Percy Wynn : oder ein seltsames Kind der Neuen Welt.

By Franz Finn

The Project Gutenberg eBook of Percy Wynn
    
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Title: Percy Wynn
        oder ein seltsames Kind der Neuen Welt.


Author: Franz Finn

Editor: Franz Betten

Release date: November 28, 2023 [eBook #72254]

Language: German

Original publication: Mainz: Verlag von Franz Kirchheim, 1897

Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PERCY WYNN ***

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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1897 so weit
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  wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
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        fett:     =Gleichheitszeichen=
        gesperrt: +Pluszeichen+
        Antiqua:  ~Tilden~

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[Illustration:

  „Aber, Percy, wie bist Du da hinaufgekommen?“

  „Das weiß ich selber nicht .... Als die Schildkröte aus dem Wasser
  kam und so wütend pfauchte und schnappte, war es mir, als könnte ich
  alles.“

  Seite 65.

]




                              Percy Wynn

                                 oder

                  ein seltsames Kind der Neuen Welt.

                                  Von

                        =+Franz Finn+= ~S. J.~

                 +Für die deutsche Jugend bearbeitet+

                                  von

                        =Franz Betten= ~S. J.~

                        +Mit einem Titelbild.+


                                Mainz,
                     +Verlag von Franz Kirchheim+.
                                 1897.




                  Druck von Fl. Kupferberg in Mainz.




Vorwort zur deutschen Bearbeitung.


Die wohlwollende Aufnahme, welche der deutsche „Tom Playfair“ gefunden,
hat den Unterzeichneten ermutigt, auch eine zweite Erzählung desselben
Verfassers in deutscher Bearbeitung erscheinen zu lassen. „Percy Wynn“
kann insofern als eine Fortsetzung der ersten betrachtet werden, als
Tom Playfair auch hier noch eine wichtige Rolle zu spielen hat, wenn
er auch naturgemäß hinter dem Haupthelden zurücktritt. -- Über den
Standpunkt, von dem aus beide Werkchen beurteilt werden möchten, seien
hier ein paar Worte vorausgeschickt.

Zu dem Versuche, diese in Amerika schnell beliebt gewordenen Schriften
auf Deutsch zu bearbeiten, bewog die Überzeugung, daß dieselben auch
für die deutsche Jugend eine unschädliche, genuß- und gewinnreiche
Lektüre abgeben und so die Zahl der brauchbaren katholischen
Jugendschriften um einige vermehren könnten. Von dem Gedanken aber,
hier ein Muster der Erziehungskunst vorzuführen oder die von den
amerikanischen Jesuiten befolgte Methode zu schildern, wurde aus dem
einfachen Grunde Abstand genommen, weil dieser Gedanke schon dem
Verfasser gänzlich ferne gelegen hat. Ein Charakter, so abnorm wie
derjenige Percy Wynns, dessen Erziehung überdies bei seinem Eintritte
ins Pensionat der Hauptsache nach schon fertig ist, wäre dazu auch
recht wenig geeignet. Nicht ein „Lienhard und Gertrud“ lag in ~P.~
Finns Absicht, sondern eine fesselnde und veredelnde Lektüre +für
die Jugend+. Die wenigen Gebräuche und Maßregeln aber, deren
bruchstückweise Anführung lediglich dem Fortschritte der Erzählung
dient, können unmöglich außer dem Zusammenhang mit dem +ganzen+
lebendigen Schul- und Pensionatsorganismus von „Maurach“ richtig
beurteilt werden; und dieser selbst würde zu seinem Verständnis
wiederum nicht nur eine genaue Kenntnis von Land und Leuten erfordern,
sondern auch eine gewisse Vertrautheit mit den lokalen Verhältnissen
von Haus und Umgebung.

Insbesondere sind drei Punkte hervorzuheben, die in den vorliegenden
Erzählungen zwar berührt, aber doch nicht in dem Maße zum
Ausdrucke gelangt sind, daß auch dem Fernstehenden ein richtiges
Urteil ermöglicht wäre. -- Zunächst ist es die große Bedeutung,
welche der Anglo-Amerikaner in seinen Erziehungsanstalten +dem
Traditionellen+ beilegt; „was grau vor Alter ist, das ist
ihm heilig.“ -- An zweiter Stelle kommt der stark ausgeprägte
+Nationalcharakter+ der nordamerikanischen Republik mit seinem
weitgehenden Einflusse schon auf die erste Erziehung der freigeborenen
Jugend und auf die Gestaltung des geselligen Verkehres zwischen groß
und klein. -- Unter den nationalen Eigentümlichkeiten sei als dritter
Punkt noch besonders genannt eine außerordentliche +Vorliebe für
das Spiel+, welche naturgemäß der Jugenderziehung ein ganz eigenes
Gepräge geben muß. In der That macht das Spiel samt der Art, wie es nun
einmal betrieben wird und nach Landessitte betrieben werden muß, in den
amerikanischen Anstalten seine Wirkungen auch dort noch geltend, wo vom
Spiele selbst längst nicht mehr die Rede ist.

Ohne Zweifel haben diese kurzen Bemerkungen den Wert beider Schriftchen
in den Augen jener Leser vermindert, die in denselben etwa ein
ausschlaggebendes Material zum Vergleiche zwischen deutscher und
amerikanischer Erziehung zu finden hofften. Allein eine Aufklärung
im Beginne ist besser, als eine Enttäuschung am Ende, und vielleicht
wird deshalb die Jugendschrift als solche eine um so wohlwollendere
Beurteilung finden.

Erwähnt sei noch, daß der Verfasser, wie er in der Vorrede zu seiner
zweiten Auflage bemerkt, die +Katechismusstunde+ (S. 136 ff.) der
Hauptsache nach von ~P.~ Spee entlehnt hat. Dieses Produkt eines
urdeutschen Gemütes kommt also hiermit auf den heimatlichen Boden
zurück.

  +Valkenburg+ in holl. Limburg, d. 30. Aug. 1896.

  +Franz Betten+, ~S. J.~




[Illustration]




Inhaltsverzeichnis.


                                                                   Seite

  1. Kapitel.  Der schüchterne Neuling                                 1

  2.    „      Percy muß bei Tom Playfair ein Examen
                 machen. Neue Bekannte                                14

  3.    „      Die gelbseidene Krawatte und Ähnliches                 22

  4.    „      Spielplatz und Schule                                  27

  5.    „      Das Gespenst                                           39

  6.    „      Nachwehen                                              43

  7.    „      Ein freier Tag. 1. Die Fußtour                         51

  8.    „      Ein freier Tag. 2. Fischen und Klettern                57

  9.    „      Ein freier Tag. 3. Schwimmen und Rudern                67

  10.   „      Eine Gesellschaft anderer Art                          73

  11.   „      Eine Verschwörung gegen Playfair und Quip              81

  12.   „      Percy entdeckt das Komplott und beschließt
                 zu helfen                                            87

  13.   „      Ist das ein Feigling?                                  95

  14.   „      Wie die geretteten Freunde ihrem Retter helfen        101

  15.   „      Wie ein Vierter allen zu Hilfe kam. -- In
                 der Infirmerie                                      109

  16.   „      Percys Pult                                           119

  17.   „      Wie ~P.~ Middleton den Flüchtling findet              126

  18.   „      Die Erlebnisse des Ausreißers                         130

  19.   „      Ruhe nach dem Sturme                                  145

  20.   „      Noch im Krankenzimmer                                 153

  21.   „      Fußball                                               158

  22.   „      Der schiefe Philipp                                   167

  23.   „      Auf der Gasse                                         177

  24.   „      Wie zwei Tapfere mit Percy Fersengeld geben
                 müssen                                              187

  25.   „      Zwei Briefe                                           195

  26.   „      In der Aula                                           201

  27.   „      Der unerwartete Besuch                                205

  28.   „      Der neue Zögling                                      211

  29.   „      Der kleine Wißbegierige                               218

  30.   „      Fröhliche Weihnachten                                 227

  31.   „      Ein junger Schlittschuhmeister                        236

  32.   „      Der seltsame Wanderer                                 241

  33.   „      Ein Tod unter freiem Himmel                           245

  34.   „      Tom begegnet zwei Gesellen, die er lieber
                 nicht sähe                                          253

  35.   „      Schluß                                                259


  Bemerkungen zu den ausländischen Wörtern                           262

[Illustration]




[Illustration]




1. Kapitel.

Der schüchterne Neuling.


Das amerikanische Pensionat Maurach liegt, wie den Lesern von ‚Tom
Playfair‘ schon bekannt ist, eine halbe Stunde von dem gleichnamigen
Städtchen entfernt, einsam auf der welligen Prärie. Ein paar Wälder
und mehrere Seen unterbrechen angenehm die weiten, unabsehbaren
Grasstrecken seiner Umgebung.

Die jugendlichen Insassen des Hauses zerfallen nach Alter und
Entwickelungsstufen in zwei Abteilungen von je hundert oder
hundertzwanzig Zöglingen.

Auf dem Spielplatze der Kleinen bemerken wir heute das gewöhnliche
muntere Treiben. Nur fällt uns ein Knabe von etwa dreizehn Jahren
auf, der sich abseits von dem fröhlichen Getümmel mutterseelenallein
auf einer Bank im Winkel des Platzes niedergelassen hat. Er ist ein
zartes, schwächliches Kind. Sein offener Blick verrät Unschuld und
Zutrauen, und jeder Zug des ausdrucksvollen Gesichtes erzählt von einer
glücklichen, reinen, im Kreise lieber Angehörigen verbrachten Kindheit.

Eine Gruppe von fünf größeren Zöglingen, lauter kräftigen, dreist
aussehenden Burschen, nähert sich ihm.

„Heda, Jüngelchen!“ ruft Kenny, der ihr Anführer zu sein scheint, in
barschem Tone, „heda! was hockst Du hier so allein herum?“

Der Kleine, der wie in stillem Schmerze den Kopf gesenkt hielt,
richtete sich bei diesen Worten langsam auf und erhob seine großen
blauen Augen furchtsam und bittend zu den Herannahenden.

„Hast Du keine Ohren?“ fuhr Kenny fort, ebenso unsanft wie vorher. „Was
hockst Du hier so allein?“

Die Lippen des Angeredeten zitterten; er hatte nicht den Mut, dem
rauhen Fragesteller ein Wort zu erwidern.

„Dann sag uns wenigstens mal, wie Du heißest! Das wirst Du wohl noch
wissen.“

„Percy Wynn.“

„Percy Wynn!“ wiederholte die ganze Gesellschaft in einem Tone, den sie
für besonders geistreich hielt; „Percy Wynn! ha, ha! das ist ein feiner
Name! ein herrlicher Name! Meinst Du das nicht auch, Percy?“

„O gewiß!“ versicherte Percy bangen Mutes, aber mit voller Überzeugung,
worauf ein neues Gelächter entstand.

Die fünf hatten schlau einen Zeitpunkt ausersehen, da ~P.~ Scott,
der die Aufsicht führte, sich an das andere Ende des Spielplatzes
begeben mußte, so daß sie nicht leicht eine unliebsame Störung zu
befürchten hatten.

Der gute Percy merkte jetzt, daß man sich nur über ihn lustig mache,
und ein glühendes Rot übergoß seine blassen Wangen.

„Da seht doch, er wird rot! gerade wie ein Mädchen!“ spottete Martin
Prescott, und rief dadurch einen ausgelassenen Beifall hervor.

Percy hatte allerdings viel Mädchenhaftes an sich. Seine Gestalt war
auffallend schmächtig; die Kleidung, von den zierlichen Schuhen und
den langen schwarzseidenen Strümpfen an, bis zu der breiten, farbigen
Krawatte, zeigte eine geradezu peinliche Sorgfalt; das goldgelbe,
reiche Haar aber hing ihm nach Mädchenart in langen Locken auf die
Schultern herab, ein Schmuck, der in Amerika zwar auch bei Knaben nicht
ganz ungebräuchlich ist, aber doch auch nicht gerade häufig gesehen
wird.

Percy, der immer mehr inne wurde, daß die Augen von fünf Buben sich an
seiner Verlegenheit weideten, errötete noch mehr, stand hastig auf und
suchte der unwillkommenen Gesellschaft zu entfliehen.

Allein Kenny ergriff ihn beim Arm.

„Da bleiben, Percy!“

„O bitte, lassen Sie mich doch los! Ich möchte so gern allein sein!“

„Sie! aha! er sagt ‚Sie‘!“ riefen mehrere. „Das ist recht. Du bist ja
sehr höflich.“

Kenny drückte ihn wieder auf die Bank mit den Worten:

„Ich habe noch etwas zu fragen, Percy; sag’ mal, wo schläfst Du denn
eigentlich?“

„Da drüben in dem großen Schlafsaal; der Herr Präfekt hat mir mein Bett
schon gezeigt.“

„Gut. Du bist nun ein Neuer, und weißt noch nicht, wie es hier geht.
Ich will Dir einiges sagen. Wenn Du im Bett bist -- und wohlgemerkt,
beim Auskleiden mußt Du sehr schnell machen -- dann sagst Du mit
lauter Stimme: ‚Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin im Bett!‘
Das muß man aber im ganzen Schlafsaale hören können.“

„Muß ich das wirklich thun?“ fragte Percy betroffen. „Können Sie dafür
nicht einen andern ausfindig machen?“

Jedes ‚Sie‘, das Percy aussprach, weckte ein neues Schmunzeln der
Überlegenheit.

„Nein, das geht nicht,“ sprach Kenny, „es muß immer derjenige thun,
der zuletzt gekommen ist. Vor vierzehn Tagen hat das Schuljahr schon
angefangen. Du bist erst heute gekommen -- also mußt Du es sagen.“

Das war natürlich eine Lüge, aber Kennys böswillige Genossen hielten
es für den lustigsten Scherz und vermochten kaum ihr schadenfrohes
Ergötzen zu verbergen.

„Das ist doch eine sonderbare Gewohnheit!“ rief Percy erstaunt aus.

„Sonderbar oder nicht sonderbar, das bleibt sich ganz gleich. Es muß
nun einmal geschehen.“

„Dann will ich es auch thun.“

„Recht so, Percy. Was hast Du also zu sagen?“

„‚Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin im Bett!‘“

„Vortrefflich! Du hast Deine Lektion gut gelernt. Jetzt kommt etwas
anderes. Du mußt hier sofort einen Purzelbaum schlagen.“

„Was? einen ... was für einen Baum muß ich schlagen?“

„O du Nestküchlein! -- Du hast wohl immer bei Mama auf dem Sopha
gesessen. -- Er kann nichts als seinen Schwestern die Puppe einlullen“
-- schrieen alle durcheinander.

„Und da wird das Mädchen wieder rot!“ sprach Prescott und zerrte ihm
an den goldenen Locken, wobei er sich wohlweislich so stellte, daß
der Präfekt, der wieder näher kam, die Bewegung seiner Hand nicht
unterscheiden konnte.

„Einen solchen Baum,“ erklärte Kenny, als es wieder ruhiger geworden
war, und machte es ihm vor.

„O, auf mein Wort!“ versicherte der beklommene Percy treuherzig; „das
bringe ich nicht zustande! ganz sicher nicht!“

„Du mußt, Percy. Jeder Neue muß das thun.“

„Aber ich kann es ja nicht,“ sprach Percy flehentlich.

„Macht nichts! wenigstens kannst Du es probieren.“

„O bitte! erlassen Sie es mir dieses Mal! Ich will den Purzelbaum für
mich üben, und wenn ich ihn kann, wird es mir ein großes Vergnügen
machen, Ihrem Willen zu entsprechen. Ihr Wunsch soll mir Befehl sein.“

„O wie fein, wie fein! Was er schwätzen kann!“ höhnte Skipper. „Woher
er nur die Wörter hat! Ich wette, er hat ein ganzes Wörterbuch
auswendig gelernt.“

„Nein!“ sagte Percy voll Beklommenheit.

„Vorwärts, Percy!“ drängte Kenny in drohendem Tone; „keine Umstände!“

Das hilflose, geängstigte Kind brach in Thränen aus, stand auf und
machte einen neuen Versuch, seinen Bedrängern zu entkommen.

Aber Kenny faßte noch heftiger als das erste Mal Percys Arm.

„Nichts da, Wynn! Du thust, was ich will! Oder willst Du einen
Faustkampf mit mir probieren?“ Dabei erhob er die geballten, kräftigen
Fäuste. „Wir werden uns schon am rechten Orte treffen; ich will es Dir
auch wohl zeigen, so gut wie den Purzelbaum.“

„Das lässest Du schön bleiben!“ rief eine neue Stimme von hinten, und
zwei starke Ellenbogen pufften unsanft die saubern Freunde auseinander,
daß sie sich mit lautem „au! au!“ an die getroffenen Stellen griffen;
ein anderer Zögling, den das Spiel zufällig in diesen Winkel geführt
hatte, trat neben den gequälten Percy. Sein jugendfrisches Gesicht
glühte vor Entrüstung und seine Augen richteten sich zornig auf die
fünf edlen Brüder.

„Schäm’ Dich, Kenny!“ rief er. „Sobald ein Neuer im Haus ist, fällst Du
mit Deiner Bande über ihn her. Ihr seid ja selbst noch neu! Packt Euch
fort! auf der Stelle! oder ich sorge, daß Ihr erfahrt, wie man sich in
Maurach zu betragen hat.“

Der Redende war kleiner und offenbar auch etwas jünger als Kenny und
die meisten seiner Genossen; aber der da vor ihnen stand, war ja Tom
Playfair, der gefeiertste unter den jüngeren Zöglingen, Tom Playfair,
dessen Haupt eine Reihe seltener Knabenthaten, worunter die glorreiche
Verteidigung einer Schneefestung gegen mehrfache Übermacht noch die
geringste war, mit einer strahlenden Ruhmeskrone umgeben hatte. Kenny
und seine Genossen hatten das allerdings selbst nicht miterlebt,
sie gehörten ja erst seit vierzehn Tagen der Anstalt an; aber die
Berichte der älteren Zöglinge hatten ihnen bereits vieles mit weiteren
Ausschmückungen zugetragen. Kein Wunder also, wenn sie es mit ihm
wenigstens nicht ganz verderben wollten.

Zudem war der Präfekt doch bedenklich nahe gekommen; die verdächtige
Unterhaltung zwischen dem Neuling und Kennys schon in etwa bekannter
Gesellschaft hatte bereits mehrere Minuten gewährt. Um keinen Preis
durfte sie einen erregteren Charakter annehmen, was geschähe, wenn
man sich mit Playfair in einen weiteren Handel einlassen würde. Eine
Untersuchung des Vorfalles und energische Ahndung der an einem Neuling
verübten Quälerei wäre alsdann unabwendbar.

Nach einigen halb ärgerlichen, halb scheuen Blicken auf den Störer
ihres niedrigen Vergnügens hielten es deshalb die fünf Burschen
für geratener, sich in einer möglichst wenig auffallenden Weise
zurückzuziehen und in der spielenden Menge zu verlieren.

Tom Playfair aber nahm sich gleich des schüchternen, hilflosen
Mitzöglings an. Er setzte sich zu ihm auf die Bank und blickte voll
Teilnahme auf den schluchzenden Knaben. Bald legte sich Percys Schmerz;
er zog sein weißes, zierlich gefaltetes Battist-Tüchlein hervor,
trocknete sich die Thränen ab und schaute seinen Wohlthäter mit inniger
Dankbarkeit an.

„So, jetzt ist es ja gut,“ sprach Tom ermunternd, „nicht wahr? -- Ich
heiße Tom Playfair und bin von St. Louis. Deinen Namen weiß ich schon.
Bist Du aus Chicago?“

Percy hatte sich in seine veränderte Umgebung im Pensionat noch gar
nicht gefunden. Voll Dankbarkeit sagte er mit einer Art Ehrfurcht:

„Ich bin aus Baltimore, +mein Herr+!“

„Aber soll ich denn gleich wieder fortlaufen?“ fragte Tom scherzend.

„Nein, sicher nicht, mein Herr,“ sprach Percy lächelnd und schüttelte
seine Locken zurück. „Warum sollte ich das wollen?“

„Du sagst ja immer ‚Herr‘ zu mir, und ich bin kein Herr. Ich nenne Dich
auch nicht Herr. Sage ‚Tom‘ zu mir.“

„Sehr gern, Tom,“ antwortete Percy mit noch froherer Miene. „Und es
freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Tom stutzte. Eine so feine, wohlgesetzte Redensart hatte er von
seinesgleichen noch nie gehört und wußte deshalb nicht gleich, was er
darauf erwidern sollte.

Eine kurze Pause trat ein.

„Gut,“ sagte er dann; „wir wollen uns also die Hand geben.“

Sein Staunen wuchs aber noch mehr, als Percy sich würdevoll erhob und
mit anmutiger Verbeugung und feierlicher Miene Toms dargebotene Hand
ergriff.

„Wa--wie--warum--,“ stotterte Tom verblüfft. „Wo in aller Welt kommst
Du denn her?“

„Aus Baltimore in Maryland, Tom; ich meine, das hätte ich Ihnen schon
gesagt.“

„Ihnen?“ wiederholte Tom, beinahe außer sich vor Staunen. „Sagen denn
in Baltimore die Knaben alle Sie zu einander?“

„Das weiß ich wirklich nicht, Tom. Ich habe in Baltimore keinen
einzigen Knaben gekannt.“

Tom pfiff leise zwischen den Zähnen durch.

„Gar keinen Jungen gekannt?“

„Keinen einzigen. Mama sagt, Knaben seien viel zu roh. Und das sind sie
auch“ -- hier begann Percy wieder zu schluchzen -- „nur Sie nicht, Tom,
Sie sind gut, aber Sie sind der einzige.“

Tom wartete, bis Percys Erregung nachließ. Dann sprach er freundlich:

„Du mußt ‚Du‘ zu mir sagen, Percy, und geradeso zu allen Zöglingen im
ganzen Hause. Ich habe ja auch noch keinen Schnurrbart.“

Percy sah ihn überrascht und erfreut an.

„Aber mit wem hast Du denn bis jetzt gespielt?“ fuhr Tom fort.

„Gespielt? O, mit meinen Schwestern, Tom. Ich habe sechs Schwestern.
Die älteste ist achtzehn, die jüngste fünf Jahre alt. O, Tom, sie sind
so gut, so gut! Ich wollte, Du känntest sie; Du würdest sie alle so
gern haben!“

Tom wollte das nicht recht einleuchten.

„Hast Du denn viele Spiele mit Deinen Schwestern gespielt?“

„O ja, Tom. Seilchenspringen kann ich viel besser als sie alle. Wir
spielten auch oft Kätzchen-ins-Eck, und Pantoffeljagd, und manchmal
Kaufmann; dabei war ich der Kaufmann und sie die Einkäuferinnen, die
kamen, um für ihre Herrschaften einzukaufen. O, es war sehr ergötzlich,
Tom. -- Und abends las uns Mama wunderbare Märchen und hübsche
Erzählungen vor, und zuweilen auch herrliche Gedichte. -- Hast Du
schon das Märchen von den ‚Sieben Finken‘ gelesen, Tom?“

„Ich glaube nicht,“ erwiderte Tom fast kleinlaut; er wußte nicht recht,
ob er Percys Begeisterung sonderbar oder beneidenswert finden sollte.

„Und ‚die Beatushöhle‘?“

„Nein.“

„O sie sind so schön! sie sind entzückend. Ich erzähle sie Dir später
und noch andere dazu. Ich weiß sehr viele.“

„Erzählungen höre ich ganz gern,“ versicherte Tom. „Deshalb werden mir
die Deinen gewiß Freude machen.“

„O sicher, Tom! -- Aber weißt Du auch, weshalb ich hierhin gekommen
bin? Meine liebe Mama wurde plötzlich krank, und als sie genesen war,
schrieb ihr der Arzt eine Erholungsreise nach Europa vor; Papa ist vor
mehr als zwei Monaten mit ihr abgereist. Meine Schwestern sind alle zu
den Klosterfrauen vom Göttlichen Herzen ins Pensionat gekommen, mit
Ausnahme der ältesten und der jüngsten, die in Baltimore bei unserer
Tante sind. Meine Schwestern schreiben mir abwechselnd jeden Tag. Thun
das Deine Schwestern auch, Tom?“

„Ich habe keine Schwestern,“ sprach Tom lächelnd, aber in diesem
Lächeln war doch ein Anflug von Traurigkeit.

„Was, Tom? Keine Schwestern?“

„Nein, gar keine; und auch keinen einzigen Bruder.“

Percys Staunen ging in Mitleid über.

„Armer Junge!“ rief er und schlug die Hände zusammen. „Wie bist Du denn
überhaupt fertig geworden?“

„Ich habe mir eben so durchhelfen müssen. Meine Mutter“ -- hier war Tom
dem Weinen nahe -- „ist auch schon lange tot.“

Percy erwiderte kein Wort, aber seine ausdrucksvollen Züge sprachen das
innigste Mitgefühl aus; er ergriff Toms Hand und drückte sie herzlich.

Es dauerte eine Weile, bis Tom seine innere Bewegung verwunden und
seine gewöhnliche, jugendfrische Stimmung wiedergewonnen hatte.

„Percy,“ sprach er dann, „Du bist ein gutes Kind, und ich will
versuchen, aus Dir einen Jungen zu machen.“

„Einen Jungen? -- Aber Tom, ich möchte doch fragen, für was Du mich
denn bis jetzt angesehen hast.“

Tom zauderte.

„Du nimmst es mir übel, Percy, wenn ich es Dir sage.“

„O nein, Tom, nein! Dir nehme ich gar nichts übel! Du bist ja so gut
gegen mich! Du bist mein Freund, Tom.“

„Ja sieh, Percy,“ sprach Tom zögernd. „Du bist so -- so etwas
merkwürdig, -- so ganz anders, als wir alle -- so wie -- wie ein
Mädchen, Percy.“

Percys Augen öffneten sich weit vor Überraschung.

„Was Du nicht sagst, Tom! wirklich? Aber wie kommt es denn wohl, daß
ich früher nie etwas davon vernommen habe? Mama und meine Schwestern
haben mir nichts dergleichen gesagt.“

„Sie kannten sicherlich keinen Jungen.“

„Doch, Tom; sie kannten ja mich!“ Diesen Beweis hielt Percy für völlig
durchschlagend.

„Aber Du bist eben nicht, wie andere Knaben. Und sie konnten immer nur
sagen, daß Du eben Du bist. Aber so wie Du ist kein anderer Junge.“

„Wirklich nicht?“ sprach Percy, noch immer verwundert.

„Du gleichst andern gar nicht, Percy.“

„Aber ich habe viel über Knaben gelesen, z. B. über die Kindheit großer
Maler und Musiker und Dichter. Ich habe auch ein schönes Gedicht
auswendig gelernt, das anfängt:

    O, meiner Kindheit gold’ne Zeit!
    Tag und Nacht voll Seligkeit!

Ist das nicht schön, Tom?“

„Hast Du das in der Schule gelernt, Percy?“

„O nein, ich bin nie in einer Schule gewesen. Ich hatte einen
Privatlehrer, der mir und meinen jüngsten Schwestern Unterricht gab.
Aber dieses schöne Gedicht habe ich zu meinem Vergnügen gelernt, und
noch viele, viele andere. Meine älteste Schwester erklärte sie mir, und
oft hat uns Mama auch Gedichte vorgelesen und erklärt. O das war so
schön.“

Tom war es wie den meisten seiner Altersgenossen noch nicht in den Sinn
gekommen, aus eigenem Antriebe Gedichte zu lesen. Diese Mitteilung
Percys erfüllte ihn daher fast mit Ehrfurcht vor seinem neuen Freunde.

„O, und ich habe Longfellow so gern,“ fuhr Percy mit steigender
Begeisterung fort; „das ist ein rechter Dichter! Meinst Du nicht auch,
Tom?“

Zum Glück für Tom, der eben kleinlaut seine Unkenntnis eingestehen
wollte, klang jetzt die Schelle und rief die Zöglinge zu Tisch. Er
führte den Neuling in den Speisesaal und konnte während des ganzen
Essens kaum das Lächeln zurückhalten, während er beobachtete mit welch’
ausgesuchter Zierlichkeit Percy in Maurach sein erstes Mittagsmahl
einnahm.

[Illustration]




[Illustration]




2. Kapitel.

Percy muß bei Tom Playfair ein Examen machen. Neue Bekannte.


„Harry! Harry Quip!“ rief eine Stimme, als die Zöglinge nach dem Essen
wieder in den Hof eilten.

Harry drängte sich durch die Menge und stand bald vor dem ungestümen
Rufer.

„Was ist denn los, Tom?“ fragte er.

„Ich will Dich mit einem Neuen bekannt machen; es ist ein sehr guter
Junge.“

Harrys lustiges Gesicht und sein ganzes Wesen nahmen sofort jenen
verlegenen und unbeholfenen Ausdruck an, den die Förmlichkeit des
Vorgestelltwerdens gewöhnlich bei Knaben hervorruft.

„Hier ist er; er heißt Percy Wynn und ist aus Baltimore.“

Harry bot ihm die Hand dar, recht steif und linkisch; aber seine
Verlegenheit machte dem Erstaunen Platz, als Percy mit seiner
unbeschreibbaren Verbeugung zart und zierlich Harrys Hand ergriff und
dabei mit ausgesuchter Artigkeit sagte: „Harry, ich bin entzückt, Deine
Bekanntschaft zu machen.“

„Er giebt sich auch mit Poesie ab!“ flüsterte Tom, „und er braucht Dir
Wörter, wie Du sie Dein Lebtag nicht gehört hast.“

Dann fügte er laut bei:

„Bitte, Harry, geh doch und sieh nach, ob an seinem Pulte im
Studiersaale nichts fehlt. Ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen.
Wenn Du fertig bist, bring Joseph Whyte und Willy Hodder mit hinten zu
den zwei Bänken.“

Harry, der sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt hatte, war froh
fortzukommen; und während er die Treppe hinaufstieg, murmelte er noch
voll Verwunderung: „Und er giebt sich auch mit Poesie ab!“

„Percy,“ fragte Tom, als sie dem Ende des Spielplatzes zuschritten,
„hast Du auch schon Ziellauf gespielt?“

Vielen meiner Leser wird es bekannt sein, daß der Ziellauf (~Base
Ball~) von den Nordamerikanern als ihr Nationalspiel betrachtet und
daher ungemein viel gespielt wird.

„Nein,“ sprach Percy, „aber ich habe zuweilen davon gehört und gelesen.“

„Hast Du Handball gespielt?“

„Du meinst, zwei Bälle abwechselnd emporwerfen und schnappen, nicht? O,
das hab ich sehr oft mit meinen Schwestern gethan, aber ich konnte es
nicht so gut wie Klara.“

Tom meinte das natürlich nicht, doch fuhr er in seinem Verhöre fort.

„Hast Du je ein Gewehr in der Hand gehabt?“

„Ein wirkliches Gewehr?“

„Natürlich! ich meine kein Knallpistölchen oder einen Besenstiel.“

In Amerika ist nämlich die Jagd ein gar nicht ungewöhnliches Vergnügen
unter den Kindern höherer Stände, selbst wenn sie noch recht jung sind;
das Pensionat Maurach war in der Lage, seinen Zöglingen diese Erholung
gestatten zu können.

„Mit wirklichem Pulver und wirklichem Schrot?“ fragte Percy außer sich;
„o Tom, was fällt Dir ein?“

„Hast Du je gefischt? mit einer wirklichen Angel?“

„Nein; aber ich thäte es gern, wenn ich nur jemanden hätte, der mir den
Wurm an den Haken steckte und nachher den Fisch abnähme.“

„Je eine Kahnfahrt gemacht in einem wirklichen Kahn auf wirklichem
Wasser?“

„O nein, Tom. Mama sagt, die Kähne schlügen sehr leicht um. Sie wollte
mir nie gestatten, in ein Boot zu gehen.“

„Kannst Du schwimmen?“

„Ich habe es ein paarmal in der Badewanne versucht, aber sie war zu
klein. Mama sagt, es sei gefährlich, in tiefes Wasser zu gehen.“

„Die meisten Knaben, Percy, verstehen sich auf all’ diese Künste, wenn
sie noch lange nicht so alt sind wie Du.“

„Das ist mir neu, Tom! wirklich!“

„Zeig’ mir doch einmal Deine Hände, Percy. Richtig, das hab’ ich mir
gedacht: so zart, so weich, wie Butter. Jetzt thu’ mir doch einen
Gefallen. Schließ’ Deine Hand recht fest -- so -- noch fester! -- Jetzt
schlag, so stark Du kannst, hier an meinen Arm!“

„Nein, Tom, das werde ich hübsch bleiben lassen. Meinst Du, ich wollte
Dir weh thun?“

„Keine Angst! ich kann’s vertragen. Schlag’ nur kräftig zu!“

Percy erhob seine Hand, als ob ein kleines Mädchen werfen wollte; das
zarte Fäustlein fuhr hernieder, hielt aber plötzlich inne.

„Ich kann es nicht, Tom! ich bring’ es nicht fertig!“

„Versuch’ es noch einmal! Nimm all Deine Kraft zusammen!“ ermunterte
Tom.

Percy schwang also wieder seinen Arm, und weil die Bewegung doch
ziemlich rasch war und sich so plötzlich nicht wollte hemmen lassen,
so berührte er wirklich Toms kräftigen Arm, wenn auch mehr in der Art
einer sanften Liebkosung.

„Pah! Du streichelst mich ja,“ rief Tom mit verstellter
Ernsthaftigkeit; „das thut man hier in Maurach nicht. Noch einmal
probiert! Von solchen Schlägen stirbt ja nicht einmal eine Fliege.“

Percy preßte die Lippen auf einander, nahm alle Kräfte zusammen, die
ihm zu Gebote standen, und um nicht wieder den Mut zu verlieren, schloß
er die Augen. Jetzt endlich traf er mit einer Spur von Wucht Toms Arm.

Ein Schmerzensschrei ertönte, aber derselbe kam nicht von Tom.

„O meine Hand, meine Hand! ich habe mir sehr weh gethan!“

Tom sank auf die Bank nieder und lachte, daß ihm die Thränen in den
Augen standen.

„Percy, Percy!“ rief er, „einen solchen Jungen habe ich mein Lebtag
nicht gesehen! Ha, ha! ich bekomme Leibschmerzen vor Lachen.“

„Wirklich?“ sprach Percy, der nicht recht wußte, was er von sich denken
sollte; „es freut mich nur, daß Du so viel Freude daran hast. -- Ah --
da kommt ~P.~ Middleton,“ fuhr er leise fort. „Das ist ein guter
Mann; ich habe ihn sehr gern.“

Dann zog er mit anmutiger Bewegung den Hut ab und sagte, indem er seine
unnachahmliche Verbeugung machte:

„Guten Tag, ~P.~ Middleton! -- Wie schön das Wetter heute ist,
nicht wahr?“

„Ein sehr angenehmes Wetter,“ erwiderte der Präfekt mit einem
freundlichen Lächeln, ohne seine Verwunderung über die feinen,
altklugen Manieren des neuen Zöglings kundzugeben. „Du warst gleich
weg, Percy, als ich Dir Dein Bett gezeigt hatte; deswegen fand ich
keine Gelegenheit, Dich mit einigen alten Zöglingen bekannt zu machen.
Aber ich sehe, Du weißt Deinen Weg selbst zu finden, und das ist
besser.“

„Knaben habe ich nicht gern, Pater.“

„Nicht? das ist sonderbar. Du bist ja selbst einer.“

„Leider kann ich daran nichts ändern, Pater. Aber Mädchen hab’ ich
lieber.“

„Wirklich?“

„O ja! Meine Schwestern waren viel liebenswürdiger als die Knaben hier.“

„Du kennst noch nicht alle, Percy.“

„Das ist wohl wahr. Aber vor dem Essen kamen einige zu mir, die ganz
entsetzlich roh waren. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn mir
Tom nicht geholfen hätte. Tom ist ein guter Junge, er ist gerade wie
Pankratius.“

Tom, der sich bei der Ankunft des Präfekten erhoben hatte, wurde bei
diesem Lobe purpurrot; kaum gewahrte er den anerkennenden Blick, durch
den sein Vorgesetzter ihm ein neues Lob erteilte.

„Du hast also Fabiola gelesen, Percy?“

„O und wie, Pater! Kein Wort ist mir entgangen. Ich habe das Buch fast
auswendig gelernt. Wie gern ich die heil. Agnes habe! Und ebenso den
Knaben Tarcisius, der lieber sterben als das Allerheiligste den Heiden
überlassen wollte. O, das ist so groß, so heldenmütig, so ideal!“

„Ein merkwürdiger Junge!“ sprach der Präfekt bei sich. „So mädchenhaft
habe ich wirklich noch keinen gesehen; und anderseits, glaub’ ich,
steckt ein herrlicher Charakter in ihm. Allerdings muß er sich noch gut
entwickeln. Doch ist dazu die beste Hoffnung vorhanden.“

Mit ein paar muntern Worten verließ er sie.

„Gott sei Dank!“ dachte er. „Er muß manches annehmen, was ihm noch
fehlt. Aber ohne Zweifel wird er auch vielen seiner Mitzöglinge etwas
geben, was ihnen sehr not thut.“

Indessen erschien Harry mit Joseph Whyte und Willy Hodder. Nachdem
beide die peinliche Ceremonie des Vorstellens überstanden und ebenfalls
an Percys eleganter Verbeugung sich ergötzt hatten, begann eine
Unterhaltung über dies und das, bis endlich Tom den Vorschlag machte,
Percy möge eine Geschichte erzählen.

Ohne Zaudern begann dieser die Geschichte ‚Liebet eure Feinde.‘
Er sprach flüssig und lebendig und verwendete Wörter, die einem
Durchschnittsjungen die Kinnladen verrenkt haben würden; die Erzählung,
der Erzähler, sein lebhaftes Mienenspiel, Ton und Abwechslung der
Stimme, die wohlangebrachten Bewegungen der Hände, das alles war den
Zuhörern so neu, so ungeahnt, so bezaubernd, daß sie ohne Unterlaß in
stummer Verwunderung einander anblickten und ihnen die Zeit im Fluge
verstrich. Ehe sie es dachten, erklang die Schelle und rief sie an ihre
Studierpulte. Aber in dieser halben Stunde hatte der seltsame Neuling
ihre Herzen gewonnen: sie wollten ihm Freunde sein und bleiben.

Am Abend dieses Tages stand ~P.~ Middleton im Schlafsaal bei einer
Lampe und las; die meisten Zöglinge hatten sich schon zur Ruhe gelegt,
nur hie und da regte sich noch ein Säumiger.

Auf einmal unterbrach eine silberhelle Stimme das Schweigen.

„Löschen Sie das Licht nur aus, Pater, ich bin schon im Bett.“

~P.~ Middleton ließ seine Augen durch den Saal gleiten und ging
langsam an das andere Ende desselben. Kein Lachen war zu vernehmen,
doch ein verstohlenes Kichern vermochte mancher fröhliche Knirps nicht
ganz zu unterdrücken.

Percy aber, durch den Klang seiner eigenen Stimme erschreckt, drückte
die Augen fest zu und vergrub den Lockenkopf tief in Kissen und Decken.
Ihm kam nicht im entferntesten zum Bewußtsein, daß er etwas gethan
habe, was gegen die Ordnung sei. Sehr bald war das unschuldige Kind
friedlich entschlummert, jene heiligen Namen auf den Lippen, die
seine zärtliche, fromme Mutter dem einschlafenden Liebling so oft
vorgesprochen und ihn sprechen gelehrt hatte.

[Illustration]




[Illustration]




3. Kapitel.

Die gelbseidene Krawatte und Ähnliches.


Am folgenden Morgen, kurz nach halb sechs, wurde es im Waschsaal
der Kleinen lebendig. Immer mehr Zöglinge kamen aus dem Schlafsaal,
einige noch recht schläfrig, und begaben sich an ihre Waschtische. Sie
sprachen nicht miteinander, aber das Klappern der Becken, das Sprudeln
und Plätschern des Wassers, das Geräusch der Bürsten, das scheinbar
ordnungslose Hin- und Hergehen von hundert Knaben, -- das mußte in
jedem fremden Zuschauer den Eindruck eines recht frischen, geschäftigen
Treibens hervorrufen.

Als daher Percy dieses Schauspieles ansichtig wurde, blieb er
überrascht in der Thüre stehen. Da zogen einige gerade die Jacken aus
oder an, oder streiften die Hemdsärmel empor, oder seiften ihre Köpfe
ein, daß sie aussahen wie riesige Schneebälle, oder waren mit Kämmen
oder Zähneputzen, oder mit Schuhwichsen oder Reinigen ihrer Kleider
beschäftigt -- und das alles Knaben, Knaben -- nichts als Knaben,
in allen Zuständen unfertiger Toilette, in jeder Art von Bewegung
und Stellung. Es bedurfte einiger Augenblicke, bis Percy sich in
diesem neuen, für ihn ungewohnten Anblicke zurechtgefunden hatte,
und vielleicht hätte er noch länger dort gestanden, wenn nicht ein
paar andere Knaben, die ihm folgten, ihn einfach in den belebten Saal
hineingedrängt hätten.

In Toilettesachen war Percy vollständig zu Hause. Er füllte also jetzt
sein Waschbecken, und besorgte das wichtige Geschäft des Waschens
samt allem, was dazu gehört, mit der Gewandtheit eines Kundigen. Bald
war die Krawatte an der Reihe. Da schaute er suchend durch den ganzen
Saal und entdeckte auch schnell seinen Freund Tom, der schon fertig
dastand, und sich nur noch bemühte, ein wenig beißender Seife aus dem
Augenwinkel zu entfernen.

„Guten Morgen, Tom!“ grüßte er mit lauter Stimme, als er bei ihm war.
„Aber wie nachlässig und verlaufen Du aussiehst! Du kannst Dich ja
nicht einmal ordentlich kämmen. Reich’ mir einmal Deinen Kamm her!“

In der nächsten Umgebung entstand ein freudiges Gekicher, und Tom, der
endlich sein Auge von der Seife befreit hatte, reichte ihm lächelnd
Kamm und Haarbürste.

„Dein Haar macht sich nicht gut, Tom, wenn Du es so flach kämmst; ich
will es etwas aufbauschen. -- Still halten, Schlingelchen! -- So, jetzt
sieh in den Spiegel! Ist das nicht viel schöner? -- Aber, Tom, da
hast Du ja wieder dieselbe Krawatte, die mir gestern schon gar nicht
gefallen hat. Wer trägt denn eine blaue Krawatte zu einer blauen Jacke!
Das sticht ja gar nicht ab! -- Warte ein Bißchen!“

Percy trat einen Schritt zurück und schaute ihn prüfend an.

„Gewiß! Gelb ist gut! das paßt zum Blau. Tom, ich habe eine prächtige
gelbseidene Krawatte; die will ich Dir schenken.“

Da hörte er plötzlich leise seinen Namen rufen, wandte sich um und sah,
daß ~P.~ Middleton, den Finger auf die Lippen legend, ganz nahe
stand und ihn warnend anschaute.

„O, ich bitte um Verzeihung, Pater, daß ich so laut gesprochen. Ich
habe mich ganz vergessen. Ich wollte Tom nur ein wenig helfen!“

Er eilte an seinen Waschtisch und kam bald mit der gerühmten Krawatte
zurück, die er mit Kennermiene um Toms Hals legte.

„Ich knüpfe sie Dir in einen Schmetterling, das nimmt sich herrlich
aus. -- Ah“ -- flüsterte er dann, mit der Begeisterung eines Künstlers
sein Werk betrachtend; „sehr gut! vortrefflich! da sieh in den Spiegel
-- nicht wahr? -- Jetzt binde mir meine Krawatte, aber auch in einen
Schmetterling, die andern Knoten erregen stets mein Mißfallen.“

„Percy, das bringe ich nicht zu stande!“ sprach Tom, etwas beschämt,
daß er dem guten Percy die Bitte nicht erfüllen könne.

„Was? Du kannst keinen Schmetterlingsknoten machen?“

„Nein, Percy; ich habe ja keine Schwestern, die es mich hätten lehren
können.“

„Ah so, das ist wahr. -- Ich will zu ~P.~ Middleton gehen; ich
glaube, er thut es, er ist so freundlich.“

Ehe Tom Einsprache erheben oder sein Staunen ausdrücken konnte, schritt
Percy schon eilfertig zu ~P.~ Middleton hinüber.

„Wollen Sie nicht so gut sein, Pater, mir meine Krawatte zu binden? Ich
kann es nicht selbst; meine Schwester Maria hat es mir immer gethan.
Jetzt bat ich Tom, aber er sagte, er könnte es nicht.“

Verwundert über das sonderbare Ansinnen, nahm der Pater die Krawatte
und schickte sich an, sie um Percys Hals zu legen und zu binden.

„Aber bitte, Pater, in einen Schmetterling!“

Der Pater gab sich redlich Mühe, Percys Bitte zu erfüllen, allein
ein rechter Schmetterling kam doch nicht zustande. Percy entging das
keineswegs, aber in seiner feinen, rücksichtsvollen Art that er, als ob
alles ganz nach Wunsch geschehen wäre.

„Danke sehr, Pater! Ich werde Ihnen hoffentlich nicht wieder lästig
fallen müssen. Ich will heute Tom zeigen, wie man es macht.“

Und mit seinem eleganten Knicks entfernte sich Percy.

Es folgte sogleich die Messe, während welcher Percy durch seine
Andacht und ehrfurchtsvolle Haltung alle Nachbarn erbaute. Er hatte
ein prächtiges Gebetbuch mit Samteinband und Silberbeschlägen, und
an der Art, mit der er es benutzte, sah man, daß der Gebrauch eines
Gebetbuches ihm durchaus nicht neu war.

Nach dem Frühstück rief Percy seine Bekannten Tom, Harry, Willy und
Joseph zusammen.

„Ich habe etwas für Euch,“ sagte er, geheimnisvoll lächelnd, und bat
sie, ihn in den Raum zu begleiten, wo sein Reisekoffer noch stand.

Er entnahm dem Koffer ein wohlduftendes Kästchen, öffnete es und
entfaltete vor ihren bewundernden Blicken eine reiche Auswahl
Photographien, welche die Merkwürdigkeiten seiner Vaterstadt Baltimore
darstellten.

„Da, nehmt!“ sprach er mit strahlendem Gesicht; „jeder, was ihm am
besten gefällt!“

Tom lehnte aber entschieden ab.

„Du bist nicht nach Maurach gekommen,“ sprach er, „um von uns
ausgeplündert zu werden.“

Percy erschrak anfangs über diese rauhe Weigerung; doch wiederholte
er seine Bitte mit so liebenswürdiger Zudringlichkeit, versicherte so
ernsthaft, man könne ihm kein größeres Vergnügen machen als durch die
Annahme seines Geschenkes, daß ihm alle willfahrten und sich ein Gabe
auswählten.

[Illustration]




[Illustration]




4. Kapitel.

Spielplatz und Schule.


„Aber jetzt ist die Reihe an uns,“ sprach Tom; „kommt in den Hof, wir
wollen Percy gleich ein paar Kunststücke lehren.“

Gern folgten alle dieser Aufforderung.

„Nun, Percy, stell’ Dich einmal hierhin, spreize die Beine auseinander,
daß Du fest stehst, stütze die Hände auf die Kniee, so wie ich es Dir
zeige, und beuge den Kopf so, daß Dein Kinn die Brust berührt!“

Percy gehorchte.

„Jetzt sicher gestanden, sonst purzelst Du!“

„Was willst Du denn machen, Tom?“

„Nur vor Dich sehen, Percy!“

Bei diesen Worten hatte sich Tom ein paar Schritte nach hinten
entfernt, nahm einen Anlauf und sprang, mit den Händen sich leicht auf
Percys Schulter stützend, über ihn weg.

Der verblüffte Percy wankte und schwankte, und als er das Gleichgewicht
wiedergewonnen, fragte er besorgt:

„Du hast Dir doch nicht weh gethan, Tom?“

Tom schien die Frage nicht zu hören.

„Jetzt spring Du so über mich!“

„O, Tom, nein! das geht nicht.“

„Probieren, Percy!“

„O, ich falle ganz sicher auf den Kopf und beschmutze meine Kleider;
und dann,“ sagte er lächelnd, „könnten mir ja auch die Gedanken aus dem
Gehirn rollen.“

„Nur vorwärts!“ drängte Harry. „Hier Joseph und ich stehen auf beiden
Seiten und wir fassen Dich, wenn Du fallen willst.“

Tom hatte sich schon zurechtgestellt.

„O, das ist mir aber viel zu hoch,“ erklärte Percy.

„Gut, ich will mich niedriger machen.“

Und Tom kauerte sich so tief zusammen, daß er kaum noch die Höhe eines
Stuhles hatte.

„Jetzt will ich es also wagen!“

Percy ging etwa fünfzig Schritte weit zurück, nahm einen Anlauf, und
mit Aufbietung aller Körper- und Willenskraft machte er den ersten
Bocksprung in seinem Leben, und zwar ohne zu fallen, und ohne daß ihm
seine Gedanken aus dem Gehirn rollten.

„O, das ist herrlich!“ jubelte er, „das muß ich gleich noch einmal
thun!“

„Bravo, Percy, bravo!“ riefen die Freunde. Durch ihre ermunternden
Worte noch mehr angespornt, machte Percy den Sprung wieder und wieder,
bis er fast außer Atem war. Die Freude über seinen Erfolg und das
Bewußtsein, auch andere froh zu machen, ließ ihn kaum ein Ende finden.

Das Bockspringen war für ihn wie eine Offenbarung; es erschloß ihm mit
einem Male eine neue Welt von ganz ungeahnten Möglichkeiten.

„Sind die Knabenspiele alle so schön?“ war seine erste Frage, als er
endlich wieder zu Atem gekommen.

„O, das war ja noch gar nichts!“ sprach Joseph Whyte; „alle andern sind
viel schöner.“

„Ja“ sagte Willy, „das Bockspringen thun wir nur, wenn wir für die
andern Spiele keine Zeit haben. Aber Du solltest erst einmal Handball
sehen!“

„Und Fußball!“ fuhr Harry fort.

„Und von allen das schönste,“ schloß Tom, „ist der Ziellauf. Der ist
fein! Er ist besser als alle andern zusammengenommen.“

„Was ihr nicht sagt! Jetzt bin ich doch froh, daß ich ein Junge bin!“

„Sehr richtig, Percy,“ versicherte Tom, „und gieb nur acht, Du wirst
Dich immer mehr darüber freuen, je länger Du hier bist.“

Percy wurde jetzt plötzlich abgerufen. Der Studienpräfekt, der in
Maurach den gesamten Unterricht zu leiten hatte, wollte ihn examinieren
und ihm seine Klasse anweisen.

Bald erfuhren dann Tom und Harry zu ihrer größten Freude, daß Percy
ihr Mitschüler in ~P.~ Middletons Klasse sei. Diese Klasse setzte
zwar schon einiges Latein voraus, und Percys Kenntnisse waren in diesem
Punkte recht dürftig. Allerdings hatte sein Privatlehrer, sobald es
feststand, daß Percy in eine klassische Schule eintreten solle, den
Lateinunterricht begonnen; jedoch gestattete ihm die kurze Zeit nicht
mehr als eine fast rein mechanische Einübung der Deklinationen.
Da sein begabter Schüler die Grammatik der Muttersprache sehr gut
beherrschte, so glaubte er, im Laufe eines geregelten Unterrichtes
werde sich das, was am vollen Verständnis noch fehlte, nach und nach
ergänzen, falls man nicht vorziehen werde, ihn ganz von vorn anfangen
zu lassen.

Dieser letzte Fall trat nicht ein. Da Percy in allen übrigen Fächern
der Klasse weit voraus war, so ließ sich bei seinen Talenten erwarten,
daß die große Lücke sehr bald ausgefüllt sein werde, eine Hoffnung, die
der gewissenhafte, fleißige Knabe glänzend rechtfertigte.

Zehn Minuten später begab sich denn Percy zum ersten Male in eine
Schule. Da fand er aber alles ganz anders als daheim im trauten
Familienzimmer, bei Mutter und Schwestern. Er merkte gar nicht, daß
~P.~ Middleton, als alle Schüler an ihren Plätzen waren, eine
leichte Handbewegung machte, und wunderte sich, warum plötzlich alle
wie auf Kommando emporschnellten, eine andächtige Stellung einnahmen
und auf den Professor schauten. Zwar sah er gleich, was geschehen
sollte, geriet aber in neue Verwunderung, als die ganze Klasse mit
frischer Stimme anhub:

„~In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.~“

Dann folgte ebenso frisch und doch andächtig das ~Pater noster~,
~Ave Maria~, ~Gloria Patri~ und wieder das Kreuzzeichen.

Percy bekam eine nicht geringe Achtung vor der Gelehrsamkeit seiner
Mitschüler. Aber er selbst sollte und wollte ja auch Latein lernen.

Einen Augenblick nach dem Gebet saßen alle schon wieder ruhig; kein
Buch, kein Bleistift oder Federhalter war auf den Tischen zu sehen, nur
die Hände.

Ein Wink von ~P.~ Middleton, und Playfair stand auf.

  „~Seco~, ~secare~, ~secui~, ~sectum~, aber
  ~secaturus~, ich schneide.

  ~Reseco~, ~resecare~, ~resecui~, ~resectum~, aber
  ~resecaturus~, ich schneide ab.

  ~Disseco~, ~dissecare~, ~dissecui~, ~dissectum~,
  aber ~dissecaturus~, ich schneide auseinander.

  ~Frico~, ~fricare~, ~fricui~, ~frictum~ oder
  ~fricatum~, ich reibe.“

So folgten ohne Stocken die zwölf Verba, welche aufgegeben waren. Auch
zwei andere Schüler sagten sie mit derselben Geläufigkeit aus. Ein
folgender blieb stecken, und Percy wunderte sich, daß derselbe sich so
beschämt setzte, während ~P.~ Middleton mit ernster Miene einen
Strich in sein Notizbuch machte.

Percy wußte natürlich nicht, was dieses krause Wortgewirre bedeute.
Aber bald zeigte ihm sein Nachbar, wo die Verba in der Grammatik
standen. Dann mußte auch einmal ein Schüler die Perfekta allein
aufsagen: ~secui~, ich habe geschnitten, u. s. w. Percys lebendiger
Geist erfaßte das schnell.

In gleicher Weise wurde aufgesagt: ~secaturus~, einer der schneiden
will, ~resecaturus~ u. s. w., und nachdem Percy auch während der Kreuz-
und Querfragen, durch die ~P.~ Middleton jetzt die Formen einübte, das
eine oder andere glücklich erwischt hatte, glaubte er sich schmeicheln
zu dürfen, er sei in dieser Viertelstunde schon um ein Erkleckliches
gescheiter geworden.

Mit besonderer Freude erfüllte es ihn, zu erfahren, wie einige Wörter
seiner englischen Muttersprache, die er schon oft gehört und gebraucht,
sich einfach auf ein lateinisches Stammwort zurückführten, z. B.
~sect~, (Sekte), ~dissect~ (secieren).

Als dann ~P.~ Middleton das Wort ~vivisection~ in seine Teile zerlegen
ließ und ein Schüler mit frischer Stimme erklärte, ~vivus~ heiße
‚lebendig‘ und ~sectio~ komme von ~seco~, da begriff Percy nicht nur,
daß dieses Wort ‚bei lebendigem Leibe zerschneiden‘ bedeute, sondern
sah auch freudig ein, wie die vielen englischen Wörter, die mit ~vivi~
anfangen, alle mit der Bedeutung ‚Leben‘ zusammenhängen müssen.

„Ah, das Latein ist doch schön,“ dachte er, „und auch nicht so
besonders schwer!“

Frohen Mutes nahm er mit den andern sein Übungsbuch und ließ sich
zeigen, wo man stand. Aber da hatte er sich getäuscht. Da mußte er mehr
wissen, als zwölf Verba und die Deklinationen und ein paar Formen der
Konjugation. Schon drei Sätze waren übersetzt und erklärt, bevor er aus
dem ersten Worte klug geworden. Wohl faßte er noch das eine oder andere
Wort, aber warum die Endungen so häufig wechselten, wenn der Schüler es
während der Erklärungen nannte, das war ihm fast immer ein Rätsel. Sehr
bald streckte er die Waffen und hörte ein paar Minuten geduldig zu.

Endlich sprach er, -- natürlich ohne aufgerufen zu sein, -- mit lauter
Stimme:

„Meinen Sie nicht, ~P.~ Middleton, das Lateinlernen sei für den
Anfänger mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden?“

Die Schüler waren zu sehr überrascht, als daß sie gelacht hätten.

„Es ist wirklich am Anfange nicht leicht,“ sprach ~P.~ Middleton
freundlich, ohne in seinen Mienen den geringsten Tadel zu äußern. „Du
kennst ja das Sprichwort: Aller Anfang ist schwer. Aber je mehr man
lernt, um so mehr versteht man; so wird es immer leichter, und man thut
es zugleich immer lieber.“

„Ich glaube das wohl,“ sagte Percy, nicht anders, als wenn er daheim
mit Mutter und Schwestern spräche. „Ich habe es im Englischen selbst
schon erfahren. Im Anfange las ich nicht gern, weil ich es nicht gut
konnte; aber ich habe mich überwunden, und jetzt thue ich nichts lieber
als lesen. -- Pater, bitte, erzählen Sie uns jetzt eine Geschichte!“

Da erschallte ein brausendes, allgemeines Gelächter. ~P.~
Middleton schmunzelte und rief, als wäre nichts geschehen, einen andern
Schüler zum Übersetzen des nächsten Satzes auf.

Dieser Klasse gehörten auch Kenny und Prescott an, deren Aufmerksamkeit
jetzt wieder auf den guten Percy gelenkt war.

„O, was für ein einfältiges Kindlein!“ sprach Kenny, als er sich nach
der Schule mit Prescott allein fand. „Den hatte sicher seine Mutter
immer am Schürzenband.“

„Ja, ja!“ bestätigte der saubere Freund; „aber um so besser! Wir
wollen noch manchen Spaß an ihm haben. Der ist uns ein gefundenes
Fressen!“

Jetzt folgte eine heimliche Unterredung.

„O, das ist herrlich!“ rief endlich Prescott halblaut. „Ein köstlicher
Witz! so viel wert wie die beste Cigarre. Und verlaß Dich darauf, Du
sollst ein ganz greuliches Gespenst werden; Du kriegst ein wahres
Teufelsgesicht mit roten Augen.“

„Ja, Prescott, ich berste schon vor Freude, wenn ich mir vorstelle, wie
das Mädchen in Todesangst gerät.“

„Und ich gehe hinter Dir her, damit ich sein Jammergesicht auch
bewundern kann.“

Während alles dessen war derjenige, dem der Anschlag galt, in Frieden
und Heiterkeit beschäftigt, die neue Welt der Knabenspiele noch weiter
zu erforschen.

Zunächst zeigte ihm Tom einen Ziellauf-Ball.

„Sieh mal hier, Percy, kennst Du so ein Ding?“

„Hu, wie hart!“ rief Percy, indem er den Lederball mit seinen
butterweichen Fingerchen vorsichtig berührte; „der ist ja gerade wie
ein Stein!“

„Ich möchte Dich nun lehren, solche Bälle zu schnappen.“

„Ich solche Bälle schnappen? Nein Tom, das geht nicht. Ich kann nur
ganz schöne, weiche Bälle schnappen. O, das hab’ ich oft mit meinen
Schwestern gethan! Aber mit diesem verderbe ich mir ja die Finger, und
dann kann ich nicht mehr Piano spielen.“

„Ei, Percy, kannst Du auch Piano spielen?“

„O, das thu’ ich so gern; und singen kann ich, Tom.“

„Percy, Du kannst alles, was ich nicht kann, und nichts, was ich kann.“

„Das hab’ ich eben von meinen Schwestern lernen können,“ sprach Percy
lachend und warf das lange Haar zurück.

„Aber jetzt, Percy, mußt Du diesen Ball schnappen lernen.“

„Das geht ja gar nicht, Tom; ich könnte geradeso gut eine Kanonenkugel
schnappen.“

„Es ist gar nicht so schwer. Ich will es Dir zuerst zeigen. Nimm Du den
Ball und geh’ bis an den Baum dort. Dann wirfst Du auf mich, so stark
Du kannst, und siehst zu, wie ich das Schnappen mache.“

„Aber wenn ich Dir weh thäte, Tom?“

„Keine Angst! ich will mich schon in acht nehmen. Und wenn Du doch all
zu stark werfen solltest“ -- hier hielt Tom inne, um ein Lachen zu
unterdrücken -- „so ducke ich mich schnell, daß der Ball über mich weg
fliegt.“

„Aber so weit habe ich noch nie geworfen, Tom.“

„Dann versuch’ es jetzt einmal. Wenn Du Dich recht anstrengst, wird es
Dir schon gelingen.“

Percy nahm den Ball und ging mit dem festen Entschlusse, recht stark zu
werfen, an den bezeichneten Platz.

Dort schwang er den Ball ein paar Mal herum und ließ ihn dann aufs
Geratewohl fahren. Nicht ohne Grund zitterte er für die Folgen;
denn anstatt gegen Tom, nahm der Ball seinen Weg in der ganz
entgegengesetzten Richtung, wo eben ein größerer Zögling dieses Hofes,
Johann Donnel, mit gespannter Aufmerksamkeit einem Handballspiele
zusah. Der Ball würde ihn ins Gesicht getroffen haben, aber Tom hatte
noch Zeit zu rufen: „Donnel, Dein Kopf!“ und so erhielt er den Ball an
den Hinterkopf.

„Au!“ rief er, etwas überrascht, aber sein Erstaunen wuchs, als er den
kleinen goldlockigen Neuling laut jammernd auf sich zueilen sah.

„O, Du armer Junge!“ rief Percy, und die Thränen standen ihm in den
blauen Augen. „Ich habe Dir sicher sehr weh gethan. Aber ich konnte
nichts dafür, nicht wahr, Tom? Ich habe es ganz gewiß nicht mit Absicht
gethan. O, ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ich finde gar keine
Worte, um auszudrücken, wie leid es mir thut!“

Diese mitleidsvollen, aus innerstem Herzen quellenden Worte und das
tief betrübte Gesicht des Kleinen waren für Donnel erst recht etwas
Unerklärliches.

„Jawohl,“ sagte er mit einem recht bärbeißigen Gesicht. „Du hast mich
beinahe tödlich verwundet. Jetzt solltest Du mich wenigstens zum
Krankenbruder bringen!“

„O Tom, bitte, hilf mir! ich kann es nicht allein. Du faßt ihn bei den
Füßen und ich bei den Schultern. O, was hab’ ich gethan! was hab’ ich
gethan! O Verzeihung, Vergebung für meine Unvorsichtigkeit!“ Und Percy
begann laut zu schluchzen.

„Du armes Würmchen!“ lachte jetzt Donnel; „meinst Du wirklich, Du
hättest mir weh gethan? Das war ja kaum ein Mückenstich. Weil Du es
aber durchaus willst, so verzeihe ich Dir auch noch großartig. Und wenn
Du in Zukunft Spaß daran hast, so komm’ und wirf mich, wo Du mich nur
treffen kannst.“

„Du brauchst dabei nicht zu fürchten, Hans,“ sprach Tom, „er werde Dich
treffen. Denn wenn er auf Dich zielt, wirft er sicher an Dir vorbei; er
trifft nur die, auf welche er nicht zielt.“

Da ging in Percys Herzen wieder die Sonne auf. Halb verlegen flüsterte
er:

„Stelle mich vor, Tom, bitte!“

„Gern. Johann Donnel, das ist Percy Wynn!“

In gewohnter Weise machte Percy seinen artigen Knicks und versicherte,
er sei entzückt Donnels Bekanntschaft zu machen.

Donnel fand an dem seltsamen Menschenkind Gefallen. Er war nicht
nur der größte Zögling des kleinen Hofes, sondern zugleich der
freundlichste und umgänglichste, und die ganz Kleinen nannten ihn wegen
seiner Herzensgüte den ‚Großpapa‘.

Sofort erriet er, was Tom mit Percy vorhabe, und unterstützte dessen
Bestreben, aus Percy einen rechten Jungen zu machen, gleich praktisch,
indem er Percy eine Lehrstunde im Werfen gab.

Unter seiner geschickten Leitung war Percy denn auch bald so weit
vorgeschritten, daß wenigstens die umsichtigen Zuschauer vor seinen
Würfen einigermaßen sicher waren.

„Morgen fühlst Du nun Deinen Arm etwas steif,“ sprach Tom, als es Zeit
war aufzuhören; „aber sei deshalb nicht besorgt; das passiert jedem,
der das Werfen noch nicht gewohnt ist.“

Der Abend kam, und müde von den Strapazen seines ersten Pensionatstages
fiel Percy in Schlaf, sobald sein Kopf das Kissen berührte.

[Illustration]




[Illustration]




5. Kapitel.

Das Gespenst.


Etwa zwei Stunden mochte Percy geschlafen haben, da erwachte er und
richtete sich schlaftrunken auf, ohne die Augen zu öffnen. Es war ihm,
als hätte jemand seine Füße berührt, aber er wußte nicht recht, ob es
vielleicht bloß Täuschung sei.

Schon legte er sich nieder, um wieder einzuschlummern, als ihn ein
leises, aber ganz schaurig klingendes Brüllen zu vollem Bewußtsein
brachte. Hastig die Augen aufschlagend gewahrte er neben dem Fußende
seines Bettes eine fürchterliche Gestalt, ganz weiß, das Gesicht so
lang wie Percys Arm und aschgrau, mit roten Augen und schwarzen Runzeln
und Furchen; über den Kopf war ein blutigrotes Tuch geworfen, und ein
geisterhafter Schein leuchtete um Kopf und Gesicht.

Karl Kenny, -- denn niemand anders war das Gespenst, -- und Prescott,
der im Hintergrunde verborgen stand, hatten mit Schadenfreude auf
Percys Entsetzen gewartet, und sich schon an dem Gedanken geweidet, wie
der furchtsame Knabe erblassen und vor Schrecken kaum wagen werde einen
Angstruf auszustoßen. Sobald Kenny jetzt Percy die Augen öffnen sah,
stöhnte er noch einmal geisterhaft tief.

Aber was war das? dieses wohlklingende, silberhelle Lachen, kam das von
Percy?

Noch einmal ließ Kenny ein grausiges Brummen erschallen.

„Ha, ha, ha! o das ist herrlich! das ist lustiger als eine Maskerade!
ein unbezahlbarer Scherz!“

Percy lachte, so fröhlich er nur konnte, und klatschte mit
ungekünstelter Freude in die Hände.

Kinder schlafen fest, und so war es nicht zu verwundern, daß erst jetzt
Percys nächste Nachbarn erwachten, vor allem Harry Quip, dessen Bett
unmittelbar neben demjenigen Percys stand.

Der sah aber die Geistererscheinung mit ganz andern Augen an als
der kindliche Percy. Auf der Stelle durchschaute er, daß irgend ein
gewissenloser Junge seinen schüchternen Freund habe in Angst jagen
wollen.

Im Nu stand er kampfbereit vor seinem Bette, stürzte sich auf den
Spuk, der ganz gegen die Art anderer Spüke schon bei seiner Annäherung
merklich zusammenfuhr, und schlug den verblüfften Kenny mit leichter
Mühe zu Boden. Der Helfershelfer Prescott aber entwischte feige, um
nicht entdeckt zu werden.

Kenny hatte sich nun zwar gut überlegt, wie er wieder in sein Bett
schlüpfen wolle, bevor Percys erwarteter Angstruf den Pater geweckt
habe. Allein Percys Lachen hatte ihn schon in Verwirrung gebracht, und
auf einen Überfall von Seite eines Dritten war er erst recht nicht
gefaßt; daß er gar zu Boden fallen könne, hatte er am allerwenigsten
bedacht.

Sein entsetzliches Gesicht war nun aber nichts weiter, als eine
große durchscheinende Papiermaske, mittelst einer Kerze, die auf dem
Kopfe befestigt war, von innen erleuchtet. Sobald er deshalb fiel,
entzündete die Kerze sofort das Papier, und auch die übrigen Teile des
Geisterputzes fingen Feuer.

„Hilfe! Hilfe!“ schrie der Geist, so laut er konnte; „ich verbrenne,
ich verbrenne!“

Da wurde der ganze Schlafsaal wach.

„Wasser! Wasser! -- Ruft den Pater!“ -- „Ein Priester!“ riefen die
Kleinen verwirrt durcheinander.

Einige glaubten sich schon in Todesgefahr und erweckten laut einen
Akt der vollkommenen Reue, wie sie es im Religionsunterrichte gelernt
hatten. Das war sehr schön, insofern es ihren vernünftigen, frommen
Sinn zeigte; aber in ihrer kindlichen Furcht hatten sie die Gefahr
überschätzt.

~P.~ Middleton, der zwar wie alle gesunden Leute nach hartem
Tagewerk einen festen Schlaf hatte, war doch schon früher erwacht
und näherte sich bereits eilig, aber voll Ruhe, der Stelle, wo der
brennende Spuk auf dem Boden lag.

Allein Tom Playfair war ihm zuvorgekommen; mit all seinen Bettdecken
stürzte er sich auf Kenny, und entwickelte einen solchen Eifer im
Ersticken des Feuers, daß das arme Gespenst beinahe mit erstickt wäre.

Kenny mußte in die Infirmerie geschickt werden. Zwar war er nicht
erheblich verletzt, allein seine Haare waren versengt und stellenweise
war auch die Haut verbrannt. Auch ohne die nachdrückliche Strafe, die
ihm später zu teil wurde, wäre er nie wieder in Versuchung gekommen,
eine Geisterrolle zu spielen.

Der Schlaf, der so große Macht über die sorglose Kindheit hat,
stellte sehr bald die Ruhe wieder her, und friedlich schlummerte die
aufgeschreckte Jugend dem Morgen entgegen.

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6. Kapitel.

Nachwehen.


Es war am Morgen nach der Geistererscheinung; die meisten Zöglinge
waren mit Waschen und Ankleiden schon ganz fertig. Da hinkte eine
kleine Jammergestalt schmerzlich die Treppe hinab.

„O ~P.~ Middleton,“ sprach Percy und stand da wie ein Häuflein
Unglück; „ich bin sehr krank. Sehe ich nicht unwohl aus?“

„Dein Gesicht hat seine gewöhnliche Farbe, Percy; aber Du scheinst
etwas lahm zu sein. Wo fühlst Du denn Schmerzen?“

„O, überall, Pater.“

„Hat Dir der Spuk etwas zu leide gethan?“

„O, gar nichts, Pater! -- Hat denn der arme Junge wirklich einen Geist
spielen wollen? Ich glaubte, er wolle mich bloß zum Lachen bringen; es
sah so köstlich aus. Ich habe nicht die geringste Furcht empfunden.“

„Wo thut’s Dir denn besonders weh?“

„Meine Beine sind so steif, daß ich sie kaum bewegen kann, und mein
rechter Arm schmerzt mich schrecklich.“

„Ah, jetzt weiß ich, was Dir fehlt. Du hast wohl gestern viel gespielt,
nicht wahr!“

„Freilich, Pater, so viel wie noch nie in meinem ganzen Leben.“

„Davon kommt dein ganzes Unwohlsein, Percy; es vergeht von selbst
wieder, wenn Du Dich nur einen oder zwei Tage ruhig hältst. Heute
scheint es nun außergewöhnlich stark zu sein. Deshalb will ich Dir
dieses Mal erlauben, noch etwas zu schlafen. Geh’ nur wieder hinauf und
leg’ Dich zu Bett; Tom Playfair soll Dich wecken, wenn es Zeit ist.“

„Ich danke Ihnen sehr, Pater. Ich bin so müde, ich glaube, ich könnte
eine ganze Woche schlafen. -- Pater, ist das wirklich wahr, was alle
Zöglinge sagen, daß ich aussehe wie ein Mädchen?“

„In einigen Punkten ja,“ erwiderte der Pater, den die unerwartete,
seltsame Frage überrumpelt hatte.

„Das habe ich mir auch gedacht,“ sprach Percy, durch die Antwort
keineswegs betroffen. „Tom Playfair sagt es ebenfalls, und er ist doch
so gut gegen mich. Ist es denn wirklich etwas so Sonderbares, wie ein
Mädchen auszusehen?“

„Darüber hab’ ich noch nicht nachgedacht,“ antwortete der Pater
lächelnd. „Freilich, wenn einer nicht anders kann, so darf man es ihm
nicht übel nehmen.“

„Aber Sie scheinen es doch als weniger passend zu betrachten. Es kommt
mir auch vor, Pater, als gaffte man mich immer an, gerade wie einen,
der etwas sehr Auffallendes an sich hat. Muß ich vielleicht irgend
etwas ablegen? Ich weiß nicht, was es wohl sein könnte. -- Es ist mir
sehr peinlich, begafft zu werden; Ihnen nicht auch, Pater?“

„Wie könnte mir das angenehm sein, Percy?“

~P.~ Middleton merkte wohl, daß Percy hauptsächlich seines langen
Haares wegen solches Aufsehen erregte; schon wollte er ihm raten, sich
dieses weniger männlichen Schmuckes zu entledigen.

„Allein,“ dachte er, „vielleicht sind gerade diese goldenen Haare
Gegenstand besonderer Freude und Sorgfalt für Mutter und Schwestern
gewesen, und es dürfte dem guten Kinde jetzt noch recht schwer fallen,
sie zu opfern. Später kommt wohl eine schicklichere Gelegenheit.“

So gab er denn zur Antwort:

„Das beste, was ich Dir sagen kann, Percy, ist, daß Du gut spielen
lernst; dadurch bekommt Deine Gestalt von selbst ein kräftigeres,
männlicheres Aussehen und die Zöglinge werden schon aufhören, Dich so
anzuschauen. Jetzt leg’ Dich zu Ruhe; später können wir ja noch einmal
darüber sprechen.“

„Ich danke Ihnen sehr, Pater,“ entgegnete Percy erfreut. Aber zu seinem
gewöhnlichen eleganten Knicks wollten sich die gelähmten Glieder nicht
verstehen; nach einem vergeblichen Versuche stieg er unter manchem
Schmerzensseufzer wieder die Treppe hinauf.

Als Tom ihn weckte, fühlte er sich bedeutend wohler, doch war die
Steifheit noch geblieben, so daß er gar nicht daran denken konnte,
heute wieder zu spielen.

„Du liest ja so gern, Percy,“ sprach deshalb Tom zu ihm nach dem
Frühstück. „Nimm Dir also ein Buch und setz’ Dich ruhig dort hinten auf
die Bank; ich komme von Zeit zu Zeit und spreche etwas mit Dir, damit
es Dir nicht zu langweilig wird.“

„O Tom, bitte, leg’ Dir meinetwegen keine Unannehmlichkeit auf. Wenn
ich ein interessantes Buch habe, bin ich ganz selig. Und jetzt habe
ich gerade ein sehr interessantes: ‚Dion und die Sibyllen‘. Mama sagt,
es gehöre zu den besten katholischen Romanen, die in unserer Sprache
geschrieben sind.“

„Schön, Percy. Also lies! Ich wollte, ich könnte es so wie Du. Aber
ich finde die meisten Bücher langweilig. Ich habe fast noch gar nichts
gelesen, als ein paar Erzählungen.“

Tom fühlte sehr wohl, daß der mädchenhafte Percy an eigentlicher,
nämlich geistiger Reife hoch über ihm stand, und mit einem Seufzer
entfernte er sich, um ein Handballspiel mit Quip, das er unterbrochen
hatte, fortzusetzen.

Percy aber setzte sich seelenvergnügt auf die Bank und war bald tief in
seine Lesung versenkt. Doch sollte er nicht lange ungestört bleiben.

Martin Prescott, der mit Kenny die Geistererscheinung geplant und
ausgeführt hatte, konnte sich Percys Charakter noch immer nicht
reimen. Er hatte gesehen, wie Percy bei unverschämten Fragen errötete,
wie er sich nicht entschließen konnte, über Tom zu springen, wie
er in Aufregung geriet, als er Donnel getroffen; er mußte also der
vollendetste Feigling sein. Und doch hatte er in der Nacht beim Anblick
des Gespenstes nicht die mindeste Furcht gezeigt. Das war Prescott
unerklärlich.

„Ah,“ sagte er endlich zu sich selbst, „er hat sicher von unserm
Vorhaben Kunde gehabt. Da hinten sitzt er gerade, ganz allein. Ich will
ihm doch gleich einmal auf den Zahn fühlen!“

„Guten Morgen, Wynn,“ begann er und suchte freundlich zu lächeln. „Das
ist wohl ein schönes Buch, das Du da liest.“ Mit diesen Worten setzte
er sich neben den rätselhaften Knaben.

Percy schloß das Buch.

„O, ja, ein sehr schönes, ‚Dion und die Sibyllen‘. Kennst Du es schon?“

„Nein.“ -- „Welch alberne Frage!“ war Prescotts erster Gedanke.

„O, Du solltest es lesen. Es ist entzückend. Einige Scenen sind so
lebendig dargestellt, daß man glaubt, man wäre selbst dabei, und sähe
alles mit eigenen Augen. Hast Du schöne Schilderungen nicht auch gern?“

„Jaah -- jah! -- Aber, Wynn, ich höre, Dir ist diese Nacht ein Gespenst
erschienen; ist das wahr?“

Percy lachte wieder voll Heiterkeit.

„O nein, es war nur ein Zögling, der einen Spaß machen wollte. Ich
habe auch herzlich darüber gelacht. Es thäte mir leid, wenn ihm etwas
Schlimmes dafür geschähe. Er hat es sicher nicht böse gemeint.“

„Er hat Dich in Angst setzen wollen,“ erklärte Prescott, der noch immer
nicht begriff, wie Percy die Sache so harmlos auffassen könne.

„O, ganz sicher nicht! Es wäre ja gewissenlos, jemanden zu erschrecken.
Es ist schon vorgekommen, daß Leute auf diese Weise vor Angst schwer
krank geworden oder gar plötzlich gestorben sind. Ich kann nicht
glauben, daß Kenny einer solchen Bosheit fähig ist; er hat ein so
gutmütiges Gesicht. Und dann sagt Tom Playfair auch, Knaben seien
gerade so gut wie Mädchen. Mädchen würden das aber nie thun, das
weiß ich von meinen Schwestern. Die waren immer so gut und liebevoll
gegen mich, obgleich sie mir hie und da auch einen Streich spielten.
Am liebsten that das Maria. Einmal sagte sie mir, ich solle auf mein
Zimmer gehen und meine neuen Schuhe anprobieren. Ich antwortete, ich
hätte ja keine bekommen. Aber sie drängte mich, bis ich endlich ging.
Da lag auf meinem Tische ein großes Blatt Papier, worauf geschrieben
stand:

    Schuhe suchst Du für die Füße,
    Und bist reich verseh’n;
    Doch probier, wie diese Schuhe
    Deinen Händen steh’n;
    Steck’ im Winter Deine Fingerchen,
    Wenn’s Dich friert, in diese Dingerchen.

Als ich dann das Blatt aufhob, sah ich ein Paar schöne
Winterhandschuhe, die Maria mir gekauft hatte. War das nicht fein?“

Aber so unschuldige Scherze konnten auf einen Prescott keinen Reiz mehr
ausüben. „Ein solches Schaf habe ich mein Lebtag nicht gesehen,“ dachte
er bei sich.

„Warst Du denn diese Nacht gar nicht bange, Wynn?“

„Gar nicht! Warum hätte ich mich auch fürchten sollen?“

„Hast Du denn keine Angst vor Gespenstern?“

„Nein, wahrhaftig nicht!“ erwiderte Percy mit herzlicher Überzeugung.
„Ich denke gar nicht an Gespenster. Wenn ich im Bette bin, denk’ ich
immer an Engel.“

„So?“

„Ja, und das ist auch viel vernünftiger. Wir haben alle einen
Schutzengel, das ist sicher; ob es aber irgendwo Gespenster giebt,
wer kann das wissen? Meine Mutter hat mich immer ermahnt, nach dem
Abendgebet nur an Gott und an meinen Schutzengel zu denken, aber nie an
schauerliche Sachen. Ist das nicht ein guter Rat?“

„J--ja,“ war die unsichere Antwort; Prescott merkte, daß ihn Percys
fromme Beredsamkeit ganz aus seinem Fahrwasser brachte.

„O wie gern möchte ich einmal meinen Schutzengel sehen! Er sieht mich
immer und hat mir schon so viel Gutes gethan! Deshalb möchte ich ihn
gar zu gerne auch einmal anschauen dürfen. Nur eines würde mich in
Furcht setzen, wenn er mir erschiene.“

„Was?“ fragte Prescott trocken.

„Die Sünde, die schwere Sünde. Wenn ich eine Todsünde auf dem Gewissen
hätte, würde ich mich fürchten, ihn sichtbar zu erblicken. -- Die Engel
müssen wunderschön sein. Meinst Du nicht auch?“

„Ich denke,“ erwiderte Prescott zögernd.

„O, ich bin überzeugt davon!“ rief Percy voll Begeisterung. „Eines der
schönsten Bücher, die ich kenne, ist das von Faber: ‚Erzählungen über
die Engel‘. Kennst Du es?“

„Nein.“

„O, das mußt Du lesen! Ich habe es mitgebracht und will es Dir gern
leihen. Die Geschichten sind alle so wunderlieblich. Willst Du es
haben? Eine solche Lektüre ist viel besser als Gespenstergeschichten.
Ich glaube, das Buch wird Dir sehr gefallen.“

„So?“ sprach Prescott, stand auf und ging davon, ohne Percys
freundliches Anerbieten auch nur einer Antwort zu würdigen. Welch ein
Einfall, von Engeln zu sprechen! Jetzt betrachtete er Percy erst recht
als einen beschränkten, ja einfältigen Jungen.

Allein da Prescotts Seele nicht minder wie jede andere von Natur
christlich ist, so bleibt die Hoffnung, daß die gute Saat später noch
aufkeimen und Früchte bringen wird.

[Illustration]




[Illustration]




7. Kapitel.

Ein freier Tag.

1. Die Fußtour.


Percys Steifheit war wieder vergangen. Schon längst hatten ihn die
Freunde eingeladen, am nächsten freien Tage mit ihnen einen Ausflug
zu den schönen Seen zu machen, welche, von Waldstreifen umsäumt, in
einiger Entfernung auf der Prärie ihre silbernen Spiegel ausdehnten.
Dort gedachten sie sich mit Fischen, Schwimmen und Kahnfahren weidlich
zu vergnügen.

Auch Großpapa Donnel und dessen gleichgesinnter Freund Georg Keenan
hatten ihre Teilnahme zugesagt.

Da sie alle auf der ‚Ehrenliste‘ standen, so durften sie sich die
Vergünstigung, allein auszugehen, unbedenklich versprechen.

Der ersehnte Tag kam, und gleich nach dem Frühstück sah man die kleine
Gesellschaft, mit Fischgerätschaften ausgerüstet und mit Lebensmitteln
reichlich versorgt, muntern Sinnes aus dem Hofe des Kollegs treten und
die Richtung nach den Seen einschlagen.

„Welch ein prächtiger Morgen!“ sprach Keenan und atmete in langen Zügen
die frische, kräftige Luft ein. „Man könnte beinahe poetisch werden!“

„O ja!“ sagte Percy entzückt:

    „Manch prächt’gen Morgen hab’ ich schon geseh’n,
    Mit Königsblick der Berge Gipfeln schmeichelnd.“

„Du Aufschneiderchen!“ scherzte Donnel. „Wo sind denn die Berge und die
Gipfel?“

„Ich dachte nicht an bestimmte Berge. Hier in Kansas giebt es ja nur
niedrige Hügel. Aber die Verse kamen mir so von selbst in den Sinn, als
Georg sprach: Welch ein prächtiger Morgen. -- Seht doch, wie die Dächer
des Städtchens im ersten Sonnenlicht zittern!“

„Wie Tennyson so schön in seinem ‚Sonnenaufgang in Maurach‘ sagt,“ fuhr
Georg mit verstelltem Ernste fort;

      „Licht gießt sich aus,
      Ums liebe Haus
      Und fern um Maurachs neue Dächer,
      Lichtstrahlen geh’n,
      Ob unsern See’n,
      Den Wald erregt des Windes Fächer.

    Wir sind heut’ frei von der Schule Pflicht,
    Vergil und Cäsar, wir brauchen sie nicht!
    D’rum hinaus an den See, in den grünen Wald!
    Heut’ schwindet die Sonne doch viel zu bald!“

Percy sah ihn stutzend an.

„Bist Du sicher, Georg, daß Tennyson dieses wirklich geschrieben hat?“

„Um die Wahrheit zu sagen, Percy, so ist es ein Produkt mehrerer
Künstler, Tennyson hat die äußeren Umrisse des ersten Teiles
gezeichnet, und ich fügte die pikanten Einzelheiten ein. Der zweite
Teil aber ist von meinem Freunde Donnel hier.“

„Der zweite Teil kann sich sehen lassen,“ meinte Percy. „Aber er ist
sicher noch länger; er hört viel zu plötzlich auf.“

„Da hast Du schon recht, Schlauberger,“ erwiderte der junge Poet. „Zu
Hause will ich Dir die ganze Fortsetzung zeigen. Hier kann ich doch
nicht anfangen zu deklamieren.“

„Obgleich der Morgen schon danach ist; alles so schön, so ruhig und
klar! -- Ich habe die frische Luft und den hellen Sonnenschein so gern.
Du nicht auch, Tom?“

„Ja -- ich denke,“ sprach Tom. Er war noch ganz in Staunen versunken,
daß Percy über Gedichte mit solcher Sicherheit und Wortfülle zu reden
verstand. Auch diese Frage war nicht ganz nach seiner Art. Wohl liebte
auch er Sonnenschein und frische Morgenluft; allein es war ihm noch
nicht zum Bewußtsein gekommen, daß man darüber auch sprechen könne. In
diesem Punkte war er noch viel mehr ein Kind, als Percy, wie viel er
auch sonst vor demselben voraus hatte.

„Wie weit sind die Seen vom Pensionat entfernt?“ fragte Percy.

„Ungefähr eine Stunde,“ erwiderte Harry.

„O wie schade! Ich dachte, wir wären gleich da! Aber jetzt muß ich
schon wieder umkehren.“

„Wie? Umkehren? Warum?“ riefen alle.

„Ja! Eine Stunde hin und eine Stunde zurück, das halte ich nicht aus.
Zu Hause durfte ich nie länger als zwanzig Minuten spazieren gehen.
Mehr darf ich mir nicht zumuten. Ach es thut mir so leid! Ich dachte,
es würde ein so schöner Tag, und jetzt ist es mit aller Freude vorbei!“

Betrübt setzte sich Percy auf einen großen Stein am Wege und begann
sein Mißgeschick zu bejammern.

„Unsinn!“ sprach der kräftige Tom. „Niemand weiß, was er kann, bevor er
es versucht hat.“

„O, ich brauche es nicht erst zu versuchen,“ versicherte Percy und
schüttelte seine Locken zurück. „Ich weiß ganz genau, daß so etwas für
mich zu viel ist.“

„Du Knäblein, du Würmchen, du Krabbelkäfer, du Zartpüppchen!“ zankte
Donnel in gutmütigem Ärger. „Weißt Du, wofür ich Dich halte, wenn Du
nicht mitgehst?“

„Ich hoffe für nichts Schlechtes,“ sprach Percy beklommen.

„Für eine Gans!“

„Das thäte mir sehr leid, Johann.“

„Aber ich thu’s.“

„Und ich auch!“ drohte Keenan.

„Und ich auch! Und ich auch!“ riefen alle zusammen.

„Ich will aber lieber eine Gans mit zwei gesunden Beinen sein, als ein
Krüppel.“

„Ich bitte Dich, Percy,“ sprach jetzt Tom, „steh’ auf und geh’ mit uns!
Thu’ es, um unsertwillen! Wenn Du müde wirst, werden Dich Donnel und
Keenan tragen. Sie thun es gern und sind stark genug dafür.“

„Gut! ich will es wagen, weil es Euch freut. Aber Ihr sollt Euch
meinetwegen keine Mühe machen.“

Also faßte sich Percy ein Herz, stand auf und schritt mit voran.

Auf einmal sagte Tom:

„Percy, Du bist im Irrtum.“

„Wie so?“

„Du sagtest ja, Du könntest nicht mehr aushalten, als zwanzig Minuten,
und jetzt bist Du schon eine halbe Stunde auf den Beinen. Sieh nur
meine Uhr!“

„Wirklich!“ rief Percy voll Freude. „Und ich fühle noch gar keine
Müdigkeit!“

Nach weiteren zehn Minuten beschloß man mit Rücksicht auf Percy, eine
Pause zu machen. Aber der wollte nichts davon wissen, bis ihn nach
vergeblichen Überredungsversuchen Tom schließlich mit Gewalt auf einen
Stein niedersetzte.

„Du hattest doch recht, Johann,“ sprach er zu Donnel, „daß Du mich für
eine Gans halten wolltest, wenn ich nicht weiter ginge. Ich merke immer
mehr, daß ich schrecklich einfältig bin.“

„Aber Du wirst auch schrecklich schnell gescheit,“ tröstete Johann
Donnel.

Harry Quip bat jetzt Percy, eine Geschichte zu erzählen.

„Sehr gern; aber hier geht es nicht. Wir bleiben ja nicht lange hier
sitzen.“

„Dann sing’ uns ein Liedchen!“ sprach Tom, und aller Augen richteten
sich voll Erwartung auf Percy.

Percy lächelte, summte ein wenig leise vor sich hin, um seine Geige zu
stimmen, und sang:

    „Ein Eiland schön, von Wogen umrauscht,
    Das sei für heute mein Sang ....“

Die Zuhörer horchten mit sprachlosem Erstaunen. Noch nie hatten sie
empfunden, wie jemand gleichsam seine Seele in den Klang seines
Gesanges legt. Zudem waren sie, gleich Percy, mit einer einzigen
Ausnahme Kinder irischer Familien, die mit großer Liebe an ihrem alten
Vaterlande hingen. Ein Loblied auf Irland, in so vollendet schöner
Weise vorgetragen, war deshalb für alle etwas Unwiderstehliches. Sie
zogen im Geiste hin zu der grünen Insel St. Patricks, der Heimat ihrer
Vorfahren, mit ihren spiegelhellen Seen und rauschenden Flüssen, mit
ihren epheu-umrankten Ruinen, den Trümmern herrlicher Schlösser und
Klöster, die, von Tyrannenhänden zerstört, den verjagten Kindern des
Landes nachtrauern. Nicht alle konnten alles verstehen, aber alle waren
so ergriffen, daß, als Percy geendet, niemand recht das Gespräch wieder
aufnehmen mochte.

„Ich bin von französischer Abstammung,“ begann endlich Keenan, „und
habe auch englisches Blut in meinen Adern. Aber heute ist kein Irländer
auf der ganzen Welt für Irland mehr begeistert, als ich.“

Harry, Willy und Joseph schauten in ehrfurchtsvoller Bewunderung den
kleinen Sänger sprachlos an.

„Percy, ich gäbe Dir alle meine Fertigkeiten,“ sagte Tom, „wenn ich
auch so etwas könnte!“

„Ich habe es von meiner Schwester Elise gelernt. Es freut mich, daß es
Euch gefällt. Ich habe noch einen großen Vorrat von schönen Liedern,
und will singen, so oft es Euch Vergnügen macht.“

[Illustration]




[Illustration]




8. Kapitel.

Ein freier Tag.

2. Fischen und Klettern.


Nach einem weitern Marsche von fünfundzwanzig Minuten waren sie am
Gestade eines Sees angelangt und wählten eine liebliche Uferstrecke, wo
der Schatten ästiger Bäume weit ins Wasser fiel, zum Fangplatze aus.

Tom reichte Percy sogleich eine Angel und einen Wurm als Köder.

Percy faßte behutsam den Wurm, aber als er sah, wie sich derselbe hin-
und herwand, ließ er ihn mit einem Schrei zu Boden fallen.

„O! was soll ich jetzt machen?“

„Heb’ ihn auf! Er beißt Dich nicht!“

Nach manchen erfolglosen Versuchen gelang das schließlich. Percy
unterdrückte mutig eine Anwandlung des Schauderns und wollte den Wurm
an den Angelhaken bringen. Allein wie er es auch anstellen mochte,
stets entschlüpfte er ihm.

„Ruhig liegen, unartiges Ding!“ rief er, fast aufgeregt.

Da kam ihm Tom zu Hilfe.

„Das Zappeln kannst Du ihm leicht abgewöhnen,“ sprach er, nahm den
‚unartigen‘ Wurm in die eine Hand und gab ihm mit der andern einen
kräftigen Schlag. Der Wurm zappelte nicht mehr, und Percy brachte ihn
mit seinen geschickten Fingern leicht an den Angelhaken.

„Es giebt zwei Arten von Fischen,“ erklärte jetzt Tom, „kleine, zum
Beispiel Barsche und Sonnfische, die ganz nahe an der Oberfläche
schwimmen, und große, die gewöhnlich unten auf dem Grunde bleiben. Die
großen sind sehr schwer zu fangen. Sie haben Mäuler wie Scheunenthore,
und einen Angelhaken, wie den Deinen da, verschlucken sie mit dem
größten Vergnügen und ohne alle Beschwerde; das ist nur eine kräftige
Speise für sie.“

„Gewiß!“ ergänzte Quip. „Und sie thun sehr beleidigt, wenn man den
Haken wieder herausziehen will.“

„Sie sind imstande,“ fuhr Whyte fort, „plötzlich heraufzukommen und
Dich mit einer Schwanzspitze aufzuspießen.“

„Danach spüre ich nun wenig Verlangen.“

„Deshalb ist es am besten für Dich,“ nahm Tom wieder das Wort, „wenn
Du sie ganz in Ruhe läßt. -- Ich rate Dir überhaupt, mit den kleinen
zu beginnen, die man am Ufer ganz leicht fangen kann. Wirf nur dort
hinten, wo der dicke Holzklotz aus dem Wasser ragt, gleich einmal aus!“

Percy folgte der Anweisung. Ein paar Minuten lag der Kork seiner
Angelschnur unbeweglich auf der glatten Wasserfläche. Aber auf einmal
fing er an, hin und her gezerrt zu werden.

„Tom, sieh doch nur! Was ist mit meinem Korke los?“

Tom war ganz in Anspruch genommen, seine eigene Angel für die
‚Tiefsee-Fischerei‘ instand zu setzen.

„Ist er am Ertrinken?“ fragte er, ohne seine Augen abzuwenden.

„Nein. Aber bitte, Tom, schau’ doch!“

„Vielleicht hat ein Fisch Streit mit Deinem Wurm.“ Und Tom schlenderte
seine Angel weit ins Wasser hinaus.

„Ich meine, Tom --“

„Was meinst Du?“

„Mein Kork ist fort. Ich sehe nichts mehr davon.“

„So zieh’ doch! es hängt ein Fisch daran.“

War es nun bloße Aufregung, oder glaubte Percy, es hänge ein Walfisch
oder sonst ein Wasserungetüm an seiner Schnur: kurz, er schwang
die Angelrute mit aller nur möglichen Anstrengung aufwärts, und
ein winziges Fischlein flog in die Zweige eines Baumes empor; dort
verwickelte sich die Schnur, und das Fischlein zappelte hilflos in der
Luft.

Ratlos stand Percy da. Man wußte nicht, wer mehr verdutzt war, der
Fisch oder er.

„Was soll ich jetzt machen?“ fragte er.

„Leg’ ihm etwas Salz auf den Schwanz!“ riet Harry.

„Ist Dir das bedacht, Harry?“

„Der Quip schwätzt nur Unsinn,“ versicherte Donnel, und strengte alle
Muskeln des Gesichtes an, um ernst zu bleiben. „Aber ich will Dir einen
besseren Rat geben. Geh’ zur nächsten Farm und leih’ Dir eine Axt.
Dann haust Du den Baum um und bekommst den Fisch ohne Mühe.“

„O Johann! Eine Axt habe ich mein Lebtag noch nicht in der Hand gehabt!“

„Baumfällen solltest Du nun doch lernen,“ sprach jetzt Keenan. „Du
weißt ja, daß der große Gladstone keine bessere Erholung kennt.“

„Aber ich kann es noch nicht. -- Vielleicht kommt der Fisch von selbst
hinunter, meinst Du nicht, Johann?“

„Er wollte es ja gern, wenn er nur wüßte, wie. -- Aber Du kannst gewiß
verwirrtes Garn in Ordnung bringen, Percy.“

„Ja, ich habe es oft gethan, wenn ich meinen Schwestern beim
Garnwickeln half.“

„Gut, dann paß auf!“ Der starke Donnel ergriff Percy bei den Knöcheln
und hob ihn vom Boden auf, so daß er die Zweige, in denen die Schnur
verwickelt war, fassen konnte.

Etliche Wochen vorher wäre Percy bei einem solchen Vorgange vor Angst
in Ohnmacht gefallen. Jetzt aber blieb er ganz ohne Furcht, entwirrte
geschickt die Schnur und ließ den Fisch herab.

„O Donnel!“ sagte er, als er wieder auf dem Boden stand, „Du bist ja
ein wahrer Herkules! -- Aber wie kann ich jetzt den Fisch vom Haken
bekommen?“

„Sehr einfach! Faß ihn fest am Kopfe, dann gleitet er Dir nicht aus
der Hand; wenn Du nun den Haken vorsichtig zurückdrückst, -- so --“
hier zeigte ihm Donnel den einfachen Kunstgriff -- „so bringst Du ihn
heraus, ohne den Fisch weiter zu verletzen.“

„S--s--st!“ flüsterte jetzt Tom. „Seht doch, was meinem Kork einfällt!
Ich glaube, ich mache einen herrlichen Fang.“

Toms Kork bewegte sich in der That sonderbar. Anstatt, wie es sonst zu
geschehen pflegt, unregelmäßig auf und ab, nach rechts und nach links,
hierhin und dorthin gezerrt zu werden, schwamm er in stets gleicher
Geschwindigkeit, oder besser gesagt Langsamkeit, der Mitte des Sees zu.
Nur dann und wann tauchte er für einen Augenblick unter, um sogleich
die frühere Bewegung wieder fortzusetzen.

„Festgebissen hat der Fisch noch nicht,“ sprach Keenan. „Aber er
scheint es zu wollen, sonst würde er die Angel nicht mitziehen.“

Toms Angelschnur war mit dem einen Ende auf ein Rädchen gewunden,
mittels dessen sie bequem verlängert oder verkürzt werden konnte. Tom
rollte sie um eine gute Strecke ab, und der Kork schwamm noch weiter in
den See.

Alle hatten bereits ihre Angeln aus dem Wasser gezogen und sich
erwartungsvoll um Tom versammelt.

„Was ist zu thun?“ fragte dieser nach einer Weile, indem er wieder
Schnur abrollte. „Das ist der verrückteste Fisch, der es je auf eine
Angel abgesehen hat. Er sollte doch festbeißen oder davonschwimmen.“

„Schau’! jetzt bewegt er sich im Kreise!“ flüsterte Hodder.

„Der Fisch ist mondsüchtig,“ meinte Quip.

„Vielleicht ist es gar kein Fisch,“ versetzte Whyte.

„Zum Beispiel eine Wasserschlange!“ fuhr Percy fort, und sah aus, als
wolle er im nächsten Augenblicke davonlaufen.

„Jetzt ist meine Geduld zu Ende!“ sprach Tom. „Wenn der Fisch nicht
beißen will wie alle ehrlichen Fische auf dem weiten Erdenrund, so kann
ich meine kostbare Zeit nicht länger mit ihm vertrödeln.“

Er gab der Angel einen starken Ruck nach oben, aber weder Angel noch
Fisch wurden sichtbar. Die Rute bog sich, als wollte sie brechen.

„Jetzt weiß ich’s!“ rief er. „Ich habe ein tüchtiges Stück Holz
gefangen.“

„Nein! Sieh nur! Sieh nur!“ sprach Keenan.

Der Kork bewegte sich wieder der Mitte des Sees zu, aber viel schneller
als vorher.

„Der Kork ist verrückt, nicht der Fisch!“ sagte Whyte.

„Verhext ist er!“ meinte Hodder.

Percy war schon voller Aufregung.

„Leg’ ihm doch Salz auf den Schwanz, Tom!“ riet er.

Man lachte, aber nicht viel; denn die erfahrenen Fischer waren zu
gespannt, um den Scherz recht würdigen zu können.

Der Kork schwamm indes der Tiefe zu und verschwand plötzlich, um nicht
wieder aufzutauchen. Da fing Tom an zu ziehen. Aber das rätselhafte
Wesen am andern Ende der Leine zog auch. Zuerst waren die Kräfte
einander gleich. Plötzlich schrie alles vor Freude laut auf: das
gefangene Wassertier fing an nachzugeben.

„Es ist mindestens ein Haifisch,“ sprach Tom, während er langsam die
Leine weiter anzog.

„Vielleicht,“ sprach gravitätisch der Dichter Donnel, „ist es
der Schatten eines abgeschiedenen Pani-Häuptlings, der über den
Styx zurückgeschwommen ist und jetzt aus des Hades Finsternissen
emportaucht, um zu atmen im rosigen Licht!“

„Und den es gelüstet,“ fuhr Keenan fort, „noch einmal den Kriegspfad
gegen den weißen Mann zu beschreiten, mit dem seine Nachkommen bereits
die Friedenspfeife rauchen.“

„Eher ist es ein alter Holzschuh!“ beschloß Tom nüchtern die poetischen
Ergüsse.

Der Angelhaken kam indessen mit dem, was daran hing, immer näher.
Ein Fisch konnte es unmöglich sein; denn ein solcher würde ruckweise
gezerrt und gerissen haben, auch wahrscheinlich das eine oder andere
Mal aus dem Wasser gesprungen, oder für Augenblicke nahe an die
Oberfläche gekommen sein. Statt dessen merkte Tom nur ein anhaltendes
starkes Ziehen.

„Meiner Ansicht nach ist es ein Esel,“ sprach Quip ernsthaft.

„Nein,“ sprach Whyte, „dafür ist es zu dumm. Ich glaube, ein Kürbis ist
noch gescheiter, als dieses Ding.“

„Ich sehe es!“ rief Hodder. „Es ist jetzt in seichterem Wasser.“

„Nicht wahr, es hat lange Ohren?“ fragte Quip.

„Ich sehe es auch!“ rief Whyte. „Es ist rund, wie ein Schild.“

„Der Geist eines Indianerschildes!“ bemerkte Donnel.

„Nein, eine Schildkröte! Eine Schildkröte!“ riefen sie alle. „Eine
Schnappschildkröte!“

Die runde Rückenschale war sehr deutlich sichtbar, immer mehr kroch das
Tier auf dem Boden des Sees dem Ufer zu und endlich trat es in seiner
ganzen Häßlichkeit aus dem Wasser. Es klappte sein abscheuliches,
breites Maul mit wütendem Kreischen auf und zu, vermochte aber das
Drahtende der Angelschnur nicht abzubeißen und wollte sich deshalb mit
seinen ungeschlachten Vorderfüßen von derselben befreien.

„Nimm Dich in acht!“ sprach Keenan, als Tom dem seltsamen Fang etwas
nahe kam. „Ehe Du Dich versiehst, hast Du einen Biß! Wir wollen sie
lieber erst töten.“

„Aber wie?“

Keenan hatte bereits Toms kleines Jagdgewehr geholt und gab dem Tiere
eine Ladung, die allem weiteren Sträuben ein Ende machte.

„Herrlich!“ rief Quip. „Eine solche Fischerei hab’ ich nie erlebt.“

„Ich habe wohl schon Schildkröten gefangen,“ sagte Donnel; „aber nicht
mit der Angel und nie eine so große. Ich glaube, diese wiegt wohl
fünfzig Pfund. Es ist schade, daß man Schnappschildkröten nicht essen
kann.“

Plötzlich schaute Tom bestürzt auf.

„Wo ist Percy?“ rief er.

Percy war verschwunden.

„Percy! Percy!“ klang es in den Wald hinein.

„Hier bin ich ja!“ kam eine zitternde Stimme von oben.

Sie erhoben ihre Augen, und wer beschreibt ihre Verwunderung, als sie
Percy zehn Fuß über dem Boden rittlings auf einem dicken Baumaste
sitzen sahen!

„Aber, Percy,“ riefen sie überrascht und erfreut, „wie bist Du da
hinaufgekommen?“

„Das weiß ich selber nicht. Ich meinte immer, ich könnte gar nicht
klettern. Als aber die Schildkröte aus dem Wasser kam und so wütend
pfauchte und schnappte, war es mir, als könnte ich alles.“

„Ihr habt gut lachen,“ fuhr er fort, als er bemerkte, wie heiter man
seine Worte auffaßte. „Aber meine Lage ist keineswegs lächerlich. O,
wenn mich meine Mutter hier sähe, sie würde in Ohnmacht fallen. Und wie
soll ich wieder hinunter kommen?“

„Eine Art wäre, wieder herabzu+klettern+,“ sprach Tom, ohne sein
Gesicht zu verziehen.

Harry Quip bot sich an, eine Axt herbeizuholen. „Dann haue ich den Baum
um, und Du kommst ganz von selber aus den Boden.“

Percys Beklommenheit mehrte sich.

„Sollte es nicht in der Nähe eine Leiter geben?“ fragte er zaghaft.

Neues, herzliches Lachen begrüßte diese Bitte.

„O, was soll ich machen, was soll ich machen?“ jammerte Percy. „Noch
nie war ich in einer so schrecklichen Lage.“ Seine Lippen zitterten,
und die Augen wurden feucht.

Aber niemand hatte beabsichtigt, Percy weh zu thun.

„Es geht sehr einfach!“ sprach Donnel, der am allerwenigsten ein
Mitgeschöpf betrübt sehen konnte. „Thu’ nur genau, was ich Dir sage.
-- Bring’ Deine beiden Füße nebeneinander auf den Ast, auf dem Dein
linker Fuß steht! -- Prächtig, Percy! -- So, jetzt kniest Du auf diesen
Ast und hältst Dich an dem obern Aste fest, auf dem Du gesessen hast.
-- Gut! -- Jetzt fasse den untern Ast neben Deinen Knieen mit den
Händen, und laß Dich getrost hinab!“

Percy, der auf seine Freunde großes Vertrauen setzte, wagte alles ohne
Bedenken. So konnte ihn Donnel an den Füßen ergreifen und dann auf den
Boden stellen.

Erfreut und beschämt zugleich blickte er um sich.

„Ich bin noch lange kein rechter Junge,“ sprach er. „Aber wenn mich je
wieder eine Schildkröte bedroht, so werde ich es ganz anders machen --
ich werde zeitig +weglaufen+.“

[Illustration]




[Illustration]




9. Kapitel.

Ein freier Tag.

3. Schwimmen und Rudern.


Die Gesellschaft begann jetzt ihre Fischerei von neuem und war vom
Glücke begünstigt. Auch Percy warf seine Angel nicht vergebens aus. Zu
seiner eigenen und seiner Freunde angenehmern Überraschung fing er noch
acht kleinere Fische.

Tom zog seine Uhr.

„Jetzt wäre es wohl Zeit zum Schwimmen!“

„Ihr wollt doch hier nicht schwimmen!“ rief Percy voll Schrecken.

„Gewiß! Warum denn nicht?“

„Die Schildkröten könnten Euch ja in die Beine beißen! Hu!“ Und Percy
schauderte.

„Du brauchst keine Angst zu haben,“ versicherte Tom. „Sie thun Dir
nichts.“

„Mir, Tom? Mir? +Ich+ darf mich nicht ins Wasser wagen. Ich kann
ja noch gar nicht schwimmen.“

Tom ging zu einem der Ranzen, die man mitgebracht hatte und kam mit
einer neuen Schwimmhose zurück.

„Hier, Percy, das ist von meiner Seite ein Gegengeschenk für die
schönen Photographieen, die du uns neulich verehrt hast.“

Allein Percy legte die Hände auf dem Rücken zusammen, und sein Gesicht
drückte nichts weniger aus als Freude oder Dankbarkeit.

„Aber, Percy, ist denn das die Art, ein Geschenk anzunehmen?“

Jetzt fühlte sich der fein erzogene Knabe an seiner empfindlichsten
Stelle getroffen. Er zwang sich zu einem Lächeln und empfing die Gabe
des Freundes mit seiner gewöhnlichen anmutvollen Verbeugung.

„Ich bin Dir wirklich sehr verbunden, Tom. Verzeihe mir, daß ich so
spröde that! Es war mir ganz sicher nicht bedacht. -- Wie nett sie ist!
Kein Zebra hat so schöne, zierliche Streifen. Ich lege sie in mein
Pult, und so oft ich sie sehe, will ich mich an Dich erinnern.“

Diese seltsame Verwendung einer Schwimmhose wollte Tom natürlich nicht
gefallen.

„Es ist doch keine Photographie von mir!“ sprach er. „Gebrauchen sollst
Du sie! Schwimmen ist nicht so schwer, wie Du meinst. Manche finden es
leichter als Klettern.“

„Das Wasser ist so kalt, Tom! Ich bekomme sicher einen Schnupfen.“

„Nur, wenn Du zu lange drin bleibst oder Dich nachher nicht bewegst.“

„Und wir wollen Dich schon jagen,“ rief Quip, der eben ins Wasser
gesprungen war und wieder auftauchte, vom See aus.

Aus Gefälligkeit gegen Tom beschloß Percy endlich, das Wagnis zu
unternehmen. Er unterdrückte einen Schrei, als er den Fuß in das kalte
Wasser setzte, hielt dann aber doch eine gute Zeit aus. Tom und Joseph
Whyte blieben stets um ihn, bemühten sich, ihm einige Winke für seine
ersten Schwimmübungen zu geben, und sorgten, daß er nicht an Stellen
geriet, wo der See zu tief war.

Eben hatte Percy seine Kleider wieder angelegt, als ein lauter Juchzer
seinen Lippen entfuhr. Ein kleines Boot, von Quip gesteuert und von
Keenan gerudert, erschien an einem Ufervorsprung.

„O Georg! Harry! bitte, laßt mich auch hinein! Hurra! das wird lustig!“

„Was, Percy, Du willst in ein Boot?“ fragte Tom, der noch im Wasser
war, mit ernster Miene. „Du weißt doch, wie leicht die Boote umkippen!“

„La, la! ich bin nicht bange!“ rief der Leichtfuß Percy. „Ich will
rudern lernen.“

„Komm, spring’ hinein!“

Percy setzte sich zu Georg in die Mitte des Kahnes.

„Gieb mir auch ein Ruder, Georg!“

„Da! Nachher kannst Du sie beide bekommen. Aber versuch’ es erst mit
dem einen. Vor allem mußt Du nun Takt halten lernen.“

„Giebt es hier Takt?“ fragte der Musiker.

„Und zwar Sieben-Elftel,“ erklärte der Steuermann lachend.

„Laß den Quip schwätzen, Percy! -- Das Takthalten besteht darin,
daß Du zu gleicher Zeit mit mir das Ruder einsetzest, anziehst und
heraushebst.“

Percy heftete seine Augen auf Keenans Ruder und that richtig die ersten
Ruderschläge.

„Wenn Du so fortmachst, Percy,“ sprach Quip, „so lernst Du auch bald,
wie man eine Krabbe fängt.“

„So? wie geht das denn?“

„Du lernst es ganz von selbst, ohne Anstrengung, Du brauchst auch nicht
dabei aufzupassen.“

„Wirklich?“ fragte Percy verwundert, und schaute zu Quip auf.
Dabei wandte er naturgemäß seine Aufmerksamkeit vom Rudern ab; er
tauchte nicht tief genug ein, zog aber doch mit gewohnter Kraft an.
Infolgedessen fiel er nach hinten und würde sich den Kopf wohl arg
angestoßen haben, hätte nicht Keenan, der dieses Mißgeschick erwartete,
ihn sogleich am Knie ergriffen und festgehalten.

„Du kannst es! Du kannst es!“ rief Quip mit unsäglichem Vergnügen. „Das
ist so ganz das richtige Krabbenfangen. Du brauchst Dich jetzt nie mehr
zu üben.“

„Gewiß!“ sprach Keenan. „Die beste Anwendung dieser neuen Kenntnis ist,
daß Du sie gar nicht anwendest.“

Percy brachte sich in die frühere Stellung, schüttelte die Locken
zurück, rückte seine Mütze zurecht und begann fröhlich wieder zu
rudern. Für Quips Neckerei aber nahm er, ohne es zu wollen, bald Rache.
Als derselbe nämlich einmal über eine kleine Ungeschicklichkeit des
Anfängers lachte, flog ihm von Percys Ruder eine gute Ladung Wasser in
den offenen Mund und erstickte das Lachen, als wäre es ein winziges
Feuerflämmchen.

Kurz darauf steuerte Harry ans Land, stieg aus und verschwand im Walde.

„Was hat er, Georg?“ fragte Percy.

„Er ärgert sich vielleicht.“

„O, das thut mir leid. Habe ich ihn beleidigt? Ich wollte es sicher
nicht. Er ist ein so guter Junge.“

„Das ist er. Aber sieh dort zwischen den Bäumen den Rauch aufsteigen.
Donnel oder Tom hat schon ein Feuer angezündet, um unser Mittagessen
herzurichten, und Quip thut nichts lieber als kochen. Er ist meistens
unser Oberkoch und Speisemeister, und wir sind mit seiner Thätigkeit
sehr zufrieden.“

„So? das freut mich!“ sprach Percy. Auch er war in der edlen Kunst der
Speisebereitung durchaus nicht unerfahren. Wie in anderen Sachen hatten
ihm auch hierin die sechs Schwestern einige Fertigkeit anerzogen.
Deswegen hatte er schon geglaubt, heute damit seinen Freunden einen
Dienst leisten zu können. Allein jetzt sprach er gar nicht darüber,
sondern beschloß, den Erzeugnissen von Harrys Kochkunst alle Ehre
anzuthun.

Um ein Uhr setzte sich die Gesellschaft zum Essen nieder. Das
Tischgebet bestand diesesmal bloß in einem andächtigen Kreuzzeichen.

Donnel konnte sich nicht enthalten zu fragen, woher wohl die Rosen auf
Percys Wangen kämen.

„Von der Bewegung,“ erwiderte Keenan.

„Und davon, daß Du ein Junge wirst,“ fügte Tom bei.

„Ja,“ meinte Percy, „ich bin jetzt doch lieber ein Junge, als alles
andere in der Welt. -- Und welch einen Hunger ich habe!“

„Schwimmen und Rudern und Krabbenfangen macht immer Appetit, und
ordentliches Kochen hilft nach,“ sprach Quip, der mit weißer Schürze
geschäftig dastand, und mit großer Genugthuung seine Produkte
verschwinden sah.

Der Nachmittag verflog in gleich angenehmer Unterhaltung.

Auf dem Heimwege aber that Percy sein Bestes, um mit Singen und
Erzählen seine Freunde zu unterhalten. Von Müdigkeit zeigte er keine
Spur, obgleich er doch den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war.

„Jetzt kann ich aber einen Riesenbrief an meine Schwestern schreiben.
Ich erzähle ihnen, was ich alles schon gelernt habe: bockspringen,
werfen, angeln, rudern, Krabben nicht fangen, und auch ein kleines
bißchen Schwimmen.“

„Das glauben sie Dir gar nicht,“ meinte Donnel.

„O doch! Sie glauben mir alles, was ich sage.“

„Aber das Wichtigste hast Du ausgelassen,“ bemerkte Tom.

„Was denn?“

„Du mußt vor allem schreiben, daß Du auf einen Baum geklettert seist
und doch nicht wüßtest, wie man das Klettern macht, Du könntest
klettern, obgleich Du es nicht gelernt hättest.“

[Illustration]




[Illustration]




10. Kapitel.

Eine Gesellschaft anderer Art.


Kenny hatte für seine Gespenstererscheinung eine empfindliche Strafe
erhalten und verlor selbstverständlich das Privileg, allein auszugehen.
In diese Strafzeit fiel nun auch ein freier Tag, den der ~P.~
Rektor zur Feier eines nationalen Ereignisses bewilligt hatte.

Der Himmel war heiter, deshalb waren schon am Morgen manche Zöglinge
ausgeflogen. Unter der Schar derjenigen aber, die freiwillig oder
unfreiwillig daheim blieben und sich geräuschvoll auf dem Spielplatz
tummelten, befand sich Kenny, natürlich in der denkbar schlechtesten
Stimmung. Er konnte sich mit dem gleichen Schicksal der meisten seiner
Genossen trösten, die seit längerer Zeit den Ehrenvorzug ebenfalls
nicht mehr besaßen.

In der übelesten Laune trieben sie sich jetzt auf dem Hofe umher und
suchten sich womöglich aller Aufsicht zu entziehen, um eine ihrem
Geschmacke zusagende Unterhaltung zu finden.

Da bemerkte Kenny, daß der Waschsaal, der sonst immer geschlossen war,
offen stand. Ah! vielleicht ließ sich dort etwas anstellen. Sogleich
holte er Prescott und Skipper herbei und betrat mit ihnen den Raum. Im
Hintergrunde desselben war eben ein Zögling, ein kleines, zartes Kind,
beschäftigt, seine Schuhe zu wichsen. Er erschrak, als er die drei
Gesellen in der Thüre erblickte.

„O bitte, kommt doch nicht herein!“ flehte er. „Ich durfte die Thüre
nicht aufstehen lassen. Aber ich habe ganz vergessen, sie zu schließen.
Bitte, bleibt doch draußen! Wenn sonst etwas geschieht, werde ich
bestraft.“

„Ah, bist Du es, Granger?“ sprach Kenny, ohne auf die Bitte zu achten.
„Du solltest doch längst spazieren gegangen sein. Du gehörst ja zu den
Braven. Was hast Du hier verloren?“

„Ich mache mich fertig, um meine Mutter abzuholen. Sie kommt mit dem
Zehn-Uhr-Zug.“

„Dann mach’ auch, daß Du hinaus kommst!“ knurrte Kenny unwirsch. „Wir
drei wollen hier allein sein.“

„O, ich darf Euch nicht drin lassen. Wenn ich fertig bin, muß ich
den Saal abschließen und ~P.~ Scott den Schlüssel gleich
wiederbringen.“

„Daraus wird nichts, Granger! Marsch hinaus! Etwas hurtiger!
Verstanden?“

Der gewissenhafte Kleine nahm seine ganze Energie zusammen und erklärte:

„Ich thue, was der Pater gesagt hat. Wollt Ihr hier bleiben --
meinetwegen! Dann sperre ich Euch ein.“

„Das wirst Du bleiben lassen! -- Vorwärts! hinaus mit Dir!“

„Laß ihn, Kenny,“ sprach Skipper leise. „Wir gehen hinaus und sperren
ihn selber ein.“

Granger stand jetzt an der Thüre, zog den Schlüssel aus der Tasche und
schob ihn mit zitternder Hand ins Schloß. Er fürchtete sich vor den
großen Burschen, aber ein Feigling war er nicht. Um jeden Preis wollte
er seine Pflicht erfüllen.

„Wollt Ihr hinaus?“ fragte er schüchtern.

Statt einer Antwort stieß ihn Kenny bei Seite, zog den Schlüssel wieder
aus der Thüre und steckte ihn ein. Seine Freunde hatten indessen von
dem Saal schon völlig Besitz ergriffen. Für sie war es ein Hochgenuß,
die Seifenstücke, Kämme, Handtücher, und was sonst niet- und nagellos
war, durcheinander zu werfen. Voll Schrecken erblickte Granger die
Verwüster in ihrer Thätigkeit. Aber was konnte er machen? Er begann
laut zu weinen.

„Ich gehe zu ~P.~ Scott und sage ihm, Du hättest den Schlüssel,
Kenny.“

„Was?“ donnerte ihn Kenny an. „Nimm Dich in acht! das sage ich Dir!
Sonst geht’s Dir schlimm.“

Skipper wiederholte seinen ersten Vorschlag:

„Wir sperren ihn selber ein.“

„Prächtig!“ jubelte Prescott schadenfroh. „Dann sieht es noch dazu aus,
als rührte diese Unordnung von ihm her. Es schadet dem unschuldigen
Kinde gar nicht, wenn es auch mal eine Strafe bekommt. Nicht weglaufen,
Granger!“ sprach er höhnend zu dem hilflosen Kleinen, indem er ihn
ergriff und festhielt. „Du sollst auch einmal merken, daß eine Strafe
weh thut.“

„Nein, das geht doch nicht!“ meinte Skipper, etwas verdutzt über den
Plan, den er angeregt.

„Wir sollten besser selbst hier bleiben,“ sprach Kenny.

„Das nützt uns wenig,“ warf Skipper ein. „~P.~ Scott wird den
Schlüssel vermissen und uns hier entdecken. Dann geht es uns schlimm.“

„Ich weiß, was wir thun!“ entschied Prescott nach einigem Bedenken.
„Wir schließen die Thüre nicht, sondern schicken den Schlüssel gleich
durch einen andern dem ~P.~ Scott zurück und lassen sagen, Granger
sei schon zur Bahn. Ihn selbst sperren wir in die Lederkammer, damit er
uns nicht verrät. Vorwärts mit ihm! -- Nicht so strampeln, Du Feigling!“

Die Lederkammer war ein dunkler Raum am andern Ausgange des Waschsaals
unter einer breiten Treppe, wo Schuhe, Fußballüberzüge und ähnliches
Lederzeug aufbewahrt wurden.

Der arme Granger wurde totenblaß. In den ersten Augenblicken setzte er
sich zur Wehr, freilich vergebens; dann bat er flehentlich um Schonung,
er müsse ja seine Mutter abholen; umsonst. Nur noch ein paar Schritte
war man von dem schrecklichen, dunkeln Loche entfernt. Da schrie er in
seiner Angst und Verzweiflung laut um Hilfe.

Kenny ergriff schnell ein Handtuch und wollte es mit einem Ende Granger
in den Mund pressen. Auf einmal flog er zappelnd an die Wand und sah am
hellen Tage den ganzen Himmel voll Sterne.

„Ihr Bengel!“ rief Tom Playfair, während ein zweiter Schlag Prescott zu
Boden streckte. „Ihr Bengel!“ Und auch Skipper hatte einen gründlichen
weg.

Tom hatte Grangers Angstrufe vernommen und war so schnell herbeigeeilt,
daß alle drei ihre Püffe schon in Sicherheit hatten, bevor sie wußten,
daß jemand anders da sei.

Jetzt aber wandten sie sich wutentbrannt gegen ihn.

„Er muß mit hinein!“ rief Kenny, der sich am schnellsten wieder erhoben
hatte. Zugleich ergriff er den wehrlosen Granger und stieß ihn in die
Lederkammer, vor deren Thüre sich jetzt ein heißes Ringen entspann.

„O Du Abgott aller Knirpse!“ schrie Prescott außer sich vor Zorn.
„Jetzt sollst Du demütig werden!“

Tom, für sein Alter sehr stark und gewandt, schlug um sich, was er nur
konnte. Allein, obwohl die Drei manchen empfindlichen Puff zu fühlen
bekamen, so hätte er ihren vereinten Kräften doch auf die Dauer nicht
zu widerstehen vermocht.

Da kam unerwartet ~P.~ Scott mit ernster Miene die Treppe herab.
Sofort war Tom frei, die drei Burschen aber wurden schamrot und
zitterten wie Espenlaub ob der Dinge, die da kommen sollten. Der Pater
sprach kein Wort. Langsam und ruhig stieg er noch die beiden untersten
Stufen hinunter und trat vor sie hin, als suche er den Zusammenhang der
Dinge ohne Frage zu ermitteln.

Tom erhob sich und schlug den Staub ein wenig von seinen Kleidern.
Dann öffnete er die Thüre der Lederkammer und befreite den zitternden
Granger.

„Da, Willy,“ sagte er mit dem gewöhnlichen Tone seiner Stimme, „nimm
ein paar Datteln!“

~P.~ Scott beobachtete alles. Aber bald verwandelte sich seine
abwartende Miene in den Ausdruck nicht des Zornes, sondern der Trauer.

„Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen,“ sprach er, „so würde
ich es nicht für möglich halten, daß Mauracher Zöglinge solche
Gemeinheiten begehen können.“

Er hielt einen Augenblick inne. Diese einfachen, schmerzerfüllten Worte
waren für die Schuldigen härter als die unsanfteste Anrede hätte sein
können; nur Prescott schien sich nicht betroffen zu fühlen.

„Ich hätte nie gedacht, daß ich noch mit Knaben zusammenwohnen müßte,
welche handeln wie Wilde. Jetzt geht Ihr Drei! Ich bin nicht in der
Verfassung, die rechte Strafe für diese Roheit zu bestimmen. Morgen
werde ich Euch wieder sprechen.“

„Sie wollen uns doch nicht roh nennen!“ versetzte Prescott frech.

„Wie ich Euch nenne, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, wie
Ihr Euch betragt. Und ein armes, hilfloses Kind in ein solches Loch
einzusperren, das bringen nur rohe, ja wilde Jungen fertig.“

„Playfair,“ sprach er, als die Sünder sich wie begossene Pudel von
dannen geschlichen, „Du bist doch nicht verletzt? Ich fürchte, sie
haben Dich etwas arg mitgenommen.“

„Gar nicht, Pater!“ war die heitere Antwort. „Ich habe nur etwas mehr
Bewegung gehabt, als ich heute Morgen voraussah; denn ich wollte erst
am Nachmittag spazieren gehen.“

„Du bist ein braver Junge, Playfair.“ Dann wandte er sich an den
Kleinen, dessen Thränen noch immer flossen: „Haben sie Dir weh gethan,
Willy?“

„Nein,“ schluchzte Willy, begann aber ruhiger zu werden.

„Komm’, Willy, ich will Dir helfen, Deine Kleider wieder in Ordnung zu
bringen,“ fuhr der Präfekt fort und nahm eine Bürste. „Du mußt Dich
auch ein wenig beeilen; es ist schon beinahe halbzehn.“

Dann zupfte er ihm die Krawatte wieder zurecht, füllte ein Waschbecken
und sagte:

„Jetzt wasch Dir noch die Thränen ab! Deine Mutter würde ja
erschrecken, wenn sie sähe, Daß Du geweint hast.“

Aber Granger hatte noch ein schweres Anliegen.

„Pater, ich hatte die Thüre des Waschsaales aufgelassen. Ich hatte ganz
vergessen, was Sie mir sagten.“

„Darum mach’ Dir keine Sorge, Willy. Du siehst jetzt freilich, daß man
auch in kleinen Dingen gehorchen muß. -- In Zukunft brauchst Du solche
Roheiten nicht mehr zu fürchten; die Drei werden es sich gut überlegen,
bevor sie wieder so etwas anstellen.“

„Ich glaube aber nicht, Pater,“ versicherte Playfair, „daß sie alle
eigentlich schlechte Jungen sind. Skipper zum Beispiel war in den
ersten Tagen ganz brav. Aber sie kleben so zusammen, das macht’s.“

„Gott gebe, daß Du recht hast, Playfair. -- So, Willy! Nur noch die
Haare etwas kämmen! -- Jetzt geh’ hurtig, dann bist Du zur rechten Zeit
auf dem Bahnhofe.“

Die Güte des Präfekten hatte Grangers Heiterkeit schnell wiederkehren
lassen.

„Ich danke Ihnen sehr, Pater. Ich bin wieder ganz lustig. Meine Mutter
soll gar nichts merken. Adieu Pater! -- Adieu Playfair,“ sprach er mit
einem Ausdruck, der alle Worte des Dankes überflüssig machte.

[Illustration]




[Illustration]




11. Kapitel.

Eine Verschwörung gegen Playfair und Quip.


Sobald Tom in den Hof kam, sah er sich nach seinen Widersachern
um. Sie standen in einer Ecke, wo sich all ihre Gesinnungsgenossen
zusammengefunden hatten. Tom ging geradenweges auf sie zu und trat ohne
weiteres mitten unter sie.

„Hört einmal, ich will Euch offen sagen, was ich von Euch denke! Ihr
seid alle Neue, und ich gebe Euch die Versicherung, daß eine solche
Mißhandlung der Kleinen hier nicht Mode ist.“

„Du willst wohl auch behaupten, wir seien Feiglinge!“ unterbrach ihn
Prescott mit drohender Gebärde.

„Warum nicht?“ erwiderte Tom unerschrocken. „Aber warte nur, bis ich
fertig bin. Auch Percy Wynn habt Ihr gequält, als er kam. Das wissen
bis jetzt nur sehr wenige. Hätte ich es erzählt, so würde man Euch
einen nach dem andern gehörig übergelegt haben. Und wenn erst Eure
neueste Flegelei bekannt wird, dann spricht überhaupt niemand mehr ein
Wort mit Euch. Ich will nun gar nichts davon erzählen, wenn Ihr Euch in
Zukunft anständig aufführt. Aber erwische ich Euch noch ein einziges
Mal so wie heute, dann posaune ich alles aus, und es ist mit Euch
vollständig vorbei. Schreibt Euch das hinter die Ohren!“

Nach diesen Worten wandte Tom den Rücken und entfernte sich ebenso
ruhig als er gekommen war.

„O Du verstellter Heiliger!“ kreischte ihm Prescott nach, konnte aber
nicht bewirken, daß Tom auch nur umschaute.

„Er ist doch kein übler Junge,“ sprach Kenny, dessen bessere Natur sich
emporzuringen begann. „Geht er nicht offen und ehrlich zu Werke?“

„Das ist wahr,“ stimmte Skipper bei. „Ich kann in dem, was er sagte,
nichts Unrechtes finden. Wir sind Flegel gewesen, das ist klar. In
meinem Leben habe ich mich nicht so geschämt, als da uns ~P.~
Scott die Leviten las. Sobald er vor uns stand, sah ich alles mit ganz
andern Augen an.“

„Papperlapapp, Du Milchtopf!“ spottete Prescott. „Du willst uns wohl im
Stiche lassen!“

„Nein -- das gerade nicht!“ erwiderte Skipper zögernd, und sein Mut
sank sogleich wieder. „Zusammen müssen wir bleiben. Aber wir sollten
uns doch mehr in acht nehmen.“

„Das meine ich auch,“ sagte Kenny. „Wir können Spaß genug machen, ohne
uns gerade in solche Lagen zu bringen. Vor allem dürfen wir es nicht
mit dem Playfair verderben; sonst verlören wir auf der Stelle alles
Ansehen. Er hätte den ganzen Hof sogleich auf seiner Seite.“

„Ah so! so! jetzt verstehe ich!“ sprach Prescott mit bitterem Hohne.
„Du willst Dich also auch vor Playfair beugen. Das ist recht! Was
Playfair sagt, das schwätzen wir nach. Nur immer erst fragen, was Herr
Playfair sagt! Herr Playfair sagt, wir seien Feiglinge -- hört Ihr?
Feiglinge! -- Wollt Ihr ihm das auch nachschwätzen?“

Vor einer Minute noch hätten mehrere sich zur Besserung entschließen
können. Aber sie waren Feiglinge, nicht im Sinne Prescotts, sondern
rechte, echte Feiglinge, die sich vor dem Spott eines Nichtswürdigen
fürchteten.

„Das hat niemand gesagt,“ lenkte Kenny wieder ein, „daß wir ihm alles
nachschwätzen wollen. Er soll sich nichts gegen uns herausnehmen.“

„Das lasse ich mir gefallen. Ich dachte, Du meintest, er solle uns um
den Finger wickeln dürfen.“

„Das ist mir nicht in den Sinn gekommen,“ versicherte Kenny, der schon
fürchtete, die Führung der edlen Bande zu verlieren. „Wir müssen ihm
einen Denkzettel anhängen, daß er sein Lebenlang nicht vergißt, wen er
verhöhnt hat.“

Der Strom war wieder in seinem alten Bette. Die letzten Dinge drohten
noch schlimmer zu werden als die ersten: Rache, gemeine Rache war das
Losungswort. Ein schadenfrohes Lächeln verzerrte Prescotts Gesicht;
einen Augenblick schwieg er wie lauernd.

„Hast Du noch nichts?“ fragte er dann. „Ich weiß längst den feinsten
Plan.“

„Welchen denn?“

Sie drückten sich nahe aneinander und Prescott entwickelte mit leiser
Stimme, was sein böses Herz ihm eingegeben. Kenny nickte beifällig
aber zögernd, andere schwiegen. Nur Skipper war offenbar nicht
einverstanden, sein Gesicht drückte lebhafte Mißbilligung des Vorhabens
aus, an dem er teilnehmen sollte. Plötzlich wandte er sich ab und
verließ die Gruppe: er hatte sich von seinen Kameraden losgesagt.

Ein paar Minuten vorher waren ~P.~ Middleton und ~P.~ Scott
in den Hof getreten, in lebhaftem Gespräche über den bedauerlichen
Vorfall, der sich vor kurzem ereignet hatte.

„Schauen Sie doch dort in die Ecke,“ sprach jetzt ~P.~ Middleton,
„da ist es ganz sicher nicht geheuer. Ich glaube, die Geschichte von
heute Morgen ist noch nicht zu Ende. Es ist heute Dienstag, der Tag
der heiligen Schutzengel. Vielleicht kommt noch etwas ans Licht. Dann
machen wir allerdings sehr kurzen Prozeß. -- Sie glauben nicht, wie
mich diese Sorge beunruhigt. In all meinen sechs Jahren habe ich nie so
widerhaarige und dabei so verschlagene Zöglinge gekannt.“

„Schlimme Gesellen sind es,“ sagte ~P.~ Scott. „Wenn sie ihr Wesen
noch ein paar Wochen weiter fortsetzen, bringen sie einen Geist unter
die Kleinen, der einen guten Teil unserer Arbeit vergebens macht. Der
Anführer scheint mir Kenny zu sein, obgleich ich ihn gar nicht für den
schlechtesten halte.“

„Auch ich habe diesen Eindruck von ihm. Er steht an der Spitze, ist
aber nur der Geschobene; doch bringe ich nicht heraus, wer ihn schiebt.
Vielleicht wissen wir das heute Abend. -- Holla, da geht ja Skipper
auf einmal von ihnen weg. Was mag das bedeuten?“

„Der wird mit ihnen gebrochen haben, Pater. Könnten wir seine guten
Vorsätze nur etwas warm halten, daß er nicht in Versuchung kommt,
umzukehren!“

„Sie haben recht. -- Skipper!“ rief ~P.~ Middleton, als der Knabe
mit einem Gesicht, das halb mürrisch, halb entrüstet war, an ihnen in
einiger Entfernung vorbeigehen wollte.

Skipper kam und zog verlegen den Hut ab.

„Willst Du wohl für mich in der Stadt eine Bestellung machen, Skipper?“

„Sehr gern, Pater!“ erwiderte der Angeredete freudig überrascht; ein
solches Zeichen des Vertrauens hatte er nicht im mindesten erwartet.

„Hier ist ein Brief an den Redakteur des ‚Sonntagsblattes‘. Wenn Du ihn
abgiebst, sage zugleich, Du kämest nach einer Stunde wieder, um die
Antwort in Empfang zu nehmen. Du kannst dann so lange spazieren gehen.
Einen Begleiter wirst Du schon finden.“

„Ich danke Ihnen, Pater.“

In der besten Stimmung entfernte sich Skipper. Der ehrenvolle Auftrag
hatte seine moralische Kraft gestärkt und ihn zugleich der bösen
Gelegenheit eines Rückfalles entzogen.

Doch war seine Umkehr noch nicht vollständig. Während er der Stadt
zuschritt, entbrannte in seinem Innern ein heftiger Kampf zwischen
dem erwachten Pflichtbewußtsein und der Furcht vor den bisherigen
Freunden. Skipper hatte bis jetzt als ein Feigling gelebt; es kam ihm
hart an, auf einmal als Held zu handeln. Er wußte, was Tom Playfair
bevorstand. Mit Aufbietung aller Mittel mußte er die Gefahr von dem
Bedrohten abwenden, das sagte ihm sein Gewissen. Und doch konnte er
sich nicht entschließen, das einzige Wort zu sprechen, das genügte, um
Tom Playfair zu retten. Die Vorwürfe seiner früheren Genossen, das Wort
‚Verräter‘ und ‚Feigling‘ im Munde dieser erklärten Feiglinge dünkte
ihm zu hart.

„Vielleicht,“ sprach er zu sich selbst, „wird auch ein glücklicher
Zufall ihren Plan vereiteln. Aber wenn das nicht geschähe -- der arme
Playfair! Und doch -- ich mag diejenigen nicht verraten, die meine
Freunde gewesen sind. -- Kann ich das? Muß ich das? -- Nein, es geht
nicht! Ich warte bis diesen Abend; sind Playfair und Quip nicht zur
rechten Zeit zu Hause, dann ist es ja noch immer früh genug, und ich
brauche die Vorwürfe von Prescott und Kenny nicht so zu fürchten.“

Skipper fühlte, daß sein Gewissen mit diesem Entschlusse nicht
zufrieden sei. Es war eine schwächliche Halbheit; die Ausführung
mußte Prescott und Kenny doch noch gegen ihn aufbringen, während
sein ungerechtfertigtes Zaudern zugleich bei den Vorgesetzten nur
Mißbilligung zu erwarten hatte. Skipper war eben trotz seiner Umkehr
noch ein Feigling, furchtsam und wankelmütig. Hoffen wir, daß sein
armseliger Wille nach und nach zu einer größeren Entschlossenheit
erstarkt.

[Illustration]




[Illustration]




12. Kapitel.

Percy entdeckt das Komplott und beschließt zu helfen.


Was trieb Percy an diesem Vormittag?

Still vergnügt saß er im Studiersaale an seinem Pulte. Gestern hatte er
wieder stark gespielt und war so steif und lahm geworden, daß er ohne
Schmerzgefühl nicht die geringste Bewegung machen konnte. Von allem,
was im vorigen Kapitel erzählt ist, hatte er keine Ahnung. Seite um
Seite las er ungestört ‚Dion und die Sybillen‘, und erst als die Glocke
zum Mittagessen rief, schleppte er sich mühsam in den Speisesaal.

Der Nachmittag war einladend. Der helle Sonnenschein hatte die klare,
reine Luft angenehm erwärmt. Daher beschloß Percy, nicht in den
Studiersaal zurückzukehren, sondern seine Lesung im Hofe fortzusetzen.
Von ~P.~ Middleton erbat und erlangte er die Vergünstigung, daß
er sich mit Dion und den Sybillen vom eigentlichen Spielplatz in einen
einsamen Winkel zurückziehen durfte.

Percy besaß die Fähigkeit, sich in eine Lektüre so zu vertiefen, daß
seine Sinne für die Außenwelt gleichsam abgestorben waren. Tom Playfair
hatte sich davon oft überzeugt, indem er sich von hinten an den
Lesenden heranschlich, ihm die Taschen leerte oder auch mit Steinen
füllte, oder indem er ihm die Krawatte in Unordnung brachte, was Percy
regelmäßig erst nachher mit großer Überraschung bemerkte.

Auch jetzt war Percy wieder weit vom Lande der Wirklichkeit entfernt.
Das Rufen auf dem Spielplatze, das Getöse eines vorbeifahrenden Zuges,
das Geschrei der verspäteten Herbstvögel, und was sonst um ihn herum
laut werden mochte, fiel nicht mehr in den Bereich seines Bewußtseins.
Percy weilte unter einem fremden Himmel bei fremden Menschen. Daß
der Lärm auf dem Spielplatze abnahm, weil die Zöglinge nach und nach
spazieren gingen, und daß zuletzt ein Trupp, aus weniger Zuverlässigen
bestehend, in Begleitung von ~P.~ Scott geräuschvoll das Pensionat
verließ, störte ihn so wenig, als geschähe es am andern Ende der Welt.

Allein nicht alle Zöglinge waren ausgegangen. Zweien der
Zurückgebliebenen müssen wir unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden.
Sie haben sich gleich Percy vom Spielplatze entfernt. Eben jetzt sind
sie von ihm kaum drei Schritte entfernt, seinen Augen aber durch einen
Mauervorsprung verdeckt. Offenbar wollen sie nicht bemerkt werden
und sind des Glaubens, ihr eifriges, sehr erregtes Gespräch, das sie
halblaut flüsternd miteinander führten, werde von niemanden vernommen.

In Percy erwachte aber doch ein unbestimmtes Gefühl, er sei nicht mehr
allein. Ihm war, wie jemanden, der im Traume ein wirkliches Geräusch
hört, das in ihm nur ein dunkles Bewußtsein weckt, während er ganz in
den Gebilden des Traumes weiter lebt. Auch hier gelangten die Worte der
Sprechenden lange Zeit zu Ohren, welche ihrer Bedeutung nicht achteten.
Noch immer hätte Percy mit Wahrheit sagen können, er habe von der
ganzen Unterhaltung auch nicht eine Silbe gehört.

Mit einem Schlage kehrte er aus den Tagen Dions in seine eigene Zeit
zurück; das Buch wäre beinahe seinen Händen entfallen.

„Sicherlich“ -- das waren die Worte, die ihn aus dem Traume
aufschreckten -- „wenn Playfair eine ganze Nacht in Frost und Nebel
daliegen muß, holt er sich eine schwere Krankheit. Sieh’ nur, wie klar
der Himmel ist; es wird kalt. Nein, das Ding geht zu weit, es ist ein
Verbrechen!“

Percy unterschied Skippers Stimme.

„Es ist zu spät,“ versetzte der andere, den Percy nicht erkannte.
„Prescott hat herausgebracht, daß Playfair und Quip diesen Nachmittag
einen Ausflug zum Paniflusse vorhatten. Kenny, Prescott und die meisten
von den andern, die nicht allein ausgehen dürfen, sind jetzt mit
~P.~ Scott fortgegangen. Unterwegs wollen sie den Pater bitten,
ein wenig vorangehen zu dürfen. So wollen sie sich von den übrigen
ganz trennen, sich bei dem Steinwall, weißt Du, mitten auf der Prärie,
verstecken und dort Quip und Playfair auflauern. Nachher wollen sie
dann vorgeben, sie hätten sich verirrt und hätten den Hauptzug nicht
wieder finden können.“

„O, ich will mit diesen Kerlen nie wieder etwas zu thun haben!“
versicherte Skipper. „Warum habe ich nicht eine kleine Andeutung
gemacht, als es noch Zeit war? Aber wenn ich noch einmal in der Lage
wäre, ich würde es gewiß abermals unterlassen. O, was für ein Feigling
ich bin! -- Doch warum soll denn Quip auch daran?“

„Kenny beabsichtigte es nicht, aber Prescott bestand darauf. Quip würde
sonst alles gleich verraten. Prescott will auch, daß man ihnen den Mund
verstopft. Sie sollen nicht einmal um Hilfe rufen können.“

„Ach, wenn sie sie nur nicht fänden! Vielleicht nimmt Tom für den
Heimweg den Pfad am Bahndamm entlang.“

„Nein, das thut er nicht. Prescott hat das alles ausspioniert. Die
beiden wollen bis vier Uhr am Paniflusse bleiben und dann auf dem
kürzeren Wege mitten über die Prärie heimkehren. In der Nähe des
Steinwalles haben sie ein paar Kaninchenfallen, nach denen sie noch
sehen wollen. Diese weiß Prescott auch, und so kann er sich mit seinen
Genossen leicht an einem Platze in den Hinterhalt legen, wo sie
notwendig vorbei müssen.“

„Ich fürchte, es geht den beiden sehr schlecht,“ sprach Skipper
traurig. „Jetzt sehe ich ein, daß ich mich mehr als einmal von ihm
zu ähnlichen Grausamkeiten habe verleiten lassen, obgleich es +so
weit nie+ gekommen ist. Sie binden die armen Jungen jetzt sicher so
fest, daß sie kein Glied rühren können. Dabei dürfen sie noch von Glück
sagen, wenn man sie nicht erst halb tot schlägt.“

Mehr verstand Percy nicht; denn die Redenden, die sich keineswegs
belauscht glaubten, entfernten sich jetzt in der Richtung zum
Spielplatze hin.

Man denke sich nun Percys Entsetzen und Aufregung! Seine besten Freunde
in Gefahr! Er selbst vermochte kaum einen Schritt ohne Schmerzen zu
machen, und Tom und Harry waren stundenweit von ihm entfernt!

Allein er war gewohnt, in jeglicher Not seine Zuflucht zum Gebete zu
nehmen.

„O mein Gott,“ flüsterte er auch jetzt mit beklommenem Herzen, „sende
mir Deine Hilfe! Gieb mir Licht! Gieb mir Kraft! Heiliger Schutzengel,
steh’ mir bei!“

Ein paar Augenblicke betete und überlegte er. Dann stand er auf, ließ
Dion und die Sybillen allein auf der Bank zurück und schritt mühsam zum
Spielplatze.

„Wenn ich nur Donnel und Keenan treffe,“ dachte er, „dann ist alles in
Ordnung. Die werden schon Mittel und Wege ausfindig machen.“

Aber von Donnel und Keenan war keine Spur, und unter den Zöglingen, die
er dort gewahrte, glaubte er keinen ins Vertrauen ziehen zu dürfen.

„~P.~ Middleton,“ wandte er sich endlich an diesen, „können Sie
mir nicht sagen, wo Donnel und Keenan sich jetzt wohl aufhalten mögen?“

„Irgendwo auf der Prärie,“ erwiderte der Angeredete lächelnd. „Bei
solchem Wetter bleiben die nicht zu Hause.“

„Wann kommen sie denn wohl zurück?“ fragte Percy ängstlich.

„Schwerlich vor halb fünf. Und jetzt ist’s kaum drei. -- Aber was
fehlt Dir denn, Percy? Du siehst so verwirrt aus.“

Percy zauderte mit seiner Antwort. An Tom, Harry und all seinen andern
Freunden hatte er nie bemerkt, daß sie etwas bei den Vorgesetzten
anzeigten, wenn sie es selbst, allein oder mit gleichgesinnten
Kameraden vereint, in Ordnung bringen konnten. War das vielleicht auch
hier der Fall? Ja, wären Donnel und Keenan zur Stelle, wie einfach
würde sich alles abwickeln lassen! Aber jetzt! Blieb ihm denn ein
anderes Mittel, als die Hilfe des Präfekten? --

Und doch, Percy entschloß sich zu schweigen. Er konnte ja schließlich
selbst, wenn auch mit großer Mühe, die Bedrohten warnen. Zudem hatte er
nur einen Teil der Unterredung gehört; es war also immerhin möglich,
daß der Anschlag ihm entsetzlicher vorkam, als er in Wirklichkeit war.
So schien es ihm wenigstens.

„Ja gewiß,“ dachte er, „ich kann ja nicht einmal mit voller Sicherheit
sagen, +was+ eigentlich im Werke ist.“

Thatsächlich wäre Percy zu einem rückhaltlosen Bericht des Gehörten
verpflichtet gewesen, schon deshalb, weil ein Zögling wie Prescott
ein wahres Unglück für das gesamte Pensionat war. Allein Percy wußte
es damals nicht besser. Er wollte selber den Plan vereiteln, um seine
Mitzöglinge keiner Strafe auszusetzen, eine Rücksicht, die wahrhaftig
niemand von ihnen, am allerwenigsten Prescott, verdient hätte.

Einen Augenblick nur hatte es gebraucht, bis dieser Entschluß feststand.

„~P.~ Middleton, ich bitte um die Erlaubnis, an den Panifluß zu
gehen. Ich muß Tom und Harry etwas Wichtiges sagen.“

Der Präfekt ahnte, daß der Knabe wohl besondere Gründe zu diesem
Ersuchen habe. Allein er glaubte nicht weiter in ihn dringen zu sollen;
jedenfalls beabsichtigte Percy nichts Schlimmes. Daß er aber vom
vorigen Tage her noch so gelähmt sei, entging ~P~. Middletons
Auge. Percy hatte sich ja eingewöhnt, ließ sich behandeln und wollte
behandelt werden wie jeder andere Zögling.

„Gut, Percy! thu’ das nur!“

„O, ich danke Ihnen sehr, Pater. Sie sind immer so gut. Darf ich Sie
noch bitten, mir, wenn es Ihnen nicht zu viele Mühe macht, den nächsten
Weg zu zeigen?“

„So, Du bist noch nicht da gewesen? Dann gebe ich Dir die Erlaubnis
nur unter der Bedingung, daß Du mir versprichst, hin und zurück den
Bahndamm entlang zu gehen. Da kannst Du Dich nicht verirren, und wenn
Du Tom und Harry nicht treffen solltest, findest Du Dich auch allein
wieder heim. Auf diesem Wege brauchst Du ungefähr eine Stunde.“

„Und jetzt ist es drei,“ sprach Percy und sah auf seine Uhr.

„Nein, schon fünf Minuten nach drei, Deine Uhr ist etwas zurück.“

„O weh, o weh!“ seufzte Percy leise, als er sich mit einer steifen
Verbeugung entfernte.

Hastigen Schrittes eilte er der Pforte zu. Sein gefühlvolles Herz
schlug heftig bei dem Gedanken, er komme vielleicht zu spät; seine
Freunde könnten ja den Rückweg früher angetreten haben, als sie
ursprünglich festgesetzt.

Schon hatte er das Thor erreicht, als er seinen Namen rufen hörte. Er
wandte sich um und sah ~P.~ Middleton auf sich zukommen.

„Warte einen Augenblick, Percy! -- Möglicherweise findest Du die beiden
nicht gleich. Hier, nimm diese Pfeife mit; sie hat einen sehr hellen
Ton, der weithin hörbar ist. Vielleicht ist sie Dir von Nutzen.“

„Aber Sie sind doch zu gütig,“ rief Percy, seine großen,
ausdrucksvollen Augen voll inniger Dankbarkeit auf den Pater gerichtet.
„O, ~P.~ Middleton, ich will für Sie beten, daß Ihnen Gott Ihre
Freundlichkeit vergilt.“

Sinnend schaute ~P.~ Middleton dem Wegeilenden nach, bis er um
eine Ecke seinen Augen entschwand. Was mochte der Knabe vorhaben?

[Illustration]




[Illustration]




13. Kapitel.

Ist das ein Feigling?


Sobald Percy vom Hofe aus nicht mehr gesehen werden konnte, begann er
zu laufen. Von seiner Steifheit fühlte er in der Aufregung nichts mehr.
Niemand hätte bei seinem Anblick geglaubt, daß er zehn Minuten vorher
sich kaum durch den Hof zu schleppen vermochte.

Ein paar Minuten rannte er dahin. Allein dann traten auch schon die
ersten Zeichen der Ermattung ein. Sein Atem wurde kürzer, heftiger und
lauter, und sein Herz fing an rascher zu schlagen.

„O mein Gott, mein Gott! Was soll ich anfangen?“ murmelte er, während
sein Lauf sich in ein schnelles Gehen verwandelte. „Ich bin ja so
schwach und müde! Und Tom und Harry sind in Gefahr! Mein heiliger
Schutzengel, hilf mir!“

Doch während der ersten Viertelstunde schritt er immerhin noch rüstig
voran, obgleich ein Ruf zu seinem unsichtbaren Begleiter fast jeden
seiner Schritte begleitete.

„Ein gutes Viertel des Weges! Gott sei Dank! Jetzt mutig ans zweite!“

Mit einem neuen, innigen Gebete zu seinem Engel, den er mit dem Auge
eines lebendigen Glaubens sich gegenwärtig sah, setzte er sich wieder
in Trab.

Aber dieses Mal verließen ihn die Kräfte viel schneller. Um seine
Leiden und Befürchtungen zu erhöhen, machte sich auch die frühere
Lähmung wieder fühlbar. Jeder Schritt verursachte ihm Schmerzen.
Sein Gesicht glühte vor Anstrengung und war von Schweißtropfen ganz
bedeckt. Aber die krampfhaft zusammengepreßten Lippen und der feste,
entschlossene Blick zeigten deutlich, daß ein starker, männlicher Wille
in diesem schwachen Körper wohne. Jeder Schritt kostete Mühe und Pein,
aber jeder Schritt wurde auch aufgeschrieben an jenem Orte, zu dem Pein
und Müdigkeit keinen Zutritt haben, weil er der Wohnplatz ungestörten
Friedens und seliger Ruhe ist.

Percys Schmerzen nahmen mit jeder Minute zu. Bald quollen ihm die
Thränen aus den Augen und rollten die Wangen herab. Aber jetzt war
es zum Umkehren schon zu spät. Jetzt konnte nur noch er, er allein,
Tom und Harry retten. Und doch, wie heftig drängte es ihn, sich
niederzulegen! Wie einladend erschien seinen Augen das verdorrte,
herbstliche Gras!

„O, ich komme nicht weiter!“ dachte er. „Aber wenn ich nicht weiter
komme, werden Tom und Harry -- nein, ich halte aus! Vorwärts! So lange
ich nicht umfalle, gehe ich voran!“

Abermals begann er zu laufen, und merkwürdigerweise hielt er jetzt
länger aus, als das erste Mal, obgleich ihm der Schmerz einen Seufzer
um den andern entpreßte.

Ein heftiger Luftstoß von Norden traf ihn, ergriff seinen Hut und
führte ihn wirbelnd weg. Der Wind begann sein gefühlloses Spiel mit
Percys Lockenhaar zu treiben; bald schlug er es ihm vor die Augen, bald
ließ er es lang in der Lust flattern. Aber darauf konnte der Knabe
nicht achten. Es galt ja Tom und Harry zu retten.

Ist das noch Mamas Herzkäferchen von Anfang des Schuljahres? Derselbe,
der meinte sterben zu müssen, wenn er weiter als zwanzig Minuten gehe?
Er ist es und ist es nicht. Diesen Opfergeist brachte er schon aus dem
Elternhause mit; allein seine Körperkräfte hätten damals nicht ein
Dritteil dieser Anstrengungen zu leisten vermocht.

Eine starke halbe Stunde war er nun schon unterwegs. Da stieß er in
seinem peinvollen Laufe mit dem Fuße an einen Stein, daß er wankte
und hinstürzte. Schwindel überkam ihn, und zugleich stieg das blinde,
aber sehr mächtige Verlangen in ihm auf, liegen zu bleiben, wo er lag.
Der Kopf sank ihm zur Erde; die Augen schlossen sich; er war beinahe
bewußtlos. Tom und Harry schienen verloren. Da erschauerten plötzlich
seine Glieder -- vielleicht von der Kälte des nahenden Abends; er
schlug die Augen auf, das Bewußtsein kehrte zurück.

„O Maria, hilf!“ stöhnte er.

Mit Aufbietung aller Willenskraft erhob er sich und nahm den Weg wieder
unter seine Füße. Freilich schwindelte ihm noch, und sein Herz pochte
laut hörbar. Aber er zwang sich voran -- weiter, weiter!

Auf einmal entfuhr seinen Lippen ein Laut -- es war kein Schrei -- der
Freude. Die Brücke, die Panibrücke war in Sicht, noch weit weg, aber in
Sicht.

„O Gott sei Dank!“ sprach er oder versuchte er zu sprechen, denn die
zersprungenen Lippen versagten ihren Dienst.

Abwechselnd gehend und laufend eilte er mit erneuertem Mute der Brücke
zu. Je näher sie kam, um so mehr wuchs seine Hoffnung und ersetzte die
schwindenden Kräfte. Noch ein Lauf -- ein paar hundert Schritte --
jetzt ist die Brücke erreicht.

Zitternd, atemlos, den Ausdruck des Schmerzes in dem von Schweißtropfen
und Thränen überronnenen Antlitze langte er an; seine Kleider und
selbst sein Haar waren mit Staub bedeckt. Da lehnte er, todmüde, aber
innerlich frohlockend, an einen Pfosten und ließ sein Auge die Gegend
auf und ab durchmustern. Doch von Tom und Harry gewahrte er nichts.
Er zog die Pfeife hervor und setzte sie an die Lippen; sie gab einen
starken, durchdringenden Ton. Allein auch ihre Stimme blieb ohne
Antwort. Kein Laut unterbrach die Einsamkeit der Prärie; keine Bewegung
gewahrte er, als das träge, schleichende Wasser des Flusses.

Er wollte weiter gehen. Aber wohin? Den Fluß hinauf oder hinab? Noch
nie hatte ihn ein Spaziergang an diesen Fleck der Prärie geführt.
Er wußte auch nicht, welche Plätze für Tom und Harry eine besondere
Anziehungskraft besaßen, so daß er sie dort hätte aufsuchen können.

Da fiel ihm ein, daß die beiden Freunde ja vom Flusse aus über
die Prärie heimgehen wollten, und daß dieser Weg bei weitem der
kürzere sei. Das konnte aber nur der Fall sein, wenn sie sich weiter
stromaufwärts befanden. Ohne Zögern machte er sich also wieder auf.

In einer Entfernung von ungefähr tausend Schritten sah er eine leichte
Erhöhung, von deren Scheitel er sich einen Rundblick über die Ebene
und namentlich über das Flußufer versprach. Dorthin schleppte er sich
also mit Einsetzung aller Kräfte, welche Liebe und Hoffnung in den
erschöpften Gliedern noch rege machen konnten. Auf halbem Wege sah
er sich gezwungen, einen Augenblick zu rasten; es kam ihm vor, als
drehe sich um ihn herum alles im Kreise. Er war nahe daran, abermals
hinzusinken.

„Herz Jesu, gieb mir Kraft!“

Wieder konnte er sich voranschleppen. Noch ein paar Minuten voll
Schmerz und Anstrengung, und er stand oben.

Zum Teil war seine Erwartung erfüllt; denn die Höhe gewährte eine
ziemlich weite Aussicht. Allein die beiden Knaben vermochte er nicht zu
entdecken.

Percy brach nicht in Thränen aus; sein Kummer war für Thränen zu tief.
Sollten also trotz all seiner Anstrengung die lieben Freunde ihrem
Schicksal nicht entrinnen?

Noch einmal durchschweifte sein ermattetes Auge den Gesichtskreis.
Gegen Westen hin, nicht sehr nahe, hob sich eine langgestreckte
Hügelwelle scharf vom klaren Abendhimmel ab. Standen nicht zwei Figuren
auf ihrem Scheitel? Percys Sehkraft war zu sehr geschwächt, um das mit
Sicherheit sagen zu können. Aber wenn sie es wären, was half es ihm? So
weit reichte ja die Stimme eines Halbtoten nicht. Und womit könnte er
sich ihnen sonst bemerklich machen? -- Ach ja, die Pfeife. Wieder ließ
er sie schrill und laut ertönen.

Wurde sie gehört? Wandten sich die zwei Gestalten, in denen er seine
Freunde zu erblicken glaubte, bei ihrem Schalle um? Noch einmal pfiff
er und versuchte mit letzter Kraft ihre Namen zu rufen. Armes Kind!
Dein Rufen würde kaum ein Vögelchen aufscheuchen, wenn es auch gerade
vor Dir säße.

Das Gefühl des Schwindels nahm zu. Percy wußte kaum noch, was er that.
Er bückte sich nieder und suchte am Boden umher, wonach, das hätte
er selbst nicht sagen können. Ein langer Stock, der wohl einmal als
Angelrute gedient hatte, lag dort im dürren Grase. Percy ergriff ihn,
nahm sein Taschentuch, knüpfte es hastig an das eine Ende desselben und
schwenkte es dann hoch in der Luft hin und her, so lange, bis er wankte
und ohnmächtig zu Boden fiel.

[Illustration]




[Illustration]




14. Kapitel.

Wie die geretteten Freunde ihrem Retter helfen.


Tom kniet auf dem Boden und sieht besorgten Blickes in das Antlitz des
Bewußtlosen. Endlich öffnen sich die Augen.

„Geht es besser, Percy?“

„Wasser!“ haucht der kaum Erwachte.

„Lauf schnell, Harry!“

Der tummelte sich nicht schlecht und kehrte bald mit einer Feldflasche
voll Wasser zurück.

Der Trunk erfrischte Percy sichtlich; das erblaßte Antlitz zeigte
wieder mehr Farbe und Leben.

„Trink noch einmal, Percy! Es thut Dir wohl. -- So -- in zwei Minuten
bist Du wieder wie neugeboren!“

„O Tom!“ flüsterte Percy mit schwacher Stimme. „Ich war so nahe daran,
Euch nicht mehr zu treffen.“

„Das warst Du allerdings. Hättest Du nicht einen so höllischen Lärm mit
Deinem Pfeifen gemacht, Harry und ich wären schon halbwegs bis Maurach.
-- Aber jetzt laß hören, was Dich auf die Prärie herausgetrieben hat!
Jeder vernünftige Junge mit Beinen, wie Du sie hast, wäre eher zu Bett
gegangen. Du bist ja kaum imstande wieder heimzukommen. Und erst wenn
Du uns nicht getroffen hättest!“

Percy erwiderte nichts.

„Es muß etwas los sein,“ fuhr Tom fort. „Hat Dich wieder jemand
gequält?“

„O nein, Tom. Die meisten sind ja sehr freundlich gegen mich. Und
selbst wenn sie mich einmal necken, weil ich noch so mädchenhaft bin,
dann geschieht es immer mit so großer Gutmütigkeit.“

„O das kennen wir!“ warf Harry dazwischen.

„Ich wollte Euch nur bitten, nicht über die Prärie, sondern den
Bahnkörper entlang nach Hause zu gehen.“

Tom pfiff.

„Und wir sollen glauben, Du hättest Deine armen Beine so mißhandelt und
Dich in eine tödliche Ermüdung gerannt, nur um uns einen andern Heimweg
anzuraten?“

„Doch, Tom. Prescott und -- ich weiß nicht wer sonst, es sind ihrer
aber mehrere -- liegen auf der Prärie im Hinterhalt und lauern Euch
auf. Sie wollten Euch binden und Euch dann auf der Prärie liegen
lassen. Ich war so in Angst, ich möchte Euch verfehlen, und das wäre
beinahe auch geschehen. Jetzt bin ich so froh, daß es gelungen ist.
Gott sei Dank!“

Sprachlos starrten ihn die beiden Freunde an. Zum erstenmale seit
langer Zeit füllten sich Toms Augen mit Thränen. Harry Quip aber brach
in lautes Schluchzen aus.

„Percy,“ sprach endlich Tom mit einer Stimme, die zugleich Rührung und
Nachdruck wiedergab, „wenn ich je gesagt habe, Du seiest kein rechter
Junge, so war ich verrückt. Als wir Dich diesen Mittag sahen, konntest
Du kaum einen Schritt thun, und jetzt läufst Du eine ganze Stunde um
zweier armen Tröpfe willen!“

Er wischte sich verstohlen die Augen.

„O bitte, Tom! Macht nicht so viel Aufhebens davon. Es war gar nicht
so schrecklich. Mir ist ja gar nichts Schlimmes passiert. Ich bin nur
deshalb ohnmächtig geworden, weil ich eben die viele Bewegung noch
nicht ertragen kann. Ich wollte von Herzen gern für jeden von Euch noch
viel mehr thun.“

„Ich bildete mir immer ein,“ fuhr Tom unbekümmert um Percys Worte fort,
„ich wüßte, was ein rechter Junge ist. Unsinn! Nichts wußte ich. Jetzt
geht mir erst ein Licht auf. O Percy, Percy, wie konntest Du --“

Schnell erhob sich Percy.

„Kommt! vorwärts! Es ist die höchste Zeit! Mir fehlt ja nichts! Ich bin
wirklich noch nie so froh gewesen wie jetzt. Ich hätte nie geglaubt,
Euch noch irgendwie nützlich sein zu können.“

„Das bist Du aber,“ erklärte Tom bewegt, „und bist es gewesen. Von Dir
habe ich mehr gelernt als aus vielen, vielen Büchern.“

„Und ich,“ fügte Harry bei, dessen Erregung soweit nachgelassen hatte,
daß er seine Dankbarkeit in Worte kleiden konnte, „ich hätte nie
gedacht, ich könnte von Dir auch nur halb so viel lernen, als Du mir in
diesen paar Minuten beigebracht hast.“

Eine Pause trat ein. Für beide Knaben, die, selber edelmütig und
großherzig, Percys Opfermut voll und ganz zu würdigen verstanden,
bedurfte es einiger Ruhe, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder den
Forderungen des Augenblicks zuwenden konnten.

„Wie sollen wir heimkommen, Tom?“ fragte endlich Harry. „Er hat sich
kaum hierhin zu schleppen vermocht und kann unmöglich denselben Weg
noch einmal zurücklegen.“

„O, ich bin ja noch ganz gut auf den Beinen!“ versetzte Percy
entschlossen. „Nur wegen des Laufens bin ich so müde geworden. Gehen
kann ich ohne Mühe.“

Schweigend schritten sie nun dem Bahnkörper zu.

„Wären nur Donnel und Keenan hier!“ knirschte Tom nach einer Weile und
ballte die Faust. „Dann gingen wir sicher den andern Weg!“

„Es wird schon merklich kälter,“ sprach Harry. „Es giebt eine frostige
Nacht. Und wie schneidend kalt der Wind ist! Huuu -- -- denk’ nur, was
wir zittern und beben würden, wenn wir in diesem linden Lüftchen fein
ruhig zu liegen hätten. Und eine ganze Nacht durch! Da verginge es uns
schon, am andern Tage auch nur ‚Guten Morgen‘ zu sagen!“

„Auch wenn sie uns kein Schnupftuch in den Mund gestopft hätten,“
ergänzte Tom.

Percy erzählte dann mit schwacher Stimme, wie es ihm gelungen, hinter
den abscheulichen Plan zu kommen. Allein unterdessen wurden seine
Schritte immer unsicherer, während zugleich hin und wieder ein Ausdruck
des verhaltenen Schmerzes über sein Gesicht glitt.

Mittlerweile war es fast halbfünf geworden, und die Strecke, die sie
zurückgelegt, betrug noch nicht ein Viertel des Heimweges.

„Percy,“ sprach Tom, als die Erzählung zu Ende war, „Du bist ja fast
außer stande, weiter zu gehen. Wenn ich Dir doch meine Beine wenigstens
für einige Zeit abtreten könnte! Die würden sich freuen, endlich einmal
in anständige Gesellschaft zu kommen.“

„Sorge nicht um mich, Tom! Ich bin ja ganz wohl. Allerdings fühle ich
mich etwas gelähmt, das ist wahr. Es kommt aber nur davon, daß ich im
Laufen gar keine Übung habe.“

„Gut, Percy, deshalb wollen Harry und ich Dir von unsern Beinen soviel
leihen, als sich machen läßt. -- Harry, nimm Du seinen rechten Arm; ich
fasse ihn beim linken. Wir können ja denken, wir wären Polizisten und
sollten diesen Burschen auf die Wache bringen.“

„O, ich wollte nur, ich wäre ein Polizist!“ versicherte Harry. „Dann
hätte ich bald Hilfe herbeigepfiffen. -- Nein, doch nicht! Ich ließe
niemand helfen, so lange ich selber noch einige Kräfte hätte.“

Von den Freunden unterstützt, ja fast getragen, ging Percy wieder ein
Weilchen voran. Doch es entging ihren wachsamen Augen nicht, wie trotz
ihrer Hilfe immer häufiger ein heftiger Schmerz seinen ganzen Körper
erschütterte.

„Und alles das für mich und Harry!“ dachte Tom, während sich abermals
seine Augen heimlich mit Thränen füllten. „Wenn wir nicht mehr für
ihn thun, zieht sich der arme Junge noch einen ernsten Schaden zu. --
Hätte er nur von der ganzen Verschwörung nichts gehört! Wir hätten
uns vielleicht doch noch durchgeschlagen. Und wenn nicht -- ich
wollte lieber die ganze Nacht da liegen, als den guten Percy in diesem
Zustande sehen!“

„Wir wollen einmal einen Augenblick ausruhen!“ fügte er laut bei.

Sogleich zog er dann seinen Rock aus; Harry verstand ihn und folgte
seinem Beispiele. So bereiteten sie für Percy auf einem grasbedeckten
Plätzchen ein Lager. Tom setzte sich an dem einen Ende desselben, den
Rücken gegen einen Stein gelehnt flach auf den Boden und zwar so, daß
er das Lager an seiner rechten Seite hatte.

„Jetzt, Percy,“ sprach er, „leg’ Dich hier nieder! Du bist von Deiner
Anstrengung noch zu heiß und würdest Dich auf dem bloßen Boden
erkälten. Ein Kissen haben wir leider nicht; deshalb mußt Du es Dir auf
meinem Knie bequem machen.“

Ohne Widerrede that Percy nach Toms Anweisung, indem er beiden dankbar
zulächelte. Kaum hatte er sich ausgestreckt, als seine Augen auch
sofort zufielen, gerade als sänke er in eine plötzliche Ohnmacht.

Beide Knaben sahen mit lebhaftester Besorgnis in das ruhige,
abgemattete Antlitz, das ihnen in ihrer Angst vorkam wie das Antlitz
eines Toten.

„Harry,“ sprach endlich Tom im leisesten Flüstertone, „meinst Du
wirklich, Percy könnte schneller gehen, wenn er etwas geschlafen hat?“

„Sicher nicht; wir müssen ihn so ganz langsam heimbringen, wenn wir
auch eine Stunde zu spät kommen.“

„Ich will Dir was sagen, Harry. Zu Fuß kommt er nie nach Haus. Ich
bleibe hier und warte, bis er erwacht; dann trage ich ihn, soweit ich
komme. -- Ach wäre ich doch nur für eine Stunde ein Mann! -- Du aber
rennst jetzt gleich, was Du rennen kannst, und holst Hilfe, am besten
einen Wagen. -- Wir wollen beten, daß alles gut abläuft.“

Ungesäumt eilte Harry davon, während Tom geduldig Percys Erwachen
abwartete. Ängstlich lauschte er auf die schwachen Atemzüge des
Schlafenden. Da schlug dieser die Augen auf.

„O, Gott sei Dank!“ rief Tom. „Wie fühlst Du Dich, Percy? Besser?“

Percy gewahrte die übergroße Bekümmernis seines Freundes.

„O gewiß!“ sprach er leise, indem er sich bemühte, frisch und wohlgemut
dreinzusehen. „Ich glaube, ich komme jetzt bis nach Hause.“

„Sehr gut, Percy! Also voran!“

Tom half ihm aufstehen und zog dann seine Jacke an.

„Und Du kannst wohl Harrys Jacke tragen, Percy.“

„Sehr gern, Tom!“

„Gut, ich hänge sie Dir um wie ein Kriegsmäntelchen; das sieht ganz
schön aus.“

Percy war zu sehr geschwächt, um seiner Überraschung noch Ausdruck zu
verleihen, als ihn Tom jetzt ohne Umstände ergriff, aufhob und mit ihm
weiter ging, als verstände sich das von selbst.

Zum Glücke für Tom war der Leidende, obgleich ein volles Jahr älter,
sehr zart gebaut. Doch blieb er immerhin eine ansehnliche Last für den
Zwölfjährigen. Aber Dankbarkeit und ein gewisser edler Stolz, sich an
Großmut nicht übertreffen zu lassen, schienen Toms Kräfte zu erhöhen.

So schritt er dahin, schnellen und sichern Fußes. In seinen Mienen trug
er eine möglichst große Gleichgültigkeit zur Schau, obwohl er bald
anfing hastiger zu atmen.

„Keine Angst, Percy!“ sagte er, als dieser ihn einmal sehr besorgt
anschaute. „Ich werde nicht müde. Du weißt ja, ich war immer darauf
aus, meine Kräfte zu üben. Ich habe schon Schwereres gehoben. Ich
könnte sogar mit Dir laufen, nur fürchte ich, anzustoßen und Dich
unsanft auf den Boden zu setzen.“

Bald gewahrte er durch die schon tief herabgesunkene Dämmerung einen
Reiter im Galopp heransprengen. Sollte das schon die Hilfe sein, die
Harry schickte? Sein Herz schlug freudiger, je näher Roß und Reiter
kamen.

„Hurra!“ rief er, als die Gestalt des Helfers einigermaßen kenntlich
geworden. „Percy, hättest Du das gedacht? ich glaube, es ist ~P.~
Middleton.“

[Illustration]




[Illustration]




15. Kapitel.

Wie ein Vierter allen zu Hilfe kam. -- In der Infirmerie.


~P.~ Middleton war es. Ein paar Worte mögen seine Ankunft erklären.

~P.~ Scott, der den Trupp Spaziergänger begleitet hatte, traf kurz
vor fünf Uhr wieder im Pensionate ein, machte aber die Mitteilung, daß
Kenny, Prescott und etliche andere fehlten. In ~P.~ Middleton
stieg sofort der Gedanke auf, es könne dieser Streich wohl mit den
Ereignissen des Tages in irgend welchem Zusammenhang stehen. Playfair
hatte ja Kenny und dessen Gesellen bei der Mißhandlung des kleinen
Granger gestört. Percy Wynn hatte unter den Zeichen größter Aufregung
nach Playfair gefragt. Richtig, der Arme war ja ganz gelähmt, sonst
wäre er sicher gar nicht mehr zu Hause gewesen; und doch lief er
so eilig hinaus! Wollte er etwa einen Anschlag gegen seinen Freund
verhindern?

„Warum habe ich ihn doch nicht weiter ausgefragt? Ich zweifle nicht,
daß sein ganzes rätselhaftes Treiben mit dem Ausbleiben dieser
Schlingel zusammenhängt.“ -- „~P.~ Scott,“ sprach er, „wollen Sie
die Güte haben, mich für die nächste Stunde zu vertreten? Ich will
sehen, ob ich der Sache nicht gleich auf den Grund kommen kann. Es muß
etwas Schlimmes im Werke sein. Beten Sie zu den heiligen Schutzengeln!“

Mit diesen Worten entfernte er sich, sattelte das beste Reitpferd,
stieg auf und jagte dem Paniflusse zu.

Als er sich dem oft genannten Steinwalle näherte, wurde er einiger
dunklen Gestalten ansichtig, die sich vor dem Reiter verbergen zu
wollen schienen. Er gab seinem Tiere die Sporen und hatte bald das
Häuflein der Wegelagerer erreicht. Es waren genau diejenigen, welche
vom Spaziergange nicht mit heimgekommen waren.

„Sofort nach Hause!“ donnerte er streng. „Wer in zwanzig Minuten nicht
da ist, kann sich auf eine gehörige Strafe gefaßt machen. Was Ihr bis
jetzt verdient habt, sage ich Euch heute Abend.“

Dann wandte er sein Pferd, ließ die verblüfften Attentäter mit ihrem
Schrecken allein und galoppierte dem Bahnkörper zu, wo er seiner
Anweisung an Percy zufolge auch noch etwas zu entdecken hoffte. Bald
hatte er den Bahndamm in Sicht. Was auf der hohen, scharf abgegrenzten
Linie desselben in Bewegung war, ließ sich leicht erkennen, da es sich
vom Firmamente deutlich abheben mußte. So brauchte ~P.~ Middleton
nur ein paar Minuten in der Nähe über die Prärie hinzureiten, um den
eilenden Harry zu gewahren. In einem Augenblick war er bei ihm.

„O ~P.~ Middleton!“ rief der hemdärmelige Läufer, „Gott sei Dank,
daß Sie kommen! Der arme Percy ist halbtot vor Müdigkeit. Ich bin
vorangelaufen, um Hilfe zu holen. Tom ist bei ihm, nur vielleicht zehn
Minuten von hier.“

„Warum habt Ihr denn nicht den kürzeren Weg über die Prärie genommen?“

„Weil -- ja, weil Percy das nicht wollte.“

„So, so, Percy wollte das nicht! -- Und wo ist Deine Jacke geblieben?“

„Meine Jacke? Die wird mir Tom wohl mitbringen. Percy hat noch darauf
geschlafen, als ich wegging.“

„Gut, Harry! Geh’ jetzt zurück, daß Du Deine Jacke wiederbekommst.“

Er verdoppelte seine Eile und war schnell bei Tom, der schon recht
unsicher unter seiner Bürde daherschritt.

„Bravo, Tom! Bravo! Du bist ja selbst schon müde zum Umfallen. Ist
Percy bewußtlos?“

„O, ich bin ganz wohl, Pater!“ rief Percy, so laut die kraftlose Stimme
noch rufen konnte. „Guten Abend, Pater!“

„Kannst Du ihn mir heraufreichen, Tom?“

„Gewiß,“ sprach der kleine Träger und keuchte heran. „Er ist gar nicht
besonders schwer.“

~P.~ Middleton nahm ihn vor sich und setzte ihn, so gut es ging,
zurecht.

„Armes Kind!“ sprach er mitleidig. „Und ich selbst trage noch die
Schuld daran. Es hätte mir doch einfallen müssen, daß Du schon so müde
warest. Ich hätte Dich nicht sollen gehen lassen.“

„O, Sie konnten mir nichts Lieberes thun, Pater, als mich gehen lassen.
Um keinen Preis möchte ich diesen Gang missen.“

„Tom,“ fuhr der Präfekt fort, „Du gehst jetzt zu Harry, der gerade so
müde ist wie Du. Ihr braucht nicht rasch zu gehen. Percy und ich sind
vor Euch zu Hause und wollen sorgen, daß noch ein gutes Abendessen für
Euch bereit steht. Nicht wahr, Percy?“

Percy lächelte schwach.

„Wenn Ihr anlangt, begebt Ihr Euch gleich zur Infirmerie. Der
Krankenbruder soll Euch heute zu Gast haben. Laßt es Euch nur
ordentlich schmecken! -- Ah, Harrys Jacke! Da, gieb sie ihm!“

Dann sprengte er in einem sanfteren Schritt, der seinem leidenden
Gefährten nicht unangenehm war, zum Kolleg zurück. Dort lenkte er
zur Thüre der Infirmerie, stieg ab und trug seinen Schützling in die
Abteilung, welche für die Kleinen bestimmt war.

„Bruder, hier ist ein Junge, der mal probieren wollte, wie weit er
laufen könnte, ohne sich umzubringen.“ Dabei legte ~P.~ Middleton
den Knaben sanft auf ein Bett nieder. „Sie sehen, er ist sehr schwach
und bedarf etwas, um wieder auf die Beine zu kommen.“

Der Bruder begab sich in seine Apotheke und kehrte mit einem Glase Wein
zurück.

„Nimm das, Kleiner, dann wird es gleich besser. -- Es freut mich
übrigens, daß Du kommst,“ fuhr er fort, während Percy langsam den
stärkenden Trank zu sich nahm. „Seit vierzehn Tagen ist niemand mehr
hier gewesen, und es wird mir beinahe langweilig.“

„Diesen Abend wird’s Ihnen nun jedenfalls nicht langweilig werden,
Bruder,“ sprach ~P.~ Middleton. „Ich habe noch zwei andere hierher
bestellt: Quip und Playfair. Sie haben Percy brav geholfen und sind
fast so müde wie er. Sie hoffen bei Ihnen bis morgen Kost und Obdach
zu finden. Für diese Gäste dürfen Sie heute auch etwas mehr aufwenden.“

„O, natürlich, Pater,“ erwiderte der Bruder herzlich und rieb sich die
Hände. „Ein Abendessen sollen sie haben, wie noch niemals, seit sie in
Maurach sind.“

„Gut also. Ich habe noch einige wichtige Sachen in Ordnung zu bringen,
Bruder. Deshalb will ich mich zurückziehen und Ihnen alles Weitere
überlassen. -- Gute Nacht, Percy!“

„Gute Nacht, ~P.~ Middleton. Meine Schwestern hätten nicht gütiger
sein können, als Sie gewesen sind, ja nicht einmal meine Mutter.“

Der Pater lächelte, als er sich ohne weitere Entgegnung rasch
entfernte. Ich vermute, er beeilte sich deshalb so sehr, weil er ein
Erröten sich nicht wollte anmerken lassen.

Die Zöglinge hatten den Speisesaal schon wieder verlassen und spielten
auf dem Hofe.

~P.~ Middleton ging jedoch nicht zu ihnen, sondern in sein Zimmer,
und ließ Kenny zu sich rufen.

Nachdenklich setzte er sich an seinen Tisch, stützte den Kopf auf beide
Hände und suchte nach dem Faden, der die Ereignisse dieses bewegten
Tages verknüpfte.

„Was weiß ich nun eigentlich?“ sprach er zu sich selbst. „Heute Morgen
platzt Tom mit diesen nämlichen Jungen zusammen -- dann sehe ich die
verdächtige Munkelei im Hofe -- es muß sich um etwas ungewöhnlich
Niedriges gehandelt haben, sonst hätte sich Skipper nicht von ihnen
losgesagt, und Skipper war auch am Nachmittag nicht mit dabei -- dann
Percy mit seinem rätselhaften Unterfangen, das ihn nahezu ruiniert, --
und zu welchem Zweck? damit die beiden nicht auf dem vorgehabten Wege
heimkehren -- ich treffe die Bande an einer Stelle, wo Playfair und
Quip vorbeigekommen wären, wenn Percy sie nicht gewarnt hätte -- man
hat auf sie gelauert -- aber was sollte ihnen wohl geschehen -- und wer
ist das eigentliche Haupt der Verschwörung -- doch vielleicht erfahre
ich das jetzt.“

Es klopfte.

„Herein!“

Kenny, totenblaß, betrat das Zimmer.

„Ah, da ist er! Das ist eine saubere Geschichte, Kenny. ~P.~ Scott
hat Euch diesen Morgen Euer Betragen schon vorgerückt. Ich glaube aber,
von der Wirklichkeit hatte er gar keine Ahnung. -- Was kannst Du zu
Deiner Verteidigung vorbringen?“

„Der Anschlag geht ganz gewiß nicht von mir aus, Pater,“ beteuerte
Kenny, der mit Recht fürchtete, man werde ohne weiteres ihn in erster
Linie verantwortlich machen. „Ich schäme mich fürchterlich, Pater,
daß ich nachgab. Aber ich hatte nicht vorausgesehen, daß eine so
schrecklich kalte Nacht folgen würde.“

„Oho, kalte Nacht!“ sprach der Präfekt zu sich selbst. „Playfair
sollte also draußen die Nacht zubringen. Gar nicht übel, das! Aber
wie?“ Mit lauter Stimme fuhr er fort: „Daran hättest Du aber denken
+müssen+. Die beiden hätten sich ja eine schwere Krankheit
zuziehen können!“

„Ich habe das auch immer entgegen gehalten und habe gesagt, man sollte
ihnen wenigstens den Mund nicht verstopfen. Aber Prescott wollte nichts
davon wissen. Er sagte, sie machten dann einen solchen Lärm, daß alles
in die Brüche ginge.“

„So?“ ~P.~ Middleton wußte genug. „Ich will mir den Fall weiter
überlegen. Du kannst gehen.“

„Aber, Pater, seien Sie überzeugt, daß ich mich bessern will. Haben Sie
noch einmal Geduld mit mir! Ich weiß, daß ich mich bessern kann, wenn
ich will. O, bitte, Pater, sorgen Sie doch, daß ich nicht weggejagt
werde! O, ich hätte nie gedacht, daß es so weit mit mir kommen würde.
Ich versichere Sie, es soll anders werden.“

„Nun ja,“ erwiderte ~P.~ Middleton, bewegt durch die Reue und die
Angst, welche aus des Knaben Zügen sprach. „Ich will versuchen, ob sich
etwas für Dich thun läßt; versprechen kann ich Dir freilich nichts,
denn alles hängt von jemand anders ab. Morgen gebe ich Dir Nachricht,
und ich hoffe, gute.“

„O, ich danke Ihnen, Pater! Ich will Ihnen in Zukunft folgsamer sein,
als bis jetzt.“

„Hab’ mir’s doch gedacht!“ fuhr ~P.~ Middleton bei sich
selber fort, als Kenny das Zimmer verlassen hatte. „Prescott ist
der Hauptschelm; Kenny war nur die Tatze, die er vorstreckte.
Wahrscheinlich hat er seinen Leuten eingeredet, es werde niemand
fortgeschickt, weil ihrer zu viele seien. Er muß einen großen Einfluß
auf sie besitzen, sonst hätten sie sich zu dieser Gemeinheit nicht
hergegeben. Sein Hiersein ist eine ständige Gefahr für den guten Geist
unserer Kinder. -- Mein Gott! so weit ich denke und gehört habe,
ist ein ähnlicher Fall doch noch nie in einem unserer Pensionate
vorgekommen.“

Unterdessen begingen die drei Freunde in der Infirmerie, wie Harry
sich auszudrücken beliebte, eine ‚hochfein altehrwürdige Zeit‘. Tom
und Harry hatten einen gar nicht zu verachtenden Appetit von ihrer
Exkursion mitgebracht, und was ihnen vorgesetzt wurde, war ebenfalls
nicht zu verachten. Wie der Toast verschwand! und die Eier und der
Schinken! Man darf nicht weiter davon reden, um die Braven nicht in
üblen Geruch zu bringen. Percy allerdings war zu sehr ermüdet, um
dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein Geist jedoch war
ganz frisch und mit gewohnter Lebhaftigkeit nahm er, in einem großen
Lehnstuhle sitzend, an der Unterhaltung teil.

Der gute Krankenbruder hatte die Geschichte dieses Nachmittags bereits
von Percy vernommen, zwang aber nichtsdestoweniger Tom, sie noch
einmal zu erzählen. Endlich bewog er Harry, noch eine dritte Auflage
zu veranstalten. Das wurde freilich keine verbesserte -- die erste
war die beste gewesen -- aber eine ganz bedeutend vermehrte. Harrys
Phantasie offenbarte eine staunenswerte Fruchtbarkeit. Eine ganze Reihe
von Einzelheiten, von denen Tom und Percy nichts erlebt hatten, erfand
er fröhlich dazu und erzählte sie so haarklein, als ob er wirklich mit
dabei gewesen wäre. Tom und Percy wußten ihrem Staunen keinen Rat und
hatten alle Mühe, ihn bei den Thatsachen zu halten, wodurch natürlich
das Vergnügen des Bruders nur um so größer wurde.

„Die Geschichte ist so gut, als stände sie in einem Buche,“ sprach er
zuletzt. „Und hätte ich Zeit, ich würde sie aufschreiben, herausgeben
und viel Geld damit verdienen.“

Harry Quip war überhaupt heute so lustig wie noch nie. Eine Schnurre
nach der anderen fiel ihm ein, so daß der Saal von dem heitern Lachen
der kleinen Gesellschaft fortwährend widerhallte.

Endlich jedoch wurde die Unterhaltung stiller.

„Wißt Ihr auch,“ fragte Percy ernst, „daß ich dies als eine Strafe
meiner Eitelkeit ansehe?“

„Meinst Du Dein Essen?“ warf Quip mit schelmischem Blicke ein.

„Nein, Harry! Du scherzest; ich meine die Schmerzen in meinen Beinen!“

„Warum denn?“

„Weil ich früher, wenn ich mit meinen Schwestern tanzte, auf meine
Geschicklichkeit sehr eitel zu sein pflegte. Aber jetzt werde ich mir,“
fügte er schmerzlich bei, „nie wieder etwas auf meine Beine einbilden.“

„Nach dieser reuevollen Bemerkung,“ erklärte der Bruder, „dürft Ihr
ganz passend zu Bette gehen.“

Die übrigen Zöglinge saßen wieder im Studiersaal hinter ihren Büchern.
Allein ein rechter Eifer war offenbar nicht vorhanden. Eine gewisse
Unruhe herrschte im ganzen Saale, und war für jeden, der zu schließen
verstand, ein Zeichen, daß irgend ein peinlicher Vorfall sich ereignet
habe und noch seines Ausganges harre.

Mehrere Zöglinge, die wir sehr wohl kennen, fehlten. Der Aufsicht
führende Pater wollte vorschriftsmäßig eben ihre Namen notieren, als
die Thüre sich öffnete und ~P.~ Middleton eintrat. Leise ging er
zu dem Pater hin und fragte in flüsterndem Tone:

„Ist Martin Prescott hier?“

„Nein. Sehen Sie dort: sein Platz ist unbesetzt.“

Wo war Prescott geblieben?

Um das zu erforschen, müssen wir zurückkehren zu der Zeit, da Kenny von
~P.~ Middleton schied, während die Zöglinge noch im Hofe spielten.

[Illustration]




[Illustration]




16. Kapitel.

Percys Pult.


Kenny hatte das Zimmer seines Präfekten als ein ganz anderer Mensch
verlassen. Jetzt endlich war es ihm sonnenklar, daß der Weg, den er in
dieser Anstalt bis jetzt gewandelt, sehr schnell bergab führe. Bei dem
Lichte, das ihm die heutigen Ereignisse gebracht, erschrak er wieder
und wieder über die Tiefe, in die er bereits gesunken.

Da er keine Lust hatte, zu seinen spielenden Kameraden zu gehen, so
trat er in den leeren Studiersaal, um hier das Ende der Erholung
abzuwarten.

Als er eben die Schwelle überschritt, störte ihn das Klappen eines
Pultdeckels aus seinen Gedanken auf. Er erhob die Augen und gewahrte
Prescott, der neben Percy Wynns Pulte stand und sehr verwirrt aussah.

„Ich suche meine lateinische Grammatik,“ sprach Prescott. „Es muß sie
mir jemand gestohlen haben.“

„Prescott, ich fürchte, Dir geht es schlimm,“ erwiderte Kenny,
ohne auf diese Worte einzugehen. „Ich wollte Dich eigentlich nicht
anzeigen; aber ich war so voll Angst, daß ich glaube, ich habe alles
ausgeschwätzt. Du thust mir leid, aber was mir am meisten leid thut,
ist, daß ich mich überhaupt mit Dir abgegeben. Ich wollte, ich hätte
Dich nie gekannt.“

„So,“ versetzte Prescott mit einem befremdlichen, ja unnatürlichen
Tone. „Ich sehe mich dann während des Studiums nach meiner Grammatik
um.“

Und mit einem sonderbaren kalten Ausdruck im Gesicht, einem Ausdrucke,
den Kenny erst nach den Begebenheiten, die wir jetzt sehen werden, ganz
verstand, eilte Prescott aus dem Saale fort.

Kenny sah ihn während des Studiums nicht. Da fielen ihm seine Worte
bezüglich der lateinischen Grammatik wieder ein und ließen einen
schrecklichen Verdacht in seiner Seele aufsteigen.

Jetzt trat ~P.~ Middleton ein und sprach mit dem Pater jene Worte,
die den Schluß des letzten Kapitels bilden. Dann ging er auf Kennys
Platz zu.

„Weißt Du etwas von Prescott?“ flüsterte er.

„Nein. Aber als ich gerade aus Ihrem Zimmer kam, sah ich ihn hier. Er
behauptete, es müsse ihm jemand seine lateinische Grammatik gestohlen
haben; die suche er jetzt.“

„Suchte er in den Pulten anderer?“

„Ja. So schien es mir wenigstens. Er hatte gerade eines wieder
geschlossen.“

~P.~ Middleton begab sich ruhig zu Prescotts Pult, öffnete es und
übersah die Bücher: die lateinische Grammatik war da. Unverändert blieb
das Gesicht des Präfekten. Er wußte ja, das jegliches Auge im ganzen
Saale auf ihn gerichtet sei.

Er kehrte zu Kenny zurück.

„Wessen Pult schloß Prescott, als Du ihn sahest?“

„Das von Percy Wynn.“

„Gut. Jetzt, Karl, geh’ hinaus und erwarte mich auf dem Gange. Ich
komme bald und habe Dir dann höchstwahrscheinlich etwas zu sagen. --
Du brauchst keine Angst zu haben,“ fügte er bei, als er bemerkte, daß
Kenny böse Kunde befürchtete. „Ich habe Deinetwegen schon mit dem
hochwürdigen ~P.~ Rektor gesprochen. Es geht alles gut.“

Er ging jetzt zu Percys Pult. Percy besaß, wie die meisten Mauracher
Zöglinge, ein schönes, verschließbares Kästchen aus Metall zur
Aufbewahrung von Briefen, Geld und etwaigen kleineren Wertsachen.
Dieses Kästchen stand offen, es war aufgebrochen worden. Ein Blick
zeigte, daß die Briefe nicht berührt waren, aber eine Anzahl
Photographien lag da zerrissen -- die Photographien von Percys Eltern
und Schwestern.

„Das arme Kind!“ dachte ~P.~ Middleton. „Diese Gefühllosigkeit ist
ihm bitterer als der Verlust von noch so viel Geld. Gäbe es doch ein
Mittel, ihm diese traurige Entdeckung zu ersparen! -- Vielleicht ist
ihm aber auch Geld gestohlen! Richtig! heute Morgen sprach er ja von
dem Taschengeld, das er noch in seinem Pulte habe. Und hier ist nichts
mehr.“

Er schloß das Pult und verließ den Saal.

„Wir müssen den Verdacht hegen,“ sprach er zu dem draußen harrenden
Kenny, „daß Prescott zu einem ganz andern Zwecke hier im Saale war,
als er vorgab. Er ist weggelaufen, wie Du wahrscheinlich auch schon
vermutet hast. Erzähle das niemanden! Sage, er sei aus der Anstalt
ausgeschlossen, was vor einer Viertelstunde wirklich geschehen ist.
Auch daß Du ihn hier gesehen, darf nicht bekannt werden. Jetzt geh’ nur
zu Deinen Büchern zurück!“

Nach einem kurzen Besuche beim Rektor verfügte sich ~P.~ Middleton
wieder auf sein Zimmer, um nachzusinnen, wie er Percy Wynn vor einem
herben Schmerze bewahren könne. Endlich glaubte er einen Ausweg
gefunden zu haben. Er ergriff die Feder und schrieb folgenden Brief:

  +Sehr geehrter Herr Wynn!+

  Percy besaß, wie Ihnen ohne Zweifel bewußt ist, eine Anzahl
  Photographien seiner Lieben. Diese Photographien sind ihm nun
  zerrissen worden, und zwar von einem Knaben, der -- ich schäme
  mich, es zu sagen -- bis vor einer Viertelstunde Zögling dieser
  Anstalt war. Percy selbst weiß es noch nicht. Ich fürchte aber,
  die Entdeckung dieser Roheit würde dem gefühlvollen Kinde sehr zu
  Herzen gehen. Deshalb sende ich Ihnen die Stücke zu mit der Bitte,
  die Photographien neu herstellen und +an mich+ abschicken zu
  lassen. Auf diese Weise braucht Percy nie zu erfahren, daß dieses
  teure Andenken an ein glückliches Familienleben so grausam mißhandelt
  worden ist.

  Mit vorzüglicher Hochachtung

  +A. Middleton+, ~S. J.~

Als der Brief vollendet war, schellte es zu einer kurzen Unterbrechung
der Studien. ~P.~ Middleton eilte hinaus, und als der letzte
Zögling den Saal verlassen, trat er an Percys Pult, nahm das Kästchen
heraus und trug es in sein Zimmer. Allein die Zöglinge waren heute
gegen ihre sonstige Gewohnheit sehr still, und in Gruppen beisammen
stehend flüsterten sie geheimnisvoll miteinander.

Gegen Ende der kleinen Erholungsfrist näherte sich Donnel mit etwa fünf
andern dem Präfekten.

„Ist es wahr, Pater, daß Prescott geschaßt ist?“

„Das ist wahr, Johann. Ich hoffe, er ist auch der letzte, der dieses
Jahr fort muß.“

Er zog seine Schelle hervor und gab das Zeichen zum Schlusse der
Erholung.

„Ich denke,“ fuhr Johann Donnel fort, „er wird bei diesem herrlichen
Wetter nicht auf der Plattform stehen, sondern sich fein im Wagen
halten. Puh, welch ein kalter Wind diese Nacht pfeift! -- Er hat doch
den Sieben-Uhr-Zug genommen, Pater, nicht wahr?“

„Lauf, Donnel, es ist Zeit!“ war die Antwort des Präfekten.

Aber Donnels Frage wollte ihm nicht aus dem Sinne. Sollte Prescott
wirklich den bezeichneten Zug benutzt haben?

Nach dem Diebstahl hatte er sich aus Furcht vor Entdeckung jedenfalls
nicht für die gewöhnliche Art der Reise entschieden; er war schlau
genug, um zu vermuten, daß ihm ein Telegramm vorauseilen, und daß auf
der nächsten Station schon ein Polizist zu seinem Empfange bereit
stehen könne.

Viel mehr Wahrscheinlichkeit hatte es für sich, daß er zu Fuß nach
Sykesville gegangen war, einem Orte, der nicht ganz zwei Stunden von
Maurach entfernt lag. Das Kolleg mußte er etwa um viertel vor sieben
verlassen haben, konnte also viertel vor neun in Sykesville sein.

„Wenn er es so gemacht hat,“ sprach ~P.~ Middleton zu sich selbst,
während er auf die Uhr sah, „so ist er jetzt da. Wenn aber das nicht --
was wird dann der arme Junge wohl bei dieser Witterung zu leiden haben?“

Er begab sich in die Infirmerie, wo die drei Freunde zum Abendgebete
neben ihren Betten knieten. Percy stand auf, als er bemerkte, daß der
Pater mit ihm reden wolle.

„Wie viel Geld hattest Du in Deinem Kästchen, Percy?“

„Fünfzehn Dollars.“

„Ich fürchte, Percy, Du bist bestohlen worden.“

„O! wirklich? Der Dieb ist doch wohl kein Zögling?“

„Leider scheint es doch der Fall zu sein. Ich vermute Prescott. Er ist
weggelaufen, nachdem er Dein Kästchen erbrochen und das Geld genommen
hat.“

„O, der Arme! Er thut mir so leid! Welch ein trauriges Leben muß er
doch geführt haben, daß er eine solche Sünde begehen konnte!“

„Freilich, Percy. Aber das Geld! Dein Geld!“

„O Pater, an dem Gelde liegt mir nichts. Mein Vater schickt mir Geld
wieder, wenn ich ihn nur bitte. Aber der arme, arme Junge thut mir so
leid. Wie unglücklich muß er sich jetzt fühlen!“

„Erzähle dies jetzt niemanden, Percy! Auch daß er weggelaufen ist, darf
niemand erfahren. Er ist aber zugleich geschaßt worden, und das weiß
man unter den Zöglingen. Im übrigen wollen wir seinen Ruf schonen,
soviel es noch möglich ist.“

„~P.~ Middleton, das gleicht Ihnen nun so ganz. Sie nehmen stets
Rücksicht auf andere. Ich hätte hieran gar nicht gedacht. Ich wäre
hingegangen und hätte jedem in die Ohren gerufen, Prescott sei ein Dieb
und ein Ausreißer. Ich danke Ihnen sehr, Pater. Sie haben mir durch Ihr
Beispiel eine heilsame Lehre gegeben.“

Hätte unser kleiner Freund gewußt, was für ein Brief an seinen Vater
noch auf ~P.~ Middletons Tische lag, er würde die aufmerksame
Rücksichtnahme seines Präfekten noch dankbarer bewundert haben.

„Noch eines, Percy. Dein Kästchen habe ich mit in mein Zimmer genommen.
Das Schloß war ja erbrochen, und auch sonst war es arg beschädigt. Hast
Du etwas dagegen, daß ich es Dir erst zurückstelle, wenn alles wieder
in Ordnung ist?“

„O gar nichts, Pater! Behalten Sie es, so lange Sie wollen, eine Woche,
einen Monat, behalten Sie es nur ganz.“

Mit einem Lächeln wünschte ~P.~ Middleton seinem braven Zögling
gute Nacht.

[Illustration]




[Illustration]




17. Kapitel.

Wie ~P.~ Middleton den Flüchtling findet.


Je weiter die Nacht voranschritt, um so kälter wurde es, und um
so weniger wollte es ~P.~ Middleton gelingen, den Gedanken an den
Entflohenen aus seinem Kopfe zu verbannen. Immer sicherer wurde es
ihm, daß Prescott die Eisenbahn nicht benutzt haben könne. Auf dieser
Voraussetzung arbeitete seine Phantasie weiter und malte ihm die
schauerliche Lage vor, in welcher sich der Unglückliche jetzt befinde.
Da er den gewöhnlichen Weg nach Sykesville jedenfalls vermied, so
konnte es leicht geschehen, daß er sich verirrte und alle Aussicht
verlor, in der Nacht den Ort noch zu erreichen. Wo sollte er dann aber
Unterkunft und Schutz gegen die schneidende Kälte finden? Ja würde er
überhaupt Unterkunft suchen? er, der in seiner Art schlau und gerieben
war und alles vermied, was bei einer Verfolgung auf seine Fährte
bringen konnte?

Um elf Uhr ging ~P.~ Middleton endlich zur Ruhe. Allein seine
Einbildungskraft scheuchte allen Schlaf von seinen Augenlidern weg.
Stunde um Stunde verging, ohne daß er einzuschlummern vermochte.
Beständig folgte sein Geist den Schritten des gewissenlosen,
unglücklichen Wanderers.

Um vier Uhr endlich stand er wieder auf, verließ den Schlafsaal und
ging in einem einsamen Teile des Hauses ein paarmal auf und ab.

„Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß dem armen Jungen nachgehen.
Vielleicht kann ich ihm doch helfen. -- Aber soll ich wirklich den
~P.~ Rektor wecken?“

Er begab sich an einen Ort, wo er das Fenster des Rektors sehen konnte.
Es war erleuchtet.

„Gott sei Dank! -- Aber der hätte doch wenigstens schlafen sollen!“

Er ging und klopfte an.

„Herein!“

Der Rektor erhob sich von den Knieen und sah den Eintretenden erstaunt
an.

„~P.~ Middleton, was führt Sie denn zu dieser Stunde her? Nach dem
gestrigen Tage könnten Sie die Ruhe doch gebrauchen.“

„Hochwürden, ich habe die ganze Nacht noch kein Auge geschlossen vor
Sorge um den Prescott. Stets kommt mir die Idee und will mich nicht
verlassen, er sei bei dieser Kälte ohne Schutz draußen. Wollen Sie mir
nicht erlauben, ihm nachzureiten? Um neun Uhr kann ich zurück sein, um
meine Klasse zu halten.“

Einen Augenblick überlegte der Rektor, wobei er zugleich aufmerksam in
das bekümmerte Antlitz seines Untergebenen sah.

„Gut! Gehen Sie! Aber unter einer Bedingung!“

„Welcher, Hochwürden?“

„Daß Sie gleich nach Ihrer Rückkehr in ein Fremdenzimmer gehen und sich
schlafen legen. Ich will Ihre Klasse halten und will sorgen, daß Sie
auch auf dem Spielplatze Vertretung erhalten. Keine Entschuldigung,
mein Lieber! Sie haben für die Zöglinge zu sorgen, ich für die Patres.
Sie brauchen Ruhe, Pater. Wenn Sie mir um neun Uhr nicht schlafen,
schicke ich Sie für eine Woche zur Erholung aus dem Hause. In der
letzten Zeit haben Sie sich zu sehr angestrengt.“

„Jetzt bitte ich Ew. Hochwürden noch um Ihren Segen. Ich fürchte sehr,
ich schlafe um neun Uhr nicht, wenn ich den Jungen nicht auffinde.“

Er kniete nieder vor dem Manne, in dem er schon als Zögling einen
väterlichen Erzieher verehrt hatte, und der ihm jetzt Gottes Stelle
vertrat.

Andächtig erhob der Rektor seine Hände und sprach die Worte des
priesterlichen Segens:

„~Benedictio Dei omnipotentis Patris et Filii et Spiritus Sancti
descendat super te et maneat semper.~“

(Der Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des
heiligen Geistes steige auf Dich herab und verbleibe über Dir immerdar.)

„Amen,“ sprach ~P.~ Middleton.

Als er sich erhob, begegneten sich die Augen beider in einem Blicke,
der weitere Worte zwecklos machte.

Ein paar Minuten später trabte ~P.~ Middleton auf der festgefrorenen
Straße nach Sykesville dahin und langte an, bevor es recht hell
geworden war. Einiges Nachforschen führte ihn bald zu der Überzeugung,
daß Prescott den Ort nicht betreten habe. Er mußte sich also wohl
irgendwo zwischen Maurach und Sykesville befinden.

~P.~ Middleton kehrte demgemäß um, ritt von der Landstraße weit nach
rechts und nach links ab und untersuchte vorsichtig jeden Busch und
Strauch.

Die Dämmerung war indessen in jenes sanfte und milde Licht
übergegangen, das ein unmittelbarer Vorbote des Sonnenaufganges ist.

Eine gute Strecke hatte ~P.~ Middleton zu beiden Seiten der Straße
bereits mit ängstlicher Genauigkeit durchforscht, als er in der Ferne
ein paar großer Heuschober ansichtig wurde. Sofort lenkte er sein Pferd
dorthin und ritt langsam um sie herum.

Da lag Prescott, das Gesicht nach unten gekehrt. Mit herzlichem Dank
gegen Gott sprang der Pater vom Pferde und hob den Bewußtlosen auf. Ein
Ruf des Schreckens entfuhr seinen Lippen: Prescott war an Händen und
Füßen gebunden und hatte einen Knebel im Munde. Das Schicksal, das er
Playfair und Quip zugedacht hatte, war ihm selbst widerfahren.

[Illustration]




[Illustration]




18. Kapitel.

Die Erlebnisse des Ausreißers.


Prescott hatte eben Percys Geld eingesteckt und die Photographien
zerrissen und wollte dessen Briefschaften das Gleiche widerfahren
lassen, als das unerwartete Eintreten Kennys seinem Rachewerke ein
plötzliches Ende bereitete.

Aus dem Studiersaal schlich er sich unbemerkt in den Garten, und es
gelang ihm schließlich, durch ein Loch der Hecke, welche das Gebiet des
Pensionates umfriedigte, zu entschlüpfen. Dann schlug er die Richtung
nach Sykesville ein, indem er sich stets in der Nähe des Bahndammes
hielt, der dorthin führte.

~P.~ Middleton hatte ganz recht geahnt. Prescott fiel es nicht
ein, den Zug zu nehmen oder sich vor Sykesville von irgend einem
Sterblichen erblicken zu lassen. Er wollte erst eine beträchtliche
Strecke zwischen sich und das Pensionat bringen und dann im Freien
einen wenn auch noch so mangelhaften Unterschlupf ausfindig machen.

Er eilte ganz in ähnlicher Weise dahin, wie einige Stunden früher
Percy. Eine Zeitlang lief er, ging langsam, bis er wieder bei Atem war,
um abermals aus Leibeskräften zu rennen. Doch wie verschieden waren
bei dieser äußeren Ähnlichkeit die inneren Beweggründe!

Alles war wohl überlegt. Allein an eines hatte der schlaue Dieb nicht
gedacht: er hatte vergessen, seinen Überrock mitzunehmen. Jetzt
merkte er, wie er durch das Laufen und schnelle Gehen sich immer mehr
erhitzte, und daß die kalte Nacht ihm infolgedessen recht gefährlich
werden könnte.

Noch eines hatte er außer acht gelassen: sein schlechtes Leben. Das
Kleid, das die Seele schützt und warm hält, das gute Gewissen, besaß er
nicht. Die schnell zunehmende Dunkelheit, die Stille der schwindenden
Landschaft, die nur von dem Brausen des kalten Nordwindes unterbrochen
wurde, erfüllten ihn mit trüben Ahnungen und weckten in seinem
schuldbeladenen Herzen das Vorgefühl eines nahen Unglücks.

Anderthalb Stunden waren vorüber. Da sah er in der Ferne ein paar
schwache Lichter schimmern. Dorthin durfte er noch nicht kommen. Er bog
von seiner Richtung ab und ging oder stolperte aufs Geratewohl über die
Prärie hin, um einen Ruheplatz zu erspähen.

Nachdem eine weitere halbe Stunde in fruchtlosem Umherirren vergangen,
gewahrte er einen dunklen Gegenstand. Bei dem spärlichen Lichte, das
vom Tage noch übrig war und das der Schein der Sterne matt verstärkte,
hob sich derselbe noch schwach von der Prärie ab. Mit ein paar
Schritten war Prescott ihm nahe genug und unterschied zu seiner höchst
angenehmen Überraschung ein paar Heuschober. Alle Gewissensbisse und
trüben Ahnungen verschwanden: ihm war geholfen. Wenn er sich in einen
solchen Haufen verkroch, brauchte er weder Kälte noch Entdeckung zu
fürchten.

Ohne Zögern tastete er unten am Boden den Rand des nächsten Schobers
entlang, um etwa eine passende Höhlung oder wenigstens den Ansatz zu
einer solchen zu finden. Wirklich traf er eine Öffnung, wie er sie
wünschte. Er streckte die Hand weiter hinein, zog sie aber mit einem
Rufe des Schreckens zurück.

„~Cospetto!~“ ertönte eine Stimme. „Wer sein das?“ Im nämlichen
Augenblicke tauchte ein wild aussehender Kopf aus dem Heu hervor.

Ohne Säumen gab Prescott Fersengeld. Allein der Edle, den er in seiner
Nachtruhe gestört, war einer von jenen, die an rasche Entschlüsse
und schnelles Handeln gewöhnt sind. Prescott war noch nicht hundert
Schritte weit, als ihn eine starke Faust im Nacken ergriff.

Er schrie um Hilfe. Aber da schloß sich die Hand für einige Sekunden
fester um seinen Hals, so daß dem unglücklichen Knaben fast die Zunge
aus dem Munde trat.

„Pst!“ zischelte der Italiener. „Wenn nock ein Wort sagen, ick
erwürgen.“

Dann schleppte er den Gefangenen wieder zu den Heuhaufen zurück.

„Jack, Jack!“ rief er leise, „werden wack!“

„Du ungeschlachter Ausländer,“ erwiderte ein gleich unheimlicher
Geselle, der hinter einem Heuhaufen hervortrat; „ich bin ja längst
wach. Was ist das für ein Vögelchen, das Du gefangen hast?“

Zugleich brachte er sein Gaunergesicht nahe vor Prescotts Antlitz und
stierte ihn forschend an.

„Ich bin ein Waisenknabe und habe weder Vater noch Mutter,“ sprach
Prescott, der sich von seinem Schrecken soweit erholt hatte, daß er
wieder lügen konnte. „Ich bin ganz arm und suche nach Arbeit, um etwas
zu verdienen. Es wurde mir so kalt; deshalb dachte ich, ich könnte hier
wohl schlafen. Aber ich will gern weiter gehen, wenn Sie es wünschen.“

„Jack, was heißen ein Waisenknabe? Heißen es ein Mann von die Polißei?“

So unverständig diese Frage auch war, sie ließ den Gefangenen am ganzen
Leibe erzittern. Er sah sich in der Gewalt von Leuten, die zu jeder
Missethat fähig waren, die im Himmel und auf Erden nichts kannten, was
ihrer Verbrecherlust Schranken setze, als die Polizei.

„Ein Waisenknabe, Du verbummelter Garibaldianer, ist ein Junge, dessen
Eltern tot sind. Er hat’s Dir ja selbst gesagt.“

„Nickt schimpfen, Jack! Dies Junge haben bestohlen mich letztes Sommer.
Ick sein Gesickt kenne.“

Prescott machte jetzt abermals eine verzweifelte Anstrengung, sich
den Händen des Italieners zu entwinden; denn derselbe fing schon ohne
Umstände an, seine Taschen zu untersuchen. Ein heftiger Schlag, den ihm
der Amerikaner ins Gesicht gab, zeigte ihm die Vergeblichkeit seiner
Mühe.

„Du kleiner Teufel! Wenn Du Dich noch einmal rührst oder den
geringsten Laut von Dir giebst, drehen wir Dir den Hals um.“

Dann wühlten beide in den Taschen des Wehrlosen herum, unbekümmert
um die Thränen der Angst und des Schmerzes, welche ihm die Wangen
herabflossen.

„Ha, ich hab’s!“ rief der Amerikaner. „Du Lügner! Ich glaubte schon
halb, Du hättest wirklich kein Geld. -- Wahrhaftig! Der Flegel ist
reicher als ein Lord.“

„Was viel?“ fragte der Diebsgesell, und seine schwarzen Augen blitzten.

„Dreizehn -- vierzehn -- fünfzehn Dollars! Nun, mein wertester Herr,
überlassen wir Ihnen sehr gern die Heustöcke, ich den meinen für
siebeneinhalb Dollar und mein Freund den seinen um den gleichen Preis.
Es ist ein ganz billiges Unterkommen.“

Prescott schluchzte in hilflosem Zorne.

„Ah, und sein Uhr! Ick habe es! O, es ist schön, es ist wert swansick
Dollars. -- O Sie lieblick armes Waisenknabe, wir binden Sie jetzt
Händkens und Füßkens zusammen, daß Sie können schlafen fester.“

„O binden Sie mich doch nicht! Ich will Sie ganz gewiß nicht verraten.
Darauf will ich Ihnen einen Eid schwören. Lassen Sie mich nur gleich
niederknieen.“

„Versprich nur, was Du willst, Du Lügner. Wir sorgen, daß Du Dein Wort
hältst,“ versetzte der Amerikaner und stopfte Prescott ein schmutziges
Tuch in den Mund. „Wir schieben Dich aber nicht unter das Heu; da fände
man Dich vor dem nächsten Frühjahr nicht. Hier draußen bemerkt Dich
schon eher eine Menschenseele. Es ist freilich ein wenig kalt; aber
was können wir dafür? Wir haben ja das Wetter nicht gemacht. Später
darfst Du dann alles erzählen, wozu Du Lust hast. -- Jetzt gute Nacht!
angenehme Ruhe!“

Mit diesem Spott entfernten sich die herzlosen Bösewichter und
überließen den gebundenen Prescott der schneidenden Kälte, der düstern
Nacht und -- seinen eigenen Gedanken.

Seinen eigenen Gedanken! Gedanken an ein mißbrauchtes Leben,
Erinnerungen an zahlreiche Sünden, Aussicht auf einen frühen,
schrecklichen, einsamen Tod und das strenge Gericht eines Gottes,
dessen Gnade er trotz seiner Jugend schon so oft geringgeschätzt hatte.
Er sah schon die Teufel in der Nähe erscheinen, um seine Seele in
den Abgrund zu zerren. Tropfen von Schweiß, von Todesschweiß traten
auf seine Stirne, als Sünde um Sünde in ihrer ganzen unverhüllten
Häßlichkeit sich dem Auge seines Geistes darstellte. Ja, manche seiner
Vergehen, die an sich nicht so schwer waren, malte ihm der Teufel,
dessen liebste Augenweide die Verzweiflung der Menschen ist, zu wahren
Greuelthaten aus. Was Wunder, daß er immer schwächer und schwächer sich
gegen die Einflüsterung wehrte, als ob für ihn keine Hoffnung mehr sei,
als ob alles vorüber und er schon jetzt lebendig zur Hölle verdammt sei.

Doch auch eine andere Erinnerung erhob sich auf dem sturmbewegten Meere
seiner Gedanken. Hatte nicht vor ein paar Tagen ~P.~ Middleton
so eindringlich und ergreifend von der unendlichen Güte Gottes
geredet? Damals hatten seine Worte Prescott freilich wenig gerührt;
allein jetzt, da er ihrer bedurfte, da herbe, herbe Not sein Herz
empfänglicher machte, kehrten sie so klar vor seine Seele zurück, als
durchlebte er jene Stunde noch einmal.

~P.~ Middleton hatte zuerst ein paar Worte der Wiederholung über
die vollkommene Reue gesprochen, daß sie nämlich stets, auch ohne die
Beichte, sofort die Sünden tilgt, daß man aber nachher die verziehenen
Sünden beichten muß, wenn man Gelegenheit hat.

„Es ist also,“ schloß er, „die vollkommene Reue ein Mittel, das jeder
Mensch zu jeder Stunde anwenden kann, um in den Stand der Gnade Gottes
zu kommen, ein Mittel, das uns durch keine Macht entrissen wird. Ich
möchte, daß Euch diese Wahrheit sehr klar würde und klar bliebe, damit
Ihr sie in der Not anwenden könnet.“

„Angenommen -- Riddel -- Du hättest, seit Du den Gebrauch der Vernunft
besitzest, stets in Sünden gelebt, keine wäre Dir vergeben, alle Deine
Beichten wären gottesräuberisch gewesen. Nun erführest Du plötzlich,
Du müßtest jetzt gleich hier in diesem Schulzimmer sterben. Würdest Du
verzweifeln?“

„O nein, Pater. Ich bäte die Mutter Gottes, mir zu einem recht guten
Akte der vollkommenen Reue zu helfen, und dann spräche ich von Herzen:
‚O mein Gott, alle meine Sünden bereue ich, weil ich Deine große Güte
und Liebe beleidigt habe.‘ Nach diesen Worten überließe ich mich mit
Vertrauen der Barmherzigkeit Gottes.“

„Aber -- Forps -- angenommen, Du hättest in Deinem ganzen Leben nie
das geringste gute Werk gethan, dagegen lasteten alle Sünden, die
von allen Knaben der Welt je begangen sind, auf Deinem Gewissen: was
thätest Du, wenn es hieße, Du müßtest jetzt sofort sterben?“

„Ich erweckte einen Akt der vollkommenen Reue und vertraute auf die
unendliche Kraft des Blutes Christi.“

„Whyte -- ich will den Fall noch schwieriger machen. Mit all jenen
Sünden auf Deiner Seele befindest Du Dich allein, verlassen, mitten auf
dem Meere. Kein Priester ist da, der Dich absolvieren, kein Freund,
der mit Dir beten könnte, und Du siehst voraus, daß Du in zwei Minuten
versinken wirst.“

Whyte antwortete mit großer Zuversicht, die unwillkürlich aus den
Worten des Lehrers in die seinigen übergegangen war:

„Ich würde doch mit Gottes Gnade einen Akt der vollkommenen Reue
erwecken, wenn auch noch so kurz. Dann wollte ich untersinken, als
sänke ich in die Arme Gottes; denn er ist überall.“

„Eine schöne Antwort, Whyte! -- Aber -- Quip -- nimm an, Gott ließe
Dich zur Strafe für so viele Sünden in eine abscheuliche Krankheit
fallen. Infolgedessen treiben Dich Deine Verwandten fort in eine
Wildnis. Da liegst Du hilflos am Sterben. Man sendet Dir noch einen
Priester, aber von Schauder ergriffen vergißt er, was seine Pflicht
gebietet, wendet sich ab von Dir und ruft laut, Gott habe Dich schon
unwiderruflich verdammt. Würdest Du dann verzweifeln?“

„Nein, mit Gottes Gnade würde ich nicht verzweifeln.“

„Es soll noch schlimmer werden. -- Holden! -- Während Du im Begriffe
bist, in jener gräßlichen Verlassenheit Deine arme Seele auszuhauchen,
erscheint Dir eine Bande von Teufeln, drängt sich um Dich und schreit
laut, Deine Seele sei ihr Eigentum, sie kämen, um abzuholen, was ihnen
gehöre. Würdest Du verzweifeln?“

Der Schüler zauderte.

„Ich -- ich hoffe nicht.“

„Ganz recht, Holden. Aber weiter -- Playfair! -- um diesen Teufeln
widerstehen zu können, rufst Du in Deiner schrecklichen Lage mit
Inbrunst die Engel und Heiligen an. Sie antworten einstimmig, es sei zu
spät, Du seiest verloren.“

„Ich würde es ihnen nicht glauben,“ erklärte Tom. „Gottes Wort steht
höher als das, was die Engel und Heiligen sagen.“

„Hodder -- wenn aber sogar Maria, die Mutter Gottes selbst Deine Bitten
abwiese und sagte, Du seiest verdammt?“

„Dann glaube ich, ich würde verzweifeln.“

„So? warum denn?“

„Weil Maria eine viel zu gute Mutter ist, als daß sie mich täuschen
könnte.“

„Kein übler Grund. Doch vielleicht hat jemand eine andere Antwort
bereit.“

Eine lange Pause trat ein. Endlich erhob sich Playfairs Finger.

„Ich glaube nicht, Pater, daß die Mutter Gottes so etwas sagen würde.
Sie ist ja die beste, liebreichste Patronin der Sünder. Sie wäre sicher
die letzte, einen Sünder aufzugeben.“

„Sehr gut, Playfair. Allein um die Sache ganz zu durchschauen, wollen
wir auch diesen unmöglichen Fall voraussetzen. Würdest Du verzweifeln?“

„Nein! Wahrhaftig nicht!“

„Warum nicht?“

Tom hatte keine Antwort.

„Glaubst Du etwa, Maria könnte und wollte Dich täuschen?“

Das mochte Tom weder bejahen noch verneinen.

„Wynn -- würdest Du verzweifeln, wenn Dir Maria erklärte, es sei zu
spät?“

„Nein. Sie könnte damit nur sagen wollen, es sei in dem Falle zu
spät, daß ich versäumte, einen Akt der vollkommenen Reue zu erwecken.
Wir wissen ja aus dem Glauben, daß jeder Mensch, so lange er lebt,
hinreichend Gnade erhält, um sich zu retten. Darum darf niemand
verzweifeln und braucht auch nicht zu verzweifeln.“

„Gut, Wynn. Das ist die letzte Antwort, die ich haben wollte. Übrigens
habt Ihr alle brav geantwortet. -- Ich will Euch jetzt noch zwei
Aussprüche eines gelehrten Mannes vorlesen, welche hierzu passen. Der
erste ist sehr kurz und lautet: ‚Am Tage des Gerichtes will ich lieber
von Gott gerichtet werden, als von meiner eigenen Mutter.‘ Der andere
ist über den Tod des Sünders: ‚Gott ist gegen jegliche Seele unendlich
barmherzig. Was aber diejenigen angeht, die nicht zum Heile gelangen,
so glaube ich, daß Gott zu Zeiten förmlich seine Vaterarme um diese
Seelen schlingt und ihnen durch die Dunkelheit des Sündenlebens mit dem
Strahlenauge seiner Liebe ins Antlitz schaut, so daß nur ihr überlegter
böser Wille sie aus seinen Armen loszureißen vermag.‘ In diesen Worten
habt Ihr ausgesprochen, wie unendlich, wie überaus zärtlich die Güte
und Barmherzigkeit Gottes ist.“

Die ganze Unterhaltung lebte jetzt in Prescotts Geiste wieder auf.
Erst jetzt dämmerte ihm das rechte Verständnis und er fing an, es
begreiflich zu finden, wie damals, da Lehrer und Schüler sich so
unmittelbar der tröstlichsten aller religiösen Wahrheiten gegenüber
sahen, eine geheimnisvolle Ruhe gleich dem Frieden des Himmels von dem
ganzen Raume Besitz nahm.

Noch an eine andere Unterhaltung erinnerte sich der Verlassene, während
seine Arme und Beine bereits zu erstarren anfingen: an das Gespräch,
das er am Morgen nach der Geistererscheinung mit Percy gehabt. War hier
wirklich ein Engel bei ihm, sein eigener Engel? -- Ein ganz unbekanntes
Empfinden durchströmte ihn. Zum erstenmale seit langer Zeit redete er
wieder zu seinem Gott und seinem Engel, und ein herzlicher Akt der
vollkommenen Reue führte den verlorenen Sohn zum Vater zurück. Während
er dann vor dem Allbarmherzigen sein Leid und seine Liebe aussprach,
ihm dankte, daß er ihn auf so hartem Wege zu besserer Erkenntnis
geführt, gewann die Kälte immer mehr Gewalt über seine Glieder, bis sie
seinen ganzen Körper wie mit eisigen Banden einschnürte und dem Reuigen
das Bewußtsein raubte.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er ~P.~ Middleton, der
sich sorgenvoll über ihn beugte. Er befand sich in einer kleinen
ländlichen Behausung. Neben dem Bette, in dem er lag, standen die
Hausfrau und ein Arzt.

„Gott sei Dank, Martin, daß Du noch lebst. Der Herr Doktor sagt, wenn
ich Dich eine Stunde später gefunden hätte, so wärest Du vielleicht
nicht mehr zu retten gewesen.“

Auf ein Zeichen des Arztes näherte sich jetzt die Frau und reichte dem
Kranken eine Schale mit kräftiger Fleischbrühe.

„Der arme Junge!“ flüsterte sie, als sie zurückgetreten. „Aber sein
Gesicht ist jetzt anders geworden. Er sah viel sanfter und friedlicher
aus, als ihn der Pater brachte.“

Auch ~P.~ Middleton hatte diesen Wechsel in Prescotts Zügen
wahrgenommen.

„Er muß gebetet haben, als er die Besinnung verlor,“ war seine
Erklärung, und sie entsprach der Wahrheit. Der Wandel, den die
vollkommene Reue in Prescotts Seele hervorgebracht, hatte sich auch
seinem Antlitz mitgeteilt. Sobald jedoch die Besinnung wiederkehrte,
trat die frühere Angewöhnung in ihr längst erobertes Recht, und der
edle Ausdruck eines Betenden wich den Mienen eines Knaben, der seit
Jahren kaum je eine bessere Regung in sich hatte aufkommen lassen.
Jahre edleren Denkens und Handelns mußten erst vergehen, bevor die
frühere Roheit aus diesen Zügen verschwand.

Seine Gesinnung freilich war schon jetzt eine andere geworden. Der
Knabe, der hier voll Verwunderung in ~P.~ Middletons gütige Augen
emporsah und sich bemühte, alles, was um ihn vorging, zu reimen, war
nicht mehr der Knabe von gestern. Der Prescott von gestern war wirklich
tot.

„Ja, junger Herr,“ sagte die Frau, „Sie können sich glücklich schätzen,
daß Sie einen solchen Lehrer besitzen. Hätte er Sie nicht in seinen
Mantel gehüllt, während er selbst halb tot fror, und hätte er Sie nicht
nachher ohne Unterlaß gewärmt und gerieben, bis der Herr Doktor kam --
wer weiß, ob Sie noch lebten!“

Prescott ergriff ~P.~ Middletons Hand und küßte sie.

„Die gute Frau übertreibt stark, Martin!“

„O nein, Herr Pater! Alles, was ich sage, ist wahr. Wenn Sie einen von
Ihren Zöglingen ganz besonders gern haben, so ist es sicher dieser.“

„Pater, kann ich Sie allein sprechen?“ flüsterte Prescott.

Als der Arzt und die Frau sich zurückgezogen hatten, gab er dann einen
umständlichen Bericht all seiner traurigen und schließlich doch so
gnadenreichen Erlebnisse.

„Deine Erzählung,“ sprach ~P.~ Middleton zuletzt, „reicht hin,
mir für mein ganzes Leben den Unterricht zur liebsten Beschäftigung zu
machen.“

Er suchte dann Prescott auf eine harte Eröffnung vorzubereiten. Der
Arme mußte wenigstens zwei Finger verlieren, einen an jeder Hand. Für
die übrige Zeit seines Lebens war er ein Krüppel.

„Ich will es gern leiden,“ sprach er bei dieser Mitteilung. „Ich habe
viel Böses gethan, und ich hoffe, Gott nimmt dies zur Buße für meine
Sünden an.“

„Noch eine andere peinliche Nachricht wartet Deiner, Martin. Du -- Du
darfst nicht ins Pensionat zurückkehren.“

„Das habe ich gar nicht gehofft, Pater. Es wäre ja Sünde, einen
offenkundigen Dieb unter den Zöglingen zu lassen.“

„Offenkundig ist es nicht, Martin. Percy Wynn und ich sind im ganzen
Hause die einzigen, die darum wissen. Du kannst Dich darauf verlassen,
daß nichts verlauten wird. Ich darf noch weiter gehen: Percy will das
Geld nicht von Dir zurückverlangen und verzeiht Dir alles. Und wenn ich
Deine Geschichte in der Klasse erzähle, so bin ich sicher, daß jeder
nur mit Liebe an Dich zurückdenken wird.“

„~P.~ Middleton, das habe ich nicht verdient!“

„Solltest Du an Percy schreiben, so erwähne nicht, daß Du ihm seine
Photographien zerrissen hast. Er weiß das nämlich nicht und wird
es auch, hoffe ich, nie erfahren. Ich sorge, daß ihm die gleichen
Photographien von Hause geschickt und heimlich zugestellt werden. --
Jetzt muß ich gehen. Es ist acht Uhr und um neun soll ich zurück sein.
Da nimm diese fünf Dollar, armes Kind. Diesen Abend bist Du so weit
hergestellt, daß Du auf den Zug gehen kannst. Ich telegraphiere Deinem
Vater, daß er Dich am Bahnhofe abholt. Die Auslagen für den Arzt und
Deine Wirtin sind schon beglichen. So, jetzt lebe wohl, Martin!“

Prescott ergriff die dargebotene Hand und bedeckte sie mit Küssen.

„O lieber Pater,“ schluchzte er, „ich kann nicht sagen, wie -- wie --
-- Gott sei mir gnädig!“

~P.~ Middleton war tief bewegt.

„Wir sehen uns wieder, Martin. Ich werde täglich für Dich beten und ich
will Dir auch schreiben, wenn Du es wünschest.“

„Danke, Pater!“ war das einzige Wort, das der Kranke hervorzupressen
vermochte.

„Adieu, Martin!“

Prescott wandte sein Gesicht ab und weinte, als ob ihm das Herz brechen
wollte.

[Illustration]




[Illustration]




19. Kapitel.

Ruhe nach dem Sturme.


Als Percy am Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und
leuchtete hell durch die Fenster der Infirmerie. Er wollte aufstehen,
fand aber zu seinem Erstaunen, daß er nicht einmal fähig war, sich im
Bette aufzurichten.

Ruhig schickte er sich in seine Lage, machte das Kreuzzeichen und
verrichtete sein Morgengebet. Bald trat auch der Bruder ein und brachte
auf einem Speisebrett ein reichliches Frühstück.

„Was Du ein fauler Junge bist!“ schalt er lächelnd. „In Deinem Alter
solltest Du doch vor der Sonne heraus sein. Tom und Harry sind längst
fort. Hurtig aufgesprungen! Lauf ein paarmal durch den Hof, um Dir
Appetit fürs Frühstück zu holen!“

„Der Geist ist willig, Bruder, aber das Fleisch ist schwach,“ erwiderte
Percy. „Auf meinen Appetit dürfen Sie auch nicht stark zählen.“

Der Bruder half ihm in eine sitzende Lage und brachte ein
Krankentischlein, das über sein Bett reichte, herbei.

„So,“ sprach er, indem er das Frühstück hinstellte, „nimm wenigstens
etwas! Und je mehr, desto besser.“

„Bruder, ich möchte Sie noch etwas fragen. Glauben Sie nicht es sehe
sonderbar aus, wenn ein Junge, so alt und so groß wie ich, mit langen,
wallenden Haarlocken herumläuft?“

„Vielleicht sieht es hübsch aus,“ erwiderte der Bruder freundlich.
„Aber auf jeden Fall ist es in diesem Hause etwas Ungewohntes.“

„Das meine ich auch. Für Mädchen mag es ganz passend sein, aber nicht
für Knaben. Es ist einem ja auch beim Spiele oft hinderlich. Wenn ich
es nicht hätte, ließe ich nicht so viele Bälle vorüberfliegen, obgleich
ich solche Butterfinger habe, wie Tom sagt. Ich will es mir schneiden
lassen. Man soll nicht meinen, ich sei stolz.“

„Sehr gut!“ versetzte der Bruder, der sein Vergnügen über das naive
Bekenntnis nur schlecht verhehlen konnte. „Und ich selbst will Dich
scheren, sobald Du wieder hinaus darfst.“

Percy nahm indessen einiges zu sich. Als er sich wieder zurücklegte,
klopfte es an der Thüre, und herein trat -- niemand anders als Karl
Kenny.

„Der Tausend! Kenny! Du bist da?“ rief Percy überrascht. „Bitte, setz’
Dich doch zu mir! Bringe gefälligst einen Stuhl von dort mit; ich
bedaure unendlich, daß ich Dir nicht mehr Aufmerksamkeit erweisen kann.“

Diese höflichen Worte sprach der Invalide mit ungeheuchelter
Herzlichkeit und mit der Feinheit und Würde eines geborenen Prinzen.

Kenny, durch den unerwarteten Empfang ein wenig verblüfft, that ohne
ein Wort der Erwiderung nach Percys Bitte, nahm einen Stuhl und setzte
sich etwas beklommen und verlegen neben das Bett.

„Ich bin gekommen, Percy,“ begann er, „weil ich Dich um Verzeihung
bitten wollte. Ich schäme mich unaussprechlich und bin Dir sehr
dankbar, daß Du unsern niederträchtigen Plan vereitelt hast. Darf ich
Dich bitten, mir die Hand zu reichen?“

„Hier! Schlag ein! Es freut mich außerordentlich, Deine Freundschaft zu
gewinnen. Es ist ja wohl zum größten Teile meine Schuld gewesen, daß Du
bis jetzt nichts von mir wissen wolltest. Ich bin ein so sonderbarer
Mensch; ich stolzierte umher wie ein Pfau und that, als wäre ich
überhaupt kein Junge. Jetzt begreife ich aber sehr gut, warum mich
alle neckten und am Haare zupften und es mir zuweilen vor die Augen
schlugen, wenn ich den Ball schnappen wollte. Sie hatten die Absicht
mich zu bessern. In der That, meine einzige Verwunderung ist nur, daß
sie mich nicht noch mehr geplagt haben.“

Eine solche Einfalt und Herzensgüte, die auch an offenbaren
Beleidigungen noch eine gute Seite fand und selbst die Bedränger als
Wohlthäter liebte, war für Kenny ein blaues Wunder.

„Ist Dir das ernst?“ fragte er erstaunt.

„Gewiß, natürlich ist mir das ernst. Es ist meine feste Überzeugung. --
Aber sag’ mir, Kenny, Du hast doch keine Strafe erhalten?“

„Noch nicht, obgleich ich eine gründliche verdient habe. ~P.~
Middleton hat für mich Fürbitte eingelegt. Ich will mich jetzt aber
ernstlich bessern. -- Und Playfair, denk’ Dir, kommt heute Morgen, so
früh es nur ging, zu mir und bittet mich, ihm die Hand zu geben!“

„O das gleicht ihm so,“ rief Percy voll Begeisterung. „Er ist der beste
Junge, den ich je gesehen. Wenn der heilige Pankratius noch lebte, ich
wette, er wäre nicht anders als Tom.“

„Er ist ein famoser Kerl,“ versetzte Kenny bedächtig. „Dem Quip bin ich
dann aber glücklich zuvorgekommen, wie es ja recht und billig war. --
Ich wollte, ich hätte solche Jungen gleich kennen gelernt, anstatt mit
dem Prescott anzubinden. Du weißt, er ist geschaßt, nicht wahr?“

„Ich hörte gestern Abend so etwas.“

Kenny erzählte dann, wie man Prescott am vorigen Abend in der Erholung
sowie im Studiersaale vermißt habe, daß aber ~P.~ Middleton später
ausdrücklich mitgeteilt habe, er sei aus der Anstalt entlassen.

„Ach, der arme Schelm!“ sprach Percy mitleidig. „Wir müssen oft für ihn
beten. -- Aber welch ein Schmerz wird dieses für seine Mutter sein!“

„Er hat keine Mutter mehr. Seine Mutter ist schon während seiner ersten
Kindheit gestorben.“

„O mein Gott, mein Gott! Kein Wunder, daß er nicht recht brav war.
Wenn meine Mutter und meine Schwestern nicht für mich gesorgt hätten,
ich wäre sicher ein sehr böser Mensch. Ich möchte oft weinen, wenn ich
an die vielen unglücklichen Kinder denke, die ohne die Sorge einer
Mutter aufwachsen und auch sonst niemand haben, der ihnen Mutterstelle
vertritt. Sie sind in einer überaus traurigen Lage.“

„Das ist allerdings sehr wahr.“

„Und nun erst diejenigen,“ fuhr Percy fort, „die noch dazu keine
Religion haben. Ach, sie besitzen keine Mutter auf der Welt und keinen
Vater im Himmel und wissen nichts von der allerseligsten Jungfrau und
Mutter Maria, die sie in der Not anrufen können.“

„Percy, ich will mich jetzt auch zum Eintritt in die Marianische
Kongregation melden. Bis jetzt habe ich die Mutter Gottes nicht
verehrt, wie ein Christ es thun sollte. Im letzten Jahre habe ich
meinen Rosenkranz kaum gebraucht.“

„Wirklich?“ erwiderte Percy betroffen. „Dann konnte es nicht
ausbleiben, daß Du in schlechte Gesellschaft gerietest.“

„Freilich nicht. Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich
vieles gelernt. Es soll anders werden, und ich hoffe, es wird auch
anders.“

„Ich auch, Kenny, und dazu, daß wir beiden gute Freunde werden.“

Auf dem Spielplatze war heute nach dem Frühstück nur wenig Leben.
Die meisten Zöglinge hatten sich in zwei Gruppen, deren Mittelpunkte
Tom und Harry bildeten, zusammengeschart und horchten mit gespannter
Aufmerksamkeit ihren Worten. Diese beiden aber boten all ihre
Beredsamkeit zum Lobe Percys auf.

„Ich dachte immer,“ schloß Tom seinen Vortrag, „dieser Wynn hätte auch
nicht das mindeste von einem rechten Jungen an sich und wäre höchstens
ein rechtes Mädchen. Aber jetzt sollte es mich freuen, wenn ich nur
halb so viel von einem Jungen an mir hätte wie er.“

Vor der Schule wurde Tom zum ~P.~ Studienpräfekten oder Direktor
gerufen, um zu seiner angenehmsten Überraschung zu erfahren, er solle
mehrere Schulstunden einstweilen nicht besuchen, sondern während
derselben Percy in der Repetition der lateinischen Grammatik behilflich
sein. Eine erwünschtere Nachricht hätte beiden kaum werden können.

Percy hatte in den zwei Monaten, während welcher er die Schule
besuchte, zwar schon manches gelernt, sich gemerkt und auch in der
Grammatik nachstudiert. Doch wie staunenswerte Fortschritte der
begabte, fleißige und geistig gewandte Schüler auch gemacht, es war für
ihn eine bare Unmöglichkeit gewesen, in dieser kurzen Zeit das Pensum
hinreichend zu bewältigen, für welches seine Klassengenossen ein ganzes
Jahr ernsten Unterrichts gebraucht hatten. Er wußte zwar vieles, hatte
aber außer den Deklinationen noch keinen der verwickelteren Abschnitte
im Zusammenhange durchgenommen.

Das konnte jetzt mit Muße geschehen. Tom wußte seine Grammatik und
hatte zudem noch frisch im Gedächtnis, auf welche Art und Weise
sein hochverehrter Lehrer Middleton im vorigen Jahre verfahren
war. Er suchte das jetzt treulich nachzuahmen, obgleich es ihm oft
herzlich schlecht gelang. Nach dem Erfolg zu urteilen, war jedoch
seine Unterrichtsweise vortrefflich. Sehr bald hatte sein gelehriger
Schüler die Pronomina gut verstanden. Es folgten zur Abwechslung
einige Zählübungen: 222 Köpfe von 222 Füchsen, oder: 3131 Pferde haben
3131 Schwänze und 12524 Beine. Aber Percy ließ sich mit dergleichen
Fußangeln nicht oft fangen, sobald er einmal die Grundregeln begriffen
hatte.

„Wenn Du so weiter lernst, bist Du bald gelehrter als ich,“ sprach Tom
nach einiger Zeit.

Percy aber lernte so weiter und wurde auch richtig gelehrter als sein
jüngerer Herr Professor.

Nicht selten wurde Percy auch durch einen Besuch von ~P.~
Middleton beehrt.

„Nun, wie geht’s dem Schnellläufer?“ Mit dieser Frage trat er eben
wieder ein.

„O, vortrefflich! Pater. Alle Welt ist so gut und liebevoll gegen mich.
Sehen Sie nur, was für einen feinen Lehnstuhl mir der Bruder heute
gebracht hat! Ich merke, daß es fast stündlich besser wird. Gestern
konnte ich schon etwas gehen, und ich glaube, nach acht Tagen sind
meine Beine wieder gerade so gut, oder eigentlich gerade so schlecht,
wie früher.“

„Aber es wird Dir wohl oft langweilig, nicht wahr?“

„O nein, Pater! Tom kommt ja immer, um mir Stunden zu geben. Wir haben
schon viel miteinander durchgenommen, und ich weiß alles gut. Die
Pronomina, die Komparation und auch die Zahlwörter kann ich. Tom sagte,
die Pronomina seien so schwer zu verstehen. Aber ich fand sie leicht,
weil ich früher sehr viel englische Grammatik studiert habe. Nur die
Konjugation ist noch ein gutes Stück Arbeit. -- Wenn ich vom Studieren
müde bin, lese ich ‚Dion und die Sibyllen‘, das mich ganz an ‚Ben Hur‘
erinnert. Diese beiden Bücher gefallen mir sehr.“

„Die Liebe zu guten Büchern, Percy, ist eine ungemein wertvolle Gabe.
Der Mensch ist meistens nicht besser als die Bücher, die er liest,
oder die Leute mit denen er umgeht.“

„Dasselbe habe ich schon oft von meiner Mutter gehört. Sie sagte auch
oft, von Natur seien alle Kinder gut und hätten eine Neigung zum Edlen
und Rechten. Wenn sie aber unter bösen Leuten und Kindern lebten, oder
wenn sie nachher schlechte Bücher läsen, fingen sie an, alles von der
falschen Seite anzusehen, von der ‚linken Seite‘ pflegte sie zu sagen.“

„Hätten doch alle Mütter im ganzen Lande solche Ansichten, Percy!“

„O Pater, auf Weihnachten wird meine Mutter kommen; dann will ich Sie
ihr vorstellen. Es wird ihr große Freude machen, Sie kennen zu lernen.“

„Meinst Du?“

„O sicher. Ich wollte meine Schwestern kämen alle mit. Dann könnten
Sie die auch sehen. Die sind alle so gut und lieb, aber doch nicht
liebevoller, als Sie, Pater, gegen mich gewesen sind.“

„Gute Nacht, Percy! Weil ich an Komplimente nicht gewöhnt bin, so ziehe
ich es vor, mich jetzt aus dem Staube zu machen. Wenn Du aber für mich
beten willst, so ist mir das sehr angenehm.“

„O, das thue ich schon längst, Pater. Ich bete jeden Tag für Sie, und
alle meine Schwestern müssen mir dabei helfen; die können viel besser
beten als ich.“

„Sehr gut, Percy! Gute Nacht!“

Voll Verwunderung über die herzliche, ungekünstelte Einfalt dieser
Worte zog sich ~P.~ Middleton zurück.

[Illustration]




[Illustration]




20. Kapitel.

Noch im Krankenzimmer.


Percys Befinden hatte solche Fortschritte gemacht, daß man ihn im
Grunde als wiederhergestellt betrachten konnte. Nur der Vorsicht halber
wurde er noch ein paar Tage zurückbehalten.

Auch diese Zeit verstrich, und Tom Playfair trat ein, um seine letzte
Privatstunde zu geben. Er fand Percy beschäftigt mit dem Lesen eines
Briefes.

„Ah, Tom, Du kommst gerade recht. Ich habe einen schönen Gruß an Dich
auszurichten.“

„Du? an mich einen Gruß? Von wem denn?“

„Von meiner Schwester Maria. Hör’ nur, was sie schreibt: ‚Sage Deinem
herrlichen Freunde Tom Playfair, daß wir alle voll Dankbarkeit gegen
ihn sind, weil er unserm Bruder so viel Güte und Liebe erwiesen hat.
Wenn Gebete und Segenswünsche ihm nützen können, so soll es daran nicht
fehlen.‘ -- Und hier ist noch etwas für Dich, Tom.“

Er überreichte Tom ein feines, kostbares Bildchen, eine Darstellung der
Mutter Gottes.

„Das ist ein Geschenk von Minchen.“

„Minchen?“

„Ja, das ist die jüngste, erst sechs Jahre alt. Sie bittet Maria, mir
zu schreiben, daß niemand Tom Playfair lieber hat als sie, höchstens
etwa Maria; und selbst diese Ausnahme ist ihr noch zweifelhaft. Wenn
sie nächstens wieder zu wenig Zucker erhält, will sie weglaufen und
es Tom Playfair erzählen. Sie hat immer so drollige Einfälle, Tom!
Zuweilen hält sie förmliche Reden. Für sechs Jahre ist sie merkwürdig
gescheit.“

„Wenn schon das kleine Ding Reden hält,“ dachte Tom, „wie gescheit
müssen dann erst die übrigen sein! Sollte je eine sich hier blicken
lassen, dann mache ich mich schleunigst davon.“

„Ich habe noch einen andern schönen Brief,“ fuhr Percy fort.

„Von welcher Schwester?“

„Von keiner Schwester; von Prescott. Er entschuldigt sich, daß er
mir nicht eher schrieb. Allein er habe bis jetzt seine Hand nicht
gebrauchen können. Doch seien seine Füße gerettet und auch sonst habe
der Arzt keine Besorgnis mehr.“

„Eine sehr angenehme Nachricht, Percy. Aber der arme Kerl muß jetzt
sehen, wie er sein ganzes Leben lang mit zwei Fingern weniger auskommt.
Was schreibt er sonst?“

„Er bittet mich um Verzeihung und wünscht sehr, daß ich für ihn bete.“

„Das kommt ihm von Herzen. Mir hat er nämlich auch geschrieben. Ich
erhielt den Brief gestern beim Abendessen. Er richtet an mich dieselbe
Bitte, und durch mich an Quip, aber in einer solchen Weise, daß ich
beim Lesen rot wurde und den Brief nachher gleich zerriß.“

„So?“

„Jawohl. Es stand noch darin, er nehme jetzt Privatunterricht, um auf
Ostern wieder eine Schule besuchen zu können. Die gründliche Lektion,
die er erhalten, hat ihn doch zur Vernunft gebracht.“

„‚So hart war Gott, um gütig sein zu können,‘“ warf Percy ein.

„Woher mag er nur diese Sprüche haben?“ dachte Tom, und fuhr dann laut
fort:

„Percy, Du hast etwas an Dir, das mich oft wunder nimmt.“

„Wirklich? Das ist mir neu. In der letzten Zeit habe ich Dich nie
mehr erstaunt gesehen, ich mochte thun und sagen, was ich wollte. Ich
dachte, Du hättest Dich ganz an mich gewöhnt.“

„In manchen Punkten ist dem auch so. Aber eines kann ich mir noch
nicht erklären. Wenn sonst neue Zöglinge in diese Anstalt kommen, so
überfällt sie fast immer in den ersten Tagen Heimweh, das oft ganz
schrecklich ist und ihnen alle Heiterkeit nimmt. Bei Dir dagegen habe
ich so etwas fast gar nicht bemerkt.“

„Das ist auch wirklich merkwürdig, Tom. Als ich von meinen Verwandten
Abschied nahm, hatte ich vor dem Heimweh große Furcht; aber es ist
nicht gekommen. Einige Umstände machen das jedoch begreiflich. Zunächst
wurde ich gleich mit sehr braven, teilnahmsvollen Zöglingen bekannt,
die mich so brüderlich behandelten, daß ich mich oft vor mir selber
schämte; so etwas hatte ich nicht verdient. Dann kamen die vielen
Spiele, dann das Fischen und Schwimmen --“

„Und Klettern,“ warf Tom ein.

Percy lachte.

„Das war alles für mich eine ganz neue Welt. Es war so schön und gefiel
mir so, daß ich fürs Heimweh keine rechte Zeit hatte.“

„Jawohl,“ fuhr Tom fort. „Das konnte ausreichen, solange Du gesund
und wohl warest. Aber hier in der Infirmerie hörte die angenehme
Abwechselung auf. Ich dachte, Du bekämest sicher Heimweh, aber ich habe
Dich niemals betrübt gesehen.“

„O, ich habe ja immer studiert und gelesen. Während man lateinische
Grammatik treibt, kann man doch kein Heimweh haben!“

Tom erwiderte nichts, aber er schien zu fühlen, daß Percys stete
Heiterkeit hiermit nicht genügend erklärt sei. Percy bemerkte das und
sprach nach kurzer Überlegung:

„Nun ja, Tom, Dir will ich es ganz erzählen. Ich habe einen Freund,
der mich nie verläßt, und mit dem ich spreche, so oft mich Traurigkeit
anwandelt. Sieh’, hier ist sein Bild!“

Er zog eine kleine, reich verzierte Kapsel hervor und enthüllte vor
Toms Augen ein anmutiges Herz-Jesu-Bildchen.

Toms Antlitz drückte die unverkennbarste Freude aus.

„Das ist ein herrlicher Gedanke!“ rief er.

„Nicht wahr? Ich habe mehr als einmal erfahren, wie ein paar Worte mit
dem Herzen Jesu mir wieder Freude und Mut einflößten.“

„Ich selbst mache es übrigens ähnlich,“ entgegnete Tom und zog ein
ziemlich abgenutztes Skapulier des göttlichen Herzens aus der Tasche.
„Es ist nicht viel daran zu sehen. Aber wenn ich ärgerlich oder brummig
werden will, oder wenn beim Studieren die Ermüdung kommt, so greife
ich in die Tasche und erfasse es. Das bringt mich regelmäßig wieder in
Ordnung. -- Was nun unsere Stunden angeht,“ fuhr Tom fort, „so haben
wir jetzt das meiste durch, das Du wissen mußt, und werden heute gut
fertig. Den Rest kannst Du Schlauberger ganz gut neben der Klasse
nachstudieren.“

„Du scherzest, Tom. Aber ich bin wirklich ganz zufrieden, daß ich diese
Zeit fürs Latein frei bekommen habe. Seit ich etwas mehr davon weiß,
bekomme ich Lust daran. In den andern Fächern habe ich doch nichts
verloren.“

„Morgen kommst Du also wieder heraus. Wir spielen jetzt Fußball; das
ist das rechte Spiel für den Winter.“

„Ah, das ist wohl das Spiel, bei dem man einen so großen, dicken Ball
braucht, der dann so hoch durch die Luft fliegt, nicht wahr?“

„Freilich. Die Regeln lernst Du bald.“

„Das muß lustig sein!“

Acht Tage später langte für Tom ein kleines Packetchen an. Es enthielt
in einer zierlichen Kapsel ein Herz-Jesu-Bildchen, genau so, wie
dasjenige Percys. Ein beiliegender Zettel enthielt die Worte: Gruß von
Maria Wynn.

[Illustration]




[Illustration]




21. Kapitel.

Fußball.


Am folgenden Morgen ging also Percy, und zwar mit kurzgestutztem Haar,
zum erstenmale wieder in den Hof. Ein wahrer Sturm der Freude erhob
sich. Alles scharte sich um ihn und drängte sich in seine Nähe, um
ihm die Hand zu schütteln. Die Ehre, die ihm in solcher Fülle zu teil
wurde, und zugleich die Furcht, er möchte ohne sein langes Haar doch
vielleicht sonderbar aussehen, machten ihn so verlegen und verwirrt,
daß er gar nicht wußte, was anfangen. Johann Donnel bemerkte dieses
peinliche Gefühl, zwängte sich mit Anwendung seiner überlegenen
Körperkraft zu Percy durch, hob ihn auf und trug ihn hinaus mitten auf
den Spielplatz.

„Hurra, Jungens! anfangen!“ rief er. „Percy gehört zu meiner Partei.“

Zugleich begann er als Anführer seinen Leuten die Posten anzuweisen.

Auf den beiden Schmalseiten des Spielplatzes standen die zwei Ziele,
jedes in Gestalt eines geraden griechischen Π und etwa zwei Meter hoch.

Jede Partei hat nun zunächst ein solches Ziel zu verteidigen, das heißt
zu verhüten, daß der Ball durch dasselbe fliegt. Zugleich aber muß sie
womöglich den Ball durch das Ziel der Gegner treiben.

Wenn der Ball nach einem Schlage den Boden wieder berührt hat, darf er
nur noch mit dem Fuße geschlagen werden. Bevor er den Boden berührt
hat, ist es erlaubt, ihn zu schnappen, mit der Faust zu schlagen oder
auch mit ihm davonzulaufen, ihn zu ‚schleppen‘. Wollte man ihn jedoch
in diesem Falle mit dem Fuße schlagen, so müßte er erst auf den Boden
gelegt werden.

Dieser kurze Inbegriff der Spielregeln, wie sie in Maurach gültig
waren, wurde Percy von Tom auseinandergesetzt, während dieser ihn auf
seinen Posten, in der Mitte zwischen beiden Zielen, geleitete.

„Jetzt merk’ Dir das!“ schloß er. „Im Anfange triffst Du den Ball
überhaupt nie, Du magst es versuchen, so oft Du willst. Das schadet
unserer Partei aber nicht, weil Du so weit vom Ziele weg bist. Auch
näher beim feindlichen Ziele würde es nicht schaden; allein da könnte
es Deinen Schienbeinen im Gedränge schlimm ergehen.“

„Aber stände ich nicht besser recht nahe bei unserm Ziele?“

„Keineswegs. Wenn Du dort nur ein einziges Mal vorbeischlügest,
könntest Du uns das ganze Spiel verderben. -- So, jetzt weißt Du alles.
Nur immer gut aufgepaßt! -- Komm’ jetzt zurück, bis angeschlagen ist!
Donnel hat den ersten Schlag.“

Die Parteien nahmen ihre Anfangsstellung ein: zwanzig Schritte vor
ihrem Ziele in einer geraden Linie, die quer über den Spielplatz ging.
Donnel stand etwas vor seiner Partei, und vor ihm auf dem Boden lag der
Ball.

„Fertig?“ rief er.

„Fertig!“ war die Antwort Keenans, der die Gegenpartei kommandierte.

Donnel trat zurück, nahm einen Anlauf, und der Ball flog wirbelnd hoch
in die Luft.

Das Bild von Leben und Bewegung, das jetzt folgte, spottet jeder
Beschreibung. Percy war vor Staunen ganz außer sich. Einen Augenblick
zuvor sah er sich noch inmitten einer Knabenreihe, die fast lautlos und
regungslos einer zweiten gleich ruhigen Reihe gegenüberstand; nur die
Augen aller regten sich erwartungsvoll oder waren auf Donnel und den
Ball gerichtet.

Sobald aber der Ball emporstieg, brach ein lauter Ruf der Begeisterung
aus mehr als hundert lustigen Kehlen, und mehr als hundert Knaben
rannten in einem für Percy unentwirrbaren Durcheinander über den ganzen
Platz hin.

„Vorwärts, Percy!“ rief Tom, der sich dem verwunderten Neuling näherte.
„Nicht in die Sterne gucken! Auf Deinen Posten!“

Damit ergriff er ihn beim Ärmel und zog ihn ohne Umstände in die Mitte
des Platzes.

Alles dieses geschah, während der hochgeschleuderte Ball noch in der
Luft war. Er flog gerade auf das feindliche Ziel los, aber Kennedy,
einer der feindlichen Zielwächter, eine große, dünne Stange, erwischte
ihn noch zur rechten Zeit.

„Schleppen! Schleppen!“ riefen seine Kampfgenossen.

„Hinwerfen! Hinwerfen!“ schreien unsere Leute -- der Einfachheit
halber wollen wir Percys Partei „die unsrige“ nennen -- und laufen mit
geflügelter Eile auf ihn zu.

Kennedy war offenbar kein geübter Spieler, denn er zauderte; wer aber
beim Fußball zaudert, der ist verloren. Langsam entschloß er sich zum
‚Schleppen‘. Allein schon nach wenigen Schritten war Donnel bei ihm und
schlug ihm mit geschickter Hand den Ball zwischen den Armen weg, daß er
hoch empor flog.

Jetzt galt es, den Ball durch Keenans Ziel zu treiben. Als derselbe
wieder den Boden berührte, waren die Unsrigen schon in großer Zahl zur
Stelle, und, angefeuert von ihrem Hauptmann und seinen Offizieren,
machten sie die größten Anstrengungen, den Ball durch die Masse ihrer
Gegner hindurchzubringen.

Aber auch Keenans Leute setzten alle Kraft und Behendigkeit ein, den
Ball von ihrem bedrohten Ziele abzuhalten.

Währenddessen stand Percy an seinem Platz und wunderte sich baß, wohin
wohl der Ball gekommen sein möge. Man sah nichts als ein dichtes Gewühl
von Knaben, schiebend, springend, rufend, mit den Füßen schlagend,
alles mit großem Eifer, aber nicht aufgeregt, erst recht nicht zornig.
Der Ball dagegen war verschwunden.

Tom, dessen Posten sich nicht weit von demjenigen Percys befand, war
inzwischen nicht in Anspruch genommen und benützte die Muße, um
Purzelbäume zu schlagen. Da näherte sich Percy mit der Frage:

„Wo ist der Ball geblieben, Tom?“

„Das möchte eben ein jeder gern wissen.“

„Aber meiner Treu, Tom!“ fuhr Percy fort und schüttelte die Locken
zurück, die er nicht mehr hatte. „Ist es möglich, daß eine solche Menge
Knaben sich so zusammenpressen kann? Wie viele sind es wohl?“

„Alle, mit Ausnahme von Dir, mir und unsern sechs Zielwächtern, mehr
als neunzig. -- Jetzt Augen auf! Der Ball kann jeden Augenblick hierhin
fliegen.“

Das Drängen und Drücken währt fort.

„Hinaus damit!“ rufen die Feinde.

„Drin halten! Drin halten!“ erwidern die Unsern.

„Playfair, komm’ hierher!“ rief Donnel schließlich durch das
Kampfgetöse. „Bring’ die Zielwächter mit, nur zwei laß dort! Der Ball
+muß+ drin bleiben.“

„Bleib’ hier, Percy!“ sprach Tom in Eile und schrie dann zu seinem
Ziele gewandt: „Alle Zielwächter mit heran! Nur Hodder und Skipper da
bleiben!“

Allein bevor dieses Kommando aus Toms Munde war, stieg der Ball in
kühnem Fluge mitten aus dem Knäuel empor. Das Schicksal wollte, daß er
gerade auf Percy zuschwebte, der ihm mit zagender Scheu entgegensah.

Schrecken erfüllt die Unsrigen.

„Wieder zum Ziele! Rasch!“ schreit Donnel seinen Zielwächtern entgegen.

Die Feinde jubeln, aber ein Freudenschrei übertönt sogleich ihren
Triumph. Tom Playfair hat Percys Unfähigkeit nicht vergessen. Wie der
Blitz ist er vor ihm, erhascht den Ball noch einen Fuß über dem Boden
und fegt jetzt, den Ball in den Armen, bereits auf Keenans Ziel los.

So schnell waren diese Vorgänge einander gefolgt, daß diejenigen
Spieler, die sich in der Mitte des Gedränges befunden hatten, noch
nicht wieder kampfbereit waren. Tom hatte also nicht sehr viele Feinde
zu gewärtigen.

„Lauft ihm in den Weg! Haltet ihn auf! Schlagt ihm den Ball weg!“
erscholl es von allen Seiten.

Allein Tom war nicht nur ein flinker Läufer, er wußte namentlich glatt
und gelenkig allen, die ihm entgegentraten, zu entwischen. An dreien
war er vorbei. Einen vierten umlief er und rannte dabei -- gegen seine
Absicht -- einen fünften um, daß er sich kugelte. Jetzt war es die
höchste Zeit, denn die Hauptmasse der Feinde war nahe an ihm. Er warf
den Ball hin, um ihn schlagen zu dürfen -- bum -- der Ball flog zu
Keenans Ziele. Tiefbetrübtes „O“ begann zu klingen, wurde aber sogleich
zu einem hellen Freudenrufe -- der Ball flog über das Ziel.

Keenan lief und holte den Ball zurück. Nach den Regeln hatte er jetzt
von einem bestimmten Platze aus das Recht eines „freien Schlages“, das
heißt, niemand durfte ihn belästigen, so lange er den Ball noch in den
Händen hielt.

Als der Ball wieder im Spiele war, fing das Rennen und Jagen von neuem
an.

Doch diesmal scheint er sich nicht zwischen den unruhigen Beinen eines
Knabengewirres verlieren zu wollen. Man läßt ihn nicht einmal zu Boden
fallen. Von Hand zu Hand oder, besser gesagt, von Faust zu Faust
geschlagen, schwebt er beständig über den Köpfen der Spieler. Der eine
will ihn mit kräftigem Schlage dem feindlichen Ziele zusenden, da
springt ein anderer hoch empor, hält ihn auf und schlägt ihn ebenso
kräftig zurück. Minutenlang währt dieses Schauspiel.

Da endlich berührt der Ball den Grund. Aber ein starker Tritt Keenans
treibt ihn über die Köpfe der ‚Faustkämpfer‘ gerade auf Percy zu, der
ihn zur allgemeinen, vornehmlich aber seiner eigenen Verwunderung
schnappt.

„Hurra!“ schrie Tom. „Lauf’, Percy, und schlag’ ihn, sobald Dir einer
zu nahe kommt!“

Percys Augen leuchteten vor Eifer und Aufregung. Er blickte nach
Keenans Ziele, wohin er ja laufen mußte. Aber der Weg dorthin war noch
von atemlos durcheinanderrennenden Knaben erfüllt. Nach der andern
Seite war alles frei.

„Hurra!“ schrie er und rannte, was er rennen konnte -- auf sein eigenes
Ziel los.

„Halt, Percy! Halt! Zurück! Nach der andern Seite!“ rief Tom.

Allein seine Worte verschwanden in dem allgemeinen Lärm. Percy lief
dahin wie einer, der sich voll bewußt ist, daß ein edles Ziel die
Anspannung all seiner Kräfte verlangt.

Weil auf dieses Verfahren rein niemand gefaßt war, so traf Percy auf
seinem Wege nicht viele Hindernisse. Dreien seiner eigenen Leute
entwischte er glücklich und stand bald nur noch sechs Schritte vor
seinem Ziele. Dort begegnete er Harry Quip und blieb stehen.

„Was muß ich mit dem Balle thun, Harry?“

„Mir geben!“ war die hastige Antwort.

Harry nahm ihn, legte ihn nieder und ließ ihn dann in hohem Bogen
mitten auf den Spielplatz zurückfliegen.

„O! warum thust Du das?“

„Percy, es kommt hier nicht darauf an, den Ball auf irgend eine Weise
irgendwohin zu schlagen oder zu tragen. Man muß suchen, ihn durch das
Ziel der Feinde zu bringen. Du hast jetzt +gegen uns+ gespielt. Du
liefst so schnell mit Deinen lahmen Beinen, daß wir Deinetwegen beinahe
verloren hätten.“

„O! wirklich? das thut mir unendlich leid. Ihr müßt Geduld mit mir
haben. Ich will nie wieder so dumm spielen.“

Nachdem also seine Ideen in diesem Punkte sich etwas geklärt hatten,
begab er sich wieder auf seinen Posten.

Kaum stand er da, als sich abermals ein wirres, erregtes Geschrei erhob.

„Fangt ihn! Ihm voraus! Aufhalten! Den Ball wegschlagen! Hurra, Keenan
hat ihn!“

Diese Rufe tönten lärmend und bunt durcheinander, während Keenan, den
Ball fest in die Arme geschlossen, sich gewaltsam einen Weg bahnte,
keuchend und atemlos auf unser Ziel zueilend.

Keenan war eine kleine Gestalt, aber mit Muskeln von Eisen, und rennen
konnte er wie keiner. Mit der Unwiderstehlichkeit eines Mauerbrechers
stürzte er voran. Einige wagten einen schwachen Versuch, ihn
festzuhalten, aber man sah es ihnen an, daß sie wenig Mut und geringe
Aussicht hatten.

Jetzt naht er sich Tom, und dieser, dem nicht so leicht das Herz in die
Schuhe fällt, eilt ihm kühn entgegen. Keenan will ihn vermeiden, aber
Tom, nicht weniger behend, ergreift ihn am Arme und läßt nicht los.
Keenan setzt seinen Weg fort, Tom mit sich schleppend, ja fast tragend.

Die Aufregung hat jetzt den Höhepunkt erreicht und wird so ansteckend,
daß sie selbst Percy ergreift. Auch er rennt auf Keenan zu und
will ihn fassen. Allein Keenan entschlüpft ihm, und statt seiner
erwischt Percy Tom. Das doppelte Gewicht ist für Keenan zu schwer; er
strauchelt, fällt, und der Ball entrollt ihm. Rasch erhebt sich Tom,
ein wohlgezielter Schlag bringt den Ball zu Donnel, der ihn mit einem
gleichen Schlage, bevor die überraschten Feinde wieder zur Besinnung
gekommen sind, durch Keenans Ziel treibt.

So hat Percy, ohne auch nur den Ball treffen zu können -- erst nach
Wochen war er im Besitze dieser Kunst -- einen ganz wesentlichen Teil
zur Erringung des Sieges beigetragen.

[Illustration]




[Illustration]




22. Kapitel.

Der schiefe Philipp.


Die Zeit, die uns behandelt wie wir sie, verging unsern jungen Freunden
schnell und angenehm. Ein ununterbrochener Wechsel von Arbeit und Spiel
entwickelte Geist und Körper. Nicht wenige Tage waren verstrichen ohne
jede, auch die geringste Störung des allgemeinen Wohlbehagens.

Kenny gehörte jetzt zu den eifrigsten Zöglingen. Mit seinen früheren
Genossen hatte er keine Gemeinschaft mehr. Er hielt sich dafür zu den
Besseren und genoß namentlich den Umgang von Playfair, Quip, Wynn und
andern im gleichen Rufe stehenden Zöglingen.

Kennys Entwickelung war eine sehr allseitige, und besonders hatte er
erstaunlich viel gelesen. Darin lag jedoch zugleich die Wurzel von
manchen seiner Untugenden. Unberaten und unbeaufsichtigt war er bloß
seiner Neigung gefolgt und hatte an die Bücher, die er kaufte, keine
andere Anforderung gestellt, als daß sie recht billig und dann entweder
recht schauerlich oder recht lustig seien.

Nun brachte er einmal zu ~P.~ Middleton ein solches billiges, kaum
eingebundenes Buch, das er noch heimlich ins Pensionat eingeschleppt
hatte, und fragte ihn, ob dasselbe eine geeignete Lesung sei.

„Ich habe es früher gelesen und finde nichts Arges darin,“ fügte er
ehrlich bei. „Allein seit den letzten Erlebnissen glaube ich auch in
diesem Punkte meinem Urteile nicht recht trauen zu dürfen.“

„Gut, Kenny. Ich bemerke mit Freuden, wie ernst Du jetzt Dinge nimmst,
die Du früher kaum beachtet hast. Dein Zweifel ist höchstwahrscheinlich
begründet. Dem Äußern nach zu schließen ist dieses Buch eines von
jenen, die bloß um des Geldes willen gedruckt werden, ohne Rücksicht
darauf, ob sie den guten Sitten schädlich sind oder nicht. Ich fürchte,
es ist viel gefährlicher, als Du glaubst. Aber ich will es lesen und
Dir dann sagen, ob ich mich täusche.“

Das Buch erzählte die Abenteuer eines Studierenden von sechzehn Jahren,
der wegen seiner Gestalt „der schiefe Philipp“ genannt wurde. Die
Sprache war keineswegs schlecht. Der schiefe Philipp stellte sich
dar als eine Art „Richard ohne Furcht,“ dabei witzig, erfinderisch,
unternehmend, trotz seiner Gestalt ein geschickter Spieler, kurz mit
allem ausgerüstet, was ihm die Begeisterung junger Leser erwerben
konnte.

Am folgenden Tage sprach ~P.~ Middleton in der Klasse um die Mitte
der letzten Stunde:

„Jetzt will ich Euch ein kurzes Geschichtchen vorlesen.“

Ein leises, unterdrücktes ‚Ah‘ der Freude war die Wirkung dieser
Worte. Die Gesichter leuchteten und wehe dem Unglücklichen, der sich
vergessen sollte, zu husten oder eine Feder fallen zu lassen.

~P.~ Middleton las dann ein Kapitel jenes Buches, das ihm Kenny
zur Prüfung übergeben hatte. Die Schule, welcher Philipp angehörte,
wollte ihren jährlichen Ausflug halten. Einer der Professoren, der
wegen seiner mangelhaften Aussprache der gesamten Bubenschar, besonders
aber dem schiefen Philipp, als Zielscheibe des Spottes dienen mußte,
hatte sich verlauten lassen, er wolle dieses Jahr auch einmal daran
teilnehmen; weil er aber zu alt sei, um zu Fuße zu gehen, wolle er
reiten. Nun hatte der schiefe Philipp in Erfahrung gebracht, daß der
Professor überhaupt gar nichts vom Reiten verstehe. Er ging deshalb zu
ihm hin und erbot sich, ihm ein sanftes, lenksames Tier zu verschaffen.
Der Professor ließ sich bethören und erhielt, wie sich erwarten läßt,
ein Pferd, das zwar dem Anscheine nach lammfromm war, sich aber bald
als die störrischste, widerhaarigste Mähre herausstellte. Dann fehlte
es natürlich nicht an ergötzlichen Vorfällen, und der arme Professor
mußte sich glücklich schätzen, daß er mit heiler Haut und gesunden
Gliedern davonkam.

~P.~ Middletons Schüler zeigten eine unverhohlene Freude. Einige
lachten laut und herzlich. Percy Wynn war der einzige, der unangenehm
berührt schien.

„Ihr lacht?“ sprach der Lehrer mit ernster Miene, indem er das Buch
niederlegte; „worüber lacht Ihr denn?“

Das Lächeln, jeder Ausdruck des Vergnügens erstarb auf den Gesichtern.

„Noch einmal, worüber habt Ihr gelacht? Ihr werdet doch einen Grund
gehabt haben. Ihr lacht nicht bei den unregelmäßigen Verben; Ihr lacht
nicht, wenn wir Brüche dividieren. Weshalb habt Ihr also jetzt gelacht?“

„Wir lachen, Pater,“ erwiderte Harry Quip, der selten lange um eine
Antwort verlegen war, „weil die Geschichte so lustig erzählt ist.“

„Gut. Du hast doch wenigstens einen Grund. Es scheint Dir also, daß die
Geschichte lustig erzählt ist. Jetzt aber weiter! Ist die Geschichte
denn an sich auch lustig?“

Gedankenvoll runzelte sich manche junge Stirn; das war eine schwere
Frage.

Da streckte Percy die Hand empor.

„Was meinst Du, Wynn?“

„Die Geschichte ist an sich gar nicht lustig, sie hat nur den Anschein
des Lustigen, und zwar weil sie so geschickt erzählt ist.“

„Ganz gut, Wynn. An sich ist die Geschichte eher eine traurige. Ich
will Euch sagen, worüber Ihr gelacht habt, aber mit den eigentlichen
Worten; ich will Euch, wie man sich auszudrücken pflegt, das Kind mit
dem rechten Namen nennen: Ihr habt gelacht über die Lümmelei eines
Erzlümmels.“

Bestürzt sahen die Schüler einander an.

„Ihr braucht aber nicht zu fürchten, ich wäre deshalb mit Euch
unzufrieden. Ihr seid noch zu jung, um den Unwert, ja die Bosheit
dieser Geschichte gleich beim ersten Hören zu durchschauen. Die
anziehende Darstellung mußte Euch irreführen.“

Kenny, der kein Wort des Paters verloren hatte, erhob jetzt seine Hand.

„Zeigen Sie uns doch im einzelnen, Pater, warum diese Erzählung so
schlecht ist. Ich sehe es dunkel ein, wäre aber nicht im stande, mir
darüber Rechenschaft zu geben.“

„Sehr gern, Kenny. -- Jedermann lacht, und lacht mit Grund, wenn einem
andern ein guter Streich gespielt wird. Ich sage ein +guter+
Streich; das setzt nämlich voraus, daß keine unrechten Mittel dabei zur
Verwendung kommen, und daß dem Angeführten um des Scherzes willen kein
eigentlicher Schaden an Ehre und Vermögen, an Leib und Seele erwächst.

Betrachten wir nun unsere Geschichte. Sie berichtet keineswegs einen
unschuldigen Scherz, der dem Professor gespielt wird. Der schiefe
Philipp bietet sich an, dem Professor ein sehr zahmes Pferd zu
verschaffen, obgleich er den Willen hat, das gerade Gegenteil zu thun:
er lügt. Das Mittel also, das den ganzen Streich ermöglicht, ist eine
Sünde. Und erst was für eine Sünde! Ihr wißt zwar, daß die Lüge, wie
häßlich sie auch ist, doch an sich keine schwere Sünde ausmacht. Sie
kann aber eine Todsünde werden. Und das geschieht hier. Skipper, was
hat jemand zu befürchten, der ohne die einfachsten Kenntnisse im Reiten
ein heimtückisches, wildes, unlenksames Roß besteigt?“

„Es ist nicht unmöglich, daß ihn der erste Ritt das Leben kostet.“

„Was meinst Du, Wynn?“

„O mein Gott, ich wage gar nicht, daran zu denken.“

„Und Du, Playfair?“

„Wenn er mit dem Leben davonkommt, darf er von Glück sagen; zum
mindesten wird er wohl Arm oder Bein oder ein paar Rippen brechen.“

„Sehr richtig -- oder sich eine schwere +innere+ Verletzung
zuziehen, was oft viel schlimmer ist als ein Beinbruch. Nun bleibt
zwar der Professor von ernsteren Unfällen verschont; allein das
ist nicht Philipps Verdienst. Seine Lüge ist einzig nach dem zu
beurteilen, was er, +der alt genug war+, voraussah. Wer einen
Streich spielen will, darf die Verhütung schweren Unglücks nicht dem
blinden Zufall überlassen. Philipps leichtfertige Lüge bringt also den
arglosen Mann in die höchste Gefahr. Darum ist sie hier eine Todsünde,
verdammenswerter, als mancher Diebstahl, der mit hartem Zuchthaus
gebüßt wird. -- Ich glaube, jetzt, da Ihr dieses einseht, wäret Ihr
nicht mehr im stande, über die Geschichte zu lachen. -- Der schiefe
Philipp soll ein Held sein. Gott urteilt ganz anders über ihn; nach
Gottes Urteil ist er ein Verbrecher, und seine Heldenthat hat ihm die
Hölle verdient. -- Nicht wahr?“ fügte ~P.~ Middleton lächelnd bei,
„Ihr habt nicht gewußt, was Ihr thatet.“

Erstaunt, fast entrüstet über sich selbst und doch wieder sichtlich
erfreut über die gewonnene Kenntnis sah die Klasse zu ihrem Lehrer auf.

„Wie war es nur möglich, Pater,“ fragte Quip, „daß wir so dumm sein
konnten?“

„Sehr einfach. Der Erzähler versteht es, die Aufmerksamkeit des Lesers
von der Bosheit abzulenken. Jedermann ist unwillkürlich geneigt, beim
Lesen alles so anzusehen wie der Schriftsteller selbst, und das um so
mehr, je mehr seine ganze Sprechart uns gefällt und uns fesselt. Unser
Erzähler thut nun gleich, als wäre Philipps Lüge nicht im mindesten
tadelnswert. Jeder Leser, der noch nicht gelernt hat, stets auf seiner
Hut zu sein, wird dadurch verleitet, in derselben nichts Schlimmes zu
erblicken. Besonders verführerisch ist auch der gute Ausgang. Euer
Lachen würde sicher gleich verstummt sein, wenn erzählt worden wäre,
der Getäuschte hätte wirklich den Tod gefunden. Da hätte sich die ganze
Roheit und Sündhaftigkeit sogleich geoffenbart. Anstatt den Helden zu
bewundern, würde jeder Edeldenkende den Verunglückten bemitleiden und
dem gewissenlosen Urheber zürnen. Jetzt dagegen sieht man beim ersten
flüchtigen Blick bloß eine Reihe Vorfälle, die man lächerlich findet.
Man vergißt aber die Lüge und den sündhaften Leichtsinn, welche der
ganzen Sache zugrunde liegen, ja ohne es zu merken lacht man auch über
sie -- über eine Sünde.

Ich habe aber noch eine andere Frage. Angenommen, der schiefe
Philipp brächte es fertig, den Professor in ganz ähnliche, aber
völlig ungefährliche Lagen zu bringen. Wäre er dann von aller Schuld
freizusprechen?“

Einige Antworten lauteten bejahend, andere zweifelnd. Percy Wynn
verneinte es.

„Aber warum nicht?“

Das wußte auch Percy nicht zu sagen.

„Gut, ich will Euch helfen. Ihr kennt das vierte Gebot. Whyte, wer hat
aber an der Ehre und Liebe, die wir den Eltern schulden, Anteil?“

„Die Lehrer und alle, welche die Stelle der Eltern vertreten, auch die
geistliche und die weltliche Obrigkeit.“

Jetzt blitzte es auf mehreren Gesichtern.

„Nun? -- Hodder!“

„Es war auch deshalb sündhaft, weil Philipp seinen Lehrer verspottete.
Denn der Professor hatte ein Recht auf die Ehre all seiner Schüler, den
schiefen Philipp nicht ausgenommen.“

„Aber Du hast doch wohl gehört, daß der Professor so schlecht sprach
und überhaupt manche Sonderbarkeiten an sich hatte.“

„Das ist kein Grund, ihm die Ehre zu versagen; denn er bleibt doch
immer noch der Stellvertreter der Eltern, den man ehren muß.“

„Sehr gut, Hodder. Man würde es ja nicht tadeln, wenn der schiefe
Philipp einen Gleichgestellten etwas hänselte. Allein dem Lehrer
gegenüber ist dies eine kränkende Beschimpfung, um so kränkender,
da Philipp auch seine Mitschüler zu der gleichen Roheit und Sünde
verleitet.

Jetzt seht Ihr die Doppelsünde, die hier unter den heiteren Blumen
von Fröhlichkeit und Scherz verborgen liegt. Wehe dem Leser, der ihr
geheimes Gift nicht erkennt. Langsam, unmerklich, aber ganz sicher wird
es wirken. Ohne sich bewußt zu werden wird der Leser nach und nach
Lüge, Verachtung der Vorgesetzten und bodenlosen Leichtsinn als gut, ja
als witzig und heldenhaft betrachten, wenn es ihn nur zum Lachen reizt.
Zwar kommt das Verderben nicht gerade immer mit einem einzigen Buche,
obgleich es nicht an solchen fehlt, deren einmaliges Lesen unschuldige
Herzen für immer verdorben hat. Manche töten nicht so schnell. Bei
Zeiten gewarnt, kann sich ein Knabe durch Folgsamkeit ihrer bösen
Wirkung entziehen. Allein einer fortgesetzten Lektüre solcher Bücher
wird auch die stärkste Tugend auf die Dauer nicht widerstehen.

Noch eines wird Euch jetzt klar geworden sein, daß es nämlich oft einer
bedeutenden Reife des Geistes, einer großen Selbständigkeit bedarf, um
das Verderbliche eines Buches mit Sicherheit zu entdecken.“

Pater Middletons Worte waren von durchschlagender Wirkung. Mehrere
seiner Schüler, die sich bis dahin heimlich der Lektüre von anrüchigen
Zehn-Cent-Geschichten hingegeben, wandten sich mit Abscheu von
denselben weg. In die ganze Klasse fuhr ein Eifer für gute Bücher
und für Verbreitung derselben unter den Mitzöglingen. Percy erwarb
sich hierbei eigentliche Verdienste. Wie Kenny besaß er eine weit
ausgedehnte Belesenheit, hatte jedoch das Glück gehabt, daß eine
umsichtige, fromme und gebildete Mutter seine Bücher aufs sorgfältigste
auswählte. Zugleich hatte ein vortrefflicher Privatlehrer durch
gediegene Unterweisung seinen Geschmack und sein Urteil zu einer frühen
Reife geführt, so daß er mit größerer Sicherheit das Gute und Edle vom
Minderwertigen und Verwerflichen unterschied.

Unterdessen verwandelt sich unser Freund immer mehr in einen rechten
Jungen. Fester und frischer blicken die blauen Augen aus dem
unschuldigen Antlitz, das, noch ebenso anmutig und edel wie beim
Beginne des Schuljahres, jetzt auch in der Rosenfarbe blühender
Gesundheit prangt. Seine ganze Erscheinung ist voller und stärker
geworden. Die viele Bewegung in frischer, freier Luft hat ihn
gekräftigt und kräftigt ihn noch. Und seine Hände! ah, Tom Playfair
wird sich wohl bedenken, ihn noch einmal auf seinen Arm schlagen zu
lassen.

Ruhig verflossen noch die Wochen bis Weihnachten. Allein dieses Fest
sollte nicht ohne besondere Ereignisse vorübergehen, Ereignisse, die
Percys Entwickelung wesentlich fördern halfen.

Wir haben gesehen, wie Percy das Allermädchenhafteste, das er nach
Maurach mitbrachte, schnell abstreifte. Er hat den Beweis geliefert,
daß er Großmut und Opfersinn in mehr als hinreichendem Maße besitzt,
um den Anforderungen, die das Leben an den Christen stellt, vollauf
zu entsprechen. Allein seine Nächstenliebe erscheint doch noch mehr
als eine rein persönliche: den Freunden, die ihm wohlgethan, gilt
in Dankbarkeit seine heldenmütige That. Sein Gesichtskreis muß sich
erweitern. Die Religion, in deren Schoße er erzogen ist, auf deren
geheiligtem Boden all seine Grundsätze und Anschauungen wurzeln,
hat ihn schon mit der geistigen Sehkraft begabt, welche genügt, um
eine Welt zu umspannen, und die sich entfalten wird, sobald sich die
Gelegenheit dafür bietet.

[Illustration]




[Illustration]




23. Kapitel.

Auf der Gasse.


An einem hellen Dezembernachmittag sehen wir drei Zöglinge des
Pensionates den Weg zur Stadt antreten. Munter schreiten sie dem kalten
Winde entgegen, der bald ihre Wangen mit einer dunklen Röte bedeckt.

„Nur noch acht Tage!“ sagt Donnel.

„Jawohl,“ erwidert Keenan, „und dann eine ganze Woche Spaß! -- Diese
Nacht wird es wohl gehörig frieren; es ist jetzt schon so kalt, wie
noch nie im ganzen Winter.“

„O, ich hoffe, daß es tüchtig friert!“ sprach Percy, der dritte in dem
fröhlichen Bunde. „Meine Schlittschuhe sind gestern angekommen, und ich
möchte so gern probieren, wie eigentlich das Schlittschuhlaufen geht.“

„Was?“ fragten beide erstaunt, „Du kannst nicht Schlittschuh laufen?“

„Nein,“ antwortete Percy lächelnd; „ich durfte noch nicht mitgehen aufs
Eis.“

„Unbegreiflich!“ sprach Keenan. „Ich sehe nicht ein, was ein Junge im
Winter anfangen soll, wenn er nicht Schlittschuh laufen kann. Aber
tröste Dich, wir wollen Dir nachhelfen.“

„Ich muß gestehen, daß der Winter bis jetzt in der That meine Vorliebe
nicht besessen hat.“

„Kein Wunder!“ lachte Donnel. „Wer nicht einmal Schneebälle drehen,
geschweige denn damit werfen kann, wer weder Schlittschuh läuft noch
Schlitten fährt, wer sich vor jeder Schneeflocke fürchtet, was kann der
vom Winter zu erwarten haben? Ich für meinen Teil ziehe den Winter dem
Sommer bei weitem vor.“

„Wirklich? das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

„Und ich thu’ das auch,“ versicherte Keenan.

    „Gieb mir den Winter, laß schneien knietief!
    Wecke den Nordwind, den kalten, der schlief!
    Es decke der See sich mit blankem Kristall!

Und dann ein noch blankeres Paar Schlittschuhe! Hurra! Dann fliegen
wir, daß der Wind in den Haaren zischt, über die tönende Bahn! Das
nenne ich Spaß!“

„Und ich,“ nahm Donnel das Wort, „ich wünsche mir eine Schlittenbahn,
glatt wie aus Diamant und hoch wie ein Berg, mit einem Handschlitten
vom besten Stahl. Dann sollte es hinuntergehen, daß jedem, der es
sieht, das Blut erstarren möchte, und daß ich wie der Blitz noch
dahinschieße, soweit man sehen kann. -- Ich vergesse auch nie, wie ich
einmal mit meinem Vater eine längere Schlittenpartie machte. Besonders
zur Nachtzeit war es unbeschreiblich schön. Die Sterne flimmerten und
funkelten so hell wie nie im Sommer, der Mond goß ein feenhaftes Licht
über die schneeschimmernde Landschaft, jeder Strauch starrte einen
ganz geisterhaft unter seiner Schneekapuze an. Wenn dann der leichte
Schlitten, von flinken Rossen gezogen, unter Schellengeklingel über die
Straße flog -- o, ich sage Euch, das war entzückend.“

Dieses Gespräch zeigte, daß Donnel so gut wie Keenan der Klasse, der
sie angehörten und die nach altem Brauch noch den Namen ‚Poesieklasse‘
trug, alle Ehre machten. Percy war freilich noch kein ‚Poet‘; allein
seine Ideenwelt war nicht minder reich als die seiner älteren Freunde.

„Die Schönheit einer solchen Nacht,“ sprach er, „ist mir auch oft
zum Bewußtsein gekommen. Freilich ist es ein Gedanke anderer Art,
welcher der Winternacht für mich einen besonderen, aber lieblichen
Reiz verleiht, nämlich die Erinnerung an die erste Weihnachtsnacht zu
Bethlehem. Die Sterne erinnern mich dann immer an den Stern, der die
heiligen drei Könige führte.“

„Nicht übel, Percy,“ lobte Donnel. „Das ist auch mir ein sehr lieber
Gedanke; nur kann ich ihn nicht gerade so schön aussprechen wie Du. --
Ich glaube übrigens wirklich, daß unter allen Menschen wir Knaben den
meisten Grund haben, uns auf den Winter zu freuen und den bärbeißigen
Alten mit den Eiszapfen im Bart und dem Nebelatem willkommen zu heißen.
Er bringt uns ja Weihnachten mit all der Liebe und Freude, die wir von
Gott und von unsern guten Eltern nur immer erwarten können.“

„Da fällt mir gerade,“ nahm Keenan das Wort, „die Ode von Horaz ein,
die wir letzte Woche gelesen: ‚~Vides, ut alta stet nive candidum
Soracte.~‘ Das ist gewiß ein schönes Gedicht; ich habe es mit
großem Vergnügen gelesen. Allein von einer Freude am Winter, wie
+wir+ sie uns zu besitzen rühmen, ist doch darin keine Rede.
Hätte Horaz etwas von Christus gewußt, welch herrliche Werke hätte er
schaffen können! Gerade das Winterfest Weihnachten ist ja der schönste
Gegenstand für die Dichtkunst.“

„O,“ rief Percy begeistert, „das sieht man so deutlich an Miltons Hymne
auf Christi Geburt, die ich, obgleich ich sie nicht ganz verstehe, so
gern habe.“

„Nimm Dich in acht, Percy,“ sprach Donnel lachend. „Wenn Du einmal in
unsere Klasse kommst, dann gerätst Du so hoch in die höchste Höhe der
Poesie, daß selbst Dein Professor Dir nicht mehr beikommen kann. Wo
hast Du das alles denn gelernt?“

„Von meinen Schwestern, besonders von Julie, der ältesten. Wenn wir in
der Familie zusammen etwas gelesen hatten, bezeichnete sie mir immer
die Stellen, welche am schönsten wären, und ich lernte sie auswendig.“

„Ich wünschte mir auch etliche Schwestern von der Art,“ meinte Keenan,
„dann wüßte ich mehr.“

„Ich habe zwei Schwestern,“ versetzte Donnel, „aber wenn sechs
erforderlich waren, um aus Dir, Percy, einen solchen Dichterknaben zu
machen, dann wollte ich, ich hätte deren siebenundzwanzig.“

Percy lachte.

„Sechs sind nicht zu verachten, Johann; aber ich fürchte,
siebenundzwanzig wären doch des Guten zu viel.“

Unter ähnlichen muntern Gesprächen hatten sie bald den Ort erreicht und
schritten auf der Hauptstraße voran.

„Jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen,“ sprach dann Percy, der
Erlaubnis hatte, ein Paar Handschuhe und einige andere Kleinigkeiten zu
kaufen. „Ich bin schnell fertig und treffe Euch hier wieder.“

„Gut, also bis nachher!“

Percy betrat einen Laden -- in demselben waren außer Handschuhen und
andern Tuchwaren auch Uhren, Mehl, Eier und Pflüge feil, was einen
Schluß auf die Natur des Städtchens erlaubt -- und erstand, was er
wünschte. Allein lange wartete er vergebens auf seine Gefährten. Er
machte sich deshalb schließlich allein auf den Heimweg, immer um sich
schauend, ob sie sich nicht einstellten.

Außerhalb der Stadt, wo die Gebäudereihen der Hauptstraße sich in
vereinzelten Häusern fortsetzten, erblickte er eine Gruppe Knaben,
die alle in der fröhlichsten Stimmung zu sein schienen. Sie umstanden
irgend etwas, das Percy nicht unterscheiden konnte, da es in ihrer
Mitte auf der Erde lag, und das offenbar der Grund ihres Gelächters und
ihrer Freudenrufe war.

Als jedoch Percy näher kam, erkannte er mit Schmerz, daß diese Freude
nichts war als die niedrigste Schadenfreude. Von ihnen umringt lag auf
dem Boden ein feingekleideter junger Mann in bewußtlosem Zustande, mit
einer noch leicht blutenden Wunde am Kopfe. Der Mann war betrunken.
Sein Gesicht zeigte jene geistlosen, stumpfsinnigen Züge, welche die
Folge eines übermäßigen Genusses von geistigen Getränken sind. Sein Hut
lag schmutzig und zerdrückt neben ihm.

Was aber Percys Mitleid noch viel mehr rege machte, war ein weiterer
Umstand. Neben dem Betrunkenen kniete ein wohlgekleideter, hübscher
Knabe von acht oder neun Jahren, in vornehmem Anzuge, die Wangen
entfärbt vor Furcht und Scheu, die thränengefüllten Augen mit dem
Ausdrucke tiefsten Leides auf den Bruder gerichtet. Seine Schulbücher
waren ihm entfallen und lagen zerstreut auf dem Boden umher, ein
Zeichen, daß er eben auf dem Wege von der Schule gewesen. Die
herzlosen, kleinen Zuschauer aber waren seine Mitschüler, vermehrt
durch ein paar junge Stadtbummler.

„Lincoln!“ rief das Kind unter Schluchzen, „steh’ doch auf und geh’ mit
nach Hause!“

„Rüttle ihn mal!“ sprach eine rohe Stimme.

„Er hat ganz gut getrunken,“ höhnte ein anderer.

„Warte ein wenig!“ rief ein Dritter von hinten, „ich komme gleich und
zeige Dir, wie man ihn auftreiben kann.“

Percys Herz brannte vor Entrüstung über diese Gefühllosigkeit. Nicht
mehr wie bisher zu neckendem Scherz, sondern in ernstgemeintem Zorne
ballte sich seine Hand.

Der arme Kleine aber schien von diesem Spotte soviel wie nichts zu
merken. Der Bruder allein nahm sein Denken in Anspruch.

„O Lincoln!“ jammerte er mit zitternder Stimme, „komm’, geh’ doch nach
Hause! Papa würde ja sehr traurig, wenn er Dich wieder so daliegen
sähe.“

„Sprich doch lauter!“ riet einer. „Vielleicht ist er taub.“

„Das ist ein guter Rat,“ sprach ein anderer. „Aber da hinten sehe ich
Kracher kommen; der weiß sicher noch einen bessern.“

Kracher war ein etwas größerer, nicht gerade friedfertig und bescheiden
aussehender Junge, der, wie es gleich den Anschein gewann, unter der
gesamten Bubenschaft dieses Schlages ein bedeutendes Ansehen genoß. Man
ließ ihn sofort wie einen Sachverständigen bis zu dem Betrunkenen und
dem weinenden Knaben durch.

„O, der soll bald nüchtern und wach werden!“ versicherte er
selbstbewußt, bückte sich nieder und wollte die Schultern des Mannes
ergreifen.

Allein da sprang das Kind auf, schaute den ungerufenen Helfer mit
flammendem Blicke an, so daß dieser unwillkürlich in seiner Bewegung
innehielt, und rief halb zornig, halb flehend:

„Laß ihn in Ruhe! Rühre ihn nicht an! Er ist mein Bruder!“

Zugleich gab er ihm einen energischen Stoß.

„Das ist mir egal, wessen Bruder er ist,“ erwiderte Kracher, faßte den
Mann bei den Schultern und rüttelte ihn.

Percy aber vermochte jetzt seinen Unwillen nicht länger zu bemeistern.
Er drang bis zu Kracher durch und herrschte ihn mit erregter Stimme an:

„Schäme Dich, Du gefühlloser Mensch! Wenn Du vor dem Manne keine
Achtung hast, solltest Du doch einem armen, hilflosen Kinde diesen
Schmerz nicht bereiten.“

Kracher, der wie ein Gebieter gewohnt war, jede seiner Handlungen
bewundert und gelobt zu sehen, war bei diesem gänzlich unerwarteten
Widerspruch so überrascht, daß er nicht gleich eine Entgegnung finden
konnte und in den Haufen zurückwich. Auch seine Gesellen, die es
nicht begreifen konnten, wie ein unbekannter, magerer, fast wie ein
Mädchen dreinblickender Knabe gegen Kracher, den Unbezwinglichen,
aufzutreten wagte, bedurften einiger Besinnung, bis sie sich wieder zu
den Scherzen, wie sie in ihrer Art lagen, erschwangen. So kam es, daß
das befreite Kind für kurze Zeit sich unbelästigt seinem Verteidiger
gegenübersah, den es mit stummer Verwunderung und Dankbarkeit anblickte.

Allein diese Frist währte nicht lange; dann begann wieder der Spott,
der sich jetzt, wie zu erwarten stand, mit gesteigerter Heftigkeit
gegen Percy wandte.

„Was für eine zarte Puppe!“ hieß es.

„Geh’ doch nach Hause zu Mama, armes Kindchen!“

„O, ich weiß es. Er ist ein Pensionatsjüngelchen.“

„Hast Du auch Erlaubnis auszugehen?“

Dann trat Held Kracher wieder in die Aktion ein und näherte sich Percy,
der ihn unerschrocken, mit einem Blicke voll edler Entrüstung wie
verurteilend ansah.

„Bist Du noch bei Troste, Du Geck?“

Mit diesen verächtlichen Worten wollte sich Kracher an ihm vorbei
wieder dem Manne und dem Kinde zuwenden, um seine Geringschätzung
gegen Percy um so deutlicher kundzugeben.

Allein Percy vertrat ihm den Weg.

„Ihr handelt gemein!“ rief er. „Es könnte einen Stein erweichen, ein
armes Kind in solcher Lage zu sehen. Und Ihr wollt es noch verhöhnen
und quälen!“

„Gemein?“ wiederholte Kracher. „Sag’ uns das nicht noch einmal!“

„Ja, gemein ist es, gemein!“

„Hört Ihr’s?“ redete jetzt Kracher die Gesellschaft an. „Hört Ihr’s?
Sollen wir uns das gefallen lassen?“

„Er muß Spießruten laufen!“ klang eine Stimme.

„Ja, Spießruten laufen!“ schrie die Bande mit schadenfrohem Vergnügen.

Kracher ergriff Percy und hielt ihn fest, bis die andern sich in zwei
Reihen, die einander das Gesicht zukehrten, aufgestellt hatten.

Von dem Betrunkenen, welcher der ursprüngliche Grund ihrer Ansammlung
gewesen, war die Aufmerksamkeit jetzt völlig abgelenkt.

Der kleine Bruder jedoch beobachtete alles, was vorging, mit großen
Augen. Er wußte sich zwar nicht recht zu erklären, was die Bubenschar
eigentlich vorhabe, erkannte aber so viel, daß es gelte, seinem Retter
Percy ein Leid anzuthun. Er eilte herbei, schlang beide Arme um Percy
und rief, so laut er konnte, um Hilfe. Doch einige der nächsten
Gesellen rissen ihn weg und stießen ihn zurück.

Unterdessen war die Aufstellung vollendet. Kracher brachte also den
wehrlosen Percy an den Anfang dieser Gasse und stieß ihn hinein.
Sofort regnete es Faustschläge und noch viel Schlimmeres auf ihn, so
daß der zarte Knabe, der solche Mißhandlungen kaum dem Namen nach
kannte, schon nach den ersten zwei Schritten niederfiel. Unsanfte Hände
griffen zu, um ihn emporzuziehen. Allein das widerwärtige Schauspiel
fand ein jähes Ende. Denn plötzlich, Percy wußte nicht warum, stob die
ganze Meute auseinander, und drei der sauberen Brüder stürzten, so lang
sie waren, neben Percy zu Boden.

[Illustration]




[Illustration]




24. Kapitel.

Wie zwei Tapfere mit Percy Fersengeld geben müssen.


Donnels und Keenans unerwartete Ankunft und energische Thätigkeit hatte
diese Änderung hervorgebracht. Sie halfen Percy wieder auf die Füße und
sahen sich auf dem Kampfplatze um.

Die drei gefallenen Buben waren indessen schnell aufgesprungen
und liefen jetzt ebenfalls, was sie laufen konnten. Doch stand zu
befürchten, daß die ganze Schar, mit Kracher an der Spitze, nicht
gesonnen sei, vor Zweien das Feld zu räumen. In der That hatte Kracher
auch nur deshalb die Flucht ergriffen, weil er glaubte, es sei ein
größerer Trupp Zöglinge im Anzuge, ein Irrtum, der unsern drei Freunden
nicht lange zu gute kommen konnte.

„Johann,“ sprach Keenan, „das Gescheiteste ist wegzulaufen. Sie sind
im Nu wieder da, und ihre Wut ist dann um so größer. Was sind wir zwei
gegen ihrer zwanzig? Wer weiß, welche Gemeinheiten wir dann zu erwarten
haben.“

„Was? ausreißen? niemals!“ erklärte Donnel. „Mit einem Dutzend nehme
+ich+ es auf, und wenn Du mit den übrigen nicht fertig wirst,
so kannst Du mir in Zukunft gestohlen werden. -- Hör’, da rufen sie
einander zu. -- Kommt nur! Wir können auch liebenswürdig sein, wenn Ihr
es wünscht.“

„Denk’ an Percy, Johann! Für uns beide wäre es ja eine ganz gesunde
Bewegung. Aber Percy ist an diese Sorte Spaß nicht gewöhnt.“

„Er kann ja allein nach Hause laufen. Dann halten wir die Jungen auf,
damit sie ihn nicht verfolgen. Lauf, Percy! Du hast nichts zu fürchten.“

Allein Percy -- der während des ganzen aufgeregten Vorganges, wie er
ja zu thun gewohnt war, fast beständig gebetet hatte -- machte keine
Miene, der Aufforderung zu folgen.

„Nein, ich bleibe bei Euch!“

„Was fällt Dir ein!“ drängte Keenan. „Siehst Du nicht, daß sie schon
Steine aufheben? -- Ah, jetzt merke ich’s. Seine Beine haben wieder
etwas abgekriegt. O diese Beine!“

Percy vermochte es in der That nicht, den Schmerz, den er am Gelenk des
rechten Fußes empfand, ganz zu verbergen.

„Wir müssen laufen!“ sprach Donnel ergeben. „Einer muß ihn wegtragen,
und der andere kann doch nicht allein zurückbleiben.“

Während der letzten Worte hatte er Percy ergriffen und aufgehoben, und
jetzt rannten sie davon, so schnell die Füße sie tragen wollten.

Der Feind hatte diese Wendung der Dinge nicht erwartet, sammelte
sich dann aber um so schneller und lärmender, um den Entweichenden
nachzusetzen. Eine wilde Jagd begann.

Donnel trug seine Bürde mit Leichtigkeit. Allein es war nicht zu
verwundern, daß er trotzdem nicht laufen konnte, als wäre er gar nicht
belastet. Keenan, der sich von Zeit zu Zeit umsah, meldete ihm, der
Haufe ihrer Verfolger komme mit jeder Minute näher.

„Setz’ mich nieder, Donnel!“ bat Percy. „Ich kann ganz gut etwas
laufen. Ich fürchte mich nicht; auch vor einem Steinwurf bin ich nicht
bange. Wenn ich schließlich auch eingeholt würde, so wäre das lange
nicht so schlimm, als wenn Ihr mit in ihre Hände fielet.“

„Ruhig sein, Kleiner!“ sprach Donnel. „Unsere Knochen würden schon
etwas aushalten, aber die Deinen nicht. Meinst Du, um unsertwillen
liefen wir davon?“

„Würdest Du uns denn verlassen,“ fuhr Keenan fort, „wenn wir in Not
wären und Du noch Aussicht hättest uns zu retten? -- Holla, sie sind
uns doch verzweifelt nahe. -- Ah, da hab’ ich einen Gedanken, Johann!
Du kannst mir Percys Beine geben, dann hast Du nur seine obere Hälfte
zu tragen.“

„Herrlich! Percy, wir halbieren Dich. Sorge nur, daß wir Dich nicht
zerreißen, sonst bringen wir Dich in zwei Stücken nach Hause.“

Mit erneuter Eile setzten sie ihre Flucht fort.

Übrigens war es nicht nur für sie das beste gewesen, daß sie sich
zum Rückzuge entschlossen: auch der Betrunkene, der mittlerweile aus
seinem Zustande erwachte, konnte sich unter fremder Hilfe mit dem Kinde
unbehelligt entfernen.

Donnel und Keenan waren indessen auch jetzt, nachdem sie Percy halbiert
hatten, in ihrem Laufe nicht wenig behindert. Deutlich merkten sie, wie
ihnen die Stimmen der Verfolger stetig näher kamen, wenn auch langsamer
als früher. Bald traf ein Stein Keenan unterhalb des Kniees.

„Gut gezielt! Das ist gerade die Stelle, wo mein Bein am zähesten ist.
-- Hallo, Percy, wir sind bald da. In zwei Minuten haben wir schon die
Brücke erreicht. Nicht bange sein! Du bleibst am Leben, um auch später
noch einmal ausreißen zu können.“

„O, ich habe keine Angst,“ versicherte Percy mit seinem gewinnenden
Lächeln, das Auge voll Vertrauen und Dankbarkeit auf seine braven
Retter heftend. „Ich weiß mich in guter Gesellschaft.“

„Georg,“ rief Donnel plötzlich, „sind das nicht zwei Zöglinge dort
vorne jenseits der Brücke?“

Keenans scharfes Auge bestätigte die Vermutung.

„Hurra, Ryan und Zieler!“ rief er.

Ryan und Zieler sind den Lesern der früheren Erzählung schon bekannt.
Gehörten sie doch zu jenen neun Helden, deren sich vor zwei Jahren Tom
Playfair so meisterhaft zu erwehren wußte.

Auch Donnel rief ihnen jetzt aus Leibeskräften zu; allein vergebens,
sie waren noch zu weit.

Da ertönte ein lauter, schriller Pfiff. Percy hatte nämlich ~P.~
Middletons Pfeife als Andenken an sein Prärie-Abenteuer zurückbehalten,
so daß sie jetzt abermals ihm und zweien seiner Freunde zu statten
kommen konnte.

Ryan und Zieler wandten sich um. Mit einem Blick hatten sie die Lage
überschaut und stürmten mit beflügelter Eile heran.

Ihr bloßes Erscheinen war genug. Man sah ihnen schon von ferne an, daß
sie wohl im stande waren, Lektionen zu erteilen, die in keinem Buche
der Welt geschrieben standen. Sobald sie deshalb erkennbar wurden,
ergriff die nachjagende Bubenschaft sofort das Hasenpanier, ohne den
geringsten Versuch der Gegenwehr zu machen.

Besonders Ryan war Ursache ihrer Furcht. Die mächtige, vierschrötige
Gestalt, die erst im Rohbau fertig zu sein schien, und sein bärbeißiges
Gesicht waren allerdings wohl geeignet, auch einem Beherzten Angst
einzuflößen. Ryan hatte, zehn Jahre alt, als ein lebendiges, nicht
gerade lenksames Bürschlein, seinen Einzug in Maurach gehalten und
während der ersten Jahre in beständigem Krieg mit Professoren und
Präfekten gelebt. Nur langsam war es ihm gelungen, die unbändige Kraft
seiner Natur ins rechte Geleise zu bringen. Am schnellsten hatte er
noch die Professoren befriedigt, wenigstens nachdem er das Stillsitzen
in der Klasse in etwa begriffen; Ryan war nämlich bei weitem nicht so
dumm, als er aussah. Seit mehreren Jahren jedoch stand es mit ihm ganz
anders. Ryan galt mit vollem Recht als tadelloser, vertrauenswürdiger
Zögling und wurde von allen Kameraden wegen seiner Gefälligkeit, die
sich hie und da sogar als Gutherzigkeit äußerte, hochgeschätzt und
geliebt. Sein Äußeres ließ allerdings gerade diese Eigenschaften am
wenigsten vermuten. Im Gegenteil, die Rolle von Räuberhauptmännern,
Christenverfolgern und andern Wüterichen war bei den theatralischen
Darstellungen sein gewöhnlicher Anteil, und stets lohnte der beste
Erfolg die geringe, von ihm aufgewandte Mühe.

Auf der Brücke angelangt, machten die Flüchtlinge Halt.

„Am Ende sind doch sie noch davongelaufen, nicht wir,“ sprach Keenan
mit Befriedigung.

Percy hatte gleich eine Dichterstelle zur Hand:

„‚Der bess’re Teil der Tapferkeit ist Vorsicht‘, sagte Falstaff, als er
sich tot gestellt hatte.“

Percy stand zwar, an das Geländer der Brücke gelehnt -- auf dieser
nämlichen Brücke hatte einst Tom Playfair zu mitternächtiger Stunde
sein Heldenstück geliefert -- wieder auf seinen eigenen Beinen. Doch
brauchte es kein scharfes Auge, um zu gewahren, daß er große Schmerzen
empfand.

„Ich habe nun stets gemeint,“ sagte Ryan, als auch er, ein gutes Stück
vor Zieler, auf der Brücke war, „Ihr wäret die friedfertigsten Menschen
von der Welt. Aber jetzt sehe ich Euch im Kriege mit ganz Jung-Maurach!
Was ist denn los gewesen?“

„Percy Wynn hier,“ erklärte Donnel, „hat in seiner Wildheit den Einfall
gehabt, sich auf ihrer zwanzig oder dreißig zu stürzen, um einmal zu
erfahren, was man dabei alles erleben könnte.“

„Ich wollte sie nur bewegen,“ sprach Percy, „einen Knaben, dessen
Bruder ohnmächtig auf der Straße lag, doch nicht zu verspotten. Es ging
mir so zu Herzen, daß ich meinen Unwillen gar nicht mehr zurückhalten
konnte.“

„Jawohl! Wäre Keenan und ich nicht gekommen, um ihn aus der Patsche
zu ziehen, dann hätten sie ihm dafür die Weihnachtstage gründlich
verdorben. Sie wollten ihn gerade Spießruten laufen lassen.“

„Diese Bengel!“ sprach Ryan voll Abscheu. „Percy, Du bist ein Ritter
sonder Furcht und Tadel. -- Aber sieh’ Deine Hand! sie blutet ja.“

„Ich bin einmal niedergefallen; da muß ich diese Wunde erhalten haben.“

„Es ist höchste Zeit, daß Du es merkst.“ Mit diesen Worten zog Ryan
sein Taschentuch hervor, um die blutende rechte Hand zu verbinden.

„Auch Dein Fuß muß verwundet sein. Armer Schelm! Du vermagst Dich ja
kaum aufrecht zu halten. Und Dein Gesicht! Deine Lippen sind dick
aufgeschwollen, als wärest Du ein Negerknabe. Wirklich! Du siehst
noch abscheulicher aus als ich, was viel heißen will. -- Ihr müßt ihn
weitertragen und dem Krankenbruder abliefern. Wenn er nicht gleich mit
Pflastern ordentlich geflickt wird, geht er ganz in Stücke. Donnel,
Dein Gesicht hat übrigens auch einen gehörigen Puff mitbekommen,
wahrhaftig!“

„Den gab mir einer in der ersten Hitze, ehe er noch recht wußte, wen er
vor sich hatte. Dann lief er so schnell als möglich davon.“

Donnels Gesicht war in der That stark aufgeschwollen, und die
Geschwulst schien noch immer zuzunehmen.

„Ryan,“ bemerkte jetzt Percy, „ich bin noch immer wegen des Betrunkenen
und des hilflosen Kindes besorgt. Ich fürchte, die Jungen thun ihnen
noch ein Leid an.“

„Das glaube ich kaum,“ beruhigte ihn Donnel. „Es war ja so nahe bei den
Häusern. Was mich wunderte, war nur, daß nicht schon eher Hilfe kam. Es
muß alles sehr schnell hergegangen sein.“

„Doch um Dich zu trösten,“ nahm jetzt Zieler das Wort, der dem letzten
Teile des Gespräches zugehört hatte, „so wollen Ryan und ich noch
schnell hingehen und uns überzeugen, obgleich unsere Gegenwart kaum
mehr nötig sein wird.“

In der Infirmerie gab der Krankenbruder die tröstliche Versicherung,
Percys Verletzungen seien nicht bedenklich und würden ihn in den
Freuden und Festlichkeiten der Weihnachtstage nicht erheblich stören.

[Illustration]




[Illustration]




25. Kapitel.

Zwei Briefe.


Am andern Tage erhielt der Rektor des Pensionates folgenden Brief:

  +Hochwürdiger Herr ~P.~ Rektor!+

  +Hochgeehrter Herr!+

  Unabweisbare Geschäfte machen es mir unmöglich, einer sehr dringenden
  Pflicht, die ich seit gestern gegen mehrere Mitglieder Ihrer
  geschätzten Anstalt habe, persönlich zu entsprechen.

  Ich bin der unglückliche Vater jenes Betrunkenen, der gestern von
  einem Ihrer Zöglinge und dessen zwei Freunden in so aufopfernder
  Weise vor Insulten geschützt wurde. Nicht ohne ein bitteres Gefühl
  der Scham schreibe ich diese Zeilen nieder. Deshalb ist jedoch meine
  Dankbarkeit gegen jene drei vortrefflichen Knaben nur um so größer,
  da sie mir durch ihre edle That wenigstens einen Teil der Schande
  erspart haben. Weil ich nun ihre Namen nicht weiß, so ersuche ich
  Sie, Hochwürdiger, hochverehrter Herr ~P.~ Rektor, an ihrer
  Stelle meinen tiefgefühlten Dank entgegennehmen und ihnen übermitteln
  zu wollen. Der beste Teil meiner Erkenntlichkeit gebührt ohne Zweifel
  demjenigen unter ihnen, der von meinem kleinen Frank, dem Zeugen der
  Schande seines Bruders, als der kleinste bezeichnet wird. Er scheint
  nach Franks Erzählung wirklich der Hauptfaktor gewesen zu sein.
  Sobald meine Geschäfte es gestatten, werde ich mir die Ehre nehmen,
  selbst in Ihrer Anstalt vorzusprechen und dem kleinen Helden, sowie
  dessen Freunden persönlich zu danken.

  Zugleich gestehe ich, daß durch den gestrigen Vorfall meine Ansichten
  über Ihre Anstalt sich ganz wesentlich geändert haben. Ich bitte
  um gütige Zusendung eines Programmes, da mir sehr daran liegt, das
  Pensionat noch näher kennen zu lernen.

  Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung verbleibe ich

  Ew. Hochwürden ergebenster

  +Arnold Marschall+.

Der Name Marschall kam dem Rektor nicht ganz unerwartet. Dieser reiche
Geschäftsmann hatte nämlich zwei Söhne, welche allenfalls die ihm von
Percy beschriebenen Brüder sein konnten. Herr Marschall war als Feind
jeder Religion, vor allem der katholischen, bekannt.

Sein ältester Sohn hatte zwar nie den besten Leumund besessen und
war für seinen Vater, der trotz allen Religionshasses im Rufe eines
Ehrenmannes stand, eine fortwährende Quelle des Kummers. Allein ein
Laster, das die eigene Verworfenheit in solchem Grade vor den Augen der
Welt bloßstellt wie die Trunksucht, ließ sich in der vornehmen Familie
nicht gut vermuten.

„Der junge Herr Marschall muß sich gegen früher sehr zu seinem
Nachteile verändert haben,“ sprach der Rektor, als er den Brief zu Ende
gelesen. „Früher hat man nie dergleichen von ihm gehört.“

Was Percy anging, so erfuhr er nichts von der Ankündigung des Besuches,
der ihm bevorstand. Der Rektor beabsichtigte, ihm eine angenehme
Überraschung zu bereiten. Es wollte ihn übrigens bedünken, jener Besuch
werde auch für Herrn Marschall selbst wohl eine größere Bedeutung
haben, als im Briefe ausgedrückt war.

Ohne Zögern ging das verlangte Programm an Herrn Marschall ab. In
einem kurzen Begleitschreiben nannte ihm der Rektor die Namen der
drei Zöglinge und bemerkte, Herr Marschall habe mit vollem Rechte das
Benehmen derselben als eine Folge religiöser Erziehung aufgefaßt; alle
drei, vornehmlich der kleinste, Percy Wynn, hätten eine vortreffliche,
aber ausschließlich katholische Erziehung genossen, wobei jedoch dem
Kolleg kein anderes Verdienst zukomme, als gehütet und gepflegt zu
haben, was im Elternhause gepflanzt worden sei.

Mehrere Tage vergingen. Da langte ein zweiter Brief des Kaufmanns an.
Herr Marschall bat um die Erlaubnis, bei seinem spätern Besuche mehrere
Zweifel über Religionssachen vorlegen zu dürfen und gab zugleich
folgenden kurzen Bericht über die Umwandlung, welche das jüngste
Ereignis in seinen Anschauungen hervorgerufen hatte:

  „Ew. Hochwürden kennen mich als einen ausgesprochenen Glaubensfeind.
  Ich verlor meine Religion als heranwachsender junger Mann infolge
  des Besuches glaubensloser Studienanstalten und des Verkehrs mit
  ungläubigen Geschäftsgenossen. Schließlich kam ich dahin, daß ich
  vor allem meine eigene, die katholische Religion aus dem Grunde
  verabscheute.

  Da meine verstorbene Gattin dachte wie ich, so wurden unsere Kinder
  ganz in meinem Geiste erzogen. Im übrigen verwendeten wir jedoch
  große Sorgfalt auf ihre allseitige Ausbildung, behandelten sie
  mit einer vernünftigen Strenge und waren im Anfange mit unsern
  Erfolgen sehr zufrieden. Der Älteste, Lincoln, versprach wirklich
  das zu werden, was wir aus ihm zu machen wünschten: ein tüchtiges,
  brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft. In den Jahren
  seiner Kindheit, war er nicht minder als jetzt sein jüngster Bruder
  Frank, mein Stolz und meine Freude. Dann besuchte er eine höhere
  Schule, die natürlich religionslos war, und an der er von Jahr
  zu Jahr sichtlich mehr verdorben wurde. Daheim unter der Obhut
  seiner Eltern hatten die wenigen Grundsätze von Menschenwürde und
  Ehre, die ich ihm beigebracht, sowie die Liebe zu seinen Eltern
  noch Kraft genug besessen, um ihn vor schlimmeren Gewohnheiten
  zu bewahren; den Maßstab allerdings, nach welchem meine eigenen
  guten Eltern dereinst mich beurteilten, hätte ich an ihn nicht
  anlegen dürfen. An ihm wurde mir immer klarer, daß der Mensch, um
  in allen Punkten den Anforderungen der Sittlichkeit zu entsprechen,
  eines allwissenden und allmächtigen Richters bedarf, dem auch die
  geheimsten Gedanken nicht verborgen sind, und der nicht minder jene
  Überschreitungen zur Rechenschaft zieht, welche von der irdischen
  Strafgewalt nicht erreicht werden. Hielt ich ihm vor, wie sehr er
  durch sein ausschweifendes Leben seine Menschenwürde schände, so
  war stets sein letztes Wort: ‚Wer kann mir denn vorschreiben, meine
  sogenannte Menschenwürde nicht zu schänden? Und was habe ich denn
  von der Menschenwürde? Nichts, gar nichts. Was ich aber von meinen
  Vergnügungen habe, wird mir sehr wohl bewußt, und ich ziehe es aller
  Menschenwürde bei weitem vor.‘ Die einzige durchschlagende Erwiderung
  hätte ich im Glauben meiner Kindheit gefunden. Nur ein Gott kann den
  Menschen verpflichten, menschenwürdig zu leben. Allein diese Antwort
  mochte ich weder ihm noch mir geben.

  Erst als mir mehrere Kinder hingestorben waren, als Lincolns
  Zügellosigkeit immer noch anwuchs, und schließlich der Tod auch meine
  Gattin von mir nahm, wurde ich dem Gedanken einer Umkehr weniger
  abhold. Trotzdem sträubte ich mich aus ganzer Kraft meiner Seele,
  mich selbst eines jahrelangen Irrtums zu zeihen. Es hatte mir jemand
  ein sehr gerühmtes apologetisches Werk in die Hände gespielt. Ich
  las dasselbe nicht ohne Interesse, redete mir aber selbst ein, es
  enthalte die Wahrheit nicht. Doch trug es nicht wenig dazu bei, meine
  Unruhe zu vergrößern.

  Endlich hat Percy Wynns That meine letzten Bedenken zerstreut. Ich
  hielt mich noch beständig an der Einbildung festgeklammert, die
  katholische Religion bilde nur engherzige, schwächliche und feige
  Charaktere. -- Die Erinnerung an meine eigene Jugend hätte mich schon
  eines bessern belehren können. -- Da erfahre ich nun, daß dieses
  echt katholisch erzogene Kind eine Großmut und Unerschrockenheit an
  den Tag legt, die, wenn ihr auch die Umsicht späterer Jahre noch
  abgeht, doch schon jetzt einen Mann beschämen könnte, und die ihm
  selbst teuer zu stehen gekommen wäre, hätten nicht zwei edle, auch
  katholisch erzogene Gefährten sich mutig seiner angenommen. Weder
  Lincoln noch irgend einer von seinen Schulkameraden würde gehandelt
  haben wie Percy Wynn. Ja, als ich am Abende jenes Tages meine eigenen
  Anschauungen genauer untersuchte, mußte ich bekennen, ich sei zu
  jener Zeit, da ich noch Gott fürchtete, viel, viel selbstloser
  gewesen, als nachher. Zum erstenmale wagte ich nur einzugestehen,
  daß die Leugnung Gottes den Menschen überhaupt gar nicht selbstlos
  zu machen vermag, da sie alle stichhaltigen Gründe für eine
  uneigennützige, selbstlose Liebe zum Nebenmenschen in der Wurzel
  vernichtet.

  Mit ganz anderer Gesinnung nahm ich abermals jenes Buch hervor -- nur
  die Nachtzeit konnte ich diesem folgenschweren Geschäfte widmen --
  um es wieder und wieder zu lesen. Ein ganz neues Licht ergoß sich in
  meine irrende, zagende Seele. Die letzten Zweifel hoffe ich morgen
  von Ihnen, Hochwürdiger, Herr Rektor, gelöst zu sehen, um dann gleich
  durch eine Generalbeichte, zu der ich allerdings nach so vielen
  Jahren der gütigen Hilfe des Beichtvaters bedarf, mein Leben wieder
  in Ordnung zu bringen.

  Den armen Lincoln werde ich wohl seinem durch den eigenen Vater
  verschuldeten Schicksale überlassen müssen. Der neunjährige Frank
  dagegen ist noch zu retten. Seinen verkommenen Bruder kennt er fast
  gar nicht, da Lincoln in den letzten Jahren nicht oft zu Hause war
  und ich zudem die beiden mit Fleiß von einander fern zu halten
  suchte. Frank kann und soll daher religiös erzogen werden. Da jedoch
  ich selbst mich zur Erfüllung dieser Elternpflicht unfähig gemacht
  habe, so wäre es mir sehr lieb, wenn er einen Platz in Ihrem Hause
  fände. Nach dem Zeugnisse seiner Lehrer ist er ein gut talentiertes
  Kind, namentlich bemerkt man an ihm eine ausgesprochene Anlage zu
  verstandesmäßigem Denken, die ich selbst im Verkehre mit ihm nach
  Möglichkeit gefördert habe.

  Falls es Ew. Hochwürden genehm ist, werde ich mich morgen nach
  der Schlußfeier, deren Stunde ich aus dem gütigst übersandten
  Schulkalender ersehe, mit Frank einfinden, um noch über mehrere
  Punkte mir den erfahrenen und umsichtigen Rat Ew. Hochwürden zu
  erbitten.“

Mit einem herzlichen ‚Gott sei Dank‘ legte der Rektor das umfangreiche
Schreiben nieder.

[Illustration]




[Illustration]




26. Kapitel.

In der Aula.


Für den Nachmittag des 23. Dezember ist also der Leser zu der großen
Schlußfeier in der Aula des Kollegs eingeladen.

Zuerst tritt die Blechmusik des Pensionates auf und leitet durch
einen kräftig vorgetragenen Marsch die Feier ein. Dann folgt der
Hauptteil: die Überreichung der Schulzeugnisse, an welche sich
unmittelbar eine Art Preisverteilung anschließt. Die Preisgekrönten
werden in alphabetischer Ordnung aufgerufen und treten vor, um auf
einer reichgeschmückten Tribüne aus der Hand des ~P.~ Rektor ihre
Auszeichnung in Empfang zu nehmen.

Mancher uns wohlbekannte Zögling hört seinen Namen erklingen und
begiebt sich mit freudig klopfendem Herzen zur Tribüne.

Auch Donnels Name ertönte. Als er sich erhob und mit seinem entstellten
Gesichte -- „es ist ja ganz windschief,“ flüsterte Tom Playfair seinem
Nachbar zu -- durch die Mitte der Knabenschar hinschritt, entstand
ein allgemeines Beifallklatschen, so daß Donnel, dem diese Kundgebung
vollständig unerwartet kam, über und über errötete.

Den Schluß der Bevorzugten bildete Percy Wynn. Die Geschwulst in
seinem Gesichte war allerdings ziemlich verschwunden und wurde
bedeutend weniger bemerkt, als es zuvor bei Donnel der Fall gewesen.
Als er jedoch, noch immer einige Pflaster auf Stirne und Wangen, mit
unsicherem Schritte die Stufen der Tribüne hinaufstieg, um mit der
verbundenen Rechten die Auszeichnung in Empfang zu nehmen, da blieb
es nicht beim Klatschen: ein förmliches Hurrageschrei erfüllte den
weiten Saal. Eigentlich war diese Art von Beifallsbezeugung verboten.
Allein der ~P.~ Rektor, vor dessen Augen es geschah, konnte
es ja gestatten. Es ging sogar das Gerede, er sei, wie er selbst
später erzählt habe, versucht gewesen, mit einzustimmen. In bezug auf
~P.~ Middleton wurde das als Thatsache behauptet. Es mochte wahr
sein oder nicht, die Knabenschaft des kleinen Hofes war fest davon
überzeugt, und ihr erster Präfekt stieg nur um so mehr in ihrer Achtung
und Liebe.

Percy hatte allerdings diese Ehre vollauf verdient. Bei seinen
Talenten, seiner guten Vorbildung und seinem unverdrossenen
gewissenhaften Fleiße war es ihm in der kurzen Zeit wirklich gelungen,
an die Spitze seiner Klasse zu kommen. Im englischen Aufsatz war Percy
der erste, Keenan der zweite; in der englischen Grammatik waren Quip,
Playfair, Wynn gleich; in der Mathematik Playfair der erste, Wynn der
zweite; im Griechischen standen beide gleich; die größte Verwunderung
aber erregte es, daß im Latein Wynn der erste, Playfair der zweite war.

In sinniger Weise schloß die Feier mit einem Weihnachtsgesange. Percy
hatte in demselben ein Solo vorzutragen. Gehoben durch die Herzlichkeit
und Ehre, die ihm zu teil geworden war, übertraf er dieses Mal beinahe
sich selbst. In einem solchen Grade gelang es ihm, die Gefühle des
Liedes wiederzugeben, daß die Kundigen gerade seinem Auftreten
einen großen Teil an der Wirkung des Stückes zuschrieben. Die junge
Zuhörerschaft schien allerdings sehr ergriffen zu sein. Denn nachdem
der Gesang verklungen, war nur eine schwache Spur von Beifallklatschen
zu bemerken, ja gegen alle Gewohnheit währte es einige Augenblicke,
bevor die Sprechorgane, die sonst bei Knaben so leicht zu erregen sind,
sich wieder in Bewegung setzten.

Kaum war die Feier zu Ende, als Tom in erheucheltem Zorne zu Percy
hineilte und mit drohend erhobener Faust ihm zurief:

„Warte, Du zusammengestückter Raufbold! Bevor ich Dir wieder Unterricht
im Latein erteile, mußt Du erst wieder an einem kalten Tage draußen
sein und dann pfeifen ohne ~P.~ Middletons Pfeife.“

„Das mußt Du mich erst lehren.“

„Ich werde mich hüten! Sonst übertrumpfst Du mich darin auch noch.“

Man wußte, daß Tom auf die Erfolge seines Schülers überaus stolz war.
Er soll sogar vor Freude im Geheimen etliche Purzelbäume geschlagen
haben. Im übrigen jedoch sprach er den Rest des Tages hindurch von
„einem gewissen halblahmen Jungen, der sich unterstanden habe, seinen
Professor zu überholen“.

Da Percys Zustand diesem nicht gestattete, im Hofe an den Spielen
teilzunehmen, so zog er sich in den Spielsaal zurück und gab Tom
Unterricht im Schach.

Plötzlich öffnete sich die Thüre und ein Zögling kam hereingelaufen mit
dem Rufe:

„Percy Wynn, ins Sprechzimmer!“

„O mein Gott! Vielleicht ist es gar meine Mama. Das ist mir
außerordentlich peinlich.“

„Du bist mir ein netter, liebevoller Sohn!“ sprach Tom mit ernster
Miene. „Bei der Nachricht, daß die Mutter gekommen ist, fängt man doch
nicht an zu jammern!“

„Du kannst Dir denken, weshalb ich mich jetzt fürchte, zu ihr zu gehen.
Sie muß ja erschrecken, wenn sie mich in diesen Pflastern erblickt.“

„Mich würde das wenig grämen. Du siehst ja ganz köstlich darin aus.
Wäre ich an Deiner Stelle, ich trüge sie zum Schmucke. Du könntest
sie wirklich in Mode bringen. Sie stehen Dir gerade so gut wie
Simpelfransen.“

„Ich habe wenig Lust, eine neue Mode zuerst bei Mama zu versuchen. --
Vielleicht ist es aber jemand anders. Sie bemerkte einmal in einem
Briefe, vor Januar könne sie die weite Reise nicht gut antreten.“

„Geh’ hin und sieh zu! Das ist das einfachste Mittel. Sag’ ihr
dann auch, ich würde mir nächstens erlauben, eine Rechnung für die
Privatstunden einzureichen.“

Percy zupfte sorgfältig seine Kleidung zurecht, wischte hie und da ein
Stäubchen weg und machte sich dann pochenden Herzens auf den Weg ins
Sprechzimmer.

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27. Kapitel.

Der unerwartete Besuch.


Voll Spannung klopfte Percy an der Thüre des Sprechzimmers und trat
zögernd ein. Wir wissen bereits, daß seine Besorgnis unbegründet
war. Denn es war niemand anders als Herr Marschall, der ihn, eben im
Gespräch mit ~P.~ Rektor begriffen, erwartete. Auch den kleinen
Frank hatte Herr Marschall mitgebracht, und dieser kam sogleich dem
Eintretenden freudestrahlend entgegen.

„Kennst Du den?“ fragte der Rektor Percy.

„O gewiß kenne ich ihn, und freue mich sehr, ihn wiederzusehen.“

Da ergriff der Kleine Percys Hand und drückte sie. Es schmeichelte ihn
sichtlich, daß er Percys Zuneigung besaß.

Unterdessen hatte sich auch der Vater erhoben.

„Percy, das ist Herr Marschall,“ sprach der Rektor vorstellend.

Percy machte seine unnachahmliche Verbeugung.

„Herr Marschall, es ist mir äußerst angenehm, Ihre Bekanntschaft machen
zu können.“

„Percy, ich bin der Vater dieses Deines kleinen Bekannten und möchte
Dir jetzt persönlich danken für die Hilfe, die Du ihm und seinem
unglücklichen älteren Bruder auf der Straße hast angedeihen lassen. --
Armes Kind,“ fügte er bewegt bei, als er bemerkte, daß Percy die Folgen
seiner That noch an sich trug, „erst jetzt wird mir klar, wie mutig
und selbstlos Du gehandelt hast. -- Leider, Percy, muß ich jetzt schon
gleich wieder Abschied von Dir nehmen, da ich noch mit dem hochwürdigen
Herrn Rektor zu sprechen habe und morgen in aller Frühe eine kurze
Reise antreten werde. -- Könnte ich nicht auch die beiden andern
Zöglinge noch sprechen, hochwürdiger Herr Rektor?“

„Ich habe bereits nach ihnen geschickt. Allein man scheint sie nicht
finden zu können; sie sind wohl ausgegangen.“

„Schade. Aber Percy hat dann jedenfalls die Güte, ihnen meine Grüße und
meinen Dank zu überbringen. Da ich später mehr Grund haben werde, ins
Pensionat zu kommen, so werde ich sie, denk’ ich, auch einmal zu Hause
treffen.“

„Es thut mir leid, Herr Marschall,“ sagte Percy, „daß Sie so schnell
sich wieder entfernen wollen; ich hoffte, Frank noch etwas länger zu
sehen.“

Frank ergriff abermals Percys Hand und drückte sie voll inniger Freude.

„Dieses Vergnügen will ich Euch beiden lassen,“ erwiderte der Vater
lächelnd. „Seit Frank Dich auf der Straße kennen gelernt, plagte er
mich Tag und Nacht mit der Bitte, ihn ins Pensionat zu schicken, bis
ich es ihm zusagte.“

„O wie schön!“ rief Percy erfreut.

„Die Trennung von ihm fällt mir schwer; allein ich darf hoffen, daß sie
zu seinem Besten gereichen wird. -- Ich lege ihn,“ wandte er sich an
den Rektor, „ganz in Ihre Hände. Religion hat er natürlich ebensowenig,
wie ich; auch getauft ist er nicht.“

Hier war es Percy unmöglich, einen Ruf des Mitleides zu unterdrücken.
Also dieser Knabe mit dem intelligenten Gesichtchen, ein Kind desselben
Vaterlandes, war ein eigentliches Heidenkind, war fern vom Glücke des
Christentums.

„Mein sehnlichster Wunsch ist nun, daß er katholisch wird, und zwar
recht bald. Doch möchte ich ihm anderseits auch keinerlei Zwang anthun.
Er hat sein Alter, ist ziemlich entwickelt und einigermaßen zu einer
selbständigen Wahl befähigt.“

„Bist Du auch katholisch, Percy?“ fragte Frank mit altkluger Miene.

„O gewiß!“

„Gut. Papa, dann werde ich ganz gewiß katholisch.“

„Gleichviel, wie die katholische Religion aussieht?“ sprach der Vater
lächelnd.

Frank stutzte einen Augenblick.

„O,“ rief er dann voll Zuversicht, „sie ist sicher eine sehr schöne.
Percy ist ja so gut und liebevoll. Meinst Du nicht auch, Papa?“

„Es freut mich, Frank, daß Du so von ihr denkst. Du hast jetzt
Gelegenheit, sie gut kennen zu lernen. Thu’ das auch. Suche alles zu
verstehen, soweit Du kannst. Ich glaube, auch Percy wird Dir gern dazu
behilflich sein.“

„Mit Freuden!“ versicherte Percy.

„Mein liebster Gedanke ist,“ wandte sich Herr Marschall an den Rektor,
„aus Frank einen wohlunterrichteten Katholiken zu machen, der weiß, was
er glaubt und warum er glaubt.“

„Seien Sie überzeugt, Herr Marschall,“ sprach der Rektor, „daß ich ihn
zum Übertritt nicht zulassen werde, bevor er sich, soweit seine Jugend
es ermöglicht, über den ganzen Inhalt unseres Glaubens hinreichend
Rechenschaft geben kann. Auch mit Bekehrungsversuchen soll ihn niemand
behelligen.“

Die letzte Versicherung sollte Herrn Marschall ein Vorurteil nehmen,
das bei Nichtkatholiken nicht selten ist, und welches auch dieser
Herr in den vielen Jahren seines Unglaubens jedenfalls gehegt hatte:
daß nämlich an einer katholischen Anstalt jeder Lehrer oder gar jeder
Schüler beim Anblicke eines Andersgläubigen in einen zudringlichen
Bekehrungseifer verfalle.

„Sie haben mein volles Vertrauen, hochwürdiger Herr Rektor. -- Frank,
wir müssen scheiden; ich muß mit dem hochwürdigen Herrn Rektor allein
noch einiges besprechen. Deshalb überlasse ich Dich der Sorge Percys.“

„Komm’, Frank,“ sprach Percy freudig. „Es macht mir ein großes
Vergnügen, Dich ins Pensionatsleben einführen zu können. -- Adieu, Herr
Marschall!“

„Adieu, Percy! Ich habe Dir für eine große Wohlthat zu danken. Auf
baldiges Wiedersehen! -- Frank, mein liebes Kind, lebe wohl!“

Er hob den Kleinen auf und küßte ihn heftig bewegt.

„Lebe wohl, Frank, und -- und behüt’ Dich Gott!“

Das letzte Wort sprach der starke Mann nur mit Anstrengung aus, und
seine Stimme zitterte dabei.

„Er ist mein Trost,“ sprach er, indem er sich abwandte und das Haupt
senkte, „mein letzter Trost; seine Mutter lebt nicht mehr.“

Jedes seiner Worte erzählte von jahrelanger Liebe, Sorge und
Bekümmernis.

„Armes Kind!“ rief Percy, dessen Augen vor Mitleid feucht wurden.
„Komm, Frank! Dein Vater wird nur noch trauriger, wenn Du länger
bleibst.“

Als die Thüre des Sprechzimmers sich hinter ihnen geschlossen hatte,
brach Frank in Schluchzen aus.

„Das ist recht, Frank! Weine Dich erst recht aus. Ich kann mir leicht
vorstellen, wie hart es ist, sich von einem so guten Vater trennen zu
müssen.“

„O ja, er war immer so gut und liebevoll! Nie hat er ein hartes Wort zu
mir gesprochen. O Papa, Papa!“

Percy ging ganz in Mitgefühl und Besorgnis auf. Es stand bei ihm fest,
seinem neuen Mitzögling nach Kräften den Übergang aus dem Vaterhause in
eine ganz veränderte Umgebung zu erleichtern. Das konnte ja nur dazu
beitragen, daß Frank um so eher aus einem Heidenkinde ein glücklicher
Christ werde.

„Du hast wirklich einen sehr gütigen Vater, Frank. Es ging ihm ja so
nahe, Dich verlassen zu müssen, daß ich selber ihn lieb gewann.“

„Hast Du auch gehört, was er zuletzt sagte?“ war Franks Frage, nachdem
sein Weinen etwas gestillt war.

„Was denn?“

„Er sagte: Behüt’ Dich Gott!“

„Warum sollte er das denn nicht sagen?“ erwiderte Percy, erstaunt,
daß dieser in den religiösen Kreisen Amerikas nicht ungebräuchliche
Abschiedsgruß für Frank etwas Neues war.

„Früher hat er es nie gesagt.“

Jetzt erinnerte sich Percy, daß ja der Vater ungläubig gelebt hatte. Er
entgegnete nichts mehr. Da sie eben im Begriffe waren, aus dem Hause
auf den Hof zu treten, trocknete er mit fast mütterlicher Zärtlichkeit
die Thränen von Franks Wangen, und dieser stand bald zum erstenmale auf
dem Tummelplatze der Mauracher Pensionatsjugend.

[Illustration]




[Illustration]




28. Kapitel.

Der neue Zögling.


Da gab es nun viel Neues zu sehen, so viel, daß Frank nach rechter
Kinderart seinen Trennungsschmerz bald vergaß.

„Komm’,“ sagte Percy, „ich will Dich gleich zu einigen Zöglingen
führen, damit Du etwas bekannt wirst. -- Dort hinten steht einer an dem
Thore; der heißt Tom Playfair. Er ist der beste Junge auf der ganzen
Welt.“

„Er ist aber sicher nicht besser als Du, Percy.“

„O, viel besser! mindestens so gut, wie hundert meinesgleichen.“

„Ich -- ich,“ erwiderte Frank bedächtig, „ich glaube das nicht, bis es
mir bewiesen ist. Papa sagt, man dürfe nichts glauben, ehe es bewiesen
sei.“

Percy lachte und antwortete nicht. Tom Playfair aber hatte sein
Vorhaben geahnt und kam den beiden schon entgegen.

„Tom, das ist ein neuer Zögling. Ich stelle Dir hiermit Frank Marschall
vor.“

„Fröhliche Weihnachten, Frank!“ sprach Tom lustig, indem er Franks Hand
ergriff. „Ich glaube fast, ich habe Dich schon gesehen.“

„Vielleicht. Ich ging bis jetzt in die Mauracher Stadtschule.“

„Richtig. Da habe ich Dich gesehen. Ich bin oft dort vorbeigekommen, um
mir Schuhe zu kaufen, weil ich so viele durchlaufe. Percy halten sie
viermal so lange. -- Es wird Dir im Pensionate gefallen, Frank, glaube
ich.“

„O sicher! Percy hier und dann Keenan und Donnel -- ich meine, so
heißen sie -- sind ja so gute Jungen.“

Tom merkte jetzt, daß Frank jener Knabe sei, um dessentwillen Percy
‚sich geschlagen‘ hatte.

„Deine neuen Mitschüler werden Dir besser gefallen als die alten aus
der Stadtschule, Frank.“

Da schoß es wie ein Blitz aus Franks dunkeln Augen.

„Die Jungen aus der Stadtschule?“ rief er entrüstet, stampfte mit dem
Fuße auf den Boden und stieß leidenschaftlich hervor: „Ich hasse sie!“

„Frank, Du scherzest,“ sagte Percy verwundert.

„Nein, ich hasse sie! Hassest Du sie nicht?“

„Nein, wahrhaftig nicht!“

Jetzt war es an Frank, zu staunen.

„Nachdem sie Dich so mißhandelt haben?“

„Man darf ja niemals einen Menschen hassen,“ gab Percy sanft zur
Antwort. „Es ist auch möglich, daß sie es nicht besser wissen.“

„Das kümmert mich nicht!“ entgegnete Frank, noch immer voll Aufregung,
und ballte die kleine Faust. „Sie +sollten+ es besser wissen!
Hätte ich nur eine Flinte, ich ginge und schösse den abscheulichen
Kracher sogleich tot. Das thäte ich sicher!“

„Langsam, langsam, Du Feuerteufelchen,“ erwiderte Tom lachend. „Du
kommst schon bald zu andern Gedanken.“

„Nein!“ fuhr der Kleine zornig fort. „Ich wollte, sie wären alle
tot, und begraben dazu. Und ich gönnte ihnen nicht einmal einen
Leichenstein, nur einen alten hölzernen Sarg. Ich hasse sie! Ich hasse
alle, die meinem Vater oder mir böse sind, und ich habe alle gern, die
uns gern haben.“

Während des letzten Satzes wurde Franks Gesichtsausdruck ruhiger, und
sein Auge richtete sich voll inniger Zuneigung auf Percy.

„Es ist aber nicht erlaubt, jemanden zu hassen,“ wiederholte Percy, den
Blick entgegnend.

„Und weißt Du auch,“ fragte Tom in scheinbarem Ernste, „daß Du ein
Erzjude bist, und gar kein Christ? Bei Dir heißt es: ‚Auge um Auge,
Zahn um Zahn.‘“

„Ach, Tom,“ unterbrach ihn Percy und gab zu verstehen, daß er nicht im
Scherze rede, „er weiß von Religion noch gar nichts!“

Tom pfiff, steckte beide Hände tief in die Taschen seiner Jacke und
spreizte die Beine weit auseinander.

„Das ist wahr,“ bestätigte Frank, „aber ich will jetzt auch Religion
annehmen. Ich will katholisch werden, wie Percy. Bist Du auch
katholisch, Tom?“

Toms Erstaunen hatte sich indessen ein wenig gelegt. Er erwiderte ruhig:

„Ich meine. Ich bin so was von der Art. -- Aber weißt Du auch, was
Weihnachten ist, Frank?“

„O, da giebt es Mittags ein großes, feines Essen mit einem Puter, und
oft auch viele, viele Geschenke.“

„O Du kleiner Jude!“

„Was ist ein Jude, Tom?“

Percy lächelte.

„Frank, willst Du wirklich erfahren, was Weihnachten ist?“

„Ich will alles lernen, was Du gelernt hast, Percy.“

„Prächtig, Frank!“ lobte Tom. „Du bist auf dem besten Wege. -- Percy,
am besten zeigen wir ihm jetzt die Krippe im Studium. Auf dem Wege
dahin kannst Du ihm alles erzählen.“

Gesagt, gethan. Gespannt lauschte Frank dem Berichte von der Geburt
des göttlichen Kindes, und betrachtete dann lange und aufmerksam die
Gestalten der Krippe.

„Weißt Du auch,“ fragte Percy, indem er auf die Figur des neugeborenen
Heilandes zeigte, „wie es ihm später ging?“

„Nein, wie denn?“

„Er ließ sich für seine Feinde unter schrecklichen Qualen töten.“

Frank schaute ihn stumm an, blickte dann wieder auf das Kind in der
Krippe und versank in tiefes Nachdenken. Dann ergriff er plötzlich
Percys und Toms Hand und sagte:

„Wenn ich zuweilen etwas sonderbar rede, nehmt es mir nicht übel; ich
will sicher nichts gegen Eure Religion sagen.“

„Siehst Du?“ sprach Tom. „Du fängst schon an, Dich zu bekehren. Du bist
schon kein Jude mehr. -- Ah, da kommt ~P.~ Middleton.“

Bevor jedoch Tom oder Percy zu der Ceremonie des Vorstellens übergehen
konnten, begrüßte ~P.~ Middleton bereits den neuen Zögling.

„Das ist wohl Frank Marschall,“ sagte er und ergriff freundlich die
Hand des Kleinen. „Gut, daß ich Dich treffe. Du gehörst zu den Meinen,
Frank. Ich hoffe, Du fühlst Dich hier bald zu Hause.“

Frank sah in das liebevolle Antlitz seines neuen Vorgesetzten empor.

„Ich hoffe das auch; hier sind ja alle so gut. -- ~P.~ Middleton,
warum tragen Sie einen so langen Rock?“

„Ich will alles gern anders haben, als andere Leute,“ erwiderte der
Pater lächelnd. -- „Percy, nimm Dich auch während des Abendessens
seiner an. Er soll neben Dir sitzen; ich habe den Platz zu Deiner
Linken frei gemacht. Nachher bringst Du ihn dann zu mir, damit ich ihm
auch im Schlafsaal einen Platz anweise.“

„Darf er hier im Studium auch neben mir sitzen?“

„Er ist zu klein. Er soll dort vorn Nachbar von Granger werden. Das ist
auch ein guter Junge, Frank. Percy, Du machst sie mit einander bekannt,
nicht wahr?“

„Gewiß, Pater!“

„Er ist ein guter Mann,“ meinte Frank, als ~P.~ Middleton sich
entfernt hatte. „Aber er scheint nicht reich zu sein.“

„O, Du bist doch noch ein Jude!“ scherzte Tom. „Aber weshalb glaubst
Du, er sei arm?“

„Sein Rock ist ja so alt. Er sollte eigentlich schwarz sein, war aber
an vielen Stellen ganz grün. Und erst das Ding, das er so -- hier --
so mitten um den Leib hatte, das war ja so grün wie eine Wiese.“

„Du hast ganz recht, Frank,“ erwiderte Tom. „Er ist sehr arm; er hat
nicht einen roten Cent.“

„Dann giebt er wohl sein Geld gleich wieder aus, wenn er es bekommt.“

„Er bekommt gar kein Geld. Er thut alles umsonst.“

„Das willst Du mir aufbinden, Tom!“

Dabei wandte sich Frank mit einem fragenden Blicke an Percy.

„Es ist wahr,“ entgegnete dieser. „~P.~ Middleton bekommt gar kein
Gehalt.“

„Ist er verrückt?“

„O nein! Er arbeitet aus Liebe zu Gott.“

Es war nicht zu verwundern, wenn ihn Frank mit dem Ausdrucke völliger
Ratlosigkeit ansah. So manche neue Ideen stürmten auf Franks Seele
ein, daß es ihm nicht gelang, sich alles zu reimen. Einen Augenblick
verharrte er in tiefem Nachdenken. Dann sagte er zu Percy:

„Zeig’ mir noch etwas anderes!“

Percy und Tom führten jetzt ihren kleinen Freund in den Spielsaal.
Kaum waren sie dort angelangt, da erheiterte sich Franks Gesicht, er
klatschte freudig in die Hände und rief:

„O, da sind sie! da sind sie!“

Zugleich eilte er davon, um Donnel und Keenan zu begrüßen.

„Guten Abend!“ begann er. „Ich bin so froh, Euch wiederzusehen. Ich
bleibe jetzt hier im Pensionat. Mein Name ist Frank Marschall.“

„Guten Abend, Frank!“ erwiderte Donnel, der den Kleinen gleich
wiedererkannt hatte. „Fröhliche Weihnachten!“ Er ergriff Frank und hob
ihn empor. „Neulich hatte ich keine Zeit, Dich genauer zu besehen,
deshalb halte ich Dich jetzt gehörig ans Licht. Ich heiße Johann
Donnel.“

„Und ich heiße Keenan,“ fuhr Donnels unzertrennlicher Genosse fort,
nahm Frank bei den Beinen und ließ ihn wieder auf den Boden herab.

Frank sah beide einen Augenblick überlegend an.

„Seid Ihr aus einer höheren Klasse, als Percy und Tom?“ fragte er dann.

„Jawohl,“ war die selbstbewußte Antwort. „Wir sind drei Klassen höher.“

„Dann möchte ich eine Frage an Euch stellen.“

„Ist sie schwer?“

„Nein. Haßt Ihr den Kracher?“

„O nein, gewiß nicht!“ erklärte Donnel.

„Und wenn Du sähest, daß er am Ertrinken wäre, würdest Du ins Wasser
springen, um ihn zu retten?“

„Wenn ich sichere Aussicht hätte, ihn zu retten, thäte ich es.“

„Ist Dir das Ernst?“

„Natürlich. Thätest Du etwas anderes, Frank?“

Franks Auge flammte.

„Ich würde noch einen großen Stein auf ihn werfen.“

[Illustration]




[Illustration]




29. Kapitel.

Der kleine Wißbegierige.


Der Tag vor Weihnachten brach an, hell und kalt. Im Lichte der späten
Morgensonne funkelten Millionen von Diamanten an den Zweigen und
Zweiglein der bereiften Bäume.

Die Zöglinge holten ihre Schlittschuhe hervor und schickten sich unter
fröhlichem Gespräche an, das Haus zu verlassen. Percy aber, dessen Fuß
noch nicht genügend hergestellt war, mußte zu Hause bleiben und saß
bereits mit einem Buche zufrieden und glücklich an seinem Pulte. Da kam
Frank herein und weinte, als ob ihm das Herz brechen sollte.

„Frank!“ sprach Percy erschrocken, „was fehlt Dir denn?“

„O ich wollte, ich wäre tot!“

Dieses Lieblingswort mancher eigensinnigen Kinder war in Percys Familie
nie gehört worden. Er wußte nicht, daß diejenigen, die es am häufigsten
aussprechen, es selten ernst meinen.

„Frank, Frank!“ erwiderte er mit großem Ernste. „Sage doch so etwas
nicht. Es kann Dir ja nicht bedacht sein; es wäre viel zu böse!“

„Ja, es ist mir bedacht. Und ich bin auch böse. Das ist es eben,
weshalb ich weine.“

„Es hat Dich wohl jemand geneckt.“

„Nein, alle sind freundlich. Aber sie lachen mich aus.“

„Wann haben sie Dich denn ausgelacht?“

„Diesen Morgen in der Kapelle redete ich meinen Nachbar an. Er
antwortete keine Silbe, sondern lachte bloß. Dann setzte ich mich. Da
lachten alle um mich her. O, ich sehe es jetzt. Tom Playfair hatte
recht, daß er sagte, ich wäre ein Jude.“

Jetzt konnte sich auch Percy eines Lächelns nicht erwehren.

„Fränkchen, was ist denn eigentlich ein Jude?“

„Das weiß ich nicht. Aber es muß etwas sehr Schlimmes und Dummes sein.“

„Später wirst Du verstehen, was es ist. Jedenfalls bist Du kein Jude.
Du glaubst das doch, wenn ich es Dir sage.“

„Ja, Dir glaube ich es, Percy,“ sprach Frank und wurde ruhiger. „Aber
weshalb hat denn Tom Playfair gestern gesagt, ich wäre einer?“

„Er wollte bloß einen Scherz machen. Tom hat Dich sehr gern, Frank.“

„So?“ und Frank lächelte beglückt.

„Ja, ganz sicher. Er war heute Morgen schon bei mir und sagte, er wolle
Dich mitnehmen aufs Eis.“

„O, ich gehe nicht aufs Eis,“ erklärte Frank, und das kleine
Gesichtchen verfinsterte sich wieder. „Ich muß zu Hause bleiben und
lernen. Ich will Religion annehmen.“

Percy sah voraus, daß ~P.~ Middleton Frank nicht gestatten werde,
heute auf die Erholung zu verzichten, und wollte ihm deshalb diesen
übereifrigen Vorsatz ausreden.

„Frank, kannst Du überhaupt Schlittschuh laufen?“

„Gewiß. Aber gerade deshalb will ich nicht gehen, ich will lieber etwas
Neues lernen, das ich noch nicht kann.“

„Wirklich? Du kannst Schlittschuh laufen?“

„Natürlich!“

„Das freut mich sehr. Später kannst Du mir dann einen großen Gefallen
thun.“

„Dir einen Gefallen thun?“ rief Frank, strahlend in freudiger
Erwartung. „Womit?“

„Lehre mich Schlittschuh laufen!“

„Was? Was? Du kannst nicht Schlittschuh laufen?“

„Ich habe nie einen Schlittschuh am Fuße gehabt.“

Durch ein herzliches Lachen machte Frank seinem Erstaunen Luft.

„Wenn das nicht zum Lachen ist, Percy! Du bist doch größer und älter
als ich. Ich bin aber sehr froh, daß ich Dich etwas lehren kann.“

„Gut. Dann geh’ heute auch Schlittschuh laufen damit Du es noch besser
lernst und es mir noch besser beibringen kannst.“

Aller Trübsinn und alle weltschmerzlichen Gedanken waren jetzt
verflogen. Das Bewußtsein, er werde einen viel älteren Zögling zum
Schüler haben, machte Frank ein solches Vergnügen, daß er aus dem
Lachen gar nicht herauskam.

„Ich nehme alles zurück,“ sagte er. „Ich wollte nicht, ich wäre tot.
Ich will am Leben bleiben und Dich im Schlittschuhlaufen unterrichten.
Und es soll Dich gar nichts kosten.“

„Danke schön, Frank. Ich sehe immer klarer, daß Du kein Jude bist. --
Kannst Du auch Ziellauf spielen?“

„O, und wie!“ rief Frank mit steigender Fröhlichkeit. „Kannst Du das
auch nicht?“

„Nein,“ sprach Percy schmunzelnd. „Ich kann nur die leichtesten Bälle
schnappen.“

„Tralala!“ jubelte Frank. „Ich lehre es Dich auch. O, dann haben wir
ganze Wagen voll Spaß.“

„Heda, Frank, Du alter Sünder,“ rief jetzt Tom in den Saal, „wo bleibst
Du denn? Die meisten sind schon fort.“

Frank eilte hinaus, nahm seine Schlittschuhe und schloß sich mit Tom
Playfair dem Zuge an.

„Tom,“ sprach er nach einiger Zeit. „Was ist ein Sünder? Du hast mich
vorhin einen alten Sünder genannt.“

„Das war nur im Scherz,“ erwiderte Tom, der merkte, daß sein kleiner
Freund ein lustiges Wort hochernst auffassen könne. „Ein Sünder ist
ein Mensch, der etwas Schlimmes thut. Du thust aber nichts Schlimmes.
Deshalb bist Du auch kein Sünder.“

Frank überlegte wieder. Da kam eine neue Frage.

„Ist jemand, der andere Leute haßt und sich selber den Tod wünscht, ein
Sünder?“

„Wenn er wirklichen Haß gegen sie hat, und wenn er sich ganz im Ernste
den Tod wünscht, so ist er ein Sünder.“

„Dann bin ich ein Sünder,“ schloß ruhig der Denker von neun Sommern,
„und Du hattest das Recht, mich so zu nennen. Aber es soll aufhören.
Ich will mich bessern. Ich will Religion annehmen.“

„Du sprichst vom Religion-Annehmen, als wäre die Religion im Laden zu
kaufen, und als ob man sie anziehen könne, wie Handschuhe,“ bemerkte
Tom lachend.

Während der ganzen Dauer des Weges hatte er dann genug zu thun, alle
Fragen seines wißbegierigen Gesellschafters zu beantworten. Das
gemeinsame Abendgebet mit der Gewissenserforschung, dann Kreuzzeichen,
Messe, Weihwasser und anderes, das Frank am Abend und Morgen beobachtet
hatte, kam zur Sprache. Seine Seele, die noch nicht durch Laster
verdorben war, hatte einen förmlichen Heißhunger nach dem Religiösen,
und jedes Samenkorn fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden.

Ehe beide es dachten, waren sie schon am Ufer des Flusses angelangt,
legten ihre Schlittschuhe an und genossen einige Stunden unter dem
fröhlichen Schwarm ihrer Mitzöglinge die Freuden des Eislaufes.

Die Zeit des Rückweges wurde Tom abermals durch den kleinen
Fragesteller verkürzt. Daheim aber veranlaßte Tom bei der
nächsten Gelegenheit Percy, in seiner anziehenden Weise Frank die
Hauptbegebenheiten aus dem Leben Jesu zu erzählen.

Frank lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit.

„Ist es wahr,“ fragte er schließlich Percy, „daß Er auch die Kinder
geliebt hat?“

„Gewiß. Er hat oft mit großer Liebe von ihnen gesprochen. Einmal
wollten seine Jünger die Kinder von Ihm weghalten, weil Er so müde war.
Allein er verwies es ihnen und sagte, wer nicht gleich den Kindern sei,
komme nicht in den Himmel.“

„Dann will ich Ihn auch wieder lieben,“ versicherte Frank mit großem
Ernste, „weil Er mich so geliebt hat.“

Im Laufe des Tages wußte Frank einen Augenblick ausfindig zu machen, um
~P.~ Middleton allein zu sprechen.

„Pater,“ begann er geheimnisvoll, „wollen Sie niemanden wieder
erzählen, was ich Ihnen jetzt sage?“

„Nein, Frank.“

„Ich möchte gern hören, wie man weiß, daß es einen Gott giebt.“

„Ich denke, das kann ich Dir sagen,“ sprach der Pater lächelnd.

„Dann bitte, thun Sie das!“

Es war der Tag vor Weihnachten, für die Präfekten ein Tag unendlicher
Mühe und Arbeit. Allein ~P.~ Middleton ließ sich doch nicht
abhalten, dem wissensdurstigen Kleinen wenigstens in etwa zu genügen.

„Zwar bist Du im Grunde noch zu jung,“ sprach er, „um es ganz zu
verstehen, ebenso wie es Dir schwerlich gelungen sein wird, einen
Beweis für den Umlauf der Erde um die Sonne ganz zu erfassen. Ich will
aber wenigstens den Versuch machen.“

~P.~ Middleton schlug dann jenen Weg ein, den einst der
Weltapostel Paulus wählte, um die Heiden zu Lystra vom Dasein des Einen
Gottes zu überzeugen: ‚Gott hat sich nicht ohne ein Zeugnis gelassen,
indem er den Menschen vom Himmel aus Wohlthaten spendete, Regen und
fruchtbare Zeiten gab und mit Freude die Gemüter erfüllte.‘

„Ich will Dir später,“ so schloß er, „ein Büchlein geben, worin Du
alles dieses viel schöner und deutlicher, als ich es Dir in der Eile
sagen kann, beschrieben findest. Es ist die Geschichte eines Knaben,
der etwa in Deinem Alter stand; er hieß ‚Heinrich von Eichenfels‘.“

„Ich danke Ihnen, Pater. Percy hat mir erzählt, es gebe einen Gott,
aber ich muß alles ganz genau wissen. Jetzt sehe ich es ein. -- Darf
ich Sie noch um etwas anderes fragen?“

„Gewiß.“

„Ist es böse, jemanden zu hassen?“

„Ja, das ist böse, Gott liebt alle Menschen, und er will, daß auch wir
alle Menschen lieben.“

„Glauben Sie nun, daß ein Kind, nicht älter als ich, schon böse sein
und andere hassen könnte?“

„Warum nicht? Die Bosheit hängt nicht vom Alter ab, wenn auch meistens
die Kinder nicht so böse sind, wie viele Erwachsene. Der heil.
Augustinus, der ein sehr gelehrter und dabei ein sehr guter Mann war,
ist in seiner Jugend böse gewesen. Er sagte selbst: ‚Ich war ein
kleiner Knabe aber ein großer Bösewicht‘. Nachher hat er sich aber ganz
gebessert.“

„Es freut mich, daß ich das höre. Ich habe immer geglaubt, niemand
wäre so wie ich. O, ich bin schrecklich böse.“

~P.~ Middleton lachte.

„Das ist wahr, Pater. Ich habe den Kracher gehaßt und wollte ihn
totschießen. Und diesen Morgen wurde ich traurig und wünschte mir den
Tod.“

„Aber jetzt, da Du gelernt hast, daß so etwas böse ist, thätest Du es
nicht mehr.“

„Nein, aber ich wünschte es zu thun.“

~P.~ Middleton erklärte nun zu Franks sichtlicher Beruhigung,
daß die Neigung zu einem bösen Werke noch nicht böse macht, so lange
unser Wille dagegen ist und wir ihr nicht nachgeben, sondern im
Gegenteil gern von ihr frei sein möchten. Ein paar Beispiele halfen dem
Verständnisse nach.

„Ich danke Ihnen, Pater. Von jetzt an will ich nie mehr böse sein.
Wollen Sie mir nicht dabei helfen?“

„Von Herzen gern. Und morgen, wenn wir das Andenken an die Geburt des
Jesuskindes feiern, bitte es auch, Dir zu helfen.“

„Das will ich thun. Percy hat mir schon erzählt, daß Es die Kinder so
gern hat. Sobald mein Papa wiederkommt, erzähle ich ihm alles; und er
soll den Heiland auch lieben.“

Der heilige Weihnachtstag brach an. Die Zöglinge hörten an diesem
Feste, nach gutem christlichem Brauche, drei heilige Messen.

Der erhebende Gesang, die prächtigen Gewänder, der Schmuck des
Altars und der ganzen Kapelle, die würdevollen Ceremonien, sowie der
andächtige Ernst so vieler Knaben, welcher sich in Antlitz und Haltung
kundgab: das machte einen unwiderstehlichen Eindruck auf Frank. Was ihn
aber am meisten fesselte, war die große Darstellung der Geburt Jesu
in der Höhle zu Bethlehem, die allen sichtbar auf dem Chore stand.
Unwillkürlich faltete er die Hände zum Gebet, wie er die übrigen thun
sah, und bat das göttliche Kind, das die Kinder so geliebt hat, immer
von neuem um Hilfe und Beistand, daß auch er alle Menschen lieben und
vor allem seinem Heiland mit Gegenliebe vergelten möge.

Nach Schluß der Feier wartete er auf Percy.

„Glückseliges Weihnachtsfest!“ war Percys erstes Wort.

„O, es ist schon glückselig. Ich bin nie so froh gewesen, wie heute.
Percy, die katholische Religion ist doch schön. -- Jetzt, bitte, warte
hier einen Augenblick, bis Tom, Keenan und Donnel kommen. Ich habe
ihnen etwas zu sagen.“

Die Genannten fanden sich bald zusammen, alle in Feierstimmung und
einstweilen noch voll Erwartung der Dinge, welche der Tag in seinem
Verlaufe ihnen bescheren sollte.

Frank aber wurde sehr ernst. Als sie nach den ersten gegenseitigen
Festgrüßen sich zu ihm wandten, sprach er:

„Ich habe zum Kinde Jesu gebetet und will jetzt ganz sicher Eure
Religion annehmen. Ich will nie wieder wünschen, ich wäre tot, und wenn
ich Kracher am Ertrinken sähe, so würde ich hineinspringen und ihn
retten.“

[Illustration]




[Illustration]




30. Kapitel.

Fröhliche Weihnachten!


Lauter Jubel erschallte, als beim Beginn des Frühstücks jeder
unter seinem Teller eine hübsche Karte mit allerliebst gedruckten
Weihnachts-Glückwünschen entdeckte.

„Nie dagewesen!“ erklärte Harry Quip, der doch jetzt sein viertes
Christfest in Maurach feierte. „~P.~ Middleton weiß immer irgend
etwas Neues ausfindig zu machen. Noch jedes Jahr kam etwas, das niemand
erwartet hatte.“

„Man fühlt sich wirklich ganz wie zu Hause,“ bemerkte Joseph Whyte.

„Aber ist es nicht auch ein herrlicher Weihnachtsmorgen?“ sprach
Hodder. „Der Schnee fällt noch in dichter Menge, und Weihnachten ohne
Schnee wäre doch wie eine Erzählung ohne Ende.“

„Oder wie Brot ohne Butter,“ fuhr Whyte fort.

„Oder wie ein Engel ohne Flügel,“ sagte Donnel, der Vorsitzende dieser
lustigen Tafelrunde.

„Oder wie eine Katze ohne Miau,“ kicherte Quip.

An den übrigen Tischen ging es nicht minder fröhlich zu. Heitere Grüße
und Scherze flogen hin und her, und das Lob des Präfekten war in aller
Munde. Dann und wann vernahm man deutlich die wohltönende Stimme Percys
und das helle, durchdringende Lachen Franks.

Am Schlusse verkündete ~P.~ Middleton, daß die Weihnachtskistchen
bereit ständen und ihrer Eigentümer harrten. Da bedurfte es natürlich
keines weiteren Antriebes, um alle Zöglinge möglichst schnell aus dem
Speisesaale zu bringen.

An der Thüre blieben Percy, Tom und Harry stehen, bis Frank sich
einfand.

„Hurtig, Frank,“ sprach Tom, „Du mußt uns helfen unsere Kisten suchen
und untersuchen.“

„O, für mich ist keine da,“ war Franks traurige Antwort. „Mein Papa hat
mir nie auf Weihnachten etwas geschenkt, obgleich er sonst immer so gut
gegen mich war. Und jetzt ist er gar nicht einmal zu Hause. Nein, ich
gehe nicht mit hinauf.“

„Komm’, Frank, geh’ doch mit!“ bat Percy in recht beweglichem Tone.
„Ich habe beim Öffnen meiner Kiste nicht halb soviel Vergnügen, wenn Du
nicht mit dabei bist.“

„Und ich auch nicht!“ „Und ich auch nicht!“ versicherten Tom und Harry.

„Gut. Dann will ich mitgehen.“

Der Studiersaal bot heute einen sehr veränderten Anblick. Alle Pulte
und Bänke waren entfernt. An den Wänden entlang standen Kisten von
allen Formen und Gestalten in einer Reihe, große und sehr große und
kleine und auch einige sehr kleine. Über einer jeden aber prangte auf
einem Zettel, der am Getäfel der Wand befestigt war, der Name des
glücklichen Besitzers.

Als unsere vier Freunde eintraten, herrschte bereits ein reges, um
nicht zu sagen aufgeregtes Leben. Einige hatten ihre Namen noch nicht
entdeckt. Andere knieten bereits vor dem aufgefundenen Schatzkasten
und durchforschten ihn erwartungsvoll, um dann die einzelnen Geschenke
von Vater und Mutter und Onkel und Großtante ihren Nachbarn zu zeigen.
Einzelne standen vor ihrer Kiste und ergingen sich in Vermutungen, was
wohl in ihrem dunkeln Schoße alles enthalten sein könne. Die meisten
sprachen, entweder mit ihren Nachbarn, oder, wenn diese zu sehr
beschäftigt waren, mit sich selbst. Die Wände mochten in diesen Stunden
Ohren haben, manche unter den Zöglingen hatten keine.

Auch Percy, von Frank begleitet, hatte seine Kiste bald gefunden.

„O wie groß sie ist!“ rief Frank verwundert aus. „Sie ist ja die größte
von allen.“

„Ja, weißt Du, ich habe auch sechs Schwestern,“ erklärte Percy,
indem er den Deckel abhob, „und jede hat ihr besonderes Geschenk
hineingelegt. Sie sind so gut und haben mich ungemein gern.“

Die Kiste enthielt eine rechte Varietäten-Sammlung: Schöne Bücher
in Prachtband, Glückwunschkarten mit den wunderlichsten Figuren,
Handschuhe aus Wolle und aus dem feinsten Leder, eine Mütze
aus Seehundsfell, Krawatten der verschiedensten Art, goldene
Manschettenknöpfe, etliche Schachteln mit Zuckerwerk, der für ein
amerikanisches Weihnachten unentbehrliche Truthahn, dann Kuchen, Nüsse
-- Herz, was verlangst Du mehr!

Franks Augen gingen immer weiter auf, je mehr Reichtümer aus der Kiste
zum Vorschein kamen. Allein daß alles für Percy sei, entzückte ihn
nicht weniger, als wenn er selbst der Beschenkte gewesen wäre. Zuweilen
vergaß er gar sein altkluges Wesen und tanzte vor Freude umher.

„Sieh doch einmal hier, Frank! Ich habe mir gleich gedacht, es wäre für
Dich etwas darin.“

Er nahm ein schönes Paar wollener Handschuhe, faßte Frank bei den
Schultern und begann sie ihm anzuziehen. Der Kleine sträubte sich aus
Leibeskräften.

„Sie gehören ja Dir, Percy. Und mir sind sie viel zu groß.“

„Das ist nicht wahr. Du kannst sie ganz gut brauchen und sollst sie
anziehen, wenn Du mir Unterricht im Schlittschuhlaufen giebst. -- Wenn
Du sie nicht nehmen willst,“ sprach er, als Frank sich noch immer
weigerte, „verdirbst Du mir alle Freude an meiner großen Kiste.“

Das zog. Ohne längeres Sträuben ließ sich Frank die Handschuhe anlegen,
die ihm wirklich gar nicht übel standen. Er war sehr stolz auf das
Geschenk und gab sich keine Mühe, seine innere Freude zu verbergen.
Sogleich tänzelte er zu Tom hinüber, um auch ihm die Gabe zu zeigen.

„Aha, Frank, woher hast Du die bekommen? Du bist ja ein rechter
Spitzbube.“

„Was ich bin, ist mir einerlei. Sie sind von Percy.“

„Aber was ist denn mit Deinen Jacken-Taschen los? Sie sehen ganz kurios
aus.“

„So? Sind sie zerrissen?“

„Komm’ her, ich will Dir zeigen, was ihnen fehlt.“

Frank näherte sich. Tom ergriff ihn mit der linken Hand, daß er sich
nicht zur Wehr setzen konnte, und füllte ihm die Taschen mit Nüssen,
Rosinen und Bonbons.

„So, jetzt sehen sie besser aus, so rund wie eine Wurst.“

„Frank!“ rief Percy, „komm’ zurück! Ich muß Dir noch etwas zeigen.“

In der vergnügtesten Stimmung hüpfte Frank zurück.

„Hier ist noch etwas für Dich. Bitte, Frank, weise es nicht ab! Es
ist ein Gebetbuch, das Du notwendig hast, wenn Du ‚Religion annehmen‘
willst. Ich habe schon drei andere.“

Frank war für Worte zu bewegt und entzückt. Während Percy noch in
seiner Kiste herumsuchte, öffnete er ehrfurchtsvoll das schön gebundene
Andachtsbuch -- es war das erste, welches er in die Hand nahm -- und
und blätterte darin umher.

Da fiel ein hübsches Bildchen heraus.

„O sieh, Percy!“ rief er, „der Stall von Bethlehem mit dem Jesuskinde,
das die Kinder so liebt. Das ist schön. Hier, Percy!“

„Nein, es ist auch für Dich. Alles was in dem Buche ist, soll Dir
gehören. Das ist meine Weihnachtsgabe für Fränkchen.“

„Wenn ich einmal groß bin,“ versicherte Frank, der trotz seines
altklugen Wesens doch ein rechtes Kind war, „dann gebe ich Dir ein
schönes Haus mit einem großen Park und einer feinen Kutsche, und der
Kutscher soll goldene Knöpfe und einen hohen Federhut tragen.“

„Und was giebst Du Tom?“ fragt Percy, dem es gelang, sich ernst zu
halten.

„Dem gebe ich alle Taschen voll Gold.“

Es verbreitete sich die Kunde, „Fränkchen“, wie er bald hieß, habe
keine Weihnachtskiste erhalten. Das genügte, um das Mitleid vieler
rege zu machen. Donnel, Keenan, Kenny und mehrere andere stellten sich
sofort ein, ihm von ihren mehr oder minder reichen Vorräten mitzuteilen.

Frank war außer sich vor Staunen. Er fand es begreiflich, wenn sein
lieber Vater ihm jede Art von Aufmerksamkeit erwiesen hatte. Daß aber
Knaben, die ihm im Grunde doch alle fern standen, mit den Beweisen von
Zuneigung und Freundlichkeit so verschwenderisch waren, das wollte ihm
unerklärlich dünken. So ungewohnt, ja rätselhaft war ihm die liebevolle
Zudringlichkeit, daß er schließlich nichts anderes zu thun wußte, als
sich aus dem Saale zu flüchten.

Zum erstenmale im Leben plante jetzt Percy einen Streich. Er rief
einige seiner Freunde zusammen und begann:

„Ich habe einen Gedanken.“

„Hurra!“ rief Tom. „Welch ein Ereignis! Hört, hört!“

„Fränkchen wird kaum noch eine Bescherung zu erwarten haben. Jetzt
könnten wir uns zusammenthun und ihm eine verschaffen. Wir müssen den
Mund halten, damit er nicht erfährt, von wem sie herrührt. Das wäre
eine Freude!“

„Fein, Percy!“ rief Quip. „Unter meinen Geschenken ist etwas, das mir
vorkommt, als wäre es für Fränkchen bestimmt und nur durch Versehen in
meine Kiste geraten. Meine Großmutter scheint zu glauben, ich wäre in
den letzten vier Jahren gar nicht älter geworden.“

„Sie hat so Unrecht nicht,“ warf Joseph Whyte ein.

„Deshalb hat sie mir ein großes Bilderbuch mit allerlei kurzen,
kindlichen Erzählungen geschickt. Das wäre für Fränkchen wie gemacht.“

„Vortrefflich!“ sprach Keenan, „obgleich Du es jedenfalls schwer
entbehren wirst. -- Ich für meinen Teil opfere eine Schachtel Datteln.“

„Und ich,“ nahm Donnel das Wort, „überlasse ihm meinen Puter. Ich will
aber selbst auch keinen Hunger leiden; deshalb bin ich so frei, Georg,
von dem Deinen mitzuessen.“

Bevor noch die einzelnen ihre Beiträge bestimmt hatten, brachte Tom
bereits eine Kiste herein, die sich bald mit Büchern, Spielzeug,
Äpfeln, Kuchen und Ähnlichem füllte. Donnel unternahm es noch, alles
mit Sorgfalt einzupacken, damit der fromme Betrug nicht so leicht
entdeckt werde.

Um zehn Uhr hörte Fränkchen von ~P.~ Scott, den die Verschworenen
ins Vertrauen gezogen hatten, es sei auch für ihn etwas da. Hui! wie er
da die Treppe hinaufflog und im Saale herumlugte, um seinen Namen zu
erblicken! Dann machte er bei seinen Freunden die Runde und bat sie,
doch auch von ihm etwas anzunehmen. Zuweilen zwang er ihnen förmlich
etwas von dem auf, was sie ihm selbst gegeben hatten.

Der schöne Tag verfloß in ungetrübter Heiterkeit. Am Abende vereinigte
ein Weihnachtsdrama das ganze Haus in der großen Aula.

Dieses Schauspiel wurde durch Frank um einen ‚Auftritt‘ bereichert. Er
hatte nämlich in dem kleinen Ort noch nie eine dramatische Aufführung
zu sehen bekommen und faßte daher alles, was auf der Bühne vor sich
ging, als echte Wirklichkeit auf. Als nun einer der Spielenden, der
einen glaubenslosen Geldmenschen darzustellen hatte, in die Worte
ausbrach: ‚Weihnachten -- Humbug!‘ da konnte Frank seinen Unwillen
nicht beherrschen. Er sprang auf die Bank, stampfte mit dem Fuße, erhob
drohend die kleine Faust gegen die Bühne und rief voll Entrüstung laut
aus:

„Das ist gelogen, Du dummer Kerl! gelogen! Du bist ein ...“

Tom hatte ihn schon gefaßt, hielt ihm den Mund zu und setzte ihn
auf den Boden. Während der großen Heiterkeit, die dieser ‚Auftritt‘
verursachte, wurde ihm dann in der Eile so viel erklärt, daß er sich
zufrieden gab und gegen die Fortsetzung des Stückes keine Einrede mehr
erhob.

Am Abende kniete Frank, bevor er sich auskleidete, erst noch an seinem
Bette nieder, legte das Bildchen, das er von Percy erhalten, vor
sich und begann andächtig zu beten. Als nach einiger Zeit ~P.~
Middleton die Runde machte, sah er ihn noch unbeweglich knieen. Er
näherte sich und gewahrte, daß der Kleine, ermüdet von den Freuden
und Gemütsbewegungen dieses Tages, friedlich eingeschlummert war, die
Lippen auf das Bild des Kindes von Bethlehem gedrückt.

[Illustration]




[Illustration]




31. Kapitel.

Ein junger Schlittschuhmeister.


In unschuldiger Fröhlichkeit vergingen die freien Tage leider nur zu
schnell, und ehe man sich’s versah, waren Pensa und Schulstunden wieder
in ihre Rechte eingetreten.

Fränkchen hatte sich unterdessen durch keine Zerstreuung abhalten
lassen, zur rechten wie zur unrechten Zeit ‚Religion anzunehmen‘.
Schon sechs Tage nach seiner Ankunft überraschte er den Rektor mit dem
ernsthaften Ansinnen, ihn zu taufen, und verlor beinahe die Fassung,
als ihm die Bitte nicht auf der Stelle gewährt wurde. Er mußte sich mit
der Zusicherung begnügen, daß er getauft werden solle, sobald er den
Katechismus hinreichend verstanden habe.

Von jetzt an blieb aber erst recht kein Augenblick unbenützt. Mit dem
besten Erfolge sorgte er, daß ~P.~ Scott und ~P.~ Middleton
sich zur Zeit der Erholung nicht einsam fühlten. Kaum sah er den
einen oder andern von ihnen allein, so war er auch schon bei ihm
wie ein lebendiges Fragezeichen, und brachte ein Bedenken nach dem
andern vor. Er war schwer zu befriedigen. Nach manchem Satze, den ein
Durchschnittsjunge ohne weiteres als wahr angenommen hätte, war sein
gewöhnliches Wort: „Wie beweist man das?“ Was er begehrte, war ‚die
Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit.‘

Die Fortschritte, die er machte, waren auch geradezu erstaunlich. Wenn
trotzdem seine Taufe immer noch verschoben wurde, so war das einzig
eine Maßregel der Klugheit und sollte keineswegs andeuten, daß man sein
Wissen für unzureichend halte.

Der nächste freie Tag bot Percy dann auch die Gelegenheit, unter Franks
Leitung seine ersten Versuche im Schlittschuhlaufen zu machen.

Percy war im Waschsaal und suchte nach seinen Schlittschuhen. Da kam
Tom herein und rief eilig:

„Ist es wahr, Percy, daß Du heute mitgehst?“

„Freilich. Ich bin gleich fertig.“

„Gut, dann kann ich Dir also endlich die ersten Stunden im
Schlittschuhlaufen geben. -- Auch schon da?“ wandte er sich an Frank,
der eben durch eine andere Thüre eintrat.

„Gewiß. Du sollst aber Percy keine Stunden geben.“

„Was? Du bist mir ein netter Junge. Soll man Deinen Freunden nicht mehr
gefällig sein? Ich lehre ihn Schlittschuhlaufen und Dir gebe ich auch
so viele Stunden, als Du willst, alle umsonst.“

„Ich brauche keine,“ erklärte Frank entschieden. „Und Percy braucht von
Dir auch keine. Ich kann ihn ganz allein unterrichten.“

„Nun ja, ich will Dir Deinen Willen lassen. Aber Du hast doch nichts
dagegen, daß ich Dir behilflich bin.“

Frank hielt inne, um den Antrag zu überlegen.

„Gut. Du kannst hie und da helfen, aber nur, wenn Du thun willst, was
ich Dir sage.“

„Schönen Dank! Du bist das liebenswürdigste Wesen unter der Sonne.“

Heute ging es hinaus zu den fest zugefrorenen Seen. Als unsere drei
Freunde anlangten, glitten schon einige auf der weiten, spiegelglatten
Fläche hin und her; die meisten saßen am Ufer, um sich zu rüsten.

Fränkchen wurde ganz ungehalten, als Tom Playfair Miene machte, Percy
beim Anlegen der Schlittschuhe Beistand zu leisten.

„Nein, Du nicht!“ wehrte er ärgerlich. „Zieh’ Deine eigenen an! Für
Percy sorg’ ich selber.“

Tom fügte sich lachend, während Frank, ohne den mindesten Versuch, sein
Hochgefühl zu verbergen, Percy in seine höchsteigene Behandlung und
Fürsorge nahm. Als alles bereit war, ergriff der Kleine -- auch Percys
Handschuhe trug er -- die Hand seines Schülers.

„Tom -- Tom Playfair!“ rief er dann, „jetzt komm’, Du kannst seine
linke Hand nehmen. Aber gieb wohl acht! ja nicht zu schnell!“

„Hallo, Percy!“ sprach Donnel, der sich von ungefähr näherte. „Ich
dachte, es bestände ein Kontrakt zwischen uns, daß Du bei mir in die
Schule gehen solltest.“

„Donnel, geh’ weg!“ kommandierte Fränkchen. „Ich erlaube das nicht!
Bitte, weg da! Er ist mein Schüler.“

Frank fühlte sich überglücklich in seiner Rolle und war auf seine
Professoren-Würde so eifersüchtig, daß kaum ein Zögling sich Percy
nahen durfte. Da er übrigens von seinem Vater angeleitet worden war, in
allen Dingen mit Überlegung voranzugehen, so machte sein Schüler ganz
anerkennenswerte Fortschritte. Es kam ihm dabei sehr zu statten, daß
Percys Fußgelenke durchaus nicht schwach waren und dieser gleich von
Anfang an ziemlich sicher auf den Schlittschuhen stehen konnte. Nicht
lange dauerte es, da hatte er sich die Kunst, einen Zug zu machen,
hinreichend angeeignet.

„Hurra!“ rief der Herr Schlittschuhmeister, als dieser wichtige Punkt
gewonnen war, „bin ich nicht ein famoser Lehrer?“

„Herr--lich!“ antwortete der Schüler, und saß auf dem Eise.

„Thut’s weh?“ schrie Frank erschrocken.

„Nein, gar nicht! Aber wie soll ich wieder aufkommen?“

„Tom -- Tom, helfen!“

„Fein, Percy!“ sprach Tom, indem er Hand anlegte, um Percy wieder auf
die Beine zu bringen. „Jeder Schlittschuhläufer muß erst einen Stern
machen. Das hast Du also glücklich zu Wege gebracht.“

„Wo ist der Stern denn?“

„Er sollte dort im Eise sein; aber es ist zu stark. Du hast aber
gethan, was in Deiner Macht stand.“

„Playfair,“ warnte jetzt Frank, der es mit dem Leben ernst zu nehmen
pflegte, „das merk’ Dir: Du sollst Dich über Percy nicht lustig machen!“

„O, ich bitte um Verzeihung, Herr Professor. Ich werde mich in Ihrer
Gegenwart einer größeren Ehrerbietung befleißen. Aber das muß ich
sagen: Sie verstehen zu unterrichten.“

Dieses Kompliment versöhnte den Herrn Professor oder Turn- oder
Tanzlehrer oder wie man ihn sonst nennen will, und beruhigt nahm er
seine Übungen wieder auf.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Percy in seinen Bemühungen hie und
da eine ganz possierliche Figur bildete und die nächste Umgebung zum
Lachen reizte. Da hätte man aber den Kleinen sehen sollen! Wie Feuer
schoß es ihm aus den Augen; ja zuweilen fehlte wenig, daß er nicht
einen viel größeren Zögling anfiel, weil derselbe sich unterstand, über
Percy zu lachen.

Die ersten Versuche strengten jedoch Percy mehr an, als er erwartet
hatte, und da er sich auch sonst nicht ganz wohl fühlte, so bat er nach
Verlauf zweier Stunden ~P.~ Middleton um die Erlaubnis, heimgehen
zu dürfen. Frank bot sich ihm zum Begleiter an. Allein Percy wies ihn
ab.

„Es ist für Dich nötig, länger in der frischen Luft zu bleiben, Frank.
Bitte, lauf’ zu Tom dort auf dem See und sage ihm, er möge so gut sein,
mit mir zu gehen.“

Der Heimweg, den Percy jetzt mit Tom Playfair antrat, sollte auf seine
Entwickelung von nachhaltigem Einflusse sein.

[Illustration]




[Illustration]




32. Kapitel.

Der seltsame Wanderer.


Fast drei Viertel des Weges hatten Tom und Percy unter fröhlichem
Gespräche zurückgelegt. Eben wollten sie aus einem niedrigen,
beschneiten Gestrüpp, an dessen Rande man den Bahndamm unmittelbar vor
sich hatte, heraustreten, da wurden sie eines Mannes ansichtig, der auf
dem Bahnkörper zwischen den Schienen voranging.

In Amerika ist es keine Seltenheit, daß der Wanderer, um durch die
Einöde der Prärie zu einer andern Stadt zu gelangen, einfach den
Bahnkörper als Weg benutzt; ja in minder bewohnten Gegenden ist dies
sogar das Gewöhnliche. Einen Zug kann man auf der ebenen Fläche
meistens rechtzeitig gewahren, zumal die Bahnlinien häufig auf lange
Strecken hin schnurgerade sind.

Was aber Tom und Percy an dem Manne auffiel, war sein unsicherer
Gang. Er strauchelte zwar nicht von einer Seite zur andern, wie ein
Betrunkener, sondern hielt sich gut in der Mitte des Geleises. Aber mit
jedem Schritte drohte er niederzusinken und schien jedesmal erst seine
Kräfte sammeln zu müssen, um den nächsten Schritt zu wagen. Durch das
Gestrüpp noch verdeckt, beobachteten sie ihn eine Zeitlang und sahen,
wie er mit jeder Minute schwächer wurde.

Sie konnten ihn jetzt genau sehen. Er war hager von Gestalt, spärliche,
dünne Kleider hingen zerfetzt um seinen kraftlosen Körper, und dem
eingefallenen Gesichte hatten Not und Kummer ihre unzweideutigen Spuren
eingeprägt.

Plötzlich brachen die beiden Knaben in einen leisen Ruf des Staunens
aus. Der Mann fiel nämlich ermattet zu Boden und legte wie zum
Schlummer den linken Arm und den Kopf auf eine der beiden Schienen.

Mehrere Minuten warteten sie, aber der Unglückliche regte sich nicht.

„Der Mann muß krank sein,“ flüsterte Percy endlich.

„Wenn er sich nicht verstellt!“ warnte Tom.

„Was könnte er damit erreichen wollen? Er hat uns ja ganz sicher noch
nicht gesehen. Und wie armselig und elend ging er daher!“

„Meinst Du, wir sollten einmal zu ihm gehen, Percy?“

„Das finde ich selbstverständlich. Zum mindesten müssen wir ihn
aufmerksam machen, daß spätestens in einer halben Stunde der Zug da
ist.“

„Gut also. Doch kann es nicht schaden, wenn ich für alle Fälle etwas zu
unserer Verteidigung mitnehme.“

Er ergriff einen dicken Knüttel, den er aus dem Schnee hervorragen sah,
und so bewaffnet näherten sie sich dem Unglücklichen.

„Hören Sie!“ rief ihm Tom zu. „Sie sollten von dem Geleise weggehen.
Jeden Augenblick kann der Zug kommen.“

Bei dieser Mahnung erhob der Angeredete ein wenig den Kopf und stierte
sie an, ohne ein Wort zu sagen.

„Sind Sie krank?“ fuhr Tom fort, nachdem sie näher gekommen.

„Ich bin am Sterben.“

Wenn Tom und Percy auch noch so lange lebten, nie würden sie den
Eindruck vergessen, den diese mit finsterm, verzweiflungsvollem Ernste
gesprochenen Worte auf sie machten.

„O weh!“ rief Percy, und schlug die Hände zusammen.

Tom warf den Knüppel weg, ging mit Percy zu dem Armen hin und fragte:

„Können wir Ihnen helfen, armer Mann?“

Der Mann schwieg. Endlich erwiderte er langsam:

„Für mich giebt es keine Hilfe mehr.“

Percy betrachtete ihn aufmerksam.

„Er leidet Hunger, Tom,“ sprach er mitleidig.

Der Unglückliche blickte ihn überrascht an und sagte:

„Ja, ich leide Hunger.“

Tom hatte zufällig noch ein Stück Kuchen in der Tasche. Sogleich zog er
es hervor.

„Versuchen Sie es,“ sagte er freundlich. „Es ist das einzige, das wir
bei uns haben.“

Der Mann nahm die Gabe an und wollte essen, da bekam er einen
Hustenanfall, wobei er eine Menge Blut auswarf.

„Ich danke!“ erwiderte er schwach, indem er den Kuchen zurückgab.
„Nahrung kann mir nicht mehr helfen.“

Bei diesen Worten hatte sich der Arme auf den Ellbogen erhoben und
machte einen Versuch aufzustehen, fiel aber sogleich kraftlos zurück.

Tom legte seinen Überrock ab und breitete ihn an einer schneefreien
Stelle aus.

„Wir müssen ihn dorthin tragen, Percy.“

Sie thaten es mit wenig Anstrengung. Dann zog auch Percy seinen
Überrock aus, um den Armen damit einigermaßen zu bedecken.

Tom wollte es ihm wehren.

„Du bist ja selber nicht wohl. Du darfst Dich einer solchen Gefahr
nicht aussetzen.“

„Jetzt heißt es, sich Gefahren aussetzen,“ erwiderte Percy furchtlos,
indem er, so weit es ging, den Mann mit seinem Überrock einhüllte.

Der finstere, dumpfe, verzweifelnde Blick des Unglücklichen war schon
verschwunden.

„Sie sind brave Knaben,“ hauchte er.

Es folgte eine kurze Pause, während welcher Tom mit sich zu Rate ging.

„Percy, fürchtest Du Dich, allein bei ihm hier zu bleiben?“

„O nein! Nicht im geringsten.“

„Ich glaube nämlich, es geht wirklich mit ihm zu Ende; deshalb sollte
einer von uns laufen, um Hilfe zu holen.“

„Gut, Tom. Ich will gern hier bleiben. Du kannst schneller laufen als
ich.“

„Das beste ist dann wohl, daß ich zur Stadt laufe, weil sie uns näher
ist, als das Pensionat.“

Und Tom lief in höchster Eile davon.

[Illustration]




[Illustration]




33. Kapitel.

Ein Tod unter freiem Himmel.


„Seien Sie getrost,“ sprach Percy zu dem Unglücklichen, „bald ist Hilfe
hier.“

„Es ist zu spät.“

„Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt sterben?“

„Ja.“

Percy sprach ein stilles Gebet zur Mutter Gottes.

„Wenn Sie wirklich sterben müssen,“ fuhr er dann fort, „so thäten Sie
doch gut, an die andere Welt zu denken.“

Die Gesichtszüge des Unglücklichen verfinsterten sich wieder.

„Ich komme in die Hölle. Die letzten Jahre habe ich ein schändliches
Leben geführt.“

Percy überdachte dieses Geständnis einen Augenblick.

„Aber Sie sind nicht immer böse gewesen?“ fragte er dann.

„Nein. Einst lebte ich brav, war zufrieden und glücklich.“ Bei der
Erinnerung an schöne, bessere Zeiten schienen neue Kräfte in den
abgezehrten Körper wiederzukehren. Der Mann erhob sich auf den
Ellbogen und fuhr mit größerer Lebhaftigkeit fort. „Ich besaß eine
vortreffliche Gattin, und ein liebes Kind, einen Knaben. Ich hatte
damals einen höheren Posten in einer Fabrik und bezog einen ganz
anständigen Lohn. Da traten Zerwürfnisse ein zwischen den Besitzern
der Fabrik und den Arbeitern, deren Folge ein Ausstand war. Ich wurde
gezwungen, ebenfalls die Arbeit niederzulegen. Der Ausstand hörte auf,
aber ich erhielt meine Stelle nicht wieder. Ich sah meine Gattin vor
Not und Elend hinsiechen. Ich gab mich zu den niedrigsten Arbeiten her,
nur um ihr zu helfen; allein es wollte mir nicht gelingen, so viel zu
erwerben, als sie bedurfte. Als sie in den letzten Zügen lag und mir
noch einmal zulächelte, da war es aus mit meinem Glauben an Gott.“

„Armer Mann!“ sprach Percy mit Thränen in den Augen. „Es war hart.
Aber Sie hätten um so mehr beten sollen, daß Sie Ihre Frau im Himmel
wiedersehen. -- Warten Sie, es ist zu anstrengend für Sie, sich auf den
Arm zu stützen. Legen Sie Ihren Kopf auf meine Kniee.“

Percy setzte sich so, daß er dem Manne diese bequemere Lage möglich
machen konnte.

„Sie sind sehr gütig. Gern möchte ich sprechen: ‚Gott segne Sie‘,
allein das bedeutet in meinem Munde nichts. -- Es verblieb mir also
mein Söhnchen. Und wie liebte ich es! Ich arbeitete und plagte mich
Tag und Nacht um den geringsten Lohn. Aber die Zeiten wurden immer
schlechter; auch das Kind sah ich sterben. Da fluchte ich Gott.“

Ein sichtbarer Schauder überkam Percy. Während er der Erzählung weiter
folgte, bewegten sich seine Lippen immerfort in leisem Gebete.

„Ich war nahezu wahnsinnig vor Schmerz. Von jener Stunde an haßte
ich die Reichen, haßte Gesetz und Ordnung. Es war nicht recht, das
wußte ich; ich war mit voller Überlegung schlecht. Von jener Stunde
an war ich ein Dieb, ein Landstreicher, ein Räuber, bereit zu jeder
Art Verbrechen. Allein das Sündenleben brachte mir wenig Glück. Mit
jedem Monate geriet ich in tiefere Not. In Maurach habe ich die letzten
acht Tage kümmerlich mein Dasein gefristet und wollte jetzt, da ich
zum Fahren kein Geld habe, zu Fuß weitergehen. Ich glaubte nicht, daß
meine Krankheit, die meine früheren Genossen von mir wegtrieb, so stark
geworden sei, daß ich dieser Kälte keinen Widerstand mehr zu leisten
vermöchte. -- Ich leide nur, was ich längst verdient. Gnade giebt es
für mich nicht. Meine Sünden sind zu groß. Ich gehe an jenen Ort, der
für meinesgleichen geschaffen ist.“

Hatte Percy einen Protestanten oder einen Katholiken vor sich? Er
beschloß, nicht darüber zu fragen. An ein Beichten war ja doch nicht
zu denken. Das einzige, was sich thun ließ, war, den Mann zu einer
vollkommenen Reue zu bewegen. Dieses Ziel allerdings hoffte er
erreichen zu können. Es war ja schon ein gutes Zeichen, daß der Mann
sein Unglück als wohlverdiente Strafe ansah.

„Gott verzeiht Ihnen sogleich, wenn Sie nur Ihre Sünden wirklich
bereuen.“

Der Mann überlegte, während Percy aufmerksam seinen Blick auf das
abgezehrte Antlitz gerichtet hielt. Da fing frischer Schnee zu fallen
an, still und sanft.

„Ich darf es nicht mehr hoffen. Nein! Böse habe ich gelebt, und böse
muß ich sterben.“

„Aber denken Sie an Jesus, der für Sie am Kreuze gestorben ist!“
drängte Percy milde. „Den letzten Tropfen Blut hat er für Sie
vergossen.“

„Freilich. Aber ich habe es mit Füßen getreten,“ war die röchelnde
Antwort.

In der Aufregung begann Percy laut zu beten.

„O mein Gott, mein Gott! Was soll ich sagen, um diese unsterbliche
Seele für Dich zu gewinnen. O hilf mir, daß ich ihn zu einem Akt der
vollkommenen Reue bringe. -- Mein Freund!“ wandte er sich wieder zu
dem Sterbenden, „mein lieber Freund, als Jesus am Kreuze hing und
so schrecklich litt, vergab er noch einem Räuber, der ein ganzes
Leben voll Sünden hinter sich hatte, auf dessen Seele gewiß mehr
Verbrechen lasteten, als auf der Ihrigen. Er vergab ihm und nahm ihn
am gleichen Tage noch ins Paradies auf. Jesus ist gegenwärtig nicht
weniger huldreich. Sprechen Sie zu Ihm, mein lieber Freund! Sie haben
gesündigt, aber Er will Ihnen so gern vergeben. Schließen Sie Frieden
mit Gott! Sie haben nur eine einzige Seele.“

Der Unglückliche lauschte aufmerksam.

Mit jeder Sekunde nahm die Blässe seines Gesichtes zu. Schon standen
Schweißtropfen auf seiner Stirne.

„Glauben Sie wirklich, Gott könne mir vergeben?“

„O gewiß! Und er +wird+ Ihnen vergeben. Er hegt schon deshalb ein
so großes Mitleid mit Ihnen, weil Sie ja sterben wie er, unter freiem
Himmel und von aller Welt verlassen.“

„O könnte ich nur bereuen! Aber es ist zu spät.“

Langsamer und beschwerlicher wurde das Atemholen. Dichter und rascher
fiel der Schnee.

Percy aber überkam es wie ein Gefühl der Ehrfurcht, daß die
unsterbliche Seele eines Mitmenschen in seine Hände gelegt sei; doch
mit seiner Besorgnis wuchs auch das zuversichtliche Vertrauen, Gott
werde sich wirklich seiner bedienen, um diese arme, verstoßene Kreatur
in die Gesellschaft der Heiligen eingehen zu lassen.

Vor der Hand freilich wußte er nicht, was er thun oder sagen solle; er
überlegte betend. Da erhellte sich plötzlich sein Gesicht. Er griff in
die Tasche, und ein kleines, silbernes Kruzifix, das Weihnachtsgeschenk
von einer seiner Schwestern, kam zum Vorschein.

„Küssen Sie das, mein Freund, zur Erinnerung an die Liebe unseres
Erlösers, der für Sie am Kreuze gestorben ist.“

„Ich wage es nicht,“ seufzte der Arme und schauderte. „O mein Gott, ich
bin so böse, ich bin durch und durch verdorben. Ich bin nicht wert,
bei einem so braven Kinde zu sein. Gehen Sie weg von mir! Ich bin
verflucht. Gehen Sie weg, daß ich Sie nicht mit in die Hölle reiße.“

Statt aller Antwort erhob Percy das Haupt des Sterbenden und drückte
einen Kuß auf die erkaltende Stirne. „O mein Gott,“ flehte er dabei im
Herzen, „habe Erbarmen mit ihm!“

Dieser Liebesakt vollendete das Werk der Gnade. Was dem Unglücklichen
noch fehlte, die Hoffnung und Zuversicht, bei Gott Verzeihung zu
finden, begann jetzt in seiner gequälten Seele zu erwachen.

„Wenn Sie schon so gütig sind,“ sprach er bewegt, „dann muß auch Gott
überaus gütig sein.“

„O ja, ja!“ versicherte Percy erfreut; „er ist unermeßlich gütig.“

„Aber er weiß auch“ -- ein Anfall von Kraftlosigkeit zwang den
Sprechenden wieder zu einer Pause -- „er weiß auch alle meine Sünden,
die Ihnen unbekannt sind.“

„Mein lieber Mann, wären Ihre Sünden noch tausendmal größer, als sie
sind, er würde sie Ihnen doch verzeihen und würde Sie mehr lieben, als
er Sie jemals geliebt hat in Ihrem ganzen Leben.“

Da bewegten sich die Lippen des Sterbenden, aber Percy verstand ihn
nicht; er röchelte sehr stark. Als er sich jedoch niederbeugte, vernahm
er deutlich das Wort ‚Kruzifix‘.

Hocherfreut hielt er es ihm an die Lippen und sah, daß der Mann es
inbrünstig küßte.

„Gott sei Dank!“ flüsterte Percy. -- „Jetzt, mein Freund, versöhnen Sie
sich ganz mit Gott, damit Sie Ihre Gattin und Ihr liebes Kind im Himmel
wiedersehen. Erwecken Sie vollkommene Reue über Ihre Sünden. Soll ich
Ihnen dazu helfen?“

Der Mann nickte.

„Dann wollen wir erst ein wenig still zu Gott beten; denn es ist eine
große Gnade.“

Eine kurze Weile schwiegen sie.

Um sie her schwieg die weite, weiße Prärie; schweigend sanken die
zahllosen Schneeflocken in unsicheren Bahnen herab; nur in der
Ferne ertönte der schrille Pfiff der Lokomotive durch die lautlose
winterliche Stille.

Aus zwei Herzen aber stieg ein flehentliches Gebet empor zu Gott, dem
Herrn der Menschenseele, der die Werke seiner Hände nicht vergißt und
nahe ist denen, die ihn suchen. Es war, als ob durch die wirbelnden
Schneeflocken Engelsgestalten lugten, mit Sehnsucht des Augenblicks
harrend, da sie sich über einen büßenden Sünder freuen könnten.

„Küssen Sie das Kruzifix noch einmal!“ begann Percy wieder; er sah, daß
der Tod schneller komme, als er erwartet hatte. „So -- jetzt sprechen
Sie mir von Herzen nach, was ich Ihnen vorbete.“

„O mein Gott -- es thut mir leid gesündigt zu haben -- weil ich weiß
-- daß Du so gut gegen mich bist -- weil Jesus Christus sein Leben für
mich geopfert hat -- weil Du mich im Himmel selig machen willst -- weil
ich weiß -- daß es nichts Größeres und Schöneres giebt als Dich. -- O
mein Gott -- ich liebe Dich über alles. -- Ich will Dich nie wieder
beleidigen.“

Langsam und deutlich sprach Percy diese Worte und bemerkte an der
Bewegung der Lippen, daß der Sterbende jeden Absatz nachsprach.

Das Getöse des Zuges war deutlich vernehmbar.

„O mein Jesus, Barmherzigkeit!“ sprach Percy abermals, und der
Sterbende wollte es wiederholen. Allein es gelang ihm nicht. Ein
heftiger Hustenanfall befiel ihn; aber er hatte zum Husten nicht
mehr Kraft genug. Sein Atmen verstummte, das Auge richtete sich noch
einmal auf seinen Wohlthäter, die Arme bewegten sich in der Not eines
Erstickenden, das Gesicht nahm den Ausdruck der Todesangst an. Noch
einmal sprach ihm Percy das kleine Schußgebetchen vor und glaubte zu
bemerken, daß er es wiederhole.

Da rollte der Zug vorbei, und der Boden zitterte unter ihm, der Zug
in seiner Kraft und Majestät, das Zeugnis von der Größe und Macht des
menschlichen Geistes, der Zug mit so vielen reichen Menschen, deren
Herz sich nie einem leidenden Mitmenschen in Liebe erschlossen, deren
Auge nie das Elend geschaut, deren wohlgespickte Börsen sich nie zur
Linderung von Not und Armut geöffnet hatten. Und während die stolze
Wagenreihe vorüberflog, gab der verlassene, von der ganzen Menschheit
hinausgestoßene Arme betend seinen gottentsprossenen Geist mit Gott
versöhnt in die Hände seines Schöpfers und Erlösers zurück.

[Illustration]




[Illustration]




34. Kapitel.

Tom begegnet zwei Gesellen, die er lieber nicht sähe.


Tom war unterdessen auf dem Wege zur Stadt. Eine Viertelstunde
war er schon ohne Ermüdung vorangeeilt; denn die Anstrengung war
für den starken, abgehärteten Knaben eher ein Vergnügen als eine
Unannehmlichkeit. Die Ellbogen fest in die Seiten gestemmt, die Hände
geballt, den Hut tief in Gesicht und Nacken gedrückt, wäre er für jeden
Liebhaber athletischer Übungen ein erwünschter Anblick gewesen.

Jetzt hatte er die Stadt in Sicht.

„Vorwärts, alter Junge!“ sprach er zu sich selbst. „Noch eine
Viertelstunde ist’s, aber wenn Du es nicht in zehn Minuten machst, geb’
ich keinen Heller für Dich! -- Jawohl, auch in sechs muß es gehen!“

Da erblickte er gar nicht weit von sich zwei Gestalten.

„Wer mag das sein?“ fragte er sich. „Vielleicht sind es Freunde. Doch
ich sehe es ja bald; sie kommen auf mich zu.“

Als sie sich hinreichend genähert hatten, erkannte er zwei Knaben,
aber gerade diejenigen, die er für heute lieber auf den Mond als auf
seinen Weg gewünscht hätte. Der eine war nämlich kein anderer als der
berüchtigte Kracher, der zweite ein jüngerer, gleichgesinnter Genosse,
Dick mit Namen, der die Ehre hatte, Krachers besonderer Freund genannt
zu werden.

Auch sie erkannten in ihm sogleich einen Zögling des Pensionates,
und Tom sah schon voraus, was kommen werde. Der Kleinere warf die
Schlittschuhe, die er trug, auf der Stelle zu Boden und fing trotz
der Kälte an, seinen Rock auszuziehen: die Vorbereitung zu einem
Faustkampfe.

„Eine nette Geschichte!“ dachte Tom. „Ich soll dran, und ich bin
doch gar nicht in der Verfassung, mich mit diesen Kerlen zu balgen.
Ausreißen kann ich nicht; dann liefen sie mir nach und Kracher hätte
mich bald eingeholt. Hätte ich nur einen rechtschaffenen Knüppel; dann
wollte ich sie schon Mores lehren!“

Unmittelbar vor den beiden ging er langsamer, um ruhiger atmen und
sprechen zu können. Allein der Altere überhob ihn der Mühe, das
Gespräch zu eröffnen.

„Nach solchen Kinderchen wie Du sind wir gerade ausgegangen,“ sagte er.

„Komm’ her, Du Pensionatsknäblein!“ rief der andere. „Komm’ her, und
zeig’ mal, was Du kannst! Vorwärts! mach’ Dich bereit!“ Dabei führte er
eine Art Kriegstanz vor Tom auf, um diesem zu beweisen, wie mutig er
sei.

Tom ergötzte dies dergestalt, daß er für einen Augenblick seine
wichtige Sendung vergaß. Ein vergnügtes Zwinkern spielte um seine
Augen, und die Gesichtsmuskeln zuckten ihm so stark, daß er nach
seinem eigenen Geständnis und Ausdruck, es nur mit Mühe fertig brachte,
sein „Schmunzeln nicht loszulassen“.

Dick gewahrte das, hielt es aber für Furcht; er ließ deshalb seiner
ungeschliffenen Beredsamkeit vollends die Zügel schießen und erging
sich in Ausdrücken der Verachtung, die hier nicht wiederzugeben sind.

Anfangs steigerte sich Toms Vergnügen nur noch. Plötzlich aber wurde
sein Gesicht sehr ernst; denn der Schnee begann zu fallen, und
erinnerte ihn an Percy und den Sterbenden.

„Hört,“ sprach er mit großer Ruhe und Freundlichkeit, „ich bin nicht
auf einen Kampf gefaßt. Dort hinten liegt ein Mann, ein ....“

„Schwindel!“ rief Kracher. „Ob Du gefaßt bist oder nicht, das ist uns
egal. Du nimmst es mit Dick auf! der ist nicht größer als Du. Sonst
prügle ich Dich, bis Du nicht mehr weißt, wo Deine Knochen sind.“

„Nein, ich thue es nicht!“ erklärte Tom fest und entschieden.

„Nicht? ich habe mir doch gleich gedacht, Du wärest ein Feigling.
Versetz’ ihm eines, Dick! Er soll!“

Dick folgte der Anweisung, stürzte sich auf Tom und führte einen Stoß
gegen ihn. Tom erhob halb unschlüssig die Hände, um sich zu schützen,
vermochte aber den Stoß nur teilweise abzuwehren und wurde im Gesichte
getroffen.

Tom war nun keineswegs leicht zu erzürnen, aber andererseits auch
kein Engel der Sanftmut. Der plötzliche, so ganz ungerechtfertigte
Angriff, sowie das Gefühl des Schmerzes ließen ihn jetzt sich selbst
und seiner Aufgabe vergessen; er ballte die Faust und führte einen so
kräftigen Stoß auf seinen Gegner, daß dieser nach rückwärts taumelte
und fast zu Boden fiel. Wie der Blitz war Tom bei ihm, um ihn völlig
niederzuwerfen. Allein die erhobenen Hände senkten sich: Tom gedachte
des Unglücklichen, der mit dem Tode ringend auf der Prärie lag,
dachte an Percy, der ohne genügende Kleidung diesem Wetter schutzlos
ausgesetzt war. Inbrünstig betete er um Entschlossenheit und Mut. Und
die Gnade kam in sein Herz, sanft und lieblich, wie die Schneeflocken,
welche jetzt die Luft erfüllten.

„Wenn Ihr wollt,“ sprach er, indem er einen Schritt zurücktrat, „so
schlagt nur beide auf mich los. Ich wehre mich nicht. Nur um eines
bitte ich Euch. Nicht weit von hier liegt ein armer Mann auf der Prärie
und stirbt vor Hunger. Wenn Ihr dann mit mir fertig seid, so geht doch
hin, ihm zu helfen, oder verschafft ihm sonst Hilfe! Und Dich bitte ich
von Herzen um Verzeihung, Dick, weil ich Dich in der Hitze geschlagen
habe.“

Während dieser Worte hielt Tom mit seiner rechten Hand in der
Jackentasche das Skapulier des göttlichen Herzens gefaßt, das
er einstens Percy gezeigt hatte. Seine Wangen waren blaß, aber
unerschrockenen Auges erwartete er den Ausbruch niedriger Rache, den er
als unvermeidlich vorauszusehen glaubte.

Allein Gott war mit diesem guten Willen zufrieden. Seine Worte
bewirkten etwas ganz anderes, als er gedacht hatte.

Dick errötete -- oft mochte ihm das nicht passiert sein -- und auch auf
Kracher schienen Toms Worte einen sehr tiefen Eindruck gemacht zu haben.

„Ein armer Mann?“ sprach er und war sichtlich ergriffen. „Warum hast Du
uns das nicht gleich gesagt? Dann hätten wir Dich nicht aufgehalten.
Aber was können wir thun? Ich habe etwas Wein bei mir, den will ich
gern hergeben.“

„Wein?“ rief Tom erfreut. „Gerade das Rechte. Aber es ist keine Zeit zu
verlieren; er kann jeden Augenblick sterben.“

„Dann vorwärts!“ sprach Kracher.

„Kann ich nicht auch helfen?“ fragte Dick eilig.

Die Frage war an Tom gerichtet und in einem Tone gesprochen, der
zugleich volle Verzeihung zusicherte.

„Gewiß, Dick, mein Freund, Du kannst sehr viel thun. Lauf’ zur Stadt
und hole so schnell Du kannst einen Wagen oder Schlitten! -- Wir sind
Freunde, nicht wahr?“

Bei diesen Worten schob Tom ein Dollarstück in Dicks Hand. Der arme
Junge mit den geflickten, dünnen Kleidern sah allerdings aus, als könne
er eine materielle Unterstützung wohl gebrauchen.

Er wollte danken, aber die Ausdrücke für edlere Gemütsbewegungen waren
ihm nicht geläufig. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und
wandte sich ab, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

Tom und Kracher eilten also zur Unglücksstätte zurück.

       *       *       *       *       *

Der Schnee fällt in dichter Menge. Auf der weißgekleideten Erde liegt
eine frische Leiche; ihr Antlitz ist durch ein letztes Gebet verklärt.

Zur Seite kniet ein betender Knabe, ohne Schutz gegen Schnee, Kälte und
Wind.

Für Tom wie für seinen minder zartfühlenden Gefährten bedurfte es
keiner Worte, um den Lauf der Dinge zu erklären. Einen Augenblick
standen sie sprachlos vor dem ergreifenden Bilde. Dann knieten auch sie
wie auf Übereinkunft neben dem Toten nieder, und im Gebete wurden alle
eins.

Als der Wagen kam und die Leiche unter dem Dache von Segeltuch geborgen
war, wandte sich Kracher zu Percy:

„Kennst Du mich noch?“

Percy schaute ihn an, nickte und reichte ihm lächelnd die Hand.

[Illustration]




[Illustration]




35. Kapitel.

Schluß.


Percy war, als der Leser ihn kennen lernte, fast mehr Mädchen als
Knabe. Aber schnell, über Erwarten schnell sind seine Mädchensitten
verschwunden; ein männlicheres festeres Wesen bekundet sich schon auf
den ersten Blick in Haltung und Gesichtszügen.

Daß es ihm an Opfermut ja an Heldensinn nicht fehlte, hat er bei
mehreren Gelegenheiten gezeigt. Ja sein ganzes Verweilen unter den
Mitzöglingen, sein unermüdlicher Fleiß, seine Bescheidenheit und nie
versagende Nächstenliebe sind ein Beweis, daß die christliche Tugend
tiefe Wurzeln in seinem Herzen geschlagen und der schönsten Früchte
fähig ist.

Vollendet aber wurde seine Entwickelung in jener Stunde, welche
er einsam bei der Leiche eines von ihm selbst für den Himmel
geretteten Armen auf der öden Prärie in bitterer Kälte zubrachte. Der
vortrefflich gebildete Knabe, dessen Sinn in allem stets auf das Ideale
gerichtet, dessen Seele mit einem reichen wohlgeläuterten Gemütsleben
ausgestattet war, erblickte dort zum erstenmale eine Welt vor sich und
um sich, eine Menschenwelt, in der ein heftiger Kampf um das Wohl
vernunftbegabter Geschöpfe hin und her wogt. Er sah, wie die Not der
Armut und die Hartherzigkeit des Reichtums sich mit den Mächten der
Finsternis verbunden haben, um den Sendboten des göttlichen Heiles,
in deren Dienste die Mildthätigkeit steht, die unsterblichen Seelen
streitig zu machen. In jener Stunde reifte in ihm der Entschluß, an
diesem Kampfe sich zu beteiligen und unter der Fahne Gottes in den
vordersten Reihen zu fechten.

Noch ist dieser Entschluß unbestimmt; Percy fühlt sich unfähig, den Weg
zu wählen, der ihn durchs Leben führen soll. Jahre müssen vergehen,
bevor ihm der höchste Kriegsherr den Posten anweisen wird, den er im
Streite zu verteidigen hat. Aber bis dahin wird ihm der große Gedanke
als ein Leitstern in den Arbeiten, den Freuden und Leiden seiner
Studienjahre vorschweben.

Noch ein paar Worte, und wir scheiden von unsern kleinen Mauracher
Freunden.

Fränkchen wurde nach einiger Zeit in die Kirche aufgenommen; Percy
war sein Taufpathe. Mit seinem Betragen ist man ganz zufrieden. Sein
Lehrer aber glaubt in ihm ein außerordentliches Talent für Mathematik
zu erkennen. Seine Zuneigung zu Tom und Percy nimmt täglich zu. Er will
seine Ferien bei Percy zubringen.

Tom ist noch derselbe fröhliche, hochherzige, edelgesinnte Junge.
Niemand weiß, daß er ein Jahr vor Percy einen ähnlichen, aber
bestimmteren Entschluß gefaßt, und seine Beständigkeit auf dem
guten Wege führten weder seine Mitschüler noch die meisten seiner
Vorgesetzten auf die Quelle zurück, der sie entstammt.

In den Ferien wird er vorerst einige Zeit bei seiner guten Tante Hanna
zubringen; dann aber will er, wenn sein Vater es gestattet, Percy und
Fränkchen für ein paar Tage besuchen.

Es ist noch nicht ganz sicher, ob auch Harry Quip, Willy Hodder und
Joseph Whyte an der Partie teilnehmen. Wahrscheinlich wird es sich
machen lassen. Und dann! heissa, dann wird es lustig! Denn alle bringen
mit, was zur rechten Fröhlichkeit gehört, ein braves Herz und einen
frischen, offenen Kopf.

Tom und Percy reisten zusammen bis Kansas City, von wo sie verschiedene
Richtungen zu nehmen hatten.

„Adieu, Tom,“ sprach Percy bewegt, als sie sich trennten, „ich werde
nie vergessen, wie gut Du gegen mich warst. Du hast wirklich einen
Jungen aus mir gemacht.“

„Unsinn,“ erwiderte Tom, indem er Percys Hand herzlich schüttelte. „Was
Du bist, verdankst Du Dir selbst. -- Du bist,“ fügte er hinzu, „Du bist
mehr als ein Junge, Du bist ein kleiner +Mann+. -- Adieu, Percy!“

„Adieu! -- und behüt’ Dich Gott!“

„Adieu! Behüt’ Euch Gott!“ rufen auch wir den kleinen Amerikanern zu,
„und herzlichen Dank für alle Freude, die wir in Eurer Gesellschaft
genossen!“

[Illustration]




Bemerkungen zu den ausländischen Wörtern.


Der betonte Vokal ist fett gedruckt.

  =Baltimore= sprich b=a=ltimor. (Das a ist vor l stets ein
  Mittellaut zwischen dem deutschen a und o.)

  =~Base Ball~= sprich b=e=hß bahl. (Vgl. das vorige
  Wort.)

  =Cent= sprich ßent (siehe Dollar).

  =Chicago= sprich schik=a=go.

  =Cincinnati= sprich ßinßinn=ä=tti.

  =Dollar= sprich d=o=ller, die Hauptmünze der Vereinigten
  Staaten. Er hat den Wert von 4 Mark oder 2¼ österr. Gulden oder 5
  Francs. 1 Dollar = 100 Cents.

  =Gladstone= sprich gl=ä=dsten, großer englischer Staatsmann
  der Gegenwart.

  =Granger= sprich gr=e=hndscher.

  =Harry= sprich h=ä=rri. Es ist eigentlich das
  Verkleinerungswort von Henry, Heinrich, wird aber gewöhnlich statt
  desselben gebraucht.

  =Infirmerie=, in vielen klösterlichen Anstalten der Ausdruck
  für die Krankenzimmer, und die zum Dienste der Kranken bestimmten
  Räumlichkeiten (Apotheke u. s. w.), in Maurach ein eigenes getrenntes
  Gebäude. (Vgl. Tom Playfair S. 37.)

  =Kansas City= sprich känßes ß=i=tti.

  =Keenan= sprich k=i=hnen.

  =Lincoln= sprich l=i=nkeln.

  =Longfellow= sprich l=o=ngfello, amerikanischer Dichter
  dieses Jahrhunderts. (Vgl. +Baumgartner+, Longfellows
  Dichtungen.)

  =Maryland= sprich m=e=hriländ.

  =Middleton= sprich m=i=ddelten.

  =Milton= sprich m=i=lten, englischer Dichter 1608–1674.

  =Pani=; dieses Wort, Name eines Indianerstammes, wird auch
  wohl nach englischer Weise Pawnee geschrieben, ist aber stets
  pahn=i=h zu sprechen.

  =Percy= sprich p=ö=rßi.

  =Playfair= sprich pl=e=hfähr.

  =Prärie=, weite Länderstrecken im Stromgebiete des Mississippi,
  die teils ganz eben, teils von niedrigen Hügelwellen durchzogen und
  fast nur mit Gras bewachsen sind.

  =Ryan= sprich r=ei=en.

  =Shakespeare= sprich sch=e=hkspihr, englischer Dichter
  1564–1616.

  =St. Louis= sprich ßehnt l=u=is.

  =Sykesville= sprich ß=ei=kswil.

  =Tennyson= sprich t=e=nnißen, ein englischer Dichter
  1810–1892. Die Strophe, welche S. 52 gemeint ist, findet sich in
  ‚~The Princess; a medley~‘, und lautet:

    ~The splendor falls on castle walls
      And snowy summits old in story:
    The long light shakes across the lakes
      And the wild cataract leaps in glory.~

  =Toast= sprich tohst, geröstetes Brot (Zwieback). In den Ländern
  englischer Zunge wird Toast zum Wein genommen, und so erhielt das
  Wort zugleich die Bedeutung „Trinkspruch“. In dieser Bedeutung
  spricht man es bei uns auch wohl to=a=st.

  =Toilette= sprich toalette.

  =Tom= ist das im gewöhnlichen Umgang gebrauchte Wort für Thomas.

  =Whyte= sprich hu=ei=t.

  =Willy= ist das Verkleinerungswort von William (u=i=ljem)
  Wilhelm; es sollte eigentlich u=i=lli gesprochen werden, doch
  ist es bei uns mit der deutschen Aussprache ganz eingebürgert.

  =Wynn= sprich u=i=nn.




        
            *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PERCY WYNN ***
        

    

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        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
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        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

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Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

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works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

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remaining provisions.

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production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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