliebten sein? Und schließlich – welcher wohlerzogene Mensch
spricht in diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“

„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht um den Ton! Aber am
Vormittag, nachdem Sie so liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben
Sie mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach verleumdet!
Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben ihr nur Schlechtes von mir
gesagt! Ich weiß alles, alles!“

„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“ fragte Marja
Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln. „Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich
habe Sie angeschwärzt, ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt, und ich
gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben habe. Aber beweist das
nicht – daß ich gezwungen war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu
verleumden – beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas Einwilligung,
sich von Ihnen loszusagen, zu erringen war? Wie können Sie so
kurzsichtig sein? Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es
dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich zu machen, in so
unvorteilhaftem Licht zu zeigen – kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu
greifen? Aber Sie wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner
Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen herauszureißen,
und erst nach unglaublichen Anstrengungen habe ich nur eine äußerliche
Einwilligung erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß es
Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen um den Fürsten mit
keinem Wort, keinem Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit
hat sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen hat sie wie ein
Automat. Ihre ganze Seele wand sich vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr
machte ich der Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort. Ich
bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein war. Als Sie
eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt haben ...“

Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er ins Zimmer gestürzt
war, Tränen in ihren Augen bemerkt hatte.

„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen mich gewesen, Marja
Alexandrowna? Warum haben Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet –
was Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“

„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn Sie gleich zu Anfang so
vernünftig gefragt hätten, dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja,
Sie haben recht! Alles das habe _ich_ getan und nur _ich_ allein. Sina
lassen Sie hier ganz aus dem Spiel. Und weshalb ich es getan habe? Meine
Antwort ist: in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem
Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, macht sie eine
glänzende Partie. Und schließlich, wenn er sterben sollte, was
vielleicht sogar sehr bald geschehen kann – denn wir sind ja alle mehr
oder weniger sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin, in der
besten Gesellschaft und unermeßlich reich. Dann kann sie heiraten, wen
sie will, sie kann die glänzendste Partie machen – doch wird sie
selbstverständlich nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen
Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein schon die Reue
würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen, den sie früher geliebt,
wieder gut zu machen ...“

„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich seine Stiefel betrachtete.

„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“ fuhr Marja
Alexandrowna fort, „denn Sie werden das vielleicht nicht einmal
begreifen. Sie lesen Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen
Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie, wenn auch _sehr
gutmütig_, so doch noch zu jung, – ich aber bin Mutter, Pawel
Alexandrowitsch! So hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum
Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will ich ihn retten.
Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten, geradezu ritterlichen Greis
auch früher schon geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich in
den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird ihn noch unter die Erde
bringen! Gott hat es gesehen, daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat
habe bewegen können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat der
Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich von dem Edelmut, von
der Begeisterung für die große Überwindung fortreißen lassen. Sie hat
selbst viel Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine
Christenpflicht ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das Kind, die
Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein, dem vielleicht nur noch ein
einziges Lebensjahr vergönnt ist. Ihn würde dann nicht dieses
schändliche Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten
Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, Freundschaft und Liebe.
Diese letzten Tage würde er im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus
– sagen Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer barmherzigen
Schwester, aber nicht Egoismus!“

„Dann ... dann haben Sie es also nur für den Fürsten getan und aus
Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“ brummte Mosgljäkoff spöttisch.

„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch, sie ist recht
deutlich. Sie glauben vielleicht, daß hier die Vorteile des Fürsten mit
den eigenen Vorteilen jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen?
Vielleicht habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur war sie nicht
jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich weiß, daß Sie sich über ein so
offenes Geständnis wundern werden, aber ich bitte Sie nur um eines,
Pawel Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit im Spiel
ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet nicht, sie versteht
nur zu lieben – mein liebes Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet
hat, so bin ich es, _ich allein_! Aber fragen Sie doch in allem Ernst
Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer hätte an meiner Stelle im gegebenen
Fall nicht berechnet? Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren
uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt,
unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei alle, indem sie sich selbst
versichern, daß sie es nur aus Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht
betrügen: ich gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner
Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob ich _meinen_ Vorteil
berechnet habe? Ich brauche nichts mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe
mein Leben abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel, mein
Kind, und – welche Mutter würde mir das in diesem Fall zum Vorwurf
machen?“

Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas. Mosgljäkoff hörte in
höchster Verwunderung diese ganze offenherzige Beichte an und blinzelte
nur verständnislos mit den Augen.

„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich. „Sie verstehen gut
zu reden, Marja Alexandrowna, – aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr
Wort gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was glauben Sie wohl,
wie mir jetzt zumute ist? Denken Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer
langen Nase abziehen!“

„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, ^mon
cher Paul^! Ich sage Ihnen: in allen diesen Berechnungen lag für Sie ein
so großer Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem
Unternehmen entschlossen habe.“

„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie denn das?“

„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig sein!“ rief Marja
Alexandrowna mit beredtem Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da
sehen wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare liest, träumt
und sich einbildet zu leben – während man nur mit fremdem Verstande und
mit fremden Gedanken lebt! Mein _guter_ Pawel Alexandrowitsch, Sie
fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben Sie, daß ich zur
besseren Übersicht etwas abweiche: Sina liebt Sie – darüber kann kein
Zweifel bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz ihrer
offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen zu Ihnen in ihr
verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe
bemerkt, daß sie sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu
Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und ihres Mißtrauens. Haben
Sie das nicht auch selbst bemerkt, Pawel Alexandrowitsch?“

„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar heute ... Aber was wollen
Sie denn damit sagen, Marja Alexandrowna?“

„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt! Folglich täusche ich
mich nicht. Und sie mißtraut gerade der Beständigkeit Ihrer guten
Neigungen. Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was im
Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen Sie sich vor, daß Sie,
anstatt mit Vorwürfen und fast sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie
zu reizen, zu kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und
stolz vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem Argwohn
bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken, – stellen Sie sich
jetzt vor, daß Sie statt dessen diese Nachricht ruhig, mit Tränen des
Bedauerns oder sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem Edelmut,
der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen hätten ...“

„Hm! ...“

„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. Ich will
Ihnen dieses ganze Bild ausmalen, das auch unfehlbar Eindruck auf Sie
machen wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr getreten
wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe dich mehr als mein Leben,
doch Familienrücksichten trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns
scheiden. Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr, mich
gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir. Sei glücklich, wenn du
es kannst!‘ und hierauf hätten Sie sie noch einmal angesehen, mit einem
Blick – mit dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so
ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen Sie sich dann,
welch einen Eindruck diese Worte auf ihr Herz gemacht hätten!“

„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß es sich so verhält; ich
begreife das sehr wohl ... aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und
wäre dann doch leer abgezogen ...“

„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will
unbedingt das ganze Bild entrollen, mit allen späteren Folgen, um Sie zu
überzeugen. Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach einiger Zeit
ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen. Sie treffen sich irgendwo auf
einem Ball, bei strahlender Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer
Musik, inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen Frohsinns
ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich, bleich und folgen nur
ihr allein mit den Blicken, an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß
man Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft bewegt.
Sie tanzt. Die berauschenden Klänge Straußscher Walzer umschmeicheln
Sie, der Esprit der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber sind
einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft! Was wird dann
in Sinaïda vor sich gehen – denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen
wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken, ‚ich konnte an
diesem Menschen zweifeln, der mir alles, alles geopfert und sein Herz um
meinetwillen zerrissen hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde dann
mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“

Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um Atem zu schöpfen.
Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich auf seinem Stuhle, daß dieser zum
zweiten Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort.

„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina mit ihm ins Ausland,
nach Italien, nach Spanien, – nach Spanien, wo Myrten und Orangen
blühen, wo der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir rauscht, – in
das Land der Liebe, in dem man nicht leben kann, ohne zu lieben, wo
Rosen und Küsse sozusagen in der Luft schweben! Und Sie fahren
gleichfalls dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre
Verbindungen, alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer
Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien – mein Gott! Versteht sich – Ihre
Liebe ist lauter, ist heilig, aber schließlich wird der gegenseitige
Anblick Sie doch beide quälen. Sie verstehen mich, ^mon ami^! Natürlich
werden sich niedrige, boshafte Menschen finden, Abscheuliche, die da
behaupten werden, daß durchaus nicht nur die verwandtschaftliche
Zuneigung zu dem leidenden alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich
aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil eben diese Leute
ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben werden. Aber ich bin Mutter,
Pawel Alexandrowitsch, – sollte _ich_ Sie Schlechtes lehren? ...
Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu
beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann man denn nur auf Grund
dessen einer so schändlichen Verleumdung glauben? Und eines Tages wird
er sterben und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt sagen Sie:
wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht Sie? Sie sind mit dem Fürsten
ja nur weitläufig verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese
Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung, reich, schön,
vornehm, – und das zu welcher Zeit? – wenn die vornehmsten und reichsten
Aristokraten es sich zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu
dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die höchsten Kreise, durch
ihre Frau werden Sie plötzlich eine bedeutende Stellung erhalten, Titel,
Orden! Jetzt haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber werden
Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament alles vorsehen: dafür
werde ich schon Sorge tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich
endgültig von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen überzeugt
haben und Sie werden ihr plötzlich als Held des Edelmutes und der
Selbstverleugnung erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier
Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind sein, um diesen Vorteil
nicht einzusehen, nicht zu verstehen, nicht zu berechnen – wenn sie zwei
Schritt vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst sagt:
‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel Alexandrowitsch, ich bitte
Sie!“

„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand sich in unbeschreiblicher
Aufregung. „Jetzt habe ich alles begriffen! Ich habe roh, niedrig,
schändlich an ihr gehandelt!“

Er sprang auf und raufte sich das Haar.

„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna hinzu, „vor allen Dingen
unüberlegt!“

„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er verzweifelt aus. „Jetzt
ist alles verloren, denn ich liebe sie bis zum Wahnsinn!“

„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte Frau Moskalewa
halblaut vor sich hin, als überlege sie etwas.

„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen Sie mir! Retten Sie
mich!“

Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus.

„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig und reichte ihm die
Hand, „Sie haben es aus übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender
Leidenschaft, folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung,
Sie waren außer sich! Das wird sie doch einsehen müssen ...“

„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, alles für sie
hinzugeben!“

„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen versuchen ...“

„Marja Alexandrowna!“

„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen. Und Sie
werden ihr dann alles so erklären, wie ich es Ihnen soeben erklärt
habe!“

„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! ... Nur ... könnte man
es nicht sofort machen!?“

„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind, mein Freund! Sie ist so
stolz! Sie würde es für eine neue Beleidigung halten, für eine
Frechheit! Morgen werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen
Sie irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ... am Abend können Sie
vielleicht wiederkommen, aber selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“

„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten mich! Nur noch eine Frage:
wenn nun aber der Fürst nicht so bald stirbt?“

„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, ^mon cher Paul^! Im Gegenteil, wir
müssen zu Gott beten, daß er ihm noch ein paar Wochen Gesundheit
schenkt. Man muß diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn
von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben wünschen! Ich werde
unter Tränen Tag und Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch
leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten ist nicht allzu
zuverlässig! Zudem wird er jetzt in die Residenz fahren und Sina in der
Gesellschaft einführen müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß
ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß geben werden! Doch
wir wollen beten, ^cher Paul^, und das übrige steht in Gottes Hand! ...
Sie gehen schon? Ich segne Sie, ^mon ami^! Hoffen Sie, gedulden Sie
sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien Sie ein ganzer Mann!
Ich habe nie an dem Adel Ihrer Gefühle gezweifelt ...“

Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff schlich sich auf den
Fußspitzen aus dem Zimmer.

„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie triumphierend. „Jetzt
kommen andere an die Reihe ...“

Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend bleich und ihre
Augen blitzten.

„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende oder ich ertrage es
nicht! Es ist dermaßen schmutzig und ekelhaft, daß ich aus dem Hause
laufen möchte! Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich? Mir
wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem ganzen Schmutz!“

„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ... du hast gelauscht!“ rief
Marja Alexandrowna aus und sah ängstlich forschend Sina an.

„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb vielleicht auch so
beschämen wie jenen Dummkopf? – Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange
so quälen und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche Rollen
zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und mache einfach ein Ende
damit! Es ist genug, daß ich in die Hauptsache eingewilligt, daß ich
mich zu dieser allergrößten Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ...
ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem Schmutz! ...“

Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach und wurde nachdenklich.

„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend. „Sina ist die
größte Gefahr, und wenn alle diese Schurken uns nicht allein lassen und
die Nachricht noch in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt
schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie würde diesem
ganzen Skandal nicht standhalten und sich zurückziehen. Man muß den
Fürsten unbedingt aufs Land bringen – was es auch koste! Ich werde
sofort hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu irgend etwas
muß er sich doch schließlich verwenden lassen! ... Und dort wird sich
der Alte ausschlafen und dann ... – also: fahren wir!“

Sie klingelte.

„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie den eingetretenen
Diener.

„Schon längst bereit!“ antwortete dieser.

Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den Fürsten nach oben ins
Fremdenzimmer geleitet hatte.

Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick zu Sina, um
dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß mitzuteilen, und, wenn möglich,
auch noch einzuschärfen, wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina
wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett und hatte das
Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte verzweifelt. Ihre wundervollen
Hände hatte sie in ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich
alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme abhoben. Zuweilen
zuckte sie zusammen, wie wenn plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre
Glieder lief. Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber Sina
erhob nicht einmal den Kopf.

Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte, ging sie besorgt
hinaus und befahl dem Kutscher, um sich anderwärts dafür zu
entschädigen, im Galopp auf ihr Gut zu fahren.

„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte sie, als sie in
ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich habe Mosgljäkoff fast mit
denselben Worten beredet wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt
vielleicht beleidigt fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache
ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die anderen davon Wind
bekommen! Doch – wenn mein Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“

Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher Wut erfaßt – die dem
armen Afanassij Matwejewitsch nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen
Augenblick ruhig sitzen.


                                   X.

Die Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt, daß ein genialer
Gedanke Marja Alexandrowna am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr,
um ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke war: den Fürsten
zu „konfiszieren“ und so bald als möglich auf ihr Gut in der Nähe der
Stadt zu bringen, wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos
und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh. Wir wollen es
nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna immer mehr von einer
unerklärlichen Unruhe gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit
wirklichen Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie ihr Ziel
erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser Instinkt sagte ihr,
daß es gefährlich war, in Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf
dem Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt hier auf den Kopf
stellen!“ Selbstverständlich durfte man auch auf dem Lande nicht unnütz
Zeit verlieren. Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles
mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den Feinden unserer Heldin
späterhin über sie verbreitet wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in
diesem Augenblick sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe.
Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit dem Fürsten
verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte sie zur Hand. Dort auf dem Gute
konnte sie der Dorfgeistliche trauen. Die Trauung konnte gleich
übermorgen stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen. Hatte es doch
Trauungen gegeben, die binnen zwei Stunden vollzogen worden waren! Dem
Fürsten mußte man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien und
Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als das Neueste ^comme il
faut^ hinstellen: man mußte ihm beweisen, daß es so „grandioser“ sei.
Außerdem konnte man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen
und somit die empfindsamste Seite im Herzen des alten Mannes zum Klingen
bringen. Und schlimmstenfalls konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“
oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei halber
Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch geschehen sollte – Sina
würde dann immerhin schon Fürstin _sein_! Und falls es auch nicht ohne
einen Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau zum Beispiel, wo
die Verwandten des Fürsten lebten, so gab es auch hierfür einen Trost:
erstens war das noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna
überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft fast immer einen Skandal
geben müsse, namentlich in Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar
„guter Ton“ sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft ihrer
Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere zu sein pflegten, etwa
in der Art der Skandale eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable
– daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt von ihrer
Mama, um im Augenblick alle und alles zu besiegen, und daß dann keine
einzige von allen Gräfinnen und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche
würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna allen gemeinsam
oder auch einzeln der Reihe nach zu verabfolgen schon verstehen würde.
Die Folge dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna jetzt mit
Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij Matwejewitsch abzuholen,
dessen sie nach ihrer Berechnung jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den
Fürsten aufs Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch
bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht durchaus nicht machen
wollte –, war bedenklich. Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch
persönlich aufforderte, so war das eben etwas ganz anderes. Zudem konnte
das Erscheinen eines bejahrten, würdigen Familienvaters, in Frack und
weißer Binde, den Hut in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und
wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste Kunde vom Fürsten
aus der Ferne herbeigeeilt sei, so konnte das der Eigenliebe des Fürsten
nur schmeicheln. Nach einer so umständlichen Galaeinladung war es auch
schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna. Endlich hatten die Pferde
die drei Werst zurückgelegt, und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor
der Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen Gutsgebäudes,
das mit seiner langen Fensterreihe und umstanden von alten Linden schon
ziemlich baufällig aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz
geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas Sommerresidenz. Im Hause
brannte bereits Licht.

„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna, die wie ein Sturm durch
die Zimmer raste. „Weshalb liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich
getrocknet! Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft er seinen Tee!
Was glotzt du mich an, du Dummkopf! Weshalb ist sein Haar nicht
geschnitten? Grischka! Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn
nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der vergangenen Woche
anbefohlen habe?“

Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht gehabt, viel freundlicher
ihren Gemahl zu begrüßen; als sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad
gestiegen war und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte sie
ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel Mühen und Sorgen
ihrerseits und soviel seliger Quietismus von seiten des zu nichts
tauglichen, vollständig überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser
Kontrast traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel, oder
höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde, in sprachlosem Schrecken
vor seinem Ssamowar, sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine
Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde gemacht hatte.
In der Tür zum Vorzimmer stand die vierschrötige Gestalt Grischkas, der
beständig etwas verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur
augenblinzelnd die Szene ansah.

„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht geschnitten,“
sagte er mürrisch mit seiner klanglosen Stimme. „Zehnmal bin ich mit der
Schere gekommen, – nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen und
dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir nicht geschoren sind, was
sollen wir dann machen? Sie aber sagten: nein, wart, ich werde mir
Sonntag Locken einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“

„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir Locken ein? Was sind
denn das für Marotten? Und wie steht denn das zu deinem dummen Kopf?
Gott, was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht es hier? Ich
frage dich, Monstrum, wonach es hier riecht?“ schrie Marja Alexandrowna,
die über den unschuldigen und zu Tode erschrockenen Afanassij
Matwejewitsch in immer größere Wut geriet.

„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der angstvolle Gatte, ohne
sich vom Stuhl zu erheben und nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge,
„Mü ... mütterchen! ...“

„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem Eselskopf eingebläut,
daß ich für dich durchaus kein Mütterchen bin! Was bin ich für ein
Mütterchen, du Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine
vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft, aber nicht
neben einem Esel wie du wäre, mit solchen Namen anzureden!“

„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine gesetzmäßige Frau ...
und deshalb sage ich auch ... wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“
versuchte zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob aber
gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um seine Haare zu schützen.

„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals eine dümmere Antwort gehört?
Gesetzmäßige Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige Frauen?
Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft gebraucht jetzt noch
dieses dumme, dieses seminaristische, dieses ekelhaft gemeine Wort:
‚gesetzmäßige Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran zu
erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus allen Kräften, aus
ganzer Seele gerade dieses eine wieder zu vergessen bemühe, daß ich
deine Frau bin! Was hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was
für Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden in drei
Stunden nicht trocken werden! Wie soll man jetzt mit ihm hinfahren? Wie
soll man ihn fremden Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“

Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung, während sie im
Zimmer auf und ab raste. Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ
sich ja leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren
herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen. Das
beständige Ausgießen ihres Zornes über dem Haupte des armen Afanassij
Matwejewitsch war ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist eine
Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und dann – wir wissen doch, zu
welchen Kontrasten manche zartfühlenden Damen einer gewissen
Gesellschaftsklasse bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind,
und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben.

Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen seiner Gattin
und schwitzte vor Angst.

„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an! Frack, Beinkleider,
weiße Binde, Weste – schneller! Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist
seine Kopfbürste?“

„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der Wanne gekommen, – ich kann
mich doch erkälten, erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“

„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“

„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“

„Das werden wir im Augenblick trocken machen! Grischka, nimm die
Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker! stärker! stärker! So! So ist’s
recht!“

Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und ergebene Grischka aus
Leibeskräften den Kopf seines Herrn, den er um der größeren
Bequemlichkeit halber an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts
striegelte, ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers fast an den
Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog das Gesicht kraus und war nahe
daran, zu weinen.

„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo ist die Pomade? Beuge dich,
beug dich, Nichtsnutz, beug dich, sag ich dir!“

Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig ihren Gemahl zu
salben, während sie ihn unbarmherzig an seinem dichten,
grauuntermischten Haarschopf zog, den er zum Unglück nicht
vorschriftsmäßig hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch
seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges Mal, sondern ertrug
ergeben die ganze gewaltsame Einsalbung.

„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du Schmutzfink!“ schrie Marja
Alexandrowna. „So beug dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“

„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen, Mütterchen?“ fragte der
Gatte zaghaft und beugte den Kopf so tief als nur irgend möglich.

„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen! Jetzt kämm dich.
Und den Rock ihm an. Aber schnell.“

Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte mit
inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell der Bekleidung ihres
Gatten. Dieser hatte sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut
geschöpft. Als es zum Binden der weißen Krawatte kam, wagte er sogar,
eine persönliche Bemerkung über die Form und Schönheit des Knotens zu
äußern. Und als der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack
angezogen hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete sein
Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht.

„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“ fragte er
selbstgefällig.

Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht.

„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie wagst du überhaupt, mich
zu fragen, wohin ich dich bringe?“

„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“

„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich Mütterchen zu nennen,
namentlich dort, wohin wir jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du
mir dann ohne einen Tropfen Tee!“

Erschrocken verstummte der Gemahl.

„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich verdient, dieser
Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem Blick auf seinen schwarzen
Frack.

Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch gekränkt.

„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten und ich bin Rat,
aber kein Taugenichts!“ sagte er mit edlem Unwillen.

„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt? Ach du! Bauer, du!
Schade, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst
würde ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen! Gib ihm
den Hut, Grischka! Gib ihm den Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit
diese drei Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer,
gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den Spiegeln die Bezüge
abnehmen! von den Uhren gleichfalls! Und sieh zu, daß alles in einer
Stunde fertig ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten
gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“

Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij Matwejewitsch
wunderte sich und Marja Alexandrowna überlegte im stillen, wie sie dem
schwerfälligen Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln möglichst
klar, einfach und verständlich einschärfen sollte. Doch ihr Gatte kam
ihr zuvor.

„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich habe heute einen sehr
originellen Traum gehabt,“ meldete er plötzlich mitten im beiderseitigen
Schweigen.

„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte schon, daß jetzt weiß
Gott was kommen würde! Sein Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit
deinen Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt du denn auch, was
originell bedeutet? Hör, ich sage dir jetzt zum letzten Mal: wenn du
heute wagst, auch nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder
gleichviel wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir tun! Paß
jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen. Entsinnst du dich noch des
Fürsten K.? ...“

„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb ist er denn zu dir
gekommen?“

„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt ihn mit besonderer
Liebenswürdigkeit – als Hausherr – sofort auf unser Gut einladen.
Deshalb bringe ich dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort
fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen Abend, oder morgen,
oder übermorgen oder gleichviel wann, auch nur ein einziges Wort zu
sprechen, so werde ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich
hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges Wort. Und das
ist alles, was du zu tun hast. – Hast du verstanden?“

„Aber – wenn man mich etwas fragt?“

„Gleichviel – schweige!“

„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte, Marja
Alexandrowna!“

„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges, zum Beispiel:
‚Hm!‘ oder etwas in der Art, – gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein
kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor du antwortetst.“

„Hm!“

„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde sagen, daß du auf die
Nachricht von der Ankunft des Fürsten, vor Freude über seinen Besuch,
sofort zur Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen und ihn
zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“

„Hm!“

„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel! Antworte darauf, was
ich dich frage!“

„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst, nur – weshalb soll
ich denn den Fürsten einladen?“

„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht das dich an, weshalb! Und
wie wagst du überhaupt, das zu fragen?“

„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll ich ihn denn einladen,
wenn du mir fortwährend zu schweigen befiehlst?“

„Ich werde für dich reden, du aber mach nur deine Verbeugung – hörst du?
– mach nur deine Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast du
mich verstanden?“

„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“

„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt, und selbst wenn es
nicht an dich gerichtet ist, so antworte auf alles nur mit einem
gutmütigen und heiteren Lächeln, – hörst du?“

„Hm!“

„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten! Sage einfach und
offen: hast du gehört oder nicht?“

„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie sollte ich denn nicht
hören. Das ‚hm‘ sage ich nur, weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es
befohlen hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn das sein: wenn
der Fürst etwas sagt und du befiehlst, ihn nur anzusehen und zu lächeln!
Aber wenn er mich nun etwas fragt?“

„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe dir doch gesagt:
schweige! Ich werde für dich antworten, du aber sieh ihn nur an und
lächle.“

„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm bin!“

„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er _nicht_ merken, daß du
_dumm_ bist.“

„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas fragen?“

„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand zugegen sein. Und falls
dennoch jemand kommen sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas
fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort mit einem
sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das ist – ein sarkastisches
Lächeln?“

„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“

„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn von dir Esel ein geistvolles
Lächeln verlangen! Einfach ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch
verächtliches.“

„Hm!“

„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja Alexandrowna innerlich
seufzend. „Er hat sich entschieden geschworen, mich zur Verzweiflung zu
bringen! Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt nicht
hinzubringen!“

Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle Unruhe und erbitterte
Selbstvorwürfe folgten, beugte sich Marja Alexandrowna beständig zum
Fenster ihres Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch
größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien es immer noch zu
langsam vorwärts zu gehen. Afanassij Matwejewitsch saß schweigend in
seiner Ecke und wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen.
Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten sie vor dem
Hause Marja Alexandrownas.

Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie auch schon einen
zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit dampfenden Pferden erblickte, der
plötzlich gleichfalls vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem
Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten saßen zwei Damen. Die
eine war Anna Nikolajewna und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit
einiger Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der anderen.

Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber noch hatte sie keinen
Schrei ausgestoßen, als schon eine zweite Kutsche vorfuhr, in der sich
offenbar gleichfalls Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch
freudige Begrüßungsworte.

„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij Matwejewitsch!
Angekommen! Woher denn das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu
Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“

Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten wie Schwalben
durcheinander. Marja Alexandrowna traute ihren Augen und Ohren nicht.

„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das sieht mir ganz nach einer
Verschwörung aus! Das muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche
Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“


                                  XI.

Mosgljäkoff verließ Marja Alexandrowna wie es schien, vollkommen
beruhigt. Sie hatte es verstanden, ihn für ihren Plan zu gewinnen.
Einstweilen aber ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn
nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und heroischen Träume, die
ihn plötzlich überkam, ließ ihm keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche
Aussprache mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden
Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf dem glänzenden
Petersburger Ball, an Spanien, den Guadalquivir, an seine Liebe und den
sterbenden Fürsten, der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider
Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne Frau, die ihm
treu ergeben ist und ihn täglich ob seines Heldenmutes und seiner
erhabenen Gefühle anstaunt; nebenbei – im stillen – an die
Aufmerksamkeit irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“, in die
er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des Fürsten K., unfehlbar
hineingelangen würde; ferner an den Posten eines Vizegouverneurs, an das
viele Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna so beredt
ausgemalt hatte, zog noch einmal durch seine restlos zufriedene Seele,
beglückend und verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd.
Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das eigentlich
erklären soll –, als er von dieser ganzen Begeisterung bereits müde zu
werden begann, kam ihm plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß
nämlich das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß er
vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase sitzen bliebe. Als ihm
dieser Gedanke kam, bemerkte er auch, daß er sehr weit gegangen war und
sich in einer einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs
befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen gleichsam in die Erde
hineingewachsene Häuschen standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde,
die, wie gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen sich
erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen und auch nichts zu
stehlen gibt. Es begann zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen.
Selten nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib im Pelz und
in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn mit einemmal – ein sehr
schlechtes Zeichen, da uns bei einer günstigen Wendung der Dinge im
Gegenteil alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel
Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis jetzt in
Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte es sehr gern, wenn man ihm
in jedem Hause andeutete, daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu
dieser Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht stolz
darauf, Heiratskandidat zu sein. Und nun sollte er plötzlich als –
Verschmähter dastehen! Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er
kann doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch nicht einem
jeden von den Petersburger Bällen in säulenverzierten Sälen und vom
Guadalquivir erzählen! Während er so dies und das überlegte, sich selbst
quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm schließlich etwas in
den Sinn, das schon seit einiger Zeit halb unbewußt an seinem Herzen
genagt hatte.

„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn auch genau so in
Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt hat?“

Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna eine äußerst schlaue
Dame war und, wie sehr sie die allgemeine Achtung auch verdient haben
mochte, dennoch klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er sah ein,
daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich ihre besonderen Gründe
dazu gehabt hatte, und schließlich – ausmalen kann ja ein jeder. Auch an
Sina dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts weniger
als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen hatte; und zum
Überfluß fiel ihm da noch ein, daß er von ihr immerhin einen Korb
erhalten und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem Gedanken
blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt stehen und errötete vor
Scham bis zu Tränen. Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem
Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl und flog in einen
Schneehaufen. Während er nun in dem losen, weichen Schnee kniete und
sich wieder aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit
geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen Seiten auf ihn
los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer hatte sogar die
Unverschämtheit, sich hinten an seinen Pelz zu hängen. Mit lautem
Geschimpf schüttelte er die Hunde ab und trottete dann mit hinten
zerrissenem Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst hier gewahr zu
werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich kann kein Mensch, der
sich in einem ihm unbekannten Stadtteil verirrt hat – und namentlich
noch in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende gehen: immer
wieder wird ihn eine unbekannte Macht in alle Querstraßen und
Nebengassen einzubiegen zwingen. Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme
aus der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig.

„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte er im Innersten und
spie aus vor Wut. „Und der Teufel hole euch alle samt euren edlen
Gefühlen und Guadalquiviren!“

Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem Augenblick anziehend
gewesen sei.

Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält beim Hause Marja
Alexandrownas an. Als er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah,
wunderte er sich.

„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch sein?“ fragte er
sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn heute eine Abendgesellschaft?“ Er
erkundigte sich beim Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem
Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der in Frack und weißer
Binde erschienen sei – zurückgekehrt war und daß der Fürst zwar geruht
habe, aus dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch nicht nach
unten zu den Gästen herabgestiegen wäre. Mosgljäkoff begab sich, ohne
ein Wort zu sagen, hinauf zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer
Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter fähig ist, sich zu
allem zu entschließen, selbst zum schmählichsten Racheakt, ohne daran zu
denken, daß er dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen
wird.

Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl sitzend vor seinem
Reisenecessaire mit vollkommen kahlem Schädel, aber die Fliege und der
Backenbart waren bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in den
Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners und besonderen Lieblings,
Iwan Pachomytschs, der sie mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger
Miene bürstete.

Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht recht zu sich gekommen zu
sein schien, bot einen ziemlich traurigen Anblick dar: er schien ganz
und gar erschlafft zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und
sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal im Leben.

„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“ erkundigte sich
dieser.

„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte ihn der Fürst. „Ich war
ein wenig eingeschlafen. Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich
bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“

„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich ... ich werde Ihnen
helfen, wenn Sie meiner Hilfe bedürfen.“

„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren! Ich habe doch
ge–sagt, daß man die Tür verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt
mir jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein Geheim–nis
niemand aufdecken und niemand sagen wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“

„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn für einen, der dazu
fähig wäre?“ Mosgljäkoff wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken
gewinnen ...

„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß du ein edler Mensch bist –
mag es dann so sein, ich werde dich in Erstaunen setzen ... und dir
meine Geheimnisse aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir mein
Schnurrbart?“

„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar! Wie haben Sie ihn nur
so lange und so tadellos erhalten können?“

„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der Fürst mit triumphierendem
Blick auf Mosgljäkoff.

„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber der Backenbart? Gestehen Sie
es nur, Onkelchen, den färben Sie doch?“

„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls vollkommen –
fal–sch!“

„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber das glaube ich nicht! Sie
wollen sich über mich lustig machen!“

„^Parole d’honneur, mon ami!^“ beteuerte der Fürst stolz. „Und denk dir,
alle, aber auch alle lassen sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida
Matwejewna glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen selbst
anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein Lieber, daß du mein Geheimnis
bewahren wirst. Gib mir dein Ehrenwort.“

„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten. Und glauben Sie
denn wirklich, daß ich dazu fähig wäre?“

„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit gefallen bin!
Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal um–geworfen!“

„Zum zweitenmal? Wann denn das?“

„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“

„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“

„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden, nicht mehr. Ich fuhr
ins Kloster, er aber warf die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz
steht noch still davon.“

„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“

„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ... wie gesagt, ich ... Also,
wie gesagt, vielleicht habe ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“

„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur im Traum erlebt! Sie
haben hier doch die ganze Zeit seit dem Mittag geschlafen.“

„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich.

„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum gesehen. Aber, wie gesagt,
ich habe alles behalten, was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von
einem grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von einem
Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit Hör–nern ...“

„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff, Onkelchen?“

„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte mir von Napo–leon
Buonaparte. Weißt du, mein Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon
Buonaparte ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ...
aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger Papst aussehen! Was findest
du, mein Lieber, habe ich Ähnlichkeit von einem Papst?“

„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“

„Nun ja, das wäre ^en face^. Wie gesagt, ich finde es selbst auch, mein
Lieber. Und ich sah ihn im Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie
gesagt, er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein Witz–bold
... so daß er mich un–gemein erheitert hat.“

„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff mit nachdenklichem Blick
auf den Fürsten. Ihm war plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein
Einfall, über den er sich vorläufig noch nicht recht klar war.

„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über Phi–lo–sophie. Und weißt
du, mein Lieber, es tut mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng
mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man ihn nicht an der
Kette gehalten, so würde er sich wieder auf die anderen gestürzt haben.
Ein toller Mensch! Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht
so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte Insel gesetzt ...“

„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte Mosgljäkoff zerstreut.

„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te, aber auf eine, auf der
nur vernünf–tige Menschen wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene
Zerstreu–ungen für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett ... und alles
auf Kosten des Staates. Spazieren zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur
unter Auf–sicht erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder
entschlüpft. Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben. Nun, dann
würde man ihm eben täglich diese Pasteten gebacken haben. Ich hätte
sozusagen väterlich für ihn gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht
gehabt! ...“

Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst halberwachten Greises
zu und trommelte mit seinen Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch
auf die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst nicht, weshalb
er es wollte, doch ein unbezwingliches Rachegelüst kochte in seiner
Brust. Plötzlich stieß der Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei
der Überraschung.

„Ach, ^mon ami^! Ich habe ja ganz vergessen, dir zu sagen! Denk doch,
ich habe heute einen Heiratsantrag gemacht!“

„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff ungemein belebt.

„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du gehst schon? Nun gut.
^C’est une charmante personne ... Mais^ ... ich will dir gestehen, mein
Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe ich es ein. Ach,
Gott im Himmel!“

„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie es denn getan?“

„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal genau, wann. Oder
sollte mir das nur geträumt haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch
ist!“

Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine glänzende Idee!

„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag gemacht, Onkelchen?“
fragte er ungeduldig.

„Der Tochter des Hauses hier, ^mon ami^ ... ^cette belle personne^ ...
wie gesagt, ich habe vergessen, wie sie heißt. Nur, sieh mal, ^mon ami^,
ich kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt tun?“

„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten, wenn Sie heiraten
wollten. Aber erlauben Sie eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch
überzeugt, daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“

„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“

„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie das, daß sie zum zweiten
Mal mit der Kutsche umfielen?“

„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir auch nur geträumt! ...
Jetzt weiß ich ja gar nicht, wie ich mich dort verhal–ten soll! ... ^Mon
ami^, auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren, ob ich bei
ihr angesprochen habe oder nicht? Denn sonst, denk doch nur, in welcher
Lage ich jetzt bin!“

„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt nichts zu
erfahren.“

„Wieso?“

„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt hat.“

„Der Meinung bin ich auch, ^mon ami^, um so mehr, als ich oft ähn–liche
Träume habe.“

„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie zum Frühstück ein
wenig getrunken haben, dann zum Mittag wieder und schließlich ...“

„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht rührt es auch nur
da–von her.“

„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt gewesen sein mochten,
einen so unüberlegten Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit
machen können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein überaus vernünftiger
Mensch und ...“

„Nun ja, nun ja.“

„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das Ihre Verwandten erführen,
die Ihnen doch ohnehin nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“

„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus. „Was würden die dazu
sagen?“

„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann schreien, daß Sie es nicht bei
vollem Verstande hätten tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß
man Sie unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen habe, und zu
guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren, wo Sie unter Aufsicht
leben müßten.“

Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den größten Schrecken einjagen
konnte.

„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein Espenblatt. „Würde man
mich wirklich einsperren!“

„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen: wie hätten Sie einen
so unüberlegten Heiratsantrag in Wirklichkeit machen können? Sie kennen
doch Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent, daß Sie das
alles nur im Traum gesehen haben.“

„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“ bestätigte der erschrockene
Fürst. „Nein, wie vernünftig du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke
dir von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“

„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen habe. Denken Sie
doch nur: ohne mich hätten Sie sich tatsächlich täuschen, hätten Sie
glauben können, daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr
angesprochen haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam zu ihr nach
unten gegangen! Denken Sie doch nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“

„Nun ja ... gefährlich!“

„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig Jahre alt ist;
niemand will sie nehmen und plötzlich kommen Sie, ein reicher und
vornehmer Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch sofort
zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich angesprochen haben: und
verkuppeln Sie womöglich mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie
vielleicht bald sterben ...“

„Wirklich?“

„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch mit Ihren Vorzügen ...“

„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“

„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit ...“

„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“

„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch eine ganz andere Partie
machen, wenn Sie wirklich aus irgend einem Grund heiraten müßten. Und
denken Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen würden!“

„Ach, ^mon ami^, sie würden mich ja dann ganz und gar vernichten! Ich
habe von ihnen schon soviel Böses und Unheimliches erfahren ... Denk
dir, ich vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt bringen
wollten. Nun sag doch bloß, ^mon ami^, das geht doch nicht! Nun, was
würde ich denn dort in der Ir–ren–anstalt an–fangen?“

„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich Sie jetzt auch nicht
verlassen, wenn Sie nach unten gehen. Dort sind Gäste.“

„Gäste? Gott im Himmel!“

„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein.“

„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du bist geradezu mein
Retter! Aber weißt du: ich werde lieber fortfahren.“

„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr. Heute aber müssen Sie
sich noch von allen verabschieden und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“

„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie gesagt, zum Pater Missaïl ...
^Mais, mon ami^, wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“

„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein. Und
schließlich, was man Ihnen auch sagen oder zu verstehen geben sollte,
bleiben Sie dabei, daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja auch
tatsächlich verhält ...“

„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt du, ^mon ami^, es war doch ein
be–zau–bernder Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du, welche
Formen ...“

„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt nach unten und Sie ...“

„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“ rief der Fürst
erschrocken aus.

„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und da ist es besser, wenn
wir nicht zusammen erscheinen, zuerst ich, dann Sie.“

„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen Gedanken
niederschreiben!“

„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken nieder und kommen
Sie dann ohne zu säumen. Morgen früh aber ...“

„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt zum Prie–stermönch!
Charmant, charmant! Aber weißt du, ^mon ami^, sie ist wun–derbar schön
... diese Formen ... und wenn ich nun einmal unbedingt heiraten müßte,
so würde ich ...“

„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“

„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun, auf Wiedersehen, mein Lieber,
ich werde sogleich ... ich muß nur noch etwas niederschreiben. A
pro–pos, ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren
gelesen?“

„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“

„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich fragen wollte.“

„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, ^mon ami^, auf Wiedersehen! Nur war es doch ein
ent–zückender Traum, ein ent–zückender Traum! ...“


                                  XII.

„Wir kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch Praskowja Iljinitschna
wollte kommen, und auch Luisa Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna
Nikolajewna, in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte sie sich rings
um.

Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich gekleidet und sie
wußte es selbst vorzüglich, daß sie hübsch war. Sie war überzeugt, in
einer Ecke des Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken.

„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna wollten kommen,“
fügte Natalja Dmitrijewna hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen –
sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen hatten – und die
unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte.

Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen, das ganz auf dem
Hinterkopf saß. Seit drei Wochen war sie die beste Freundin Anna
Nikolajewnas, der sie schon seit langem den Hof gemacht hatte und die
sie allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte
hinunterschlucken können – samt allen Knochen.

„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann wohl sagen – Entzücken
darüber, Sie beide endlich einmal bei mir zu sehen und noch dazu am
Abend,“ flötete Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten Schreck
erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches Wunder Sie heute zu
mir gerufen hat, während ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese
Ehre aufgegeben! ...“

„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich sind!“ sagte Natalja
Dmitrijewna süßlich, verschämt, geziert und fast piepend, was einen
äußerst interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete.

„^Mais, ma charmante^ Marja Alexandrowna,“ zwitscherte wieder Anna
Nikolajewna dazwischen, „wir müssen doch endlich mit unseren
Vorbereitungen zu diesem Theater ins reine kommen! Heute noch sagte
Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe ihn sehr, daß
wir nicht weiter kämen und uns immer nur stritten. Und da versammelten
wir uns denn heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja
Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja Dmitrijewna hat auch
die anderen benachrichtigt. Alle werden kommen. Und so können wir uns
denn beraten und die Sache kommt dann endlich in Gang ... Dann darf man
auch nicht mehr sagen, daß wir uns nur streiten, nicht wahr, ^mon
ange^?“ fügte sie kokett hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh
da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit jedem Tag schöner!“

Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina entgegen, um sie zu
küssen.

„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu verschönen,“ meinte
süß Natalja Dmitrijewna und rieb ihre großen Hände.

„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige Theater hatte ich
ganz vergessen! Sie scheinen, weiß Gott, klüger geworden zu sein!“
dachte Marja Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut.

„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna Nikolajewna fort, „daß
jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo
gab es ja früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt und wissen
jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen, ein Vorhang und sogar
Kostüme vorhanden sind. Der Fürst war heute bei mir, aber ich war so
überrascht, daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir hier
das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden uns beistehen und der
Fürst wird uns den ganzen Plunder herschicken – das werden Sie sehen!
Denn bei wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse
bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch den Fürsten für unsere
Aufführung gewinnen. Er muß unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist
doch für die Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen, – er
ist doch so liebenswürdig und mit allem stets einverstanden. Dann würde
alles wundervoll gehen!“

„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja doch jede
beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna
zweideutig.

Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna nicht betrogen: in jedem
Augenblick kamen neue Gäste. Die Hausfrau konnte kaum eine jede der
eintreffenden Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens
bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder dem guten Ton in
solchen Fällen verlangt werden.

Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben. Ich sage nur,
daß einer jeden ganz besondere Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen
Gesichtern konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte Ungeduld
lesen. Einige von ihnen waren entschieden mit der Absicht gekommen,
Augenzeugen eines unerhörten Skandals zu sein, und sie würden sehr
ungehalten gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen wäre.
Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig, doch Marja Alexandrowna
hatte sich nichtsdestoweniger auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht.
Fragen nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend war eine
jede dieser Fragen sehr natürlich, aber dennoch enthielt jede eine leise
Anspielung, verriet jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht;
man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den Flügel. Sina wurde gebeten,
etwas zu singen, sie aber antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund
sei. Ihr bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen.
Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und gleichzeitig wurde auch noch
nach anderem gefragt und anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte
sich auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen
ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna verzehnfachte sich: sie sah
alles, selbst das, was in der fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede
Dame sprach, obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete
unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte nicht lange nach
Worten. Sie zitterte für Sina und wunderte sich, daß sie noch nicht
fortging, wie sie es sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte.
Auch Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen bemerkt
worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich alle zum besten zu haben, um auf
diese Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch hofften sie,
von dem dummen und aufrichtigen Gatten manches Nähere zu erfahren. Marja
Alexandrowna beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“. Zudem
antwortete er auf alle Fragen nur mit einem „Hm!“, tat es aber mit einer
so unglücklichen und jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der
Haut zu fahren glaubte.

„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch will mit uns überhaupt
nicht mehr sprechen!“ rief ihr ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu,
das entschieden nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen Sie
ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein muß.“

„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was heute mit ihm geschehen
ist,“ antwortete Marja Alexandrowna, die ihr Gespräch mit Anna
Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So
verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen! Auch mit mir
spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest du denn Felissata
Nikolajewna nicht, ^cher Athanase^?“

„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch selbst ...“ stotterte der
verwunderte Gatte. Er stand in diesem Augenblick gerade am brennenden
Kamin, hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst ersonnen
– untergebracht und schickte sich an, Tee zu trinken. Die Fragen der
Damen verwirrten ihn dermaßen, daß er wie ein Mädchen errötete. Als er
jedoch die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing er einen
so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß er vor Schreck fast die
Besinnung verlor. Da er nicht wußte, was er tun sollte, andererseits
aber sein Vergehen gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen
wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck Tee. Der Tee war aber
heiß, und da er einen unverhältnismäßig großen Schluck genommen hatte,
verbrannte er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen, der Tee ging
in die Luftröhre, und er begann darauf so heftig zu husten, daß er das
Zimmer verlassen mußte, während die Anwesenden in staunender
Verständnislosigkeit zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau war
alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits alles wußten und
sich mit den schlimmsten Absichten bei ihr versammelt hatten. Die
Situation war gefährlich: sie konnten in ihrer Gegenwart den
schwachsinnigen Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme Dinge
durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten ihr sogar den Fürsten
streitig machen, konnten ihn ihr noch am selben Abend fortnehmen, d. h.
einfach mitlocken. Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte ihr
aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht: in der Tür
erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff glaubte. Sie hätte alles
eher als ihn an diesem Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie
gestochen worden.

Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien beim Anblick der vielen
Gäste etwas verwirrt zu werden. Er konnte seine Aufregung nicht
bezwingen: man sah sie ihm wenigstens deutlich an.

„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen mehrere Damen aus.

„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch! Aber wie, Marja
Alexandrowna, Sie sagten doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde
gesagt, daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten, Pawel
Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna.

„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem etwas verzerrten Lächeln.
„Ein sonderbarer Ausdruck! Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich
verberge mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen zu
verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick auf Marja Alexandrowna
hinzu.

Marja Alexandrowna erzitterte.

„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“ fragte sie sich
und sah ihn prüfend von der Seite an. „Das wäre das Schlimmste ...“

„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den Abschied erhalten haben
... im Staatsdienst, versteht sich?“ fragte die naseweise Felissata
Michailowna und blickte ihm spöttisch offen in die Augen.

„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe ganz einfach umgesattelt.
Ich lasse mich nach Petersburg versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff
trocken.

„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr Felissata Michailowna
fort. „Und wir erschraken schon, als wir hörten, daß Sie sich um eine
Anstellung hier in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die
Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man sich versieht,
fliegt man.“

„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule; dort gäbe es noch
eine Vakanz,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna.

Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna verlegen wurde und
ihre boshafte Freundin heimlich mit dem Fuß stieß.

„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch einwilligen würde, die
Anstellung eines Kreisschullehrers anzunehmen?“ fragte Felissata
Michailowna.

Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er ihnen den Rücken und wollte
fortgehen, stieß aber im selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch
zusammen, der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff
reichte ihm dummerweise nicht die Hand und verbeugte sich nur spöttisch
auffallend tief vor ihm. Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr
haßerfüllt in die Augen und raunte ihr zu:

„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken. Warten Sie, heute abend
noch werde ich Ihnen zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“

„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch jetzt,“ antwortete Sina mit
lauter Stimme und maß ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick
vom Kopf bis zu den Füßen.

Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute Antwort hatte ihn
denn doch erschreckt.

„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich schließlich Marja
Alexandrowna zu fragen.

„Nein, ich komme von meinem Onkel.“

„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben beim Fürsten gewesen?“

„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht? Und uns wurde
gesagt, daß er noch schlafe!“ Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert,
und der Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu
durchbohrend.

„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja Dmitrijewna,“
antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht und, Gott sei Dank, wieder
bei vollem Verstande. Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst bei
Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch endgültig, so daß er
beinahe seinen letzten Verstand verlor, der ja bei ihm ohnehin nicht
groß ist. Jetzt aber haben wir uns beide zum Glück aussprechen können,
und so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er wird sogleich
erscheinen, um sich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verabschieden und
für Ihre Gastfreundschaft zu danken. Morgen aber werden wir in aller
Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich ihn persönlich nach
Duchanowo begleiten, um ein abermaliges Umgeworfenwerden zu verhüten. In
Duchanowo wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna empfangen –
die bis dahin unfehlbar aus Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann
ist es natürlich ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise
unternimmt – dafür garantiere ich.“

Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff mit aufrichtigem Haß zu
Marja Alexandrowna hinüber. Diese saß, als hätte sie vor Schreck die
Sprache verloren. Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine Heldin
zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde.

„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort? Wie denn das?“ fragte
Natalja Dmitrijewna, sich an Marja Alexandrowna wendend.

„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen Seiten. „Und wir haben
gehört ... das ist doch wirklich sonderbar!“

Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten sollte. Da wurde die
allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich durch den ungewöhnlichsten
Zwischenfall abgelenkt: aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch
und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich stürzte unvermutet
unverhofft Ssofja Petrowna Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon.

Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste Dame in ganz
Mordassoff: so exzentrisch war sie, daß die Gesellschaft der Stadt in
jüngster Zeit beschlossen hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß
noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um sieben Uhr ein paar
Gläschen kippte – für den Magen, wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung
befand sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten Stimmung –
gelinde ausgedrückt. Und in dieser Stimmung stürzte sie jetzt in den
Salon Marja Alexandrownas.

„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“ schrie sie, „also so gehen
Sie mit mir um! Beunruhigen Sie sich nicht, ich bin nur auf einen
Augenblick gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen. Ich bin
absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen, ob es wahr ist,
was man mir erzählt hat. Ah! also Sie geben Bälle, Banketts, feiern
Verlobungen, Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und Strümpfe
stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen, nur ich nicht! Vorhin aber war
ich für Sie ‚liebe Freundin‘ und ‚^mon ange^‘ als ich herkam, um zu
erzählen, was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten gemacht wurde. Und
jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna, über die Sie vorhin so geschimpft
haben, und die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause.
Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche nicht Ihre
Schokolade ^à la santé^ zu zehn Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause
öfter als Sie!“

„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna.

„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja Alexandrowna aus,
hochrot vor Zorn, „was ist heute mit Ihnen? So kommen Sie doch zur
Besinnung, wenigstens!“

„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna, ich habe alles, alles
erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna mit ihrer schrillen, kreischenden
Stimme, umringt von allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene
zu ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre holde Nastassja ist
selbst zu mir gelaufen, um mir alles zu erzählen. Sie haben diesen
Jammerkerl, diesen Fürsten, eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und
dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja, bei Ihrer Tochter,
die niemand mehr heiraten will, und jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich
ein, daß auch Sie mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger
Vogel geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen – daß Gott
erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht, ich selbst bin die Frau eines
Obersten! Und wenn Sie mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so
pfeife ich auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen verkehrt
als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij diniert, und der
Oberkommissar Kurotschkin hat bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre
Einladung brauchte, – Gott bewahre! ...“

„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig ruhig an,
obgleich sie aus der Haut zu fahren meinte, „Sie können mir glauben, daß
man nicht in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt und
noch dazu in einem _solchen Zustande_, und wenn Sie mich jetzt nicht
sofort von Ihrer Anwesenheit und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich
unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“

„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten befehlen, mich
hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde selbst den Weg
hinausfinden. Leben Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber,
Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen: ich pfeife auf
Ihre Schokolade! Ich bin zwar nicht hierher eingeladen worden, habe aber
auch nicht vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen Sie
denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff hat sich inzwischen das
Bein gebrochen, ist soeben erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie,
Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka nicht sagen,
rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie nicht jeden Tag unter
meinen Fenstern brüllt, so werde _ich_ Ihrer Matrjoschka die Beine
brechen. Leben Sie wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! – Daß
Gott erbarm’!“

Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja Alexandrowna wußte
nicht, was sie tun oder sagen sollte.

„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich Natalja
Dmitrijewna.

„Aber immerhin – diese Frechheit!“

„^Quelle abominable femme!^“

„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“

„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“

„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung? Was ist das für eine
Verlobung?“ fragte Felissata Michailowna spöttisch.

„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich Marja Alexandrowna.
„Und diese Ungeheuer sind es ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte
verbreiten! Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß solche
Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, – nein, am erstaunlichsten
ist, daß man diese Damen nicht entbehren zu können scheint, daß man sie
überhaupt anhört, sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“

„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste ^unisono^.

„Ach, Gott! ^Ce cher prince!^“

„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich die ganze Wahrheit
erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer Nachbarin zu.


                                 XIII.

Der Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf den Lippen. Die ganze
Aufregung, in die Mosgljäkoff vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz
versetzt hatte, verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz
wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden Freuderufen. Im
allgemeinen wurde unser Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen
meist sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie mit seiner
durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu zerstreuen. Felissata
Michailowna hatte am Vormittag sogar behauptet – natürlich nur
scherzweise –, daß sie bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn
es ihm angenehm wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter Herr,
ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna verschlang ihn geradezu mit den
Blicken, bemüht, wenigstens etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu
erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen würde. Eines war
jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte etwas Gefährliches angerichtet. Ihr
ganzer Plan war stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten
war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe wie immer.

„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben Sie erwartet und
erwartet!“ riefen einige der Damen aus.

„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“ flöteten andere.

„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der Fürst und setzte sich
an den Tisch, auf dem der Ssamowar stand. Die Damen umringten ihn im
Augenblick. Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna blieben bei der
Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch lächelte ehrerbietig;
Mosgljäkoff lächelte gleichfalls und blickte herausfordernd Sina an, die
ihm jedoch nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat zum Vater
und setzte sich neben ihn am Kamin in einen Lehnstuhl.

„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie uns verlassen wollen?“
fragte Felissata Michailowna.

„Nun ja, ^mesdames^, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich ins Aus–land
fahren.“

„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles im Chor, „was ist Ihnen
eingefallen?“

„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt, „und wissen Sie, ich
will namentlich wegen der neuen Ideen hin–fahren.“

„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher neuen Ideen?“ fragten die
Damen, die untereinander Blicke austauschten.

„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fürst noch einmal,
offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren alle wegen der neuen Ideen hin.
Und so will auch ich mir neue Ide–en an–legen.“

„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten, mein bester
Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff, der sich augenscheinlich vor den
Damen durch geistreiche Bemerkungen auszeichnen wollte.

„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“ antwortete der Onkel
überraschenderweise. „Ich habe früher in alten Zeiten tatsächlich zu
einer Frei–maurerloge gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich habe
sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt. Ich beab–sichtigte
damals, viel für die zeitgenössische Aufklärung zu tun und in Frank–furt
beschloß ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land mitgenommen
hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner Verwun–derung selbst von
mir fort. Er war ein sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich ihm
einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit einer Mamsell auf den
Boulevards. Er sah mich an und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die
Mamsell war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“

„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal, wenn Sie ins Ausland
fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“ rief Mosgljäkoff laut auflachend
aus.

„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten, mein Lieber!“ antwortete der
Fürst ohne zu zögern. „Es ist gerade meine Absicht, sie alle aus
Leibeigenen zu freien Bauern zu machen.“

„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch alle im Augenblick von
Ihnen fortlaufen, und wer wird Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“
wandte Felissata Michailowna ein.

„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt Anna Nikolajewna.

„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“ fragte der Fürst
verwundert.

„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen und Sie allein
lassen!“ versicherte auch Natalja Dmitrijewna.

„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht freigeben. Wie gesagt, es
war von mir auch nur so gemeint.“

„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“ meinte Mosgljäkoff.

Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört und beobachtet. Es schien
ihr, daß der Fürst sie vollkommen vergessen hatte ...

„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll, „daß ich Ihnen
meinen Mann vorstelle – Afanassij Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom
Gut hergekommen, sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir abgestiegen
seien.“

Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine strammere Haltung an. Er
glaubte, daß man ihn gelobt habe.

„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij Matwejewitsch!
Erlauben Sie, mir fällt etwas ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja,
das ist dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant, freut mich wie
gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte sich an Mosgljäkoff – „das ist doch
derselbe, weißt du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das doch? Kaum
ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt die Frau ... nun ja, auch die Frau
geht irgend wohin.“

„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau
schon aus dem Haus‘ – das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen
Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna auf.

„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se es immer. Charmant,
charmant! Und Sie sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen
zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch, ohne
sich vom Stuhl zu erheben, die Hand. „Nun und wie geht es mit Ihrer
Gesundheit?“

„Hm ...“

„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete Marja Alexandrowna
eilig.

„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist. Und Sie leben immer auf
dem Gute? Nun ja, es freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die
ganze Zeit freut er sich ...“

Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich und klappte sogar die
Absätze zusammen. Nach der letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht
mehr an sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise in
lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob sich. Die Damen wieherten
förmlich vor Vergnügen. Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden
Augen Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor Wut. Es war
höchste Zeit, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte sie sich mit honigsüßer
Stimme, während sie gleichzeitig durch einen zornigen Blick ihrem Gatten
zu verstehen gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen
hatte.

„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der Fürst, „und wissen Sie,
ich habe einen ent–zück–enden Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“

„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn man Träume erzählt,“ rief
Felissata Michailowna aus.

„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“ stimmte ihr Natalja
Dmitrijewna bei.

„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der Fürst mit süßem Lächeln,
„dafür aber ist er das größte Geheim–nis!“

„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber dann muß es ja ein ganz
außergewöhnlicher Traum sein?“ fragte Anna Nikolajewna.

„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der Fürst, der mit Vergnügen die
Neugier der Damen reizte.

„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“

„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend einer Schönheit auf den
Knien gelegen und eine Liebeserklärung gemacht hat,“ rief Felissata
Michailowna aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts anderes
ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen Sie es nur!“

„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde von allen Seiten
gebeten.

Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne diese Ausrufe. Die
Annahme Felissata Michailownas schmeichelte seiner Eigenliebe ganz
außerordentlich. Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen
geleckt.

„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das größ–te Geheim–nis ist,“
antwortete er schließlich, „so bin ich doch gezwungen, einzugestehen,
daß Sie, meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung vollkom–men
erra–ten haben.“

„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert aus. „Nun, Fürst! Jetzt
machen Sie, was Sie wollen, aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese
Schönheit ist!“

„Das müssen Sie unbedingt!“

„Ist es eine hiesige?“

„Ach, _lieber_ Fürst, sagen Sie es uns doch!“

„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns, sagen Sie es uns!“
ertönte es von allen Seiten.

„^Mesdames, mesdames!^ ... Wenn Sie es wirk–lich so nachdrücklich wissen
wollen, so kann ich Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das
bezau–berndste und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen ist von
allen, die ich kenne!“

Der Fürst zerfloß vor Wonne.

„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige! Wer könnte das sein?“
fragten sich die Damen, die bedeutsame Blicke und Winke austauschten.

„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste Schönheit gilt,“
sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre roten Riesenhände und blickte mit
ihren Katzenaugen vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch die
Blicke aller anderen Sina zu.

„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume haben – weshalb heiraten
Sie dann nicht in Wirklichkeit?“ fragte die naseweise Felissata
Michailowna mit einem vielsagenden Blick ringsum.

„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“ griff eine andere Dame auf.

„Ach, _lieber_ Fürst, heiraten Sie doch, bitte, bitte!“

„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von allen Seiten. „Weshalb
sollen Sie denn nicht heiraten? ...“

„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“ meinte auch der
Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz konfus geworden war.

„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen.

„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt, ^mesdames^, ich bin
nicht mehr fähig zu heiraten, und nachdem ich hier einen bezau–bernden
Abend bei unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe, werde ich
mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl in die Ein–siedelei begeben
und von dort dann direkt ins Ausland fahren, um bequemer die
Fortschritte der europä–ischen Bildung verfol–gen zu können.“

Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch Marja Alexandrowna hatte
sich schon entschlossen. Bis hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft,
denn sie sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich
begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige Hydra mit
einem einzigen Schlage zu besiegen. Majestätisch erhob sie sich aus
ihrem Lehnstuhl, trat mit festen Schritten an den Tisch und maß mit
stolzem Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung
leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen, alle diese
gehässigen Klatschbasen vor den Kopf zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff
einfach zu vernichten, wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem
einzigen entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen verlorenen
Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder zu erobern. Versteht sich,
dazu gehörte eine ungewöhnliche kalte Frechheit, um die aber war Marja
Alexandrowna nie verlegen.

„^Mesdames^,“ hub sie feierlich und majestätisch an (Marja Alexandrowna
liebte überhaupt sehr Feierlichkeit), „^mesdames^, ich habe lange Ihrem
Gespräch zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und ich
finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich kommt, auch ein Wort
zu sagen. Wie Sie wissen, haben wir uns hier alle ganz zufällig
zusammengefunden – und das freut mich so unsäglich, so unsäglich!
Niemals würde ich mich entschlossen haben, das wichtige
Familiengeheimnis als erste allen kund zu tun und es früher zu
verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl verlangt. Vor allem
bitte ich deshalb meinen lieben Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber,
daß er selbst durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand
aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken kommen läßt, daß ihm
die formelle und feierliche Mitteilung unseres Familiengeheimnisses
nicht nur keineswegs unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu
gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche mich doch nicht?“

„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut mich, freut mich sehr
...“ sagte der Fürst, der nicht im geringsten begriff, wovon die Rede
war.

Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks einen Augenblick
inne, um Atem zu schöpfen. Sie übersah die ganze Gesellschaft: alle
Gäste horchten mit einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte.
Mosgljäkoff zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich, und Afanassij
Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung eines außergewöhnlichen
Ereignisses, auf alle Fälle.

„Ja, ^mesdames^, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein
Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute, nach dem Mittagessen hat der
Fürst, hingerissen von der Schönheit und ... den Vorzügen meiner
Tochter, mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten. Fürst!“ schloß
sie mit einer Stimme, die von Tränen und Aufregung zitterte, „Sie dürfen
nicht, Sie können mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein! Nur
die übergroße Freude hat es vermocht, meinem Herzen vorzeitig dieses
liebe Geheimnis zu entreißen und ... welche Mutter würde mich deshalb
verurteilen?“

Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern, den Marja
Alexandrownas unerwartete Mitteilung machte. Alle schienen erstarrt zu
sein vor Verwunderung. Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja
Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen, daß sie bereits alles
wußten, die sie mit der vorzeitigen Aufdeckung des Geheimnisses – und
zwar nur in der Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren
jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet. Und
dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht einer inneren Kraft: „Folglich
wird der Fürst tatsächlich freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er
nicht in die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen
worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks verheiratet?
Folglich fürchtet Marja Alexandrowna nichts und niemanden? Folglich läßt
sich diese Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet
doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick hörte man allgemeines
Getuschel, das sich dann plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste
stürzte Natalja Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in ihre Arme
zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna und dieser Felissata
Michailowna. Alle sprangen von ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in
ein unentwirrbares Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor Wut. Sina
wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar an Afanassij Matwejewitsch
klammerte man sich. Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus
und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust. Nur der Fürst
allein blickte mit einer gewissen sonderbaren Verwunderung auf die ganze
Szene, wenn er auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens gefiel
ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die Mutter ihr Kind umarmte,
da zog er sein Schnupftuch hervor und wischte sich eine Träne aus seinem
Auge. Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit Glückwünschen.

„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte es von allen Seiten.

„Also Sie heiraten?“

„Sie heiraten also wirklich?“

„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“

„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit den Glückwünschen und
der Aufregung sehr zufrieden war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am
meisten Ihre liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen und
die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals. Charmant, charmant! Sie
haben mich sogar bis zu Trä–nen gerührt ...“

„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das Geschrei aller anderen
Felissata Michailowna.

„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon er von allen
Seiten beständig unterbrochen wurde, „am meisten wundert es mich, daß
Marja Iwa–now–na, unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so
frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten hat. Ganz als hätte sie
ihn an meiner Stelle gesehen! Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat!
Auf–fallender Scharf–blick!“

„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“

„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“ drängten die ihn
umringenden Damen.

„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das Geheimnis aufzudecken!“
sagte Marja Alexandrowna entschlossen und streng. „Ich habe Ihre
feinfühlige Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit dem
Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu veröffentlichen wünschten.
Ja, ^mesdames^, es ist wahr: heute ist der Fürst _im wachen Zustande_
und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet und hat ihr in aller
Form einen Heiratsantrag gemacht.“

„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar mit denselben
Neben–um–ständen,“ bestätigte der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort,
sich mit ungewöhnlicher Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich noch
nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich schwöre Ihnen, daß ich
nie–mals Ihren Namen zu nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren
vor mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder Traum, und ich
schätze mich dop–pelt glücklich, daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann.
Charmant! Charmant! ...“

„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er redet immer noch von
einem Traum?“ flüsterte Anna Nikolajewna der erregten und etwas bleichen
Marja Alexandrowna zu.

Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das Herz auch ohne diese
Fragen.

„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander und tauschten
vielsagende Blicke aus.

„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna mit schmerzlich
verzogenem Lächeln an, „ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in
Erstaunen setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die Sie da
haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im Glauben, daß Sie nur
scherzten, aber ... Wenn es ein Scherz sein soll, so ist er zum
mindesten sehr unangebracht ... Ich werde ... ich will es Ihrer
Zerstreutheit zuschreiben, aber ...“

„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“ meinte
auch Natalja Dmitrijewna.

„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“ bestätigte der Fürst,
der immer noch nicht begriff, um was es sich handelte und was man von
ihm eigentlich wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich
eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet man mich ein, in Petersburg war
es, zu einer Ein–sargung, es war ^une maison bourgeoise mais honnette^,
und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest. Das Namensfest war aber
schon vor einer Woche gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett
für die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein eh–renwerter,
bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so daß ich mich nur wun–derte. Und ich
wuß–te gar nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“

„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche Geschichten zu tun!“
unterbrach ihn Marja Alexandrowna ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht
nötig, Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr selbst hier
an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu
veranlaßt ... Ich kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ...
Versteht sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber ich schob ihn
auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich bin Mutter ... sie ist mein Kind ...
Sie haben soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte, Sie wollten
in der Form einer Allegorie von Ihrer Verlobung erzählen. Ich weiß sehr
wohl, daß man Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne sogar,
wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst, erklären Sie sich
schneller, ausführlicher. Solche Scherze darf man sich nicht in einem
vornehmen Hause erlauben ...“

„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause
erlauben,“ pflichtete ihr der Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er
doch etwas unruhig.

„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, Fürst! Ich ersuche
Sie, mir entscheidend zu antworten: bestätigen Sie, bestätigen Sie es
hier vor allen Anwesenden, daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter
angehalten haben.“

„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt, ich habe das alles
schon erzählt und Felissata Jakowlewna hat meinen Traum vollkom–men
erraten.“

„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna wütend aus. „Es war
kein Traum, sondern Wirklichkeit, Fürst, Wirklichkeit, hören Sie:
Wirklichkeit.“

„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert aus und erhob sich
vor Überraschung. „Da hörst du’s, mein Lieber! Was du vorhin
pro–phezei–test, ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff
zu. „Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna, daß Sie sich
täuschen! Ich bin voll–kom–men ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt
hat!“

„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die Hände zusammen.

„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“ mischte sich Natalja
Dmitrijewna ein, „der Fürst hat es vielleicht nur vergessen ... er wird
sich dessen wieder entsinnen.“

„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“ entgegnete Marja
Alexandrowna unwillig, „kann man denn so etwas vergessen? Wer vergißt
denn so etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich über uns
lustig machen? Oder wollen Sie einem der Gecken nachäffen, wie sie zur
Zeit der Régence in der Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend
einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß es Ihren Jahren nicht
ansteht, wird es Ihnen auch nicht gelingen! Meine Tochter ist keine
französische Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden
und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da sind Sie hier vor ihr
niedergekniet und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere
doch nicht! Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe ich
oder schlafe ich nicht?“

„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht ...“ antwortete der
verwirrte Fürst. „Ich will nur sagen, daß ich jetzt, glaube ich, _nicht_
schla–fe. Vorhin, sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch
geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“

„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht, schlief nicht –
schlief! Da soll der Teufel daraus klug werden! Sie phantasieren doch
nicht, Fürst?“

„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ... übrigens, ich glaube,
daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept gekommen bin ...“ murmelte der Fürst
mit unruhigen Blicken auf seine Umgebung.

„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen können, wenn ich Ihnen
diesen Traum mit allen Einzelheiten erzähle, während Sie ihn doch noch
keinem einzigen Menschen erzählt haben!“

„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch schon irgend einem
mitgeteilt hat,“ meinte Natalja Dmitrijewna.

„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand schon mitgeteilt
habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus gewordene Fürst.

„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer
Nachbarin zu.

„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld reißen!“ rief Marja
Alexandrowna aus und sie rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen
eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben Sie denn, daß auch dies
Ihnen nur geträumt hat?“

„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch gesungen,“ murmelte der
Fürst in Gedanken versunken.

Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht.

„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff wendend, „ich hatte es
ganz vergessen, dir vorhin zu sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas
wie eine Roman–ze sang und in dieser Romanze war die Rede von Schlössern
und dann war dort auch noch irgend ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne
mich dessen ... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich in der
größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen, als ob es tatsächlich
in Wirk–lich–keit gewesen wäre und nicht nur im Traum.“

„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff möglichst ruhig,
obgleich seine Stimme von innerer Aufregung zu zittern schien, „offen
gestanden, mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu lösen
ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört haben. Sinaïda
Afanassjewna singt vorzüglich. Nach Tisch sind Sie hierher geführt
worden und Sinaïda Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen. Ich
war damals nicht hier, Sie aber haben sich wahrscheinlich hinreißen
lassen, haben an die guten alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die
Stunden, in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ... mit der
Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage erzählten. Nun und dann,
als Sie Ihr Schläfchen machten, hat Ihnen infolge der angenehmen
Eindrücke geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag
machten ...“

Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine solche Frechheit hätte sie
denn doch nicht für möglich gehalten.

„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“ rief der Fürst
begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen Ein–drücke! Ich erinnere
mich ganz deut–lich dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde ...
deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und die Vicomtesse war
gleichfalls ... Nein, wie klug du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun
ja, ich bin jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur im Traum
gesehen habe! Marja Wassiljewna! Ich versichere Sie, daß es mir nur
geträumt hat! Es war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht mit
Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“

„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel hat!“ schrie Marja
Alexandrowna, außer sich vor Wut, und sie wandte sich an Mosgljäkoff.
„Sie sind es, mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das
alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie einen Korb erhielten,
diesem unglücklichen Idioten den Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du
mir aber bezahlen, du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du mir
bezahlen, bezahlen!“

„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot wie ein Krebs, „Ihre Worte
sind dermaßen ... Ich weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich
weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben wird ... ich verteidige
zum mindesten meinen Verwandten. Sie müssen doch zugeben, daß, einen
alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle zu locken ...“

„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der Fürst, der sich hinter
Mosgljäkoff zu verstecken versuchte.

„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna mit einer ihr
ganz fremden Stimme. „Hören Sie denn nicht, wie wir beschimpft und
entehrt werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht uns
gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater, sondern nur
ein lebloser Holzklotz? Was blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte
hätte schon längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem Blute
abgewaschen! ...“

„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig an, offenbar sehr
stolz darauf, daß man endlich auch seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir
das schließlich nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du
aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine Art verdreht
... –“

Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt, seine scharfsinnige
Erklärung zu Ende sprechen zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an
sich gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude den Anschein
würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber brach alles in schallendes,
unbändiges Gelächter aus. Marja Alexandrowna, die ihr ganzes
Comme-il-faut vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten
stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde aber mit Gewalt
zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna aber benutzte die Gelegenheit, um
noch etwas Gift hinzuzuträufeln.

„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,
seien Sie doch nicht so heftig,“ sagte sie mit honigsüßer Stimme.

„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen sein!“ schrie Marja
Alexandrowna, die noch nicht recht begriff.

„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen vor ...“

„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna auf.

„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“

„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen es, mir das offen ins Gesicht zu
sagen!“

„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“ meinte Felissata
Michailowna.

„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“ murmelte auch der
Fürst.

„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte Marja Alexandrowna, die
Hände zusammenschlagend.

„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna! Denken Sie doch daran, daß
Gott es ist, der uns Träume schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will
er allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt es sich gar nicht
mehr, sich zu ärgern.“

„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern ...“ pflichtete
der Fürst bei.

„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte Marja Alexandrowna vor
Aufregung kaum noch hervor. Das ging denn doch über menschliche Kraft!
Sie suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“. Alles stürzte
zu ihr.

„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“ flüsterte Natalja
Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr.

In diesem Augenblick der größten Bestürzung und der höchsten Spannung
trat plötzlich eine neue Person vor, eine, die bis dahin kein Wort
gesprochen hatte, und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren
Charakter ...


                                  XIV.

Sinaïda Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen, sehr romantisch
veranlagt. Ich weiß nicht, ob das gerade daher kam, daß sie, wie Marja
Alexandrowna behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar zu viel mit
„ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls aber hatte sich Sina noch nie
zuvor einen so außergewöhnlich romantischen, oder richtiger, heroischen
Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben will.

Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd vor Aufregung
trat sie, wunderbar schön in ihrer Empörung, mit langsamen Schritten
vor. Mit langem, herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden
ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen Stille an
die Mutter, die schon bei ihrer ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder
erwacht war und die Augen weit aufgerissen hatte.

„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu sich durch Lügen erniedrigen?
Es ist ja alles ohnehin schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht
der erniedrigenden Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“

„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind? Besinne dich!“ rief erschrocken
Marja Alexandrowna aus, und sie sprang auf.

„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt, Mama, daß ich diese
ganze Schmach nicht ertragen werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn
wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln? Aber weißt du, Mama,
ich nehme alles auf mich, denn ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe
durch meine Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige
gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich; du glaubtest nach deiner
Auffassung, so wie du es verstehst, mein Glück zu schaffen. Dir kann man
noch verzeihen, mir aber, mir – niemals!“

„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O Gott! Ich ahnte es, daß
dieser Dolchstoß meinem Herzen nicht erspart bleiben würde!“

„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beschimpft, wir alle sind
beschimpft! ...“

„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und weißt nicht, was du
sprichst! Und wozu willst du denn erzählen? Was hat das für einen Sinn?
... Die Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen, daß
die Schande nicht auf uns fällt ...“

„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme zitterte vor Zorn, „ich will
nicht mehr schweigen vor diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und
die hergekommen sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich will ihre
Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen. Keine einzige von ihnen hat
das Recht, mich mit Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit,
noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du, Mama, getan haben.
Dürfen sie, können sie überhaupt unsere Richter sein? ...“

„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was soll denn das bedeuten!
_Uns_ zu beleidigen?“ hörte man von allen Seiten.

„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie spricht!“ sagte
Natalja Dmitrijewna.

Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna vollkommen recht.
Wenn Sina diese Damen für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb
würdigte sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt handelte sie wohl
etwas übereilt, – das war späterhin auch die Meinung der besten Köpfe in
Mordassoff. Alles hätte noch gut werden können! Alles hätte beigelegt
werden können! Es ist ja wahr: auch Marja Alexandrowna hatte sich selbst
vieles eingebrockt an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung
und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen Greis nur auszulachen
gebraucht! Und eventuell vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich,
jeder gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower Weisheit zuwider, an
den Fürsten.

„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung sogleich von
seinem Platz erhob – dermaßen imponierte sie ihm in diesem Augenblick.
„Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen, wir haben
Sie in die Falle gelockt ...“

„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“ rief Marja
Alexandrowna in größter Verzweiflung dazwischen.

„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! ^Ma charmante enfant^ ...“ stotterte
der Fürst maßlos bestürzt.

Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade phantastische Charakter
Sinas zog sie mit sich fort und ließ sie alle, von der Wirklichkeit
geforderten Anstandsregeln vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die
sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich geradezu in
Krämpfen wand.

„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine Mutter, indem sie Sie
veranlassen wollte, mich zu heiraten, und ich, indem ich auf ihren
Vorschlag einging. Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt,
ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen zu verstellen ... Sie,
der Schwache, Schutzlose, wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich
ausdrückt, umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres Fürstentitels
willen. Alles das war entsetzlich niedrig und ich will es büßen. Aber
ich schwöre Ihnen, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer
schändlichen Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch, was soll
das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit, sich in einer solchen
Angelegenheit noch rechtfertigen zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich,
wenn ich etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug, Ihre
Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin gewesen wäre ... Das hatte ich
mir geschworen und heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß
ich!“

Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. Die Gäste
schienen alle sprachlos zu sein und hörten nur mit weit aufgerissenen
Augen zu. Der unerwartete und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas
stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der Fürst war bis zu Tränen
gerührt, obschon er kaum die Hälfte davon verstand, was Sina sagte.

„Aber ich werde Sie hei–raten, ^ma belle enfant^, wenn Sie es so gern
wollen,“ stotterte er, „und es wird mir eine große Eh–re sein. Nur
versichere ich Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen
ist ... Aber als ob man keine Träume hätte! Weshalb sich daher
beun–ruhigen? Es ist mir sogar, als hätte ich noch nichts begrif–fen,
^mon ami^,“ fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre du es
mir, bit–te! ...“

„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach ihn Sina, sich gleichfalls
an Mosgljäkoff wendend, „Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie
auf meinen zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich jetzt so
grausam an mir gerächt haben, – haben Sie sich wirklich zu diesen Leuten
gesellen können, um mich herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und
Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir kommt es zu, Ihnen
Vorwürfe zu machen! Ich bin schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt
und beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen
hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag als Beweis des Gegenteils
gesagt habe, war Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt
und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten, so hätte ich es
nur getan, um irgendwohin fortfahren zu können, fort aus dieser
verwünschten Stadt, und um diesen ganzen Schmutz hier endlich
abschütteln zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben, wenn ich
Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute und treue Frau gewesen
... Sie haben sich grausam an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz
schmeicheln kann ...“

„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff.

„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“

„Sinaïda Afanassjewna!!!“

„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die aufsteigenden Tränen
unterdrückend, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“

„Sinaïda Afanassjewna!!!“

„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja Alexandrowna.

„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich bin ein Schuft und weiter
nichts!“ behauptete Mosgljäkoff und alles geriet in große Aufregung.
Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens wurden laut, doch Mosgljäkoff
stand wie angewurzelt auf einem Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens
bar. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen.

Für schwache und leere Charaktere, die an ewige Unterwerfung gewöhnt
sind und sich dann einmal entschließen, sich aufzulehnen und zu
protestieren, mit einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese
Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das nahe Ende ihrer
kurzen Festigkeit und Entschlossenheit ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang
überaus energisch zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur
Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen Augen auf die
Hindernisse und laden sich fast stets eine für ihre Kräfte zu große Last
auf die Schultern. Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze
erreicht, so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über sich
selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: „Was habe ich da
angerichtet?“ – worauf er alsbald seinen ganzen Heroismus verliert,
womöglich sogar weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um
Verzeihung bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen,
jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ... Fast dasselbe
geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem er sich empört, das Unglück
heraufbeschworen, das er jetzt bereits nur sich allein zuschrieb,
nachdem er seinem Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich
selbst in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er nun
plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor dem unerwarteten
Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte vernichteten ihn endgültig. Aus dem
einen Extrem ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk eines
Augenblicks.

„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er in einem Anfall
verzweifelter Reue aus. „Nein! Was Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich
bin unvergleichlich schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen
beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen, daß auch ein
Esel ein edler Mensch sein kann! Onkel! Ich habe Sie betrogen! _Ich_,
_ich_, _ich_ allein habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie
haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den Heiratsantrag gemacht,
ich aber, ich Schuft, habe aus Rache, weil man mir einen Korb gegeben
hatte, aus Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt hätte.“

„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier aufgedeckt werden!“
tuschelte Natalja Dmitrijewna ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr.

„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige dich, bit–te. Du hast
mich wirklich erschreckt mit deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß
du im Irr–tum bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit,
wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du hast mir doch noch selbst
gesagt, daß es mir nur geträumt habe ...“

„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen Sie mir, sagen Sie
mir, wie ich ihn jetzt überzeugen kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch
eine wichtige Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit!
Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie doch nach!“

„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke nach. Wart mal, laß mich
alles erst einmal mir ins Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von
meinem Kutscher Fe–o–fil ...“

„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren Feofil!“

„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um ihn handle. Dann
träumte mir von Napo–le–on, und dann war es so, als wenn wir getrunken
hätten und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei uns auf ...“

„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in einem Augenblick der
Verfinsterung seines Gedächtnisses, „das hat Ihnen doch Marja
Alexandrowna selbst nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt! Ich
war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich hatte mich versteckt
und sah und lauschte durch einen Türspalt ...“

„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“ schrie Natalja
Dmitrijewna dazwischen. „Dann haben Sie es also auch dem Fürsten
erzählt, daß ich bei Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte!
Dann komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“

„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ schrie Marja Alexandrowna, zur
Verzweiflung gebracht.

„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen Sie nicht mit mir
sprechen! ... Also ich soll bei Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon
lange gehört, daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir hat
Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ... Also ich stehle bei
Ihnen Zucker? ...“

„Aber, ^mesdames^,“ rief der Fürst dazwischen, „das hat mir ja nur
geträumt! Als ob mir nicht vieles träu–men kann? ...“

„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja Alexandrowna halblaut.

„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte Natalja Dmitrijewna. „Und
wer sind Sie denn, wenn man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß
Sie mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ... ich habe
wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur einen Tölpel ...“

„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar die Rede,“ murmelte
ahnungslos der Fürst, der sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna
entsann.

„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine vornehme Dame
beschimpfen? Wie wagen Sie es überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so
sind Sie ein einbeiniger Krüppel ...“

„Wer, ich einbeinig?“

„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein Bein fehlt, Ihnen fehlen auch
alle Zähne, damit Sie’s wissen!“

„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja Alexandrowna.

„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein Korsett!“ fügte Natalja
Dmitrijewna hinzu.

„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“

„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“

„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“ schrie Marja
Alexandrowna.

„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch we–nigstens, Marja
Stepa–nowna!“ unterbrach der Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen
ganz kopfscheu machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten! Du hast es
erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“

„Onkelchen!“

„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger blei–ben! Bring mich
irgendwohin fort ... ^quelle société^? Wohin hast du mich eigentlich
ge–bracht, Gott im Himmel!“

„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna.

„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst. „Ich habe im
Au–genblick nur ein wenig verges–sen, weshalb ich herge–kom–men bin,
aber ich werde mich dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, ^mon ami^,
bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich hier noch. Zudem
... zudem muß ich schnell einen neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“

„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich werde Sie sofort ins
Gasthaus bringen und auch selbst mit Ihnen übersiedeln ...“

„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, ^ma charmante enfant^ ... Sie allein ...
nur Sie allein ... sind gut und tugend–haft. Sie sind ein ed–les
Mäd–chen! ... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“

Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen Szene nach dem Fortgang
des Fürsten zu beschreiben versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren
die Gäste ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück – unter
den Trümmern ihres früheren Ruhmes. Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze
Bedeutung – alles war an diesem einen Abend eingestürzt und
untergegangen. Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich nie mehr zu
derselben Höhe würde erheben können. Ihre langjährige despotische
Herrschaft in der Gesellschaft war endgültig dahingeschwunden. Was blieb
ihr jetzt noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte
nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht. Sina war entehrt und der
Klatsch würde kein Ende nehmen! Entsetzlich!

Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken, daß am meisten
unter dieser Stimmung Afanassij Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter
Letzt verkroch er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum Morgen
furchtbar fror.

Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue Tag sollte nichts
Gutes bringen. Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein.


                                  XV.

Wenn das Schicksal einem einmal Unglück beschert, so hört es damit so
bald nicht auf. Das ist eine altbekannte Tatsache. Als ob diese ganze
Schmach und Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna!
Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr noch anderes vor.

Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete sich in der Stadt
ganz plötzlich ein seltsames, fast unglaubliches Gerücht, das von allen
mit auffallender Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder
ungewöhnliche Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben Nächsten
zustößt.

„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham und jedes Gewissen zu
verlieren!“ hieß es allgemein. „Sich dermaßen zu erniedrigen, sich
dermaßen über jeden gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen
die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr.

Es war folgendes geschehen:

Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes altes Weib eilig ins Haus
Marja Alexandrownas gekommen und hatte die Stubenmagd unter Tränen
beschworen, das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken, aber heimlich, so
daß Marja Alexandrowna nichts davon erführe. Sina war im Augenblick
erschienen, erschrocken und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr
niedergeworfen, ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt, und sie
angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen, der die ganze Nacht so
schwer, so schwer geatmet habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag
überleben werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä selbst
sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr Abschied nehmen zu
können, daß er sie bei allen heiligen Engeln beschwöre, bei allem was
früher zwischen ihnen gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht
käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben. Sina hatte sich
sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich doch die Erfüllung dieser
Bitte alle früheren Gerüchte von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen
Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen mußte.

Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie einen Pelz umgenommen und
war dann mit der Alten fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze
Stadt in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am Ende einer
einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe Hütte, deren Fenster mehr an
Spalten oder Löcher erinnerten, und die ringsum von hohen Schneebergen
umgeben war.

In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem Geruch erfüllt
war und in dem der riesige Ofen genau die Hälfte des ganzen Raumes
einnahm, lag in einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei
Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem alten
Uniformmantel[2] zugedeckt war. Sein Gesicht war bleich und abgezehrt,
seine Augen hatten den flackernden Glanz Fieberkranker, seine Hände
waren schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme waren wie Stöcke;
er atmete schwer und rauh; seine Stimme war heiser. Man sah es ihm an,
daß er einmal schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte die
zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und es tat weh, ihn
anzublicken, wie der Anblick eines jeden Schwindsüchtigen oder
Sterbenden weh tut. Seine alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und
fast bis zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka wieder
gesund werden würde, mußte sich endlich sagen, daß ihr Sohn nicht mehr
lange in dieser Welt bleiben konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden
Lager, die Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie sah ihn
an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm – konnte es nicht
begreifen, wenn sie es auch wußte, daß nach wenigen Tagen dort draußen
auf dem Armenfriedhof die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken
und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen würde. Doch Wassjä sah sie
jetzt nicht. Sein ganzes abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit.
Endlich, endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze anderthalb
Jahre im Wachen geträumt und die ihm in jedem Traum erschienen war, an
die er Tag und Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten
seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß sie ihm verziehen hatte,
da sie wie ein Engel Gottes in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen
war. Sie preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah ihn
wieder mit ihren wundervollen Augen an und – und alles Vergangene,
Unwiederbringliche begann in der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das
Leben flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als wolle es dem
Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal zu fühlen geben, wie schwer das
Scheiden von ihm ist.

„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über mich, gräme dich nicht,
sei nicht traurig darüber, daß ich bald sterben muß. Ich werde dich
ansehen, – so wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder
beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde deine Hände küssen,
wie früher – weißt du noch? – und ich werde sterben, vielleicht ohne den
Tod zu spüren. Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel, mit welcher
Güte du mich ansiehst ... Aber weißt du noch, wie du früher lachtest?
Weißt du noch ... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung, ich
will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen ist, denn sieh, wenn
du mir vielleicht auch verziehen hast, so werde ich mir doch nie
verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare
Nächte, und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen und
gedacht, lange und viel, gedacht und da bin ich zur Einsicht gekommen,
daß es für mich besser ist, zu sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte
nicht zum Leben, Sina!“

Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als hätte sie ihn damit im
Sprechen aufhalten wollen.

„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der Kranke fort. „Weil ich
sterbe, nur weil ich sterbe? Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja
doch schon längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als ich, du
hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt du auch, daß ich ein
schlechter Mensch bin. Kannst du mich denn lieben? Was mich das gekostet
hat, diesen Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein
schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel Eigenliebe hierin war,
vielleicht auch edelmütige ... ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund,
mein ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt, immer nur
geträumt und nicht gelebt. Ich war stolz, ich verachtete die Masse ...
Auf was aber war ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst
nicht. Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja alles nur in
Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen, als es aber zur Tat kam, da
bewies ich glänzend meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene
Gesinnung! ...“

„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ... Das war ja alles nicht so
... du marterst dich ganz unnütz!“

„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß, du hast mir verziehen,
und vielleicht schon vor langer Zeit; aber du hast über mich
nachgedacht, das Urteil gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber
quält mich ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina! Du warst auch
dann, als es zur Tat kam, als es handeln hieß, auch dann warst du
ehrlich und großzügig: du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß
du mich und keinen anderen heiraten würdest, und du hättest dein Wort
gehalten, denn bei dir ist Wort und Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich!
Als es zur Tat kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar nicht,
was du für mich geopfert hättest, wenn es zur Heirat gekommen wäre! Ich
konnte es damals überhaupt nicht begreifen, daß du als meine Frau vor
Hunger vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja keinen
Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten würdest, mich, den
großen Dichter – den zukünftigen, versteht sich – und ich wollte jene
Gründe überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als du mich
batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich machte dir Vorwürfe, ich
quälte, tyrannisierte, verachtete dich und schließlich kam es zu meiner
Drohung, jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein Schuft in
diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump! O, wie du mich verachtet
haben mußt! Es ist gut, daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte
dein Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen unserer
Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen! Vielleicht hätte ich dich sogar
gehaßt – als Hindernis in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist
es viel besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen mein Herz
gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein wenig lieb, so wie du mich
früher lieb gehabt hast! Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich
weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber ... aber ... Mein
Liebling, mein Liebling, du!“

Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals ihn zu unterbrechen,
doch er beachtete es nicht. Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr
auszuschütten, was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn fort zu
sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend erstickender Stimme.

„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht in mich verliebt, so
würdest du jetzt leben!“ sagte Sina. „Ach, warum, warum haben wir uns
kennen gelernt!“

„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine Vorwürfe, weil ich
sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin an allem schuld! Gott,
wieviel Eigenliebe hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir
ausführlich meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina! Sieh, hier war
vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer Räuber und Mörder, als es aber
zum Bestrafen kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger
Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht bestrafen würde und so
verschaffte er sich Branntwein, tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank
ihn dann aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut und Galle,
weißt du, und das dauerte so lange an, daß seine Lungen arg darunter
litten. Er wurde ins Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb
er an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich dachte damals an
ihn, an jenem Tage ... du weißt ... nach dem Brief ... und ich beschloß,
mich ebenso zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb ich
gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte mich doch erhängen oder
ertränken können? Glaubst du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ...
Aber es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht ohne
schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte doch immer daran, wie
hübsch es sein würde, wenn ich im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank,
und du wirst dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du mich
schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner Reue zu mir kommst,
auf die Knie vor mir niederfällst ... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen
Armen ... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“

„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht davon! Du bist nicht so
... laß uns lieber an anderes denken, an unsere schönen, glücklichen
Stunden.“

„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich auch davon. Anderthalb
Jahre lang habe ich dich nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt
meine ganze Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze Zeit
seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und es hat, glaube ich,
dennoch keine Minute gegeben, in der ich nicht an dich gedacht hätte, du
mein Herzenslieb, mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann! ...
Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas getan hätte, etwas
Großes, Gutes, um dich zu zwingen, deine Meinung über mich zu ändern.
Ich glaubte ja bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde.
Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch lange mit einer
kranken Brust umher. – Und wieviel lächerliche Wünsche ich hatte! Zum
Beispiel dachte ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in
den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu veröffentlichen, wie
es bis jetzt noch keines gegeben hat. Ich wollte in ihm alle meine
Gefühle ausgießen, meine ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein
mochtest, stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an mich erinnert
hätte durch meine Verse, und mein schönster Traum war, wie du dann
endlich nachdenklich werden und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch
kein so schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka, dumm
nicht wahr?“

„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend aus.

Sie warf sich über seine Brust und küßte seine Hände.

„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält hat! Ich glaube –
ich wäre gestorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ
dich beobachten, ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er
wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den Mosgljäkoff nicht
geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh, mein Engel, du! Wirst du dich auch
jemals meiner erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich nicht
vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen, dein Herz wird
abkühlen, erkalten, es wird Winter in der Seele und dann wirst du mich
doch vergessen, Sinotschka! ...“

„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ... Du bist der erste ...
der letzte ... ewig werde ich dich lieben!“

„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen ... Sogar unsere
edelsten Gefühle sterben. An ihre Stelle tritt vernünftiges Denken.
Weshalb dawider murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe
glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb gewinnst – man
kann doch nicht immerfort einen Toten lieben! Nur denk zuweilen auch an
mich, nur hin und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb
das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch Gutes gegeben.
Sinotschka! Oh, die wundervollen, unwiederbringlichen Tage! ... Hör
mich, mein Engel, ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang
geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn die Sonne untergeht! Oh, nein,
nein! Wozu sterben! Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte!
Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese Zeit! Damals
war Frühling, die Sonne schien so hell, die Blumen blühten, rings um uns
schien es Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“

Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand auf das trübe, befrorene
kleine Fenster. Dann ergriff er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an
seine Augen und schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen
schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen.

Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte. Sina tröstete ihn, so
gut sie es konnte, denn auch sie war fast zu Tode gequält. Sie sagte,
daß sie ihn nie vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn
geliebt. Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte, küßte ihre Hände,
doch die Erinnerungen an das Vergangene brannten in seinem Herzen und es
war ihm, als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der ganze Tag.
Marja Alexandrowna hatte inzwischen nicht viel weniger als zehnmal
nachgeschickt und Sina flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu
kommen und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich zu
machen. Endlich in der Dämmerung, vor Angst kaum noch ihrer Sinne
mächtig, entschloß sie sich, selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre
Tochter in die andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien an,
diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz zu stoßen“. Sina
ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl, was ihre Mutter sprach, begriff aber
nicht den Sinn der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen vor
Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung
wieder fortgehen. Sina hatte beschlossen, in der Hütte bei dem
Sterbenden zu übernachten.

Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit dem Kranken wurde es immer
schlechter. Wieder brach der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr
vorhanden, daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte Mutter ging
wie eine Irrsinnige umher, als verstehe sie nichts mehr. Sie gab ihrem
Sohn die Arzneien, die er dann nicht nehmen wollte. Der
Todeskampf dauerte lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur
unzusammenhängende, heisere Laute drangen zuweilen aus seiner Brust. Bis
zum letzten Augenblick sah er immer noch unverwandt Sina an, suchte er
noch immer ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann,
suchte seine unsicher irrende Hand immer noch ihre Hände, um sie zu
drücken. Der kurze Wintertag verging. Und während der letzte
Sonnenstrahl die Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube rot
erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf ewig seinen
abgezehrten Körper.

Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten Wassjä vor
sich sah, schlug sie die Hände zusammen und warf sich mit einem Schrei
auf den Toten.

„Das hast du getan, _du_ falsche, arglistige Schlange, _du_ hast ihn
behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung Sina zu. „_Du_, du verfluchte
Verführerin, _du_, du Mörderin, _du_, du hast ihn umgebracht!“

Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über den Toten gebeugt.
Endlich schien sie wieder zu sich zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte
ihn und verließ fast mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und ihr
schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die zwei schlaflosen Nächte
hatten ihren Kopf leer und tot gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre
ganze Vergangenheit sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und nun ein
neues Leben begann, ein finsteres, drohendes ... Sie war kaum zehn
Schritte gegangen, als Mosgljäkoff wie aus der Erde gewachsen vor ihr
stand. Er schien sie erwartet zu haben.

„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich ängstlichen
Geflüster und nachdem er sich eilig rings umgeschaut hatte, denn es war
immerhin noch ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich
ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich jetzt nicht mehr ein Esel,
denn, sehen Sie, es war schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber
ich bereue es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens habe ich mich
da verhauen, glaube ich ... aber Sie werden es verzeihen ... das hat
seine verschiedenen Gründe ...“

Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte schweigend ihren Weg
fort. Da das hohe Brettertrottoir für zwei nebeneinander nicht breit
genug war und Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte
ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging neben ihr im
Schnee der Fahrstraße, während er ihr immer wieder ins Gesicht blickte.

„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe es mir überlegt, und
wenn Sie wollen, bin ich bereit, meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin
sogar bereit, alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze
Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur mit einer
Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind, das Ganze noch ein
Geheimnis bleibt. Sie werden möglichst bald von hier fortfahren und ich
heimlich gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer
trauen, so daß es niemand hört und sieht und fahren dann sofort nach
Petersburg, wenn möglich mit unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen
kleinen Koffer mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda
Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann nicht so lange warten, man
könnte uns sehen ...“

Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie sah ihn aber so an,
daß er sofort alles begriff, den Hut zog und in der ersten Querstraße
verschwand.

„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern abend war es ihr
noch so nah gegangen und sie beschuldigte sich vor allen anderen ...
nahm die ganze Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem
Tage anders ist!“

Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis gefolgt. Eines davon
war sogar sehr tragisch: der Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus
gebracht hatte, war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich
erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten Morgen. Kalist
Stanislawitsch verließ den Kranken fast keinen Augenblick. Am Abend fand
ein Konzilium aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung war ihnen
in lateinischer Sprache zugesandt worden. Aber ungeachtet der
lateinischen Sprache verlor der Fürst bereits das Bewußtsein,
phantasierte, bat Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen
und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien er plötzlich zu
erschrecken, worauf er jedesmal des längeren schrie. Die Ärzte kamen in
ihrer Beratung dahin überein, daß sich beim Fürsten infolge der
Mordassower Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt habe und
diese mittlerweile – wahrscheinlich auf dem Wege ins Gasthaus – in den
Kopf gestiegen sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung
nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war jedenfalls, daß der
Fürst schon seit langer Zeit zum Sterben „disponiert“ gewesen und
deshalb unfehlbar sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch
nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des dritten Tages.
Sein Tod überraschte die Mordassower nicht wenig: einen so ernsten
Ausgang hatte niemand erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause,
wo die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten sich noch
mehr, schüttelten die Köpfe und es endete damit, daß die „Mörder des
unglücklichen Fürsten“ – damit meinte man Marja Alexandrowna und deren
Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle begriffen, daß dieser
Zwischenfall allein schon von seiner skandalösen Seite eine unangenehme
Verbreitung finden und womöglich noch in weite Kreise dringen konnte und
– doch ist es wohl nicht gut möglich, alles wiederzugeben, was
gesprochen und befürchtet wurde.

Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald hierhin bald dorthin,
bis ihm schließlich der Kopf rund ging. In dieser Stimmung war es, daß
er dann auch mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig: er
hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst zu Marja Alexandrowna
und von dieser ins Gasthaus, und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit
der Leiche tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen? Sollte
er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er doch gewissermaßen der
„Neffe“ des Verstorbenen. Er zitterte, wenn er daran dachte, daß man
vielleicht noch ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben könnte.

„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg dringen, man kann
sie sogar in der höchsten Gesellschaft erfahren!“ dachte er mit bangem
Herzen.

Von den Mordassowern war kein Rat zu holen: allen schien plötzlich bange
zu sein, alle zogen sich von dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in
einer geradezu düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas ganz
Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von Grund aus ändern.

Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des Fürsten traf in der Stadt
ein vornehmer Herr ein. Von diesem Herrn sprach im Augenblick ganz
Mordassoff, nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll
von ihm gesprochen, und als er durch die große Straße zum Gouverneur
fuhr, da lauerte alles nur durch Türspalten und Gardinen auf den hohen
Gast. Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll etwas betreten
gewesen sein und nicht gewußt haben, wie er sich zu ihm verhalten
sollte. Dieser Gast war der ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff,
ein Verwandter des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann von
etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes und Achselschnüren.
Diese Achselschnüre machten einen so mächtigen Eindruck auf die
Beamtenwelt, daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln
über den Rücken lief und alle sich strammer hielten. Der Polizeimeister,
zum Beispiel, verlor ganz und gar den Kopf, d. h. nur bildlich
gesprochen, versteht sich, also moralisch sozusagen. Physisch erschien
er in eigener Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht.

Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst Schtschepetiloff aus
Petersburg gekommen und unterwegs über Duchanowo gefahren war. Da er den
Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren nach
Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag die Nachricht vom Tode des
Verwandten und die Gerüchte über die näheren Umstände und Ursachen
seiner Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur – soll
sogar sehr verlegen gewesen sein, als er ihm die nötigen Aufschlüsse
geben mußte. Übrigens gingen alle Mordassower mit gewissermaßen
schuldbewußten Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste Fürst
ein so strenges, unzufriedenes Gesicht hatte, obgleich er doch unmöglich
über die Erbschaft ungehalten sein konnte?!

Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort selbst in die Hand.
Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich vor dem wirklichen, nicht nur
angeblichen Verwandten und verschwand – unbekannt wohin.

Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins Kloster zu schaffen,
wo auch das Totenamt gehalten werden sollte. Der Fürst gab seine
Anordnungen trocken, streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und
sachlich.

Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins Kloster begeben. Unter den
Damen hatte sich das unsinnige Gerücht verbreitet, daß Marja
Alexandrowna persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge
kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld flehen werde und daß
es so nach dem Gesetz geschehen müsse. Natürlich war das Torheit und
Marja Alexandrowna dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen. Übrigens
habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas Rückkehr ins Haus, diese und
ihre Mutter noch an demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja
Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt für unmöglich
gehalten hatte. Von dort aus verfolgte sie aufgeregt die neuen Gerüchte,
schickte ihre Leute in die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen
Fürsten in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze Zeit wie im
Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster nach Duchanowo führte kaum eine
Werst weit von dem Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so konnte
diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession verfolgen, die
sich nach dem Totenamt aus dem Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst
beigesetzt werden sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen
geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe von Equipagen hin, die
dem Leichenwagen bis zum Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen
und in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die schwarze
Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder dahin, hinter dem
hohen, schwarzen Leichenwagen, der sich nur langsam mit
ehrfurchtgebietender Majestät weiterbewegte. Marja Alexandrowna
vermochte nicht lange zuzusehen und trat fort vom Fenster.

Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann nach Moskau,
und nach einem Monat erfuhr man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und
ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So hatte denn Mordassoff
auf ewig seine tonangebende, seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich
ging es auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So wurde zum
Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt Afanassij Matwejewitsch verkauft
werde ...

Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann noch ein drittes und
Marja Alexandrowna geriet fast ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt
es nun einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch erzählt, daß sie
sich in einer anderen Gouvernementsstadt niedergelassen und in der
Nähe derselben ein neues Gut gekauft habe, und daß sie dort
selbstverständlich wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht
verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch wozu diese Gerüchte
wiederholen – es ist ja kein wahres Wort an ihnen.

                   *       *       *       *       *

Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem ich die letzte Zeile
dieser schönen Geschichte aus der Mordassower Chronik geschrieben, und
wer hätte es sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript
aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung würde hinzufügen
müssen! Doch zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch
Mosgljäkoff.

Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg gefahren, wo er
denn auch glücklich durch Protektion jene gute Anstellung erhalten
hatte, die ihm schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle
Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel großstädtischen
Lebens – auf der Wassiljeff-Insel und am Galeerenhafen – untergetaucht,
hatte gespielt und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem
Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten, hatte noch
einmal einen Korb verwunden, und noch bevor er damit ganz fertig war,
hatte er sich in seinem Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an
einer Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete unseres
grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um dort irgend etwas zu
revidieren oder zu einem ähnlichen Zweck – genau weiß ich es nicht. Die
Expedition durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf
schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des „fernen
Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab sich zum Generalgouverneur.
Das war ein strenger General, von großem Wuchs und hager, ein alter
Krieger mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt, mit zwei
Sternen auf der Brust und einem weißen Kreuz am Halse. Würdevoll und
gemessen empfing er die Expedition und lud darauf alle Vertreter
derselben zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages zur Feier
des Namenstages der Generalgouverneurin gegeben werden sollte.
Mosgljäkoff war sehr zufrieden damit. Er warf sich in seinen
tadellosesten Petersburger Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu
machen gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten den
festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort etwas bescheidener, als er
plötzlich so unerwartet viele Uniformen mit dick-gewundenen goldenen
Raupen auf den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor sich
sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin, von der er gehört
hatte, daß sie jung und schön sei, seinen Bückling machen. Er begab sich
flott und selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm
stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck,
stolz, schön und hochmütig.

Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig über sein Gesicht
und sie wandte sich dann an einen anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt
trat Mosgljäkoff zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen jungen
Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben schien, seitdem er sich auf
dem Ball beim Generalgouverneur befand: Mosgljäkoff machte sich sofort
daran, ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante Dinge.
Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur erst vor zwei Jahren
geheiratet habe, als er einmal aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau
gereist war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen und
vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar schön“, ja man könne sie
sogar die schönste aller Schönheiten nennen, nur sei sie sehr stolz und
tanze nur mit Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle,
sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen Staatsräte mit
inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin eine Mutter habe, die auch
hier bei ihr lebe, und daß diese Frau Mutter aus der höchsten
Gesellschaft stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber selbst die Frau
Mutter sich widerspruchslos dem Willen ihrer Tochter unterordne und der
Generalgouverneur bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei.
Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij Matwejewitsch, aber
im „fernen Grenzgebiet“ hatte man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu
sich gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden Zimmer und fand
bald auch Marja Alexandrowna, die prächtig aufgeputzt sich mit einem
teuren Fächer zufächelte und äußerst lebhaft mit einem der höchsten
Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer Kreis gebildet,
offenbar Bewerber um ihre Gunst – und sie – sie war zu allen sehr
liebenswürdig.

Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja Alexandrowna schien im
ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken, faßte sich aber sofort. Mit
liebenswürdigem Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen, hierauf
erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten und fragte ihn unter
anderem auch, weshalb er nicht im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff
erwähnte sie mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt hätte.
Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines wichtigen Petersburger
Fürsten genannt und sich nach seinem Befinden erkundigt hatte –
Mosgljäkoff hatte keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und
inwiefern Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein konnte – wandte sie
sich unauffällig an einen auf sie zutretenden Würdenträger, dessen
Haupthaar schon silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie
den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen. Mit
sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand, kehrte er in den großen
Ballsaal zurück. Er glaubte sich verletzt und sogar beleidigt und
beschloß daher, nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft
eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend teuflisches
Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule gelehnt – der Saal war wie
absichtlich mit Säulen versehen – stand er während des ganzen Balles auf
einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina mit seinen
Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen, ungewöhnlichen
Stellungen, verzweifelten Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina
bemerkte ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich mit steifen
Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen Stehen – wütend, gereizt und mit
mordsmäßigem Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch nicht
zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier zurück. Er fühlte
sich vollkommen erschöpft und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er
in seinem Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes. Am
nächsten Morgen mußte auf Grund einer inzwischen eingetroffenen
Nachricht jemand von der Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff
bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ, atmete er
förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder neue Lebensgeister in sich.
Auf der ungeheuren flachen Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern,
fern am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder hin.

Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine Lust war, und die
Hufe schleuderten feste Schneestückchen auf die Schlittendecke.

Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang weit durch die klare
Winterluft. Mosgljäkoff wurde nachdenklich, schließlich träumerisch und
dann schlief er seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte
er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken.




                            Die fremde Frau
                      und der Mann unter dem Bett


                                   I.

„Verzeihung, mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“

Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte etwas erschrocken einen
Herrn in einem Waschbärpelz an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr
abends auf der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder
Petersburger, wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße plötzlich anredet,
auch wenn er es noch so höflich tut.

Also der Vorübergehende zuckte zusammen und erschrak ein wenig.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der Herr im Waschbärpelz
fort, „aber ich ... ich, wirklich, ich weiß nicht ... Sie werden mich,
hoffe ich, entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus der
Fassung gebracht ...“

Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche – einem kürzeren
Pelzüberrock –, daß der Herr im Waschbärpelz allerdings nichts weniger
als gefaßt aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine Stimme
unsicher, und seine Gedanken schienen sich gänzlich verwirrt zu haben:
schnell und unüberlegt stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an,
daß es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem Rang und der
gesellschaftlichen Stellung nach offenbar unter ihm stehende
Persönlichkeit zu wenden. Hinzu kam noch, daß diese Bitte an und für
sich höchst peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen so soliden
Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack und so bedeutsame Abzeichen
auf diesem Frack trug, zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles
dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen bewußt, und es
verwirrte ihn so sehr, daß er seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen
konnte, seine Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen
der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen hatte, ein Ende
machte.

„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise nicht ganz bewußt.
Aber Sie kennen mich nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß
ich Sie aufgehalten habe ...“

Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell.

„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“

Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits in der Dunkelheit
verschwunden, und dem jungen Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt
nachzusehen.

„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich verwundert, stand noch ein
Weilchen und vergaß dann den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen
Gedanken zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße auf und nieder
zu gehen begann, ohne dabei die Tür eines endlos hohen Hauses aus dem
Auge zu lassen. Es war neblig geworden, was dem jungen Mann eine Sorge
vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte sein unermüdliches Hin- und
Hergehen den Menschen weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem
müßigen Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren
Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete.

„Entschuldigen Sie!“

Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah zu seiner Verwunderung
wieder jenen Herrn im Waschbärpelz vor sich stehen.

„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann er von neuem, „doch Sie
... Sie sind ganz gewiß ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht
... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten
Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es nicht das, was ich sagen wollte.
Aber ... fassen Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein Herr,
steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden Bitte an Sie wenden muß
...“

„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt es sich?“

„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten will!“ Der
geheimnisvolle Herr verzog den Mund zu einem Lächeln, erbleichte und
lachte hysterisch auf.

„Aber ich bitte Sie ...“

„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen Sie, aber ich
kann mich selbst nicht ertragen! Betrachten Sie mich als einen
Unzurechnungsfähigen, einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht
etwa –“

„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der junge Mann, zwar in
aufmunterndem Tone, doch mit merklich ungeduldigem Kopfnicken.

„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger Mann wie Sie – erinnern
mich an das Wichtige, ganz als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich
muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als was erscheine ich
Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung, sagen Sie es mir aufrichtig?“

Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an, sagte jedoch nichts.

„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben Sie hier nicht eine
Dame gesehen? Darin besteht meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich
der Herr im Waschbärpelz kurz entschlossen.

„Eine Dame?“

„Jawohl, eine Dame.“

„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind ihrer so viele hier
vorübergegangen ...“

„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle kleine Herr mit einem
bitteren Lächeln. „Ich bin etwas zerstreut und verwirrt im Kopf, es war
nicht das, was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine
Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze aus dunklem Samt und einem
schwarzen Schleier gesehen haben?“

„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein, ich glaube, eine
solche nicht bemerkt zu haben.“

„Ah! dann – entschuldigen Sie!“

Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas fragen, doch der Herr
im Waschbärpelz war bereits wieder verschwunden und sein geduldiger
Zuhörer konnte ihm wieder nur verdutzt nachsehen.

„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich bei sich, zog offenbar
ärgerlich seinen Biberkragen fester um den Hals und nahm von neuem den
unterbrochenen Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln zu
vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen.
Er ärgerte sich.

„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er. „Bald ist es acht Uhr!“

Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht.

„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“

„Entschuldigen Sie! ...“

„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen mir so plötzlich vor
die Füße, daß ich geradezu erschrak,“ entschuldigte sich der junge Mann,
doch klang es diesmal schon fast unwirsch.

„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß ich Ihnen seltsam
erscheinen ...“

„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären. Ich habe bis
jetzt noch nicht erfahren können, was Sie eigentlich von mir wünschen
...“

„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie mal. Ich werde Ihnen alles
ganz offen erzählen, ohne ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die
Umstände bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was ihre Charaktere
betrifft, im Grunde ganz verschieden sind ... Doch ich sehe, Sie sind
ungeduldig, junger Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich nicht
einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich suche eine Dame – Sie
sehen, ich habe mich schon entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie
gesagt, unbedingt erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin
diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke ich, wird Sie nicht
interessieren, junger Mann.“

„Nun, nun, weiter! weiter!“

„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt, verzeihen Sie, vielleicht
hat es Sie gekränkt, daß ich Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich
versichere Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn Sie mir einen
unermeßlichen Gefallen erweisen wollten, dann also, wie gesagt: diese
eine Dame ... das heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige
Dame ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt bin ... und
da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen Sie, ich habe selbst keine
Familie ...“

„Nun und?“

„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger Mann! – Ach, wieder!
Verzeihen Sie, bitte! Ich nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick
ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame ... aber können
Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem Hause wohnt?“

„Ja ... hier wohnen sehr viele.“

„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte schnell der Herr
im Waschbärpelz und er lachte kurz auf, wie um die Situation zu retten.
„Ich sehe, daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb
schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie sehen, gebe ich doch
offenherzig zu, daß ich mich nicht ganz treffend ausgedrückt habe, so
daß Sie, wenn Sie ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge
erniedrigt gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame von anständigem
Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich
bin so verwirrt. Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da hat
man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de Kocks Romane leichten
Inhalts seien, während doch bei seinen Romanen das ganze Malheur, wie
gesagt ... nun eben ...“

Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im Waschbärpelz an, der sich
schließlich rettungslos verwirrt hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln
ansah, während seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund immer
wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen griff.

„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge Mann, ein wenig
zurückweichend.

„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“

„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter anderen Ssofja
Osstafjewna,“ sagte der junge Mann flüsternd und sogar mit einem
gewissen Mitgefühl.

„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt etwas Näheres, junger
Mann!“

„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ... Ich habe nur so
kombiniert, so nach Ihrem verstörten Aussehen ...“

„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren, daß sie in dieses
Haus hier geht; doch Sie sind in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das
heißt, ich will sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ...
sie kennt sie ja gar nicht ...“

„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“

„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert, junger Mann,“ bemerkte
der seltsame Herr mit bitterer Ironie.

„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas unsicher, „ich kenne
allerdings nicht die Ursache Ihrer gegenwärtigen ... Verfassung, aber
sagen Sie doch offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“

Der junge Mann lächelte verständnisvoll.

„... Wir werden uns dann wenigstens schneller verstehen,“ fügte er
lächelnd hinzu und seine ganze Gestalt verriet die großmütige
Bereitwilligkeit, sogleich eine leichte Verbeugung zu machen.

„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe Ihnen ganz offen –
Sie haben vollkommen erraten, um was es sich – ... Aber wem kann das
nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief. Unter jungen
Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch zugeben ... Übrigens bin ich ja
nicht mehr ganz jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das
Junggesellenleben, wie gesagt, unter uns Junggesellen, na, Sie wissen
schon ...“

„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit kann ich Ihnen nun
dienen?“

„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch bei Ssofja Osstafjewna
... Übrigens weiß ich noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame
begeben hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause befindet. Als
ich Sie nun hier auf und ab gehen sah – ich selbst spazierte dort auf
jener Seite – dachte ich, wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich
diese Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich mit ihr
zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig auseinandersetzen, wie
wenig anständig, wie schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie
verstehen mich ...“

„Hm! Nun?“

„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie nur nicht etwa ... O nein!
Das ist eine ganz fremde Frau! Der Mann steht dort auf der
Wosnessenskij-Brücke; er will sie hier überrumpeln, kann sich aber nicht
entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder Gatte ...“ Hier
machte der Herr im Waschbärpelz wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich
bin nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir doch zugeben, daß
ich als Mensch, der sich sozusagen einer gewissen, allgemeinen Achtung
erfreut, nicht wohl derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten
offenbar geneigt sind, – das ist doch klar!“

„Selbstverständlich. Nun, und?“

„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin beauftragt – Sie
verstehen – Der arme Mann! Aber ich weiß, daß die listige junge Frau –
ewig hat sie einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin
überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt
durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen gestanden, nur die Köchin
gesagt, daß sie hierhergehe, und da bin ich denn wie ein Sinnloser
hergestürzt, kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer habhaft
werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich habe ja schon längst
Verdacht geschöpft. Deshalb wollte ich Sie fragen – Sie gehen hier auf
und ab ... Sie ... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“

„Ja, _was_ denn? Was wünschen Sie zu wissen?“

„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht das Vergnügen, Sie zu
kennen, und, offen gestanden, ich wage auch gar nicht, eine solche
Neugierde zu bekunden, zum Beispiel, ... ich meine ... wer und ... was
... und weshalb ... Jedenfalls aber werden Sie erlauben, daß wir uns,
wie gesagt ...“

Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die Hand des jungen Mannes
und schüttelte sie kräftig und mit glühender Aufrichtigkeit.

„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich sogleich tun sollen,“
fuhr er erregt fort, „aber man ist mitunter so zerfahren, daß man alles
vergißt!“

Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still stehen, blickte nach
links, nach rechts, trat von einem Bein aufs andere, fast zappelnd vor
Ungeduld, und griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm,
fortwährend nach einem Knopf oder einem Aufschlag der Pekesche des
jungen Mannes.

„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in voller Freundschaft
an Sie wenden – verzeihen Sie die Freiheit – und wollte Sie bitten:
könnten Sie nicht dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses,
wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so, wissen Sie, hin
und her? Und ich – ich werde dasselbe tun, bloß hier, vor dem
Haupteingang, damit sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen
Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne vielleicht doch
unbemerkt durchschlüpfen. Das aber darf auf keinen Fall geschehen. Und
Sie, sobald Sie sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie und
halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich bin verrückt! Jetzt erst
begreife ich die ganze Dummheit und Unanständigkeit meines Vorschlages!“

„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“

„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. Ich bin
unzurechnungsfähig, ich ... ich kann meine Gedanken nicht mehr
zusammenhalten! Das ist mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich
mein Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen – ich bin ganz
offen und ehrlich mit Ihnen, junger Mann – ja, ich habe anfangs _Sie_
für den Liebhaber gehalten!“

„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was ich hier tue?“

„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei mir fern, daß _Sie_ der
Betreffende sein könnten! Es sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur
in Gedanken mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ... aber können Sie
mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß Sie kein Liebhaber sind? ...“

„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber bin, nur nicht
derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre ich jetzt nicht auf der Straße,
sondern bei ihr, wie Sie wohl zugeben werden.“

„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann? Ich bin
unverheiratet, bin, wie gesagt, Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja
... ich bin selbst ein Liebhaber ...“

„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der Brücke ...“

„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe? Aber sehen Sie, es gibt
noch andere ... Verwicklungen! Und Sie werden mir doch zugeben, junger
Mann, daß eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden
Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“

„Schon gut, schon gut, aber um was ...“

„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“

„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber jetzt bitte ich Sie,
nachdem ich Sie beruhigt habe, auch mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen
das leichter wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu rufen.
Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben, sich zurückzuziehen und mir
den Weg gefälligst frei zu geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“

„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen! Ich kann
Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld Ihres Herzens nur zu gut
nachfühlen. Ich verstehe das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt
verstehe!“

„Ja, was ...“

„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie, junger Mann, ich komme
wieder zu Ihnen ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ...
Geben Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der Liebhaber
sind!“

„Herr des Himmels! ...“

„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der Familienname des Mannes
Ihrer ... das heißt, ich wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie
sich interessieren?“

„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist es nicht der
Ihrige. Doch jetzt basta!“

„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“

„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen Sie, daß Sie davon kommen.
So verlieren Sie nur Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal
unbemerkt aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen Sie denn noch? Die, die
Sie suchen, ist in einem Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die,
die ich suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues Samthütchen
... Was wollen Sie mehr?“

„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja gleichfalls einen karierten
Umwurf und ein solches Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der
plötzlich wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand.

„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall, mein Herr, so etwas
kommt vor. Doch wozu rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt
ja nicht dorthin zu gehen!“

„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die _Sie_ erwarten?“

„Interessiert Sie das?“

„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“

„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt kein Schamgefühl! Na,
zum Kuckuck, ich will es Ihnen sagen: die, die _ich_ erwarte, hat hier
Bekannte in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses. So, und
was wollen Sie jetzt noch wissen? Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch
die Namen zu hören wünschen!“

„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten Stockwerk, hier im
Vorderhause ... General ...“

„General? ...“

„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, auch sagen, welch
ein General ... es ist General Polowizyn.“

„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“ versetzte er schnell gefaßt
– im geheimen aber fluchte er ganz gotteslästerlich:

„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“

„Nicht die?“

„Nein.“

Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos einander an.

„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“ fuhr plötzlich der junge
Mann auf, ärgerlich die Starrheit von sich abschüttelnd.

Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig.

„Ich, ich, offen gestanden ...“

„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig reden. Die
Sache geht uns beide an. Erklären Sie mir: wen haben Sie dort?“

„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“

„Ja, Ihre Bekannten ...“

„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren Augen an, daß ich es
erraten habe!“

„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel! Sind Sie denn etwa
blind? Ich stehe doch leibhaftig vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei
ihr sein. Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der Teufel, mir
ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie reden oder nicht!“

Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem Absatz um, schlug mit der
Hand eine bezeichnende Gebärde und stampfte sogar mit dem Fuß auf.

„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich bin gern bereit, Ihnen
als einem Ehrenmanne alles zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein
zu ihnen – sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen – und ich ahnte
natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht lag mir vollkommen fern.
Gestern aber traf ich auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu
meiner Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen die
Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber ... das heißt, was sage ich!
– nicht _meine_ Frau, sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet,
wie gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese Dame also hat aber
gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen bei ihnen gewesen sei und zwar hier
in dieser Wohnung ... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß die Wohnung
Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn mit Namen, gemietet habe ...“

„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“

„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“

„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich an, ob Sie außer sich sind
oder nur entsetzt! Ach! Da, da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen
Sie?“

„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘ und ich komme sofort ...“

„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher doch noch nicht
vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“

„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und kehrte wie der Wind
zurück, atemlos vor Schreck und Aufregung. „Was? was? Wo?“

„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß wissen, wie diese
Dame heißt?“

„Glaf...“

„Glafira ...?“

„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ... verzeihen Sie, aber ich
kann Ihnen ihren Namen nicht nennen.“

Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß wie Kalk.

„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira, das weiß ich
selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch jene heißt nicht Glafira ...
Doch übrigens, bei wem ist sie denn dort?“

„Wo?“

„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der Henker drein!“

Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille stehn vor Wut.

„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß sie Glafira heißt?“

„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch Sie noch auf dem Halse!
Aber Sie sagen doch selbst, daß diejenige, die _Sie_ suchen, nicht
Glafira heißt! ...“

„Mein Herr, welch ein Ton!“

„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um den Ton zu tun! Was
ist sie denn? – Ihre Frau etwa?“

„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ... Nur finde ich es
anstößig, so einem unglücklichen Menschen, so einem Menschen, der – ich
will nicht sagen: der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch so
einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort ‚hol’s der Teufel‘ zu
sagen. Von Ihnen aber hört man ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s
der Teufel, hol’s der Teufel‘!“

„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da haben Sie es wieder,
freuen Sie sich darüber!“

„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige ich. Mein Gott, wer
ist das?“

„Wo?“

Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig gekleidete Mädchen traten
aus dem Hause. Beide Herren stürzten ihnen entgegen.

„Nein! So sehen Sie doch! ...“

„Was wollen Sie?“

„Nein, das ist sie nicht!“

„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? – He! Droschke!“

„Wohin will sie denn, Fräulein?“

„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“

„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los! Aber daß du schnell
fährst ...“

Die Droschke fuhr davon.

„Woher mögen die gekommen sein?“

„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber sollte man nicht hingehen?“

„Wohin?“

„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“

„Nein, das geht nicht ...“

„Weshalb nicht?“

„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas anderes, sie ...
würde den Spieß umdrehen; ich kenne sie! Sie würde sagen, daß sie
absichtlich gekommen sei, um mich bei irgend einer zu überraschen und
damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“

„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist! Ja aber, hören Sie –
ich weiß nicht – aber weshalb schließlich nicht den Versuch riskieren?
Hören Sie, gehen Sie zum General ...“

„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“

„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist doch hingegangen, und
Sie gehen gleichfalls hin – verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie
nichts von seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen
Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen, nun und so
weiter!“

„Und dann?“

„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen bei Bobynizyn. Pfui
Teufel, ist das aber ein Rüp...“

„Ja, aber was haben _Sie_ denn davon, wenn ich dort jemanden ertappe?
Sehen Sie, sehen Sie!“

„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach du Grundgütiger! Haben Sie denn
schon jegliches Schamgefühl verloren, Sie ...“

„Ja, aber weshalb regen _Sie_ sich denn deshalb so auf? Offenbar wollen
Sie wissen ...“

„Was? was will ich wissen? was? Ach nun, zum Teufel mit Ihnen, jetzt
ist’s mir nicht um Sie zu tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie,
gehen Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie, nun, aber
schnell!“

„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr im Waschbärpelz
verzweifelt.

„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“ fragte der junge Mann
durch die Zähne, in seiner Wut mit geballter Faust auf den Herrn im
Waschbärpelz eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber vergesse ich mich?!“
knirschte er zornbebend.

„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“

„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse, wer, wie ist Ihr
Name?“

„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll, junger Mann. Wozu denn
meinen Namen? ... Ich, ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen
gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben, ich bin zu allem
bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich habe wirklich höflichere Ausdrücke
verdient! Man soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn Sie
aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung gebracht sind – und ich
errate die Ursache – so brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu
vergessen ... Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“

„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind! Machen Sie, daß Sie
fortkommen, was laufen Sie hier herum? ...“

„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch noch gar nicht so alt!
Allerdings, daß ich es schon weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe
durchaus nicht hier herum ...“

„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich zum Teufel ...“

„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe; das können Sie mir nicht
verbieten; ich bin gleichfalls beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“

„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“

Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf zum dritten Stockwerk.
Es war ziemlich dunkel.

„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“

„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“

„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“

„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich ...“ Der Herr im
Waschbärpelz befühlte hastig alle seine Taschen.

„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür muß es sein ...“

„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“

„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch lauter! Können Sie denn
nicht still sein? Halten Sie den Schnabel.“

„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt, ich, ich muß mir Gewalt
antun ... Sie sind ein ungezogener, frecher Mensch!“

Das Streichholz flammte zischend auf.

„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da steht ja: Bobynizyn; sehen Sie:
Bobynizyn? ...“

„Ich sehe, ich sehe!“

„Lei–se! Was, ausgelöscht?“

„Ja, ausgelöscht.“

„Soll man klopfen?“

„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz.

„Dann klopfen Sie!“

„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen Sie zuerst an die Tür.“

„Memme!“

„Sie sind selbst eine Memme!“

„So packen Sie sich doch!“

„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis eingeweiht zu
haben. Sie ...“

„Ich? Nun, was?“

„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie haben gesehen, wie ich
...“

„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur lächerlich und damit basta!“

„Weshalb sind Sie denn hier?“

„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“

„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte höchst unwillig der Herr
im Waschbärpelz.

„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn selbst?“

„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“

„Was?“

„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte Gatte ein ... ein
Pantoffelheld!“

„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet doch dort auf der Brücke?
Weshalb regen Sie sich denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt
in fremde Angelegenheiten?“

„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der Liebhaber sind! ...“

„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen, daß meiner
Überzeugung nach kein anderer – Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie!
Es gibt aber auch noch eine andere Benennung dafür.“

„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann bin!“ versetzte der Herr
im Waschbärpelz wie mit heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen
Schritt zurückweichend.

„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“

„Das ist sie!“

„Nein!“

„Wie dunkel es hier ist.“

Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der Wohnung Bobynizyns ließ
sich allerdings Geräusch vernehmen.

„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“ flüsterte der Kleine im
Waschbärpelz.

„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster beleidigt gefühlt!“

„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“

„Schweigen Sie!“

„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch sehr junger Mann sind
...“

„Schweigen Sie! zum ...“

„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen einverstanden, daß der
Gatte in einer solchen Lage ein Pantoffelheld ist ...“

„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch einmal!“

„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des unglücklichen Gatten?
...“

„Das ist sie!“

Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch.

„Ist sie es?“

„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn so auf? Was geht das
Sie als fremden Menschen an?“

„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im Waschbärpelz mit
versagender, erstickender Stimme, aus der es fast wie ein Schluchzen
klang. „Ich ... versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich
zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht, aber morgen ...
übrigens werden wir uns morgen sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich
mich nicht zu fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens bin ja
gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie gesagt, der auf der
Wosnessenskij-Brücke wartet. Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist
seine Frau, wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich ... ich
versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm bekannt; erlauben Sie, ich
werde Ihnen alles erzählen. Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn –
würde ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück nehmen? Und
Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja selbst gesagt, unzählige Mal gesagt:
wozu heiratest du? Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht
wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen Posten, weshalb also
willst du das alles gegen die Launen einer Koketten eintauschen? oder
zum mindesten doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein, aber, –
ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ... Da hat er jetzt sein
Familienglück! Zuerst hatte er selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam
die Reihe an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen,
diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit entrissen! ... Er ist
ein unglücklicher Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“

Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz zu versagen und der
junge Mann hörte so etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen
Ernstes zu weinen begonnen.

„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch wahrlich genug
Dummköpfe in der Welt! Wer sind Sie denn eigentlich?“

Der junge Mann knirschte vor Wut.

„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ... ich handelte edel und
offen ... Sie aber schlagen jetzt wieder einen solchen Ton an!“

„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter Familienname?“

„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen zu schaffen?“

„Ah!!“

„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu nennen ...“

„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich der junge Mann.

„Schabrin!!!“

„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte sich, die Stimme des
älteren ein wenig nachzuäffen. „Haben Sie jetzt begriffen?“

„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte mit hervorquellenden
Augen der Herr im Waschbärpelz. „Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein
Ehrenmann, ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten kann ich
mir nur durch Ihre Eifersucht erklären, die Sie vollkommen
unzurechnungsfähig macht.“

„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine käufliche Seele, ein
Prozentschneider, ein Betrüger, der die Kasse bestohlen hat! Bald wird
er vors Gericht gebracht werden!“

„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz, der bleich geworden
war, „Sie kennen ihn nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen
unbekannt sein.“

„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne ich aber um so
besser das Wesen seiner werten Person aus gewissen ihm sehr
nahestehenden Quellen.“

„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ... so zerstreut, wie Sie sehen
...“

„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein eifersüchtiger Pantoffelheld,
der seine Frau nicht zu bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich
damit ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“

„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen sich in Ihrem Eifer,
junger Mann ...“

„Ach!“

„Ach!“

In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch vernehmen. Die Tür
wurde aufgeschlossen, Stimmen wurden laut.

„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne ihre
Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ... Glauben Sie mir, das ist sie
nicht!“ versicherte der Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während
sein Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde.

„Schweigen Sie!“

Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um nicht gesehen zu werden.

„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich sehr.“

„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie!“

„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“

„Weshalb gehen Sie denn nicht?“

Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im Waschbärpelz eilte wie der
Blitz die Treppe hinab.

Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame vorüber und sein Herz
drohte stille zu stehen ... Er vernahm nur eine helle, bekannte
Frauenstimme und dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz
unbekannt war.

„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten nehmen,“ sagte die
rauhe Stimme.

„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“

„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“ Und damit
verschwand der Herr. Die Dame blieb allein zurück.

„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der junge Mann in der Pekesche,
die Dame am Handgelenk fassend.

„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff? Mein Gott im Himmel! Was
tun Sie hier?“

„Wer war jener Herr?“

„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie, gehen Sie, er wird
sogleich zurückkehren ... von Polowizyns. So gehen Sie doch fort, um
Gottes willen, gehen Sie!“

„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor drei Wochen ausgezogen!
Ich weiß alles!“

„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie konnte die Treppe hinab.
Der junge Mann holte sie aber doch noch ein.

„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame.

„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch, der sich hier in
nächster Nähe befindet, der – vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“

Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz – stand in der Tat
auf der Treppe dicht vor seiner Gemahlin.

„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl.

„Ah, ^c’est vous^?“ rief Glafira Petrowna, die mit ungefälschter Freude
zu ihm stürzte. „O Gott! Was mir alles zugestoßen ist! Ich war bei
Polowizyns; und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen jetzt
an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt du noch? Und dort stieg
ich in einen Schlitten. Die Pferde scheuten, jagten dahin,
zerschmetterten den Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von
hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde aufs Polizeibureau
gebracht; ich war natürlich außer mir. Zum Glück kam da Monsieur
Tworogoff ...“

„Was?“

Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem es zur Salzsäule geworden,
als Herrn Tworogoff.

„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so liebenswürdig, mich zu
begleiten. Doch jetzt sind Sie hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach
Hause fahren, und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich Sie meiner
ganzen Dankbarkeit versichere.“

Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten Herrn Tworogoff die
Hand, die sie aber so stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte.

„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn ihrem Gatten vor. „Ein
Bekannter von mir. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei
Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich dir von ihm schon
erzählt habe? Entsinnst du dich nicht, Coco?“

„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut entsinne ich mich!“
versicherte eilfertig der Herr im Waschbärpelz, der Coco genannt worden
war. „Freut mich, freut mich ungemein!“

Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte des Herrn Tworogoff.

„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn das zu bedeuten? Ich warte ...“
ertönte plötzlich eine rauhe Stimme.

Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer Herr, der ein Lorgnon
hervorzog und den Herrn im Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann.

„Ach, ^voilà^ Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in den süßesten Tönen.
„Woher kommen Sie denn, wenn man danach fragen darf? Das nenne ich eine
Begegnung! Denken Sie sich, mich haben die Pferde soeben aus dem
Schlitten geworfen ... Doch hier mein Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich
auf dem Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“

„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich ein Gefährt
besorgen, mein Kind.“

„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich bebe von dem
Schreck. Mir ist gar nicht wohl ... Heute abend auf dem Maskenball,“
flüsterte sie schnell Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl,
Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen auf dem Ball bei
Karpoffs wiedersehen?“

„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein; ich werde morgen ...
wenn es jetzt nicht geht ...“ brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen
den Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war, machte mit
seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte sich in seinen Schlitten und
fuhr von dannen.

Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame setzte sich hinein, doch
der Herr im Waschbärpelz zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war
er noch nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit völlig
sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen Mann in der Pekesche an,
worauf dieser nichts als ein Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln,
das auffallend wenig geistreich war.

„Ich weiß nicht ...“

„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,“ versetzte der
junge Mann mit einem leichten Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da
er plötzlich so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte, wie
sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ...

„Freut mich, freut mich sehr ...“

„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“

„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Ich habe mir immer
Gummigaloschen anschaffen wollen ...“

„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren, sagt man,“
bemerkte der junge Mann, allem Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme.

„Jean! So komm doch endlich!“

„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man hört. Sogleich, sogleich,
Herzchen, im Augenblick, wir haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja,
gerade wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren ...
Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“

„O, ich bitte!“

„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben
...“

Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine Gemahlin in den
verdeckten Schlitten. Die Pferde griffen aus.

Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich und blickte dem
entschwundenen Paare verwundert nach.


                                  II.

Am Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen Oper“ irgendeine
Aufführung statt. Der Saal war bereits brechend voll und der erste Akt
hatte schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter
Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem Platz schoß.
Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch, der Besitzer jenes Waschbärpelzes.
Noch nie hatte man ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt, wie
er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war aber um so befremdender,
als man die Vorliebe Iwan Andrejewitschs, sich im Saale der
„Italienischen Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den Armen wiegen
zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen Armen durch mehr oder minder
vernehmbares Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte. Auch
hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön es sei, im Traum die
Primadonna „so zärtlich wie ein weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne
durch das Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich schon
lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens ein halbes Jahr, wenn
nicht länger. Jetzt war alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan
Andrejewitsch nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem Bette schlafen
...

Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal geschossen, dieses fast
fünfzigjährige graue Männchen – das übrigens doch noch nicht ganz grau
war. Mit einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang, und – o,
Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie war hier! Sie saß in einer
Loge mit General Polowizyn, dessen Gattin und Schwägerin. Und in
derselben Loge befand sich noch der Adjutant des Generals – ein äußerst
gewandter und liebenswürdiger Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ...

Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur größtmöglichen Schärfe
an, doch – o, Angst und Pein! Dieser Unbekannte in Zivil machte sich
hinter dem Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig
unkenntlich.

Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt nicht hier sein
werde!

Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira Petrowna auf Schritt und
Tritt an den Tag legte, war es, was den guten Iwan Andrejewitsch
vernichtete! Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends zur
Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank er in seinen Sessel.
Weshalb nur diese Verzweiflung, fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war
doch sehr einfach ...

Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in seiner Verzweiflung hatte
niedersinken lassen, befand sich dicht an den Parterrelogen und in
gerader Linie unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn
nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten Ungemach nicht einmal
sehen konnte, was dort vor sich ging. Wie verständlich ist’s daher, daß
die Wut in ihm wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom ganzen
ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt, das Beste an der Musik sei,
daß man sie mit jedem beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer
sich freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen Trauer –
was will man mehr? Doch in den Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein
ganzer Sturm zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen Seiten
so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein Herz müsse zerspringen.
Endlich war der erste Akt zu Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der
Vorhang sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames, daß die
Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben.

Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der Brüstung einer der
höchsten Logen ein Theaterzettel langsam herabfällt. Ist das betreffende
Schauspiel langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm damit
eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu teilnahmsvoll verfolgen
die Blicke den im Zickzack zurückgelegten Flug des weichen, leichten
Papiers, wobei sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche
Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt, über dem
buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es ist allerdings auch sehr
interessant zu beobachten, wie dieser Kopf dann plötzlich erschrickt,
wie verwirrt er sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im
ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr verwirrt sein. Auch
wegen der Operngläser, die die Damen so unvorsichtig auf den
Logenbrüstungen liegen lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich
kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar auf
irgendjemandes vollständig unvorbereitetes Haupt herabfallen werden.

Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas, das bisher noch keinem Menschen
widerfahren oder das wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf
sein ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes schon ziemlich
beraubt war – fiel kein Theaterzettel. Ich spüre, daß es mir eigentlich
recht peinlich ist, das Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es
ist doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das ehrenwerte,
entblößte Haupt des eifersüchtigen und schwer gereizten Iwan
Andrejewitsch tatsächlich ein so unmoralischer Gegenstand fiel, wie es
z. B. ein süßduftender Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme Iwan
Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher als eine solche
Überraschung erwartete, so heftig zusammen, als habe er auf seinem
ehrenwerten Haupte zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes
wildes Tier verspürt.

Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man ihm nur zu deutlich an.
Erstens war er auf zartem, verräterisch duftendem Papier geschrieben und
zweitens war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem Handschuh
hätte verbergen können. Gefallen war er offenbar während der Übergabe,
vielleicht beim Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief
geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht war auch nur eine
unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten die Ursache gewesen, daß der
Brief aus dem Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn
bemerken und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der Jüngling in Zivil
nur den Theaterzettel, mit dem er dann entschieden nichts anzufangen
wußte. Fürwahr, eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben,
daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um ein Bedeutendes unangenehmer
war.

„^C’est prédestiné^,“ murmelte er, indes kalter Schweiß ihm aus den
Poren trat und er den kleinen Brief krampfhaft in der Hand
zusammenpreßte, als wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen,
„^prédestiné^! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“ zuckte es durch
seine Gedanken. „Nein, das ist nicht das Richtige! Was habe ich
verbrochen, daß ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er
sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen. Doch wer vermag
all die Gedanken aufzuzählen, die ein Gehirn nach solch einer
Erschütterung gebiert!

Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als wäre er in der Tat das
gewesen, was er zu sein schien: weder tot noch lebendig. Er war
überzeugt, daß das ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt
hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang unter schallendem
Applaus gefallen war und ein wahrer Sturm die Primadonna hervorrief.
Doch er war so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu
erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste geschehen, das ein
Mensch sich nur ausdenken kann.

„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu seinem Nachbarn zur
Linken, einem auffallenden Gecken.

Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase befand, unermüdlich
in die Hände klatschte und sogar mit den Füßen scharrte, warf nur einen
flüchtigen, zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann
geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen Mund und rief
dumpf brüllend den Namen der Sängerin. Iwan Andrejewitsch, der noch
nichts Ähnliches vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts
bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und wandte sich
zurück. Doch der dicke Herr, der hinter seinem Rücken saß, stand jetzt,
ihm seinerseits den Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas
die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch. In den
Reihen vor ihm hatte man natürlich nichts gesehen. Schüchtern, doch voll
froher Hoffnung wagte er einen Blick in die Parterreloge zu werfen,
neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der unangenehmsten
Empfindung zusammen, denn was er dort erblickt hatte, war wenig
trostreich: er sah eine schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt,
krampfhaft ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig lachte.

„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und knirschte Iwan
Andrejewitsch und schlängelte sich schleunigst zur Ausgangstür, bemüht,
dem Publikum nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten.

Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch darauf, anzunehmen, daß
dieser Liebesbrief gerade aus der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es
doch über dem zweiten Rang noch einen und dann noch einen und dann noch
die Galerie – im ganzen gab es fünf Ränge. Weshalb sollte er
ausgerechnet aus jener bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein,
warum nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch gleichfalls
Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas Außerordentliches und
Eifersucht die außerordentliche Leidenschaft, die sich nicht irrt.

Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür erreicht hatte, ins
Foyer, blieb bei der nächsten Lampe stehen, erbrach das Kuvert und las:

„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße im Hause K–offs, im
dritten Stockwerk, rechts von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei
dort. ^Sans faute!^“

Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt, doch eines stand für
ihn fest: daß es eine Bestellung zu einem Rendezvous war. Sein erster
Gedanke war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das Übel verhüten, so
lange es noch nicht zu spät war!“

Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die Schuldigen sogleich zu
überführen, sofort, hier im Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan
Andrejewitsch eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang, besann
sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte vor der Logentür wieder
Kehrt. Er wußte entschieden nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich
überhaupt lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die andere
Seite und blickte durch die offene Tür der gegenüberliegenden Loge.
Tatsächlich: in jeder der fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über
seinem Platz befanden, saßen junge Damen und junge Herren. Der
Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich fallen können, um so mehr, als
Iwan Andrejewitsch die Insassen aller fünf gegen sich verschworen
glaubte. Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb Iwan
Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den ganzen zweiten Akt verbrachte
er in den Korridoren, die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne
Seelenruhe finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse, um vom
Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber zu erfahren – doch leider
war die Kasse schon geschlossen. Endlich erschallte Applaus, helle
Stimmen, die Bravo und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung
war zu Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes im
Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte in die G–straße, um
dort „an Ort und Stelle zu überführen, abzufangen, und überhaupt
energischer vorzugehen als gestern“. Bald hatte er auch das Haus
gefunden, und er war gerade im Begriff einzutreten, als plötzlich, fast
unter seinem Arm, eine Männergestalt in einem geckenhaften Paletot durch
die Tür schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte.
Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der junge Fant von gestern gewesen
sei, obschon er sein Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen
hatte. Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen Vorsprung
von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm zuvorkommen? Da hörte Iwan
Andrejewitsch wie eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne
Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden. Iwan Andrejewitsch
erreichte diese Tür, als der junge Mann kaum hinter ihr verschwunden und
noch niemand sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar
noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen Schritt zu
erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und jenes noch zu befürchten
und sich dann erst zu etwas Endgültigem zu entschließen. Da wollte es
das Schicksal, daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor das Haus
rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür wurde geräuschvoll aufgerissen
und jemandes schwere Schritte begannen, begleitet von Husten und
Gekrächz, langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation war
Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er klinkte die Tür auf und betrat
mit der ganzen Feierlichkeit des hintergangenen, sich im Recht fühlenden
Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine Kammerzofe trat ihm
sehr erregt entgegen, ihr folgte auf dem Fuß ein Diener, doch nichts
vermochte Iwan Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war der
Gatte!

Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung, so flog er in das nächste
Gemach, durchschritt zwei fast dunkle Zimmer und befand sich plötzlich
in einem Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn zitternd
und verständnislos anstarrte. Da erschallten aber, noch bevor Iwan
Andrejewitsch zu sich gekommen war, schwere Schritte im Nebenzimmer und
näherten sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die Iwan
Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen hatte.

„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame entsetzt, bleicher als ihr
Peignoir, und sie rang hilflos die Hände.

Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse geraten, aus der es
kein Entrinnen gab, fühlte, daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die
nun nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die Tür, schon trat
der schwere Mann – nach seinen schweren Schritten zu urteilen – ins
Zimmer ... Ich weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich in
diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu sagen, was ihn davon
abhielt, dem Fremden frank und frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu
erklären, für seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich dann
zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht heldenhaft – aber man
hätte es doch immerhin eine anständige, offene Handlungsweise nennen
müssen.

Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie ein Schulbube, der
nicht weiß, was Überlegung ist, oder als hätte er sich für einen zweiten
Don Juan gehalten.

Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem Bettvorhang, doch schon
nach zwei Sekunden brach er vor Angst in die Knie und kroch, jedes
Gedankens bar, auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares.
Der Schreck hatte in ihm jede Regung der Vernunft gelähmt – nur so läßt
es sich erklären, daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener
Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt, nun tat, als tue
er das, was ihm widerfuhr, selbst einem andern an. Vielleicht konnte er
es bloß nicht übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese ihm
wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart hervorzurufen. Doch wie dem
auch gewesen sein mag, Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne
selbst zu begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste war
aber für ihn in diesem Augenblick, daß die Dame es widerspruchslos hatte
geschehen lassen. Sie hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich
vor ihr aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann, um darauf
ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden. Anzunehmen ist, daß
sie vor Schreck die Sprache verloren hatte.

Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach und Weh ihr schwerer Gatte
ins Zimmer getreten. Mit greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner
Frau einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen Sessel
fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige Last Holz hereingetragen.
Darauf folgte ein langanhaltender Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der
sich aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt hatte und nun
zitterte und zagte wie ein Mausejunges vor einem Kater, wagte kaum zu
atmen, obwohl er doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte, daß
nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch das kam ihm gar nicht
in den Sinn – sei es aus Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend
einem anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur leise
tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen Orientierungsversuch, um
seine Gliedmaßen in eine etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie
groß aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung, als
seine tastende Hand plötzlich an einen Gegenstand stieß, der sich
bewegte und ihn seinerseits mit einer Hand anfaßte!

Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch!

„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd und zitternd.

„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“ kam es flüsternd, doch mit
deutlicher Ironie zurück. „Liegen Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie
in die Falle geraten sind!“

„Mein Herr, Ihr Ton ...“

„Still!“

Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte unter dem fremden Ehebett
vollkommen genügt – dieser freche Mensch preßte die Hand Iwan
Andrejewitschs so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz fast
aufgeschrien hätte.

„Mein Herr, mein Herr ...“

„Sst!“

„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand! oder ich schreie!“

„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“

Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der Unbekannte schien kein
Erbarmen zu kennen. Vielleicht war er schon so manches Mal der
Verfolgung des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich
infolgedessen nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan Andrejewitsch
war aber jedenfalls ein Neuling in dieser Situation und glaubte daher,
schier vergehen zu müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf.
Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt auf dem Bauch. Da
faßte er sich in Demut und schwieg.

„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte, „ich war, mein
Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir begannen Préférence zu spielen, aber
weißt du, köchö-köch-köch!“ – er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein
Rücken ... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“

Und der Greis hustete endlos.

„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher Stimme fort, sich die
Tränen aus den Augen wischend, „begann so zu schmerzen ... von diesen
verwünschten Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ... noch
sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“

Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres Leben
bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten hatte. Ließ der Husten
etwas nach, so brummte er mitunter ein paar unverständliche Worte, die
bald wieder im Husten erstickt waren.

„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi willen etwas zur
Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan Andrejewitsch.

„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen Platz!“

„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich nicht lange so
liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal in einer solchen Lage.“

„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer Nachbarschaft.“

„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“

„Still!“

„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger Mann, daß Ihre Redeweise,
gelinde gesagt, sehr unhöflich ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind
Sie noch sehr jung; ich bin älter als Sie.“

„Schweigen Sie!“

„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit wem Sie reden!“

„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett liegt ...“

„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt ... Sie aber,
wenn ich mich nicht täusche, Ihre Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“

„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“

„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage Ihnen ...“

„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir hier auf _einem_
Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht mit Ihren Händen ins Gesicht
zu fahren!“

„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts sehen. Verzeihen Sie,
aber ich habe ja doch keinen Platz.“

„Weshalb sind Sie denn so dick?“

„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich in eine so
erniedrigende Lage gebracht!“

„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“

„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich weiß zwar nicht, wer Sie
sind, ich weiß auch nicht, wie das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß
ich irrtümlicherweise hierher geraten bin – ich bin nicht das, was Sie
von mir glauben ...“

„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn Sie mich nicht immer
stoßen würden. So schweigen Sie doch endlich!“

„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme ich einen Schlaganfall!
Sie werden meinen Tod zu verantworten haben. Ich versichere Ihnen ...
Ich bin ein ehrenwerter Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich
doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“

„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche Lage gebracht.
Na, rücken Sie doch weiter, dann haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr
gibt’s davon nicht.“

„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger Mann! Ich sehe, daß
ich mich in Ihnen getäuscht habe ...“ begann Iwan Andrejewitsch in
aufwallender Dankbarkeit, indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine
glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre eigene
Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man tun? Ich sehe, daß Sie
schlecht von mir denken. Erlauben Sie, daß ich meine Reputation in Ihren
Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen auseinandersetze,
wer ich bin, wie ich mich gegen meinen Willen hierher verirrt habe –
nochmals, ich versichere Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den
Sie annehmen ... Ich fürchte mich entsetzlich ...“

„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal! Begreifen Sie denn
nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn man Sie hört? Sst! Er wird sogleich
aufhören zu husten!“

In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen und dieser schickte
sich wieder an, zu sprechen.

„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam und mit kläglicher
Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch! Ach! diese Plage! Fedossei
Iwanowitsch sagte mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! –
‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘. Hörst du, Herzchen?“

„Ich höre, mein Freund.“

„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee trinken.‘ Ich
sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘. Er aber sagte: ‚Nein,
Alexander Demjanowitsch, Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein
gutes Purgativ, sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was
meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach, Schöpfer! Köch-köch!
... Also du meinst, Schafgarbentee wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach
Gott! Köch! ...“ usw., usw.

„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses Mittel zu
versuchen,“ meinte die junge Frau.

„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht sogar die
Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte: ‚Nein, Podagra, und außerdem
einen Magenkatarrh ...‘ Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch
Schwindsucht.‘ Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen:
habe ich die Schwindsucht? Köch!“

„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch! Welch ein
Unsinn das ist!“

„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen, könntest dich jetzt
auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch! Ich habe aber heute, köch!
heute Schnupfen.“

„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage unter dem Bett.
„Um Gottes und Christi willen, rücken Sie weiter!“

„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern: können Sie denn keinen
Augenblick still sein? ...“

„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie wollen mich verletzen,
das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich der Liebhaber dieser Dame?“

„Schweigen Sie!“

„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht erlauben, hier zu
kommandieren! Ganz gewiß sind Sie der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt,
bin ich vollkommen unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“

„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach ihn der junge Mann
zähneknirschend, „werde ich sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß
Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann wird man
wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber dieser Dame sei.“

„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen! Wissen Sie auch, daß
meine Geduld reißen kann?“

„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren! Sie sind mein
Unglück! So sagen Sie doch, weshalb sind Sie hier? Ohne Sie würde ich
ruhig bis zum Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender
Gelegenheit fortgehen ...“

„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so liegen, ich bin doch
ein denkender Mensch! Ich habe Verbindungen, habe Protektion ... Was
meinen Sie, wird er wirklich hier schlafen?“

„Wer?“

„Nun, dieser Greis?“

„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle Männer so wie Sie.
Einige übernachten auch zu Hause.“

„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch erkaltend vor Schreck,
„seien Sie überzeugt, daß auch ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist
das erstemal ... Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen!
Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne Umschweife, ich flehe
Sie an, aus uneigennützigster Liebe bitte ich Sie darum, – wer sind
Sie?“

„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche Gewalt ...“

„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen erzähle, mein Herr, daß
ich Ihnen diese ganze entsetzliche Geschichte erkläre ...“

„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts wissen, lassen Sie
mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“

„Aber ich kann doch nicht ...“

Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür um so
verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch verstummte.

„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“

„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“

Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit ihrem alten Gatten
reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart noch nicht völlig
wiedererlangt zu haben schien, was ihre erschrockene Stimme und ihre
Verwirrung verriet.

„Was für ein Kater?“

„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging ich in mein
Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so vor sich hin. Ich fragte ihn:
was hast du, Wassenjka? Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich:
ach ihr Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“

„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen Sie sich!“

„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke, daß ich
sterben könnte, ist dir unangenehm, sei aber nicht böse deshalb. Ich
sagte es nur so. Aber du könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt
auskleiden und zu Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange
sitzen ... Köch-köch-köch!“

„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später ...“

„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es wirklich so, als
raschelten hier Mäuse ...“

„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu hören! Ich weiß nicht,
was heute mit Ihnen ist!“

„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch! Ach, du mein
großer Gott! Köch!“

„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es glücklich gehört hat!“
flüsterte der junge Mann seinem Nachbar zu, während der Alte hustete.

„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine Nase blutet ...“

„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten Sie, bis er
fortgegangen ist.“

„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in meine Lage: ich weiß
doch nicht einmal, mit wem ich hier liege.“

„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn Sie’s wüßten? Ich
interessiere mich nicht im geringsten für Ihren Namen. Und wenn schon –
Na, wie lautet er denn, sagen Sie doch zuerst?“

„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur erklären, durch welchen
sinnlosen Zufall ...“

„Sst ... er hat aufgehört ...“

„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich flüstern
gehört!“

„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich nur die Watte in
Ihren Ohren verschoben haben.“

„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ... über uns ... Koch ...
in der Wohnung über uns, hier, köch-köch-köch!“ usw.

„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der Teufel! Und ich dachte,
dies sei das letzte Stockwerk! Ist denn dies erst das zweite?“

„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch wie von jemandem
gekniffen auf, „was sagen Sie da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert
Sie das? Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte
Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein Stockwerk?“

„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand sein,“ sagte der
Greis, dessen Husten sich wieder gelegt hatte.

„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen Hand wie eine eiserne
Klammer Iwan Andrejewitschs Hände packte.

„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das ist Vergewaltigung!
Lassen Sie los!“

„Sst!“

Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder vollständige Stille
folgte.

„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis fort.

„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge Frau.

„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer netten Dame auf
der Treppe begegnet bin? ... oder habe ich es vergessen, zu erzählen ...
Mein Gedächtnis ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“

„Was?“

„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das helfe ...
Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt man.“

„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge Mann, knirschend.

„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“ fragte die junge
Frau.

„Wie?“

„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“

„Wem das?“

„Aber dir doch!“

„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“

„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der junge Mann unterm Bett,
der dem vergeßlichen Greise am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß
versetzt hätte.

„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott, mein Gott! was höre ich?
Das ist ja wie gestern, ganz wie gestern! ...“

„Sst!“

„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender Käfer! So
blanke Augen ... unter einem hellblauen Hütchen ...“

„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“

„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut! Mein Gott, mein
Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch wie ein Verzweifelter.

„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd, doch mit
unheimlichem Händedruck.

„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch, „er spricht!“

„Zum Teufel! ... Teufel ...“

„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut tragen ...“ flüsterte Iwan
Andrejewitsch zaghaft.

„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr der Greis fort,
„köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen Bekannten. Und immer
liebäugelt sie. Zu diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte
...“

„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine junge Frau. „Ich
begreife nicht, wie einen so etwas interessieren kann.“

„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“ beschwichtigte sie
wieder der Greis „ich ... ich – Köch! – ich werde nicht mehr davon
erzählen, wenn du es nicht willst. Du bist heute nicht bei ganz guter
Laune ...“

„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte plötzlich in
gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm Bett.

„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich dafür zu
interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt nicht anhören!“

„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich. Aber seien Sie dann
still! Hol’s der Teufel, die Geschichte ist, bei Gott! um aus der Haut
zu fahren ...“

„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht! Ich weiß nicht, was ich
rede! Ich ... ich wollte nur sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für
den Zwischenfall interessieren werden ... Aber wer sind Sie, junger
Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber wer sind Sie nun
eigentlich! Mein Gott! Ich weiß selbst nicht mehr, was ich rede!“

„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei er innerlich mit
anderem beschäftigt.

„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken vielleicht, daß ich
nicht erzählen werde, daß ich Ihnen böse bin, nicht? Hier haben Sie
meine Hand! Ich bin nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das
ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie sind Sie
hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem Zweck sind Sie in dieses
Haus gekommen? Was mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich
bin Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf. Nur wird sie
nicht allzu sauber sein, denn hier ist es etwas staubig. Aber was will
das besagen!? Auf das Gefühl kommt es an!“

„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum, daß man hier Platz hat,
platt auf dem Bauch zu liegen – da will er noch Armverrenkungen
versuchen!“

„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre ich, mit Erlaubnis zu
sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete Iwan Andrejewitsch in einer
Aufwallung der keuschesten Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man
sie sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln Sie mich nur
ein wenig höflicher – hören Sie? – nur ein wenig höflicher, und ich
werde Ihnen alles erzählen! Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin
sogar bereit, Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir nicht
beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz offen. Sie sind auf
einem Irrwege, junger Mann, Sie wissen nicht ...“

„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte der junge Mann vor sich
hin, offenbar in größter Aufregung. „Vielleicht wartet sie dort auf mich
... Nein, ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“

„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem reden Sie, junger Mann?
Sie glauben, daß hier oben über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür
werde ich so gestraft?!“

Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner Verzweiflung, auf
den Rücken kehren, doch der Versuch mißlang, was ihn noch unglücklicher
machte.

„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel! – ich krieche hinaus!
...“

„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo soll ich denn bleiben?“
stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt und er klammerte sich an die
Frackschöße des anderen.

„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein hier. Oder wenn Sie
das nicht wollen, kann ich ja sagen, daß Sie mein Onkel seien, der sein
Vermögen durchgebracht hat, damit der Klappergreis nicht auf den
Gedanken kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu sehen.“

„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen!
Wer wird Ihnen denn das glauben, daß ich Ihr Onkel sei? Kein
dreijähriges Kind wird es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem
Tone Iwan Andrejewitsch.

„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen Sie sich platt! Sie
können doch hier ruhig übernachten und dann morgen sehen, wie Sie
entkommen. Kein Mensch wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon
herausgekrochen ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem Bett
vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert fühlen. Übrigens
wiegen Sie allein ein ganzes Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich
krieche hinaus.“

„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn ich zu husten beginne?
Man muß doch alles voraussehen ...“

„Sst!“

„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns hat wieder ein
Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis, der inzwischen wohl
eingeschlummert war, mit schläfriger Stimme.

„Über uns?“

„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“

„Ich höre, – nun!“

„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“

„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal ein Strich durch die
Rechnung gemacht ist, dann – ... Aber wissen Sie, was ich stark vermute?
Daß Sie, gerade Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind! –
Verstanden?“

„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten Sie das wirklich? Aber
weshalb denn gerade ein Ehemann ... ich bin doch nicht verheiratet ...“

„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“

„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es doch nicht
wissen!“

„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“

„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen alles erzählen.
Vernehmen Sie also meine Beichte, – die Beichte eines Verzweifelten.
Nicht ich bin der Betreffende, ich bin nicht verheiratet. Ich bin
gleichfalls Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund, mein
Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber bin ein Liebhaber ...
Da sagt er mir eines Tages: ‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß
den bittersten Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘ Aber,
Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie denn? ... Aber Sie hören
mich ja gar nicht! So hören Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist
lächerlich, sage ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber
sagt: ‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie gesagt ... ich
leere den Kelch, den bittersten Kelch ... d. h. ich habe sie im Verdacht
...‘ – Du bist mein Jugendfreund, sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam
Blumen gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ... Mein Gott,
ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen die ganze Zeit, junger
Mann. Sie werden mich noch verrückt machen!“

„Das sind Sie ja schon.“

„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir das sagen würden, als ich
das Wort noch nicht einmal ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es!
Lachen Sie nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich
gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt! Ach, ja! – jetzt
aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt werden!“

„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand geniest?“ fragte
wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit. „Warst du es, mein
Herzchen?“

„Oh, ^mon Dieu^!“ stöhnt die arme junge Frau.

„Sst!“ hörte man unter dem Bett.

„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte die junge Frau in
ihrer Herzensangst. Unter dem Bett wurde es schon allzu verräterisch
laut und immer lauter.

„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig. „Über uns! ...
Habe ich dir schon erzählt, daß ich einem jungen Mann – Köch-köch! einem
jungen Mann mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein Gott und
Vater! – mein Rücken! ... einem jungen Fant soeben begegnet bin, mit
einem Schnurrbärtchen ...“

„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind gewiß Sie!“ flüsterte
Iwan Andrejewitsch entsetzt.

„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier unter dem Bett,
liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann er mir denn begegnet sein! Aber so
fahren Sie mir doch nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“

„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“

In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung darüber allerdings großen
Lärm.

„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der junge Mann.

„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie mir!“

„Sst!“

„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist ja fast ein
Höllenspektakel dort oben. Und das gerade über deinem Schlafzimmer.
Sollte man da nicht hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“

„Ach, das fehlte noch!“

„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du heute so böse?“

„Oh, ^mon Dieu^! Werden Sie nicht bald schlafen gehn?“

„Lisa, du liebst mich gar nicht.“

„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen, ich bin so müde.“

„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“

„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge Frau plötzlich
angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen Sie!“

„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du, ich soll fortgehen, bald
wieder, ich soll hierbleiben ... Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit
zum ... Köch-köch! Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ...
Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger Puppe sah ich bei der
Kleinen, köch-köch! ...“

„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“

„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ... Köch-köch!“

„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge Mann seinem
Leidensgenossen zu, „er geht und dann können wir sogleich
hinausschlüpfen. Hören Sie? So freuen Sie sich doch!“

„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“

„Das war eine Lehre für Sie ...“

„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich fühle, daß ... Doch Sie
sind noch zu jung, Sie können mir keine Lehre geben.“

„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“

„Gott! Ich will niesen! ...“

„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“

„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach Mäusen, ich habe Staub
eingeatmet! Ich kann doch nicht! Geben Sie mir mein Taschentuch, aus
meiner Rocktasche, um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O
Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“

„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft werden, das will ich
Ihnen sogleich sagen: Sie sind eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher
Zweifel rennen Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt,
brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen in ihren
Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“

„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“

„Schweigen Sie!“

„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht Moral predigen! Ich bin
moralischer als Sie!“

„Schweigen Sie!“

„O Gott, o Gott!“

„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne junge Frau, die
nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen soll, und die vielleicht noch
krank werden wird von dieser ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen
ehrwürdigen Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin schon
genug gequält wird, einen Greis, der vor allen Dingen der Ruhe bedarf, –
und das alles aus welchem Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen
Unsinn in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle Gassen und
in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch, begreifen Sie auch, in
welches Licht Sie sich selbst gestellt haben, als was Sie dastehen, was
man von Ihnen denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so,
wie es sich gehört?“

„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben kein Recht ...“

„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht oder kein Recht! Begreifen
Sie denn nicht, wie tragisch das enden kann? Begreifen Sie denn nicht,
daß dieser Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach
irrsinnig werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem Bett seiner Frau
hervorkriechen? Doch nein, Sie können nicht die Ursache einer Tragödie
sein! Wenn Sie hervorkriechen, muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen
krummbiegen. Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal bei Licht
betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch sein!“

„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett hervorkriechend, würden
Sie gleichfalls lächerlich sein. Auch ich würde Sie gern einmal bei
Licht betrachten.“

„Sie!!“

„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit
aufgedrückt sein, junger Mann!“

„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen! Woher wissen
Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich bin irrtümlicherweise hierher
geraten, ich wollte eine Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen,
weshalb man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst jemanden
erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls nicht Sie. Ich
versteckte mich sofort unter dem Bett, als ich Ihre Schritte hörte und
als ich sah, daß die Dame so heftig erschrak. Zudem war es hier noch
ziemlich dunkel. Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit
noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein Herr, nichts als ein
lächerlicher eifersüchtiger Alter! Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie
denken vielleicht, ich fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre
schon längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben.
Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben, wenn ich Sie verließe.
Sie würden ja wie ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich
ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer zurechtfinden
...“

„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade wie dieser Gegenstand?
Konnten Sie mich nicht mit einem anderen vergleichen, junger Mann?
Weshalb sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde mich
sehr gut zurechtfinden!“

„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt! Das kommt alles von
Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses
elende Vieh kann noch zu unserem Verräter werden!“

In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis dahin ruhig auf seinem
Kissen in der Ecke geschlafen hatte, war plötzlich aufgewacht, hatte ein
wenig geschnuppert und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett
gestürzt.

„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan Andrejewitsch, halb tot
vor Schreck und Angst. „Es wird uns bestimmt verraten! Es wird alles
offenbar werden! Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein
Gott!“

„Durch Ihre Feigheit natürlich!“

„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend, die junge
Frau. „^Ici, ici, viens ici!^“

Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern griff mutig Iwan
Andrejewitsch an.

„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn Amischka so laut?“
fragte der Greis. „Sind etwa Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der
Kater? Deshalb – ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ... Und du
weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“

„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann. „Rühren Sie sich
nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht beruhigen.“

„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände frei! Weshalb halten Sie
sie?“

„Sst! still!“

„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund beißt mich in die Nase!
Sie wollen wohl, daß ich meine Nase verliere?“

Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch schließlich
gelang, seine Hände zu befreien. Das Hündchen bellte wie rasend;
plötzlich aber quietschte es auf und verstummte.

„Ach!“ schrie die Dame auf.

„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend. „Sie verraten uns!
Weshalb haben Sie den Hund gepackt? Teufel, der Kerl würgt ihn noch
obendrein! So hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen!
Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine Ahnung von einem
Weiberherzen? Sie wird uns beide noch an den Galgen bringen, wenn Sie
ihren Hund erwürgen!“

Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub gemacht: er hörte auf
nichts. Es war ihm gelungen, den kleinen Köter am Kragen zu fassen: und
da hatte er ihm denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit
einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit geblieben war,
noch einmal zu quieken, bevor es den Geist aufgab.

„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann.

„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „^Mon Dieu^, was haben sie mit
meinem Ami gemacht! Amischka, Amischka! ^Ici!^ O, diese Schändlichen!
Diese Barbaren! Mein Gott, mir wird schlecht!“

„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“ sagte der Greis,
der wohl gerade im Begriff gewesen war, ein wenig einzuschlummern, „was
hast du, mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka, Amischka,
Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit der Zunge, schnippte mit
den Fingern, doch es half alles nicht: Amischka kam nicht wieder zum
Vorschein. „Wo ist er denn geblieben? Amischka! ^Ici.^ Wirst du wohl! Es
kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen hat?
Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen, meine Liebe, er ist schon einen
ganzen Monat nicht mehr bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde
morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu meint. Aber um Gottes
willen, mein Herz, was ist mit dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser!
Hilfe! Hilfe!“

Und der Alte stürzte kopflos zur Tür.

„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame und sank auf die
Chaiselongue.

„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her.

„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort ... unter meinem Bett! Oh,
^mon Dieu^! Amischka, Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“

„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen? Amischka ... Nein, zuerst Leute
her, Leute! Leute! Wer ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor
Aufregung, und er griff nach dem Licht und beugte sich, um unter das
Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe! Leute! ...“

Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben dem Leichnam
Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte aufmerksam jede Bewegung des
Alten. Plötzlich sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort
niederbeugte. Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor, während der
Alte die Einbrecher auf der anderen Seite des Ehebettes suchte.

„^Mon Dieu!^“ murmelte die Dame ganz erstaunt, als sie plötzlich einen
jungen eleganten Mann vor sich stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte
...“

„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der junge Mann leise und
schnell. „Er ist schuld an Amischkas Tod!“

„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf.

Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer.

„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel! Ein Bein!“ keuchte der
Alte, der Iwan Andrejewitsch am Fuß hervorzuziehen versuchte.

„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“ jammerte die Dame.

„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie der Alte, mit den Beinen
auf den Teppich stampfend. „Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was
wollen Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“

„Das sind ja Mörder!“

„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi willen!“ flehte Iwan
Andrejewitsch, der auf allen Vieren hervorkroch, sich kniend erhob und
flehend die Hände faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes
willen, Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Exzellenz, rufen
Sie keine Menschen herbei! Das ... das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie
können mich nicht vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch
einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist ein Irrtum, Exzellenz,
ich habe mich nur geirrt! Ich werde Ihnen sogleich alles erklären,
Exzellenz, alles, alles, alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit
versagender Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau schuld, das heißt,
nicht meine Frau, sondern eine fremde Frau, – denn ich bin ja gar nicht
verheiratet, ich bin nur so ... Das ist mein Schulkamerad und
Jugendfreund ...“

„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er stampfte zornig mit
dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb, ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen
wollten Sie! ... Aber nicht Jugendfreund! ...“

„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich sein Jugendfreund
... ich ... ich habe mich nur zufällig verirrt, ich habe nur die
Haustüren verwechselt! ...“

„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“

„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie täuschen sich! Ich
versichere Ihnen, daß Sie sich in einem grausamen Irrtum befinden,
Exzellenz! Sehen Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an
allen Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann. Exzellenz! Ew.
Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch, sich mit beschwörender Gebärde an
die junge Frau wendend. „Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame eher
verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht ... Aber ich bin
nicht schuld daran ... bei Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt,
nicht meine, sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein
unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“

„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben – es wird wohl nicht nur
_ein_ Kelch gewesen sein, nach Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind
Sie hierher gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“
schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er sich selbst
eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher Dieb sein
konnte. „Ich frage Sie: wie – sind – Sie – hierher gekommen? Zum
Donnerwetter! ... Daß Sie kein Räuber sind ...“

„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz! Ich ... ich bin
nur in eine andere Tür ... bei Gott, ich bin kein Räuber! Das kommt
alles nur daher, daß ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles
erzählen, Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem
Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem leiblichen Vater, denn den
Jahren nach könnte ich Sie doch für meinen Vater halten!“

„Was?! Für Ihren Vater?!“

„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht verletzt! – o,
verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so junge Dame ... und Ihre Jahre
... sehr-sehr-sehr angenehm, Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ...
eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ... Rufen Sie nur
nicht die Leute herbei, um Gottes willen, rufen Sie nicht Ihre Leute her
... die würden nur lachen ... ich kenne sie ... Das heißt, ich will
damit nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, – ich habe
selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie, die ... Esel! Exzellenz
... Ich glaube, mich nicht getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich
habe doch die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“

„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin ... ein Privatmann.
Und ich bitte Sie, mich mit Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit
ihnen bei mir einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht
gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie hierher gekommen
sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“

„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ... verzeihen Sie, ich
dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe mich versehen, es war ein Irrtum,
verzeihen Sie ... das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten
Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten, Herrn Pusyreff, die Ehre
hatte, einmal zu sehen ... Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten
bekannt, ich habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen:
Sie können mich nicht für das halten, für was Sie mich halten! Ich bin
kein Räuber, ich bin kein Dieb! Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um
Gottes willen, haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch: wenn Sie
die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“

„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die Dame. „Wer sind Sie
überhaupt?“

„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die Frage auf. „Und ich,
mein Herzchen, glaubte wirklich, es sei der Kater Wassjka, der da
irgendwo schnurrt! Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ...
Wer sind Sie? So reden Sie doch!“

Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor Ungeduld.

„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört haben ... Was
mich betrifft, so ist es eine lächerliche Geschichte, Exzellenz. Ich
werde Ihnen alles erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären
lassen ... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht fremde Leute
her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben Sie Erbarmen mit mir ... Das
hat nichts zu sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat
mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die lächerlichste
Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“ wandte sich der arme Iwan
Andrejewitsch flehentlich an die junge Frau. „Namentlich Sie, meine
Gnädigste, wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen vor
sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen, erniedrige ich mich
selbst, tue es selbst und freiwillig! Allerdings bin ich es, der
Amischka erwürgt hat, aber ... Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich
rede!“

„Aber wie, _wie_ sind Sie denn hierher gekommen?“

„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem ich mich der
Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen Sie, Exzellenz! Ich
bitte Sie kniefällig um Verzeihung! Ich bin nur ein gekränkter Gatte,
nichts weiter! Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei!
Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin ist sehr
tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich so auszudrücken. Sie ist rein
und unschuldig, glauben Sie es mir!“

„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie der Alte, ganz rot im
Gesicht, und wieder trampelte er mit den Füßen. „Sind Sie verrückt
geworden? übergeschnappt? Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau zu
reden?“

„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami erwürgt hat!“ rief die
junge Frau empört aus. Sie war in Tränen aufgelöst ob des Verlustes
ihres Amischka. „Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“

„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“ beteuerte
halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch. „Betrachten Sie mich, wenn Sie
wollen, als Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen, wenn
Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Sie mir damit
einen großen Dienst erweisen. Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber
ich wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel ... das
heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich für den Liebhaber halten
darf ... Gott! Ich weiß wieder nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht
kränken wollen, Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie
sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist – dieses zarte
Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich da wieder! ... Ich will nur
sagen, daß ich ein Greis bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon
bejahrter Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich will damit
sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein kann, meine Gnädigste, daß
ein Liebhaber immer ^à la^ Mister Richardson oder ^à la^ Don Juan zu
sein pflegt, ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen doch
jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die
Literatur kennt. Sie lächeln, meine Gnädigste. Es freut mich, es freut
mich ungemein, daß ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es
mich freut, daß Sie lächeln!“

„^Mon Dieu!^ Was das für ein komischer Mensch ist!“ bemerkte die Dame,
die sich die Lippen biß, um jetzt nicht wirklich laut aufzulachen.

„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte, sichtlich
erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein Herzchen, weißt du, ich
denke, er kann kein Dieb sein. Aber wie ist er hierher gekommen?“

„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar noch mehr als
sonderbar! Wirklich, so etwas kommt sonst nur in Romanen vor! Wie? Um
Mitternacht in der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem
Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das nicht seltsam,
entsetzlich? ^À la^ Rinaldo Rinaldini, nicht wahr? Doch das hat nichts
auf sich, das hat alles nichts zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen
alles erzählen ... Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich
ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein ebenso
entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle und so kleinen Beinchen,
daß es keine zwei Schritte zu gehen vermag: es verwickelt sich sonst in
seinem eigenen Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit
Zuckerstückchen. Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich werde es
unfehlbar besorgen!“

„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen über den armen Iwan
Andrejewitsch. „^Mon Dieu, mon Dieu^, wie ist er komisch!“

„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum Lachen ... köch! und so
zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“

„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen glücklich! Ich
würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich wage es nicht, meine
Gnädigste, ich fühle, daß ich mich seither geirrt habe, in allem, doch
jetzt öffne ich die Augen! Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein
und unschuldig ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“

„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die ihr Lachen nicht mehr
meistern konnte.

„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das hätte ich nicht gedacht!
Hahaha! Köch-köch-köch!“

„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem schuld ... das
heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich verdächtigte sie; ich wußte,
daß hier in diesem Hause ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten
Stockwerk, hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in meine Hände
geraten. Ich versah mich aber, ich dachte, vor der richtigen Tür bereits
angelangt zu sein, und da lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich
dessen versah ...“

„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“

„Hahahahaha!“

„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch zu lachen. „O,
wie glücklich ich bin! O, wie rührend es ist, uns alle so friedlich und
einträchtig miteinander zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß ich
jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest überzeugt. Nicht wahr,
so muß es doch sein, meine Gnädigste?“

„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer das ist?“ wandte sich
lachend und hustend der Alte an seine Frau.

„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“

„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen, das mit
allen kokettiert! Das ist sie! Ich könnte wetten, daß das seine Frau
ist!“

„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere meinen; ich bin
vollkommen überzeugt davon ...“

„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann Ihre kostbare Zeit!“
unterbrach ihn die Dame, indem sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie
doch! Gehen Sie nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“

„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach oben eilen. Doch ich
weiß, daß ich niemanden antreffen werde, gnädige Frau. Das kann nicht
meine Frau sein, davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause!
Ich allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen Eifersucht
zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder werde ich sie wirklich dort
antreffen, gnädige Frau?“

„Hahahahaha!“

„He–he–he! Köch-köch!“

„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an unserer Tür vorüberkommen,
dann treten Sie ein und erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder
nein: kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit: ich will sie
kennen lernen.“

„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich werde sie unfehlbar
mitbringen. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich
bin glücklich und froh, daß alles so schnell und gut seine Lösung
gefunden hat!“

„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“

„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar bringen!“ beteuerte
Iwan Andrejewitsch, der bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein
Zuckerstückchen und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem
seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es hat mich sehr, sehr,
sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, sehr gefreut!“

Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand.

„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie zurück ... köch-köch!“ rief
ihm plötzlich die heisere Stimme des Alten nach.

Iwan Andrejewitsch kehrte zurück.

„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen Sie, war er nicht unter
dem Bett, als Sie dort waren?“

„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens, es freut mich wirklich,
Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre
an ...“

„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer und niest! Man muß ihn
wieder einmal prügeln.“

„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei Haustieren sehr
angebracht.“

„Was?“

„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei Haustieren sehr
angebracht sind, um sie an Gehorsam zu gewöhnen.“

„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war alles, was ich wissen wollte,
besten Dank! Köch-köch!“

Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb er lange Zeit
regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte er im Augenblick einen
Schlaganfall. Dann nahm er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten
Schweiß von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich nach
Haus.

Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause angelangt, erfuhr,
daß Glafira Petrowna schon längst aus dem Theater zurückgekehrt war, daß
ihre Zähne zu schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und nach
Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag und voll Ungeduld ihren
Gatten erwartete.

Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn, dann verlangte er
Wasser und Bürsten, um sich zu waschen und zu reinigen, und erst nachdem
dies geschehen war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu
betreten.

„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen! So sehen Sie
doch, wie Sie aussehen! Wo waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen:
während die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann in der
ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie? Oder waren Sie wieder auf
der Suche nach mir, um mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich
Gott weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn nicht? Das will
ein Mann sein! Bald wird man mit dem Finger auf Sie weisen!“

„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte er schon im
selben Augenblick eine solche Rührung, daß er nach seinem Taschentuch
greifen mußte, da es ihm zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft
gebrach ... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles
Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch
hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel! Er war sich dessen
gar nicht bewußt, daß er im Augenblick der größten Verzweiflung, als er
gezwungen war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines
Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art
Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen und somit
der Strafe zu entgehen.

„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein totes Hündchen! Gott!
Woher kommt das? ... Was fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie
sofort, wo Sie waren!“

„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen eigenes Herz beinahe
stille stand, „Herzchen! ...“

Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen, denn hier setzt
etwas ganz Neues ein, das mit seinen früheren Abenteuern nichts
Gemeinsames hat. Es ist möglich, daß ich noch einmal alle diese
Unglücksfälle mit ihren Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen
Sie, meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht eine
unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr als das: sogar ein –
Unglück! ...




                              Das Krokodil


                   Eine außergewöhnliche Begebenheit
                                  oder
                      Eine Passage in der Passage

Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit, wie ein
gewisser Herr in der Passage von einem Krokodil ganz und gar
verschlungen wurde und welche Folgen das hatte.


                                   I.

Am dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach plötzlich um halb ein
Uhr mittags Jelena Iwanowna, die Gattin Iwan Matwejewitschs, meines
gelehrten Freundes, Kollegen und halb und halb sogar entfernten
Verwandten, den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man gegen eine
gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der Passage bewundern konnte,
mit eigenen Augen zu sehen. Iwan Matwejewitsch, der das Billett für
seine Reise ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen, als aus
Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits in der Tasche hatte, sich
also vom Dienst schon quasi entbunden betrachtete und sich demzufolge an
diesem Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte nicht nur
nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden, sondern entbrannte alsbald sogar
selber in reger Wißbegier für die Sehenswürdigkeit.

„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen wir das Krokodil
in Augenschein! Es ist nicht übel, wenn man, bevor man ins Ausland
reist, erst einmal gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen
gelernt hat.“

Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin den Arm, um mit ihr
in die Passage zu gehen. Wie gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn
ich war und bin ja der Hausfreund.

Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer Laune gesehen, als an
diesem denkwürdigen Vormittage, – wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht
ahnen, was uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte er sich
ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als wir beim
Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings in der Hauptstadt
eingetroffene Ungeheuer bewundern konnte, angelangt waren, wünschte er
aus eigenem Antriebe auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem
Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem noch nie von
ihm aus geschehen war. Wir wurden in ein nicht sehr großes Zimmer
geführt, in dem sich außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige
Kakadus und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere Affen
befanden. Gleich beim Eingang aber, links von der Tür, stand ein großer
Blechkasten – der Form nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein
starkes Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen Zoll tief
Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag ein riesengroßes
Krokodil, lag regungslos wie ein Balken und hatte in unserem feuchten,
ungastlichen Klima augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften
eingebüßt. Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge, daß es in
uns durchaus kein besonderes Interesse für sich hervorzurufen vermochte.

„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna, fast mitleidig in
gezogenem Tone, „und ich dachte, daß es ... ganz anders aussähe.“

Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht hatte.

Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers, ein Deutscher,
sehr stolz und sehr selbstzufrieden an.

„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu, „denn ihm gebührt die
Ehre, augenblicklich der einzige Mensch zu sein, der in Rußland ein
Krokodil besitzt.“

Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs schreibe ich
gleichfalls seiner gehobenen Stimmung zu, da er sonst recht neidisch zu
sein pflegte.

„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“ äußerte sich Jelena
Iwanowna, pikiert durch die Haltung des Deutschen, mit graziösem Lächeln
sich an ihn wendend, um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver,
das die Frauen ja so gern üben.

„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem Russisch und
begann sogleich, indem er das Drahtnetz aufhob, mit einem Stückchen das
Krokodil auf den Kopf zu stoßen.

Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum Beweise seiner
Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu bewegen, dann rührte es auch die
Vorderpfoten und erhob ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es
einen eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein langsames
Schnarchen erinnerte.

„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche schmeichelnd,
sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe.

„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich, als es sich zu
bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna noch koketter. „Jetzt werde ich
es womöglich im Traume sehen!“

„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte mit einem Anflug von
Galanterie der Deutsche, worauf er als erster über seine eigenen Worte
zu lachen begann; von uns jedoch lachte niemand.

„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich Jelena Iwanowna
ausschließlich an mich, „sehen wir uns lieber die Affen an. Ich liebe
Affen über alles! Einzelne sind geradezu süß, sind so reizend! ... das
Krokodil aber ist einfach abscheulich.“

„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan Matwejewitsch nach,
dem es angenehm war, vor seiner Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser
schläfrige Landsmann Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er blieb
beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem Handschuh die Nase
des Krokodils, um es, wie er später selbst eingestand, zu veranlassen,
nochmals zu schnarchen. Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena
Iwanowna, als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus interessanteren
Affenkäfig.

Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand hätte etwas Schlimmes
voraussehen können. Jelena Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin,
in das die Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise
auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an mich, um mich bald auf
diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam zu machen, von denen jeder
auffallende Ähnlichkeit mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben
sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die Ähnlichkeit war
bisweilen in der Tat ganz verblüffend. Nur der Menageriebesitzer, der
von Jelena Iwanowna als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen
oder ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum Schluß sehr
brummig. Doch gerade in dem Augenblick, als mir die Übellaunigkeit des
Deutschen auffiel, erschütterte plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich
kann sogar sagen, ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte nicht,
was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als ich hörte, daß auch
Jelena Iwanowna aufschrie – da wandte ich mich zurück und ... was
erblickte ich! Ich erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan
Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils, das ihn in der
Mitte des Körpers gefaßt hatte. Ich sah ihn nur noch einen Augenblick,
wie er, horizontal in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit den
Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden war.

Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher schildern.
Während des ganzen Vorgangs stand ich wie ein lebloser Gegenstand, der
nur hörte und sah – deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich
nicht, jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem Vorgang
zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick tat. „Denn,“ dachte
ich bei mir – soviel Überlegungskraft besaß ich doch noch! – „wie, wenn
das, anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre – wie groß
würde dann die Unannehmlichkeit sein!“ Doch zur Sache.

Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan Matwejewitsch in seinem
Rachen mit den Beinen zu sich drehte und dann einmal schluckte, – und
seine Beine waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es wie ein
Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren Iwan Matwejewitsch wieder ein
wenig hervorstieß, so daß dieser, der sich vergeblich bemühte,
herauszuspringen, sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte –
schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein Freund verschwand bis
zu den Lenden. Dann, nachdem es wieder aufgestoßen, schluckte es noch
einmal, und dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch vor
unseren Augen im Ungeheuer verschwand. Endlich, nachdem es zum
letztenmal geschluckt, hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund
tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der Oberfläche des
Krokodils Wölbungen hervor, an denen man erkennen konnte, wie Iwan
Matwejewitsch mit all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres
zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder aufzuschreien, als
das Schicksal sich noch einmal gewissenlos über uns lustig machte: das
Krokodil blähte sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene
Portion doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß seinen
entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen mit dem Aufstoß oder
gewissermaßen als dessen Personifikation noch einmal, zum letztenmal,
auf einen Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr und wieder
verschwand, sodaß wir nur eine Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht
gesehen hatten, von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des
Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser auf dem
Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast den Anschein, als sei dieser
verzweifelte Kopf nur deshalb hervorgekommen, um noch einmal, zum
letztenmal, einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt von
allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch die Frist war gar zu
kurz bemessen: das Krokodil hatte schon einige Kräfte gesammelt und
schluckte von neuem und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht
mehr zum Vorschein zu kommen.

Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden Menschenkopfes
war so entsetzlich, gleichzeitig aber – sei es infolge der Überraschung,
der Geschwindigkeit oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es
so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte. Natürlich
besann ich mich sogleich – es ging doch nicht an, daß ich in meiner
Eigenschaft als Hausfreund in einem solchen Augenblick lachte! – wandte
mich daher schnell zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als
möglich:

„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“

Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena Iwanownas während
des ganzen Vorgangs zu schildern, nicht gewachsen. Ich kann nur sagen,
daß sie nach dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener
Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig, nur mit weit
aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden Augen dem Vorgang zusah;
erst als das Haupt ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht
wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück und sie
begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte ich mir nicht anders zu
helfen, als ihre Hände zu erfassen und sie krampfhaft festzuhalten. In
diesem Augenblick erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er
griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie:

„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen! Mutter, Mutter,
Mutter!“

Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“ erschien: eine
bejahrte, rotwangige Frau mit einer Haube auf dem Kopf, doch sonst
ziemlich unordentlich gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes
sah, stürzte sie ganz verstört herbei.

Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna rief immer nur dies
eine Wort: „Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald
zum Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach anflehte –
wohl in einem Augenblick des Vergessens und der Selbstverleugnung –
irgend jemanden oder irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und
die „Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten wie die
Kettenhunde an ihrem Blechkasten.

„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen ganzen Menschen
verschlungen!“ schrie der Besitzer des „Karlchen“.

„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß sterben!“ jammerte
die Mutter.

„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos geworden!“ schrie
wieder der Deutsche, und –

„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die Mutter.

„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen das Tier
schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna, die sich an den Rock des
Deutschen klammerte.

„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr Mann mein Krokodil
gereizt?“ schrie der Deutsche. „Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen
Sie ihn mir bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen! Das war
mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“

Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des eingewanderten
Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner unordentlichen „Mutter“ nicht
wenig entrüstet war. Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte
Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt dachte ich an
die Möglichkeit, daß jeden Augenblick gerade aus einem der anstoßenden
Lokale der Passage, in dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein
Vegetarianer die Menagerie betreten konnte – und was konnte es da nicht
alles für Mißverständnisse geben, wenn sie noch lange fortfuhr, immer
nur diese eine Bitte flehentlich und angstvoll zu wiederholen? Und in
der Tat sollte es sich bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht
grundlos waren: Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang,
der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte, zur Seite gezogen
wurde und im Türrahmen eine bärtige Gestalt mit einer Beamtenmütze in
der Hand erschien, eine Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten
stand, sondern die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen
jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht war,
diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht wegen des
Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar nicht zu zahlen gewillt
war, vom Direktor der Menagerie belästigt zu werden.

„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte, bemüht, das
Gleichgewicht nicht zu verlieren, „macht Ihrer geistigen Entwicklung
wenig Ehre und ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem Gehirn
zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn die
Repräsentanten des Fortschritts und der Humanität Sie in ihren
satirischen Zeitschriften der nötigen Kritik unterwerfen, und ...“

Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu beenden, denn als
der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen einen Menschen im
„Ausstellungsraume“ sprechen hörte, der für dieses Vergnügen nichts
gezahlt hatte, stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn,
den humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen
Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur noch ihre wortreiche
Auseinandersetzung hinter dem Vorhang. Doch der Deutsche kehrte sehr
bald zurück, um seine Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der
armen Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine Operation
seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten zu retten.

„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch aufgeschlitzt werden
soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch Ihren Mann aufschlitzen! ... _Mein_
Krokodil! Mein Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater hat
das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder zeigen, und so lange
ich lebe werde ich es gleichfalls zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich
bin in ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa bekannt,
deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden, Madame!“

„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau Mutter bei, „wir
werden Sie verklagen, wenn unser Karlchen platzt!“

„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“ wandte ich
ziemlich ruhig ein, um Jelena Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu
bewegen, nach Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan
Matwejewitsch wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in den
Gefilden der Seligen befinden.“

„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die Stimme Iwan
Matwejewitschs, die uns alle erstarren machte, „mein Freund, du
täuschest dich. Mein Rat wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses
Quartals zu wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser
Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“

Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem Tone gesprochen
waren und in dieser Lage doch eine seltene Geistesgegenwart verrieten,
waren so überwältigend, daß wir unseren Ohren nicht trauten.
Nichtsdestoweniger eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und
lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als unfreiwilliger
Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen. Seine Stimme klang wie
diejenige eines Menschen, der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen
vor den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das Gespräch
zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen Fluß getrennt sich von Ufer
zu Ufer allerlei zuschreien, – ein Scherz, den ich einmal auf einem
Polterabend das Vergnügen hatte, kennen zu lernen.

„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du noch?“ fragte Jelena
Iwanowna bebend.

„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan Matwejewitschs fernher
leise schreiende Stimme, „denn ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne
jede Körperverletzung verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur die
Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen werden; denn
wenn man das Billett zu einer Auslandsreise in der Tasche hat und dabei
nur in das Innere eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf
Scharfsinn schließen.“

„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen des
Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache ist doch, daß man
dich irgendwie von dort herauszieht.“

„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus. „Das lasse ich
einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal so viel Publikum geben und
ich werde fünfzig Kopeken statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und
Karlchen fällt’s nicht ein, zu platzen!“

„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu.

„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch, „zuerst kommt das
ökonomische Prinzip.“

„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst laut zu, „ich werde
mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten begeben, denn mir ahnt,
daß wir allein hier nichts werden ausrichten können.“

„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch, „nur wird es in unserer
Zeit der Handelskrisis schwer halten, ohne finanzielle Entschädigung den
Leib des Krokodils aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage
aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil verlangen? Und
diese Frage zieht eine zweite nach sich: wer wird es bezahlen? Denn wie
du weißt, bin ich kein Kapitalist! ...“

„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte ich schüchtern
vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils unterbrach mich sogleich:

„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich kann dafür dreitausend
Rubel verlangen, ich kann sogar viertausend verlangen! Jetzt wird das
Publikum herbeiströmen – ich kann auch fünftausend verlangen für mein
Krokodil!“

Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier leuchtete in
seinen Augen.

„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich empört, zu.

„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei Ossipytsch fahren
und ihn durch meine Tränen zu erweichen suchen!“ sagte Jelena Iwanowna
erregt.

„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan Matwejewitsch
schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen Groll gegen diesen
Andrei Ossipytsch: er wußte, daß seine Frau sehr gern zu diesem
Allmächtigen gefahren wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen
zu zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir, Ssemjon
Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte ich gleichfalls abraten,
zu meinen Vorgesetzten zu gehen; man kann nicht wissen, was daraus
schließlich noch entsteht. Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch,
so, weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer und etwas
beschränkter Mensch, dafür aber solide und, was die Hauptsache ist,
gerade heraus. Grüße ihn von mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich
schulde ihm noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei also
so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das wird den Alten
günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns sein Rat zur Richtschnur dienen.
Jetzt aber sei so freundlich und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ...
Beruhige dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde geworden
von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen. Hier ist es zum Glück
warm und weich, obschon ich noch nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in
meinem neuen Heim umzusehen ...“

„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig, doch
sichtlich erfreut Jelena Iwanowna.

„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“ antwortete der arme
Gefangene, „aber ich kann mit den Händen fühlen und mich hier tastend
orientieren ... Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir
nicht deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber, Ssemjon
Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her, und damit du es, bei deiner
bekannten Vergeßlichkeit, diesmal nicht wieder vergißt, binde dir
sogleich einen Knoten ins Taschentuch ...“

Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu können, denn
erstens war ich vom Stehen müde geworden und zweitens wurde es mir
allmählich langweilig. Ich reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die
durch die Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung
meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie.

„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“ rief uns noch
der Deutsche nach.

„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna, die in jeden
Spiegel zwischen den Schaufenstern der Passage einen Blick warf und sich
augenscheinlich dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst
aussah.

„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer angeregter
Stimmung, stolz auf meine Dame, die neidisch von den Vorübergehenden
betrachtet wurde.

„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit koketter Langsamkeit,
„ich habe nichts von alledem begriffen, was Iwan Matwejewitsch dort
sprach, namentlich nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“

„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich eilfertig und
begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung fremden Kapitals
auseinanderzusetzen, Ansichten, die ich am Morgen desselben Tages in den
„Petersburger Nachrichten“ gelesen hatte.

„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich, als sie mir eine
Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie doch endlich auf, Sie
Plagegeist! Welch einen Unsinn Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich
sehr rot im Gesicht?“

„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die Gelegenheit, ihr eine
Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen.

„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der arme Iwan
Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, kokett das
Köpfchen auf die Seite neigend, „er tut mir wirklich leid. Ach, mein
Gott!“ rief sie plötzlich ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch,
wie wird er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ... wie wird
er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“

„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich, gleichfalls
bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese Möglichkeit noch gar
nicht gedacht. Da haben wir wieder einen Beweis dafür, daß in
Lebensfragen die Frauen weit praktischer sind als wir Männer!“

„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ... Und nun sitzt er da, so
ganz ohne Unterhaltung! Und außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie
dumm, daß ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich denn jetzt
eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit berückendem Lächeln,
sichtlich interessiert für ihren neuen Stand. „Hm! ... aber er tut mir
doch trotzdem leid! ...“

Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche und natürliche
Sehnsucht einer jungen, interessanten Frau nach ihrem Manne. Endlich
waren wir in ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen
Beruhigungsversuchen, während welcher ich mit ihr zu Mittag gespeist
hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen aromatischen Kaffees
auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch zu begeben, denn ich nahm an, daß
um diese Zeit alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen
sind.

Übrigens:

Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben habe, der mir
der betreffenden Erzählung angepaßt scheint, gedenke ich fernerhin einen
minder hochtrabenden anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon
ich den verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze.


                                  II.

Timofei Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher Eile und, wie es mir
schien, sogar Verwirrung. Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und
schloß die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht stören,“ sagte
er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer Handbewegung forderte er
mich auf, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, während er sich selbst
in einen bequemen Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich
abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug und auf alle
Fälle eine gewissermaßen offizielle, fast sogar strenge Miene aufsetzte,
obgleich er doch weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter war,
sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar guten Bekannten
gegolten hatte.

„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine Rede beendet hatte,
„muß ich Sie bitten, in Erwägung zu ziehen, daß ich kein Vorgesetzter
bin, sondern auf gleicher Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch
stehe ... Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb ich
mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“

Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber, daß er bereits alles
zu wissen schien. Nichtsdestoweniger erzählte ich ihm noch einmal die
ganze Geschichte, und zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr
erregt, denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen
Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne jede Verwunderung
zu, dafür aber mit allen Anzeichen des Mißtrauens.

„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe schon immer vermutet,
daß gerade so etwas mit ihm geschehen würde.“

„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser Fall ist doch an sich,
sollte ich meinen, noch viel mehr als außergewöhnlich ...“

„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon immer, während seiner
ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade zu einem solchen Abschluß. Er war
gar zu hitzig, war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘ im
Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht man jetzt, wohin das
führt!“

„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich, man kann ihn
daher doch nicht als Beweis gegen alle fortschrittlich Gesinnten
ausspielen ...“

„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben Sie mir, was ich sage.
Das kommt, sehen Sie mal, von übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die
übermäßig Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken,
vornehmlich dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens ist es ja
möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er sich plötzlich, offenbar
gekränkt. „Ich bin schon alt und überdies nicht gar so gebildet; ich bin
Soldatenkind und habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich
mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“

„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie! Im Gegenteil, Iwan
Matwejewitsch wartet nur auf Ihren Rat, er vertraut sich ganz Ihrer
Leitung an. Er wartet nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen
tränenden Auges ...“

„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese Tränen werden wohl
Krokodilstränen sein, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Weshalb,
sagen Sie mir das doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und
mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein Vermögen.“

„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei Ssemjonytsch,“
versetzte ich mitleidig. „Er wollte ja nur auf drei Monate verreisen ...
in die Schweiz ... in die Heimat Wilhelm Tells ...“

„Wilhelm Tells? Hm!“

„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte die Museen
besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“

„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es einfach aus Stolz. Was für
Tiere denn? Tiere! Gibt es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben
Menagerien, Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in nächster Nähe von
Petersburg. Aber da ist er ja nun glücklich selbst in ein Tier
hineingeraten, und noch dazu in ein Krokodil!“

„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch ist im Unglück, der
Mensch wendet sich an Sie als Freund, wie man sich etwa an einen älteren
Verwandten wendet, er bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm
Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit Jelena Iwanowna Mitleid!“

„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes Dämchen,“ meinte Timofei
Ssemjonytsch, augenscheinlich etwas aufgeweckter, und schnupfte mit
Genuß seinen Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o ... rundlich,
und das Köpfchen hält sie immer so ein wenig zur Seite geneigt, so ein
wenig ... Ja. Sehr angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern
von ihr.“

„Er _sprach_ von ihr?“

„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken. Die Büste, sagte
er, der Blick, die Coiffure – ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein
Frauenzimmer, und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch
junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als wolle er
trompeten.

„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen Mann, und sehen Sie,
was der sich plötzlich für eine exzentrische Laufbahn wählt ...“

„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes, Timofei
Ssemjonytsch!“

„Gewiß, gewiß.“

„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“

„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“

„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas, sagen Sie, was wir
tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener Mensch! Welche Schritte soll
man tun? Soll man durch die Vorgesetzten oder ...“

„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“ versetzte Timofei
Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen Rat zu hören wünschen, so muß man
die Sache zuerst vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn
der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen. Das ist
die Hauptsache, daß es sich hier um etwas Noch-nie-dagewesenes handelt,
es hat hierfür noch kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und
schon deshalb ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor allem
Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen. Man muß abwarten,
abwarten muß man ...“

„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch? Und wie, wenn
er dort erstickt?“

„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube ich, daß er sich dort
ganz behaglich fühle?“

Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von Anfang an. Timofei
Ssemjonytsch wurde nachdenklich.

„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose in der Hand drehte.
„Meiner Ansicht nach kann es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang
abliegt, anstatt sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal in
Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig, dabei zu ersticken,
deshalb wäre es angebracht, gewisse Vorkehrungen zur Erhaltung der
Gesundheit zu treffen, sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen,
vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen betrifft, so ist er,
meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus in seinem Recht, denn es ist
_sein_ Krokodil, in das Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um
Erlaubnis zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht der
Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon übrigens dieser,
soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen hat. Nun, das Krokodil
ist aber in diesem Fall persönliches Eigentum, folglich kann man es
nicht so ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer den
geforderten Schadenersatz zu zahlen.“

„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“

„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also wenden Sie sich an
diese.“

„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch bei uns vermißt
werden. Man kann vielleicht irgendwelche Aufschlüsse von ihm verlangen,
ihn zu Rate ziehen wollen ...“

„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ... Zudem hat er ja jetzt Ferien,
folglich ignorieren wir ihn und sein Treiben, – mag er dort inzwischen
Europa besichtigen, was geht es uns an! Eine andere Sache ist es, wenn
er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint. Nun, dann werden wir
uns erkundigen, Nachforschungen anstellen ...“

„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich!“

„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat ihn gebeten, ins Krokodil
zu kriechen? Das käme ja schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm
noch eine Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen.
Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches Eigentum, folglich
tritt hier bereits das sogenannte ökonomische Prinzip in Aktion. Das
ökonomische Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach
Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka Andrejewitsch
ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie kennen doch Ignatij Prokofjitsch?
Ein Kapitalist, ^homme d’affaires^, und er redet, wissen Sie, ganz
vorzüglich. ‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘ Wir
müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst gebären. Dazu
müssen wir zuerst Kapital schaffen, das heißt, der Mittelstand, die
sogenannte Bourgeoisie muß geboren werden. Da wir aber hierzulande
selbst kein Kapital haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen.
Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die hier den
Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke kaufen wollen, mit
günstigeren Bedingungen entgegenkommen. ‚Dieses Gemeindewesen, wie wir
es jetzt haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen Besitz,
der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist einfach Gift,‘ sagte er,
‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen Sie, er redet so mit Feuer, mit
Temperament. Nun, ihm steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist
etwas anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘ sagt er,
‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere Landwirtschaft heben. Die
ausländischen Gesellschaften müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land
ankaufen und dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen,
teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘ – und wissen Sie,
er sagt das so kategorisch: _tei_–len, _tei_–len, sagt er und schneidet
so mit der Hand – ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern
verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben wollen. Oder auch
nicht einmal verkaufen, sondern einfach verpachten. Wenn dann das ganze
Land in den Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘ sagt er,
‚dann kann man jeden beliebigen Preis als Pacht ansetzen. Folglich wird
der Bauer allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten, wie er
jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt, kündigt man ihm. Folglich wird
er sich in acht nehmen, wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache
von dem, was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was fehlt
ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor Hunger nicht sterben
wird, na, und da faulenzt er eben und säuft. So aber würde hier Geld aus
allen Ländern zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine
Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung, The Times, die
vor nicht langer Zeit einen Artikel über unsere Finanzen gebracht hat,
daß unsere Finanzen sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen
Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel gibt und keine
arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij Prokofjitsch spricht gut,
das muß man ihm lassen. Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine
Schrift einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und nachher
will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen. Tja, das ist etwas
anderes als Gedichte machen, wie sie ein Iwan Matwejewitsch schreibt
...“

„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“ lenkte ich
wieder ein, nachdem ich den Alten hatte ausreden lassen.

Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern einmal aus, um bei
der Gelegenheit zu beweisen, daß er nicht etwa zurückgeblieben, sondern
von allen neuen Strömungen wenigstens unterrichtet war.

„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das ist es ja, wovon ich
rede. Da bemühen wir uns nun um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum
hat sich das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch Iwan
Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt jetzt die Gelegenheit
zu benutzen und den ausländischen Besitzer zu protegieren, im Gegenteil
nichts weniger als seinem Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich
bitt’ Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich Iwan
Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines Vaterlandes wäre,
aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen und stolz darauf sein, daß er
durch seine Person den Wert des ausländischen Krokodils verdoppelt oder
gar verdreifacht hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu einer
erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt es hier dem ersten,
dann wird auch der zweite nicht lange auf sein Erscheinen warten lassen,
und der dritte wird dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile
mitbringen, und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren.
Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja, man muß eben begünstigen,
begünstigen ...“

„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief ich aus, „Sie verlangen
ja eine ganz übermenschliche Selbstaufopferung vom armen Iwan
Matwejewitsch!“

„Ich _verlange_ nichts, und vor allem bitte ich Sie – wie ich es schon
einmal getan – nicht zu vergessen, daß ich nicht sein Vorgesetzter bin
und somit von niemandem etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn
meines Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘, wie
eine unserer großen Zeitungen sich nennt, sondern als gewöhnlicher Sohn
meines Vaterlandes. Und überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in
dieses Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein solider
Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen Rang erreicht hat,
außerdem rechtmäßig verheiratet ist, und plötzlich – solch ein Schritt!
Sagen Sie doch selbst!“

„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig, nur aus Versehen!“

„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse soll dem Deutschen
das Krokodil bezahlt werden? – wenn Sie mir das gefälligst sagen
könnten.“

„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“

„Wird das ausreichen?“

„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer zugeben. „Der
Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn er glaubte, sein Krokodil
würde platzen; dann aber, als er sich überzeugt hatte, daß alles
glücklich abgelaufen war, wurde er gerader größenwahnsinnig und freute
sich sehr über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“

„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum wird sich jetzt um
Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer ist nicht so dumm, daß
er das nicht auszunutzen verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan
Matwejewitsch vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich zu
übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er sich im Krokodil
befindet, aber möge man es nicht offiziell wissen. In dieser Hinsicht
trifft es sich sogar sehr gut, daß er offiziell als verreist gilt und
man ihn im Auslande glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er
sich im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht glauben.
Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache ist also nur:
abwarten. Ja, und es hat doch damit gar keine Eile ...“

„Aber wenn er zum Beispiel ...“

„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig ...“

„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“

„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es ein sehr
verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt man hier nicht vorwärts.
Aber das Schlimmste ist, daß wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben,
wie gesagt: uns fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur
einen einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches
ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden? Fängt man
an nachzudenken, so kann er lange warten ...“

Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke.

„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich ihn, „daß man, wenn
er nun einmal im Bauche des Krokodils ist und dieses dank himmlischer
Vorsehung nicht früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen
eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als Dienst anrechne?
...“

„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet und
selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen braucht ...“

„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“

„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“

„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt, als sei er dorthin
abkommandiert ...“

„Was! – wohin?“

„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen zur Nachforschung
und Untersuchung der Tatsachen an Ort und Stelle. Das würde natürlich
etwas Neues sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde
es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“

Timofei Ssemjonytsch überlegte.

„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere eines Krokodils
abzukommandieren, mit _besonderen_ Aufträgen, versteht sich, ist meiner
persönlichen Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht
vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge sein?“

„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung der Naturvorgänge
an Ort und Stelle, mitten im Leben sozusagen. Heutzutage ist doch
Naturwissenschaft Trumpf ... Da könnte er denn dort leben und alles
mitteilen ... nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich
geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten, oder sonst
etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial zu sammeln ...“

„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer analytischen
Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich sagen, daß ich nicht viel
davon verstehe, ich bin kein Philosoph. Sie sagen: Tatsachenmaterial, –
wir sind doch ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen nicht,
was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt, daß diese Statistik auch
noch gefährlich ist ...“

„Inwiefern denn das?“

„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie doch einsehen – würde er
die Tatsachen mitteilen, indem er auf der Seite liegt. Was ist aber das
für ein Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon wieder eine
Neueinführung, die außerdem gefährlich ist. Und weiter: es fehlt uns
jegliches Beispiel. Tja, wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild
nennen könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so ließe es
sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch machen, daß man ihn dorthin
abkommandiert.“

„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil nach Rußland
gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“

„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen, ist diese Ihre Einwendung
richtig und könnte sogar zur Basis eines entsprechenden Verfahrens in
dieser Angelegenheit dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder in
Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender Krokodile die Beamten
anfangen würden zu verschwinden, und bald würden sie alle verlangen,
zumal es dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden, um dann auf
der Bärenhaut liegen zu können ... das ist doch, nicht wahr, ein
schlechtes Beispiel! So kann ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um
auf diese Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“

„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort für ihn einlegen,
Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit: Iwan Matwejewitsch hat mich
gebeten, Ihnen eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren
es, glaube ich.“

„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch. Ich weiß.
Und wie guter Laune er damals war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“

Der alte Mann war aufrichtig gerührt.

„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“

„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen, nur um zu
sondieren ... Aber übrigens – könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir,
inoffiziell, so auf Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer
nötigen Falles für sein Krokodil verlangen würde?“

Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden.

„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie erlauben, werde ich
bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es erfahren habe.“

„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu Hause? Langweilt sich?“

„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“

„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und jetzt ist es ja eine
so günstige Gelegenheit ... Tja, was ihn nur geplagt haben mag, das
Krokodil zu besehen. Übrigens werde ich es mir doch auch einmal
anschauen müssen ...“

„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“

„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen meinen Schritt keine
Hoffnung machen. Ich werde eben nur als Privatperson hingehen ... Nun,
auf Wiedersehen, ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch; werden
Sie dort sein?“

„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“

„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist doch ein Leichtsinn,
ein Leichtsinn!“

Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken gingen mir durch
den Kopf. Dieser Timofei Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und
grundehrlicher Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich
doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern
konnte und solche Timofei Ssemjonytschs immerhin schon eine Seltenheit
bei uns geworden sind.

Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage, um dem armen Iwan
Matwejewitsch das Ergebnis meiner Unterredung mit unserem erfahrenen
Kollegen mitzuteilen. Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier
nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich dort im Krokodil
eingerichtet und wie konnte ein Mensch überhaupt in einem Krokodil
leben? Wie war das möglich? Mitunter schien es mir wahrlich nur ein
ungeheuerlicher Traum zu sein, um so mehr, als es sich um ein Ungeheuer
handelte ...


                                  III.

Und doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare Wirklichkeit. Würde
ich es denn sonst überhaupt erzählen! Aber ich fahre fort ...

Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich in der Passage
anlangte. In die Menagerie konnte ich nur durch eine Hintertür gelangen,
da der Besitzer seine „Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte.
Er selbst ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener
mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher. Man sah es ihm auf den
ersten Blick an, daß er nichts mehr befürchtete und das Publikum an
diesem Nachmittage sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“
erschien erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es schien, nur
deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie und ihr Gatte steckten oft die
Köpfe zusammen und tuschelten geschäftig. Obschon die „Ausstellung“
geschlossen war, verlangte er von mir doch noch die üblichen
fünfundzwanzig Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene
Akkuratesse!

„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen. Das übrige Publikum zahlt
jetzt einen Rubel pro Person, von Ihnen aber nehme ich nur
fünfundzwanzig Kopeken, denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten
Freundes und Freundschaft respektiere ich ...“

„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut, indem ich den
Deutschen stehen ließ und zum Krokodil eilte. Im geheimen hoffte ich,
daß mein lauter Ruf bis zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe
schmeicheln würde.

Ich hatte mich nicht getäuscht.

„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der Tiefe des Raumes
zurück, oder wie unter einem Kissen hervor, obwohl ich fast schon beim
Krokodil angelangt war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ...
Wie steht es?“

Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann ihn eilig und
teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu überschütten: wie er sich fühle, wie
es denn dort im Krokodil aussehe und was dort im Magen noch außer
ihm sei? – wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes
Freundschaftsverhältnis verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig
unterbrach er mich.

„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter heiserer
Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr unsympathisch war. Übrigens
hatte er sich mir gegenüber oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt.

Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit allen Details, was
Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte. Übrigens bemühte ich mich doch, durch
den Tonfall meiner Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt
fühlte.

„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch kategorisch, wie er
gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte. „Liebe praktische Menschen und
kann sentimentale Memmen nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben,
daß auch deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht ganz
barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen, das sowohl
wissenschaftlich wie sittlich neu ist. Doch jetzt nimmt das alles eine
andere, ganz unerwartete Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des
Gehalts zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“

„Nein, ich stehe.“

„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den Fußboden, und höre
aufmerksam zu.“

Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich hin, daß
die Beine laut aufschlugen.

„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum hat es heute eine
Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte der Raum die Menschen gar nicht
fassen, die eintreten wollten. Der Ordnung halber erschien die Polizei.
Gegen acht Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die
Ausstellung, erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um sich
besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird es hier ein ganzer
Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen, daß mit der Zeit alle
gebildeten Leute unserer Hauptstadt, alle Damen der vornehmen
Gesellschaft, alle Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren
und Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das: man wird aus
allen Provinzen unseres großen, neugierigen Reiches herkommen, um das
Wunder anzustaunen. Daraus ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich
unsichtbar, doch die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse
belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung, mich als
Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen! Werde, um im Bilde zu
reden, ein Katheder sein, von dem herab ich die Menschheit unterweise.
Schon allein die naturwissenschaftlichen Aufschlüsse, die ich über das
von mir bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und deshalb
murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall, der mich hierherbefördert
hat, sondern hoffe, dank diesem Zufall, die glänzendste Karriere zu
machen.“

„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich trocken.

Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich sprach, das
persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr gebrauchte, – so voll war er
von sich! Nichtsdestoweniger machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was
bildet sich dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu
empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch großtun!“

„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf meine Bemerkung,
„denn ich bin durchdrungen von großen Ideen. Kann erst jetzt zum
erstenmal in Muße über die Verbesserung der Lebensbedingungen der
Menschheit nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit und
das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine neue, meine eigene Theorie
für die ökonomischen Verhältnisse erfinden und stolz auf sie sein können
– was mir bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen
Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen, werde meine
Gegenbeweise vorbringen und ein neuer Charles Fourier werden. Hast du
Timofei Ssemjonytsch die sieben Rubel gegeben?“

„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so, daß allein schon
der Ton meiner Stimme sagte, daß ich seine Schuld aus meiner Tasche
bezahlt hatte.

„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig. „Erwarte unbedingt
eine Gehaltserhöhung, denn wem sollte man sonst eine zusprechen, wenn
nicht mir? Ich bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. – Meine
Frau?“

„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena Iwanownas erkundigen?“

„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes Weib.

Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch innerlich knirschend
erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna nach Hause begleitet und verlassen
hatte. Er unterbrach mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte.

„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte er gereizt. „Werde ich
_hier_ berühmt, nun, so will ich, daß sie _dort_ berühmt werde. Alle
Gelehrten, Dichter, Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische,
alle Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir am Vormittage,
am Abend in ihrem Salon erscheinen. In der nächsten Woche muß sie jeden
Abend bei sich empfangen. Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel
geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr gut nur mit
Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen wir über den Kostenpunkt
weiter kein Wort zu verlieren. Hier wie dort wird man nur von mir reden.
Habe mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir reden machen
könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses Wunsches versagt, da ich
durch meinen Rang und meine Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank
dem einen ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht. Jedes
meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder Ausspruch erörtert,
weitergegeben, gedruckt werden. Werde mich ihnen offenbaren! Sie werden
begreifen, welche Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast
haben umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister sein und ein
ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen. Inwiefern, sag’ doch
selbst, inwiefern bin ich schlechter als irgend solch ein Garnier-Pagès
oder wie sie da heißen? Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein:
ich glänze durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und
Liebenswürdigkeit. ‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine Frau,‘
werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend, _weil sie seine Frau ist_,‘
werden die anderen den Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß
sie sich sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll, das
von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist, um über alles reden zu
können. Doch soll sie vor allen Dingen stets den Leitartikler in den
‚St. Petersburger Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des
‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen wird, mich
bisweilen mit dem Krokodil in den Salon meiner Frau zu bringen. Werde
dann auf dem Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon stehen
und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen an zurechtlegen kann, nur
so um mich werfen. Dem Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen;
mit dem Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen werde ich
unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja jetzt für ihre Männer ganz
ungefährlich bin. Allen übrigen werde ich als Vorbild dienen, als
Beispiel demutvoller Ergebung und Unterordnung meines Willens unter
denjenigen der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer glänzenden
literarischen Erscheinung machen, ich werde sie hervorheben und dem
Publikum erklären; als meine Frau muß sie die größten Vorzüge haben, und
wenn man mit Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset
nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere Eugenie Tour
nennen.“

Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein Iwan Matwejewitsch,
obschon dieser ganze Unsinn an den ehemaligen Iwan Matwejewitsch
erinnerte, zur Zeit, wenn auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so
doch hohes Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im Grunde war
es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch, nur – wie soll ich
sagen? – etwa durch ein zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen.

„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst du, bei diesem Leben
ein hohes Alter zu erreichen? Und überhaupt, sage doch: bist du gesund?
Was ißt du, wie schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und du
wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich ist, um mein
Interesse nicht natürlich erscheinen zu lassen.“

„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“ widersprach er
ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem befriedigen. Du fragst, wie ich
mich hier im Leibe des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das
Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen Leeres erwiesen.
Sein Inneres besteht gleichsam aus einem großen leeren Sack, der an jene
Gummigegenstände erinnert, die man in den Schaufenstern der großen
Kaufläden an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht irre, auch
auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt sieht. Denn – sage es dir
doch selbst – wie könnte ich mich sonst hier aufhalten?“

„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung aus. „Ist das
Krokodil wirklich ganz leer?“

„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch streng und
nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das gemäß den
Gesetzen seiner Natur. Das Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen
Rachen, der mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen
Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau genommen. In der Mitte
aber zwischen diesen zwei Extremitäten ist ein leerer Raum, der von
einer kautschukartigen Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es
wirklicher Kautschuk ...“

„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber, das Herz?“
unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt.

„Davon gibt’s hier n–_nichts_, absolut nichts, und aller
Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas hier gegeben.
Alles das ist nur eine freie Erfindung der müßigen Phantasie
leichtsinniger Reisender. Wie man ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen
aufbläst, so kann ich jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist
bis zur Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als Hausfreund
hier Platz finden, wenn du so großmütig wärest, mir Gesellschaft leisten
zu wollen. Ich habe sogar daran gedacht, im äußersten Fall Jelena
Iwanowna hierher zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit
des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen Angaben überein.
Denn, nehmen wir zum Beispiel an, daß dir der Auftrag zuteil würde, ein
neues Krokodil zu schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die
Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils? Die Antwort
liegt auf der Hand: Menschen zu verschlingen. – Wie nun das Innere des
Krokodils zweckmäßig schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr
Menschen verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort noch
leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt, hat die Physik
bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet. Infolgedessen wird durch
diese Leere, die die Natur nicht duldet, die Funktion des Krokodils
hervorgerufen, denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben
kann, muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und folglich
greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in ihrem Bereich
befindet. Damit hast du den Grund, weshalb alle Krokodile Menschen
verschlingen. Das ist das Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch
gilt es selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders ist zum
Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel der Kopf eines
Menschen ist, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich zu füllen, doch
ist das wiederum nur als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu
betrachten. Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und alles,
was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand erschlossen, durch
eigene Anschauung, während ich mich im Eingeweide der Natur selbst
befand, an der Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag
lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein, denn allein
schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit. Krokodil – Crocodillo
– ist zweifellos ein italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit
stammt, in der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort, das
offenbar das französische Wort ^croquer^ zur Wurzel hat. Was ich dir
soeben gesagt habe, gedenke ich als erste Lektion zu lesen, vor dem
Publikum, versteht sich, das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln
wird, wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“

„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine erleichternde
Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich. „Er hat Fieber, er
fiebert, er muß hochgradiges Fieber haben!“ dachte ich angstvoll.

„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre eine Purganz in
meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz angebracht. Übrigens konnte ich es
mir denken, daß du unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“

„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt etwas zu dir
nehmen? Hast du heute zu Mittag gespeist?“

„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und werde
höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen. Doch auch dieses
ist durchaus erklärlich: indem ich das ganze Innere des Krokodils
erfülle, mache ich es auf ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang
nicht zu füttern. Und andererseits: indem das Krokodil durch mich satt
ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem Körper. Das ist
ungefähr dieselbe Ernährungsmethode, die raffinierte Schönheiten
anwenden, wenn sie zur Nacht ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts
bedecken, und dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder
frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So erhalte ich,
indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle Nahrungssäfte zurück,
folglich ernähren wir uns gegenseitig. Da es aber selbst einem Krokodil
schwer fallen dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu
verdauen, so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere im Magen
empfindet – obwohl es keinen Magen hat. Doch das tut nichts zur Sache.
Deshalb bewege ich mich hier so wenig als möglich, obschon mich nichts
hindern würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität. Diese
geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige, was ich an meinem
gegenwärtigen Zustande auszusetzen hätte, und im allegorischen Sinne hat
Timofei Ssemjonytsch durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der
Bärenhaut. Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend das Schicksal
der Menschheit umstürzen kann. Alle großen Ideen und alle neuen
Tendenzen unserer Zeitungen und Zeitschriften stammen augenscheinlich
von Leuten, die auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund,
weshalb man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens – gleichviel wie
man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz spezielles System erfinden, – du
ahnst nicht, wie leicht das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die
Einsamkeit zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten, die
Augen zu schließen, und im Nu hat man ein ganzes Paradies für die
Menschheit erfunden. Vorhin, als ihr mich verließt, machte ich mich
sogleich daran, zu erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich
ganze drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten. Es ist
wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen, man muß einfach alles
umstürzen; aber aus dem Krokodil heraus ist das so leicht; ja aus dem
Krokodil gesehen wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es
hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches: es
ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie mit Schleim bedeckt und
außerdem riecht es nach Gummi, ganz genau so wie meine alten Galoschen
vom vorigen Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln gibt
...“

„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was du da redest, erscheint
mir so wunderlich, daß ich kaum meinen Ohren traue. Aber sage mir doch
wenigstens das eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr
zu essen?“

„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du dich sorgst! Ich rede von
großen Ideen, du aber ... So höre denn, daß mich die großen Ideen
sättigen und die Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens
hat der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils, sich mit
seiner herzensguten Mutter beraten und da haben sie beide beschlossen,
mir jeden Morgen durch den Rachen des Krokodils ein gebogenes
Metallröhrchen zuzustecken, damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder
Bouillon mit aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist
bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der
Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus. Zu leben
aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn es wahr ist, daß ein
Krokodil so lange leben kann ... Jawohl! gut, daß ich das nicht
vergessen habe: sieh doch morgen in einer Naturgeschichte nach und teile
mir dann mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß ich
es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere verwechsle. Nur
eines erregt mein Bedenken: wie du weißt, bin ich angekleidet und zwar
ist mein Anzug aus russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel,
daher kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu kommt, daß
ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung mit meiner ganzen
Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise will ich mich nicht in
das verwandeln, in was sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein
solches Ende gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber,
daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist nicht
standhalten wird; er kann, als minderwertige russische Ware, früher
verwesen und dann würde ich ohne diesen äußeren Schutz trotz meines
ganzen Unwillens oder Willens, vielleicht doch verdaut werden, denn wenn
ich es auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde, so kann mich
doch in der Nacht, wenn der Wille mich im Schlaf verläßt, das
gewöhnliche Schicksal einer genossenen Kartoffel oder Fleischpastete
ereilen. Diese Möglichkeit, oder auch nur der bloße Gedanke an diese
Möglichkeit macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde müßte man
den Zolltarif ändern und den Import englischer Stoffe begünstigen, denn
da sie fester sind, würden sie den zersetzenden Einflüssen der Natur
länger Widerstand bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein
Krokodil hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches Projekt
bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne vorlegen und gleichzeitig
auch den Berichterstattern unserer Tageszeitungen. Mögen sie es
erörtern! Hoffe aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen
werden. Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze Schar dieser Leute
sich um mich drängen wird, um diesen Blechkasten, um meine Beurteilungen
der neuesten Telegramme zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen
lasse, gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die Zukunft im
rosigsten Licht ...“

„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir.

„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine Ansichten kennen zu
lernen. „Du bist doch jetzt geradezu ein Gefangener in einem dunklen
Verließ, während der wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“

„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete Antwort. „Nur die
Wilden lieben Unabhängigkeit, weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn
es aber keine Ordnung gibt ...“

„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus.

„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn
unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich mein Geist so hoch
emporgeschwungen wie jetzt. In meiner engen Wohnung fürchte ich
augenblicklich nur – die literarische Kritik unserer dicken
Tageszeitungen und den Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte,
daß die leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung, die
Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten, mich werden
lächerlich machen wollen. Doch ich werde Maßregeln zu ergreifen wissen.
Erwarte nur mit Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch
hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe morgen alle
Zeitungen mit, wenn du kommst!“

„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“

„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon Besprechungen zu
erwarten, gewöhnlich werden bei uns Neuigkeiten erst nach vier Tagen
besprochen. Doch von nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu
mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu benutzen. Du
wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich werde dir meine Gedanken
diktieren und Aufträge geben. Vor allen Dingen aber vergiß nicht die
neuesten Telegramme. Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen
Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst jetzt schlafen
wollen. Geh also nach Hause und denke darüber nach, was ich dir soeben
über die Kritik gesagt habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet
sich selbst in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und
tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal gehoben.
Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes, oder dieser und jener
zugleich – das wird meine zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“

So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte hohes Fieber
haben! – beeilte sich mein Freund Iwan Matwejewitsch, mich seine
Ansichten wissen zu lassen, jenen charakterschwachen alten Frauenzimmern
nicht unähnlich, von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis
bewahren können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was er da von der
inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt hatte, äußerst verdächtig
erschien. Wie war es möglich, daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz,
keine Lungen hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus
Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch nur, um mich zu
kränken, zu erniedrigen. Freilich war er krank, und zu einem Kranken muß
man gut sein, doch wenn ich anstatt gut offen sein will, so muß ich
sagen, daß ich meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen
können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit an, habe ich mich von
seiner Vormundschaft nicht befreien können. Tausendmal wollte ich ihm
den Laufpaß geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als hätte ich
im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend etwas beweisen oder irgend
etwas heimzahlen zu können. Ein wunderliches Ding war diese
Freundschaft! Ich kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu
neun Zehnteln aus Wut bestand.

Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast gefühlvoll.

„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir halblaut der
Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um mich hinauszugeleiten. Er
hatte die ganze Zeit aufmerksam unserem Gespräch zugehört.

„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht vergesse: wieviel
würden Sie für Ihr Krokodil verlangen, im Fall man es von Ihnen kaufen
wollte?“

Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben mußte, schien mit
besonderer Spannung auf die Antwort zu warten. Offenbar wollte er nicht,
daß der Deutsche wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir
nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das entfernt an ein
Grunzen erinnerte.

Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon hören, ja er wurde
sogar ärgerlich.

„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung kaufen!“ schrie er,
im Jähzorn rot wie ein gekochter Krebs. „Ich will mein Krokodil
überhaupt nicht verkaufen! Geben Sie mir eine Million Taler – ich
verkauf’ es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler vom Publikum
eingenommen und morgen werde ich zehntausend Taler einnehmen und dann
hunderttausend Taler Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht
verkaufen!“

Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen.

Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten Deutschen
scheinbar ganz kaltblütig, sich die Sache zu überlegen, zumal seine
Berechnungen meiner Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit
übereinstimmten, daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich
einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen sein müsse, und
damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt. Und außerdem stehe unser
aller Leben und Tod in Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch
noch irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken und sogar
sterben usw. usw.

Der Deutsche wurde nachdenklich.

„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“ meinte er dann
schließlich nach reiflicher Überlegung, „dann wird er nicht sterben.“

„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben Sie auch das in
Erwägung gezogen, daß Sie es mit der Polizei und dem Gericht zu tun
bekommen können? Die Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren
gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie haben nun die
Absicht, reich zu werden, haben Sie aber auch die Absicht, seiner Frau
eine Entschädigung, etwa eine Pension zu zahlen?“

„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen der
Deutsche.

„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit merklicher Bosheit die
Mutter.

„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer, jetzt sogleich und mit
einemmal eine zwar geringere, doch dafür sichere Summe zu empfangen, als
sich der Ungewißheit anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als meine
Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus persönlicher Neugier
frage.“

Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab sich mit ihr in den
fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem größten und widerlichsten aller
Affen stand, um sich dort flüsternd mit ihr zu beraten.

„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in vielsagendem Tone zu mir.

Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges Verlangen
verspürte, erstens den Deutschen gründlich zu verprügeln, zweitens, noch
gründlicher seine Frau; und drittens – am gründlichsten und
schmerzhaftesten meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen seiner
unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch nichts im Vergleich zu
der Antwort des habgierigen Deutschen.

Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner besseren Hälfte
beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend Rubel, zahlbar in Papieren der
jüngsten inneren Anleihe, außerdem ein steinernes Haus an der
Gorochowaja, und zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und
außerdem noch den Rang eines russischen Obersten.

„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich sagte es dir!
Ausgenommen den letzten unbegründeten Wunsch, hat er vollkommen recht,
denn wie du siehst, versteht er den Wert seines Eigentums richtig zu
schätzen. Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“

„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen zu, „so sagen
Sie mir doch, wozu Sie den Rang und Titel eines Obersten brauchen? Was
für eine Heldentat haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf,
welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich auf dem
Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem nicht einfach verrückt?“

„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter Würde aus. „Nein,
nicht verrückt, sondern sehr vernünftig, Sie aber sind das Gegenteil!
Ich habe den Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen
kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber kann ein
solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat gefüllt ist, der Welt
nicht zeigen! Ich bin ein sehr kluger Mensch und deshalb will ich ein
Oberst sein!“

„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend meinem Freunde zu
und eilte aus dem Ausstellungsraum.

Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch an einem Haar hing.
Die hirnverbrannten Hoffnungen dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus
der Haut bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend und
meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich aus, rief energisch eine
Droschke heran, fuhr nach Haus, kleidete mich aus und ging zu Bett. Am
meisten ärgerte mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein
Sekretär zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen und
mich noch über das erhebende Gefühl, nur die Pflicht eines aufrichtigen
Freundes zu erfüllen, freuen! Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor
Ärger über mich, und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht
und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der Faust auf den
Kopf und noch auf andere Teile meines Körpers. Dieses verschaffte mir
bedeutende Erleichterung und endlich schlief ich ein, schlief sogar
ziemlich fest, denn ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele
Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber träumte mir von
Jelena Iwanowna ...


                                  IV.

Die Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur deshalb im Traum
belästigt, weil ich sie tags zuvor im Käfig beim Krokodilbesitzer
gesehen hatte; doch Jelena Iwanowna war ein besonderes Kapitel.

Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese Dame; doch ich
beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen: ich liebte sie wie ein
Vater, nicht mehr und nicht weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich
daraus, daß ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen
oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie getan habe, so
hätte ich doch – wenn man einmal alles beichten soll! – ganz sicherlich
mich nicht geweigert, sie sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre
Lippen waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen
bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter Perlen, zwischen dem
Rot der Lippen schimmerten, wenn sie lachte. Und sie lachte sehr oft.
Iwan Matwejewitsch nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße
Absurdität“ – was man als eine durchaus gerechte und charakteristische
Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon und nichts weiter. Deshalb
blieb es mir auch unerklärlich, weshalb nun dieser selbe Iwan
Matwejewitsch in seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu
sehen begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ mein
Traum – abgesehen von den Affen – den angenehmsten Eindruck in mir, und
so beschloß ich, während ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des
letzten Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf dem Wege in
die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen, was ja übrigens in meiner
Eigenschaft als Hausfreund auch meine Pflicht war.

In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach, das von ihnen „der
kleine Salon“ genannt wurde, obwohl auch der große Salon nur ein kleines
Zimmer war, saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen
Teetischchen in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna und trank
aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein kleines Biskuitplätzchen
bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie war verführerisch anzusehen, doch
schien sie mir etwas nachdenklich gestimmt zu sein.

„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie mich mit zerstreutem
Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie
gestern? Wie haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem
Maskenball?“

„Waren _Sie_ denn gestern auf dem Maskenball? ... Ich ... ich pflege
keine Bälle zu besuchen ... zudem habe ich den Abend bei unserem
Gefangenen verbracht ...“

Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das Täßchen.

„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen? ... Ach, so! ... Ja, der
Arme! ... Nun, was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ... ich
wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann doch jetzt eine
Scheidung verlangen?“

„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der Hand gefallen. „Dahinter
steckt der Brünette!“ dachte ich empört bei mir.

Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem dunklen
Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung, der sie in letzter Zeit
auffallend oft besucht hatte und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu
gefallen verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für ihn
empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern abend entweder
mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht sogar hier in ihrer Wohnung
gewesen war und ihr bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den
Kopf gesetzt hatte!

„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna plötzlich ungeduldig, und
alles, was sie sagte, schien ihr ein anderer gesagt zu haben, „wie wird
denn das sein, er wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein
ganzes Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier sitzen und
vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß zu Hause wohnen, aber nicht
in einem Krokodil ...“

„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann ich in
begreiflicher Erregung zu widersprechen.

„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will nichts hören, nichts,
nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich jeden weiteren Einwand ab. „Sie
sind unausstehlich, ewig müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann
man wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie einem zu
raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß ich vollauf genügenden
Scheidungsgrund hätte, allein schon deshalb, weil doch Iwan
Matwejewitsch jetzt kein Gehalt mehr bekommen wird.“

„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief ich fast pathetisch
aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese Gedanken eingeflüstert? Und
übrigens wird ein so nichtssagender Vorwand, wie die Einbuße des
Gehalts, nicht als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme Iwan
Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram! Noch gestern
abend, während Sie sich auf dem Maskenball ihres Lebens freuten, sprach
er davon, daß er sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als
seine rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils zu
kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr geräumig erwiesen hat,
so daß nicht nur zwei, sondern sogar drei Menschen Raum in ihm hätten
...“

Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil meiner
letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch.

„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung aus. „Sie wollen, daß
ich gleichfalls dorthin krieche! zu Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch!
Ja und wie sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und der
ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und wonach wird denn das
aussehen, wenn ich hineinkrieche und ... und jemand womöglich noch
zusieht? ... Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ... und wie ist
denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott, was Sie sich nicht ausgedacht
haben! ... Und was gibt es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen,
es rieche dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein, wenn wir beide
in Streit geraten? Da müssen wir doch beieinander liegen bleiben? Pfui,
wie widerlich das ist!“

„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine
teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich sie mit jenem begreiflichen
Eifer, der einen stets erfaßt, wenn man fühlt, daß man im Recht ist,
„nur haben Sie eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch
wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu sich ruft; folglich
handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche, treue, sehnsüchtige
Liebe ... Sie haben die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena
Iwanowna, die Liebe!“

„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will davon überhaupt
nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen, reizenden Hand, an der die
soeben gebürsteten und polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt
ab. „Pfui, wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum Weinen. So
kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es Ihnen dort so angenehm zu sein
scheint! Sie sind doch sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus
Freundschaft neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend
eine langweilige Wissenschaft ...“

„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken lustig,“ unterbrach
ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen, „Iwan Matwejewitsch hat mich
bereits zu sich eingeladen. _Sie_ würde die Pflicht hinführen, mich
dagegen nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch, als er mir
gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des Krokodils erzählte, deutlich
zu verstehen gegeben, daß er, da nicht nur zwei, sondern ganze drei
Menschen bequem dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund,
erwartet, und deshalb ...“

„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna und ihre Augen
blickten mich fragend an. „Ja, wie werden wir denn ... so alle drei dort
beisammen sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha! Ich würde
Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie Taugenichts, hahaha! Hahaha!“

Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen. Doch dieses Lachen
und diese Tränen waren so bezaubernd, daß ich nicht lange widerstehen
konnte und ganz begeistert nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen
zu bedecken, was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie
mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr.

Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen, und ich schickte mich
an, ihr ausführlich alle ihre Person betreffenden Pläne Iwan
Matwejewitschs zu erzählen. Der Gedanke, in einem glänzenden Salon eine
auserlesene Gesellschaft zu empfangen, sagte ihr sehr zu.

„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“ bemerkte sie lebhaft.
„Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir möglichst bald und möglichst viel
Geld senden soll ... Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie
nachdenklich fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in meinen Salon
bringen? Das ... das wäre doch lächerlich! Ich will nicht, daß man
meinen Mann in einem solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde
mich ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ... Nein, ich
will nicht, ich will nicht ...“

„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern Timofei Ssemjonytsch
bei Ihnen?“

„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten, und denken Sie
sich, wir haben die ganze Zeit Karten gespielt. Wenn er verlor, hatte
ich eine Bonbonniere gewonnen, wenn ich verlor, durfte er mir die Hände
küssen. Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie wohl: – fast
wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren, – nein, wirklich!“

„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn – wen bezaubern Sie nicht,
Sie Zauberin!“

„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien! Warten Sie, dafür
werde ich Sie zum Abschied einmal kneifen – das verstehe ich nämlich
vorzüglich. Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie sagten
vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von mir gesprochen?“

„N–n–nein, nicht gerade _sehr_ viel ... Ich muß gestehen, daß er jetzt
eigentlich mehr an das Schicksal der ganzen Menschheit denkt und die
Absicht hat ...“

„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich langweilt er sich
entsetzlich. Ich werde ihn einmal besuchen. Morgen vielleicht. Heute
geht es nicht: ich habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein
... Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau, und mit den
Fingern auf mich weisen ... Schrecklich! Nun, leben Sie wohl. Am Abend
werden Sie doch ... dort sein, bei ihm?“

„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“

„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei ihm und lesen Sie ihm
die Zeitungen vor. Zu mir aber kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin
nicht ganz wohl, oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten
besuchen, ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie Schwerenöter.“

„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“ dachte ich bei mir.

In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste merken. Ich
tat, als wüßte ich überhaupt nicht, was Sorgen sind. Doch bald fiel es
mir auf, daß einige unserer fortschrittlichen Blätter an diesem
Vormittage auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine Kollegen
sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre vertieften. Die erste
Zeitung, die ich erhielt, war der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne
jede besondere Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human,
weshalb es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger aber
doch gelesen wurde.

Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes:

„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen Hauptstadt ein
äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen bestätigt hat. Ein
gewisser Gastronom, der zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den
die kulinarischen Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu bieten
vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien am Nachmittage in der
Menagerie unserer Passage, wo zurzeit ein großes, soeben erst hier
eingetroffenes Krokodil zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen
Rücksprache mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil
zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen Wassertier nur die besten
Stücke seiner saftigsten Körperteile – d. h. der Körperteile des
Krokodils – mit einem Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das
ganze Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht viel
gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger Begleiter, der
Ichneumon, gefolgt, denn weshalb sollte dieser nicht ebenso gut
schmecken? Wir haben natürlich gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den
ausländischen Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist, nichts
einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln, die bevorstehende größere
Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen zu haben. Die englischen
Lords und Reisenden fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande
etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften zusammen und
verzehren dann das ^à la^ Beefsteak zubereitete Rückenfleisch der Beute
mit Senf, Sauce und Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land
gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem Rückenfleisch vor
– vielleicht nur den Engländern zum Trotz, die ein mitleidiges Lächeln
nicht verbergen können, wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in
heißer Asche backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl
die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und können wir daher von
uns aus nur freudig diesen neuen Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an
einem solchen fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten
Vaterlande. Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte es wohl
kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu Hunderten importieren wird.
Weshalb sollte man sie übrigens nicht in Rußland akklimatisieren? Falls
das Newawasser für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so
gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb der Stadt noch
andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen. Weshalb sollten sie nicht z.
B. in Pawlowsk oder Pargolowo leben können, oder in Moskau, wo doch die
Pressnenskischen Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für unsere
Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel wären, würden
sie den an den Teichen spazierenden Damen eine interessante Zerstreuung
bieten und die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen Jahren
bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten Krokodile lassen sich zudem
die verschiedensten Gegenstände herstellen, wie z. B. Futterale,
Reisekoffer, Zigarettenetuis, Brieftaschen usw., und vielleicht wird
noch so manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten Sorte –
wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen – in Krokodilshaut
aufbewahrt werden. Hoffen wir, daß uns noch öfter Gelegenheit geboten
werden wird, auf dieses Thema zurückzukommen.“

Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte mich dieser
Artikel nicht wenig. Da niemand neben mir saß, mit dem ein
Meinungsaustausch möglich gewesen wäre, wandte ich mich an den mir
gegenübersitzenden Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß dieser
müßig auf seinem Platz und schien mich schon längere Zeit beobachtet zu
haben, die Zeitung „Woloß“ zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm
er von mir den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“, indem
er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete, auf den er
mich ersichtlich aufmerksam machen wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war
ein sehr eigentümlicher Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der
sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort sprach – obschon
sich das Sprechen in einer Kanzlei unter Kollegen schwer vermeiden läßt
– ein Mensch, der immer seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals
einem anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist bisher
noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß er ein einsames Leben
führt.

Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht hatte, lautete wie
folgt:

„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit Recht
fortschrittlich gesinnt und human nennen können und daß wir Europa in
dieser Beziehung nicht nachstehen wollen. Doch ungeachtet aller Wünsche
und der Bemühungen unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘
zu sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern in der
Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich beweist. (Es sei hier
darauf aufmerksam gemacht, daß wir es bereits vorausgesagt haben.)

Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer ein, der ein
lebendiges Krokodil mit sich führte, das jetzt in der Passage
ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich, den ausländischen Vertreter
dieses neuen, nützlichen und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem
großen Vaterlande zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen zu
heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags gegen fünf Uhr, wie uns
gestern gemeldet wurde, ein außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz
nüchternem Zustande (gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis,
und kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch dem
Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem vorher etwas
gesagt zu haben. Das Krokodil war durch seinen natürlichen
Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den Menschen zu verschlingen, da es
doch wohl nicht ersticken wollte. Doch der verschlungene Unbekannte
richtet sich im Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die
Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner
zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf den Unbekannten
Eindruck zu machen. Selbst der Ruf, man werde die Polizei holen, bleibt
erfolglos. Aus dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und die
Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (^Sic!^) Währenddem vergießt das
arme Tier, das gezwungen war, eine solche Masse zu verschlingen, ganz
vergeblich seine Tränen. „Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes
russisches Sprichwort, „ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen
des Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche Mensch will
seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen. Wir wissen nicht, wie wir
eine so barbarische Handlungsweise erklären sollen, was uns um so
peinlicher ist, als sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in
den Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder ein
glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen Natur. Jetzt fragt
es sich nur: was wollte der ungebetene Gast damit erreichen? Etwa einen
warmen und luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch
unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet sind:
sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen, eine Wasserleitung, die
die Mieter mit Newawasser versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und
nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier. Doch lenken
wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit unserer Leser auch noch auf
die rohe Behandlung des importierten Tieres. Natürlich wird es dem
Krokodil schwer fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt
es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch aufgeblasen von
der übergroßen verschlungenen Portion, und erwartet unter unerträglichen
Qualen den Tod. In Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich
bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung, unserer
neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind _wir_ noch immer in Unwissenheit
und Roheit befangen.

‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile alt‘, um Gribojedoff
zu zitieren. Leider entspricht nicht einmal dieses vollkommen der
Wahrheit, denn auch die Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind.
Jedenfalls erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten Mal, daß
im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der Petersburger Seite die
Treppenstufen, die aus der Küche in die Wohnung führen, schon seit
langer Zeit verfault sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie
jetzt endlich eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja
Skapidarowa, die die Bedienung übernommen hatte und stets Gefahr lief,
von der Treppe zu fallen – namentlich wenn sie Wasser oder Holz
hineintrug – gestern abend gegen halb neun Uhr tatsächlich mit der
Suppenterrine gefallen ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider
wissen wir noch nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe
bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig, doch
können wir mitteilen, daß das Opfer dieser Schwerfälligkeit bereits ins
Hospital gebracht worden ist. Desgleichen ermüden wir nicht, darauf
aufmerksam zu machen, daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite
von den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden
deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen, zumal es nur geringe
Mühe kosten würde, den Schmutz, wie man es im Auslande tut, zu Haufen
zusammenzufegen,“ usw. usw. ...

„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor Ssawitsch
anblickend. „Was soll das alles?“

„Was?“

„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch zu bedauern,
bemitleiden sie hier das Krokodil!“

„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein Tier, ein unvernünftiges
Tier bemitleidet. Inwiefern stehen sie jetzt noch Europa nach? Dort tut
man es doch ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte
sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach kein Wort
weiter.

Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche und versorgte
mich außerdem noch mit mehreren alten Nummern der „Nachrichten“ und des
„Woloß“. An diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst. Zwar
war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich früher in die Passage
gehen, um wenigstens von weitem zu sehen, was dort vorging, um
Meinungsäußerungen des Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu
lernen. Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes Gedränge
geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle den Mantelkragen hoch,
denn aus irgend einem Grunde schämte ich mich, gesehen zu werden – so
wenig haben wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich fühle, daß
ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses außergewöhnliche Ereignis,
meine eigenen prosaischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.




                                Fußnoten


[1] Bekannter Musiker und Dirigent. E. K. R.

[2] In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen Uniform. E. K.
R.


                     Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                   Zweite Abteilung: Siebzehnter Band
           R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Ssamowar (Samowar)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 38]:
   ... Lebemannsleben fleißig geübt hat. Übrigens, ...
   ... Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens, ...

   [S. 53]:
   ... Zimmer eintretend! „Es ist er–staunlich, cher ami, ...
   ... Zimmer eintretend. „Es ist er–staunlich, cher ami, ...

   [S. 87]:
   ... dann nur ein einziges Mal Leben ... aber ...
   ... dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 17 ***


    

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remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.