Der Mutterhof: Ein Halligroman

By Felicitas Rose

The Project Gutenberg eBook of Der Mutterhof, by Felicitas Rose

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Title: Der Mutterhof
       Ein Halligroman

Author: Felicitas Rose

Release Date: January 18, 2022 [eBook #67192]

Language: German

Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MUTTERHOF ***





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Felicitas Rose · Der Mutterhof

[Illustration]




    Der Mutterhof

    Ein Halligroman

    von

    Felicitas Rose

    141.--143. Tausend

    Berlin / Leipzig
    Deutsches Verlagshaus Bong & Co.




  Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten
  Copyright 1918 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin
  Druck von Hallberg & Büchting (Inh.: L. A. Klepzig), Leipzig C 1
  ~Printed in Germany~




Meinem Manne zu eigen




Im Mutterhof auf Hallig Likamp brannte die grünbeschirmte Lampe.
Heimelig war’s in dem großen Wohnpesel.

Der uralte, gewaltige, runde Tisch stand unter der Hängelampe, und
um ihn herum saßen die schmucken, hohen Gestalten mit den blonden
Friesenköpfen. Die Männer rauchten, die Frauen klöppelten, der
zwölfjährige Onnen Holgers las vor:

»Also lautet die Sage von Heyens Lei: Tag für Tag und Nacht für
Nacht wartete die treue Schwester am Fenster ihres Stübchens auf den
verschollenen Bruder. Eine brennende Kerze stellte sie abends ins
Fenster, damit der Bruder den Weg nicht fehle. Und die Kerze leuchtete
hin über die salzen See. Derweil schlief der verschollene Bruder längst
den ewigen Schlaf tief drunten im Meer.«

Onnen Holgers mußte mit dem Lesen innehalten, denn die 85jährige
Großmutter Holgers wachte aus einem leichten Nickchen auf. Doch
sogleich waren ihre Augen hell und scharf, wie die der Jüngeren
ringsum. Auch von der Geschichte hatte sie nichts verloren. »Das Licht
hab ich selber noch brennen sehen«, rief sie lebhaft. »Ein zehnjähriges
Kind war ich damals und kreuzte mit Vater in seinem Fischerewer vor
Heyens Lei. Und jedesmal, wenn wir dort zu Gange waren, rief der Vater:
›Sieh, mein Deern, die treue Schwester wacht.‹«

Der Zwölfjährige schloß mit lautem Klapp sein Buch. »Großmudder weet
allens«, rief er fröhlich. »Großmudder, darf ich’s dem Lehrer erzählen,
daß du alles selbst erlebt hast? Er freut sich, das kannst glauben.«

Die Ahne lachte behaglich. »Lehrer Manne Wögens weiß es lange. Der hat
all seine Geschichten von mir. Er führt so’n Sprichwort: ›Wer klug
werden will, gehe bei seiner Großmutter to Schol.‹ Du brauchst keinen
Flunsch zu ziehen, Frau Tochter, es soll dich nicht herabsetzen.« Die
Schwiegertochter der Ahne und Mutter all der jungen Friesen ringsum
behielt ihr verdrossenes Gesicht.

»Manne Wögens hat immer so’n Schnack«, meinte sie unwillig. »Seine
Schüler werden den Respekt vor Eltern und Lehrer verlieren.« Der
Zwölfjährige wollte aufmucken, aber der Blick der Ahne bannte ihn. »Hol
mir einen Krug Wasser aus der Zisterne«, gebot sie.

Und als der Junge den Pesel verlassen, meinte sie geruhig: »Der feine,
lustige Schnack des Schulmeisters schädigt mein Tag nicht das 4. Gebot,
wohl aber tut’s die Frau Tochter, wenn sie den Lehrer vor den jungen
Ohren heruntermacht, ’s ist heute ja nicht das erstemal ... Dabei
sollte die ganze Hallig lobsingen, daß auf der Schulwarf ein ganzer
Mann und ein kluger Mann das Regiment übernommen hat, -- das ist meine
Meinung.« Sie verstummte und nickte dem wieder eintretenden Knaben zu.
»Gib mir das Glas, Lütten, und dann setz dich nieder und schau in dein
Buch. Sag mir, ob noch mehr drin steht von Heyens Lei?«

Onnen Holgers blätterte. »Nicht viel, Großmudder. Das Licht war eines
Tages tief herabgebrannt, und dann fand man die treue Schwester tot
neben der erloschenen Kerze. Weiter steht nichts drin. Weißt du noch
viel, Großmutter?«

»Bannig viel, Enkel Onnen. Zur Zeit der letzten schlimmen Sturmflut
1825 nahm der blanke Hans die Hallig Heyens Lei und begrub sie. Das
andere Drum und Dran ist nichts für so’n Lütten. Da könnt dir das
Gräsen ankommen. Wenn du groß und stark bist, will ich dir davon
erzählen. -- An unsern nordischen Geschichten ist nichts Zahmes dran.
-- Und was ich aus Kinderbüchern weiß, das hab ich euch all lang
erzählt.«

Onnen Holgers reckte seine jungen Arme. »Groß und stark? Fühl meine
Muskeln, Großmutter, erzähl mir von Heyens Lei!!! Auch wenn nix
Zahmes dran ist.« Sie lachten alle, die um den Tisch saßen, nur seine
Mutter sah ihn unwirsch an. »Kannst du das Quesen und Quälen nicht
lassen?« »Lat em, Mudder,« meinte die sechzehnjährige Melenke; »es ist
hart, immer aufs Großsein vertröstet zu werden. Gottlob, ich hab’s
überstanden.« Sie dehnte wohlig ihren vollen, runden Körper und sang:

    »So lang noch treue Liebe ein »Gott behüt dich« spricht,
    So lang noch treue Liebe die Bonnestaven bricht,
    So lang noch treue Liebe aufblühet jeden Mai,
    So lange klingen die Glocken herauf von Heyens Lei.«

»Willst du denn noch fort, Edlef?« fragte die Ahne erstaunt in das
Lied hinein einen andern Enkel, der jäh aufgesprungen war und nun
in seiner überstattlichen Größe beinahe mit dem Blondschopf bis zur
Decke reichte. »Laß doch das alberne Singen«, rief er der Schwester
zu. Melenke aber wiederholte lachend: »So lang noch treue Liebe die
Bonnestaven bricht ... Nun, Edlef? Wer hat den Riesenstrauß Statize
bekommen? Und da willst du keine Liebeslieder hören? Vor Tau und Tag
bist du schon herumgestiegen, du Heimlicher.«

Edlef wandte sich zornig zur Tür und drückte sie auf. Er hörte noch,
wie die Ahne verweisend sagte: »Du wirst mir zu wild, Melenke. Acht auf
dich!«

Auf der Schwelle prallte Edlef zurück. Ein großes, schönes Mädchen trat
ihm entgegen und blickte ihn lustig an. »Willst du die Tür nicht frei
geben? Wolltest du zu uns? Du hast nicht weit zu gehen, da bin ich.«

Er fuhr sich wie verlegen durch den blonden Schopf. Sie schritt lachend
an ihm vorbei in den Wohnpesel. »Guten Abend beisammen.«

Sie löschte die Laterne und stellte sie auf den Beilegeofen.

»Willkommen, Akke Luersen« rief die Ahne, und Edlefs Mutter schob rasch
einen Stuhl an den Tisch. -- »Je später der Abend, desto schöner die
Leute!« Das Mädchen mußte ihr sehr lieb sein.

»Ja, da bin ich, und lang hat’s gedauert. Trotzdem macht mein Edlef
krause Stirn.« Sie fuhr ihm mit der großen, weißen Hand übers Gesicht.
»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« fragte sie derb, »oder
blieb ich dem Schatz zulange aus und er ist fünsch?« Edlef Holgers
schüttelte den Kopf und sah versonnen vor sich hin. Sie schaute ihn
schier etwas lauernd an, dann zuckte sie die Achseln. »Jedenfalls konnt
ich nicht eher kommen. Und nun kann ich wohl die Neuigkeit vermelden,
-- ich hab wieder ’n kleinen Bruder!« Die Ahne streckte ihr lebhaft
die Hand hin, Mutter Holgers gratulierte wortreich, und selbst Rickert
Holgers, der alte Ohm und Altenteiler, der bis dahin schweigend
an seinem Priem gekaut hatte, erhob sich und sprach lebhaft seine
Anerkennung aus: »Gute Rasse, tüchtige Frau.«

Edlef Holgers blieb sitzen und fragte nur ganz ernst: »Wie befindet
sich die Frau Mutter?«

»Mutter ist kreuzwohlauf«, lachte Akke Luersen. »Das macht die gute
Übung«, setzte sie sehr offenherzig hinzu. Es schien so, als wolle sie
den Verlobten reizen, denn die Röte lief wieder über seine Stirn, und
die Falte zwischen den Brauen vertiefte sich. »Wieviel seid ihr jetzt
Vögel im Nest«, fragte die Ahne ablenkend.

»Im Nest nur neun, aber sechs sind schon draußen auf See. Mutter meinte
heut, es sei Zeit, daß ich flügge würde; was meinst du, Edlef?«

Edlef Holgers schwieg, aber Ohm Rickert krähte: »Mich dünkt, flügge
bist all lang, man tut beinah gut, die Flüchten zu kappen.« Er spuckte
in großem Bogen aus, so daß sich alle Köpfe erschrocken duckten.
»Die Mutter meint wohl, daß du in dein eigen Nest fliegen sollst«,
sprach geruhig die Ahne. »Uns ist es nicht zuwider, aber das mußt du
mit deinem Bräutigam besprechen. Geh, Edlef, bring deine Braut zur
Schulwarf, besprich dich dort und komm mit guter Nachricht heim. Der
Mutterhof ist allstunds bereit, dein junges Weib zu empfangen.«

Der Abschied war herzlich. Man brachte aus Laden und Truhen, aus
Beuteln und Strümpfen noch Geschenke hervor für die Wöchnerin und das
Neugeborene, und die stattliche Akke ließ sich alles lachend aufpacken.
Dann zündete Edlef die Laterne an und schritt mit der Braut zum Deich
hinunter. Drinnen gähnte Melenke, daß alle ihre weißen, starken Zähne
sichtbar wurden.

»Oha, das wird mal eine langweilige Ehe«, meinte sie. »Wenn ich nur die
beiden sehe, tritt mich der Schlaf an. ’S wär nichts für mich. Bruder
Edlef ist wie ein Kettenhund. Entweder er beißt oder er schläft.«

»Zu schlafen und zu gähnen wird er nicht viel haben in seiner Ehe,«
krähte wieder Ohm Rickert. »Das wird ein Teufelsweib, die Akke. Möchte
schier selber ihr Hochzeiter sein.« Er schmatzte behaglich an seinem
Priemchen, und Melenke juchzte laut auf.

Die Ahne erhob sich fast jugendlich von ihrem Ohrenstuhl.

»Schämt Euch, Ohm Rickert. -- Und zu dir, Melenke, sag ich, -- ich bin
die Ahne. Und hab trotz meiner fünfundachtzig noch die Kraft, dir eins
an die Ohren zu geben, wenn du schluderig wirst. Acht auf dich, sag ich
nochmal, -- du bist Haustochter vom Mutterhof!«

»Dor rük an«, raunte Rickert der Nichte zu und formte sich ein neues
Priemchen.

Mutter Holgers führte die Ahne sorglich in den Schlafpesel, Onnen
folgte, und auch der langjährige Knecht und die Magd verließen die
Stube. Melenke maulte.

»Haustochter vom Mutterhof! Ich pfeif drauf, wenn ich nicht lustig sein
darf deshalb. Und wenn die Eheleute auf dem Mutterhof ümmerlos nur
gebetet hätten, dann hieß er nicht der Mutterhof.«

»Dunnerkiel, was bist vorn Deern!« bewunderte Ohm Rickert. »Aus dir
haben die zwei Jahr Stadtdienst in Hamburg auch grad keine Heilige
gemacht. Da wirst du mit der Ahne bald wieder zusammenwachsen.«

»Ach!« seufzte Melenke. »Wär ich nur der Hallig ledig! Ich könnt einen
guten Dienst wieder bekommen. In Blankenese; aber solange die Ahne
lebt, erlaubt’s die Mutter nicht.«

»Und die Ahne macht’s über die Hundert hinaus«, nickte Ohm Rickert.
»Paß auf, ich hab’s gesagt. Weiber, die’s Regiment führen, vergessen
aufs Sterben. Deshalb hab ich nicht geheiratet. -- Kennst doch die alte
Stine Hinrichsen auf Mittelwarf? Mit der bin ich vor fuffzig Jahren
gegangen. Aber sie wollt die Büx anhaben, und das litt meine Ehr nicht.
Da hab ich mich fremd gemacht und bin zur Marine. Nun sind wir wieder
auf einer Hallig zusammen. Und jedesmal zur Heumahd treffen wir uns,
und sie mahnt mich keifend ans Eheversprechen.« Ohm Rickert schüttelte
sich und spuckte wieder aus. »Beide haben wir die 70 auf dem Puckel.
Gott bewohr mi. Ich krieg noch lang ’ne Junge. Die Akke Luersen möcht
ich. Deuwel ok. De is to schad vörn Edlef. De jog ik em af.«

Hellauf lachte Melenke.

Aber da schaute der Kopf der Ahne wieder zur Tür hinein, und ihre
scharfe Stimme rief: »Feierabend!«

Da floh Melenke eilends hinauf in ihre Kammer, und Ohm Rickert humpelte
in seine Döntje. --

       *       *       *       *       *

Edlef Holgers und seine Braut wanderten über den Deich nach der
Schulwarf. Er ging etwas vorauf und hielt die Laterne hoch, aber Akke
Luersen haschte nach seiner Hand und meinte, der Schein blende sie,
daß sie nun schier gar nichts sehen könne in der Stickendusternis.
Sie drückte seine kalte Rechte an ihre heiße Wange. »Frierst du, mein
Edlef?« fragte sie schmeichelnd.

Er zog seine Hand fort. »Ja, ich friere.«

»Wie bist du nur heute!« Sie rief es voll Ärger. »Mein Gott, ich
konnt nicht eher ab. Sieh’s doch ein! Die Hebamme saß auf ’ner andern
Warf fest. Bei Löhnsens sollt auch was Kleines kommen. Ist aber eine
Fehlgeburt geworden, da mußte nun die Wehmutter dortbleiben. Und meine
Mutter war froh um meinen Beistand.« »Oh -- das ist’s nicht«, meinte er
müde und wie gequält von ihren Ausführungen.

»Das ist’s nicht?« fragte sie scharf. »Und was ist’s dann?« Edlef
Holgers leuchtete erst einmal sorglich um eine große Wasserlache herum
und reichte dann seiner Braut die Hand, damit sie springen konnte.

»Nun, Edlef?«

»_Muß_ ich dir’s sagen?«

»Ich warte drauf.«

Er schritt so rasch aus, daß sie kaum folgen konnte, aber sie hielt
sich doch an seiner Seite.

»Ich meinte, du solltest mir das nicht alles so erzählen«, murrte er.
»Du weißt recht gut, daß ich’s nicht mag. Und andre Deerns tun es auch
nicht. -- ...«

»Bist du verrückt?« schalt sie grob. »Wenn du nur wüßtest, wie schlecht
es so einen großen Schlagetot kleidet, daß er so tuig ist. Und andre
Deerns? Wo hast du denn andre Deerns gesehen, du blinde Hess’?«

Sie hing sich plötzlich schwer an seinen Arm und zwang ihn so,
stehenzubleiben. »In wenig Wochen bin ich doch deine Frau, -- oder etwa
nicht?« Er nickte düster.

»So kann ich dir auch erzählen, was ich mag.«

Nun schmiegte sie sich eng an ihn. Sie war fast so stattlich und groß
wie er selbst. -- »Sei mir doch wieder gut«, bettelte sie. »Du hast es
ja gewußt, wie ich bin, und hast mich doch haben wollen. Erzwungen hast
du mich: denn du weißt ja ...«

»Ja ich weiß alles«, sagte er gepreßt und holte aufs neue mit langen
Schritten aus.

»Nun also. Da weißt du auch, daß ich schließlich den Peder laufen ließ.«

»Du hättest es nicht tun sollen ...«

»Edlef, was soll das? -- -- --«

»Ja, Akke, ich mein es im Ernst. Es wär noch Zeit. -- Sieh, es weiß ja
niemand um unsern Verspruch ...«

»Niemand? Weil’s Lehrer Manne Wögens nicht weiß, ist die ganze Welt
_niemand_ für dich.«

»Warum trugst du’s weiter?« brauste er auf. »Wir hatten’s uns
versprochen, daß es geheim blieb. Auch Peders wegen. Es ist ja die
Frage, ob ihr besser zusammenpaßt als wir zwei, -- aber ich hab ihn
gesehn, -- er ist ganz durchhin, -- er tut mir leid.«

Akke Luersen lachte auf. »Du kannst mir _auch_ leid tun mit deinem
plötzlichen Erbarmen, Edlef. Aber dazu ist’s zu spät. Gewollt hab ich
dich nicht, -- aber jetzt will ich dich, und du wirst mich behalten.
Und heut, da du einmal auf der Schulwarf bist, kannst du es dem Lehrer
auch sagen.« Edlef Holgers nickte müde. »Ich gab mein Wort«, murmelte
er. Von da ab wurde nicht mehr gesprochen von den beiden. Dann und wann
hob Edlef die Laterne hoch und half der Braut über eine Wasserstelle.
Mechanisch führte er und stützte sie, wenn sie strauchelte. -- Aber
sein Herz hatte keinen Teil an seiner Sorgfalt, und das Mädchen biß die
Lippen zusammen und war voll Zorn. --

Vor dem Hause der Braut blieben sie stehen. Er reichte ihr
abschiednehmend die Hand. Ungestüm zog sie seinen Kopf zu sich herunter
und küßte ihn wild. Dann ließ sie ihn los.

»Willst du der Mutter nicht Glück wünschen?« fragte sie hastig.

»Nein, -- ich wünsche ihr lieber Ruh. Grüß die Mutter.«

Sie ging ins Haus. Der Wind oder der Zorn riß ihr die Tür aus der Hand
und schmetterte sie ins Schloß. Edlef hörte noch die gar nicht schwache
Stimme der scheltenden Wöchnerin. Dann stapfte er seinen Weg zurück.
Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und hob wieder die Laterne. Ihr
Schein flog über die Fenster des Hauses, vor dem er stand, und bis zu
den drei Schornsteinen mit dem Blitzableiter empor. Auch den Zaun,
hinter dem der knorrige Birnbaum stand, beleuchtete Edlef, als wenn er
das alte Schulhaus noch nie gesehen hätte. Und er hatte doch jahrelang
darin die Bänke gedrückt, ehe er nach Husum zur Weiterbildung gekommen
war, wie es die Überlieferung erforderte vom ältesten Haussohn des
Mutterhofes. --

Als sich nichts regte im Schulhause, setzte Edlef seufzend seinen
Weg fort; aber sein Blick haftete an den niederen Fenstern, die von
dichten, weißen Vorhängen verhüllt waren. Freundlicher Lichtschein
quoll trotzdem heraus. Nach weiteren zwanzig Schritten kehrte Edlef
trotzig um und stand dann bald wieder vor dem Schulhause. Das Licht
hinter dem Vorhang schien hin und her getragen zu werden, aber als
Edlef umständlich und laut seine hohen Stiefel vom Schlick befreite und
dann und wann kräftig gegen die Hauswand stieß, blieb das Licht stehen.

Die Stubentür öffnete sich, und Lehrer Manne Wögens stand auf der
Schwelle. »Ist’s der Wattenmeergeist oder Knecht Ruprecht, der an meine
Tür donnert«, fragte er launig. »Mensch! Edlef Holgers! Dich war ich
nicht vermuten ...«

»Ich störe dich nicht, Manne Wögens?«

»Wenn du mit guten, frohen Gedanken kommst, störst du uns niemals. Aber
grad wollten wir in die Heia.«

»Wir? Wer ist wir?«

Manne Wögens lachte schallend. »Maren, komm her, stell dich zu mir,«
rief er, »Edlef Holgers weiß nicht mehr, wer ›wir‹ sind.«

Da sah Holgers in ein paar stille blaue Augen. Die waren von sehr
dunklen Brauen umgeben und standen in einem seltsam feierlich schönen
Gesicht.

Dunkles Blondhaar fiel weich in die Stirn. Die Gestalt war schlank
und zierlich, und reichte dem Riesenbruder noch nicht einmal bis zur
Schulter. Schier winzig stand Maren Wögens zwischen den beiden Hünen.
»Er ist stumm geworden«, spottete der Lehrer. -- »Sieh sie dir nur an,
Edlef, sie hat unsere alte Friesentracht angelegt und möcht’ gern eine
waschechte Halligtochter sein. Aber unsere Thüringer Mutter schlägt
allerorten bei ihr durch. -- Nun, Ihr Fische? Noch immer stumm?«

»Guten Abend, Fräulein Maren.« Edlef reichte ihr die Hand, und sie
legte die ihre hinein. So traten sie miteinander über die Schwelle des
Schulhauses. Ganz fest hielt Edlef Marens Hand. Und merkte es nicht,
daß das Mädchen rot und verlegen wurde. Manne Wögens sah belustigt auf
beide.

Endlich befreite sich Maren, und dann saßen sie um den runden Tisch.
Und während der Herbststurm sich draußen gewaltig erhob und scheinbar
versuchte, die Haustür aus ihren Angeln zu heben, dünkte es Edlef
Holgers, als sei es Mai geworden. -- In ihm war Grünen und Blühen. --

Plötzlich rief er: »Bonnestave habe ich gepflückt, einen Riesenstrauß!
Und ich wußte doch gar nicht, daß Sie kamen. Ich werde ihn morgen
bringen. Warum sind Sie hier, Fräulein Maren?«

»Ist es Ihnen nicht recht?« lachte sie. »Es sind doch Michaelisferien.«
»Aber Sie sagten mir doch im Juli in Ording, Sie kämen diesmal
nicht ...«

Der junge Lehrer fuhr dazwischen. »Habt ihr euch denn in Ording
gesehen? Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Ich hab dich ja auch seitdem noch nicht gesprochen, Manne« entgegnete
Edlef zerstreut.

Aber Maren wurde rot und kam nicht mit den Worten zurecht und ihr
Bruder schüttelte den Kopf. -- Dann lief sie plötzlich hinaus, und die
Männer sahen sich ratlos an.

»Warum geht sie? -- Mag sie mich nicht leiden?« fragte Edlef ungestüm.

Manne Wögens staunte vor sich hin: »Sie hat dich vielleicht _zu_ gern,
Edlef Holgers.« Der fuhr sich durch den blonden Schopf. »_Zu_ gern?
_Zu_ gern?« fragte er dringlich. Und mit tiefem Aufseufzen: »das wäre
zu viel Glück!«

Da wurde Manne Wögens ganz fröhlich. -- »Steht es so um dich,
Edlef? Ihr beide ließet mich ganz im unklaren. Bande, die ihr seid!
Heimtücker!« Er rüttelte Edlef. »Wach auf! Ich sage dir, du hast das
große Los gezogen. Schwester Maren war allstunds mein guter Engel.
Und der unserer Eltern. -- Kinder, die das 4. Gebot lebendig in sich
spüren, geben gute Frauen ab. Also, -- von mir aus, -- gratulor! Soll
ich Maren hereinrufen? Oder willst du zu ihr? Oha, ich freu mich
bannig, daß die Deern aus ihrer Volksschule herauskommt! Schwager
Edlef, das ist heut ein schöner Tag!«

Da wachte Edlef Holgers auf. Mit seltsam erloschenen Augen sah er den
Freund an.

»Sprichst du von deiner Schwester und mir?« fragte er heiser.

Der Lehrer sah ihn scharf an. »Bist du krank, Edlef?«

»Vielleicht. -- Krank vor Liebe zu Maren. Aber das darfst du ihr nicht
sagen. Rufe sie auch nicht herein. Ich müßte sie sonst in meine Arme
reißen. Und ein Schuft bin ich nicht ...«

»Edlef, was soll das?«

»Nein, Manne, frag mich nicht. Das stürzt jetzt alles über mich
herein wie der blanke Hans über die Halligfennen. Herrgott, bin ich
unglücklich! Ja, das kannst du deiner Schwester sagen. Gute Nacht,
Manne.«

Mit schweren Schritten ging er hinaus.

Nach einer Weile kam Maren herein. In lieblicher Verlegenheit und mit
glänzenden Augen.

Aber der Glanz verlosch, als sie den einsamen Bruder vorfand. Der nahm
sie in seine Arme. »Mein klein Deern, ich sagte vorhin, es sei heut ein
schöner Tag, aber es ist ein wunderlicher draus geworden. Edlef Holgers
ist unglücklich, und ich weiß nicht warum. -- Fahr nicht auf, mein
klein Deern, bleib du ruhig an meiner Schulter liegen.« Er streichelte
ihr weiches Haar. »Sieh, lütt Swesting, wenn unser liebster Freund
unglücklich ist, dann müssen wir fein stille sein. Das ist dann wie
ein Verband für seine Wunde. Laß uns Geduld haben. Es wird sich alles
klären.« Da löste sich Maren sacht aus seinen Armen und ging ganz still
wieder aus der Stube. Und der Bruder sah ihr nach mit ernsten Augen.
Nahm dann einen Stapel Hefte und tauchte die Feder in rote Tinte. Und
las zehnmal die Aufsätze durch über das Thema: »Die letzte Sturmflut
auf Hallig Likamp.«

Auch in seiner eigenen Brust tobte ein arger Sturm. Und der letzte
Schüler bekam eine glatte Eins unter den Aufsatz. Trotzdem die zwei
dürftigen Seiten kreuz und quer rot durchstrichen waren. Aber der
Lehrer war zum erstenmal zerstreut in seinem ernsten Dienst.

Seine Schwester Maren ... sein alles. -- Daß er dies feine
Lebensschifflein in einen schönen, ruhigen Hafen lotse, dafür hatte er
sich gesorgt und in widrigen Verhältnissen gedarbt. Und nun schien da
plötzlich eine schwere Bö aufzukommen ...

Manne Wögens grübelte und sann im ruhelosen Auf- und Abwandern. Das
Licht im Schulhause wollte nicht löschen in dieser Nacht.

Edlef Holgers stand im Dunkeln am Hause seiner Braut. Er wußte selbst
nicht, was er dort wollte. Wild und weh war ihm zu Sinn, und einen
eklen Geschmack trug er auf der Zunge. In der Stube der Wöchnerin
brannte mattes Licht. Meckerndes Kindergeschrei drang heraus. Aber auch
übermütiges Kreischen aus der helleren Stube nebenan. So pflegte Akke
Luersen bei derben Scherzen zu lachen, die ihm so zuwider waren. Eine
Männerstimme lachte mit da drinnen und prahlte dazu mit lauten Worten,
die dann wieder wie erstickt klangen. Als halte jemand eine Hand auf
seinen Mund, um ihn zur Ruhe zu mahnen.

Edlef riß die Tür auf.

Da fuhren zwei auseinander.

Und Akke Luersen wurde einen Schein blasser und lachte wieder überlaut.
Sie machte sich an dem großen Bild zu schaffen, das über dem Sofa hing,
und der dicke, ältere Mann mit dem roten Gesicht steckte sich eine
Zigarre an.

»Sieh da, Herr Holgers«, rief Akke rasch gefaßt. »Wollen Sie sich so
spät noch nach Mutter erkundigen?«

»Da tun Sie recht dran«, rief dröhnend der Fremde. »Ich bin so auf
’ne Art Vetter vom Hausherrn und komme geschäftlich von Hamburg. Bahn
ist mein Name. Makler und Agent. -- Finde hier so’n Gotteswunder. Ne
ausgewachsene, schöne Nichte von Zweiundzwanzig mit ’nem lüttjen Bruder
in der Wiege. Oha, noch mal zu, sag ich.«

Er goß sich lachend die große Tasse halb voll Kaffee und ergänzte die
zweite Hälfte mit Rum. »Halten Sie mit, Herr Holgers?«

Edlef wehrte mit der Hand, er sah, daß der andere den neugeborenen
Neffen wohl schon stark gefeiert hatte.

»Ich hole gleich noch eine Tasse« rief Akke hastig und lief aus der
Stube.

Der Fremde sah ihr nach. »Nu sagen Sie bloß, Herr Holgers, wie is so
was möglich? Sind die Mannsen hier Besenstiele? Wie kann so ’ne Deern
aufwachsen und nicht vom Fleck weggeheiratet werden?«

Er trank in gierigen Zügen.

»Sie spielen wohl steinerner Gast?« fragte er dann gemütlich und
rekelte sich auf dem alten, ausgesessenen Sofa. »Kinder, was seid ihr
auf der Hallig für Menschen! Fischblütige Gesellen übereinander!«

»Bleiben Sie hier?« fragte Edlef frostig. »Ich hätte wohl etwas mit
-- -- Akke Luersen zu reden.«

Der Fremde lachte dröhnend. »Ja, dat muggst woll. -- Der andere, der
da vorhin saß, wollte auch etwas mit der schönen Deern reden. Aber der
Teufel soll mich holen, wenn ich euch hier freie Bahn lasse.« Er nahm
wieder einen großen Schluck.

»Wer war denn der andere?« fragte Edlef mechanisch.

»Einer von der Königswarf. Peder Claußen hieß er und war son büschen
durchhin von der Liebe. Und er hatte es sehr hilde mit die Deern. Aber
ich laufe euch allen den Rang ab, und sie möcht auch gern nach Hamburg
und mag mich furchtbar gern leiden. Das hat sie mir gesagt.«

Edlef sah den halb Berauschten verächtlich an. »Ja, das tu du denn
man,« sagte er halb vor sich hin, und verließ die Stube, ohne sich noch
einmal umzusehen.

Draußen trottete er in wirren, dumpfen Gedanken. Manchmal war auch ein
klarer dazwischen, der meldete sich: »Sieh, Edlef Holgers, das ist nun
dein Leben. Verpfuscht hast du’s durch eine einzige Stunde, da du auf
dein Blut hörtest und nicht auf Herz und Verstand.«

Der Regen klatschte ihm ins Gesicht und der Sturm wollte mit ihm
ringen, -- er fror trotz der Anstrengung in seinem dicken Düffelrock.

Jemand kam hinter ihm her.

»Hallo, Edlef Holgers, nimm mich mit. Mensch, was hast du für lange
Beine!«

»Süh dor, Peder Claußen.«

»Ja. -- Du mußt es nicht krumm nehmen, ich war vorhin noch ein büschen
nachbarn bei Luersens. Und jetzt komm ich vom Schulhaus. Du, da ist was
Feines drin, aber gegen die Akke Luersen kommt’s nicht auf.«

»Warum soll ich das krumm nehmen? Es nachbart, scheint’s jetzt die
ganze Hallig bei Vadder Luersen. Wo Honig ist, sind Schlecker.«

»Ja grade. -- Aber weißt du, Edlef, ich möchte nicht falsch sein, du
bist selbst so’n aufrechter Kerl. -- Meinst du nicht, daß Akke Luersen
schlecht zu dir paßt?«

»Kann schon sein.«

»Siehst du? -- Es läßt sich leichter mit dir reden, als ich fürchtete.
Sie ist ’ne seltsame Deern, gar kein bedachtsames Halligblut, aber grad
deshalb tut sie’s uns wohl allen an. Und ich möcht dir’s gradaus sagen,
Mensch, -- sie hat mir heut Hoffnung gemacht, es könnt doch mit uns
zweien wieder was werden, -- -- warum lachst du, Edlef Holgers?«

»Ich hög mich, Peder Claußen. Über die Welt und über die Frauensleut,
und über dich und mich. Hör, wie der Sturm lacht! Der högt sich auch.«

»Mich dünkt, der heult.« Peder schudderte. »Du hast also nichts
dagegen, Edlef, wenn ich morgen nochmal bei Luersens anfrag? Ich kann,
scheint’s, ohne die Deern nicht leben.«

Edlef Holgers richtete sich zu seiner ganzen Höhe auf und stemmte sich
breitbeinig gegen den Sturm.

So schützte er den Kleineren.

»Peder, -- hör zu! Neulich, da tatst du mir bannig leid, wie du so
wehleidig und ganz durchhin herumliefst, -- -- -- und nun, mein ich,
heute müßtest du mir noch viel mehr leid tun -- -- --«

»Willst du mir denn die Akke nicht geben?«

»Ja grade, mein Peder, weil ich zurücktrete ...«

Sie gingen wieder vorwärts und Peder dachte, der Edlef sei ’n büschen
durchgedreht, weil die schöne Akke ihn nicht mehr wolle.

Vor der Hauswarf trennten sie sich.

»Wie ist’s denn nun?« fragte Peder Claußen zaghaft.

Edlef war schon wieder im Schreiten. »Wart’ noch ein paar Tage«, rief
er zurück. »Vielleicht hast du Glück und sie nimmt den Hamburger.«

»Tühnkram«, sagte Peder, und schritt zu seinem Hause.

Im Mutterhof auf der Großwarf schien schon alles Leben verstummt. Edlef
tappte sich nach seiner Stube. Aus dem »Altenteil« nebenan schimmerte
mattes Licht. Da drehte er sich noch einmal herum und klinkte dort
die Tür auf. Hier wohnte die verwitwete Schwester seines verstorbenen
Vaters. Mit der Einsamen war er gut Freund. Und der Schlaf würde ihn
heute meiden. --

»Guten Abend, Tante Frauke.«

»Auch soviel, Edlef.«

Die zierliche Frauengestalt mit dem blassen, verhärmten Gesicht unter
der Friesenhaube stellte ihr Spinnrad beiseite. Das schwarze Kleid
schleppte ein wenig auf dem sauberen Sandboden, und die schweren,
silbernen Filigranknöpfe klirrten leise.

»So spät?« fragte sie.

»Gerade dasselbe wollt ich dich auch fragen«, meinte Edlef.

»Oh, -- bei mir bist du’s gewohnt, Edlef, aber ich nicht bei dir.«

»Dich läßt wohl das Glück nicht schlafen, Hochzeiter?«

»Oder das Unglück, Tante Frauke. Manchmal kennt man die beiden nicht
voneinander.«

»Wie wär das?«

Sie schob ihm ihren besten Stuhl hin, dessen Rücken- und Seitenlehnen
kunstvoll mit hellem Holz eingelegt waren. »So nun erzähl’. Auf dem
Stuhl hat schon mehr Unglück gesessen.«

Edlef berichtete stockend. Ganz von Anfang an. Er schämte sich. Auch
der Zorn schoß ihm rot ins Gesicht. Er erzählte, wie er die Akke um
jeden Preis hätte zwingen wollen, weil sie ihn toll gemacht habe mit
ihrer Kälte. Dann erst, nachdem sie seine Braut geworden, habe er
gespürt, daß alles Gute in ihm von ihr fortstrebe.

Edlef war in peinvoller Verlegenheit. Aber so recht unglücklich sah er
nicht aus. Tante Frauke mußte über ihn den Kopf schütteln.

Ernst entgegnete sie: »So geht’s jedem, der die Liebe nicht hochhält,
sondern den Rausch. Es geschieht dir Recht. Aber nun wirst du harten
Stand im Mutterhof haben. Denn der wollte rasche Heirat und viele
Kinder von dir.« Sie lachte herb. »Dafür hatte man dir Akke Luersen
ausgesucht. Was nun?«

»Mir geht’s noch über Verdienst gut, Tante Frauke. Jetzt werb ich um
mein Glück. Ist eine feine, süße Deern. Son ganzen Lütten. Reicht mir
bis zum obersten Westenknopf. So wie du, Tanten Frauke. Ihr wiegt
auch beide so ungefähr dasselbe. Dreißig Pfund und ein paar. Wie die
Schneider.« Er hob den Stuhl mitsamt der zierlichen Gestalt hoch, und
diese schalt mit weicher Stimme: »du Slüngel, du Rumdriwer! Ik gew di
eins achtern vör.«

Edlef lachte und stellte den Stuhl ganz sacht wieder zurecht.

»Was ist das nun wieder fürn Schnack?« fragte sie bekümmert. »Hast du
die Deerns am Faden, wie der Drachenschwanz die Papierschnitzel?«

Er sah sie verträumt an. »Wie die salzen See sind ihre Augen. Nordsee
im Sturm. Graublau. Un de lütt Näs’ so fien, un de Mund wien Korall, un
de Tähn blinkern dor achtern. Un dat söte Hart so gut.«

»Und ihr Körper Edlef? Ist sie gesund? Hat sie zehn oder zwölf
Geschwister? Denk dran, Edlef! Denk nicht an dich! Die Hallig und der
Mutterhof gehen deinem Glücke vor. Und wenn deine Frau nicht jedwedes
Jahr was Lüttes in de Weeg leggen kunn ... und sie hat denn Herz
und Gemüt ... Um Jesu willen, mein Edlef, bring sie nicht auf den
Mutterhof ...«

Die Frau legte den Kopf auf ihren Arm und weinte bitterlich. Edlef
streichelte ihr ergrauendes Haar. »Die Maren Wögens ist gesund,« lachte
er sorglos. »Mir ist nicht bange um die Erben des Mutterhofs.«

»Still, still, Tanten Frauke«, beruhigte er dann. »Das sollen deine
letzten Tränen gewesen sein. Hörst du? Ich sag’s. Und ich bin der Herr
jetzt vom Mutterhof.«

Sie trocknete die Augen.

»Ganz verwirrt bin ich«, stammelte sie. »Bist du denn schon einig mit
ihr?«

»Mit mir bin ich’s, und sie ist’s mit sich.« Holgers Augen lachten.
»Das andre kommt rasch. Tanten Frauke, hör zu: Wenn der Rotschenkel
ruft ›tülü, tülü‹, dann bauen wir unser Nest ...«

»Glück!« murmelte Tante Frauke. »So sieht ’s Glück aus?«

»Ja, -- so sieht’s aus. Gute Nacht, Tanten.« --

       *       *       *       *       *

Auf der Hallig ist man »früh zugange.«

Man saß um die Lampe herum um 6 Uhr morgens Und aß dicke Grütze. Edlef
Holgers kam zuletzt, denn er hatte schon überall nach dem Rechten
gesehen. Trotzdem greinte seine Mutter unwirsch.

»Abends spät und morgens spät,« rief sie. »Und wenn’s schon so ist,
konntest du nicht gestern noch zu mir hereinkommen, anstatt dich mit
Tanten Frauke zu besprechen?«

Ein lustiger Schein flog über Holgers Gesicht. »Mutter, du tust, als
hing mir noch das Hemd aus der Büx. -- Aber ich steh dir gerne Red und
Antwort. Nur laß die Insten erst an die Arbeit und die Lütten in die
Schul.«

»Zu was gehör ich denn, Bruder?« fragte Melenke. »Zu die Insten oder zu
die Lütten?«

»Sprich erst mal richtig deutsch«, verwies der Bruder.

»Oha. Wi sün em ni mehr god nog«, lachte Melenke. »Aber so gutes
Deutsch wie deine dicke Akke sprech ich noch allemal.«

Edlef sah sie zornig an. »Mit dir rede ich noch ein Wort allein,
Melenke. Du hast dir eine Art angewöhnt, die paßt nicht auf den
Mutterhof.«

»So laßt mich wieder nach Hamburg, da paßt sie hin.«

»Nach Hamburg gehst du _nicht_«, rief die Ahne. Weiter kein Wort.

Sie strickte hastig an dem groben, grauen Strumpf und wartete, bis
Knecht und Magd sich schwerfällig erhoben und die Stube verlassen
hatten. Ihnen folgten die beiden Jüngsten. Nicht ohne sich vorher bei
Edlef »gemeldet« zu haben. So hatte er’s eingerichtet nach seiner
militärischen Dienstzeit und es hatte sich bewährt. Die Kinder vom
Mutterhof galten auf der Hallig als ganz besonders gut erzogen. Als
Edlef »linksum kehrt« kommandieren wollte, fragte Onnen, der stramm vor
dem großen Bruder stand: »Soll ich Herrn Lehrer Wögens grüßen? Er fragt
immer, ob du einen Gruß geschickt hättest.«

»Freilich sollst du das.«

Die achtjährige Karen rief noch: »Bruder Edlef, ich grüß die Fräulein
Maren, die ist jetzt da und weiß bannig viel schöne Geschichten.«

Dann liefen die Kinder fort.

Die Ahne ließ den Strickstrumpf sinken und zeigte ein bekümmertes
Gesicht. »Du hast recht, Enkel Edlef,« klagte sie, »es ist ein
garstiger Ton bei uns eingekehrt. Den hat man nicht gekannt im
Mutterhof, solang er steht. Melenke, ich sag’ dir, meine Augen sind
noch scharf, wie meine Ohren. Ich sehe, daß du ein Gesicht ziehst, als
wärst du der Klügsten eine, und für die Ahne wär’s Zeit, der klugen
Welt Valet zu geben. Da bist du aber irrig. Ich bin noch imstande,
diesen neuen schlechten Geist mit eisernem Besen auszufegen. Hast du
mich verstanden, Enkelin Melenke?«

»Da fang die Ahne nur mit Edlefs Schatz an«, sagte Melenke schnippisch.
»Was die alles sagt, da werden dem Bruder nochmal die Augen übergehn.
Aber die darf sich alles herausnehmen und unsereins muß tun, als
verstände es die Schnäcke nicht ...«

»Schweig!« rief die Ahne wieder, und war so zornig, daß sie nach Worten
rang und sie doch nicht fand.

Aber Edlef streichelte beruhigend ihre Runzelhand. Dann richtete er
sich hoch auf und sagte entschlossen: »Melenke hat recht. Akke Luersen
hat nie in den Mutterhof gepaßt. Das ist meine Schuld, daß ich sie
herbrachte. Aber die mach ich wieder gut. Ahne, du hast der Akke und
mir deine Zustimmung gegeben, aber noch hattest du uns nicht mit dem
alten Holstenspruch zusammengetan: ›Up ewig ungedeelt!‹ Gott Lob und
Dank sage ich jetzt. -- Den Spruch bewahr mir auf, Ahne, hörst du?«

»Ich versteh die Welt nicht mehr, mein Enkel Edlef«, murmelte die Ahne.
Und sie saß wie steuerlos in ihrem Ohrenstuhl. »Früher, da war ein
Verspruch heilig wie die Ehe selbst, und jetzt ...«

»Jetzt lernt man sich durch den Verspruch kennen«, ergänzte Edlef.
»Ich bitte die Ahne, daß sie mir vertraut und daß sie mir ihren Segen
aufhebt.«

»Für wen?« fragte Melenke. »Hätt’ nicht gedacht, daß sich der
moralische Herr Bruder so auswächst ...«

Da zeigte Edlef nach der Tür, und sie ging widerwillig hinaus. Ganz
still wurde es zwischen der Ahne und dem Jungen. Edlef wartete längere
Zeit auf ein gutes Wort. Als es nicht kam, verließ auch er langsam die
Stube. --

Draußen in der Küche schluchzte die Mutter: »Ich bin der Garniemand.
Ist’s wahr, was mir die Melenke schnackt? Du sagst der Akke auf? Und
ich erfuhr es nicht von dir? Ist’s nicht auch _mein_ Haus?«

»Mutter, das Haus gehört dir und uns allen, aber meine Ehr und meine
Zukunft gehört mir allein. Das Zusammenkuppeln war eine Sünde. Nun mach
ein gutes Gesicht, Mutter, -- denn eine gute Zeit fängt an.«

»Wüßt nicht, wo sie herkommen sollt«, murrte die Mutter.

»Von der Schulwarf. -- Aber anders, als du es wolltest.« Edlef nahm
bittend ihre Hand. »Ich möcht’ wieder Sonne auf dem Mutterhof haben.
Wehr doch nicht ab, Mutter. Und ich will’s gleich dazu sagen, von heute
ab kommt Tanten Frauke wieder auf den Ehrenplatz. Neben dir und der
Ahne soll sie sitzen.«

»Beißt du den Herrn heraus?« grollte die Frau. »Willst du, daß sich die
toten Holgers im Grab herumdrehen? Was soll die Unfruchtbare auf dem
Ehrenplatz? Gott hat sie gezeichnet. Vergiß das nicht, Edlef.«

»Frau Mutter, daß ich nicht den Respekt vergesse!« Edlef zwang seinen
Unmut. »Unsere Hallig ist ödes Eiland, aber unsere Zeit ist nicht das
Mittelalter. Und ich will Tanten Frauke Sonne geben, ich will’s.«

»So hab ich zu schweigen.«

»Nicht _so_, Mutter. Nicht _so_.« Er hielt noch immer ihre Hand, aber
sie sah ihn feindlich an. Da stürmte er fort.

       *       *       *       *       *

Sonntag auf der Hallig. Auf der Kirchwarf zogen Knaben den
Glockenstrang. Es waren keine hallenden Domglocken, es war ein
klägliches Rufen: »Kommt! Kommt!« Aber die ganze Gemeinde gehorchte. --
Im schwarzen Gottestischkleid zogen sie daher, und bei den Frauen lag
das mit Klöppelspitzen umsäumte Taschentuch quer auf dem Gesangbuch.
Von einer Warf zur anderen schlossen sich Männer, Frauen und Kinder an.
Sie sprangen an langen Stangen über breite Wasserrinnen und schritten
auf hohen, schmalen Stegen über die Priele. Die Sonne lachte an diesem
Novembersonntag. Und die Friesengesichter sahen hell aus. Denn die
Hallig verwöhnt ihre Kinder nicht, sondern ist herb zu ihnen und hält
sie knapp. Da werden sie zur Dankbarkeit erzogen für jeden Sonnenblick.
Vor der uralten, turmlosen Kirche standen sie in Gruppen, und der
Pastor schritt grüßend hindurch, und die Pastorin hatte eine liebe Art
zu grüßen und zu nicken und im Vorbeigehen rasche Fragen zu stellen.
Alles war Leben an ihr und warme Anteilnahme.

»Ein’ feste Burg ist unser Gott!« klang das schlichte Harmonium, Lehrer
Manne Wögens legte seine Seele hinein. Und aus den hellen Stimmen
der Schulkinder, die zur Liturgie sangen, spürte man die Wärme, die
ihr Lehrer für sie hatte. Auch in Pastor Lichts Predigt war warme
Güte. Er kam als Fremder aus Thüringen und tastete noch etwas an dem
Herzensschloß seiner Halliggemeinde, auf daß er den Riegel fände. Aber
die noch fest versicherte Pforte machte ihn nicht ungeduldig. Weil nach
Gottes Wort die Liebe für ihn die »größeste unter den dreien« war, und
er ihrer ausschließenden Macht vertraute. --

Auf dem Gottesacker der Kirchwarf stand Edlef Holgers und betrachtete
ein schlichtes Grab, das mit Muscheln belegt und mit einem Kranz
Bonnestave geschmückt war. Vor einigen Tagen hatte man einen Namenlosen
hineingebettet, den die See an den Strand geworfen.

»Mensch, komm von dem Grab fort«, rief halblaut Peder Claußen, der
sich, wie immer, verspätet hatte. »Ich kann nur an _Leben_ denken.
Mensch, Edlef, sie will mich! Was kostet die ganze Hallig? Hab auch
schon mit der Mutter gesprochen.« Peder lachte in sich hinein. »Die
sagte: ›Nimm sie um Gottes willen, damit ich meine Ruh kriege.‹ Heut
sag ich’s dem Pfarrer. Akke ist daheim geblieben -- beim kleinen
Bruder. Edlef, -- ich bin wie duhn vor Glück, wenn ich dran denk, daß
sie sich im Kinderwiegen übt.«

»Komm,« sagte Edlef Holgers, »ich möcht noch hören, was Pastor Licht
weiß.«

Und Peder Claußen dachte, daß Edlef ihm trotz aller Freundschaft sein
Glück neide.

Pastor Licht sprach ernst und eindringlich und recht wie ein Bruder
zu seiner kleinen Gemeinde. Ein paar Leute schliefen. Nicht gerade
die Ältesten waren es, aber die, die am Sonnabend vorher über Gebühr
geschafft hatten. Denn der Sturm war des Nachmittags plötzlich
aufgestanden und hatte sich wie ein Riese über die Hallighäuser
geworfen. Da war manches zerdrückt worden, was dem Menschensinn fest
genug gedünkt hatte. -- Nun tat die gute, ruhige Stimme des Predigers
den ermüdeten Halligbauern eine große Wohltat an. -- Auch Edlef Holgers
kämpfte mit dem Schlaf. Der Hüne hatte bis in die Nacht hinein noch
den ärger bedrängten Nachbarn beigestanden und dann kaum zwei Stunden
geruht.

Aber das Anliegen, das er an den Herrgott hatte, war ihm wichtiger als
Schlaf und Müdigkeit. Er hielt die Mütze zwischen den gefalteten Händen
und murmelte eindringlich: »Gib mir die Maren, -- gib sie mir!«

Das feine Mädchen saß nicht weit von ihm auf der anderen Seite. Aber so
tief hielt sie den Kopf gesenkt, daß nur ein paar eigensinnige Löckchen
zu sehen waren, die sich nicht unter die Friesenhaube hatten zwingen
lassen.

Zum Schlusse klang die Stimme des Halligpastors noch einmal recht
eindringlich! »Nicht locker lassen! Anhalten am Gebet, wie unser Luther
es uns lehrt, dessen Geburtstag wir heute feiern. Amen.« Da sagte
auch Edlef ganz laut Amen, so daß ein paar Halligmädchen anfingen zu
kichern, und die alten Leute bei sich feststellten, daß der Älteste
vom Mutterhof ein fester, aufrechter Mensch sei und einen guten
Hausvater abgeben werde. Vielleicht gar einmal einen vorbildlichen
Gemeindevorsteher, wenn der alte Ketel Boon abdanke. Denn Edlef
Holger’s Gesicht war ernst und gut und trug dabei ein zuversichtliches
Gepräge. Und ernst, gut und zuversichtlich muß die Obrigkeit sein auf
der Hallig.

Edlef erinnerte sich plötzlich einer Konfirmationsstunde, da hatte er
die Worte gelernt: »Amen, das heißt: ›Ja ja, es soll also geschehen.‹«

Das sagte er nun heimlich vor sich hin, als Herrgotts Antwort auf sein
Gebet: »Ja, ja, es soll also geschehen!«

Dann ging er ganz fröhlich von der Kirchwarf zur Schulwarf und grüßte
vorher den Pastor, der gerade mit Peder Claußen ins Pastorat treten
wollte. Edlef schwenkte beim Gruß ordentlich ein wenig den Hut, und
Peder freute sich darüber, daß der Freund ihm wohl nicht mehr gram sei,
sondern einsah, daß die schöne Akke Luersen nun endgültig dem Peder
gehöre. --

Lehrer Manne Wögens und seine Schwester waren Edlef ein Stück
vorausgekommen, trotzdem der Organist noch das Harmonium verschlossen
und die Noten fortgepackt hatte. Aber Edlef hatte immer gar viel zu
schauen auf seiner Hallig und Kreuz- und Quersprünge zu machen. Fand
auch noch eine tote Mantelmöwe, und grub ihr mit einem angeschwemmten
Stück Holz ein Grab.

Inzwischen plauderten die Geschwister eindringlich miteinander. »Wie
die heilige Cäcilie selbst hast du heute gespielt«, sagte Maren
bewundernd zum Bruder. »Nur ein besseres Harmonium müßte man dir
schaffen.«

»Wer denn?« fragte Manne trocken.

»Nun die Gemeinde oder die Regierung.«

»Ja, die lauern nur drauf.«

Inzwischen hatte Edlef die beiden eingeholt.

Maren hielt die feinen Lippen zusammengepreßt, und Manne Wögens
schüttelte dann und wann den Kopf. Denn Edlef Holgers sah ganz und
gar nicht wie ein Unglücklicher aus, als der er ihn doch vor ein paar
Tagen verlassen hatte, und nun gesellte er sich stumm und doch wie
selbstverständlich zu ihnen.

Ging neben ihnen her, eine halbe Stunde und mehr mit versonnenem
Gesicht, ohne ein Wort zu reden. -- An Luersens Haus gingen sie rasch
vorbei, und dann standen sie vorm Schulhaus.

Edlef schob den Lehrer kraftvoll durch das Zauntor. »Nun sieh du erst
mal eine ganze Weile nach dem Vieh, Manne«, befahl er kühnlich.

Manne Wögens lachte. Aber er gehorchte und ging in den Stall.

Befangen schritt Maren durch die Hausdiele in die Wohnstube.

Edlef Holgers folgte ihr.

Sie bot ihm einen Stuhl an, aber er setzte sich nicht. Er sah mit
starkem Herzklopfen auf die zarte, schlanke Gestalt herunter und legte
seine Hand auf ihren Kopf und bog ihn etwas zurück. So mußte sie ihm in
die Augen sehen. --

Da wurde er ganz ruhig und sagte zuversichtlich: »Ja, du hast mich
lieb. Gott sei ewig Lob und Dank!«

Dann küßte er sie.

»Ich bin ein rechter Bauer«, meinte er. »Ich frage dich nicht und sage
nichts, sondern ich nehme dich gleich. Wenn du meine Frau bist, will
ich sehr ehrerbietig sein, Jungfrau Maren, aber jetzt ...«

Sie lag still an seiner Brust.

»Ich muß dich wohl erst aufwecken?« fragte er. Und küßte sie heiß und
lange. »Sag doch etwas«, bat er. »Ich hab mich doch nicht getäuscht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gefürchtet hab ich mich vor dir«, gestand sie. »Weil du so riesengroß
bist.«

»Klein Bangbüx«, lachte er zärtlich. »Fürchtest du dich denn nun nicht
mehr?«

»Ein klein büschen«, sagte sie leise. »Aber vielleicht mußt du dich
_auch_ fürchten, denn ich hab dich so schrecklich lieb. Und ich werde
immer hinter dir herlaufen, damit du mir nicht abhanden kommst. Wird es
dir auch nicht unbequem sein?«

Er lachte glücklich auf. »Ach, du Lütten! Du bist wie aus einer anderen
Welt! Wie hast du dich so fein und rein halten können in der staubigen
Großstadt?«

»Weil ich an den Edlef Holgers dachte. Allstunds. Ich weiß, daß du
nichts Staubiges magst.«

Er ließ sie plötzlich aus seinen Armen. »Lüttje Deern, paß auf«, sagte
er ernst. »So wahr mir Gott helfe, ich mag nichts Staubiges. Aber so
rein wie du bin ich nicht. Hab noch vor wenig Wochen eine andere wild
geküßt. Willst du mich aus diesem Irrtum herausnehmen?«

Um einen Schein blasser war sie geworden, und in rührender
Hilflosigkeit sah sie ihn an. Dann schlang sie beide Arme um seinen
Nacken und küßte ihn heiß und innig.

Ernsthaft sagte sie: »_Nun bist du rein._«

Da war’s Edlef Holgers, als stünden alle Himmel offen.

»Muß ich dir noch etwas sagen«, meinte sie wie bedrückt. »Es ist wohl
nicht recht, daß uns all das erst nach dem Küssen einfällt. Aber du
überfielst mich ja wie der Halligsturm ...«

»Ja, so bin ich. Und mein Lütten war ganz verbast, und hat das Küssen
erst lernen müssen ...«

»Still, still!« wehrte sie ihm. »Ich will dir ja etwas sagen. Erstens
hätte ich dich fragen müssen, warum du neulich von uns wegliefst? Aber
ich hab so seltsam gutes Vertrauen zu dir. Du erzählst es mir schon
später einmal, ja? Aber nun kommt etwas ganz Wichtiges. Sieh, du hast
sicher gar nicht über nachgedacht, daß ich ganz arm bin. Nein, ich will
nun ausreden. Du bist der reiche Mutterhofsbesitzer. Und ich? -- Bin
noch gar nicht lange angestellt in Kiel und konnte nicht viel sparen
... Da muß ich noch viele Jahre Lehrerin spielen, bis ich dir eine
Aussteuer zubringen kann. Wirst du auf mich warten wollen?«

»Nun muß ich dich wieder küssen, damit du nicht reden kannst, mein
klein Schulmeister«, sagte Edlef. »Wenn ich auch nur ein Bauer bin,
so furchtbar dumm darfst du nicht schwatzen. Denn ich versteh auch
gescheite Sachen. Eine sehr gescheite Sache ist zum Beispiel, daß du
ganz _bald_ meine Frau wirst.«

»Oh, oh! Ich bin gerade fünf Minuten deine Braut.«

»So langsam vergeht dir die Zeit? -- -- --«

»Edlef, mein Edlef, was werden deine Leute sagen? Ein armes Mädel auf
dem Mutterhof. Und stolz noch dazu. Jawohl, übermäßig stolz, mein
Edlef«, bestätigte sie ernsthaft.

»Sag noch einmal ›_mein_ Edlef!‹ Es klingt wie Weihnachten.«

»Mein Edlef, was werden deine Leute sagen???«

»_Ich bin der Herr vom Mutterhof._«

»Aber zuerst bist du der _Sohn_ vom Mutterhof. Und dann ist da die
Ahne, die hat wieder deinen Vater geboren ... Denk daran, Edlef! Du
sollst Vater und Mutter ehren!«

Marens feines Gesicht war blaß und ernsthaft. Sie sah ihn fast
mütterlich mahnend an.

»O du Feines!« rief er zärtlich. »Du ganz Liebes! So wie du jetzt
aussiehst, bist du wie ein Bild, so ein schönes, ernsthaftes Bildchen
vom vierten Gebot. --«

»Mein Edlef, ich möchte so gern eine klare Antwort haben.«

»So gebe ich sie dir«, sagte er ernst. »Du bist willkommen auf dem
Mutterhof! Genügt dir mein Wort?«

»Oh!« rief Maren selig, und nun reichte sie ihm selbst den roten,
reinen Mund. »Ach, du, wie ist das schön, was du da sagst. Wie freu
ich mich auf den Mutterhof! Wie hab ich eine Mutter entbehrt! Das ist
kein Vorwurf für Bruder Manne. Aber ein Mädchen braucht Schwester oder
Mutter ... Wie will ich deine Mutter ehren! Edlef, ich hab sie jetzt
schon lieb, ganz lieb. --«

Manne Wögens klinkte sacht die Tür auf. »Es ist unrecht, mich beim
unvernünftigen Vieh zu lassen, während ihr Menschlein hier euch
freut ...«

Nun schmiegte sich Maren in seinen Arm.

Dann sahen die Geschwister sich in die Augen. Für Sekundendauer vergaß
das Mädchen den Verlobten und ihr Glück. Denn des Bruders Augen waren
feucht. Und sein Scherz war weh.

»Maren, mein Sonnenschein ...«

»Bruder Manne, segne uns!«

       *       *       *       *       *

All die blonden Friesenköpfe saßen wieder um den runden Tisch.

Die Lampe brannte still, und die Ahne erzählte. Onnen und Klein-Karen
saßen vor ihr auf niederen Stühlchen und sahen aufmerksam in das
lebendige, alte Gesicht.

»Weiter, Großmudder, weiter!« bettelte Onnen. Und Karen wühlte ihr
Köpfchen mit den bangen Augen in den derben Friesenrock der alten Frau.
Zwanzigmal hatten sie die Geschichte wohl schon in ihrem jungen Leben
gehört, aber sie wirkte immer wieder aufs neue durchrüttelnd, daß sie
in arger Bangnis schier vergingen.

»Ja, so war’s. Am heiligen Karfreitag spielten sie mit den Karten auf
Heyens Lei. Und sie lachten und spotteten der Ahnen und Alten, die
ihnen wehren wollten.«

»Hast du sie auch gewarnt, Ahne?« fragte Klein-Karen und zog den Kopf
aus dem Versteck.

»Ach, dumm Tüg. Ich war damals ein Kind wie du. Ahnen gibt’s auf jeder
Hallig. Wirst selbst mit Gottes Beistand eine werden.«

Da strahlte Klein-Karen. »Du, ich werd’ ’ne Ahne«, versicherte sie erst
einmal jedem einzelnen Zuhörer. Und ihr süßes Kindergesicht über der
breiten weißen Halskrause lachte selig in die Zukunft hinein, und das
Antlitz der erzählenden Großmutter dünkte dem Kinde wunderschön, also
daß es keine Angst hatte, einmal ebenso auszusehen. --

»Hatten sie denn den ganzen Tag nicht gebetet am Karfreitag?« fragte
Onnen.

»Doch, doch. Da war der gottesfürchtige Pastor und seine Frau, die
hatten selbst die Glocken geläutet, weil das Wetter so schlimm war,
daß kein Mensch zur Kirche gelangen konnte. Da sollte wenigstens das
Glockengeläut nicht fehlen, meinte der Pastor, und die Heyensleier
könnten dazu für sich beten, jeder in seinem Hause. Und er selbst und
sein Weib riefen bei jedem Glockenschwung: ›Christ Kyrie, komm zu uns
auf der See.‹ Aber die Heyensleier spielten und tranken Köhm oder
Kaffeepunsch.«

»Kaffeepunsch schmeckt gut«, sagte Klein-Karen.

»Ohm Rickert hat mich kosten lassen. Wenn ich mal Ahne bin, trink ich
jeden Abend welchen.«

»Ohm Rickert hätt’ besser nach Heyens Lei gepaßt als nach unserer
Hallig«, rief scharf die Ahne. »Und zu dir, Karen, muß ich mit der Rute
kommen, wenn du um Kaffeepunsch betteln gehst ...«

»Weiter, weiter,« drängte Onnen. »Großmutter, der Schullehrer sagt, es
sollte kein Mensch sprechen dürfen, solange du erzählst. Und das meine
ich auch.«

Da flog wieder ein froher Schein über der Ahne Gesicht.

»Manne Wögens und ich sind Freunde«, sprach sie bedächtig. »Gott
erhalte uns diesen Lehrer! Den hat man in die Stadt haben wollen.
Da könnt er längst hausen und im Gold wühlen, aber er kennt keine
Landflucht und bleibt der Hallig treu.«

»Wühlen alle Stadtlehrer im Golde?« fragte Karen.

»Ach, laß sie doch wühlen«, murrte Onnen. »Großmudder, erzähl weiter!«

»Ja, denkt, Kinder! Die Flut kam, und der Sturm heulte so gräßlich, wie
man es nie gehört hatte.

Ein Segelschiff fuhr über die See und in der großen Dunkelheit über
Heyens Lei hinweg. Da sahen die Seeleute ein Licht neben sich und sahen
die Kartenspieler um den Tisch. Und schlugen ein Kreuz und beteten,
denn sie meinten, der Gottseibeiuns wolle sie äffen und ihnen etwas
Unheiliges am heiligen Karfreitag zeigen, so mitten in dem wilden
Aufruhr der Natur. Die Nordsee aber hob sich wie die Brust von einem
Riesen, die Wellenberge schossen heran und es brüllten die Sturzseen ...

Und wo einmal die Hallig Heyens Lei gewesen, war nur salzen See.«

Klein-Karen weinte. »De armen Pasterlüd«, schluchzte sie. »Sie haben
doch gebetet und die Glocken geläutet. Warum mußten sie untergehen?«

»Dat’s ’n kloken Frag’«, krähte Ohm Rickert. »Un ik würd seggen, de
Herrgott hett nich uppaßt. Äwer wat seggt de Ahn dortau?«

Er freute sich beinahe, die alte Frau in Wirrnis zu bringen. Die Ahne
nahm Karens Köpfchen in ihre Hände.

»Süh so, mein klein Deern. Das kommt nicht drauf an, _wann_ man stirbt,
sondern _wie_ man stirbt. Die Pastersleut nahm unser Herrgott bei der
Hand und führte sie vom Glockenstuhl hinweg in sein himmlisches Reich.
Da waren sie in der Seligkeit und brauchten keine bange Sturmflut mehr
zu erleben.«

Es war ganz still im Wohnpesel. Die Lampe knisterte fein. Der Wind
draußen sang ein ruhiges Lied, -- er hatte sich am Tage und in der
Nacht vorher ausgetobt.

In die Stille hinein trat Edlef, der Älteste vom Mutterhof. An seiner
Hand hielt er Tanten Frauke, die Einsame aus dem Altenteil.

Unfrohe, erstaunte Gesichter sahen sie an. Verhärmt und blaß stand sie
unter den anderen Holgers. Ihre Hand legte sie auf Karens Köpfchen,
aber das Kind zog sich scheu vor ihr zurück. Da nahm Onnen die kleine
Schwester und ging stillschweigend mit ihr hinaus in den Schlafpesel.
Edlef Holgers Stirn war tief gefurcht.

Er bedeutete herrisch seine Schwester Melenke, daß sie ihren Stuhl
hergeben solle, und sie tat es unwillig. Den Stuhl setzte Edlef
zwischen die Sitze von Ahne und Mutter und führte Tanten Frauke hin.

»So!« sagte er tief aufatmend. »Ihr sollt alle wissen, daß dies vom
heutigen Abend an so gelten soll.«

Zuerst herrschte bedrückendes Schweigen.

Dann wandte sich Ohm Rickert, große Rauchwolken paffend, zu Edlef:

»Du tust da ’n gewaltiges Werk, mien Jung. Du setzest neben der Frauke
Holgers auch mich alten Einspänner in alle Ehren ein. Bin ja _auch_
ohne Leibeserben und der Ahne ein Dorn im Auge und der Hallig ein Pfahl
im Fleisch.«

Die Ahne schaute finster.

»Ich erzählte vorhin nicht ganz zu Ende«, grollte sie. »Der Sage nach
erbte unsere Hallig Likamp von der untergegangenen Hallig Heyens Lei
eine Verpflichtung: Fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Unter diesem
Gottesgebot haben wir alle gestanden und uns ihm gebeugt. Denn wir
leben nicht für _uns_, sondern für die _Halligheimat_. Gib fein Obacht,
Enkel Edlef, daß sie dich nicht straft, wenn du ihre Gesetze umstößst.«

»Tu ich das, Ahne? Ich glaube nicht. Aber ich meine, Tanten Frauke ist
alt und hat genug gelitten. Die ganzen Jungjahre hat sie in der Fehm
gesessen, -- ihr Lebensabend soll licht sein.«

»Du bist der Jungherr und ich gebe dir dein Recht«, nickte die Ahne
ernst. »Möcht nur nicht, daß dein heutiger Schritt ein Freibrief
sein soll für dich und andere, etwa garstiges Wesen und unheilige
Stadtsitten bei uns einzuführen. Dann würde die Hallig sterben.«

Edlef reckte sich. »Da sei die Ahne unbesorgt«, lachte er. »An Urenkeln
soll’s nicht fehlen auf Likamp und dem Mutterhof. Und jetzt seid
allesamt fröhlich! Richtet unser Haus fein her! Fegt und wascht und
stäubt die Zimmer. Und schmückt alles, wie schön ihr nur könnt. Ich
will meine Braut hineinführen.«

»Ist es all so weit?« fragte die Ahne ernst.

»Es ist mein fester Wille. Ich bitte dich, Ahne, und dich, liebe
Mutter, heißet Maren Wögens mit Liebe willkommen.«

Die Ahne starrte vor sich hin, Tanten Frauke drückte seine Hand. Und
die Mutter sagte mit finsterem Gesicht: »Die Liebe schenkt man nicht im
Mutterhof, die muß verdient werden.«

»Das weiß Gott«, seufzte Edlef. Aber er bezwang den aufsteigenden
Groll. »Mutter, -- mein Maren _wird_ sich Eure Liebe verdienen, da hast
du mein Wort.«

Ohm Rickert lachte. -- »_Meine_ Liebe schenk ich ihr. S’ ist ’ne
feine Deern. Nicht so rund und ansehnlich wie die Akke Luersen, --
Donnerkiel! Aber die hat ja nun der Hamburger weggekapert. Der Alte
könnt ihr Vater sein, und die Schönheit drückt ihn auf keiner Stelle.
Hat aber Moses und Propheten ...«

»Gehört der Schnack in diese ernste Stunde?« fragte die Ahne unwillig.

Aber Edlef trat hastig dem Ohm näher. »Was redest du da? Die Akke geht
mit nach Hamburg? Seit wann? Weißt du’s genau?«

Ohm Rickert zündete erst umständlich eine neue Pfeife an. »Dafür daß
du eben deine neue Braut aufgetakelt hast, mein Edlef, bist du bannig
neugierig«, paffte er. »Verintressieren dich _zwei_ Brautens?«

»Red’ nicht unsauber«, verwies ihn Edlef. Dann zog er den Alten vom
Stuhl hoch und nahm ihn beiseite. »Was weißt von der Deern? Mich dünkt,
sie sei Peder Claßen sin Brud.«

»Dann is sie sehr talentvoll«, meinte trocken Ohm Rickert. »Denn ich
sah sie heute mit dem alten Dicken absegeln. Soll ’ne rasche Hochzeit
werden, sobald die Mutter Luersen aus den Wochen ist. Ne fröhliche,
alerte Familie ist das, ni wohr!«

Edlef schüttelte sich. »So will ich noch nach der Königswarf zu Peder
Claußen. Gute Nacht miteinander!«

»Dann begleit ich dich«, erbot sich Ohm Rickert.

»Ich will auch ’n Büschen die Füße verpedden un noch ’n lütten Schnak
machen. Wenn alle Lüd von Hochtid reden, dann müntert das höllisch auf,
un ick mag dann nich achtern Aben sitten.« --

So wurde der Mutterhof heute beizeiten dunkel. Seine strohgedeckten
Häuser schliefen ein und träumten einer neuen Zeit entgegen.

       *       *       *       *       *

»Du mußt nicht so rennen, Edlef«, pustete Ohm Rickert. »Wir kommen noch
leicht hin nach der Königswarf.«

»Ohm Rickert, ich bin kein Bangbüx, aber vor dem Wiedersehen mit Peder
Claußen hab ich büschen Angst ...«

»Warum, mien Jung?«

»Paß auf, Ohm Rickert, -- den finden wir ganz durchgedreht ...«

»Vielleicht kommt er dann zum erstenmal in die richtige Fassong.«

»Du machst immer dummen Schnack mit ernsten Dingen, Ohm. Der Peder hat
mir selbst gesagt, er könnt ohne die Deern nicht leben ... sie hatte
sich ihm zweimal versprochen ...«

»Wenn man einen Bessenstiel und einen Feuerbrand zusammenbindet«, sagte
Ohm Rickert bedächtig, »dann ist’s nach der Natur, daß der Bessenstiel
aufgebrannt wird. Peder Claußen ist aufgebrannt. Der dicke Hamburger
wird nicht aufbrennen, der ist zu feucht ... Du wärst auch heidi
gegangen, Edlef.«

»Nein, Ohm Rickert, ich hätte den Feuerbrand schon ausgegossen.«

»Dazu reicht die ganze Nordsee nicht.«

»Du mußt es ja wissen, Ohm Rickert,« spöttelte Edlef.

»Ja, ich weiß es auch. Mir waren immer die tollsten Deerns die
liebsten. Mensch, ich war ihnen allen gewachsen. In Hamburg un Kiel un
in Triest, in Memel und in Yokohama, ich kenn’ sie alle. Aber von allen
wilden Deerns scheint mich die Akke Luersen die wildeste. Trotzdem ich
sie nur von Sehen und Hörensagen kenne, -- leider.«

»Schande wert, Ohm Rickert. Hast es gewußt, wie sie war und daß man uns
kuppeln wollt, und sagtest mir nichts?«

Der Alte schlug sich kichernd auf die Schenkel: »Hattest ja dein Maul
zum Neinsagen, Edlef. Schieb mich jetzt nicht vor die Bresche, mien
Jung. Du wolltest sie haben, weil du ’n Koller kriegtest.«

»Nun ja, will’s zugeben, ich war verhext. Aber ihr Alten seid zum
Warnen da.«

»Sind wir??? Nun dann frag dich mal as’n ehrlichen Kerl, was du
angegeben hättest damals, wenn ich mich in deine Liebessachen gemengt
hätte ... Da laß ich meine Hände von. Du hast deine Erfahrung gemacht,
-- das zweite Mal fällt’s besser aus.«

»Und wenn ich sie geheiratet hätte?«

»Dazu wär’s nicht gekommen. Ich hätt dann ausgesprengt, du wärst gar
nicht der _reiche_ Edlef, -- dann wäre die Akke sofort abgestanden. Ni
wohr, da krümmt sik dien Eitelkeit? Is aber doch so.«

Edlef schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Ohm Rickert.«

»Na, dann bleib man bei --. Der Glaube macht selig und der Hering macht
Durscht«, zitierte Ohm Rickert kühn.

»Akke Luersen mag schlecht sein, aber klein ist sie nicht.«

»Das ist mir zu hoch. Und nun wollen wir vom Peder reden.«

»Wenn ich ihn nur erst zu fassen hätte, Ohm Rickert. Paß auf, der
macht noch ’n dummen Streich, wenn er die Wahrheit erfährt.«

»Kein Streich ist so dumm wie der, die Akke an den eigenen Herd zu
binden. Davor hat ihn der dicke Hamburger bewahrt. Du sollst _auch_ dem
Manne dankbar sein, Edlef, anstatt ’n Gesicht zu machen wie’n Floh, der
in der Nordsee schwimmt und in keinen Rettungsring reinpaßt. Wenn aber
die Akke dem Hamburger mal utrischt, und das tut sie bald, dann ...«

»Red’ anständig, Ohm Rickert. Und daß du’s weißt, mein Sorg geht auch
um Melenke. Du hast ihr Vorschub geleistet, Ohm, bei ihrer Wildheit.
Das muß aufhören.«

»Tühnkram, Edlef. Vierzig Jahr bin ich welterfahrener als du. Siehst
denn nicht, daß die Deern erstickt in Eurer Langweile? Und Melenke
fügt sich nicht in so’n Zwang. Ersticken will sie partu nich. Da atmet
sie sich eben rechts und links büschen Lebensluft zusammen. Ich war
Heizer bei der Marine, Edlef. Da weiß ich, daß ’n Dampfkessel ’n Ventil
braucht. So’n Ventil sollte meine Aufmünterung bei Melenke sein. Aber
auf die Dauer genügt der Siebzigjährige ihr nicht. Nimm du meinen Rat,
Edlef: Schick die Melenke fort! In einen fixen Dienst! Arbeiten muß
sie, daß ihr die Schwarte knackt. Sonst reißt sie auch aus und -- geht
vor die Hunde.«

»Ohm Rickert«, rief Edlef entsetzt. »Wie kannst du so was
Schauderhaftes sagen? ›Vor die Hunde gehen!‹ Ein Mädchen aus dem
Mutterhof vor die Hunde gehen!!!«

»Mein Edlef, das ist eure Selbstgerechtigkeit. Die kann noch bös
ausgehen. Die Melenke ist aus anderm Schlag als du und deine Schwester
Nomine und deine Braut Maren, auch anders als die Ahne und deine
Mutter ... Überleg dir das Wort des alten Heizers mit dem Ventil. --
Die Melenke wär nicht der erste Dampfkessel, der in die Luft geht. Was
ich noch sagen wollt: wie geht’s der Nomine? Man hört und sieht nichts
von ihr. Ist sie immer noch nicht gescheit genug? Der Postschiffer
sagte neulich, sie ging jetzt in Kiel auf die Universität.«

»Sagt das der Postschiffer? Ja, Ohm Rickert, es ist wahr. Sie studiert.
Ich bin sehr stolz auf meine Schwester. Dabei solltest du sie sehen,
wie fix sie in praktischen Dingen ist. Wie sie ihren Kram fein
zusammenhält in Kiel, wie sie kocht und wirtschaftet. --«

»Warum genügt’s ihr denn nicht, Lehrerin zu sein wie deine Maren?«

»Nomine war immer hungrig, hat sie mir gesagt. Und da haben wir beide,
sie und ich, uns das für sie ausgedacht. Der Mutterhof verträgt’s.« --

»Hungrig ist die Deern? Hm. Hungrig nach die Wissenschaften? Gott
schall mi bewohrn. -- Nun, die Melenke ist auch hungrig. Hungrig nach
das Leben. Denk dran, Edlef. --«

Nun waren sie auf der Königswarf angekommen.

Die Fenster des Königshauses, darinnen einst nach der letzten Sturmflut
der König von Dänemark gewohnt, brannten in mildem Licht, Edlef konnte
sich kaum genügen lassen im Anschauen des schmucken Baues. Aber er
ging doch vorbei und bog den kleinen Seitenpfad ein, wo Peder Claußens
Gehöft stand. Zaghaft klopfte er ans Fenster.

»Nur immer herein.«

Peder Claußen lag im dicken Federbett in der Döntje.

»Endlich!« rief er mit heiserer Stimme. »Ich kannt’ ja deinen Schritt,
Edlef. Und wen bringst du da mit? Ohm Rickert setzt Euch.«

»Hast du mich denn erwartet, Peder?« fragte Edlef.

»Freilich hab ich. Natürlich ohne Grund. Bin von Mutter ins Bett
gepackt worden, weil ich Lungenstechen und Halsschmerzen hab auf die
schwere Not. -- Und morgen soll der Verlobungsschmaus bei Luersens
sein. Edlef, ich hoffe, du gibst uns die Ehr ...«

Ohm Rickert schneuzte sich laut und heftig.

»Werd man erst ganz gesund«, mahnte Edlef mit guter Stimme und
traurigen Augen.

»Was machst du für’n Gesicht!« rief Peder Claußen. »Als ob ich auf
dem Schragen läge ... Ach so!« rief er plötzlich verständnisvoll und
lachte laut, was ihm augenscheinlich große Schmerzen bereitete. »Ihr
habt natürlich auch von dem Unsinn gehört ... von meiner Akke ... wenn
ich nur den Hund hätte, der meinen Schatz verunglimpft. Mensch, Edlef,
sieh. -- Da steckt ihr Ring, und da auf der Brust liegt ihr feiner
Brief: ›Ich bin deine Braut Akke‹. -- Morgen um zwei Uhr! Da fangen wir
mit Kaffeepunsch an. Ohm Rickert kommt mit!

Ich laß es der alten Stine Diedrichsen sagen, vielleicht kommt’s
noch zu einem Verspruch zwischen euch beiden.« Peder Claußen lachte
ausgiebig trotz der Schmerzen.

»Sorg du, Peder, daß es zu _deinem_ kommt«, knurrte der Alte.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte Edlef zögernd und hielt
die heiße Hand des Kranken fest, -- »ich hab’s für gewiß gehört,
daß ...«

»Und ich hab sie mit dem Hamburger abziehen sehen«, rief Ohm Rickert
barsch.

»Der gute, dicke Hamburger!« lachte Peder Claußen.

»Ja, er ist abgereist. Die Akke konnt die Zeit nicht erwarten, bis er
weg war. Er hatte es hellschen hilde mit meinem Schatz. Wenn ich dran
denk, muß ich mich totlachen ... Au!«

»Lach nich, mein Peder«, sagte seine Mutter, die mit Umschlägen und
heißem Tee hereinkam. »Und wenn du morgen noch die Hitze hast, laß ich
dein Akke herkommen. In dem Wind gehst mir nicht zur Schulwarf.«

»Mutter, warst du mal jung?« scherzte Peder. »Ich bin gesund, wenn ich
mein Akke wiederseh.«

»Denn is ja allens in Ordnung«, krähte Ohm Rickert.

»Dann schwitz du dich man zurecht. Aber schwitz dich nicht deinen
Verstand weg. Den kannst du morgen brauchen ...«

Edlef zog ihn rasch mit hinaus und sie hörten noch das frohe, heisere
Lachen des Kranken hinter sich her.

»Siehst du, Edlef«, sagte draußen der Alte. »Da heißt’s immer auf der
Hallig: ›Inbillung is döller as Pestilenz‹, aber ich mein, für den
Peder, das arme Suppenhuhn, is sie wohltätig.«

»Ja, bis morgen«, knirschte Edlef. »Aber dann?«

Und nun sprachen sie gar nichts mehr. Durch den Sturm kämpfte das
ungleiche Paar sich schweigsam heim, bis der dunkle Mutterhof sie
wieder mit seiner großen Ruhe umfing.

       *       *       *       *       *

Es war wenige Tage vor Weihnachten.

An der Postfähre auf der Okkenswarf stand Lehrer Manne Wögens und
wartete auf ein Paket, das ihm wichtige Bücher bringen sollte. Die
wollte er sich selbst abholen und dabei gleich dem Postagenten die
Tagszeit bieten. Das Segelboot des Postschiffers, das schon lange mit
hohem Seegang kämpfend vor der Anlegestelle gekreuzt hatte, lag nun am
Steg.

Der Halligbriefträger half die Postsachen ordnen, und ein junges,
hochgewachsenes Mädchen in städtischer Kleidung dirigierte halb
lachend, halb scheltend ein paar Knaben, die immer ein Bündel fallen
ließen, wenn sie das andere aufhoben.

»Klüger seid ihr auch nicht geworden seit meinem letzten Hiersein«,
hörte Manne Wögens sie sagen. »Rasch, rasch, nehmt endlich die Sachen
ordentlich zusammen und dann ›auf nach Valencia!‹«

»So weit kann ich Ihnen allerdings nicht folgen, Fräulein Nomine
Holgers«, lachte Manne Wögens und zog die Mütze. »Aber bis zum
Mutterhof helfe ich Ihnen tragen. Wenn ich leider auch nicht klüger
geworden bin seit Ihrem letzten Hiersein.«

Sie gab ihm die Hand und nickte ihm zu.

»Herr Wögens, guten Tag! Und guten Abend und guten Morgen! Sehen Sie
nur, wie unsagbar dumm mich die Jungs angucken. Es sind hoffentlich
nicht die Begabtesten in Ihrer Schule.«

»Wo denken Sie hin,« wehrte der Lehrer. »Mensch, Fite Groth, du stehst
wohl hier als Reklameschild für die Dämlichkeit? Warum guckst du das
Fräulein so an?«

»Weil -- weil,« stotterte der Junge, »weil sie Onnen Holgers Swester
is. De seggt immer: Oha, wenn doch einmal mien Schwester käm.«

»Jung, nun mußt du ’n Groschen haben«, rief Nomine Holgers und zog die
Börse. »Das war ein schöner Willkommsspruch. Ach, Manne Wögens, am
meisten von allen Menschen freu ich mich auf meinen lütten Onnen.«

Lehrer Wögens sah sie fragend an.

»Nun freilich,« lachte sie, »ich freu mich auch auf Edlef, auf die
Ahne, auf Mutter, auf alle im Mutterhof, -- ach, und auf die Nordsee!
Auf das Segeln! Auf die Bonnestave, auf Schafe und Kühe ...«

»Igittigitt, Fräulein Nomine, wann komme endlich _ich_ dran? Damit
ich sagen kann: ›Nennt man die besten Namen, so wird der meine auch
genannt‹. Also -- komme ich vor oder nach den Kühen und Schafen?«

»_Gar nicht_ kommen Sie«, rief Nomine, -- streckte ihm noch einmal die
Hand hin und schüttelte sie herzhaft.

»Sehn Sie, das längliche Paket dort, das der andere Junge wie ein
Gewehr schultert, das ist ein Tannenbaum. Tannenbaum und Heimat! Riecht
das nicht gleich wie Wachslichtchen und Klaben? Mensch, Fite, Mensch,
Fite«, unterbrach sie sich laut rufend. »Vorsicht, Vorsicht! Der Bengel
trägt meine Bücher und Notizen und tänzelt auf dem Steg über den
Priel, als wollt er mein Heiligtum im nächsten Augenblick ersäufen.«

»Ihr Heiligtum?« fragte ernst Manne Wögens. »Ich dachte, das sei die
Heimat. Sind’s also doch die Bücher?«

Nomine biß sich auf die Lippen. »Keine Wortklauberei, Herr Wögens.
Eins braucht ja das andere nicht auszuschließen. Um mal auf ganz etwas
anderes zu kommen: Werde ich Sie Weihnachten im Mutterhof sehen? Wie
früher, als Sie mit Edlef unzertrennlich waren und mich, so oft Sie
konnten, verprügelten?«

»Weil Sie mit Geschick und vollendeter Tücke mir und Ihren Geschwistern
das Süße aufaßen. -- Den bunten Teller. Und es nie leugneten. Sondern
sich mit Geschrei selbst anklagten. Aber doch nie eher, als bis Sie
Leibweh hatten. Gott, was waren Sie für ein greuliches Mädchen!«

»Ich danke, Manne Wögens. Das genügt für’n Schaltjahr. Sie haben mir
aber noch nicht geantwortet. Reisen Sie fort? Etwa zu Maren? Oder
kommen Sie Weihnachten zu uns?«

»Es geht doch nichts über schreibfaule Leute«, meinte der Lehrer. »Sie
wissen also gar nichts über die gewaltigen Ereignisse im Mutterhof und
-- im Schulhaus?«

»Und die wären?«

»Meine Schwester Maren ist Edlefs Braut ...«

Nomine lachte glücklich. »Aber das ist ja eine Freude, eine
Riesenfreude! Die feine, süße Maren! Und mein stattlicher Edlefbruder!
Der hat mich sicher überraschen wollen unterm Tannenbaum. Nun, ich
bin auch tüchtig überrascht. Ich dummes Ding meinte immer, die Akke
Luersen ...«

»St!« Er wehrte mit der Hand. »Gar nicht _denken_ soll Nomine Holgers
an diese Frau und den Namen nicht aussprechen. Bruder Edlef ist auf
Umwegen zu dem Kleinen und Feinen gekommen, -- aber ein Umweg ist auch
ein Weg.«

»Ich frage gar nicht, ob sie glücklich sind«, sagte Nomine, -- »mit
Maren _muß_ man es sein.«

»Warum sagen Sie nicht ›mit Edlef‹?«

Sie runzelte die Stirn. »Weil er ein Holgers ist. Die Holgers sind alle
ungebärdig und hoffärtig.«

»Ja, das sind sie«, bestätigte Manne Wögens und sah sie so eindringlich
an, daß sie errötete. --

Nun gingen sie stumm eine ganze Weile.

»Ach,« seufzte Nomine plötzlich auf, »so ganz richtig ist die Heimat
heut doch nicht.«

»Und was fehlt?«

»Manne Wögens erzählt keine Märchen mehr, wenn er mit mir über die
Hallig wandert.«

»Nein, das tut er nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil Nomine Holgers kein Kind mehr ist.«

»Sie ist doch aber ein Kind ihrer Heimat ... und sie hungert nach
Märchen. Draußen in der Fremde ist alles Wirklichkeit. Und die ist so
kalt ...«

»Wirklichkeit? Da draußen heiratet also jede Gänsemagd ihren Königsohn?
Oder besser, jeder Schweinehirt seine Prinzessin?«

»In diesen Kreisen hab ich keinen Zutritt«, lächelte sie. »Item, -- ich
hungere nach Märchen ...«

»Eigentlich müßt ich als Lehrer sagen: ›Nomine Holgers, du bist
eigensinnig, stell dich in die Ecke.‹«

»Ich will aber nicht. Ich will mein Märchen.«

»So ein Unart! -- Also, dann man to. Passen Sie gut auf. -- Es waren
einmal drei Kinder. Zwei große Jungen und ein kleines, süßes, feines
Mädchen ...«

»Ein eigensinniger Unart!«

»Ja, manchmal.«

»Nein, immer.«

»Nicht unterbrechen, Fräulein Nomine. Oder wollen _Sie_ die Geschichte
erzählen?«

»Nein, -- -- dann würde sie ganz anders enden, als bei Manne Wögens.«

»Wie die Märchen wirklich enden, das weiß kein Mensch. In Büchern
steht: ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.‹
Aber _ob_ sie gestorben sind oder _wie_ sie weiter leben, das erfährt
man nicht.«

»Weiter, Manne Wögens, philosophieren wollen wir ein andermal, wenn ich
nicht so froh bin, wie heute.« --

»Ja, also diese drei glücklichen Menschenkinder liefen auf der Hallig
herum, die ihnen ganz zu eigen gehörte. So voll Phantasie waren sie. --
Und sie hießen ...«

»Ach -- Name ist Schall und Rauch, lassen wir sie doch namenlos.«

»Mitnichten. Als Lehrer bin ich für Gründlichkeit. Sie hießen also
Nomine, Edlef und Manne.«

»Ja. Und die freundlich Zuerstgenannte war die Unterdrückte. Sie mußte
immer das tun, was die anderen wollten.«

»Das ist nun wirklich ein Märchen und höchst unglaubwürdig. Da lach ik
öwer. Sagen wir lieber, sie fügte sich _manchmal_, wenn zufällig die
Vernunft in ihren Kram paßte.«

»Manne Wögens, Sie erzählen sehr harte Märchen ...«

»Ich bin ja auch keine Mutter, Fräulein Nomine. ›Ein Vater lernt
die Märchen aus einem Buch, einer Mutter erzählt sie der liebe Gott
selbst.‹«

Nomine Holgers ging sinnend. »Ach ja,« seufzte sie dann, »wie konnte
Mutter Wögens Märchen erzählen! Da lag die ganze Süße der Heimat drin.
Aber der Sohn ...«

»Dem haben Sie die Süßigkeiten aufgegessen ...«, sagte der Lehrer
schroff.

Nomine sah ihn zornig an.

»Ich wußte nicht, daß ›bunte Teller‹ unersetzlich sind.«

»Ja, sie sind unersetzlich. -- Aber nun weiter mit dem Märchen. Die
drei Kinder hatten sich trotz vieler Unstimmigkeiten und Reibereien
lieb. Wohlgemerkt: die _Kinder_. Aber leider wurden aus ihnen Leute.«

»Da irren Sie, Wögens, ich meine: Aus ihnen wurden _Menschen_.«

»Wenn Sie _dies_ Hochmütchen sticht, Fräulein Nomine, ich bin’s
zufrieden. Also Menschen! Der Bruder Edlef und der Freund Manne wurden
beide Schweinehirten ... Oder stört Sie das? Kann ja auch Schaf- oder
Kuhhirten sagen.«

»Das tut nichts zur Sache. Mir ist Schweinehirt die höchste Poesie
durch Krischan Andersen.«

»Das ist schön. Mir auch. Aber nun kommt die Tragik. Das kleine, holde
Mädchen hätte auch Schweinehirtin sein können, aber sie zog es vor --
Prinzessin zu werden.«

»Wo liegt da die Tragik, Manne Wögens?«

»Darin, daß die Prinzessin nicht weiß, was sie dadurch verloren hat.
Die Heimat schlechthin.«

»Das ist ein Irrtum. -- Wohl hält mich die Universität mit stärksten
Banden, aber ich trinke meine Heimat mit vollen Zügen, wenn ich einmal
hier bin.«

»_Wenn_ ...! Lassen wir’s gut sein. Das Märchen ist aus. Hie
Schweinehirt, hie Prinzessin! Die salzen See dazwischen und eine Welt
von Vorurteilen ... Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie
heute noch. --«

Sie gingen schweigend. Die Knaben mit dem Gepäck sprangen über die
Wiesen, sie suchten sich den nächsten Pfad. Nomine und ihr Begleiter
waren allein mit sich und ihren Gedanken.

Das Mädchen brach das Schweigen zuerst. »Nach dem, wie wir so
wundervoll stumm nebeneinander hergehen können, sind wir die besten
Freunde.«

»Nein, das sind wir nicht.«

Sie sah ihn finster an. »Der Schweinehirt kann sehr grob werden«, rief
sie gereizt.

»Der Schweinehirt ist gar nicht mehr da. Er ist in sein Königreich
gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht.«

»Da konnt die Prinzessin singen: Ach, du lieber Augustin, alles ist
hin. Meinen Sie, Manne Wögens?«

»So sagt der Dichter Andersen. Ich aber sage: Das Märchen ist aus. --«

»Nun, so erzählen Sie mir Tatsachen. Wie geht es zu Hause? Was treiben
die Nachbarn? Die erste, die ich aufsuchen will, ist -- Tanten Frauke.
Lachen Sie mich nicht aus. Ich möchte allen Ernstes diesen alten Baum
noch verpflanzen. Indem ich Tanten Frauke bitte, mit mir nach Kiel
überzusiedeln. Dort soll sie wieder leben lernen, nachdem sie so lange
vegetiert hat. --«

Er sah sie tiefernst an. »Dies Vegetieren hat schon Ihr Bruder Edlef
aufgehoben. Er hat Tanten Frauke einen Ehrenplatz im Mutterhof gegeben
... Ihr gerühmtes Studium hat Ihnen den Gedanken an eine seelisch
schwer Leidende ausgelöscht. -- Vier Jahre früher hätten Sie den Baum
verpflanzen sollen, aber Sie dachten nur an sich. --«

Sie warf den Kopf zurück. »Hätte ich nicht so großen Respekt vor Ihnen,
Manne Wögens, würde ich sagen: ›Sie sind ein ganz unausstehlicher
Schulmeister.‹«

Er verbeugte sich. -- »Sieh, sieh! Also doch Respekt! Vor meinem
_Alter_?«

Freimütig sah sie ihn an. »Ach nein, das lohnt wohl nicht. Aber vor
Ihrer Bodenständigkeit. Freiwillig auf der Hallig zu bleiben, bei Ihren
Kenntnissen, -- bei Ihrem Hunger und Durst ... Ich kann mir nicht
denken, daß Sie genügsam geworden sind.«

»Bitte, darüber wollen _wir_ beide nicht sprechen ... Wen wollten Sie
sonst noch besuchen?«

»Peder Claußen und seine Mutter. Er hat mich immer so schön verteidigt
mit Nägeln und Zähnen, wenn Sie mich peinigten. --«

»Über Peder Claußen ist fressendes Leid gekommen«, sagte Manne ernst.
»Wie über manchen andern ... Aber Peder Claußen kann’s nicht umwerten
in Segen. Er stirbt daran.«

»An einer Liebe?« fragte Nomine lebhaft.

»Ja, -- er ist grenzenlos altmodisch, arm Peder! ›Das Suppenhuhn‹ nennt
ihn Ohm Rickert, der oft den Nagel auf den Kopf trifft. Suppenhühner
sind altmodisch. Gebratene Hähnchen sind modern.«

»Was Sie für Unsinn schwatzen, Manne Wögens.«

Er antwortete nicht, er rannte plötzlich ohne Umsehen, ohne Aufhalten
den Deich hinunter an den Strand.

Was hat er nur? Was tut er da? fragte sich Nomine. Ihre etwas
kurzsichtigen Augen konnten nichts erkennen, und so schritt das Mädchen
tüchtig aus. In tiefen Gedanken war sie. Heimat! Heimat! Wunderliche
Heimat!

Da keuchte es hinter ihr her.

Und der Wind trug ihr ihren Namen zu: Nomine! Nomine!

Sie sah bang und verständnislos in Manne Wögens furchtbar verstörtes
Gesicht.

Er nahm ihre Hände und atmete schwer. »Sie wollten doch zu Peder
Claußen? Fragen, wie es ihm ginge? Gut geht es ihm, Nomine Holgers.
Sehr gut! Drunten liegt er. Die See hat ihn angespült. Sehen Sie das
Bündel? Das ist übriggeblieben von einem frischen, frohen, tüchtigen
Kerl. Herrgott, Herrgott!«

Sie stand erschüttert. »Wie ist das möglich?« stammelte sie. »Er war
solch großer, festgefügter Friese.«

Manne Wögens reckte seine eigene hohe Gestalt und lachte bitter.

»Ja, Nomine, -- so etwas bringt die Stärksten herunter.«

Dann wandte er sich und lief denselben Weg zurück und ließ das Mädchen
stehen. Und Nomine hob das Gepäck auf, das er ihr bis hierher getragen.
-- Sie stand und schaute angestrengt, und sah nach einer ganzen Weile,
wie er mit einer schweren Last auf Armen und Schultern wuchtig und
langsam der Königswarf zustrebte. Da senkte sie den Kopf tief auf die
Brust und sah nichts mehr von der grünen Heimat.

Der Tod war ihr begegnet und hatte sie ernst gegrüßt. Erschüttert und
müde schritt sie nach dem Mutterhof.

       *       *       *       *       *

Pastor Ephraim Licht saß in seiner Studierstube. In seinen guten,
hellen, blauen Augen spiegelte sich die ganze Predigt wider, die er am
Sonntag seinen Leuten zu halten gedachte. Seine runde, springlebendige
Frau quirlte um ihn herum. Sie wischte den Staub vom »Kannrückchen«,
das aus der gewohnten Thüringer Waldeinsamkeit noch sehr fremd auf
die brausende Nordsee hinaus schaute. Und sie beugte sich im nächsten
Augenblick über eine alte »Erfurter Lade«.

Und als der geistliche Eheherr den sinnenden Blick nicht vom Deich
draußen fortwandte, seufzte sie auf. Wurde ordentlich kribbelig und
wischte immer rascher an den Möbeln herum und stäubte schließlich den
ganzen Pastor mit dem Wedel ab.

»Ei, ei, Luischen, -- das ist mir doch zu arg«, wehrte er gutmütig.
»Ist denn das nötig bei mir?«

Sie bedachte sich einen Augenblick, wobei der Humor in all ihren
Grübchen spielte. Dann wurde sie kriegerisch.

»Jawohl, das ist nötig, Ephraim«, trumpfte sie auf. »Über und über bist
du verstaubt.«

»Luischen! -- ich werde dich wohl hinauswerfen müssen, mein Liebes, du
weißt, meine Predigt ...«

»Ephraim, der liebe Gott schreit einem auch die Wahrheit in die Ohren,
und kümmert sich den Kuckuck drum, ob grad jemand seine Predigt
macht ...«

»Luischen, Luischen, geh nicht mit dir selber durch. Diese Ausdrücke!
Du bist doch eine Pfarrfrau! Und dieser Hochmut, Luischen! Willst du
dich mit dem lieben Herrgott vergleichen?«

»Ephraim, jetzt kommst du mir vom Thema ab. Ich sag, du bist verstaubt.
Und ein verstaubter Pfarrer ist wie ein Ofen, der nicht brennt, oder
wie eine Mutter, die lieblos ist, oder auch wie ein blinder Spiegel.
Ephraim, du heißest Licht und leuchtest nicht ...«

»Potztausend, Luischen, du gehst ins Geschirr. Laß mir nur meinen
ehrlichen Namen in Ruhe, der auch der deine ist. Hier kommt’s nicht auf
die ›lieblose Mutter‹ oder den ›blinden Spiegel‹ oder den ›kalten Ofen‹
an. Wenn auch deine Vergleiche ganz nett sind, Luischen ... du hast
Phantasie, Luischen ...«

»Siehst du, wie du dich verhedderst, Ephraim? Ach, ich möchte mit
Menschen- und Engelszungen reden ...«

»Das tust du ja, Luischen. Und hast noch die ›Liebe‹ dazu. Das ist
selten beisammen. Aber hier in diesem Einzelfalle handelt es sich nicht
um schöne Reden, sondern um das strenge Respektieren einer Tradition,
die den Halligleuten heilig ist.«

»Sprich doch deutsch, Ephraim. Immer, wenn du nicht ganz fest im Sattel
sitzst, gebrauchst du Fremdwörter. Und heilig? Wie kann Unheiliges
heilig sein?«

»Luischen, nun muß ich gleich böse werden. Ich bitte dich um tausend
Gotteswillen, geh hinaus.«

Da setzte sich die kleine Frau Pastorin ganz fest in den Lehnstuhl am
Fenster und fing an bitterlich zu weinen.

»Da sind doch noch andere Leute auf der Hallig,« klagte sie, »gebildete
Leute, Leute mit Herz und Gemüt. Ach, sie werden sagen: Dies Thüringer
Land muß noch ganz dunkel sein, sonst könnte von dorther nicht so’n
verbohrter Pfarrer kommen ...«

Nun stand Pastor Licht ruhig auf, zog seine Gattin sanft aus dem Stuhl
hoch und führte die Weinende fort. »Siehst du, Luischen, nun muß ich
dich doch an die Luft setzen. So geht es jedesmal. Wann wirst du
aufhören, mich in meiner Amtsstube zu beleidigen?«

Er schaute noch ein Weilchen schalkhaft hinter ihr drein und setzte
sich dann mit wehmütigem Lächeln wieder an seinen Arbeitstisch. »So, --
also da geht’s schon los«, meinte er mit grimmigem Humor, als draußen
energisch geklopft wurde.

»Herein!!!«

»Herr Pastor,« sagte da Edlef Holgers, »ich weiß, es ist nicht recht,
daß ich so eindringe ...«

»Menschenskinder,« rief Pastor Licht, »wenn ihr doch wißt, daß es nicht
recht ist, warum tut ihr’s denn nur? Na nun kommen Sie man. Närrische
Kerle seid ihr alle ...«

»Herr Pastor, -- mein alter Freund Peder Claußen soll morgen beerdigt
werden, und nun sagt man ...«

»Daß ich ihn außerhalb des Mäuerchens betten will, weil er ein
Selbstmörder ist. Ja, Holgers, da sagt man ganz recht.«

»Herr Pastor ...!!!«

»Mein lieber Freund, ich bin nicht nur für euch junge Heißsporne hier,
sondern in erster Linie für die alten Leute. Ihr Jungen holt euch mal
hier, mal dort euern Trost und Halt. In die Kirche kommt ihr selten.
Der Pastor ist für euch ’n notwendiges Übel oder mal ’ne ganz nette
Dekoration. Ja, ja, ich weiß schon, was Sie sagen wollen. -- Ich meine
ja auch nicht gerade euch vom ›Mutterhof‹. Das ist ja ein rechtes und
echtes Friesenhaus und Vorbild. Und ich brauche wohl kaum zu fragen:
Wie stehn Ahne und Mutter zu der Sache? Und Tanten Frauke? Und Ohm
Rickert? Doch sicher auf meiner Seite?«

»Ja. Alle! Ich bin ganz irre an der Ahne geworden. An allen.«

»Nicht doch! Nicht doch! Überlieferungen sind stärker als eigene
Gedanken. Man löckt nicht ungestraft wider den Stachel. Und wenn ein
Halligpfarrer nicht als Felsen dasteht, wie soll er eine Sturmflut
überdauern???«

»Herr Pastor -- -- ich meine, wenn der liebe Gott will, so stürzt er
auch den Felsen ...«

Pfarrer Licht fuhr auf. »Was hat denn der liebe Gott mit der ganzen
Sache zu tun?« rief er ärgerlich. Aber er schlug sich gleich darauf
selbst auf den Mund. Wenn Luischen das gehört hätte!

»Mein lieber Holgers, -- der Herrgott fragt nicht nach ›Mäuerchen‹
und dem ›ehrlichen‹ oder ›unehrlichen‹ Grab. Er sammelt sie alle am
Jüngsten Tag. Und vielleicht sagt er zum Selbstmörder: ›Ei du frommer
und getreuer Knecht‹ und zum Pastoren: ›Hebe dich weg von mir‹. Aber
Freund Holgers, -- es ist ein _Ärgernis_. Ein Pastor soll kein Ärgernis
geben. Sonst winkt ihm der Mühlstein. Wenn ich Peder Claußen _nicht_
als Selbstmörder einsenke, so gehen vier junge Leute vielleicht
befriedigt vom Kirchhof, und einhundertsechsundzwanzig Seelen wenden
sich von mir ab. Und hadern und bleiben ohne Trost. Und wenn ich
abgesägt werde? Wen kriegt ihr her? Ich hab mich freiwillig hierher
gemeldet. Weil ich euch _lieb_ habe.«

»Und die Mutter? Herr Pastor, die Mutter von Peder Claußen?« fragte
Edlef ganz leise und dringlich. »Die hatte nichts als den einen Jungen.
Nicht eine einzige ungute Stunde hat sie von ihm gehabt. Er war der
bravste Sohn auf unserer Insel. Das faßt ja ihr Herz gar nicht, daß der
gefemt werden soll.«

Der Pfarrer rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Jetzt kommen Sie mit grobem Geschütz, Holgers, -- die Mutter, ja
-- -- -- sie soll ja den Sohn noch über den Herrgott gestellt haben, --
sie wird nun wohl sehr leiden. Mich hat sie gar nicht beachtet, da ich
als verordneter Diener unserer Kirche sie besuchte. -- Sie hat mir auf
alle Fragen nicht geantwortet ...«

»Herr Pastor, sie ist aus den Fugen«, sagte Edlef schwer.

»Und Sie meinen, Holgers, ein sogenanntes ehrliches Begräbnis würde sie
wieder zusammenkitten?«

»Ja, Herr Pastor, das ist meine Meinung.«

Pastor Licht schaute wieder mit dem sinnenden Blick nach der See: »Und
Christus sprach: ›Weib, siehe dies ist dein Sohn, Sohn siehe, dies ist
deine Mutter ...‹ Lieber Holgers -- -- ich möchte allein sein ...«

Edlef ging rasch hinaus und Pastor Licht riegelte die Tür hinter ihm
ab. --

In der offenen Küche stand die Pastorin. Ihr rundes, liebes Gesicht
trug noch die Tränenspuren.

»Hat er Sie auch herausgeworfen, Herr Holgers?« fragte sie dringlich.
Und auf Edlefs energisches Kopfschütteln: »Ach, Sie dürfens gern
sagen. So ein Mann, so ein Mann ist _mein_ Mann! Die helle, lichte
Güte selbst, Herr Holgers, niemand kennt ihn ja wie ich. Keiner Fliege
tut er was zuleid, -- ach, was sag ich, -- zu_lieb_ würde er ihr was
tun. Aber schroff, schroff ist er, Herr Holgers, und obsternatsch
und eigensinnig und verbohrt in seine dämlichen Ansichten ... Ei der
Tausend, was sag ich da wieder ... Kommen Sie in die Küche, Herr
Holgers. Das Leben ist wahrlich schwer. Essen Sie ein paar braune
Kuchen. Hier, sie sind noch knackenhart. Und ›Jungbursch hat Jungzahn‹
heißt’s im Sprichwort.«

Und so nötigte ihn die Frau Pastorin an den Küchentisch und
präsentierte ihm das leckere Weihnachtsgebäck.

Und Edlef nahm und aß und erzählte von der Mutter Claußen. Und das
mitleidige, warme Herz der Pastorin wollte schier aus der Brust
heraushüpfen und weiter über die Schwelle des Pfarrhauses nach der
Königswarf hin zur armen Mutter. Daneben aber reichte sie ihrem Gast
einen braunen Kuchen nach dem andern, auch wenn er noch so sehr wehrte.
Und schusselte in der blitzblanken, großen Küche herum und schalt und
liebkoste abwechselnd ihren Eheherrn ganz laut, aber ohne daß es ihm
zu Ohren kam. Die beiden Taschen voll brauner Kuchen zog Edlef schier
verlegen ab. Und immer wieder steckte sie ihm noch etwas ein, und die
tränenblanken Augen sahen ihn gütig und mütterlich an.

Der Sturm draußen warf Edlef Holgers beinahe gegen den großen Grabstein
von Anno 1517, der an der Kirche lehnte. Tief drückte er seine
Mütze ins Gesicht. Dann sprang er mit großen Sätzen über ein paar
eingefallene Gräber nach dem Zaun hin.

»Mudder Claußen, wat makt ji hier?«

Die Frau hatte sich tief zur Erde gebeugt. Ein Schluchzen schüttelte
ihre hagere Gestalt.

»Hier wüllt se em henleggen,« stöhnte sie, »-- hier. Un sin Vadder,
de liggt in Husum unnern groten, witten Steen, mitten unner de
Honneratschoren, un hedd sik doch sin Lebdag ni um Wiw und Kind
kümmert. So is de Welt. So richt de Welt! O du min arm Peder! Min
goden Jung!«

Beide Hände legte sie auf den kalten Boden, als wolle sie das verfemte
Fleckchen Erde wärmen und segnen.

Grimmes Mitleid schüttelte Edlef Holgers. »Kommt, Mutter Claußen«,
sagte er. »Up dit Flag verküllt Ji jug blot.« Er half ihr in die Höhe
und nahm die Widerstrebende mit sich fort. Gute Worte sprach er zu ihr
und erzählte von Peder Claußens Kinderjahren und Dummjungsstreichen
und wurde beredt, wie er es niemals gewesen war. So ward der Weg zur
Königswarf ganz kurz und zuletzt schier fröhlich. Denn immer neue,
schöne Züge und gute Besonderheiten entdeckte Edlef an dem toten
Schulkameraden, also daß seine Mutter die ätzenden Tränen trocknete und
voll Trost in das öde Heim zurückkehrte. --

Am andern Morgen waren sie schon um acht Uhr bei Mutter Claußen
versammelt. Keiner der Halligleute wußte recht, wie der Nachbar
hingekommen war. Nur daß er selbst einer dringenden Botschaft folgte,
war ihm klar. --

Die Frauen waren diesmal daheim geblieben, denn Neugierde ist keine
Untugend der Halligbewohner. Nur Maren Wögens und Nomine Holgers
standen Mutter Claußen zur Seite.

Die alte Frau weinte nicht. Sie hielt die zitternden Hände gefaltet und
schaute geradeaus. -- Nicht auf den Sarg, den man schon geschlossen
hatte. Es war, als höre sie nicht auf das, was die Nachbarn an
Trostworten ihr zuraunten, sie horchte auf irgend etwas, das von
draußen kommen sollte, und in ihren bangen Augen standen Fragen, die
einer herben Antwort gewärtig waren. -- Die alte Kastenuhr tat nun
schrille Schläge, und der Totengräber Hinrichsen ermunterte ein paar
große starke Schuljungen, den Sarg mit ihm anzufassen. Da kam ein
Ächzen aus Mutter Claußens Brust.

Und Maren Holgers legte ihren Arm schützend um sie. Aber gleich darauf
stand die Wankende wieder aufrecht. Ihr Kopf wandte sich zur Tür, die
gefalteten Hände lösten sich und streckten sich aus. Pastor Licht
erschien in der Tür. An ihm vorbei drängte sich seine gute, kleine,
geschäftige Frau. Sie tründelte zur trauernden Mutter hinüber und
umfaßte sie, und grüßte rechts und links mit den hellen, gütigen Augen.
Es war fast, als käme sie zu einem frohen Fest, und das war diese
Stunde auch beinahe für sie.

Die Halligmänner sahen sich an. Wollte dieser Thüringer Pastor
Neuerungen einführen? Und wollte er sie heute überrumpeln? Dafür waren
sie nicht zu haben. Aber in der behenden Geschäftigkeit der Pastorin
ging das Murren und Murmeln unter, das schon drohend aufgestanden war.

»Liebe Männer von unserer Hallig,« hub der Pastor an, und seine Stimme
klang mild und fest zugleich, -- »hier wartet ein Mitchrist, daß wir
ihn zur ewigen Ruhe tragen. Viele von euch haben erwartet, daß ich in
meiner Stube bleiben würde. Ich hätte es auch getan, denn ich wollte
eine althergebrachte Sitte nicht umstoßen. Aber da wurde ich von
jemand daran erinnert, daß außer dem Toten, der die Strafe ja nicht
mehr fühlt, noch ein lebendiges Mutterherz neben dem Sarg sich quält.
Das möchte wohl so stark sein, daß es den lieben Sohn ganz allein
nach dem Friedhof trage, und so fromm ist es auch, daß es wohl den
Segen tausendmal sprechen könnte. Aber das Mutterherz hat diese ganze
Angelegenheit in eure Hände gelegt, ihr lieben Gemeindeglieder. Und
so sage ich euch: ›Der Gottesacker dadraußen heißt Friedhof und nicht
Striedhof.‹ Und zweitens: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet
werdet.‹ Und drittens: ›Wer sich rein fühlt von Schuld, der werfe den
ersten Stein auf den Toten.‹ Ich werde jetzt hinausgehen und mich mit
meinem Gott bereden und zurückgehen zur Kirchwarf. Beredet auch ihr
euch untereinander und laßt Gott mit darein reden. Und schaut mir
fleißig die Mutter an. Das soll mir ein Zeichen sein: Wenn ehrenfeste
Halligleute mir den Toten getragen bringen, so will ich sie empfangen
und Peder Claußen soll unter euern verstorbenen Lieben auf dem Friedhof
ruhen. Hebt ihr ihn aber drunten auf den schmalen, kleinen Wagen und
laßt ihn einzig vom Totengräber und seinen Gehilfen geleiten, so
will ich der Überlieferung Rechnung tragen und still im Kämmerlein
bleiben. Gott aber wird am Jüngsten Tage unsere Herzen wiegen und auch
Peder Claußens Herz, der ein gehorsamer Sohn, ein guter Nachbar, ein
fleißiger Halligbauer und ein treuer Freund war. Wehe uns dann, wenn
unsere Herzen leichter befunden werden als das seine. -- Gehabt euch
wohl!«

Pastor Licht stellte sich noch einen Augenblick zu Mutter Claußen,
die den Kopf tief geneigt hatte und strich ihr sacht über den grauen
Scheitel.

Dann nahm er das weinende Frau Luischen bei der Hand und verließ die
Stube. --

Da schritt Edlef Holgers zum Sarg und ergriff eine Handhabe. Sein Auge
grüßte den Halligschulmeister Manne Wögens, der denselben Schritt getan
und nun neben ihm stand.

Nomine Holgers und Maren Wögens stellten sich in raschem Entschluß
neben ihre Brüder.

»Dat is nich Deernssach’«, wehrte ihnen Tede Luersen, der Vater von
Akke. Und er trat an die Stelle der beiden, wischte sich den Schweiß
vom Gesicht und murmelte: »Ik heww wat god to maken.«

Zwei Bauern verließen die Stube. Der eine rückte den Hut und sagte:
»Nix för ungut, -- ik kann dat nich min Öllern wegen.«

Und der zweite murrte: »Nimodsche Art paßt nich to Halligart.«

Dafür stellte sich aber der Gemeindevorsteher sehr entschlossen an den
Sarg: »De Paster hett recht.«

Noch ein paar folgten mürrisch oder verlegen den beiden Männern, die
auf ihre Warfen zurückkehrten, aber es waren genug Träger aus den
Reihen der angesehensten Halligbauern vorhanden, auch zum Abwechseln
bei dem langen Weg und der schweren Last. --

Mutter Claußen schritt zu jedem einzelnen.

»Gott lohn’s in der Ewigkeit!« schluchzte sie. »Gott lohn’s!«

Und viele meinten bei sich, sie hätten schon schlechtere Leute getragen
als diesen Sohn einer solchen Mutter.

»In Gottes Namen«, rief laut Manne Wögens. Da hoben sie den Sarg und
trugen ihn langsam und schwer den Deich entlang und schritten mühselig
über den Priel zur Kirchwarf.

Und wenn auch die Glocken schwiegen, so donnerte doch die Nordsee gegen
den Deich, und der Sturm sang sein ernstes Lied wie einen brausenden
Choral.

Pastor Licht empfing den Zug am alten Glockenstuhl, der unterhalb der
Kirche aufragt. Und er schritt dem Sarg voran und sprach kurze, markige
Worte über der offenen Gruft. Ein Leuchten lag auf seinem Gesicht, weil
er sich der Ehre freute, ein Hallighirte zu sein. --

       *       *       *       *       *

Der Mutterhof rüstete sich zum Weihnachtsfest.

Nun stritten in ihm die verschiedensten Gerüche um die Oberhand.

Ohm Rickert ging mit krummem Kreuz ducknackig umher und schaute scheu
um sich, als käme aus irgendeiner Ecke ein voller Scheuereimer gegen
ihn geflogen, um ihn zu verjagen.

Er meinte, es röche überhaupt nur nach »Kernseep« und »gräune
Smeerseep«.

»Wozu die viele Reinlichkeit bei das büschen Hochzeitmachen?« fragte er
unwirsch.

»Es ist nicht nur büschen Hochzeit, -- es ist auch Heiligweihnacht«,
meinte Klein-Karen ernsthaft. Und die Kinder fanden, daß es nur nach
Wachslichtchen, nach Tannenbaum und Klaben dufte.

Die Ahne sah mit ihren hellen, scharfen Augen schief nach Ohm Rickert
hin und bemerkte anzüglich, daß es wohl nach alten, vertrockneten
Junggesellen röche, und die sollten sich »man bei klein’« aus dem
Staube machen und sich hinterm Deich auslüften, da, wo der Sturm am
ärgsten bliese.

Darauf Ohm Rickert wieder gemütlich krähend: »Weet de Düwel, ick bün
gor ni vertrocknet. Ik schese noch den irsten Danz mit de Brud. Ne
feine Polka. Un sing dortau:

    Bonnestabe, Bonnestabe
    Blüht auf Junggesellengrabe,
    Aber wo Jungfräulein ruht,
    Blüht ’ne Rose, rot wie Blut.«

»Ja, deine Choräle kennt man schon«, brummte die Ahne, und dann jagte
sie Onnen und Karen hinaus, sie sollten einen Schneemann bauen, anstatt
immer »vor den Füßen zu laufen«.

Es war »hilde Zeit«. Weihnachten und Hochzeit. Man hatte alle Hände
voll zu tun und alle Köpfe voll Wichtigkeiten. -- Und mit Edlef war
nicht mehr zu »rechnen«. Dem schlug die Liebe über Kopf und Kragen.
Die Ahne seufzte tief auf. Aber dann verklärte sich ihr Gesicht wie
von einem innern Leuchten. Es war ja wohl gut, daß einmal die »Liebe«
wieder über die Schwelle des Mutterhofes schritt. »Rechtschaffenheit
und ehrbar Wesen« freilich, die hatten immer Hüsung gehabt in dem
stattlichen Bau. Aber Liebe? Die paßte nach Meinung der Ahne besser in
die Stadt, wo die Leute »nichts anderes zu tun haben«. Sie selbst,
Gesine, geb. Christiansen, hatte eine Vernunftehe mit dem raschen,
arbeitswütigen, jähzornigen Holgers geschlossen, der ihr eigenes,
durch Krankheit der Eltern heruntergekommenes Gewese sachgemäß
bewirtschaftete und mit dem Mutterhof vereinigte. Damals war noch nicht
allgemeiner Wohlstand auf der Hallig, damals war der Halligspruch
bittere Wahrheit, der über manch einer Tür stand:

    »Nadel und Schere sind es nicht,
    Pfriemen und Hobel kennt man nicht,
    Pflug und Egge braucht man nicht,
    Manna fällt vom Himmel nicht.
    Wären die lieben Schafe nicht,
    Man hätt’ fürwahr das Leben nicht.«

Wenn man ums tägliche Brot ringt, dann begnügt sich die Liebe mit
einem bescheidenen, knappen Plätzchen. Aber Vertrauen und Fleiß und
Frömmigkeit hatten daneben gesessen, so war das Haus gesegnet worden
und gewachsen.

Fünfzehn Kinder hatte die Ahne geboren, sieben davon »kleinweis«
hergeben müssen, da waren ihr auch sieben Schwerter durch das Herz
gegangen, wie man’s von der Gottesmutter erzählt.

Aber die acht anderen, sieben Jungs und eine Deern, waren alle fixe
Kerle geworden. --

»Geliebt« hatte auf dem Mutterhof wohl nur die »Tanten Frauke«. War
ein schönes Mädchen gewesen, und der Ahne dritter Sohn Tetje hatte sie
auf den Mutterhof gebracht. Der war von klein auf ein Träumer. --
So des Abends auf der grünen Hausbank vor der Tür zu sitzen und ins
verglimmende Abendrot zu schauen, das war ihm das Liebste. Jeden Stern
kannte er am Himmel, und lehrte es auch die Frauke. Von der hildesten
Arbeit konnte er sie wegholen, und dann saßen die beiden Hand in Hand
»rein wie verbast«. Fleißig war ja die Frauke und flink und hatte einen
ordentlichen »Batzen« auf den Mutterhof mitgebracht, also daß zwei
Scheunen hatten erneuert werden können. Aber so eine richtige Kraft war
sie nicht, und -- sie blieb ohne Kinder. Das war unerhört im Mutterhof.
Was hatte sie, die Ahne, für bittere Zähren vergossen, daß sie selbst
es nur auf fünfzehn gebracht. Hielt es ihr die Schwieger nicht täglich
vor, die ihrem Manne selbst einundzwanzig gebar?

In alle Welt waren die Holgers zerstreut, und ein stolzes Wort ging
um: »Aufrecht und brav wie ein Holgers.« Die meisten von ihnen ruhten
freilich auf dem Meeresgrunde. Fischer- und Seemannslos. Auch Fraukes
Mann, der Träumer und Sterngucker, war nicht wiedergekommen. Und die
Ahne erinnerte sich nicht gern daran, daß sie selbst ihn fortgescheucht
hatte von seiner Frau, mit der er damals fünfzehn Jahre verheiratet
war. Es hätte vielleicht nicht Not getan, daß Tetje Holgers an dem
Abend zum Fischfang auszog ...

Aber die Ahne hatte das »verliebte Getue« nicht leiden können, und
hart gespottet, wie sich der Tetje gar nicht trennen konnte und
immer wieder die Frauke küßte und strakte. Und wie hatte sie mit
der Schwiegertochter gescholten, daß diese dem Gatten plötzlich
nachgelaufen war und dicht vor dem Priel ihn eingeholt und auf der
Fenne vor allen Leuten gehalst hatte.

In derselben Nacht stand der grause Sturm auf und ... machte Frauke
Holgers zur Witwe. Es kehrte niemand von den Bootsleuten zurück.
Seitdem war Frauke das herbe, stille Weib, das einsam im Altenteil
hauste. Ohne Kinder, ohne Enkel, ohne Freude. Es wurde der Ahne, die
doch so fest an das »Gotteszeichen« glaubte, immer unbehaglich zu Sinn,
wenn sie an das liebeleere Leben der Einsamen dachte, die doch so still
und ohne Vorwürfe gegen andere ihren Leidensweg ging. Die Ahne mußte
sich oft selbst bezwingen, daß sie nicht zu viel Hochachtung empfand
vor der »Unfruchtbaren«. Und daß sie nicht ungerecht wurde gegen die
Frau ihres Erstgeborenen, die doch zwölf Kinder hatte, von denen Edlef
der Älteste war. Warum konnte nur die Ahne zu dieser Schwiegertochter
so gar nicht in Fühlung kommen? Die doch die Überlieferung des
Mutterhofes wahrhaft hochgehalten hatte. --

Wie oft hatte die Ahne schon im Herzensgrund gemeint, die Behaglichkeit
und der Gottesfriede wohne allein im Altenteil bei Frauke Holgers,
-- doch sie hatte diese aufrührerischen Gedanken immer gewaltsam
verscheucht. --

Aber gut war es trotzdem, daß die leuchtende Liebe wieder allen
sichtbar über Mutterhofs Schwelle schritt. Der Enkel Edlef und die
feine, schöne Maren mit den strahlenden Blauaugen. Das war wohl so
recht ein Paar nach Gottes Herzen. Da sah eins nur das andere, und
die Hallig hätte untergehen können, die beiden wären’s nicht gewahr
worden. Da konnte man wohl beten, daß dieses Glück blieb. Daß zu dem
vielen Licht nicht viel Schatten kam. Enkel Edlef artete nach dem Ahn.
Und der war gut und nachsichtig gegen andere gewesen und mochte auch
nur frohe Gesichter leiden. Aber für sich selbst wollt er doch immer
ein Extragericht, und Gott sollte sich nach seinem Willen richten.
-- So hatte er scheinbar mit eigenem eisernen Willen sein Schicksal
gemeistert. Und Edlef? Der setzte aus sorglos gutem Herzen die verfemte
Verwandte in die alten Ehren ein, wie würde er aber wohl handeln, wenn
ihm selbst Nachkommen versagt blieben??? Die Ahne mocht’ kaum dran
denken. Holgersart konnte grausam sein.

Am dritten Feiertag des Weihnachtsfestes sollte die Hochzeit sein, und
im Jungteil des Mutterhofes hatte man dem jungen Paar das Nest gebaut.
Denn wenn auch Edlef Holgers nun Herr des Mutterhofes wurde, blieb doch
nach alter Überlieferung seine Mutter die Herrin neben ihm so lange,
bis auch Karen, das jüngste Kind, achtzehn Jahre wurde. Dann siedelten
sie alle ins Altenteil, und Edlef würde fortan im Mutterhof wohnen.

Bis dahin hatte es aber noch gute Wege.

Die Ahne schaute mit hellen Augen auf das stolze Gewese. Der stattliche
Mutterhof nahm die Mitte des Hofes ein. Daran schloß sich das große
Altenteil, das sie selbst bewohnte. Links vom Mutterhof lag das kleine
Altenteil, das von Frauke Holgers’ eigenem Gelde erbaut worden war
und das innen und außen ein rechtes Schmuckkästchen darstellte. Dem
gegenüber lag das »Jungteil«, das jetzt ganz neu für Edlef und Maren
hergerichtet war.

»Mit Gott«, sprach die Ahne und ließ die Augen über die Reihe der
blitzenden, kleinen Fenster gleiten, hinter denen die Brautkammer lag
mit den blühweißen, hoch aufgeschichteten Betten. Die Ahne selbst hatte
die schneeigen Spreidecken darüber gebreitet, und die »heilige Kammer«
verschlossen, wie sie auf dem Mutterhof hieß. Erst um die sechste
Nachmittagsstunde des Hochzeitstages, wenn die Kirchenglocke zur Vesper
läutete, würde die Ahne mit großer Feierlichkeit dem jungen Hochzeiter
den Schlüssel übergeben. --

Mit Gott!

In all ihren freudig-wehmütigen Gedanken sah sie jetzt den Herrn
Pfarrer über die Fennen herankommen. Er nahm die Richtung nach dem
Mutterhof. Die Stirn der Ahne umwölkte sich.

Sie verstand die Welt nicht mehr. Wenigstens das Neumodische nicht, das
nicht einmal Halt vor der Kirche machte, sondern sogar Selbstmörder in
geweihte Gräber legte unter Orgelspiel und Glockenklang. Und dazu gab
sich Pastor Licht her, den sie bis jetzt immer als echten und rechten
Hirten geachtet hatte. Aber freilich, es war ein Ausländer. So ein
Thüringer mit solch wunderlicher Sprache mußte ja auch wunderliche
Ansichten haben, die ganz und gar nicht auf die Hallig paßten. Die Ahne
hatte auch dem Enkel noch nicht wieder die Hand gegeben, seit Edlefs
Hände den Sarg des Selbstmörders aufgehoben hatten.

Und ihr Freund, der junge Schulmeister Manne Wögens? Nein, die Ahne
verstand die Welt nicht mehr, und es war wohl »hohe Tid«, daß der
Herrgott sie abrief. Aber erst einmal sollte »Hochtid« sein.

Pastor Licht schritt die Steinstufen zum Mutterhof heran. Schon von
weitem hatte er einen Riesenschneemann leuchten sehen, und jetzt mußte
er über den ungefügen Kerl lachen, der mit schwarzen Kohlenaugen und
roten Ziegellippen grimmig dreinschaute und gar drohend einen festen
Knüppel schwang. Einladend sah das Ganze nicht aus.

An der Steinmauer, die das Gewese einfriedigte, hörte er Kinderstimmen.
Pastor Licht trat ein wenig zurück, denn nun sah er, daß Onnen und
Karen etwas Wichtiges vorhatten.

Die Kinder drehten dem Besucher den Rücken, die kleine Karen hatte
die hohe Friesenhaube der Mutter aufgesetzt und Onnen legte sich eine
große, schwarze Schürze wie einen Talar um. Zwei Schneegruben hatten
die Kinder gegraben, der große Spaten lag noch im Weg.

Die eine Grube war dicht an der Mauer, die andere unter dem prächtigen,
weitverzweigten Birnbaum, der eine Zierde der obstarmen Hallig war.
Karen stand vor dem Bruder. Auf ihren Armen ruhte eine längliche
Schachtel und in dieser eine alte, sehr häßliche Puppe, die vielfach
gekittet und geflickt, Spuren unheilbaren Leidens an sich trug. »Liebe
Gemeinde«, predigte Onnen. »Ich sehe es dir ja an, daß du diesen
elenden Selbstmörder unter dem schönen Birnbaum begraben willst. Aber
das kann rein nicht angehen. Wer will wohl so’n Kerl zum Nachbar haben?
Und der liebe Gott wird euch furchtbar böse werden. -- Unterm Birnbaum
da liegt ja Peter Witt, den sie immer den ›Dieb‹ nannten und Pieter
Martje, der seine Frau prügelte, aber sie bedanken sich schönstens, --
neben ’n Selbstmörder wollen sie auch nicht liegen. Also fort mit ihm
ans Mäuerchen. Amen.«

Damit packte Onnen die Puppe und warf sie in das Mauergrab.

Kläglich schrie Karen auf.

»Fix, Karen, spring nach«, gebot Onnen. »Jetzt kommt doch erst das
Schönste. Du bist doch die Mutter. Du wirst doch nicht leiden, daß
sie dir dein Kind an die Mauer legen. Man zu, -- jetzt begraben wir’s
unterm Birnbaum ...«

Karen hatte ihr Kind aus der Grube herausgerettet, aber nun schrie sie
Zetermordio und weigerte sich, es einem neuen Begräbnis auszuliefern.
»Nein, nein, Onnen, ich trag mein Kind in die warme Stube, dann wird’s
wieder lebendig. Dann brauch ich’s gar nicht herzugeben.«

Onnen war sehr mißmutig dieser schlagenden Logik gegenüber. »Du hast
gar keine Phantasie«, rief er voll Zorn der Enteilenden nach. Da legte
sich eine Hand auf seine Schulter und er sah dem Pastor ins ernste
Antlitz. Verlegen riß er sich den »Talar« herunter.

»Mein lieber Junge,« sagte Pastor Licht, »Mutterliebe ist besser als
Phantasie. Und deine Karen scheint mir eine rechte, echte Puppenmutter
zu sein. Aus denen werden dann die guten Menschenmütter«, setzte
er mehr für sich hinzu. »Nun zeig mir den Weg zur Ahne, mein Sohn,
ich muß mich ein wenig aufwärmen bei euch. Warm wird man nicht bei
Begräbnissen, ob man nun unter dem Birnbaum bettet oder am Mäuerchen
einscharrt.«

Onnen sah scheu nach dem Pfarrer hin. Die letzten Worte hatten gar
eigentümlich geklungen, und das Gesicht des Sprechenden sah finster aus.

Drinnen im Wohnpesel wartete die Ahne. Sie hatte sich rasch ihr
Gottestischkleid angezogen, um den Pfarrer würdig zu empfangen, aber
sie machte nur einen tiefen, altmodischen Knix, und ihre Hände, die
sich sonst immer so rasch dem Eintretenden entgegengestreckt hatten,
blieben krampfhaft verschlungen.

»Ich muß den Herrn Pastoren allein empfangen,« meinte sie förmlich,
»all meine Leute sind hilde zugange wegen der Hochzeit ...«

»Mir würde die liebe Ahne auch ganz allein genügen«, meinte Pastor
Licht. »Aber ich bin an ihr helle, freundliche Augen gewohnt, die immer
eine Lampe im Wohnpesel überflüssig machten. Wo sind die beiden guten
Lichtchen? Und darf ich meine zwei Hände nicht in Großmudder ihre
hineinlegen?«

Die alte Frau pflückte mit ihren Fingern und sah an dem Seelsorger
vorbei.

»Ich kenn mich nicht mehr aus, Herr Pastor«, sagte sie finster.

»Dann wollen wir beide recht ein Weilchen zusammenbleiben, Ahne.« Der
Pfarrer setzte sich geruhig auf die Ofenbank. »Ich denk, wir sind’s
beide wert, daß wir uns noch einmal wieder kennen lernen. Es wär doch
schade, wenn unsere schöne Freundschaft in die Brüche ginge.«

Die Ahne hatte sich in ihren Ohrenstuhl gesetzt. Das Spinnrad holte
sie, stellte es vor sich hin, netzte den Faden, und trug es ebenso
rasch wieder beiseite. Das grobe Strickzeug wickelte sie aus dem
Handarbeitskorb heraus, aber es lag dann müßig in ihrem Schoß. Da legte
sie es in seinen Behälter zurück.

»Ja, ja, Ahne«, sagte der Pfarrer ernst. »Ich kenne das. Wenn man
ärgerlich oder gekränkt ist, dann wollen die Finger zu keiner geruhigen
Arbeit taugen. In solchen Zeiten steck ich mir die Pfeife an. Aber der
Ahne fehlt solch Trostmittel ...«

»Weshalb um tausend Gotteswillen haben Sie so etwas getan, Herr
Pastor?« brach die Ahne los. »Wenn die Kirche erst mal nicht mehr
feststeht ...«

»Ach, die steht noch ganz fest, Ahne.« Fast leise sprach der Pfarrer.
Er wollte wohl nicht, daß irgend jemand der übrigen Bewohner etwas von
ihrem Gespräch vernehmen sollte. »Aber selbst wenn sie einstürzte,
liebe Ahne, würde unser Herrgott nicht um eine Wohnung verlegen sein.
Da ist z. B. das Herz Ihres Enkels Edlef, -- das gäbe ein gutes
Herrgottsstübchen ab ...«

»Ich verstehe das alles nicht, was der Herr Pastor da spricht ...«

»So will ich deutlicher werden, Ahne. -- Wir alle, und ich leider
Gottes an der Spitze, hatten neulich den lieben Gott verleugnet, --
jawohl, Sie auch, Ahne, -- ich kann nur ganz wenige ausnehmen, darunter
mein Luischen und Mutter Claußen, aber die war ja Partei ... Also da
hat sich der Herrgott nach einem Obdach umgesehen, und fand Ihren
Edlef. Aus dem heraus hat er mich dann bearbeitet, hat mir in einer
bitterernsten, schlaflosen Nacht gezeigt, daß ich tönendes Erz und
klingende Schelle sei, wenn ich nicht ganz rasch die Liebe und nur die
Liebe walten ließe. Ahne, ich wünsche jene Kampfnacht nicht meinem
ärgsten Feinde, wohl aber den Erkenntnismorgen, der darauf folgte,
jedem meiner Freunde. Ihr Enkel Edlef, liebe Ahne, sprach mir von
seinem toten Schulkameraden, und jedes Wort war Liebe, -- er zeigte mir
die unglückliche Mutter Claußen, und jedes Wort war Liebe. -- Ahne, ich
sag’s nicht als Entschuldigung, daß ich im Grunde des Herzens genau so
dachte wie der Edlef. Aber ich tat’s aus Gründen der Aufklärung, nicht
aus Liebe. Ich wollte der Gemeinde kein Ärgernis geben. ›Wehe dem,
durch den Ärgernis kommt.‹ Ach, die Bibel hat soviel Sprüche bereit,
und das Menschliche in uns holt diese sich gern zur Entlastung. Die
größte Sünde ist aber oft die Bequemlichkeit. Doch ich weiß genau,
liebe Ahne, Gott wird am Jüngsten Tage jeden Sünder, und wir sind’s
allzumal, fragen: ›Wo war deine Liebe?‹ Und dem, der viel liebte, wird
viel vergeben werden. Wer aber bei Guttat oder Sünde ganz ohne Liebe
war, -- -- über den wird der Herrgott sein ›Wehe‹ rufen.« --

»Das hört sich gut und christlich an, Herr Pastor. Aber wozu sind
Eltern und Großeltern da? Hätte Mutter Claußen nicht wie in einen
goldenen Kelch in ihren Peder geschaut, und die Rute nicht nur zum Spaß
hinter dem Spiegel gehabt, -- dann wär die Todsünde nicht geschehen.«

»Ihr Frauen, ach, ihr Frauen!« Pastor Licht wiegte den Kopf hin und
her und fuhr sich dann unmutig durch sein volles, graues Haar. »Ihr
könnt inwendig die Güte selbst sein, könnt anderer Leid heben und
tragen in völliger Selbstüberwindung. Und dann wieder seid ihr so
hart. Ruft ›Todsünde‹ aus, wo ihr leicht ebensogut ›Schwachheit‹ sagen
könntet.«

»Selbstmord ist Todsünde«, beharrte die Ahne. »Und der Herr Pastor
tut nicht gut, an diesem alten Friesenglauben zu rütteln. Wir auf dem
Mutterhof bleiben bei der alten Lehre. Ich hab dem Enkel Edlef noch
nicht die Tagszeit geboten seit jenem Unheilstag, und geh auch nicht zu
Mutter Claußen zur Kondolenz.«

Traurig und zornig sah Pastor Licht die Ahne an. »Hätt’s nicht
geglaubt«, sagte er nach langer Pause. »Hab’ noch neulich bei einer
Visitation erzählt, daß die Ahne nicht nur die älteste Frau auf unserer
Hallig, sondern auch die gescheiteste und -- die frömmste sei. Ich
weiß, daß Sie ein paarmal die Bibel durchgelesen haben, weiß, daß
Sie mehr als einmal das Kapitel vom Zöllner und Sünder durch- und
durchdachten. Und nun sitzt die Ahne doch da und schlägt sich an die
Brust ...«

»Weiß schon, was Sie sagen wollen, Herr Pastor, und bedank mich schön
für den ›Pharisäer‹. Aber in diesem Punkt kommen wir nicht auf gleich.
Das ist vielleicht in Ihrem Thüringen anders ...«

»Ach nein, liebe Ahne, -- so arg dürfen Sie sich nicht überheben,« fiel
der Pfarrer mit gutem Humor ein. »So bockbeinig wie Sie sind meine
lieben Thüringer noch allemal. Da haben Sie auch nicht das geringste
voraus.«

Die Ahne sah ihn unsicher an.

Pastor Licht stand auf. »Ich gehe jetzt, Ahne. Es war ein Metzgergang
und sollte doch ein schöner Friedensgang werden. Nein, nein, -- laßt
Eure Hände ruhig im Schoße liegen und quält Euch nicht damit, mir sie
widerwillig zu reichen. Ich möchte sie jetzt gar nicht nehmen. Erst
wenn Ihr recht davon überzeugt seid, daß auch der Mutterhof irren kann,
und Ihr Euch noch einmal recht von Herzen wünscht, neben Peder Claußen
auf dem Friedhof gebettet zu werden, -- dann Ahne ...«

Die alte Frau fuhr in fast jugendlichem Ungestüm auf.

Dann legte sie ihre Hände doppelt fest ineinander. »So darf sich unser
Herr Pastor nur das Warten nicht verdrießen lassen«, sagte sie steif. --

Da ging der Pfarrer mit wuchtigen Schritten hinaus.

Auf dem Deich begegnete ihm Edlef Holgers. Er hatte alle Kerzen der
Welt in seinen blauen Augen und wohl noch die ganze Süßigkeit auf den
Lippen, die ihm Maren Wögens auf den Weg mitgegeben hatte.

»Guten Tag, Herr Pastor, immer gut zu Wege?« rief er dem Seelsorger
strahlend zu.

»Der Weg ist nicht so arg gut«, gab dieser grimmig zurück. »Bin rascher
vom Mutterhof weggekommen, als ich hinkam bei dem beschwerlichen
Schneewetter. Aber die Ahne ...«

Die Lichter in Edlefs Bräutigamsaugen waren mit einemmal ausgeblasen.

»Die Ahne ist ein Dickkopf«, brach er los. »Gott verzeih mir das Wort.
Sie hat mich heut aus dem Haus vertrieben, wo ich so notwendig war. Die
Hand gibt sie mir nicht, das Wort gönnt sie mir nicht ...«

»Dickköpfe seid ihr Holgers all«, brummte der Pastor. »Seid allen
Halligbauern darin über. Denn mit denen bin ich schon wieder auf
gleich, nur mit Mutter und Ahne noch nicht. Und werd’ es auch nicht.
Das sitzt zu verbohrt. -- Wird eine nette Hochzeit werden, Edlef, wenn
wir alle so vergritzt sind. Nun, ich geb’ euch zusammen und bleib dann
still in meiner Studierstube ...«

»Das tut uns der Herr Pastor Licht nicht an«, sagte Edlef dringend.
»Eine Hochzeit auf dem Mutterhof ohne den Seelsorger auf dem
Ehrenplatz, das gibt es doch nicht.«

»So leuchte ein bißchen in die verstaubten Ecken hinein, hast ja
Liebe genug in dir, gelle?« rief Pastor Licht und kam stark in seine
Thüringer Mundart hinein, wie immer, wenn er erregt war.

»Die Liebe hab’ ich, Herr Pastor, die hab’ ich«, rief Edlef. »Ach, die
Maren, meine Maren, -- sie macht einen ja völlig zum guten Menschen.«

»Da hat sie freilich bei Edlef Holgers schwere Arbeit«, neckte der
Pfarrer. »Sorg nur, daß dein junges Weib geehrt wird, Edlef. Sie
springt so ahnungslos in eure Traditionen hinein, -- laß sie drin
schwimmen, aber nicht ertrinken, Edlef.«

»Da sei Gott vor, Herr Pastor, ich weiß schon, was Sie meinen. Aber sie
kommt auch aus einem Hause mit schönen Überlieferungen und wird gut
in den Mutterhof passen. Sie sagte mir heut etwas von ihrer seligen
Mutter, -- das Wort hat mich froh gemacht für den ganzen Tag.«

»So gib mir von deiner Freude ab, Edlef, ich kann sie für den Heimweg
brauchen.«

Edlef lachte glücklich.

»Die Maren sagte mir, -- in der Freude wollt sie mein _Weib_ sein, im
Leid meine _Mutter_.«

Da drückte ihm Pastor Licht die Hand. »Ihr geht einen guten Weg, Edlef
und Maren«, sagte er gütig. »Das ist ein prächtiges Wort und ein
prächtiger Schlag, in dem solch Wort geboren wird. Glück auf, Edlef
Holgers! --«

Er verabschiedete sich grüßend, und Edlef sah ihm eine gute Weile nach.
Dann ging er mit ausholenden Schritten zur Großwarf in den Mutterhof.
Onnen und Karen liefen ihm entgegen und hingen sich an den großen
Bruder.

»Der Herr Pastor war da«, berichtete Onnen.

»Und wir haben Selbstmörder gespielt«, setzte Klein-Karen hinzu.

»Wer?« fragte Edlef. »Ihr und der Pastor? Was für ein närrisches Spiel!«

»Nein,« seufzte Onnen, »nur ich und Karen. Aber sie hat keine
Phantasie.«

»Und, und, und da hat der Herr Pastor gesagt,« fiel Karen stürmisch
ein, »Mutters brauchten nicht so’n Zeug, die hätten _Liebe_.«

Da hob der große Edlefbruder die kleine Karenschwester hoch in die Luft
und rief: »Hurra, unser Pastor!«

Die Kinder riefen es ihm nach, auch der überstimmte Onnen, und
ihre hohe Fröhlichkeit hätte wohl noch lange angehalten, wenn die
Mutter nicht mit ihrem grämlichsten Sorgengesicht auf der Bildfläche
erschienen wäre.

»Ich versteh dich gar nicht mehr, mein Edlef«, klagte sie. »Da ist hier
hildeste Arbeit und du läufst fort wie der Marder vom Taubenschlag. Und
wenn man die Kinder glücklich vor den Füßen weg hat, dann bringst du
sie wieder herein und machst Kakeleia mit ihnen. Und wenn man seinen
Ärger mit dem Herrn Pastor knüppeldick gehabt hat, dann rufst du Hurra
auf ihn.«

»Ach, Mutter, geht’s schon wieder los?« fragte Edlef seufzend und
setzte sich still in eine dunkle Ecke an den Ofen.

»Wärst du dagewesen, Edlef, hätten wir den Trauspruch besprechen können
mit dem Pastoren. So hat er nur mit der Ahne geklöhnt, und mich haben
sie ganz außen vor gelassen.«

»Unsern Trauspruch weiß der Pastor schon, Mutter. Den haben Maren und
ich uns ausgesucht und ihm hingebracht.«

»Da bin ich aber doch begierig ...« Mutter Holgers sah sehr mißmutig
darein. »Denn da gibt’s gar nichts auszusuchen. Der Spruch selbst steht
vom Ururgroßvater her schon fest für den Mutterhof. Er heißt: ›Seid
fruchtbar und mehret euch.‹«

Edlef stand auf und klopfte ihr begütigend auf die Schulter. »So wird’s
hohe Zeit, daß einmal ein anderer schöner Spruch Geltung bekommt. Die
Holgers sind doch keine Juden? Denen hat der Spruch einst gegolten.
Mein feines Mädchen soll ihn nicht hören am heiligen Altar.«

»Meinst, was für deine ganze Sippe heilig war, ist für die
Schulmeisterdeern nicht gut genug?«

Beinahe hätte Edlef herausgerufen: »Ja, das mein ich.« Aber die
jauchzende Liebe zu seiner Maren erstickte im voraus jedes Ungute in
ihm. So schluckte er den Groll hinunter und lenkte ab. »Mutter, unser
Spruch heißt: ›Freuet euch! Und abermals sage ich euch: Freuet euch!‹«

»Arg heilig dünkt mich der Spruch nicht. Steht er wohl auch in der
Bibel?« fragte die Mutter kopfschüttelnd. »Und schrickt dich nicht die
Unterlassungssünd’? Frauke Holgers hat auch den uralten Spruch nicht
haben wollen, -- nun du weißt, wie es ihr erging.« --

»Mutter, meinst du, daß sich der Herrgott nach Mutterhofes Sprüchen
richtet?« fragte Edlef unmutig.

»Ja, das mein’ ich just,« rief Mutter Holgers hell und hart. »Und ich
hab’ manches erlebt auf unserm Gewese. Jetzt stehst du da, als ob dir
nichts mangeln könnt, aber wie wird’s sein, wenn Maren unfruchtbar sein
sollte? Du bist ein selbstgerechter Holgers, ich kenne die Art. Und
deshalb sage ich: _Der alte Spruch muß her._ --«

So viel hatte die Mutter seit Gedenken nicht gesprochen, und sie
wendete sich jetzt auch fast erschrocken über sich selbst ab. Edlef sah
sie erstaunt an.

»Warum ihr nur alle so unkt«, lachte er voll Zuversicht. »Mir hat mein
Lebtag kein Faden wehgetan, und die Maren ist jung und gesund.«

»Die Maren ist gottsunmöglich zart«, eiferte die Mutter. »Ein
Stadtmadämchen, kein deftiges Halligkind. -- Der mag wohl der
neumodische Spruch recht sein. ›Freuet euch, freuet euch!‹ Und auf
solchen Juchhei wollt ihr einen heiligen, ernsthaften Ehestand
aufbauen? Was gibt es denn zu freuen auf dieser Jammerwelt? Ich möcht’s
wissen ...«

Da legte der Haussohn seinen Arm um die Mutter und führte sie ans
Fenster, das er weit öffnete. Da lag die Hallig im vollen Abendglanz
der untergehenden Sonne. In Glut stand der Himmel über der salzen
See. Golden waren die Wolken umrandet, und die Mondsichel trat
schwachsilbern heraus. Wie rote Lohe lag’s auf der Schneelandschaft,
die Priele glänzten, und fern donnerte der blanke Hans gegen das
Gestade.

»Weil unsere Heimat so schön ist, Mutter«, sagte Edlef Holgers. »Weil
ich _dich_ gesund bei mir habe und die Ahne. Weil Vater mir den
›Mutterhof‹ so stattlich hinterließ, all darum freu ich mich. Und weil
ich einen treuen Freund habe und ein treues Mädchen, darum ist’s schön
auf dieser Erde.«

Und als ihr verdrossenes Gesicht sich kaum veränderte, zog er die
Mutter in einer scheuen Zärtlichkeit zu sich heran: »Könnt ich dir doch
Freude geben! Das blüht alles in mir und ist voll Sonne. Du sollst
nicht im Schatten stehen, Mutter.«

Da blieb Mutter Holgers eine ganze Weile still an ihn gelehnt. Und es
war ihm, als schmiege sich ihr Kopf mit dem glatten Braunscheitel,
in den sich schon weiße Haare mischten, freiwillig fester an seine
Brust. Wie Ruhe suchend nach des Tages Mühsal und Einerlei. Aber das
ging rasch vorüber. Verwirrt sagte die Mutter: »Jung, du büß wull rein
dörchdreit.«

Aber es klang nicht böse, nicht einmal unwirsch. Und ein Etwas
schwang mit in diesem Ausruf, das Edlef noch nie an seiner herben,
unzufriedenen Mutter wahrgenommen. Da rief er noch einmal Hurra durch
das offne Fenster, all sein Ernst war verflogen, er war nur der
überglückliche Sohn und Hochzeiter.

»Du spielst wohl ›Unklug‹?« fragte die hereintretende Ahne. »Was soll
das sperrangelweite Fenster?«

»Den Staub jag ich heraus«, rief Edlef. Und er faßte die Ahne um und
reigte langsam mit ihr und sang mit schallender Stimme: »Wer die Heimat
nicht liebt und die Heimat nicht ehrt, ist ein ›Llllump‹ und des Glücks
seiner Heimat nicht wert.«

»Halt auf, Edlef,« rief die Ahne, »ik war jo ganz beswiemelt.«

Und sie sah auf die lachenden Kinder und in lachende
Dienstbotengesichter, die zur offenen Tür hereinschauten, um die
fünfundachtzigjährige »Frau Mutter« tanzen zu sehen. Da wollte sie
schelten, aber sie konnte es nicht. Denn der Edlef sah so strahlend
aus, und auf dem sonst ewig grämlichen Gesicht der Mutter Holgers lag
ein letzter Sonnenschimmer und verklärte es. --

»Geht an die Arbeit«, gebot die Ahne. Und sie drohte Edlef mit dem
Finger und ging mit seiner Mutter aus der Stube. Die sah den Sohn gar
nicht an.

Er aber lachte hell hinter ihnen drein.

       *       *       *       *       *

Noch am Abend desselben Tages kamen Ahne und Mutter in Edlefs Stübchen.
Drin saß der Enkel und las in seinem Lieblingsbuch »Friedrich der
Große«. Die Ahne streifte es scheu mit einem Blick. Ihr hätte die Bibel
passender für einen Hochzeiter gedünkt.

Er sah erstaunt auf ob des ungewohnten Besuches, der mit einer gewissen
Feierlichkeit eingetreten war. --

»Mein Edlef,« sagte die Ahne mit nicht ganz fester Stimme, »Mutter und
ich wollen dich fragen, ob du ein echter Halligbauer bist?«

»Der bin ich, Ahne und Frau Mutter, zweifelt ihr daran?«

Ein erleichtertes Aufatmen hob die Brust der Ahne.

»Mein Edlef,« begann sie wieder, »es ist unsere Pflicht und unser
Wunsch, daß deine Hochzeit auf alte Halligart gefeiert wird ...«

Ein wenig runzelte Edlef die Stirn und um ein weniges verfärbte er sich.

»Ich weiß,« sagte die Ahne, »daß dem Jungvolk der alte Zopf nicht mehr
genehm ist. Vielleicht rümpft auch die Braut die Nase und sieht scheel
auf alte Gebräuche. Sie ist kein reines Halligblut ...«

»Der kennt meine Maren nicht, der meint, sie achte nicht
Überlieferungen«, sagte Edlef rasch. »Aber da ist manches, was gar
nicht mehr in unsere Zeit hereinpaßt ...«

»So meint _ihr_. Aber der Mutterhof hat seine Ansicht für sich.«
Die Stimme der Ahne zitterte. »Für mich würd’ es Schmach bedeuten,
brächtest du dein junges Weib auf neumodsche Art unter dein Dach. Als
hätt’ euch der Kuckuck getraut ...«

Sie legte einen Augenblick, wie in Schwäche, die Hand über die Augen.
Dann wandte sie sich zum Gehen. »Willst du Bedenkzeit, Edlef? Du
hast nur wenige Stunden dazu. Morgen mit dem frühsten müssen die
Hochzeitsbitter fort. Ohm Rickert wird dir in allem zur Seite stehen
als nächster männlicher Verwandter. Soll ich ihn dir schicken?
Oder ...« Sie sah ihn unsicher an.

Da legte er den Arm um sie und umfaßte zugleich die Mutter. --

»Ahne und Frau Mutter, macht mit uns, was ihr wollt. Nur zusammen tut
uns, meine Maren und mich. Aber wenn ich euch nachgeb’, dann müßt ihr
mir auch zu Willen sein und Frieden mit dem Pfarrer machen ...«

Die Großmutter sah ihn ernst an.

»Noch bin ich die Ahne«, sagte sie herb. »Und noch lebt deine Mutter.
_Du_ bist _Jung_-Edlef, vergiß das nicht ...«

Dann war er allein. Verblüfft sah er ihnen nach. Aber der gute Humor
behielt die Oberhand. »Sie meint’s gut«, rief er sich selbst zu. »O du
meine feine Maren, wie wirst du erschrecken, wenn all das närrische,
alte Halligtreiben über dich hereinbricht. Aber sollt ich der Ahne weh
tun? Und der Mutter? Und auf meinem Kopf bestehen?«

Er stellte sein Buch in das schlichte braune Regal zurück, nicht ohne
vorher liebevoll über die Seiten zu streichen.

»Du Großer! Wie hast _du_ dich ducken müssen! Wie hat man dich
geknechtet und gequält! Geschlagen und geschunden! Und doch bist
du immer wieder zum harten Vater gekommen und hast um Verzeihung
gebeten, weil du streng das vierte Gebot hieltest. ›Auf daß es dir
wohl gehe ...‹ Ja, du warst wahrlich ein _Großer_! Und als man deinen
liebsten Freund vor deinen Augen erschoß -- -- selbst da bliebst du
groß, einzig! Und auch der tote Freund hinterließ dir nur das Wort
›beuge dich!‹ -- Und ich, -- ich Kleiner, ich ›Wittenslicht‹ sollte
aufbegehren?«

So philosophierte Edlef und philosophierte sich »bei klein« in seinen
guten Anzug hinein, denn er mußte ja nun notwendig noch einmal zu
Maren, um die neue Hochzeitsordnung mit ihr zu besprechen. --

       *       *       *       *       *

Andern Tags in aller Frühe kamen die Hochzeitsbitter mit eilfertigen
Riesenschritten zu den angesehensten Halligbauern gelaufen. Sie
schwenkten ihre Stäbe und riefen vor der Haustür mit gellender Stimme:
»Göh Dai! Göh Dai!« (Guten Tag, Guten Tag!) Dann öffneten sie selbst
die Stubentür, und kaum verständlich schrien sie gleichzeitig ihre
Einladung heraus: Edlef Holgers und sin Brud Maren Wögens leht Jam
badde Datt am söh wohl dühn en kamme en Freidai en fuhn watt Deerds mä.
Fahre wohl, kam fliitig tho öhs.[1]

    [1] Edlef Holgers und seine Braut Manne Wögens lassen euch
        bitten, daß ihr so gütig seid und kommt auf den Freitag und
        nehmt das Mittagmahl mit ihnen. Gehabt euch wohl! Kommt
        fleißig zu uns!

            Anm. der Verfasserin (nach Jensen.)


Ganz rasch entfernten sie sich wieder, nachdem sie den Dank der
Eingeladenen zugerufen bekommen hatten. Auf der Schulwarf aber wurden
sie mit einem Ehrenschuß begrüßt, was der eine mit einem zierlichen
Tanz erwiderte. Denn Manne Wögens hatte viele Freunde unter den Eltern
und Kindern, und man freute sich, daß seine feine Schwester auf
den reichen Mutterhof kam. So tat die Nachbarschaft der Schule der
Einladung alle Ehren an, die der alte Brauch heischte.

Maren saß etwas blaß im Wohnstübchen des Lehrerhauses. Der Bräutigam
und seine Schwester Nomine waren ihre Frühstücksgäste, und Bruder
Manne hatte eben um elf Uhr seine kleinen Studenten entlassen und
konnte sich nun den Gästen widmen. Das gellende »Göh Dai, göh Dai« der
Hochzeitsbitter drang auch ins Schulhaus und Maren fuhr zusammen.

»Verzeih«, sagte sie gleich darauf lieblich bittend zu Edlef. »Ich bin
nicht städtisch-schreckhaft, -- es ist nur -- ich bin’s nicht gewohnt,
Mittelpunkt irgendeiner großen Veranstaltung zu sein.«

Sie barg ihren Kopf an Edlefs Schulter.

»Hört, hört«, rief Manne Wögens. »Als ob sie nicht seit vielen Jahren
der Mittelpunkt meines Hauses ist. Aber Bruderliebe wird nicht für voll
gerechnet ...«

Gleich hing sie an seinem Halse. »Wie du so reden kannst ...«

Er führte sie lachend wieder zum Bräutigam. »_Da_ ist dein Platz. Ruh’
dich nur aus, Kleines. Denn in den nächsten Tagen hast du nicht viel zu
sagen, trotzdem du die Hauptperson bist. Nichts als dein _Ja_. Sprich
es hübsch deutlich, sonst sagen die Bauern, du seist gezwungen worden.
Sprich’s aber auch nicht zu laut, und steh’ nicht zu rasch aus dem
Gestühl auf, wenn Edlef seine Verneigung macht, denn sonst sagt man dir
nach, du könntest die Zeit nicht erwarten.« -- Er lachte behaglich.
»Ach, die lieben, alten Bräuche! Ich bin der Ahne dankbar, daß sie sie
aufleben läßt. Das ist was für mein altes Schulmeisterherz.«

»Nun für meins nicht«, warf Nomine Holgers hart dazwischen. »Ich finde
alles barbarisch. Ganz böse bin ich mit Edlef-Bruder, daß er der Ahne
nachgab und seinen Schatz so quälen läßt.«

Edlef sah die Schwester betroffen an, und Maren wehrte ihr ängstlich.
»Nennst du das Quälerei?« fragte Edlef. »Ich hab’ es mehr als lustige
Komödie aufgefaßt, die mir eigentlich nicht recht zu passen schien auf
meines Herzens Feiertag. Aber, wenn Ahne und Mutter nicht zu alt sind
zu diesem Mummenschanz, warum sollen wir Jungen uns sträuben? Ich tue
Ahne und Mutter einen Liebesdienst und bin Maren dankbar, daß sie mir
dabei hilft.«

»Kaum einer tut’s noch auf der Hallig«, sagte Nomine. »Aber
ausgerechnet der Mutterhof muß immer was Besonderes haben. Wer soll
damit aufräumen, wenn wir’s nicht tun. Und wann wird’s endlich
geschehen?«

»Wenn Sie einmal Ihren Stadtprofessor heiraten, Fräulein Nomine«,
entgegnete Manne Wögens ernst. »An dem Tage bringt der Postschiffer
eine gedruckte Karte nach der Hallig, die meldet uns, daß Sie in Kiel
oder sonst in einer Großstadt auf dem _Standesamt_ waren. Im modischen
Kleid und Hütchen. Ohne ›Geschmeide‹, ohne ›Koost‹ am Vorabend, ohne
›Kuckuck- oder Schustertanz‹. Kurz, ohne jede ›Barbarei‹.«

»Wie Sie gut Bescheid wissen, Manne Wögens.«

»Dafür bin ich Schulmeister. Immer wohl vorbereitet, wie sich’s
gehört.« Nur Nomine hörte die Bitterkeit aus den Worten, dem Brautpaar
schien alles Scherz zu sein.

»Also, Edlef, ich verstecke dir morgen die Braut nach allen Regeln der
Kunst.« So der Lehrer. »Kannst von Glück sagen, wenn du sie überhaupt
findest.«

»Auf dem Oberboden, hinter der großen Truhe hocke ich«, flüsterte Maren
dem Schatz errötend zu. »Komm nur rasch hinauf, es gibt Mäuse zum
Bangewerden viel da oben.«

»Du Herzlieb«, raunte Edlef zurück. »Alle Stufen nehm ich auf einmal.
Ach, daß du so gar nicht der Ahne zürnst ob all der Narretei.«

»Nenn’s doch nicht so«, bat sie herzlich. »Du bist doch ein
Halligbursch. Ich rechne alles zu dem ›Weg‹, der zum Glücke führt.
Nicht das Ziel allein, der Weg ist auch so schön.« Er sah sie selig an.

»Wenn ihr wieder auf Mutter Erde seid, wollen wir gehen«, weckte Nomine
sie auf. »Komm pünktlich morgen abend zur ›Koost‹. Und bringt einen
Halligmagen mit. Pudding und Saftsuppe, Schinken und Weißbrot gibt es.
Auch darin will die Ahne der Neuzeit keine Zugeständnisse machen.«

»Nein,« lachte Manne Wögens, »dann wäre sie nicht die Ahne. Sie hält
die Halligkost für sinniger und schöner als einen Stadtpolterabend, und
ich weiß, sie wird eigenhändig für ihren Edlef dem Festschinken die
Schwarte abziehen und in das weiße Fett den Namenszug des Brautpaares
mit Pfefferkörnern drücken. Und ich wette, das rote Seidenband liegt
bereit, um den hervorstehenden Schinkenknochen mit einer Schleife
zu zieren. -- Und meine Schwester Maren wird den schönsten Mastbaum
vor dem Hochzeitshause finden und alle Ehren werden ihr von der Ahne
widerfahren.« --

Nomine sah den Sprecher erstaunt an. »Sie sagen das alles, als wären’s
besondere Taten. Warum kann ich mich für all dies Abgestandene nicht
begeistern?«

»Weil Sie angekränkelt von der Stadt sind«, antwortete Manne.
»Sie haben Ihre schöne Halligruhe verloren. Alles was aufhält und
nicht vorwärts hastet, macht Sie nervös. Die alten Bräuche fordern
Besinnlichkeit. Die haben Sie über Bord geworfen, als Sie Prinzessin
wurden.«

»Sie sind ja nett drin im Dozieren, Schulmeister Wögens,« lachte Nomine
gezwungen auf. »Wissen Sie auch, daß Sie bar jeder kleinen Höflichkeit
gegen mich sind?«

Dem Lehrer schlug eine Lohe übers Gesicht.

»Und darf ich Sie, Nomine Holgers, daran erinnern, daß Sie mir vor
Jahren einmal sagten: Wenn du jemals höflich zu mir wirst, Manne
Wögens, dann werf’ ich dich zur Flutzeit in den Priel?«

Sie schwieg betreten.

»Was Sie für ein Gedächtnis haben«, sagte sie ablenkend. »Und immer für
alles Dumme, was ich je gesagt.«

»Ohhh! Sie haben doch nach Ihrer Meinung auch viel Gescheites gesagt.
Auch _das_ habe ich nicht vergessen, -- und werd’s nie tun. Hören Sie?
_Nie_!« Er sah sie fest an.

»Dafür hab ich’s ja auch einstmals gesagt«, gab sie rasch und
feindselig zurück.

Nun standen alle auf. Maren sehr bestürzt, daß die zwei lieben Menschen
so erregt die Klingen kreuzten. Sie legte begütigend ihre Hand auf den
Arm des Bruders. Da lachte er.

»Ohne Sorge, Lütten! Fräulein Nomine und ich sind immer Kampfhähne
gewesen. Die tun nicht gut zusammen im kleinen Halligpesel ...«

Einen Augenblick nur legte Nomine ihre Hand in die Rechte des Lehrers.
Auch Edlef verabschiedete sich rasch, denn er merkte, da wollte nichts
Friedliches mehr aufkommen. Fest umschloß er Marens Hand und sagte, sie
zärtlich anschauend: »Morgen abend zur Koost!«

       *       *       *       *       *

Zwei Tage darauf blaute ein klarer Himmel, so recht der siebente
Himmel, auf die Hallig nieder. Maren war schon früh aufgestanden und
rieb sich die Augen. War noch ein wenig müde von dem vorhergegangenen
Abend. Hin- und Rückweg waren beschwerlich gewesen bei dem Frost.
Aber hell hatte der Mond geschienen und im Mutterhof war groß Freuen
gewesen. Von den Nachbarwarfen hatte niemand gefehlt, ja selbst Vadder
Luersen war von der Schulwarf gekommen, hatte aber nur still und
bedrückt hinter seinem Glase Wein gesessen, mit Ohm Rickert zusammen.
Und dieser hatte mit Kreuz- und Querfragen aus ihm herausgeholt, daß
Akke eine »staatsche« Hamburger Agentenfrau sei, deren ältlicher Mann
sie in Samt und Seide wickle. Akkes Mutter sei augenblicklich auch in
Hamburg, um das unerhörte Glück der Tochter zu beaugenscheinigen, und
deshalb habe er sich zur »Koost« freigemacht, um endlich einmal aus
»all dem Lüttkinner- und Weegenkram« herauszukommen.

»Dat’s recht, Nahwer Luersen.« Und die ganze »Koostversammlung« hatte
mit dem stillen Manne angestoßen. -- Maren wußte längst, daß die
erste Braut ihres Edlef Akke Luersen gewesen war. Aber sie sah mit so
klaren Augen in die Welt, daß auch nicht der Schatten eines Mißtrauens
ihr Herz beschwerte. Dem geliebten Manne all das Unbehagen des ersten
Verspruches vergessen zu machen, war ihr einziger Wunsch. --

An diesem Frühmorgen ihres Hochzeitstages, da der Bruder drüben noch
schlief, überdachte sie noch einmal den gestrigen Abend, dachte an den
alten Tanz, den zwei Halligburschen und zwei Halligmädchen der Ahne
zulieb und ihr selbst zu Ehren ausgeführt hatten. Der Vorsänger hatte
dazu das »Kuckuckslied« angestimmt:

    »De Kuckuck över Thore steiht, de floggt to de Goolsmaats Hus,
    Herr Goolsmaats, no mag mi um en Kroonzelein.
    Mags du mi en smukken Kroonzelein,
    So kommst du mit to Koost.«[2]

    [2] Der Kuckuck auf dem Turme steht, der fliegt zum
            Goldschmieds Haus.
        Herr Goldschmied, machst du mir um ein Kränzelein.
        Machst du mir ein schönes Kränzelein,
        So kommst du mit zur »Koost«.

            Anm. d. V. (nach Jensen.)


Und die vier Tänzer hatten sich kreuzweise ihre Hände gereicht und sich
immer auf demselben Fleck gedreht und geschwungen, und über der Ahne
altes Gesicht war ein helles Leuchten gegangen. -- Maren dachte mit
hoher Freude an dieses Leuchten und daß sie in ein Haus voll alter,
schöner Bräuche kam. --

Jetzt hörte Maren, wie drüben der Bruder aufstand, und sie warf rasch
ihr schlichtes Hauskleid über und breitete den Hochzeitsstaat auf
ihrem Bette aus. Liebevoll strich sie über das schwarze Atlasgewand.
Sie hätte sich wohl auch gern in schneeiges Weiß gehüllt, aber der
vor ihr liegende schöne Stoff stammte vom Brautkleid ihrer Thüringer
Mutter. Das hätte Maren nun und nimmer verschmäht. Die Mutter war aus
einer alten Organisten- und Lehrerfamilie hervorgegangen, und über
Marens geblümtem Zitzsofa hing die lange, stattliche Ahnenreihe in
Schattenrissen und Wasserfarbenbildern. Das eine Bild trug sogar ein
Lorbeerkränzlein. Das war der Magister Krischan Haage aus Eisenach, der
sogar dem Johann Sebastian Bach einmal -- die Bälge getreten hatte.

Draußen ging die Haustür, man hörte einen Freudenausruf der Magd, und
nun trat Maren ans Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Da ragten zu
beiden Seiten des Schulhauses zwei hohe Mastbäume mit wehenden Fahnen,
umkränzt von dunklem Tannengrün. Maren wurden die Augen feucht und
ihre Hände falteten sich. Gestern abend hatten die Bäume noch nicht
gestanden, -- welche Heinzelmännchen waren da tätig gewesen? Und wie
hatte sie jedes Geräusch so verschlafen können? Das machte wohl die
innere Ruhe, die ihr das sichere Glück von Edlefs Besitz gab. Edlef
Holgers! Wie sie ihn liebte! Ganz Friesin wollte sie werden, ganz
Halligfrau. Ahne und Mutter wollte sie betreuen, und der Mutterhof
sollte wachsen unter ihrer fleißigen Hand.

Wieder ging die Haustür, und Schritte kamen die Treppe herauf an ihre
Kammer. Dann sah sie in ein gütiges Frauenantlitz. »Tanten Frauke!«
rief Maren erfreut.

»So scheine ich ja das Rechte getroffen zu haben«, sagte diese und
schüttelte Marens Hand. »Ich wollte nicht, daß die Magd dich ankleiden
sollte, und im Mutterhof hat man doch alle Hände voll zu tun. Nimm die
Alte einstweilen als Brautführerin, willst du?«

»Niemals könnt ich mir eine Liebere wünschen.« Sehr herzlich klang
Marens Stimme. »Eine Mutter hab’ ich nicht mehr, und Mutter Holgers
stellt sich noch fremd zu mir ...«

Tanten Frauke begann Maren die Hochzeitsstrümpfe und festen
Schnallenschuhe anzulegen.

»Weil deine Mutter Ausländerin war«, begütigte sie. »Das begreift
und verzeiht so rasch kein Halligeingeborener. Ich hab’s am eigenen
Leib erfahren. Und doch kommt’s der Hallig zugute, wenn wir fremdes
Blut hereinbekommen ... Aber ist das auch ein Gespräch am heiligen,
frohen Hochtidmorgen? Vor allen Dingen wollt ich dich nicht allein
lassen, mein Deern, wenn der Bräutigam dich suchen kommt. Es wird ein
tüchtig Ringen abgeben, die Burschen von der Schulwarf halten bannig
Widerstand. Sogar die großen Schüler von deinem Bruder haben sich zu
den ›Junggastern‹ gesellt.«

»Der arme Edlef! Wie muß er mich sauer verdienen!«

»Das schadet nichts«, lachte Tanten Frauke, und Maren sah erstaunt,
wie das verhärmte Gesicht der Einsamen sich in der Freude lieblich
verklärte. »Kind, Kind, was hatten in früherer Zeit die Mannsen auf
unserer Hallig auszustehen, ehe ihnen die Braut zugesprochen wurde. Das
war so schlimm, daß einmal ein Brüjam noch vor der Kirchtür umgekehrt
ist. Zerrungen und verprügelt kam er dort an und sollte nun noch über
ein hochgespanntes Seil springen. ›Ne, dat is se mi nich wert‹, hat er
gesagt, und ist heimgegangen. Freilich mußte er auch gleich sein Bündel
schnüren und auswandern, sonst hätte man ihn gefemt.«

»Und die arme Braut?« fragte Maren teilnahmevoll.

»Kind, die nahm einen andern. Am selben Tag, ja zur selb’ Stund’
war ein Ersatz da. Ich bitt’ dich, Kind, -- man will doch das
Hochzeitsessen nicht umsonst gekocht haben.«

Maren wußte nicht, ob das Ernst oder Scherz oder Bitterkeit war.
Tanten Frauke hatte den Kopf zur Erde geneigt und nähte am Saum des
Hochzeitskleides ein paar Stiche. --

»Und sind sie glücklich geworden?« fragte Maren beklommen.

»Glücklich? Kind, Kind, nimm keine überspönigen Stadtbegriffe hier
auf die Hallig mit. Sie haben _ehrbar_ miteinander gelebt, das ist
Glück. Sie haben viele Kinder geboren, so viele, daß die Eltern über
dem Jüngsten den Ältesten aus den Augen verloren. Aber sie nennen es
›Glück‹. Was aber du und dein Edlef Glück nennt ...«

Tanten Frauke schwieg, und ihre Lippen waren weiß, so fest schlossen
sie sich aufeinander.

Nun hob sie den Brautkranz aus künstlichen Myrthen hoch, daran der
zarte Schleier befestigt war. Schon etwas gelblich angehaucht schien
das duftige Gebilde, denn von der Hochzeit der Mutter her lag es in
wohlverwahrter Truhe. Aber die breite Kante ringsherum war feinste
Nadelarbeit, und Tanten Frauke prüfte sie in ehrlicher Bewunderung. Ein
helles Rot der Freude schoß in Marens zartes Gesicht. »Ich bringe ja
dem Edlef so gar nichts mit,« gestand sie zagend, »aber dieser Schleier
ist mit fünftausend Mark eingeschätzt worden, es ist mein Stolz ...«

»Du Närrlein! Dein Thüringer Herz ist ebenso viele Millionen wert.
Aber für die Ahne und besonders für Edlefs Mutter schadet es nichts,
wenn ich die Tatsache im Mutterhof ein wenig verbreite.« Tanten Frauke
stellte sich prüfend vor die Braut hin. »Schön bist du, Maren Wögens«,
sagte sie laut und ehrlich. »Dein Edlef wird dich mit Jubel umfangen.«
Und in tiefem Ernst setzte sie leise und dringlich hinzu: »Aber bete,
Maren! Bete unablässig, daß Gott deinen Leib segnen möge. Der Mutterhof
birgt zwei Dinge. Ein Himmelsdach für die alte geschnitzte Wiege in der
Abseite eures Schlafpesels und -- die Hölle für die Unfruchtbaren.«

Wie eine finstere Norne stand die Sprecherin da, ihre Augen sahen
unheilvoll und vergrämt zugleich aus, und hatten doch eben noch mit
bewundernder Liebe auf der Braut geruht. Maren faßte bebend ihre Hand.

»Edlef und ich haben uns unsäglich lieb«, sagte sie, als sei mit diesem
Geständnis der ganze Zukunftshimmel wolkenlos geworden. Bitter lachte
Tanten Frauke auf. Dann raunte sie, dicht an Marens Ohr geneigt:
»Niemand konnt sich so über alles Verstehen lieb haben wie Tedje
Holgers und ich. Lachend gingen wir zu Bett, und singend vor Tau
und Tag an das Tagewerk. So viel Sonne hat noch nie auf die Hallig
geschienen als in jenen Jahren. Und konnt mich doch verlassen, konnte
die Hand gegen mich aufheben im zwölften Jahre unserer Ehe, als er
sah, die Wiege würde für immer leer bleiben in unserer Kammer. Kind,
Kind, -- möcht’ es dir erspart bleiben, daß dein Herze ruft und schreit
und hungert und dürstet nach Liebe und keine Antwort bekommt. Hölle!
Hölle!« Tanten Frauke schwieg erschöpft. Dann hub sie wieder an: »Nicht
daß er sich zu einer anderen gewendet hätte, o behüte Gott, das tut
kein Holgers. Er wär’ auch sonst dem ›Rügenopfer‹ verfallen. Denn kein
Land wahrt so streng das sechste Gebot wie die Hallig. Aber Herz und
Leib hat er mir verfemt ... Einmal, da schien’s, als kehrt er zu mir
zurück, -- aber da war’s der Ahne zu viel mit dem ›verliebten Getu‹,
und sie holte ihn von mir fort, schickte ihn zur Nacht zur salzen See.
Die nahm ihn und behielt mein Glück ...«

Maren faßte erschüttert beide Hände der Erzählerin, die wie zerbrochen
im Stuhl lehnte.

»Wie seltsam und grausam wird mir mein heiliger Tag bereitet«, dachte
Maren. »Wenn doch mein Edlef käme, oder Bruder Manne!«

Da tönte verworren Geschrei von draußen herein, und gleichzeitig
zeigte sich Manne Wögens’ ernst-frohes Gesicht im Stübchen. »Edlef
kommt!« rief er. »Er hat uns überrumpelt, der Hochzeiter, -- flink,
Maren, flink auf den Oberboden. Ei der Tausend, wie bist du schön,
Schwesterlein. Nimm fein den Schleier zusammen, daß er dir nicht
zerreißt.«

Er schob Maren liebevoll drängend zur Tür hinaus und gewahrte in seiner
geschäftigen Eile gar nicht die tiefe Erregung der Frau, die in der
Stube saß und die sich jetzt erst zu fassen schien. Er begrüßte sie
eilig, und zugleich schob sich hinter ihm eine wunderliche Gestalt
herein. Ein alter, kümmerlicher und krummer Knecht war es, der hie und
da Botengänge für den Schulmeister tat, wichtige Schriftstücke zum
Pfarrer oder Gemeindevorsteher trug, im übrigen so um Gottes willen von
Manne Wögens erhalten wurde. -- In gewöhnlichen Zeitläuften ein über
die Achseln angesehenes Häuflein Elend, gehörte er heute mit zu den
Hauptpersonen, denn er mußte den ungeduldigen Bräutigam »aufhalten«,
mußte ihm als »falsche Braut« verkleidet mit närrischen Worten
bedeuten, daß er, der Knecht, die Auserwählte sei, und daß er gern
bereit wäre zur Kirche und in die Kammer mit ihm zu wandern. --

Draußen auf der Warf flogen lustige und auch wilde Worte hin und
her. Die ganze Freude, aber auch die ganze Derbheit der Friesen kam
zum Ausdrucke in dem Jubel, daß endlich einmal wieder eine rechte
Hallighochzeit zugange war.

Aber Edlefs Kraft und Gewandtheit kürzte sieghaft die ihm zugedachte
Wartezeit ab, und vor dem Draufgängertum der »Haltjunkengänger«, die
sich Edlef von den andern Warfen mitgebracht hatte, mußten die von der
Schulwarf sich ergeben. -- Lachend und erhitzt, leicht verlegen stand
Edlef Holgers im Wohnpesel des Schulhauses. Er wehrte die »falsche
Braut« mit heiterem Abscheu von sich fort, warf ihr ein Goldstück zu
und lief mit Sturmschritten nach dem Oberboden.

Dort richtete sich die bräutliche Maren hinter der Urvätertruhe auf
und stand recht wie ein liebliches Heiligenbild in all dem bunten
Gerümpel ringsumher. Edlef Holgers zog seinen geschmückten Brauthut
tief zur Erde.

»Du!« stammelte er. Und nach einer Weile: »Willst du mit mir gehen,
Jungfrau Maren?«

»Bis in den Tod!«

Da hob er sie über die Truhe empor und hielt sie an sich gepreßt.

»Haben sie dir weh getan?« fragte sie nach einer Weile zärtlich.
»Die Raufbolde! Ich hörte den Lärm bis hier oben und fürchtete mich
entsetzlich. Du bekommst keine tapfere Frau, mein Edlef. Oh, oh,«
unterbrach sie sich und haschte nach seiner linken Hand, -- »was ist
das?«

»Nichts, nichts, eine Schramme«, wehrte er ab. »Der Bruder von Akke
Luersen hat sie mir versetzt. Sieh, mein Feines, das ist mir wie eine
Buße ...«

Maren hielt die verletzte Hand sorglich in der ihren. Mit einem
mütterlichen Ausdruck beugte sie sich darüber und küßte die Wunde.

»Du Engel!« stammelte Edlef. »Herrgott, ich will dich hüten! Wirst du
auch nicht zu fein für mich sein, mein Lieb? Ich bin ein Bauer, -- --
Maren, Maren! --« Selbstvergessen hingen sie Mund an Mund.

Da begannen die Kirchenglocken zum erstenmal zu läuten.

In süßer Scham stand die Braut vor dem Liebsten.

»Komm, Jungfrau Maren«, sagte Edlef zärtlich.

Er geleitete sie die Stiege hinunter, und drunten empfing sie Manne
Wögens und küßte sie auf die Stirn.

»Geh mit Gott«, sagte er bewegt. Und zu Edlef wandte er sich und faßte
seine Rechte: »Ich gebe dir den Schatz des alten Lehrerhauses, meine
junge Schwester. Halte sie hoch!« Ernst sahen seine Augen in die des
Haussohnes vom Mutterhof. Freimütig gab Edlef den Blick zurück.

Auf der Vordiele stand Ohm Rickert im langen Festrock, den schwarzen
Hut mit buntem Band und Strauß geschmückt.

»Ich soll die Jungfrau Braut aus der Hand des Vater Wögens oder dessen
Stellvertreters empfangen und soll ihr sagen: ›Du bist willkommen,
Jungfrau, auf dem ehrbaren Mutterhof.‹«

Da führte der Lehrer seine Schwester ihm zu und sprach: »Die Ehre des
Lehrerhauses lege ich in die Hände und Wände des Mutterhofes.«

Ohm Rickert empfing Marens Hand und führte die Braut wieder zu Edlef
Holgers zurück. -- An dessen linker Seite harrte Nomine Holgers, die
Brautführerin. Sie hatte die alte Friesentracht angelegt und stand
seltsam hoch und schön auf der Diele des Lehrerhauses. Manne Wögens’
Blick ruhte eindringlich auf ihr. Da senkte sie tief den Kopf und
raunte: »Edlef, laß uns gehen.«

Der Brautzug schritt nach der Rechtswarf. Dort wohnte der
Gemeindevorsteher, der sie standesamtlich verbinden sollte. Ketel
Boon empfing sie mit viel Feierlichkeit und Würde. Sein Bewußtsein
»von Rechts wegen« Hauptperson zu sein und mindestens neben dem
Pfarrer, wenn nicht gar über ihm zu stehen, leuchtete aus seinem
würdigen Gesicht. Auch er war schon im Festgewand, denn er und seine
Frau gehörten zu den Eingeladenen, die das Hochzeitsmahl teilen
sollten. Gleich nach der Namensunterschrift erschien die »Frau
Gemeindevorsteher«, und der Zug ordnete sich wieder und schritt zur
Kirchwarf. Hell riefen die Glocken über die Fennen, und eine klare,
leuchtende Wintersonne sandte ihre Strahlen in den Brautkranz von Maren
Holgers, geborenen Wögens.

       *       *       *       *       *

Pastor Ephraim Licht wartete an der Friedhofspforte und streckte dem
jungen Paar beide Hände entgegen.

Und als Edlef und Maren die ihren hineinlegten, waren sie wie in einem
behaglichen Nest, denn die Pastorin legte ihre Hände mit obenauf.
Und machte ein so fröhliches Gesicht dazu, als wäre sie ein Kind und
wollte gleich anfangen zu spielen: Fru Nachbarn, borgen Se mi ehren
Höhnerkorb! Dabei rief sie immer »Gottes Segen! Gottes Segen!« und
schaute die beiden in strahlender Mütterlichkeit an. Dann schritten
sie in die Kirche, wobei Brautjungfer Nomine diesmal zur Linken der
Braut gehen mußte, um später an der Hochzeitstafel den Platz wieder
zur Linken des Bräutigams einzunehmen. Maren setzte sich still in das
Gestühl hinein, während Edlef bei den Seinen stehen blieb, bis Pastor
Licht ihm winkte.

Da ging er festen Schrittes an das Gestühl heran. Und als er in all
seiner Kraft und männlichen Schönheit harrte, den feurigen Blick auf
seine schmucke Deern gerichtet, da vergaß Maren völlig die guten Lehren
ihres Bruders Manne. Und sie sprang rasch auf und folgte dem Bräutigam
eiligst.

Als es ihr hinterher zum Bewußtsein kam, wollte sie freilich schämig
zurückweichen, aber da hatte er schon ihre Hand gefaßt und ließ sie
nicht mehr los.

Pastor Licht war auch voll Freude. Denn da die Ahne eine Hochzeit mit
alten Gebräuchen verlangt hatte, so deckte es sich diesmal mit der oft
und gern geübten Thüringer Sitte, beim Segen die Ringe zu wechseln.

»_Freuet euch! Und abermals sage ich euch: Freuet euch!_«

Manne Wögens zog alle Register seines Harmoniums. Es war ein
Jubilieren, daß den Hochzeitsgästen das Herz groß und weit wurde. Dann
schwieg die Orgel, und Manne Wögens ertappte sich nun beim Lauschen der
herzerfrischenden Traurede auf dem Gedanken, ob der ernste, würdige
Pastor Licht nicht am Ende sein fröhliches, rundes Luischen zur Arbeit
dieser Festpredigt mit herangezogen habe. --

Beim Heraustreten aus der Kirche begrüßte die Braut ein Ehrenschuß,
dann setzte sich der Zug nach der Großwarf in Bewegung, und nach einer
Viertelstunde empfing sie die Ahne an der Schwelle des Mutterhofes.
Hei, wie die Fahnen auf den bekränzten Mastbäumen grüßten und winkten!

Beinahe wollte Alle die Rührung übermannen, als die
Fünfundachtzigjährige die junge Frau feierlich einholte und ihren
Spruch sagte. Aber Ohm Rickert drängte sich an die Braut und fragte:
»Sollen wir dich nachher aus der Ecke tanzen?«

Da wich sie erschrocken zurück, und die Ahne mußte schelten über die
Störung.

»Was wollt Ihr, Ahne,« murrte er, »der Eckentanz ist echter
Halligbrauch!«

»Jawohl, aber ein garstiger. Und ich will, daß nur die guten Bräuche
nicht vergessen werden. --«

»Ein Tanz mit ›gezuckertem Köhm‹ ist allstunds was _Gutes_«, bemerkte
Ohm Rickert grimmig. »Wenn Ihr aber nicht wollt ..., so begeben wir uns
jetzt zu Tische. --« Irgend etwas Unbotmäßiges brummelte er dann noch
hinter der Ahne drein.

Die Hochzeitstafel war mit Tannengrün und reichlichen Wachskerzen
weihnachtlich geschmückt. Ganz am Ende des Tisches war, alter Sitte
gemäß, für das Hochzeitspaar gedeckt. An der Brautseite saßen in langer
Reihe die eingeladenen Frauen. Ihnen genau gegenüber die Männer.
Pastor und Pastorin dicht neben den Neuvermählten. Viel gesprochen
wurde nicht. Ein paar karge Worte fielen über das Wetter und über die
Möglichkeit, daß das Umspringen des Windes eine Sturmflut bringen könne.

Melenke meinte, selbst Sturmflut sei besser als die Halliglangeweile.
Da traf sie ein Zornblick der Ahne. Mutter Holgers aber war heut in
rechter Feiertagsstimmung. Sie sah immer ihren Edlef an, der so schmuck
in seines verstorbenen Vaters Hochzeitsrock auf dem Ehrenplatz saß.
In ihren Augen lag noch immer der fröhliche Schein, den sie trugen,
als der große Sohn sie vor einigen Tagen zum erstenmal an sein Herz
genommen. Das vergaß sich nicht so leicht. -- Als die Saftsuppe
gegessen war, erschien ein altes Ehepaar aus der Nachbarwarf und sang
dem jungen Paar ein wunderliches Lied.

Tief senkte Maren ihr erglühendes Gesicht, während Edlef mit
leichtgerunzelter Stirn geradeaus schaute:

    »God dün ju Börne, wo du hew wünschked,
    Dat iirst Ihr en jongen Prinz,
    Dat öbre Ihr en Apel rund,
    Dat treet Ihr en jong Dochter in de Skud,
    En denn von Ihr to Ihr sö long dat 25 sen.
    All 25 an een Disch,
    Denn wiit de Wüf, wat Hussholn is.«[3]

    [3] Gott gebe euch Kinder, wie ihr habt gewünscht,
        Im ersten Jahr einen jungen Prinz,
        Im andren Jahr einen Apfel rot,
        Das dritte Jahr eine Tochter in den Schoß,
        Und dann von Jahr zu Jahr, bis es 25 sind.
        Alle 25 zusammen an einen Tisch,
        Dann weiß die Hausfrau, was Haushalten ist.

            Anm. der Verf. (nach Jensen.)


Nach dem Liede saßen wieder alle schweigsam da. Nomine hatte ein
Notizbuch herausgezogen und schrieb mit einem kleinen Bleistift hinein.
Unauffällig schob sie den Zettel auf ein Tannenzweiglein und fuhr
diesen kleinen Schlitten über das Tischtuch hinüber zu Manne Wögens. Er
las:

»Geben Sie sich überwunden? Wir könnten hundertmal froher sein ohne
diese Gebräuche und dies herkömmliche stumpfsinnige Schweigen.« --

Darauf kam umgehend seine Antwort: »Im Gegenteil, ich segne das
Schweigen. Dabei kann ich Sie doch ansehen und finden, daß Sie
heut ganz ungewöhnlich schön sind. Wahrhaftig, wie eine echte
Halligtochter. Aber sobald Sie reden, dozieren Sie auch.«

Da knüllte sie den Zettel zornig zusammen.

Die junge Melenke hatte auch die Friesentracht angelegt. Wunderschön,
sieghaft sah das Mädchen aus. Aber ihre Gebärden waren zügellos. Und in
den Augen lag der Ausdruck eines gefangenen Wildes.

Manne Wögens blickte von einer Schwester zur anderen und schüttelte den
Kopf.

Ohm Rickert, der neben ihm saß, folgte seinem Blick.

»Wie zwei Bilder sind die Deerns«, raunte er. »Schön alle beide, aber
für verschiedene Gustos. Die eine stellt ’ne Heilige vor und die
andere ...«

»Pst«, mahnte der Lehrer.

»Ja, ihr werdet solange ›Pst‹ sagen, bis vor lauter Stillschweigen
und Vertuschen der Dampfkessel explodiert ist. Dann habt ihr’s nötig,
euch die Ohren zuzuhalten vor dem Knall. Die eine hat ’n ›Durst
nach Wissenschaft‹, meint der Edlef. Nun gut, das is wohl nicht
gemeingefährlich. Aber die Melenke mit ihrem Durst nach Leben ...«

Der Lehrer dachte einen Augenblick, ob wohl Ohm Rickert zu viel
getrunken habe.

Der sah aber nur bekümmert aus, und als nun das einfache Festmahl
beendet war und alles aufstand, ging Ohm Rickert zu dem jungen Mädchen
und schlug ihr auf die Schulter: »Nun, Nichte Melenke, freut dich
deines Bruders Hochzeitstag?«

Sie lachte spöttisch auf. »Zum Ersticken ist’s«, rief sie fast
laut. »Und die Langeweile frißt einen auf. Ist das wohl auch eine
Hochzeit? Wo bleiben die Musikanten? Ich möcht’ den ganzen Mutterhof
zusammentanzen.«

»Das sollst du auch, mein Deern. Und da kommen auch die Bierfiedler.
Und wenn dir die Luft zu knapp wird, dann geh vor die Tür, da weht ein
artiger Halligwind. Paß fein auf, Deern, daß er dich nicht verträgt. --«

»Hab’ keine Sorg’ um mich und acht auf deinen Schustertanz«, gab
Melenke finster zurück.

Da strichen auch schon die Fiedler auf Geigen und Baß, und vier
»Junggaster« sprangen vor, knieten nieder, sangen, sprachen und reigten
vor dem jungen Paar:

    »So steckt he sin Nadelje, so trekt he sin Dradelche,
    So kloppt he sin Ledder up Ledder.
    Na, Schohmaker, kumm morgen wedder!«

Ohm Rickert war recht in seinem Element. Als einer der »Junggaster«
sich beim jähen Bücken »dat Krüz verrenkte«, sprang der Alte sofort in
die Bresche und reigte, tanzte und sang, daß selbst die Ahne mit ihm
ausgesöhnt wurde.

Dann holte die alte Kastenuhr mächtig aus und sechs Schläge tönten aus
ihr hervor. Ein helles Glockenspiel folgte: »Befiehl du deine Wege.« Da
falteten sich alle Hände.

Und die Ahne nestelte an dem Schlüsselbund, das an ihrer
schwarzseidenen Schürze hing, und ihre zitternden Hände legten den
Schlüssel zur »heiligen Kammer« in Edlefs Hand. Die umschloß ihn fest,
und zugleich umfingen seine Blicke die zarte Gestalt seines jungen
Weibes in unnennbarer Zärtlichkeit. Pastor Licht gewahrte diesen
Blick, und ein großes Freuen war in ihm. »Nun brauchen sie uns nicht
mehr«, sagte er zu seinem Luischen. Ganz still drückten sie dem Paar
die Hände und verließen den Mutterhof.

Hand in Hand schritten Edlef und Maren zu jedem einzelnen Hochzeitsgast
und empfingen ihren Segenswunsch. Mancher gab wohl auch einen
eingelernten Spruch, einige sagten »Mit Gott« oder »Gott walt’s«.

Bruder Manne reichte Maren nur die Hand. Sie sah nicht auf, aber sie
gab den Druck fest zurück. Da kam sie zu Ohm Rickert. »Nichte Maren,«
raunte er eindringlich, »willst noch einen ehrlichen Rat von der Erde
mitnehmen, ehe du in den Himmel gehst?«

Maren Holgers nickte sacht.

»So höre zu. Man kann eine Stube nur vom Sofa aus beherrschen! Setz
dich nicht immer auf den Stuhl, du kleine, blasse Madam!«

»Wat hedd he seggt?« fragten die Umstehenden.

Aber Ohm Rickert sagte seinen Spruch nicht noch einmal. Denn die
Hauptsache für ihn war, daß »die kleine, blasse Madam« ihn verstanden
hatte. Voll und groß schlug Maren Holgers ihre Blauaugen zu ihm auf:
»Habt Dank, Ohm Rickert! Das Wort tat mir nötig! Ich will’s befolgen!«

       *       *       *       *       *

Die Geigen jubelten, der Baß brummte und die Flöte klagte, es war ein
großer Lärm. Man tanzte den Kehraus. -- Denn noch um sieben Uhr abends
wollte der Schiffer einige auswärtige Hochzeitsgäste nach Pellworm
bringen. Und als das bräutliche Paar längst verschwunden und der Tumult
am stärksten war, stahl sich die junge Melenke vor die Haustür, um nach
Rat vom Ohm Rickert einmal -- Atem zu holen ...

       *       *       *       *       *

Am andern Morgen ging es heiß her in der Universität auf der Schulwarf.
Die Jungen hatten alle rote Köpfe und der Lehrer dazu. Manne Wögens
konnte sich gar nicht genug tun in der Deutschstunde, und arbeitete
mit den Großen, als säße er nicht auf ödem Halligeiland, sondern
mit ausgesuchtem Menschenmaterial in der Prima oder Sekunda eines
Gymnasiums. Wie frisch die Jungen waren! Wie angeregt! Wie sie ihm
folgten! »... und deshalb sage ich euch, ein gutes Buch ist der größte
Schatz. Ich will helfen, daß ihr euch eine kleine, gute Bücherei
anlegen könnt. Bringt mir alles, was ihr daheim habt. Ich suche und
sondere aus, und dann wird nach und nach Neues angeschafft. Sagt’s
euern Eltern daheim, daß ihr euch zum Geburtstag ein Buch wünscht.
Ich stelle eine Liste auf, und ihr dürft euch aussuchen. Aber bis zum
nächsten Geburtstag leihe ich jedem ein Buch von mir.«

Das gab einen lauten Freudenausbruch.

»Nun, Onnen Holgers, mein Sohn,« fragte Manne Wögens, »ich meinte,
ich müsse deine Stimme obenauf hören. Statt dessen schaust du aus dem
Fenster. Du suchst wohl den gestrigen Tag? Ja, mein Junge, der ist
fort, bitte dich gefälligst in die Gegenwart zu bemühen -- --«

Onnen Holgers wurde dunkelrot. »Freilich freue ich mich auf die
Bücher,« stieß er heraus, »nur da draußen, -- das ist die Nomine. Was
macht sie einmal auf der Schulwarf ...?!«

»Son ol grot Mäten geht ni mehr to Schol!« ließ sich einer von den
allerjüngsten Abcschützen vernehmen.

Aber der Herr Lehrer war schon mit einem Hechtsatz, der seiner
Turnerschaft alle Ehre machte, zur Tür hinaus. Wahrscheinlich ärgerte
er sich draußen selbst über seine Eile, jedenfalls ging er denselben
Weg langsam zurück und rief seiner Herde zu: »Es läutet 11 Uhr auf dem
Glockenturm, packt langsam und ordentlich ein.«

Dann klinkte er die Gartenpforte auf und sah Nomine Holgers, an einen
der verkrüppelten Obstbäume gelehnt. Verstört die Augen und blaß das
schöne, kluge Gesicht. »Wollte nur bitten,« sagte sie hastig, »ob Sie
Onnen und Karen bei sich behalten könnten, die Kinder passen heut nicht
nach Haus ...«

»Es ist etwas sehr Ernstes geschehen, Fräulein Nomine?«

»Ja, -- Melenke ist heimlich fort. Gestern abend schon muß sie sich den
Auswärtigen nach Pellworm angeschlossen haben, aber nicht einmal der
Postschiffer hat sie erkannt ... Wir fanden einen Brief von ihr. Einen
häßlichen, unguten ... Herrgott, Manne Wögens, die Ahne! Sie hat alle
Läden im Hause geschlossen, als ob Melenke tot sei.«

Manne Wögens nickte schwer. »Das kann ich mir denken. Die Ahne kennt
nur entweder -- oder.«

Nomine kämpfte mit den Tränen, aber sie schluckte sie herunter.
»Die arme Maren!« sagte sie. »Edlef ist gleich heute früh mit dem
Schiffer Erichsen nach Pellworm und weiter nach Hamburg, will überall
nachforschen. -- Es ist doch unsere Schwester! Hätte sie doch nur
Vertrauen zu mir gehabt.«

Nomine konnte nicht weiter sprechen, die Kinder standen alle in der
Schultür und warteten auf die Erlaubnis des Lehrers, fortzustürmen.

Da reichte er ihr die Hand. »Keine Sorge! Ich will Onnen und Karen
betreuen wie mein Eigentum. Gehen Sie ruhig heim. Morgen frage ich
nach, wie es im Mutterhof steht. --«

»Dank!« sagte sie nur und ging davon, -- etwas weniger
hochaufgerichtet, als die stolze Nomine sonst zu schreiten pflegte. --

»Was ist?« fragte Onnen Holgers dringlich und sah den Lehrer forschend
an. Da hob dieser laut seine Stimme, daß es alle wohl hören konnten.
»Deine Schwester Melenke ist krank geworden und vom Mutterhof fort.«
Und als die andern Kinder mit dieser Neuigkeit fortgestürmt waren,
setzte er gütig hinzu: »Darüber betrübt sich deine Sippe natürlich
sehr, Onnen, mein Junge. Nun bleibt ihr heute erst einmal bei mir.«

»Oh,« -- sagte Karen mit tiefem Aufjauchzen, »das ist bannig gut.« Und
sie faßte vertrauensvoll seine Hand. Onnen sah versonnen aus.

»Mich dünkt, Melenke war schon lange krank«, meinte er altklug. »Ich
sagte es ihr auch gestern, wie sie so wild dahertanzte. Da wurde sie
böse. -- Ich sei ein dummer Junge. -- Aber man ist nicht immer dumm,
wenn man jung ist.«

»Ganz gewiß nicht, du altes Haupt auf jungen Schultern«, lachte Manne
Wögens. Und doch war ihm nicht nach Lachen zu Sinne.

»Sie meinen gewiß auch, ich hätte nach der Großwarf gehen müssen,« fuhr
Onnen dringlich fort, »Sie sehen ganz so aus.«

»Du mußt nicht Gedanken lesen wollen, ich finde es sehr richtig, daß du
hier bleibst.«

»Und ich auch«, bestätigte Klein-Karen.

»Aber ich hätte Ahne und Mutter helfen können«, beharrte Onnen. »Nomine
ist so unpraktisch. Und ich hatte mich so schrecklich auf die neue
Schwester Maren gefreut, -- sie ist süß.«

»Ja, siehst du, da kannst du dir nun gut vorstellen, wie einsam _ich_
ohne ›diese Süße‹ bin. Alles hat mir der Mutterhof weggenommen,«
scherzte Manne, »und du willst mich nun auch noch verlassen?«

Gleich nahm Onnen seine Hand. »Daran hatte ich kein einmal gedacht,«
rief er erschrocken, »so bleibe ich gern bei Ihnen, Herr Lehrer.«

Dann aßen sie zusammen Mittag. Und es schmeckte natürlich das einfache
Essen im fremden Hause tausendmal besser als die Reste des schönen
Hochzeitsmahles daheim. Die Magd schmunzelte über das ganze Gesicht,
so sehr freuten sie die jungen Kostgänger. Und der alte, krumme Knecht
meinte: »Herr Lehrer, so wat Kinnerkram hürt hieher up de Schulwarf un
int Schulhus, laten Se mi noch dat erlewen!«

Am Nachmittage wurden Schularbeiten gemacht. Karen malte mit vor Eifer
glühenden Bäckchen ihre Sätze auf die Tafel. Aber der Fleiß war größer
als die Begabung, die Worte standen höchst windschief auf den Linien,
ja einzelne Buchstaben purzelten darüber hinweg. Der Lehrer war nicht
zufrieden, und Karen zog »’ne Snut«.

»Immer noch besser als wenn Nomine schreibt«, rief Onnen mit
sachverständigem Blick auf die Tafel. »Oha, wat schriwwt de für ’ne
Klau’!«

»Du bist ja heut so kriegerisch gegen deine älteste Schwester«, meinte
Manne Wögens. »Weil sie dich hiergelassen hat? Das bestimmte wohl
die Ahne und deine Mutter. Und ihr war’t doch sonst so gute Freunde.
Nomine hat mir selbst vertraut, daß sie sich am allermeisten auf _dich_
gefreut hat.«

Onnen sah ihn unsicher an und seine Augen verdunkelten sich. »Ich
mich auch auf sie«, gestand er mit zuckenden Lippen. Und dann warf er
plötzlich die Arme auf den Tisch, legte den Kopf darauf und weinte heiß
und jammervoll.

»Ist _das_ Häuflein Elend mein Spartanerjunge?« fragte der Lehrer
betroffen.

Da hörte das Schluchzen auf. Und als Manne Wögens ihn gütig anblickte
und über seinen lockigen Blondscheitel strich, rief der Junge mit
fliegendem Atem: »Sie will mich weghaben von der Hallig. Ja, die
Nomine. Ich soll aufs Gymnasium nach Husum und soll später studieren.
Dasselbe studieren wie Nomine. Aber ich kann nicht fort von der Hallig,
nein, ich _kann_ es nicht.« Ganz schwarz standen Onnens Augen in dem
erregten Gesicht. --

Manne Wögens atmete schwer.

»So? Sie will dich forthaben?« wiederholte er leise, wie zu sich
selbst. »_So_ sehr ist sie der Stadt und den Büchern verfallen?«

Mit müder Handbewegung strich er sich über die Stirn. »Und warum kannst
du nicht von der Hallig fort, Onnen, mein Junge? Denke doch, die
Schwester will dich etwas lernen lassen und du lernst doch so gern.
Will dich viel mehr lernen lassen als ich selbst dir zu geben vermag.
Und du wirst ein großer Herr werden, Onnen, -- denn Wissen ist Macht.
Und die arme, kleine Hallig wirst du vergessen ...«

»Sie ist nicht arm und klein«, schluchzte Onnen wild. »Und Sie dürfen
nicht so sprechen, Herr Lehrer, -- es ist ja doch Ihre Heimat ... ach,
lassen Sie mich hier, ach, lassen Sie mich hier!«

Da nahm ihn Manne Wögens an sein Herz. Und die kleine Karen hob er auf
den Schoß und beruhigte sie, denn ihre Tränen flossen reichlich, weil
sie den Bruder weinen sah. »Ja, du sollst hierbleiben, Onnen, mein
Junge. Ich werde um dich kämpfen. Die Hallig braucht ihre Söhne, und
die _besten_ Söhne sind gerade gut genug für sie.«

Der Knabe sah ihn voll Liebe an.

»Lernen will ich wohl tüchtig,« bekannte er, »will auch nach Husum auf
ein paar Jahr, wenn es durchaus sein muß, aber ich muß zurückkommen
dürfen. Da ist die ›Lüttwarf‹ frei geworden, -- die möcht ich wohl
haben, wenn’s die Sippe erlaubt. Und die Deichwirtschaft möcht ich
gründlich studieren. Möchte hier mal was zu sagen haben.«

»Du denkst schon voraus, Onnen, aber es gefällt mir von dir. Gern will
ich mit dir alles durchgehen, will dir Schifften, Allmende, Mähden-
und Weideland auf den Karten und ~in natura~ zeigen. Will dir auch
alte Fennbriefe und Gerechtsame vorlesen, damit du so ›bei klein einen
Begriff von unserer Verwaltung bekommst‹.«

»Hei! Denn schall Nomine man kamen«, frohlockte Onnen. »Dann sünd wi
twee Mannslüd gegen die eine Deern.«

Lehrer Wögens zog die Brauen dicht zusammen.

»Das wird einen harten Strauß mit dem Hochmütchen geben,« sagte er
ernst. »Aber du willst es doch wert sein, daß ich um dich kämpfe,
Onnen, mein Junge?«

Als abends der Mond voll und groß über der Hallig stand, schaute
er auch in Marens verlassenes Mädchenstübchen und schien auf die
friedlich schlafenden Kinder, denen auf Bett und Sofa schöne
Ruheplätzchen geschaffen waren. Die beiden Alten, der krumme Knecht
und die alte Magd, konnten sich nicht satt sehen an den rotbackigen
Holgersfrüchtchen. In seiner Stube aber wanderte Manne Wögens hin und
her, und Kopf und Herz waren in wilder Unruhe.

Die nächsten Tage brachten keine Änderung.

Es regnete und stürmte draußen, und er behielt deshalb die Kinder zu
ihrem Ergötzen bei sich im Schulhause. Er selbst kämpfte sich mit Mühe
am zweiten Tage bis zur Großwarf und fand den Mutterhof immer noch
dunkel und ablehnend gegen die Umwelt, als wenn der Tod dort eingekehrt
sei. --

Ohm Rickert kam ihm entgegen, offenbar froh, jemand »zum Schnacken« zu
finden. Die Ahne sei krank und alle Frauen seien bei ihr.

»Ja, nu is de lütt Kessel in de Luft gahn«, meinte er. »Die Ahne hat
niemalen Heizer studeert, und mich olen Mariner hat sie nich zum
Ratslag haben wollen. De ganze Tid öwer heww ik all spinteseert:
›Melenke! Melenke! Wie kann man ein Dochter Melenke nennen! Heißt Maria
Magdalena. Dat is ne böse Vorbedeutung.‹«

»Name ist Schall und Rauch«, wehrte Wögens, und dann fragte er
bekümmert: »Ist noch keine Nachricht von Edlef da?«

»Nichts. -- Er hat es uns gleich gesagt. Wenn ich die Deern nicht
finde, halte ich mich nicht mit Schreiben oder Telegraphieren auf. Hab’
ich sie aber gefunden, dann gebe ich Nachricht. Na schön. Ist kein
guter Anfang für ihn und sein junges Weib. Wir hätten eben die Braut
›aus der Ecke tanzen sollen‹. Dann wär’ alles gut gewesen. Ist alter
Halligbrauch. Nun muß sie drin bleiben in der Ecke, das junge Blut.«

»Was Ihr redet, Ohm Rickert!« Manne Wögens gab ihm abschiednehmend die
Hand und kämpfte sich den sturmgepeitschten Weg zurück. Ein einziger
Mensch begegnete ihm unterwegs, der Pastor Ephraim Licht: »Sieh da,
Freund Wögens. Sie kommen, scheint’s, von der Stelle, da ich eben
hinwollte. Frauke Holgers hatte mich an der Hochzeit um meinen Rat
gebeten in Erbschaftsangelegenheiten. Eine herbe, seltsame Frau, aber
mir und unserer alten Halligkirche eine treue Freundin. Wie geht’s dem
jungen Paar? Das gibt ein paar Stammeltern, wie sie sich unser Herrgott
nicht schöner aussuchen konnte, -- Manne Wögens, über diese beiden
freue ich mich.«

So plauderte munter der alte Herr.

»Da gibt’s jetzt nicht viel zu freuen auf dem Mutterhof, Herr Pastor.«
Und der Lehrer berichtete kurz die Tatsachen.

Pastor Licht tat einen langen Pfiff. Als ginge ihm plötzlich sein
eigener Name sehr hell auf. Aber seine Gedanken hatten nichts mit der
heimatflüchtigen Melenke zu tun. Er drehte gleich auf der Stelle um,
hing sich dem Lehrer in den Arm und marschierte mühsam wieder der
Kirchwarf zu. »Sieh so, sieh so,« sagte er bedächtig, »der liebe Gott
will selber die Ahne ~mores~ lehren, da braucht _er_ freilich keinen
Pastor dazu.«

Das war das einzige, was auf dem Sturmweg gesprochen wurde. Am
Kreuzpunkt trennten sich die Männer, und Manne Wögens zog den Hut,
während Pastor Licht sein schützendes Käppchen aufbehielt und nur
herzlich mit der Hand winkte.

Der Nachmittag führte wieder alle Halligkinder auf der Schulwarf
zusammen. Und weil der Sturm so arg um das Eckhaus blies und das Feuer
im Ofen auslöschte, versammelte Manne Wögens all seine Trabanten im
Wohnpesel um sich. Das war etwas Neues und Schönes, und zu allem
erzählte der Lehrer auch noch Geschichten. Zuerst die furchtbar
traurige aus dem Lesebuch »Vom verlorenen Sohn«, und dann eine sehr
lustige von der Feldmaus, die eine Stadtmaus werden wollte, und deshalb
auswanderte. Aber es war doch sehr merkwürdig, daß der Herr Lehrer die
traurige Bibelgeschichte ganz fröhlich erzählte und bei der Feldmaus
ein gar ernstes Gesicht machte. --

Am Spätnachmittag holte Nachbar Luersen die beiden Holgerskinder
auf ein Vesperstündchen in sein Haus. »Damit der Herr Lehrer mal
Luft holen könne vom Kindsmagdspielen«, begründete er die Sache. Ein
ohrbetäubender Lärm empfing Onnen und Karen, und jeder wurde von den
ungestümen Gastgebern nach einer anderen Seite gezerrt. Vier sehr
ungebärdige Luersensprößlinge tobten in der kleinen Stube umher, und
das fünfte schrie bis zum Wegbleiben in der morschen Wiege.

»Du büst wohl rein unklug?« tadelte Mutter Luersen ihren eigenmächtigen
Mann. »Schleppst noch mehr Kinnerwark her? Kannst wohl gar nich genug
kriegen?«

»Von die Luersens hab’ ich freilich schon genug,« entgegnete der
geplagte Hausvater trocken, »aber die Holgersart ist bedächtig und
ruhig, die wirft nix um und zerreißt nix und steckt einem auch nicht
das Haus überm Kopfe an.«

»So?« eiferte zornig die Hausmutter. »Mich dünkt, die Holgersart
macht’s nur umgekehrt. Oder hat der Edlef nicht etwa bei uns’ Akke den
Brand angefacht? Und dann den Verschwur zerrissen und alles umgeworfen?«

»Du schnackst sehr klug, Olsch, aber was du sagst, ist doch ein
Dummheit. Wir wollen lieber ganz still sein, welche Seite den Verschwur
zerrissen hat.«

Die Frau weinte. »Hätte der Edlef die Akke behalten, kriegte sie jetzt
keine Prügel von dem gräsigen Hamburger.«

»Steht die Sache so?« fragte Vadder Luersen bedächtig. »Es ist man gut,
daß ich so bei klein von deiner Hamburger Fahrt etwas höre. Prügel
kriegt mein klein Akke? Das ist gut, das ist _sehr_ gut.«

»Schande wert!« rief Mudder Luersen. »Bist du auch ein Vater? Erst
tat der städtische Herr Schwiegersohn, als wär’ ihm just so’n
Draufgängerdeern das liebste. Und jeden Witz hat er belacht, daß
ihn beinahe der Schlag rührte, und in Samt und Seide hat er sie
eingewickelt, und in eine Wohnung hat er sie reingetan wie in ein
Schloß. Aber nun ist sie seine Frau und nun soll sie klein beigeben.
_Dies_ soll sie nicht sagen und jenes soll sie nicht tun. Weil seine
Stadtfreunde und Verwandten sonst ›scheniert‹ sind. Aber die Akke ist
ein freies Friesenmädchen, und das läßt sie sich nicht bieten.«

»Mudder, du warst doch immer so ’n kloke Deern. Was du aber jetzt daher
tühnst, das geht nich int größte Waddickfaß. Unser Stadtschwiegersohn
hat den Grundsatz: ›Mannshand baben!‹ Da bin ich ihm nich gram drum.
Wir beide haben das bei Klein-Akke versäumt, weil du immer neue Kinder
fischen mußtest. Weißt ja, Mudder, auf dem Meeresgrund bei Ekke
Nekkepenns Weib. Über all der Sorg und Mühe mit den vielen Gören haben
wir die Rute vergessen. Wenn der Schwieger das jetzt nachholt, kann aus
Akke noch ein Gutes werden.«

»Aber sie ist sehr unglücklich«, klagte die Frau.

»Alle Deerns sind unglücklich, wenn sie vom Liebsten Prügel kriegen«,
meinte der Vater ungerührt. »Das Gute zeigt sich dann später.« --

Derweile stand im Schulhause Edlef Holgers vor dem Freunde.

»Du kommst doch immer wie ~Deus ex machina~,« versuchte Manne zu
scherzen. Und gleich darauf ernst und besorgt: »Mein armer Edlef, das
hat dich hart mitgenommen. Nun setz’ dich erst einmal zu mir und ruhe
dich aus.«

Edlef ließ sich schwer in den Sorgenstuhl fallen. »Schande im Mutterhof
ist etwas Ungewohntes«, grollte er. »Und das muß ausgerechnet _uns_
treffen. Der Mutterhof hat weithin geleuchtet.«

»Vielleicht ist euch das allen zu sehr zu Kopf gestiegen«, meinte der
Lehrer bedächtig. »Die Selbstgerechtigkeit steht nicht unter den sieben
Todsünden, aber unser Herrgott scheint sie am schwersten zu ahnden.«

»Und gerade jetzt!« murrte Edlef. »Da ich deine Maren in mein Gewese
führte ...«

»Um ihr zu zeigen,« sprach Manne Wögens bedeutungsvoll, »wie
überwältigend die Ehre für die Schulmeisterdeern sein muß, -- ist’s
nicht so?«

Edlef sah ihn unsicher an. »Selbstverständlich ist’s _nicht_ so,« sagte
er hastig. »Ich war nur sehr stolz ...«

Manne Wögens klopfte ihm auf die Schulter. »Das sollst du auch bleiben.
Und Maren, -- die wird alles Leid mit dir tragen. Die wäre dir selbst
in _verschuldetes_ Unglück gefolgt. Und was jetzt auf euch gekommen
ist, darf euch nicht zerbrechen.«

»Die Ahne _ist_ uns zerbrochen, Manne Wögens. Die _Ehre_ des
Mutterhofes war ihr Rückgrat.«

»Und alles um so ’ne verrückte, junge, wilde Deern!« zürnte Manne. »Ich
bitte dich, Edlef, es werden noch viele Kinder aus dem Elternhause
laufen, weil ihnen die Zucht zu streng war. Desto fester muß das Haus
bleiben, damit es Obdach bietet, wenn die Abtrünnigen mit wundem
Herzen und wehen Füßen zurückkehren. Kein Elternhaus kann so streng
sein wie das liebe, holde Leben, die schöne Welt da draußen ...«

»Das sagte mir Maren auch. Aber Trostgründe kann ich noch nicht
gebrauchen. Ich schau nach den Menschen aus. Nach Spott und
Nichtachtung. Was werden sie alle sagen! Die Augen wag ich kaum
aufzuheben. Das ist meine unglückselige Holgersart.«

»Verrenn dich da nicht hinein, Edlef. Sieh lieber um dich, wieviel
rechtschaffene Halliggesinnung das Böse mit euch tragen will.«

»Du sollst recht haben, Manne Wögens. Ich bin wohl recht ein bißchen
aus den Fugen. Bedenk, daß ich aus der Brautkammer ins Segelschiff
stieg ... da ist mir das Gleichgewicht über Bord gegangen.«

»So birg es dir wieder. Du hast Schwester Maren als Rettungsring im
Hause ...«

Da wurde Edlef Holgers ganz froh. »Ja, ich will heim, will die
Geschwister gleich mitnehmen. Hab Dank, du Guter, daß du mir das
Kroppzeug aufgehoben hast.«

»Da ist nichts Gutes weiter dabei, Edlef. Die beiden Jüngsten vom
Mutterhof sind echt. Die tragen viel Freude ins Haus. Dein junger Onnen
wird noch einmal was Besonderes für die Hallig, -- ich hab’s gesagt.«

»Wenn du nur Frohes prophezeien kannst! Ganz hell geht’s von dir
aus, ich wollte, ich könnte dich mitnehmen in die Dunkelheit unseres
Gehöftes, Manne Wögens.«

»_Da kommt_ das Licht vom Mutterhof«, rief der Lehrer. »Da!« Und er
öffnete weit die Tür und ließ die beiden lachenden Kinder herein.
Das gab ein Erzählen! So viel Neues hatten sie unter der großen
Luersenschar entdeckt, und nur schwer konnten sie dazu gebracht werden,
ruhig ihre Siebensachen zu packen.

Der große Bruder strich ihnen über die Blondköpfe. »Macht fix zu«,
sagte er aufmunternd. »Die Nomine-Schwester möchte euch beide noch
sehen.« Er wandte sich zu Edlef. »Sie will heute abend noch in Pellworm
sein, und morgen früh zurück nach Kiel. Sie meint, es ist am besten,
wenn Ahne und Mutter und wir alle hier in die alte Ruhe kommen.«

»In die alte Ruhe ...« wiederholte Manne Wögens langsam. Ganz erloschen
sahen seine Augen den Freund an. »So rasch, so rasch?« fragte er wie
hilflos.

Edlef mißverstand ihn. »Ja, freilich, wir müssen schnell heim. Vergeßt
nicht das Danken, Kinder. Fahr wohl, Manne Wögens!«

»Ich danke auch noch vielmals«, rief Onnen herzlich. »Will’s der Nomine
ordentlich sagen, daß ich auf der Hallig bleibe.«

»Ja, -- sag’ es ihr ordentlich.« Schwer lösten sich die Worte von Manne
Wögens’ Lippen.

Dann war er allein. Eine Zeitlang stand er noch auf der Vordiele
in der Haustür und winkte den Dreien. Denn immer wieder hoben sich
zurückgrüßend die Kinderhände. Am Horizont stand der glutrote Ball und
warf seine letzten Strahlen über die salzen See und die Heimat ringsum.
Dann sank die Sonne ins Meer. -- Wie kalt es mit einemmale wurde! Müde
tastete sich Manne Wögens in seine einsame Stube. Er fror bis ins Mark
hinein. -- --

       *       *       *       *       *

Pastor Ephraim Licht hatte an seine stille Hallig eine schöne Sitte
bringen wollen, die er im tannenwaldumstandenen Dorfe seiner Thüringer
Gemeinde sooft und gern geübt. Die »Spinnstube« sollte droben im Norden
aufleben. Mit Spinnrad und Strickstrumpf sollten die Frauen kommen,
mit einem guten Buch oder einer fesselnden und lehrreichen Geschichte
die Männer. -- Halligsagen und -märchen sollten neu erstehen, damit
man sie für die Nachkommen sammle und festhalte. Fragen, welche
die Halliggemeinde ungelöst mit sich herumtrüge, sollten daheim
aufgeschrieben und dann öffentlich verhandelt werden. Oder auch nur
von Mund zu Mund in der stillen Studierstube des Seelsorgers. Wie
Kinder auf Weihnachten, hatte sich das Ehepaar auf diese »Lichtkarze«
gefreut, die auf der großen Diele des Pfarrhauses tagen sollten. Zur
festgesetzten Stunde kamen sie auch alle gegangen. Es fehlten wohl nur
die ganz Bresthaften, die nicht mehr über die schmalen Prielstege zu
klettern und auch nicht über die kleinen Wasserrinnsale zu springen
vermochten.

Ein langer, schweigender, wunderlicher Zug war’s.

»Sieh nur, Luischen, sie kommen wie zu einer Beerdigung«, sagte Pastor
Licht. Und das Ehepaar beobachtete mit leiser Bangnis die ernsten,
verschlossenen Gesichter der langsam und schwer Heransteigenden.

Oben in der Diele wurden die Spinnräder aufgestellt und die
Strickstrümpfe und Klöppelkissen hervorgeholt, und bald war die
eifrigste Arbeit im Gange. Die Fragen, welche Pastor Licht und Frau
Luischen an ihre Gäste stellten, waren bald beantwortet, dann herrschte
tiefes Schweigen. Nur unterbrochen vom Surren der Rädchen und dem
Klappern der Klöppel und Stricknadeln.

Auf die Bitte nach einer schönen, seltsamen Halliggeschichte schauten
sie den Seelsorger groß und fragend an, und Boy Boysen meinte geruhig:
»Dortau is de Paster da.«

Lächelnd willfahrte ihnen Pastor Licht und erzählte von diesem und
jenem aus seiner reichen früheren Tätigkeit und dem Schatz seiner
Erfahrungen. Aber als er geendet, hoben die Frauen wieder ihre
Spinnräder hoch und schritten mit einem ernsten: »Fahre weel« über die
gastliche Schwelle. Die Männer zündeten sehr erleichtert ihre Pfeifen
mit dem scharfen Holländer Knaster wieder an, und verstiegen sich in
ihrer Heimkehrfröhlichkeit sogar zu einem: »Dank ok veelmals, Paster.«

Ein paar alte Weiblein blieben noch sitzen. Als sie aber sahen, daß da
»nix nachkam«, setzten auch sie einen Knix hin und siffelten heimwärts.

Das nächste Mal kamen die Frauen allein und von diesen nur acht. Und
zuletzt hatte nur die alte Stinameller dagesessen, die fast blind und
recht kümmerlich war, und sie erzählte vertraulich, sie sei nur des
weichen Lehnstuhls halber gekommen, darin sie viel besser schlafen
könne als daheim im Bett.

Pastor Ephraim Licht stand arg verdutzt über das Scheitern seiner
Pläne, und Frau Luischen war ganz verzagt.

Sie holten sich Rat vom Schullehrer Manne Wögens.

Der lachte fröhlich und verstehend. »Herr Pastor, Sie sind Thüringer.
Ihre leichtblütige, freundliche und liebenswürdig-zutunliche Gemeinde
von ehedem, so recht aus dem Herzen Deutschlands heraus, wollen Sie den
Halligleuten zum Muster geben. Das ist gefehlt. Weiß es ja von meiner
Thüringer Mutter her, wie sie mitteilsam war, wie sie plaudern konnte.
›Schnutteln‹ nannte es der Großvater aus Rudolstadt. Da gab es keine
Geheimnisse, da war keine lichtlose, unbesonnte Stelle in dem reinen,
fröhlichen Frauenherzen. Die Halligleute aber nehmen all ihr Erleben
und das der Voreltern zehnfach hinter Schloß und Riegel. Der einzige
Freund, in den sie restlos alles niederlegen, das ist ihr ›Zeitbuch‹.
Dem schenken sie äußerlich mehr Vertrauen noch als dem Herrgott.
Könnten Sie in den alten Truhen nachschauen, Herr Pastor, da würden
Sie Schätze finden. -- -- Liegt auch vielleicht nicht in jeder Truhe
ein ganzes Buch, so doch mindestens ein paar beschriebene Blätter, zum
Teil in die Urväterbibel hineingeklebt, darauf die einschneidendsten
Erlebnisse verzeichnet sind.«

»So braucht die Hallig eigentlich keinen ›Seelsorger‹, sondern nur
jemand für die äußerlichen, kirchlichen Handlungen,« meinte Pastor
Licht mutlos.

Der Lehrer wiegte den Kopf. »Vielleicht! Die Halligleute holten sich an
das Wort: ›Wenn du beten willst, gehe in dein Kämmerlein und schließe
die Tür hinter dir zu.‹ Ich glaube nicht, daß viel in der _Kirche_
gebetet wird. Aber sie hören Ihnen gern zu, Herr Pastor. Die volle
Kirche muß Ihnen der Beweis sein. _Lieber_ Herr Pastor Licht, Sie sind
hier schon der rechte Mann am rechten Ort.«

Der Pfarrer lächelte. »Nun schlägt die liebenswürdige Thüringer Mutter
auch bei Ihnen durch, Herr Lehrer, und Sie sagen mir schöne Sachen ...«

»Es ist die Wahrheit«, sprach Manne Wögens warm. »Ich wollte Ihnen
schon lange Ihren Nebenbuhler zeigen, Herr Pastor, ... das ›Zeitbuch‹
des Halligmenschen. Da möchte ich wahrhaftig ein wenig Erbschleicher
werden. Würden alle Halliger mir ihre ›Zeitbücher‹ vermachen, Herr
Pastor, ich wäre plötzlich reich an wertvollstem Stoff für Halligkunde.«

»So hoch schätzen Sie das ein? Und Sie selbst, Manne Wögens? Führen
Sie auch solch ein Zeitbuch, was wir bei uns den halbflüggen Dirnlein
überlassen?«

Der Lehrer lachte freimütig. »Ich bin ein Halligmensch mit Leib und
Seel trotz des Thüringer Einschlags. Und ich hab mein ›Zeitbuch‹ wie
jeder hier. Hein Hasseldiek, der große Bösewicht, der zu Lübeck auf dem
Rade starb, ist unbußfertig und leugnend dahingefahren, aber in seinem
›Zeitbuch‹ hat er alles eingestanden.«

»Huh«, lachte der Pfarrer. »Wollen Sie mich vorbereiten?« Und er wandte
sich neckend zu Frau Luischen: »Du hast gestern noch gemeint, unser
lieber Schulmeister sei wie ein aufgeschlagenes, schönes Liederbuch.
Ja, so poetisch hat sie sich ausgedrückt, -- du brauchst dich nicht
schämig fortzuwenden, Luischen. Aber du mußt umlernen. Wehe, welch
schwarze Geheimnisse Wögens’ Zeitbuch vielleicht enthält!«

»Da ist mir nicht bange drum«, sagte die Pastorin geruhig und schaute
vertrauend zu dem Hünen auf.

Der schüttelte ihnen die Hände und schritt dann rasch ausholend seiner
einsamen Klause zu.

Er wußte zutiefst, daß nichts verloren geht im Weltall, und daß er
heute dem treuen Seelsorger ein neuer Wegweiser geworden war zu den
wunderlich verschlossenen Herzen seiner Halliggemeinde. --

       *       *       *       *       *

        _Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens._

Ist es möglich, daß wir schon wieder den September haben? So gibt es
beinahe einen Jahresbericht in dieses Buch. -- Die Sommerfrischler und
Badegäste, die von Föhr hie und da für Stunden auf die Hallig kommen
und sich die beste Mühe geben uns lahmzuschwatzen und totzufragen,
versagen sich niemals den Ausruf: »O wie muß es im Winter hier
langweilig sein!« Sie wissen nicht, daß dies Wort nicht in unserem
Wörterbuch steht. Diese lästigen Eintagsfliegen! Könnte man die Tür
seines Königreichs vor ihnen geschlossen halten! Welchen Reichtum an
Arbeit bargen die Monate, die seit Edlefs Hochzeit und Melenkes Flucht
vorüber sind. Arbeit! Segensreiche Himmelstochter! Du gehst mit deiner
Schwester Ordnung kräftespendend Hand in Hand.

Der Frühling kam auf die Hallig und nahm mit seinem Sturm allen
Winterstaub (wahrhaftig er lag in hoher Schicht) aus meiner Seele. Es
ist hart, wenn ein aufrechter Friese am Verzagen ist ... Was sage ich?
Hart? Noch heute trage ich einen eklen Geschmack auf der Zunge, denk
ich an jene kranke Zeit. Da habe ich mir eigene Arznei gebraut, habe
ein wissenschaftliches Buch zu schreiben begonnen. Ein Buch von der
Hallig. Diese Arznei hat mein Gebrechen geheilt. --

In meines Vaters »Zeitenbuch«, wie er es nannte, darinnen er die
Erinnerungen an Großvater, Großmutter und seine eigene Jugendzeit barg,
steht ein Wort: »Ein Wögens liebt nur _einmal_.«

Dies Erbteil meiner Väter verweist mich in die Einsamkeit. Sie war mir
ja immer Treugeselle. -- Doch ich war nie allein in der Einsamkeit, war
nie einsam im Alleinsein. Der Hallighimmel, die Halligluft, die weiten
Fennen und die salzen See schickten abertausend gute Geister zu mir.
Und doch hat es Tage und Nächte gegeben seit der letzten Weihnacht, in
denen ich gerungen habe, gebetet und geschrien. Und die Schreie, die
man in sein Innerstes schickt, tun am wehesten.

Gut ist’s, daß der krumme Knecht ganz taub und meine Magd des Abends so
müde ist, daß sie nichts von der Umwelt vernimmt, denn ich selbst bin
aufgewacht von meinen eigenen Rufen: »Nomine! Nomine!«

Was soll der Name in diesen Blättern?

Er soll stehenbleiben.

Eines aufrechten Friesen hochheilige Liebe ehrt jedes Mädchen. Auch
jenes Mädchen, das nach den Sternen greift und sie auch vielleicht zu
sich herunterholt. Aber sie tritt dabei die schlichte Bonnestave unter
ihren Fuß.

Doch ist die blaue Halligblume kein Veilchen auf der Wiese, das da
singt: Und sterb ich denn, so sterb ich doch durch sie, zu ihren Füßen
noch.

Nein, sie richtet sich wieder auf, denn sie ist eine Friesin.

Und so hast auch du dich wieder aufgerichtet, Manne Wögens, und willst
den harten Arbeitsweg gehen ohne ein liebes Weib an deiner Seite. Du
hast dein Buch. Das ist dein Eigen, es ist dein Kind, das dein Herzblut
trank. Einmal wird es in die Welt hinausgehen und die Menschen in den
Bann der Hallig zwingen. Daß nicht stumpfe Neugierde sie fürder zu uns
treibe, sondern _Liebe_.

Fahr wohl, Nomine! Ich habe dir vor Jahren gesagt, daß ich dir sehr gut
sei. Hab dir mein heißes, treues Herz dargeboten und meinen ehrlichen
Namen. Du aber hast gelacht. Wolltest lernen und die Welt sehen, und
hast der armen, öden Hallig gespottet und ihr Valet gegeben.

So sei’s denn, Nomine.

Denn wenn ich dich auch mehr liebe als mein Leben, so muß ich meine
Hallig doch noch mehr lieben als dich. Meine verachtete Hallig, die
ihren Sohn braucht.

Fahre weel, Nomine Holgers!

       *       *       *       *       *

Machtvoll brauste draußen der Frühlingssturm.

Wir vermaßen unser Land für dieses Jahr und teilten es wieder ein
in Mehdeland und Weidefenne. Diesmal gab’s Widerstreit unter den
Warfbohlsgenossen. Auch der Bohlskurator war machtlos. Wer nicht ganz
und gar in unsere verwickelte Halligwirtschaft eingeweiht ist, nicht
mit Kopf und Kragen drin steckt in den schwierigen Berechnungen der
Mehde- oder Mählandsverteilung, der muß seine Finger davon lassen. Kein
kniffliger Jurist des Festlandes, den man heute herriefe, wäre dazu
imstande. Aber unser »Dreimännerschiedsgericht« hat entschieden, und
wir haben uns dem Spruche gebeugt. Jeder bekam seine »Schifften«, die
nach Größe und Lage jährlich wechselnden Parzellen, zugewiesen.

Ich lese gern die »Fennbriefe« und das Mehdebuch. Uns Halligleuten
ist darin alles verständlich, aber Festlandsratten möchten wohl
kopfschütteln und wunnerwarken über das närrische Zeug, das sich
Halliglandverteilung nennt.

Wir hatten einen nicht zu regennassen und leidlich warmen Frühling,
und so stand am Johannistag das Gras einen Fuß hoch. Wir reinigten
es sorgfältig von allen Muscheln und andern Einflüssen der See, und
dann begann das Mähen. So reich war der Segen, daß wir fremde Arbeiter
mieten mußten, die mit ihrem Vormähder rasche Arbeit taten. -- Wie
wonnevoll waren Juni und Juli! Die liebe Hallig in ihrem Festkleid!
Köstliche Blumen, unzählbar wie die Sterne des Firmamentes waren
darin eingewirkt. Alles atmete würzigen Duft, und die Bienen sogen
den köstlichen Hallighonig heraus, unvergleichlich in seiner herben
Süße. -- Dazwischen weidete das stattliche Vieh. Breitgestirnte Rinder
und wollige Schafe. Die Möwen lachten in blauer Luft oder ließen sich
nieder mit klingendem Klageruf. Den Lerchen lauschte ich und konnte
mich nicht satt sehen am flugsicheren Austernfischer. Der Rotschenkel
rief mit abwärts gestelltem Flügel »Gülü, gülü«, und warb sein
Weibchen. Und als die Jungen ausflogen, jauchzte er »Tjü, tjü«! Ach,
wer »vogelsprachekund und weisheitsfroh wie Salomo« wäre!

Unser Fischgarten im abfließenden Priel bot andere Arbeit. Wir
verbanden Holzsticken mit Bindfaden zu einem langen Leitwerk. Die
Spitze ließen wir in einen Hamen ausmünden. Nun tummelten sich während
der Flut die Fische in den Watten, doch mit der Ebbe flüchteten sie
sich in den großen Winkel des Priels. Da konnten sie nicht durch, und
die Fischer hatten reichen Fang. Ich stand dann gern neben meinem
alten Nachbar und Bohlsgenossen Momme Mommsen, der vor jedem Fischzug
die Hände faltet: »Du bist der Herre Jesu Christ, dem Wind und
Meer gehorsam ist. Drum halt in Gnaden deine Hand auch über unsern
Fischerstand.«

Saß ich aber oben auf der grünen Bank neben dem Schulhause und schaute
von meiner Höhe hin über die Fennen, denen die bereits gemähten
Streifen einen eigenartigen Farbenreiz gaben, oder schaute ich auf
die Nordsee, die zur Flutzeit die ganze Hallig so innig in ihren
umschlingenden Armen hielt und unzählige Gräben mit Wasser füllte, daß
sie wie Silberfischlein die Wiese durchglänzten, dann wurde mir das
Herz groß und weit und der Herrgott zog ein.

Das gab Stunden, wo ich nicht einmal _dich_ vermißte, Nomine Holgers. --

Viel Mühe schaffte uns das Einbringen des Heues. Auf der
höchstgelegenen Stelle der Fennen muß es geschichtet werden, damit
die See es niemals erreichen kann. In langen Streifen wurde es
zusammengerecht und in großen Laken von den Frauen und Mädchen zur
Dieme getragen. Da dachte ich wieder an dich, Nomine Holgers, du
Schöne! Hätte ich dich sehen dürfen als echte Halligtochter, das
schmucke Bündel auf deinem Haupte tragend, mit deinen weißen, vollen
Armen der Last das Gleichgewicht gebend ...

O Nomine! Wie eine Königin wärst du geschritten, ich weiß es. Und ein
glückseliger Mann hätte einige Tage später seine Ernte eingefahren.
In seinem Hause hätte er sie zum festen Klampe aufgeschichtet. Und du
hättest ihn am Hause empfangen. Du! Seine Königin -- die ihm die Ruhe
brachte und den Feierabend ...

Es war harte und hilde Zeit bis alle Schifften gemäht waren. Und
viel Schweiß kostete noch das »Schwählen«, das »Diemensetzen« und
»Einfahren«.

Und wir haben einen Bittgottesdienst gehalten, daß unser Herrgott die
salzen See bändigen möge, auf daß keine Sturmflut uns um den Lohn
unserer Mühe bringe. --

       *       *       *       *       *

Die »Eintagsfliegen« von Sylt, Föhr und Amrum waren wieder sehr lästig
diesen Sommer. Nicht einer war darunter, um dessen Wiederkehr man
gebeten hätte. Gottlob, es wird auch hie und da Verständnis und Liebe
zu uns getragen. Aber die, so es tun, bleiben dann auch wirklich bei
uns auf längere Zeit. Und fragen nicht viel, sondern öffnen ihre
eigenen Augen und empfangen all unsern Reichtum mit wachem Herzen. So
geben und nehmen wir wechselseitig unvergängliche Werte. Mit dem Strom
von Hamburger Fremden kam im August auch Akke Bahn, geborene Luersen,
zu uns. Ein seltsames Weib. Wunderschön hat die Natur sie gebildet, und
jeder wendet sich um nach ihr, so sehr fällt sie auf. Aber auf ihrem
Gesicht liegt jetzt ein Zug verbissenen Trotzes. Der pflegt sonst auf
dem Antlitz der werdenden Mütter zu fehlen. Sie kümmert sich nicht viel
um ihren Zustand, sondern schafft tüchtig im Hause der Eltern, bei
denen viel schwere Arbeit zu tun ist. Oft höre ich ihr lautes Lachen
über den Nachbarzaun herüber. Neulich kam Edlef zu mir, und ich ging
ihm entgegen. Da stand die Akke am Zaun, und ich fing einen Blick auf,
den sie ihm zuwarf. Der war so heiß und auffordernd, daß er früher
wohl gezündet hätte bei ihm. Aber Edlef ist ein sehr fester, sehr
glücklicher Halligbauer geworden. -- Er zog die Mütze wie vor einer
Fremden und schaute mir entgegen mit freien, guten Augen. -- Abends
sitze ich hie und da mit Vadder Luersen auf meiner Hausbank. Er tut
dann alles ab von seiner Seele, was ihm das Leben draufgepackt hat,
und ich höre gern die Philosophie seines trocknen Humors. Dabei sagte
er mir einmal: »Ich mag mein klein Akke zu gern um mich leiden, is ’ne
fixe Deern und schafft für Zwei, trotz ihres reichen Mannes. Aber mich
dünkt, sie verfolgt einen Zweck hier. Und dazu gebe ich mich nicht her.
Und wenn sie meint, ich behalte sie wieder ganz auf der Schulwarf und
setz’ mich bei dem Herrn Schwiegersohn in die Nesseln, dann hat sie
vorbeigedacht. Das sechste Gebot ist kein Kinderspielzeug. Und ihr Kind
soll in seines Vaters Wiege liegen, wo es hingehört.« Ich bedeutete dem
Alten, daß es wohl nicht gerade die passendste Ehe für seine Tochter
gewesen sei, aber das wies er weit zurück.

»Der Schwiegersohn hat sie rechtschaffen lieb,« sagte er, »aber seine
Hand is büschen fest. Das braucht die Deern auch. Ich hab mir den Kram
in Hamburg mal angesehen, das hat alles seinen rechten Schick. Und der
Schwiegersohn ist fleißig und angesehen. Und daß er kein heuriger Has’
mehr ist, ist _auch_ gut.«

Vadder Luersen mag recht haben. -- --

... Schwester Maren ...

Ich möchte ergründen, ob sie wohl ganz restlos glücklich ist. Edlef
ist’s, er geht wie auf Sprungfedern. Maren ist sehr ernst geworden.
Es kleidet sie gut, meine junge, süße Schwester. Aber ich möchte sie
wohl wieder hell lachen hören. Einmal tat sie es. Es war an einem
Sonntag, da sie mich beide heimgesucht hatten. Sie stand in ihrem
Mädchenstübchen und fand allerlei Kram aus der Kinderzeit. Darüber
lachte sie laut und herzlich. Und Edlef neben mir hob lauschend den
Kopf, als sei ihm das silberne Glöckchen völlig fremd. Und ein großes
Erstaunen ging über sein offenes Gesicht.

Sollte der Mutterhof jeglich Lachen ersticken? -- --

Melenke Holgers ist in Hamburg bei einer Putzmacherin.

Edlef und ich haben’s durchgesetzt, daß sie dort blieb. Die Ahne wollte
sie in den Mutterhof zwingen. Das wär ja nimmer geglückt. Nomine hat
die Schwester öfters von Kiel aus besucht, hat sie aber noch nie
angetroffen. Sie hat auch Melenke zu sich eingeladen, denn das Band,
das Halliggeschwister verbindet, ist ein sehr festes. Aber die Jüngere
ist nicht gekommen, sie bäumt sich gegen jede Bevormundung. --

Die Ahne geht gebückt. -- War eine junge Frau mit ihren fünfundachtzig
Jahren, mit den roten Backen, den scharfen Augen und dem raschen Gang.
Und wenn sie auch manchmal bei Tisch einschlief, so war sie nachher
doppelt ausgeruht und schlug uns Jüngere mit Kreuz- und Querfragen.
Jetzt ist sie alt geworden. Bin ich bei ihr, dann redet sie mit guter,
leiser Stimme. Nicht mehr energisch und zupackend wie früher. Gleichsam
entschuldigend, daß sie mir kein besser Dach bieten könne als den
Mutterhof, aus dem eine Haustochter entlaufen. -- Mir zerreißt es das
Herz, sehe ich diesen zerbrochenen Stolz. -- --

Mein Buch gedeiht. Das Manuskript ist schon recht umfangreich und ich
liebäugle fast damit. Es ist ja auch mein Schatz. --

Gestern war Maren allein bei mir.

Fast erschreckte es mich. Sie trat so leise ein. Und ein gar so zager
Ruf: »Bruder Manne!«

Dann lag sie freilich rasch an meinem Herzen, und mir verschlug die
jähe Freude schier die Stimme. Ich nahm ihr Mantel und Kopftuch ab
und drückte sie fest in den Altväterstuhl hinein, drin alle Wögens
ausgerastet haben. Da saß sie geruhig wie der Vogel im Nest, und
ich erzählte und fragte und mußte mich baß wundern, warum ich so
karge Antwort erhielt. -- Zuletzt kam mir ein Freudengedanke, und
immer zarter sprach ich mit ihr. Um ihr vielleicht ein Geständnis zu
erleichtern, das sich etwa so formen könnte: »Bruder Manne, willst
du mir vom Oberboden die Kiste tun, darinnen unsere winzig kleinen
Kinderhemdchen und Häublein liegen?«

Aber sie sagte nichts, sah nur rings die Heimatwände mit den vertrauten
Bildern und dem Urväterhausrat an. Ganz still und besinnlich, als sähe
sie alles zum erstenmal.

Da stand ich auf, beugte mich über sie und sagte: »Süße Marenschwester,
das wird einmal alles wieder dir gehören -- -- und deinen Kindern.«

Wie herb und traurig sie lächelte. Ach, daß es solch ein Lächeln geben
darf auf dem Antlitz eines jungen, schönen Weibes ...

»Ich werde niemals Kinder haben, Bruder Manne.«

»Maren, -- was sprichst du da?«

»Die Wahrheit, Manne. Aber sie zerdrückt mich fast.«

»Woher hast du die traurige Weisheit, Maren?«

»Vor einer Stunde hat sie mir der Kreisarzt gegeben ...«

»Und Edlef???«

»Er ist in wichtiger Sache nach Husum. Mein Mannebruder, er erfährt es
früh genug.«

Dann ging die Süße still, wie sie gekommen. Ich konnte ihr keinen Trost
geben, das war bitterhart.

Nun falten sich immer meine Hände: Daß dieses herbe Frauenschicksal
nur ein stilles Leid bleibe, gemeinsam getragen von zwei liebenden
Gatten, die sich selbst genug sind. Daß mein Freund Edlef Holgers stark
erfunden werde, sein junges Weib auf Händen zu tragen und durch alle
Fährnisse der Hallig, insonderheit des Mutterhofes, zu steuern. Als da
sind: »Kälte, Schmähsucht und Vereinsamung.« --

Ich höre die fünf unbändigen Luersenkinder bis hierher toben. Neun
Luersens sind schon aus dem Hause ... Machen trotzdem noch viel Sorgen
und Mühen, und kaum das Brot schaffen können die hart arbeitenden
Eltern für die fünf Jungen im Nest.

Warum ...?

Nein! Mit Grübelfragen darf man sich auf einer Hallig nicht befassen.
Die fressen hier gleich den ganzen Menschen auf. Wenigstens Herz und
Hirn. --

Ich will an das Lied denken, das ich meiner Marenschwester an ihrem
Hochzeitstage auf der Orgel spielte:

    ...
    Der wird auch Wege finden,
    Da dein Fuß gehen kann. --

       *       *       *       *       *

Es war ein naßkalter, windiger Oktoberabend, da Edlef Holgers
heimkehrte. Aber im »Jungteil« lachte ihm das freundliche Licht der
Lampe entgegen, die seine Maren dicht ans Fenster gestellt hatte. An
Heyens Lei mußte er denken. »Die treue Schwester wacht!«

Ja, _alles_ war ihm Maren. Nicht nur sein liebendes und geliebtes Weib,
nein, auch Mutter und Schwester in ihrer treuen Fürsorge. Wie er sich
freute, heimzukommen von dieser ärgernisreichen Reise ...

Da tat sich auch schon die Tür des Wohnpesels auf und zwei weiche Arme
legten sich um seinen Hals. Er preßte sein Weib an sich und sah ihr
tief in die Augen.

Wahrhaftig, sie wurde immer schöner. Er wußte nicht, was ihn mehr
entzückte. Das strahlende Lächeln, womit sie ihn vor einer Woche
entlassen, oder der stille Ernst, mit dem sie ihn heute empfing.

»Ach du,« sagte er glücklich, »ich will dich einfach Heimat nennen.
Willst du? Schau hinaus, wie es regnet und stürmt! Bei dir bin ich im
Himmel. Du! Du!« Er trank ihre Süße völlig in sich hinein. »Ich müßte
nie von dir fortzugehen brauchen, -- es ist eisig kalt, häßlich, öde
draußen in der Fremde.«

»Du Peterle!« meinte sie. »Bist ja nur bis zum Kreuzweg gekommen.«

»Ja, -- und da will ich auch immer umkehren fortan.«

Sie setzten sich auf das alte Thüringer Kanapee, das Manne der
Schwester mitgegeben. Beim Essen erzählte Edlef von seiner Reise.

»Willst du nicht Mutter und Ahne erst begrüßen?« hatte ihn Maren
gefragt.

»Nein, laß mich erst bei dir erwarmen«, entgegnete er zärtlich. »Sieh,
ich bringe wieder Trübes zu den zwei alten Frauen, und solche Wege
spart man gern auf. Ich habe Melenke nicht angetroffen. Wieder nicht.
Ist es nicht unnatürlich, daß sie sich vor mir versteckt?«

»Was meint die Putzmacherin? Bei der wohnt sie doch?«

»Nn--ein. Das tut sie nicht mehr. Melenke wohnt allein. Ja, da kannst
du wahrlich erschrecken, Maren, -- ich tat’s _auch_. Und Melenkes
jetzige Wirtin hat mir gar nicht gefallen. Wo das Mädel sei, wisse sie
nicht. Wohl spazieren gegangen, -- -- kurz, sie redete so herum und
sich selbst heraus. Mein Zug ging, ich mußte fort. Maren, nächste Woche
fahren wir beide nach Hamburg, und da warten wir, bis Melenke kommt.
Und nehmen sie mit. Sie soll hier Arbeit finden und Heimat kosten. Hast
du Mut, Maren, dies widerwillige Holgersblut zu bändigen? Bist ja doch
noch nicht allzu lange aus der Schulmeisterei heraus ...«

»Mit Schulmeistern ist da wohl nichts getan«, meinte Maren ernst. »Da
wird nur unsere Liebe helfen können. Ich will sie lieb haben, Edlef.«

»Du!!! ...« Edlef bettete Maren ganz in seinen Arm. »Aber zuerst mußt
du mich liebhaben. Kalt bin ich auf der garstigen Reise geworden. Komm,
küsse mich! Mein Einziges ...«

Heimelig war’s im Wohnpesel. Die alte Uhr tickte. Draußen schlugen Wind
und Regen gegen die Fenster. Im Ofen knisterte das Feuer.

»Geträumt hab’ ich letzte Nacht von dir«, raunte Edlef. »Du, das war
ein lieber Traum ... Ich kam heim von der Reise und -- was glaubst
du wohl? Ein paar Kinderchen kamen mir entgegen, -- jawohl, versteck
dich nur, -- gleich ein _paar_. -- Maren, süße Maren ... Da wurd ich
hellwach und so froh ... Von Rechts wegen müßt ja auch schon ein
Holgersjung oder ’ne lüttje Deern in der Wiege schreien ...«

Edlef hob mit raschem Schwung die zarte Maren auf seinen Schoß, ihr
Kopf sank an seine Schulter, er wiegte sie sacht und sang:

    »Hop Marjanken, hop Marjanken,
    Lat sin Frautje danzen.
    He weegt dat Kind,
    He feegt de Floor
    Un lat sin Frautje danzen,
    Hopsasa, hopsasa fallereden. --«

Hastig richtete sich Maren auf. Heiß und rot war ihr Kopf und ihre
Augen brannten. Sie sprang von seinen Knien und strich sich glättend
über das Haar.

Befremdet sah Edlef sie an.

»Ich muß dir etwas sagen«, sprach sie leise und hastig. »Ich habe
es wohl gespürt, wie die Ahne und deine Mutter mich anschaun und um
mich herumreden und wie sie dich fragen, mein Edlef. Ich dank dir,
daß du mich niemals damit gequält hast, du Guter. Aber heut muß ich
dich quälen -- und dir sehr weh tun, mein Edlef ... Ich werde nie ein
Kindchen wiegen ... der alte Doktor Brodersen hat es mir gesagt ...
Edlef ...«

Edlef Holgers war aufgesprungen, doch gleich griff seine Hand tastend
nach rückwärts, als bedürfe er einer Stütze.

»Was redest du da?« fragte er tonlos. »_Das ... das ist ja gar nicht
möglich!_«

Maren antwortete nicht. Sie sah ihn nur an. Nicht wie jemand, der
seinen Urteilsspruch erwartet. Nein, ganz ohne Angst, ganz fest und
ruhig. Ein stiller Schmerzenszug lag um ihren blassen Mund, der sagte:
»Das Schwerste hab ich bereits mit mir selbst durchgerungen, du kannst
es mir noch schwerer machen, indem du dein eigen Leid dazupackst, oder
du kannst mir alles tragen helfen ...« Aber ihr Mund blieb stumm.

Langsam wandte sich Edlef. Sie streckte die Hände nach ihm hin, aber
er sah sie nicht. Ein paar Worte stieß er heraus: »Der Arzt kann sich
irren ...«

»Er irrt sich nicht ...«

Da ging Edlef hinaus, die Tür schlug hinter ihm zu, und mit leisem
Wehruf brach Maren Holgers zusammen.

       *       *       *       *       *

In ihrem Stübchen stand Maren Holgers früh vor Tau und Tag. Diese
Frühstunden, da die Sonne aus dem Meere emporstieg und die stille
Hallig grüßte, gehörten ihr allein. Sie beraubte niemand, wenn sie
still mit gefalteten Händen untätig und träumend dem Sonnenaufgang ins
gewaltige Antlitz schaute.

Es war ein winziges Gemach, das schlichteste im ganzen Mutterhof,
welches Maren von all den vielen Gelassen für sich ausgesucht hatte.
Seine Fenster gingen nach einem Krautgärtchen hinaus, das Maren selbst
betreute. In dem sie grub und säete, pflanzte und pflückte. Ein kleiner
Arbeitstisch und davor ein Sorgenstuhl, der Nähtisch der verstorbenen
Mutter und eine uralte »Erfurter Lade« bildeten die Ausstattung
des traulichen Gelasses. Auf den breiten Fenstersimsen blühten
zwischen schneeigen, weißgepunkteten Vorhängen blutrote Geranien und
starkduftende Reseden.

In den ersten Wochen ihrer jungen Ehe hatte sich Maren oft in ihr
kleines Reich geflüchtet, um mit all dem überwältigend Neuen, das in
ihr Leben getreten war, allein zu sein. Sie hatte stille Zwiesprache
mit der heimgegangenen Mutter gepflogen, deren Rat sie gerade jetzt
dem vielen Unbekannten gegenüber so schwer vermißte. -- Hie und da war
ihr Edlef nachgeschlichen. Da war ihnen beiden dann wohl in seligem
Ineinanderverlieren Zeit und Stunde vergangen.

Dann war es anders geworden. Die Ahne sah sie des öfteren ernst und
mißbilligend an. Sie empfand das Alleinseinwollen der jungen Frau
als »städtische Mode«, die sie nicht auf dem Mutterhof eingeführt
haben wollte. Und über Edlef kam allgemach das starke, frohe, stolze
Besitzergefühl, das sich seine süßen Feierstunden nicht erschleichen
wollte, solange draußen in Hof und Gewese hilde Arbeit drängte. Er
selbst rief mit schallender Stimme den Feierabend aus und wußte, daß
er nun erst mit Fug und Recht sein Königreich hinter sich zuschließen
durfte.

Wann war all dies Beglückende, Heimliche gewesen?

Maren dünkte es Jahrzehnte.

Wie jäh verändert Edlef war!

Alles Sonnige war von ihm gewichen. Wie seltsam düster und fremd er
sie oft anschaute! Als sei sie selbst die Schuldige, die ihm seine
Hoffnungen zertrümmert habe, und nicht das unergründliche, bittere,
unbegreifliche Schicksal. --

Und das war derselbe Edlef, der Tanten Frauke aus dem Wust und Staub
der Vorurteile herausgerettet und sie bedeutet hatte: »Du hast genug
gelitten!«

Wer löste Maren dies Rätsel von Halligweise und Holgersart?

In den ersten Monaten ihrer Ehe hatte Edlef oft die Zukunft in das
Bereich seiner Betrachtungen und Pläne gezogen.

»Wenn der Jung erst da ist ... Oder ... die Deerns müssen alle _dir_
gleichen, Maren, süße Maren.«

Dann hatte sie ihr Gesicht an seiner Brust geborgen und in heiliger,
ahnungsvoller Scheu gezittert vor dem Wunderbaren, das vielleicht noch
ihrer wartete. Dies »_Vielleicht_ ...«. Das war’s.

Das hatte sie nie verlassen, das war neben ihr geschritten als
zage Hoffnung. Die Erfüllung hatte sie kindlich-vertrauend Gott
anheimgegeben.

Anders Edlef.

In kühne Pläne verstieg er sich. Nicht leise und heimlich, nicht kosend
und verliebt, nicht bangend und hoffend, auch nicht scherzend sprach er
über seine Wünsche.

Es waren für ihn keine Hoffnungen, die eine höhere Macht zerstören
konnte, es waren Tatsachen, die früher oder später eintreffen _mußten_,
weil er, Edlef Holgers, es _wollte_. _Die heilige Überlieferung der
Hallig und des Mutterhofes._

Einmal hatte Maren ihm erschrocken gewehrt.

Als seine Erwartungen gar zu kühn und bestimmt sich kundtaten. »Du
Liebster, und wenn nun _kein_ Kindlein kommt ...?«

Da war er ganz fremd von ihr zurückgetreten und hatte mit jäh
veränderter Stimme zu ihr gesprochen:

»Nicht einmal im _Scherz_ darfst du so etwas sagen, Maren.«

Wunderlicher Edlef.

Er war auch gleich wieder lieb zu ihr gewesen.

Und keine Wolke war an seinem Zukunftshimmel schattend zurückgeblieben.
Weil er kein »_vielleicht_« kannte, es nicht kennen _wollte_. -- --

Dann waren Tage gekommen, da sie mit hastigen, körperlichen Schmerzen
kämpfte, die sie schon in der Mädchenzeit heimgesucht hatten. Tapfer
ging sie dabei ihrer Arbeit nach ...

Und die starknervige Holgerssippe gewahrte nichts von Marens
schattenhafter Blässe und ihrem müden Gang, -- es war nicht Sitte
auf dem Mutterhof, körperlichem Unbehagen auch nur die kleinsten
Zugeständnisse zu machen.

Da erbarmte sich Tanten Frauke ihrer.

Mit ruhiger Selbstverständlichkeit rüstete sie für sich und die
leidende Maren zu einer Reise. Gab der Ahne und der Schwägerin
beschwichtigenden Bescheid und fuhr mit der jungen Frau nach Kiel.

Der berühmte Frauenarzt hatte ruhig, freundlich und aufrichtend mit ihr
gesprochen, aber sein sachlich-ernstes Gutachten war vernichtend.

So wurde die Heimreise angetreten, und die herbe, verschlossene »Tanten
Frauke« erlebte an der Seite der trostlosen Maren noch einmal den
eigenen bitteren Schmerz früher durchlebter und durchlittener Jahre.

Vor wenigen Tagen hatte nun der alte, erfahrene Kreisarzt, der Maren
seit ihrer ersten Kinderzeit kannte, das Urteil seines berühmten
Kollegen bestätigt.

Die Ahne hatte den Physikus aus dem »Jungteil« treten sehen und ihm
durch das Fenster des Wohnpesels im Mutterhofe mit ihrer hellen,
scharfen Stimme die Tagszeit geboten. Aber er, der sonst gern mit der
schlagfertigen Greisin plauderte, winkte nur grüßend mit der Hand und
war eilends den Weg über die Fennen hingeschritten. Verwundert und
kopfschüttelnd hatte die Ahne das Fenster wieder geschlossen, aber dann
war ein Schmunzeln, wie frohes Begreifen über ihr Antlitz geflogen ...

Und in der Dämmerung hatte sie lange mit Maren allein auf
der Ofenbank gesessen. Zuerst mit Kreuz- und Querfragen über
Wirtschaftsangelegenheiten, dann schweigend. Jedes tief in seine
eigenen alten und jungen Gedanken versenkt. Dann war sacht und
wie beiläufig die Frage der Ahne gekommen: »Hast du mir nichts zu
vertrauen, Enkelin Maren?«

»Nichts, Ahne.«

Wieder Schweigen.

Dann der zürnende Ausruf: »Das ist nicht recht, Enkelin Maren.
Was du tust und unterläßt, geht den Mutterhof an. Deine Wege sind
Mutterhofwege. Denk dran.«

»Allstunds«, sagte Maren gequält.

»Du kannst aber abirren und fehlgehen. Auch ohne deine Schuld. Ahne
und Mutter sind dazu da, zu weisen und zu beraten. Allwissend bin ich
nicht, so rede mir selbst von deiner Not. Denn daß du in Not bist,
sagen mir meine sechsundachtzig Jahre.«

Der Ahne Stimme war leise geworden. So hatte sie gütiger als sonst
geklungen, da nur immer das Herrschen und das Befehlen mitschwang.

Da hatte Maren den Kopf in den Schoß der Ahne gelegt. Es war wie ein
Zufluchtsuchen und Ausruhen gewesen. Und es war das erstemal, daß ein
junges Menschenkind der alten Frau mit einer Zärtlichkeit nahte.

So wachte auch in der herben Greisin etwas Liebes, kaum Gekanntes auf.
Scheu waren die Runzelhände über Marens weiches Haar geglitten.

»Erzähl’ mir eine Geschichte, Ahne«, bat Maren müde.

Die Ahne hatte wunderlich gelacht, wie die Alraune im Märchen. »Wollt’
ich nicht etwas von Enkelin Maren hören? Mich dünkt doch.« Aber gleich
drauf willfahrte sie. Als wolle sie einen Gedanken festhalten und auf
andere Weise zu ihrem Ziele gelangen.

Leise und einschläfernd erzählte die Ahne, aber es war ein Unterton
darin. Ein scheues Tasten und Fragen und ein Antwortheischen ...

»Es gibt eine Zeit, da verlieren wir Gott. Jungerweis’ oder alterweis’,
-- es kommt wohl über alle. Übergroße Lust oder übergroßes Leid
heben ihn plötzlich hinaus aus unserm Kopf und Sinn und aus der
Herzenskammer. Schließen die Tür hinter ihm zu. Wäre Gott nicht die
Geduld selbst, die immer wieder anklopft, wir stünden schon längst
verlassen. Da war aber einmal ein junges Weib, ein Gegenspiel von
andern Frauen. Das hatte die _Welt_ verloren ... das lebte _nur_ in
_Gott_. Das sah ihn in jedem Ding der Schöpfung, in Wald und Wasser, in
Licht und Sonne, Feuer und Wind. Und in dem kleinen Alltag des Lebens.
Die Welt und alle Menschen versanken ihm völlig. Es kamen Krankheit,
Not und Trübsal, es kamen Ehre und Freuden ohne Zahl. Und das junge
Weib lobte Gott in jedem Falle und spürte seine Nähe. Aber die Menschen
schienen ausgelöscht aus dem Gesicht und Gedächtnis. Ein Mann sah sie
und begehrte ihrer. Aber sie war wie unirdisch, weil sie nur Gott
kannte und die Welt verloren hatte. Da wollte der Mann ihr suchen
helfen in seiner großen Liebe. Aber er vermochte sie nicht zu lehren,
und sie fand nicht die Welt und nicht die Menschen. Und der eigene Mann
fürchtete sich vor ihr.

Nun ward sie gesegneten Leibes.

Und als sie geboren hatte, und das Kindlein schrie neben ihr, da
ward ihr plötzlich die _Welt_ offenbar. Und als sie dem Kindlein die
Mutterbrust reichte und der zarte Mund ihr Herzblut trank, da kam so
unendliche _Menschenliebe_ in das Herz des Weibes, daß es unter der
Fülle zu sterben vermeinte ... Und Gott hatte ein Wohlgefallen an des
jungen Weibes Wandlung, denn er sagt: ›Die Liebe ist die Größeste unter
ihnen.‹«

So schloß die Ahne:

»_Das Kind_ ... Enkelin Maren! _Das Kind ist des Weibes und des Lebens
Erfüllung!_«

Jäh hatte Maren ausgeweint.

»So bin ich ausgestoßen von aller Erfüllung, Ahne, Und auch der
Mutterhof hat sich mit mir betrogen.«

Da hatte sich die alte Frau langsam erhoben. Die Hände abwehrend
ausgestreckt, stand sie steil hochgerichtet, also daß der müde Kopf der
gepeinigten, jungen Frau keine Ruhestatt mehr gefunden.

»Ja, _betrogen_«, wiederholte die Greisin laut und hart. Sie war mühsam
zur Tür geschritten. Dort hatte sie sich noch einmal umgedreht und voll
Grimm geforscht: »War’s nur ein Rausch? Ist’s Feuer ausgebrannt? Wo
blieb die himmellodernde Liebe?«

Der Stolz straffte die gebeugte Maren. »Ich sollte Euch nicht drauf
antworten, aber Ihr seid die Ahne. -- Mit unserer _Liebe_ hat das
Schicksal nichts zu tun ...«

»So hat wohl Gott den Mutterhof verlassen, und er soll aussterben und
dahinfahren ...«

Die Tür war zugeschlagen, und Maren fand sich allein.

Dies alles überdachte Maren, da sie heute wieder eine stille Stunde in
ihrem Reich gesucht und gefunden hatte.

Vor wenig Tagen erst war die Aussprache mit der Ahne gewesen. Was für
Tage der Qual lagen dazwischen! Und das sollte nun so fortgehen durch
eine Ewigkeit.

Sie war so jung, so schrecklich jung ... Unerträglich dünkte ihr die
Zeit, die vor ihr lag.

Ein Sturm ging jetzt über sie hin. Wild und weh weinte sie in jäh
ausbrechender Verzweiflung.

Heiß, bitter und ätzend waren ihre Tränen.

Und groß und gewaltig stand eine Sehnsucht in ihr auf. Die Sehnsucht
nach einem Paar Kinderaugen, die sich doch nie für sie öffnen würden.
Nach Kinderärmchen, die sich doch nie als süßestes Joch um ihren Hals
legen würden.

Herrgott gib mir Kraft ...!

    -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Nach einer Stunde hatte sie sich durchgerungen.

Eine andere Maren schritt durch die Tür des Jungteils in den Mutterhof.
Hoch und aufrecht mit ruhigen Augen und klarer Stirn. Aber der herbe
Schmerzenszug, den Kinderlose zu eigen haben, blieb um ihren jungen
Mund eingegraben. Sie hatte wohl erst sterben müssen, um recht leben
zu können in lauterer, selbstloser Liebe zum Mutterhof und zu all den
Menschen ringsum.

So wertete sich Maren Holgers in dieser Kampfstunde ihr Leid in Segen
um. --

       *       *       *       *       *

Ein paar Abende später saßen alle im Wohnpesel.

»Es ist ungutes Wetter«, sagte die Ahne und schaute nach dem Fenster,
an dem der Sturm rüttelte. Ihr Spinnrad schnurrte, surrend tanzte die
Spindel.

»Keinen Hund möcht man hinausjagen«, nickte Ohm Rickert.

»Sei ruhig, Finn«, rief Edlef dem Hund zu, der an der Türe lag. »Was
bist du einmal unstet heute?«

»De ganze Nahmiddag wull he sick ni gewen«, meinte der Knecht. »Ik heff
dat all an Fru Mudder seggt.«

»Kusch dich, Finn! ...«

Ein langgezogenes Geheul stieß der Hund aus.

»So will ich selbst einmal nachsehen.« Edlef Holgers stand auf. Der
Sturm riß ihm ungestüm die geöffnete Tür aus der Hand, und an ihm
vorbei schoß der Hund mit großen Sätzen in das abendliche Dunkel
hinaus.

»Hierher, Finn!« Das aufgeregte Tier kam zurück, wedelte, bellte und
schoß wieder fort.

»Was mag er nur haben?« sagte eine Stimme neben Edlef, und Maren
schritt fest und selbstverständlich neben ihm her.

»Nicht doch, Maren, -- das ist kein Wetter für dich.«

»Wüßt nicht, warum.« Sie fing ihr Tuch, das der Sturm entführen wollte,
mit beiden Armen und wickelte sich fester drein. Edlef zuckte die
Achseln. Wie toll gebärdete sich der Hund. Er zerrte an den Kleidern
der beiden, sie mußten ihm weiter folgen.

Auf den Stufen der Treppe, die zur Großwarf führte, hockte eine
Gestalt. Edlef leuchtete ihr ins Gesicht.

Rasch legte Maren den Arm um die Kauernde. »Du bist krank, Melenke,
komm, wir bringen dich heim.«

»Heim?« Melenke lachte schrill. Dann stöhnte sie in grimmen Schmerzen.
»Ja, ich bin krank. Morgen, -- morgen gehe ich wieder.«

Es war ein mühseliger Weg zurück im Sturm mit der Kranken. Auf dem Hof
unter dem Birnbaum zögerte Melenke. »Ich fürchte mich vor der Ahne«,
raunte sie.

»Ich nehme dich zu _mir_«, begütigte Maren.

Das Bett in der Gastkammer war bald sorglich geschichtet. Hin und
her schritt Maren in ruhiger Geschäftigkeit. Melenke hockte in
einem Ohrenstuhl, und Edlef war ohne Gruß und Wort zu den andern
zurückgekehrt, um sie auf den Gast vorzubereiten.

»Komm,« sagte Maren liebevoll, »ich will dich auskleiden. --«

Da ließ Melenke mit wehem Lachen das große, verhüllende Tuch sinken,
und Maren taumelte zurück ...

Nach einer Stunde kam Edlef. Es war heiß drüben zugegangen bei Ahne und
Mutter. »Die Ahne geht uns noch zugrund,« meinte Edlef und warf sich
müde in einen Stuhl, »aber sie kommen jetzt beide herüber, um Näheres
über Melenkes Krankheit zu erfahren ..., was tust du da, Maren?«
unterbrach er sich und sah sie befremdet an.

»Ich rüste die Wiege auf dem Mutterhof, mein armer Edlef«, sagte Maren
ernst und sah den geliebten Mann aus leidvollen Augen an.

»Barmherziger Gott ... Melenke?«

»Ja, Edlef. Halte Mutter und Ahne fern. Tante Frauke sitzt drüben, sie
ist mir wahre Hilfe und Stütze.« Maren legte ihre beiden Hände auf
Edlefs Arm. »Bitte die Mutter, daß du heute drüben schlafen kannst.«
Ein liebliches Rot stieg in ihr junges Gesicht. »Wir können dich hier
so gar nicht brauchen heut nacht.«

Schrille, herzzerreißende Klagelaute tönten aus der Kammer nebenan.
»Geh, -- geh, mein Edlef.«

»Herrgott!« stammelte er, -- »will denn die Schmach gar nicht enden für
den Mutterhof?«

Sie sah ihn still an. Dann meinte sie: »Wie wir das Schicksal
betrachten. Es kommt nur auf unsere Augen an.«

Da senkte Edlef Holgers tief das Haupt.

Am andern Morgen schritt Maren aus dem Jungteil hinüber nach dem
Mutterhof. Ahne und Mutter Holgers saßen bei ihrer Brennsuppe. Ohm
Rickert paffte große Wolken. Edlef schaffte schon in Hof und Stall
umher.

»Es ist ein Knabe«, sagte Maren statt aller Begrüßung. Und faßte gleich
darauf das klein gewordene Runzelgesicht der Ahne in ihre jungen,
lebenswarmen Hände. »Nicht wieder krank werden, nicht verzagen, Ahne!«

Die Mutter war hinausgegangen.

Die Ahne hatte die Hände ineinander gekrampft. Nicht zum Beten. »Der
Herrgott hat den Mutterhof verlassen«, sagte sie laut und hart.

Da tönte Marens weiche, junge Stimme: »Ich kann das nicht glauben. Wo
Gott ein Kindlein hinschickt, solch Haus ist nimmer verlassen ...«

Sie wollte noch fragen: Warum femt ihr mich denn, wenn ein Kind euch
doch so wenig gilt? Aber sie wollte der Greisin nicht noch weher tun.

»Seit Menschengedenken ist kein unehelich Kind auf dem Mutterhof
gewesen«, hub die Ahne wieder an. »Junggaster und Haustöchter lebten
allstunds untadelig Leben ...«

Sie schlug die welken Hände vor das Antlitz, die alten Augen hatten die
Tränen verlernt, um so erschütternder klang ihr trockenes Schluchzen.

Nach einer Weile verstummte es, und die Ahne erhob sich mühsam.
»Ohm Rickert und Enkelin Maren! Ihr werdet niemand sagen, daß ihr
mich schwach gesehen habt. -- Ich danke dir, Maren, daß du die
verlorene Tochter pflegst, als sei sie ehrlich. Am neunten Tage ihres
Wochenbettes werde ich zu ihr gehen und sie nach dem Vater des Kindes
fragen. Rüstet zu einer stillen Hochzeit. Vorher soll das Kind getauft
werden. Mein Enkel Edlef wird den Namen bestimmen, weil uns die Schmach
angetan worden ist, niemand von der Sippe des Kindvaters zu kennen. Und
da wir keine Wehmutter hatten, so soll das Kind von unserer alten Magd
zur Kirche getragen werden ohne Festkleid und ›Brokaten Holl‹[4]. Auch
soll die Wöchnerin keine ›Wöffesamling‹[5] abhalten dürfen, so hart mir
diese Pön ankommt, die den Mutterhof trifft wie einen Schlag. Dagegen
wird meine Enkelin Melenke ganz allein den ›Un Sark gung‹[6] halten,
doch soll ihr niemand Opfergeld geben. Und will der Pastor ihr Fem und
Pön dabei auferlegen, so muß sie es tragen.«

    [4] Erbmütze.

    [5] Frauenversammlung.

    [6] Kirchgang.

            (Anm. d. Verf.)


Die Ahne schwieg erschöpft und Ohm Rickert war hinter seinen
Rauchwolken schier verschwunden. Seine Stimme klang grollend hinter dem
Nebel: »Nun wird der Soot zugedeckt, aber erst nachdem das arme, junge
Blut hineingefallen ist ...«

Maren ging müde in das Jungteil des Mutterhofes zurück. Dort sah
es ganz friedlich aus. Die junge Wöchnerin schlief fest nach
der erschöpfenden Nacht. Auch Tanten Frauke hatte sich etwas
niedergelegt. In Marens Wohnpesel stand die Wiege mit dem Neugeborenen.
»Du Armes!« sagte die junge Frau zu dem kleinen Bündel in den
rotgewürfelten Kissen. »So gar nicht willkommen geheißen, und doch ein
Gottesgeschenk ...«

Sacht bewegte ihr Fuß die Schwengel und leise sang ihr Mund uralte
Wiegenweise:

    Nu will ick to Bedde gaan,
    Fjertein Engelkin bi mi staan.
    Twe bi min Höde, twe bi min Föde.
    Twe bi min rechte Hand;
    Twe bi min linke Hand,
    Twe, de mi decken,
    Twe, de mi wecken,
    Twe, de mi fören int himmelske Paradeis.

       *       *       *       *       *

Neun Tage später klopfte es mit hartem Finger an die Schlafstube im
Jungteil. Maren Holgers, die noch die letzte Hand an das Aufräumen
des Pesels legte, erschrak bis ins Herz hinein. Melenke lachte
geringschätzig. »Wie willst du das Leben ertragen, Maren, wenn du so’n
Bangbüx bist. Als ob _du_ die Dummheit gemacht hättest und nicht ich.
Ganz blaßßnuutig sühst du ut.«

»Seid ihr fertig dadrinnen?« tönte die Stimme der Ahne hinter der
verschlossenen Tür. »Ich bin es nicht gewohnt zu warten.«

Wieder lachte Melenke hart. Und schob Marens stützende Hand fort und
ging selbst zur Tür, die sie entriegelte. »Gö Dai, Ahne, gö Dai,
Mutter, da habt ihr mich. Macht’s kurz.«

Die Ahne schaute finster auf die Enkelin, während Mutter Holgers
nichts zu sehen schien als die plumpe, blumenbemalte Holzwiege mit dem
Enkelkinde, das man ihr so lange vorenthalten. --

Sie hob das Kind aus den Kissen.

Alles Herbe fiel von ihr ab. Was da so winzig und hilfsbedürftig auf
ihren Armen lag, war Fleisch und Blut von ihrem eigenen Selbst. Ihr
erstes Enkelkind. Tausend unsichtbare Quellen sprangen in ihr auf.
Wie geschah ihr? So hatte sie nie ihre eigenen Kinder geliebt, wie
dieses verfemte Lebewesen, das man so gern auf dem Meeresgrunde bei
Ekke Nekkepenns Weib gelassen hätte. Gleichviel, sie liebte es. Trotz
der Schande, die seine Mutter über den stolzen Mutterhof gebracht. Und
trotzdem man nicht seines Vaters Namen wußte. Scheu und ungeschickt
küßte Mutter Holgers das kleine, rote Gesichtchen. Dann legte sie
das Bündelchen sorgsam in die Wiege zurück und hielt hastig eine
Milchflasche mit rotem Saugpfropfen der jungen Mutter entgegen: »Was
ist das? Seit wann zieht man auf dem Mutterhof Flaschenkinder groß?«

Melenke gab keine Antwort und Maren sah wie schuldbewußt vor sich
nieder.

»Antworte deiner Mutter«, gebot rauh die Ahne.

Melenke zuckte die Achseln und ließ sich in den Ohrenstuhl gleiten,
denn ihre Kräfte waren noch nicht völlig wiedergekehrt. »Das
Selbstnähren ist für seßhafte Leute«, sagte sie mürrisch. »Sobald ich
arbeiten kann, gehe ich wieder nach Hamburg. Da muß das Kind ohnehin
die Flasche bekommen ..., eine Freundin von mir will’s aufziehen ...«

Maren sah in ungläubigem, schreckhaftem Staunen auf die Schwägerin.
Die Ahne winkte ihr. »Laß uns allein, Maren.« Da erhob sich rasch auch
Mutter Holgers und ergriff mit Maren zusammen die Holzwiege und trug
sie mit ihr hinüber in den Wohnpesel.

»Melenke ...« sagte heiser die Ahne. »Wer sein Kind nicht an die Brust
nimmt und mit eigenem Herzblut nährt, der ist schlecht. Und eine
Sünde ist’s wider Natur und Gottsgebot. Lieber wollt’ ich, ich wär’
vorher taub geworden, damit ich solche Red’, wie deine vorhin, nicht
verstanden hätte -- -- Bist du denn auch eine _Mutter_?«

»Leider Gotts, ja.«

»Versündige dich nicht! Mutterschaft ist heilig. Du bleibst bei deinem
Kind. Der Hof trägt’s. Jetzt gibst du erst einmal dir selbst einen
Beschützer, deinem Kind den Vater. Dein Bruder Edlef wird den Mann
dann empfangen, und soll kein unrechtes Wort weiter fallen über deinen
Fehltritt. Büßt es gemeinsam ab, und bringt euch selbst wieder zu
Ehren ...«

»Ich weiß nicht, was die Ahne will ...« sagte Melenke unbehaglich.

»Glaub’s schon, daß du schwerere Strafe erwartet hattest, als das
Ja und Amen deiner Sippe.« Wieder zuckte der Ahne Blick scharf nach
dem Mädchen hin. »Wir tun’s auch nicht um deinetwillen, sondern um
Mutterhofs Ehre und Ansehen.«

Melenke schwieg.

Die Ahne erhob sich. »So schreib jetzt das Nötige auf, der Edlef wird
den Brief selbst nach Hamburg bringen. Dank es recht deinem ältesten
Bruder, es ist ein schwerer Weg. --«

»Ich verlang ihn nicht von ihm.«

»Melenke!!!«

Düster brannten die Augen des Mädchens in dem blassen Gesicht: »Laßt
mich wieder nach Hamburg!« stieß sie hervor.

»_Nein!_ Hierher soll der Mann kommen und dich und sein Kind holen.
Ich _will’s_. Und ich rede im Namen der Sippe, der toten wie der
lebendigen. Kann der Schuldige euch beide ernähren, so folgt ihr ihm
nach Hamburg. Kann er’s nicht, so wird euch dreien der Mutterhof das
Brot geben ... den _Namen_ will ich, Melenke!!! ...«

Tiefes Schweigen.

»Mußt du dich seiner schämen?« fragte leise die Ahne. »Warst du so von
Gott verlassen? Melenke hör’ zu! Hab’ keine Furcht! Vielleicht denkst
du, die Sippe wird herabschauen auf ihn ... Melenke, _ich_, die Ahne,
werd’s nicht leiden. Hörst du mich? Sieh mich an. Sie _sollen_ ihn
und dich achten ich, ich -- die Ahne, befehl es ihnen. Nur mach’ dich
ehrlich! Den Namen -- Melenke, sprich den Namen!«

Die dürren, runzligen Hände streckten sich flehend der Jungen entgegen,
heiser und schrill, wie zerbrochen klang die Stimme der Ahne.
Fliegende Hitze jagte über Melenkes Gesicht. Sie wollte die alte Hand
fortschütteln, die sich um ihren Arm krampfte.

»Laß mich, Ahne ...«

»_Den Namen ... Melenke!_«

Mit einem Ruck riß sich das Mädchen los und sprang auf. »Ich weiß ihn
nicht!«

Da veränderte sich jäh das Antlitz der Ahne, und Melenke schrie laut
auf vor Angst, als sie in die verfallenen Züge sah.

»Du weißt ihn nicht???«

»_Nein_!!! Hab’ ihn nie gewußt ... War nicht neugierig in jener
lustigen Stunde ... _Das Lachen wollt ich lernen, das man mir im
Mutterhof verbot_ ...«

Da ächzte die Greisin auf. Ganz still war es dann im Pesel. Minuten
verrannen. Tief lag das weiße Haupt gebeugt auf den krampfhaft
verschlungenen Händen. Dann wieder das schwere Ächzen ... und wieder,
und wieder ...

Vor Melenkes Augen tanzte die Stube. Sie griff nach dem Wasserkrug
auf dem Tische und trank daraus. Einen scheuen Blick warf sie auf das
zusammengekrümmte Etwas am Tisch, dann kroch sie fröstelnd ins Bett. --

Als Maren etwas später an die Kammertür pochte, wurde ihr keine
Antwort. Sie legte das Ohr an die Tür, sie hörte rufen und lachen ...

Da schritt sie befremdet herein.

Und fand ein totkrankes junges Weib, das rang mit dem Fieber und lachte
... lachte ...

Und fand eine Tote mit tiefgeneigtem Haupt über den gefalteten Händen.

       *       *       *       *       *

        _Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens._

Der verkrüppelte Baum am Schulgarten ächzt im Sturm.

Und als tue es ihm selbst weh, daß er ihn so zausen muß, so klagt er zu
seinem Stöhnen.

Gut stimmt die trübe Melodei zu meinem eigenen Empfinden. Irgendwo in
Herzenstiefen schlummert die Frohnatur von Manne Wögens, aber niemand
weckt sie auf.

Nicht einmal die Schulkinder, diese täglichen, hellen Mahner: »Und
abermals freuet euch!«

Wie ist die Lücke so unnatürlich weit und groß, welche der Heimgang der
Ahne in mein Leben gerissen.

Kaum um ein junges Weib, das mir Herz und alle Sinne füllte, könnte ich
so trauern, wie um die fast Neunzigjährige.

Ohm Rickert sagt: »Wie die Hühner ohne Kopf torkeln wir umher.«

Dabei war er der allzeit Unbotmäßige, der sich einweg mit der Ahne
gestritten hat. Und er setzt verdrossen hinzu: »Es ist auch gut, daß
ich keinen Kopf mehr habe, denn es ist nüms da, der ihn waschen könnte.«

Die Kopfwäsche fehlt _mir_ nicht, denn die Ahne war trotz ihres
überragenden Alters von einer rührenden Ehrerbietung gegen mich. Aber
ihr scharfer Spott geht mir ab, ihr schlagender Witz, ihr trockener
Humor, ihre gute, kräftige Sprache. Die Hallig ist verwaist, ihre
Mutter ist heimgegangen. Und ich, der ich meinte, die Ahne am besten
zu kennen, war auch nur ein Stümper in der Seelenkunde. Glaubte
allstunds, die alte, herbe Frau habe den _Stolz_ an die oberste Stelle
gesetzt ...

Und es ist doch die _Liebe_ gewesen. Wunderliche, verleugnete Liebe.
Aber doch »die Größeste«. --

Edlef hat mir erzählt, was man erlauscht.

Wilde, wehe Rufe und Bitten: »_Den Namen! Sprich den Namen! Melenke._«

Und da die Ahne gewahrte, daß ihr bluteigen Enkelkind aus schnöder,
gacher Lust gefehlt, und keine sühnende Liebe herbeizurufen war, da hat
diese Erkenntnis das alte, stolze Herz gebrochen. -- Gott schenke ihr
fröhliche Urständ!

Ahne, liebe Ahne, der junge Schulmeister trauert bitter um
dich. -- -- --

Als wir sie auf dem Gottesacker betten wollten, fragte Pastor Licht
nach letztwilligen Verfügungen.

Die schienen zu fehlen, aber dann fanden wir eine Eintragung im
»Zeitbuch« der Ahne.

Sie ist an jenem Abend geschrieben, da Melenke Holgers die Schande auf
den Mutterhof brachte.

»... _und so bitte ich inständig den Pastoren mir wieder die Hand zu
reichen. Und wann mein letztes Stündlein sollt kommen, so will ich in
Frieden und Demut neben Peder Claußen ruhen_ ...«

Als Pastor Licht das gelesen, sind ihm die hellen Tränen aus den Augen
geronnen, und er hat sich ihrer nicht geschämt. Ja, die Ahne, die
Ahne ...

Mein alter, wunderlicher Knecht erzählte mir, daß er den schwarzen
»Sterbevogel« mit dem weißen Kranz um den Hals hätte fliegen sehen.
Erst um den Glockenturm herum, dann dem Mutterhof entgegen ... Darauf
sei die Kunde von dem Ableben der Ahne gekommen. Halligaberglauben. Man
möchte gern daran rütteln, aber man muß fein Obacht geben, daß kein
gutes Vertrauen dabei abbröckelt. Eine zweite Verfügung hinterließ noch
die Ahne: »Bringt mich nach altem Halligbrauch unter die Erde, aber die
›Sörgewüffe‹[7] lasset fort, auf daß die Parentation nicht gestöret
werde.«

    [7] Klageweiber.

Vier alte Halligfrauen haben der lieben Toten die üblichen schwarzen
Trauerkleider angelegt, haben sie im Pesel auf den Tisch gebettet, auf
welchem mit einer Decke belegtes Stroh geschichtet war. -- Dort ruhte
die Greisin bis zur Sarglegung. Fürsorgliche Ahne! Du hattest dein
letztes Bettlein schon seit zehn Jahren auf dem Boden stehen ...

Treulich haben wir an jedem Tage, da die Leiche noch über der
Erde stand, eine halbe Stunde die Totenglocke geläutet und am
Beerdigungstage mit dreimaligem viertelstündigem Läuten die Totenklage
beendet. Mit Edlef Holgers zusammen hielt ich die Leichenwacht. Zwei
brennende Kerzen warfen ihr stilles Licht über die Schläferin. Am
dritten Tage banden wir den Sarg mit starken Kabeltauen an zwei langen
Stöcken fest. Breiteten das weiße Leichentuch über ihn und trugen ihn
fort.

Vor jeder Warf ließ ich die Schulkinder eine Strophe singen, es hallte
ernst und schön über die stille Hallig hin. Auf dem Gottesacker wurde
der Sarg von den Stöcken gelöst und auf die Bahre gesetzt. Dann trugen
wir ihn ein paarmal um die Kirche herum.

Gute Ahne, du warst es uns wert, daß wir die uralten Gebräuche heilig
hielten.

Jetzt ruht schon unter Glas und Rahmen ein Spruch auf dem Grabe, das
ich mit eigener Hand dicht mit Muscheln belegte und mit Bonnestave
besteckte. Den Spruch tragen alle Müttergräber des Mutterhofes von
Urbeginn:

    »Weiber, so da Kinder zeugen
    Und dabei im Glauben stehn,
    Die hat Jesus ihm zu eigen
    Selbsten ewig ausersehn.
    Dies lindert mir mein Schmerz.
    Ruh weyland sehr geliebtes Herz! --«

Als wir den Sarg in seine letzte Stätte hinabließen, raunte mir mein
alter Knecht zu: »Dat is noch ni to Enn, dor kümmt noch wat nah.«
Und er zeigte auf die Seile, die sich untereinander »verkrüngelt und
vertüdert« hatten.

Unwillig wies ich ihn ab.

Aber auch dieser Halligaberglauben wird sich nicht ausrotten lassen,
sondern sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht.

Und jeder der älteren Halligleute ist fest davon überzeugt, daß die
»verkrüngelten und vertüderten« Sargseile den Tod der jungen Melenke
vorhergesagt haben ...

Nach der Beisetzung der Ahne schritten wir erst alle ins Gotteshaus,
um die Wachskerze für die Heimgegangene auf den Altar zu stiften.
Dort soll sie am Geburtstage und zu hohen kirchlichen Festen ihr zum
Gedenken angezündet werden. Als wir zum schlichten Totenmahl in den
Mutterhof gingen, hörten wir durch die geschlossenen Fenster hindurch
das laute, fieberirre Reden und Klagen der totkranken Melenke. Nur
flüchtig sah ich Schwester Maren. Die hatte Tag und Nacht bei der
Kranken gewacht, wie wir bei der Toten. Aber ich erschrak doch vor dem
Schmerzenszug in ihrem Gesicht ...

Schwager Edlef Holgers, wann wirst du deinem jungen Weibe die
Dornenkrone wieder abnehmen? Willst du mit Gott rechten? Ist dir der
Reichtum nicht genug, der im Herzen eines reinen Weibes ruht? Schwer
hast du mich enttäuscht, den ich meinen liebsten Freund nannte. Vergiß
nicht, daß du geschworen hast, Edlef Holgers! Du hast vor Zeugen
gerufen: »Ich will sie glücklich machen, so wahr mir Gott helfe!«

       *       *       *       *       *

Neben die Großmutter betteten wir die Enkelin.

Zwei Eisenköpfe will der Tod zu Staub werden lassen.

Der dritte Eisenkopf, die Nomine, ließ sich nicht blicken. Dessen Hirn
trieb just Blütlein zur Freude der Examinatoren.

Nomine Holgers hat am Begräbnistage der Ahne ihr Doktorexamen bestanden.

Sie promovierte in Kiel und überließ es uns, die treue Ahne, diese
Wertvollste der ganzen Holgerssippe, einzubetten. Die Doktorandin sah
sich »endlich« hinauswachsen aus dem »Milieu der Subalternen«. Und
darüber ist ihr die arme Hallig versunken mitsamt der Ahne und der
jungen, verirrten Schwester Maria Magdalena. --

Das Telegramm, aus dem das Glück buchstäblich hervorlachte: »Hurra,
bestanden! ~Summa cum laude~«, schickte mir Edlef durch meinen Schüler
Onnen. Da liegt es noch vor mir auf dem Schreibtisch. --

»Willst du deine Schwester nicht wissen lassen, was sich hier alles
ereignet hat?« fragte ich Edlef. »Es stirbt nicht alle Tage ein
Edelmensch.«

»Nein«, entgegnete er finster. »Die Nomine will jetzt eine fröhliche
Rhein- und Moselfahrt machen, da braucht sie leichtes Gepäck. Sollen
wir sie unnütz mit der Hallig beschweren und mit unserer düsteren
Traurigkeit?«

Ich wollte sagen: »Alle Rhein- und Moselfahrten wiegen nicht das Glück
auf, von einer Frau abzustammen, wie es Ahne Gesine Holgers war«, aber
ich wandte mich wortlos.

Mit Edlef Holgers ist jetzt nicht zu rechten und zu streiten, ja
nicht einmal zu reden. Dem hat eine unsichtbare Faust all die jungen
Baumkronen mit den Blütenzweigen zerschlagen. Nun muß er sich erst
wieder zurechtfinden. Muß die bittere Enttäuschung unter die Füße
zwingen. -- Ihm ist noch nichts Ernstes verquer gegangen. Nun hadert
er mit dem Schicksal um einen Stammhalter. -- Und hat doch in seinem
Bruder Onnen den prächtigsten, vorbildlichen Erben. Vielleicht, daß
sich von den übriggebliebenen Baumstämmen noch ein warmes, leuchtendes
Feuer anzünden ließe für den Winter seines Lebens ...

Marenschwester, ich vertraue auf dich. Du wirst den Herd seines Hauses
nicht erkalten lassen ...

Eigentlich müßte es jetzt recht trübsinnig zugehen im Mutterhof. Nach
all dem Erleben und all dem Ersterben. --

Aber dem ist nicht so.

Da war ein Morgen nach den beiden düsteren Begräbnissen, da stand sein
junges, blasses Weib schier fröhlich vor Edlef Holgers und sagte: »Mich
dünkt, Lütt-Krischan bleibt am besten auf dem Mutterhof, ich will ihn
wohl großziehen.«

»Den Bankert?« hatte Edlef feindlich gefragt.

Und wieder die Maren: »Da sei Gott vor, daß wir Melenkes Sohn einen
solchen Übelnamen geben. Ist er auch vaterlos, so hat er dafür euern
Namen bekommen, ist also nun ein Holgers.«

Dies Gespräch hat mir Ohm Rickert erzählt. Edlef hat nichts gegen
Marens Vorschlag gesagt. Recht ist es ihm wohl nur der Leute wegen, vor
denen er nicht des Hauses unsaubere Wäsche waschen möchte. Aber meine
Marenschwester blüht auf seitdem.

Und zwei alte Frauen werden noch einmal jung und unbitter. Mutter
Holgers stiehlt sich in jeder freien Minute zum Enkelkind und ist also,
runzellos und glückhaft, kaum wieder zu erkennen. Und Tanten Frauke
fallen plötzlich alte, friesische Wiegenlieder ein. Die sie _selbst_
nie singen durfte, singt sie nun Marens Pflegekind:

    »Slaape, min Börn, ick wage di wat;
    Wiarst man irst grotter, dan schluan ick di wat.
    Aber dö best nog soll’ to jung
    Dö möst nog en Jir waged wese.«

Jeden Tag erzählten mir Onnen und Karen von Lütt-Krischan. Wie er kräht
und schreit und schläft und wieder schreit und recht das Regiment führt
im großen Gewese. Und komme ich hin, dann laufen mir alle entgegen und
ziehen mich zur Wiege, da muß ich von zwei eifrigen alten Frauen hören,
welch ein Wunderkind Jung-Krischan ist, und Onnen und Karen zeigen mir,
was er Neues kann. Maren berichtet stolz, wieviel er gewachsen, und was
er wiegt und sieht in ihrer mädchenhaften Mütterlichkeit sehr lieblich
aus. --

Der Herr des Mutterhofes merkt freilich nichts von dieser Lieblichkeit.
Seine Stirn ist immer so tief gefurcht, wenn er in die Wiegenatmosphäre
tritt, daß sich das Bild jäh verändert. Man trägt Lütt-Krischan rasch
in die leere Döntje der Ahne, und die Frauen nehmen ihr Spinnrad oder
das Klöppelkissen zur Hand, wenn sie nicht überhaupt vorziehen, in
ihr Eigenheim zu enteilen. Und in Marens Antlitz tritt wieder der
Leidenszug, dem sich neuerdings eine kleine, feste Falte zugesellt, die
ungefähr sagt: »Ich _will_!«

Am Hochzeitstage meiner Schwester Maren war ich es wohl allein, der
verstand, was für einen Spruch Ohm Rickert der Braut mitgab: »Man kann
die Stube nur vom Sofaplatz aus beherrschen ...«

Ich glaube nicht, daß meine Marenschwester sich freiwillig je wieder
auf einen Stuhl setzt.

       *       *       *       *       *

Über die Hallig tobte der Sturm aus Südwest.

»Dat duert mi all to lang«, meinte Ohm Rickert und schaute bedenklich
drein, und trat ans Fenster und sah nach den jagenden Wolken und
nach der wilden See. Onnen Holgers stand neben ihm. »Süh, min Jung,«
belehrte ihn Ohm Rickert, »dor kümmt een durch den engelschen Kanal
in de Nordsee. De Atlantische Ozean will uns en beten besäuken. Paß
up. Allstunds nimmt de Storm noch to, trotzdem wi Ebbe hebbt, dat’s ’n
slechtes Teken.«

»Meinst du, daß wir eine richtige Sturmflut kriegen?« fragte Onnen
gespannt und machte ganz erwartungsvolle Augen. Der Ohm deckte sie ihm
mit seiner großen Hand zu.

»Jung, lösch die Lichters. Dat is nix to lachen. Das braucht nich grod
Sturmflut to werden, Gott schall uns bewohrn. Dann müßt all dreierlei
tosamen kamen: Sturmstärke neun, und dann vierundzwanzig Stunn mit den
›Syzygien‹ tosamen. Und dann, min Jung, mut de Wind vör de Springflut
umspringen nah Nordwest. Und wenn denn bei Hohlebbe de Hallig noch
unner Water steiht, un de Storm nich aufflaut, sondern so bi bliwwt, --
min Jung, dann fallt dien Hart eklig in de Büx.«

»Seid ihr bang, Ohm Rickert?« fragte Maren geruhig vom Sofa her.

»Bang bün ik all min Lebtag nich west,« wehrte Ohm Rickert, »aber aus
Südwest kommt nix Guts zur Hallig. Dat wir gut, wenn wi de Gesangbäuker
hernehmen.«

Onnen sprang zum Tisch und holte aus dem »Schapp« die Bücher. Maren
ließ das Wiegenband los und faltete die Hände. Ohm Rickert stimmte als
Ältester erst einmal sein eigen Lied an und rief es zum Fenster hinaus.
»Christ Kyrie, komm zu uns auf der See.« Und nachdem er es dreimal
gesungen, fielen die Frauen mit klangvollen Stimmen ein. Maren sang
allen voran und ihr zartes Gesicht leuchtete in aller Glaubenskraft:

    »Mächtig hast du abgewehret
    Schaden, Unfall und Gefahr,
    Und das Gut steht unversehret,
    Und gesegnet war das Jahr.«

»Christ Kyrie, komm zu uns auf der See«, schloß Ohm Rickert mit
eindringlichem Ruf die kurze Andacht. --

Sacht schaukelte wieder die Wiege.

Ein erneuter Sturmprall stieß die Tür auf. Jemand flog mit herein und
setzte sich verpustend auf den Stuhl, der neben der Tür stand. Der
ganze Mann triefte vor Nässe und Onnen sprang zu, und nahm ihm den
Mantel und die Mütze ab, um sie auf der Diele vor das offene Feuer zu
hängen.

Maren lachte ein wenig.

»Muß erst der Südwest euch auf den Mutterhof blasen, Nachbar Luersen?
Wir haben uns Wochen nicht gesehen oder gar Monate?«

Der Angeredete schaute stumm vor sich hin, ganz zusammengeduckt saß er
da.

»Mich dünkt,« meinte Ohm Rickert, »da hat noch jemand dem Sturm
nachgeholfen. Erstmal aber brau ich ’n lütten Teepunsch, der wird dann
das Nötige aus Nachbar Luersen rausholen.«

Dieser wehrte müde mit der Hand. »Dein Heilmittel hat zwei Seiten, ich
hab’ sie schon allbeid ausprobiert ...«

»So will ich dir _die_ Seite brauen, die heut für dich gut ist, arm
Stackel.«

Als Ohm Rickert nach einer guten Viertelstunde wieder hereinkam, fand
er genau dasselbe Bild. Die wiegende Maren, die beiden klöppelnden
alten Frauen, die Kinder über ihren Schularbeiten, und den Besuch noch
immer zusammengeduckt auf dem Stuhl an der Tür. Eine kleine Wasserlache
stand um ihn herum.

Ohm Rickert klopfte ihm auf die Schulter. »Da hängt man wohl am besten
den ganzen Kerl vors Feuer«, lachte er gemütlich. »Un dor is de
Teepunsch. Dat’s _min_ Rezept. Wasser hab sich nich viel drin, das hast
du all nog mitbrächt. Trink, Nahbar Luersen, un vertell din Sorgens.«

Mit beiden Händen umfing der Verklamte das heiße Glas. Ein wohliges
Schauern ging durch ihn hin. Aber er sprach nichts, bis er die Hälfte
des Inhaltes mit dem Löffel ausgeschöpft und den abgekühlten Rest mit
einem einzigen, gierigen Schluck hinuntergegossen hatte.

»Wenn die Kinder hinausgehen könnten ...«

Gleich nahm Onnen die Schwester bei der Hand, und wenige Minuten später
standen sie schon beide, von einem dicken Umschlagetuch umwickelt, vor
der Haustür. Tüchtig mußten sie sich anstemmen, um nicht umgerissen
zu werden, und mit hellem, freudigen Aufkreischen beobachteten sie,
wie das Wasser herankam. An der Halligkante tobte schon die Brandung,
die alle Rinnsale schnell füllte und zuerst Schaumtropfen, dann aber
Riesenwellen über die Insel hinjagte.

Drinnen nahm Vadder Luersen mit raschem Griff seinen Stuhl und schob
ihn an den runden Tisch.

»Warm und still und satt ist’s bei Euch, Maren Holgers«, sagte er
aufatmend.

Sie wartete, ob noch etwas nachkäme, aber der Gast hatte sich
niedergesetzt und brütete vor sich hin. Da fragte sie lächelnd: »Kamt
Ihr bei dem wilden Wetter von der Schulwarf, um mir das zu sagen?«

»Freilich nicht. Frauenrat wollt’ ich hören. Ich dacht: ›Mutter Holgers
ist erfahren, Frauke Holgers ist besinnlich, und Maren Holgers ist
rasch und zupackend, obendrein voll Liebe für alle Halligkranken‹ ...«

»So? Meint Ihr das?« fragte Maren, und ein froher Schein flog über ihr
Gesicht. »Und wobei dürfen wir raten?«

Es wurde ihm schwer zu antworten. --

»Uns’ Akke ist heut mittag mit einem lütten ›Sokkerpöös‹ angereist
gekommen. Von ihrem Mann will sie weg. -- Nichts da, hab ich gesagt, du
gehst zu ihm zurück. Das wird sie denn auch getan haben ... Sie nahm
die Richtung nach der Postfähre. So ein Dickkopf. Ein lütt büschen
hätt’ sie ja gut warten können ... Sie ist _nicht_ hier?« fragte er
plötzlich dringlich.

»Wie sollte sie hierherkommen?« Maren schoß das Blut ins Gesicht. Und
Mutter Holgers setzte finster hinzu: »Eure Akke hat den Mutterhof noch
nicht wieder betreten -- seit damals ...«

»Weiß schon, weiß schon«, nickte Vadder Luersen, »und ich will nun
wieder gehen.«

Tanten Frauke hob den Kopf. »Und unser Frauenrat?«

Er erhob sich schwerfällig. »Der ist nun nicht mehr vonnöten. Ich hatt’
eben gemeint, -- die Akke _müßt_ hier sein.«

»Ihr sagt uns nicht alles«, rief Maren rasch. »Ihr habt Eure Tochter
und den Säugling bei diesem Wetter von Euerm Haus verjagt? Ist’s so?«

Vadder Luersen reckte sich. »Arm ist unser Haus und bis obenhin
voll Schulden und unnützer Fresser, aber doch zu schade für ein
weggelaufenes Weib ...«

Das angstvoll forschende Gesicht des Vaters strafte aber die herben
Worte Lügen.

»Warum habt Ihr unsern Rat nicht früher geholt?« fragte Maren mit
blitzenden Augen. »Die Akke gehört in _Euer_ Haus.«

»Ja, früher einmal.«

»Das Recht verlischt nicht. _Ihr_ habt sie verheuert. Mit Euerm Willen
hat sie den Hamburger genommen.«

»Und mit ihrem eigenen. Das könnt mir fehlen, daß ich zu meinem bannig
vielen Kinnerwarks auch noch Enkel sollt aufnehmen ...«

»Beinahe möcht’ ich sagen: Schämt Euch, Nachbar Luersen!« rief Maren.
»Aber Ihr seid verbittert. Deshalb leg’ ich nichts auf die Goldwage
... Inwendig bei Euch sieht’s ganz anders aus. Ich habs immer gefühlt,
daß die Akke Euer Spiegel ist.«

Vadder Luersen stöhnte auf. »Dat is ja nur, dat mi dat min Akke
andeiht. Mien eigen lütte, söte Deern! Es ist die Schande. Daheim
die jammernde Olsch’, -- und in Hamburg der fremde Schwiegersohn ...
›Halligpack‹ hat er ihr nachgerufen ... Das Wort frißt einen Friesen
auf. ›Halligpack!‹«

»Das Wort fällt von uns ab«, sagte Maren ruhig. »Und den, der’s
aussprach, trifft es. Nehmt’s nicht wieder in den Mund, Vadder Luersen.
Was soll der Hamburger Schmutz auf unserer reinen Insel?«

Der Gebeugte richtete sich auf und sah die Sprecherin unverwandt an.
»Von Euch, Maren Holgers, geht niemand ungetröstet fort.«

Maren errötete, denn sie fühlte, wie auch die anderen sie eigen
anstarrten, als sähen sie die Hausgenossin zum erstenmal. --

Draußen polterten die Kinder, schrien und riefen.

Vadder Luersen öffnete die Tür. »Jesus, -- komme ich denn da noch
heim???«

Ein jäher Sturmstoß gab ihm Antwort. Beide Kinder fielen zu Boden,
Onnen raffte sich wieder auf und sprang auf die Diele, die schreiende
Karen nahm Vadder Luersen mit raschem Griff und hob sie über die
Schwelle. -- Wilder Aufruhr ringsum. Im Tief überschlugen sich die
Wellen, Brandung und Gischt tosten und sprühten, nur der Halligsee war
der einzige »ruhende Pol«.

Maren brachte Mantel und Mütze. »Macht fix zu, Vadder Luersen«,
drängte sie. »Solang die Leeseite noch ruhig ist, kommt Ihr heim. Grüßt
Mutter Luersen. Laßt Eure Sorgen auf unserer Diele ...«

»Habt Dank!« Der Wind verschlang die Worte.

Einen Augenblick verweilten die Bewohner des Mutterhofes noch in
der offenen Tür, um all das Gewaltige in sich aufzunehmen. Die jäh
veränderte, sonst so stille Insel, die grauen Wassermassen, die
zerrissenen Wolken am Himmel mit dem glutroten Sonnenball, und
die Schwärme der schutzsuchenden Vögel, die angstvoll um das Haus
flatterten oder sich im Hof und Garten zutunlich niedergelassen hatten.

Mit scharfen Augen spähte Maren umher, dann entdeckte sie das, was sie
suchte. Edlef Holgers trieb das weidende Vieh vor sich her.

»Rühr dich, Onnen,« rief Maren dem jungen Schwager zu, »riegele die
Ställe und Hocken auf ...«

Dann kämpfte sie sich durch den steifen Südwest dem Gatten entgegen.

»Schweres Wetter!« sagte er, als sie dicht vor ihm stand. Weiter
nichts. Maren biß die Zähne zusammen. Edlef war drei Tage in Pellworm
gewesen, heiß hatte sie sich nach ihm gebangt. Aber ihrer beherrschten
Ruhe merkte man davon nichts an. »Du bist wohlauf?« fragte sie.

»Und du?« forschte er dagegen.

»Der Mutterhof steht.« --

Da pfiff Edlef dem Hunde Finn, der Miene machte, sich mit der
herannahenden Flut zu necken und zu zerren.

Als sie am Jungteil vorbeikamen, hörten sie Lütt-Krischan jämmerlich
schreien. Unschlüssig stand Maren eine Weile ...

Die Pflicht kämpfte mit dem Verlangen, beim Manne zu bleiben.

»Kannst du mich entbehren, Edlef?« fragte sie hastig.

»Allstunds.«

Da ging sie sehr blaß ins Haus hinein.

Drinnen bastelte und nagelte Ohm Rickert, er hatte an allen Fenstern
des großen Geweses die Laden vorgelegt und nur die nach der Seeseite
offen gelassen, damit man einen Ausblick habe. Tanten Frauke hatte die
Kinder zu sich herübergenommen und erzählte ihnen Geschichten, Mutter
Holgers trug das heftig schreiende Kind ohne Erfolg in der Stube umher.

»Ich glaub beinahe, die Frau Mutter verwöhnt das Lütte zu sehr«, meinte
Maren ruhig. »Vorhin hat’s erst getrunken, es müßte jetzt schlafen ...«

»Wie kann’s schlafen?« fragte Mutter Holgers ärgerlich. »Bei Sturmflut
setzt sich Ekke Nekkepenn und sein Volk auf die Kinderbetten und
Wiegen, um zu ängstigen. Fühl nur, ganz kalt ist das Kind.«

»Weil der Südwest durch die Hausfugen weht, Frau Mutter. In der warmen
Wiege ist er am besten aufgehoben.«

»Du mußt es ja wissen,« rief Mutter Holgers scharf. »Ich hab ja nur
zwölf Kinder großgezogen ...«

Maren trat zur Schwiegermutter. »Das vergesse ich nie, und ich wollt’
dich nicht kränken,« sagte sie freundlich.

Da legte Mutter Holgers das Kind in die Wiege zurück, deckte es warm zu
und ging hinaus.

Ohm Rickert, der noch das letzte Fenster nagelte, rief über die
Schulter: »Du könntest jeden Tag zu Hagenbeck, Maren, min Deern, als
Löwenbändiger.«

»So schlimm ist es nicht, Ohm Rickert. Mir ist nur aller Streit
verhaßt.«

»Mir nicht«, meinte der Alte. »Büschen Zank frischt die Lebensgeister
auf. Ich wollt ›ks, ks‹ rufen, aber da fingst du schon an zu bändigen.«

Maren lächelte matt. »Ihr müßt immer Euren Schnack haben, Ohm Rickert.
Aber bleibt nur dabei, Ihr habt mir schon manchmal damit geholfen.«

»Ich _dir_? Nichte Maren? Mich dünkt, du hilfst dem ganzen Mutterhof
auf. Seit du hierher geheiratet hast, habe ich Tanten Frauke schon
dreimal lachen hören. Mutter Holgers ist überhaupt allmeindag nich
wiederzuerkennen, und mich selbst hast du so hibbelich und allerte
gemacht, daß ich sogar noch Stine Hinrichsen heiraten könnte.«

»Ach nein, Ohm Rickert, tut das nicht,« bat Maren mit liebem Lächeln
und ernsten Augen. »Ihr müßt bei mir bleiben, ich brauche Euch wie’s
liebe Brot ...«

»Tust du das? Tust du das?« fragte der Alte mit freudiger Hast, und die
hellen Tränen schossen ihm in die Augen. »Nichte Maren braucht mich!
Ach du! Ein Altenteiler gehört zu den fünften Rädern. Aber wenn du
sagst, ich bin dir was nütze ...«

»Liegt Euch daran so viel?«

»Ob mir dran liegt! Nichte Maren, die Leute denken immer, mein loses
Maul wär’ ein Zeichen von Herrschaft hier im Mutterhof. Denkt nich
dran. Notwehr ist’s. Für die Ahne und all die übrigen hier war ich
immer der Garniemand. Mehr und öfter als zum Finn haben sie zu _mir_
›kusch dich‹ gesagt. Und erst als _du_ auf den Hof kamst, Nichte Maren,
da hat man dir’s nachgemacht und allmählich auch Respekt vor _mir_
bekommen.«

»Ihr tut mir zu viel Ehr’ an, Ohm Rickert,« wehrte Maren. »Den
Umschwung hat das _Kind_ gebracht. -- Der Mutterhof _braucht_ Kinder,
Kinder sind Sonne.«

Ohm Rickert sah scharf nach ihr hin.

»Nichte Maren, darf ich dich einmal etwas Ernstes fragen? Der
Edlef ...?«

Sie schaute ihn an. In Leid wie versteint waren ihre Augen.

»Nein, Ihr dürft nicht fragen, Ohm Rickert«, sagte sie abweisend und
ging nach der Diele. Sie suchte Edlef. Konnte aber nur Mutter Holgers
am Herd schaffen sehen, die das Abendbrot richtete.

Durch die Futterkammer schritt Maren zu den Ställen. Alle waren
geschlossen, aber gerade als sie den zweiten Eingang vom Hof aus suchen
wollte, wurde ein Riegel zurückgeschoben, und Edlef Holgers trat, sich
tief bückend, durch die niedere Tür.

Vielleicht war ihm deshalb das Blut so heiß ins Gesicht gestiegen, und
nur die Lippen jäh erblaßt. --

Er lachte kurz auf. »Wir haben Besuch, Maren.«

Er deutete nach rückwärts, und Maren meinte einen Augenblick, das Herz
müsse ihr stillstehen.

»Akke ...« stammelte sie.

Tief mußte sich auch die große, stattliche Frau bücken, als sie aus der
Stalltür trat. Und auch sie war heiß und rot und verlegen. In ihrem Arm
lag ein Bündel, aus dem schwache, gnarrende Laute drangen.

»Du siehst, Edlef, deiner Frau verschlägt’s den Atem«, spottete Akke.
»Und du wirst deine freundliche Einladung rückgängig machen müssen.«

»Ich bin der Herr auf dem Mutterhof«, sagte Edlef finster.

»Dasselbe mein’ ich auch«, fiel Maren schier gelassen ein. »Und wen
Edlef auf den Mutterhof führt, der ist auch mir willkommen.«

Da senkte die Fremde den Kopf.

»Es ist nicht für lange«, sagte sie unsicher.

»Das steht im Belieben.«

Maren schritt den beiden voraus nach der Diele zurück. Unheimlich
heulte der Sturm. Der Knecht stand triefnaß am offenen Feuer. »Herr
Vater, das Wasser hat den Zaun umgelegt,« meldete er an Edlef.

»Ist’s schon so weit?«

Edlef öffnete die Tür zum Wohnpesel. Der Tisch stand einladend gedeckt,
Tanten Frauke und die Kinder lehnten am Fenster, und sahen auf die
tobenden Wassermassen.

Nun musterten alle befremdet die Neuangekommene.

»Mich dünkt, die Haustür ist immer noch _vorn_ am Mutterhof,« bemerkte
Ohm Rickert scharf. Er trat dicht an Edlef heran, der sich in einer
Ecke zu schaffen machte. Und fragte zornig mit verhaltener Stimme:
»Bist du verrückt geworden?«

»Sieh nach deinen Worten,« brauste Edlef auf.

Da faßte Maren Holgers Akkes Hand. »Frau Akke Bahn, geb. Luersen,
bittet den Mutterhof um Unterstand auf einige Zeit für sich und ihr
Kind.«

Mit ruhiger Würde nahm sie das eingeschlafene Kleine aus dem Arm der
Mutter und legte es in die breite, schaukelnde Mutterhofwiege neben
Lütt-Krischan.

»Nun wollen wir essen und beten,« gebot Maren.

»Christ Kyrie komm zu uns auf der See«, rief laut der Knecht. Denn der
Sturm rüttelte gewaltig an den Mauern des Hauses.

Dann falteten alle die Hände und laut, schier trotzig klang Edlef
Holgers’ Stimme:

    Herr, gebiete dem Sturm,
    Herr, bewahr Haus und Turm,
    Herr, laß uns nicht leiden
    Durch Zwietracht und Streiten.
    Gesegne uns Gott
    Unser tägliches Brot
    Und laß uns halten hoch und wert
    Unsers heiligen Hauses Herd. Amen.

Die Magd brachte die Suppe herein. Gesprochen wurde nicht viel.
Edlef Holgers gab den Hausgenossen einige knappe Anweisungen für die
kommenden Stunden, und Tanten Frauke sprach leise mit der unruhigen
Karen, die auf viele Mutmaßungen eingehende Antwort heischte.

Unter dem Tisch aber falteten sich immer aufs neue Marens Hände: »Und
laß uns halten hoch und wert unseres heiligen Hauses Herd«, betete ihr
junges Herz, und die Augen schauten vergrämt auf die Fremde.

Rasch wurde abgegessen. Maren brachte fast keinen Bissen herunter. Nach
einer Weile stand sie auf, ging nach der Gastkammer und begann ein Bett
für Akke und ihr Kleines zu rüsten. -- Nach einigen Minuten folgte ihr
Edlef Holgers.

»Hast du Furcht?« fragte er, »die Flut sinkt, es ist bald Hohlebbe ...«

»Wir steh’n in Gottes Hand, ich hab mich keinen Augenblick gefürchtet.«

»Ich hätte dir wohl manches zu sagen, Maren, -- über unsere nächste
Zukunft ...«

»So sprich.«

»Es wird mir nicht leicht«, zögerte er.

Und während sie gelassen in ihrer Arbeit fortfuhr und das Zittern ihrer
Hände verbarg, überstürzten sich seine Worte. Er wies auf das langsam
zurückgehende Wasser. »Wenn es abgelaufen ist, Maren, müssen wir wieder
von vorn anfangen mit Pflanzen und Einhegen und Bauen und Dichten, --
so geht’s Jahr für Jahr, und zwei- und dreimal im Jahr. Das macht die
Leute unzufrieden und verdrossen. Nicht alle sind so verwachsen wie
wir mit der Heimatscholle. Es muß etwas Eingreifendes geschehen. Sonst
könnten sie halligflüchtig werden. Das wäre ein Unglück für die Insel.«

Edlef Holgers sprach in kurzen, abgerissenen Sätzen.

Als wolle er eine unangenehme Nachricht vorbereiten oder
hinausschieben. -- »Wir haben Versammlungen gehabt. Nun sollen
Abordnungen mit praktischen Vorschlägen hinausgeschickt werden, nach
Kiel, nach Hamburg, nach Kopenhagen ...«

»Du willst fort?« fragte Maren scharf.

»Man hat mich gewählt. Du weißt, daß der Halligbauer nur Vertrauen zu
seinesgleichen hat. Da könnte Gott einen Engel vom Himmel schicken, sie
würden einen lästigen Ausländer in ihm sehen.« Edlef lachte gezwungen.
»Von mir weiß die Hallig, daß ich mein Leben einsetze für die Heimat.«

Es war, als höre Maren nur den kleinsten Teil von Edlefs Rede.

»Auf wie lange?« stieß sie hervor. Als sei nur die Tatsache
haftengeblieben, daß er fort wolle.

»Auf ein halbes Jahr. Oder ein ganzes. Die Aufgabe, die ich zu erfüllen
habe, ist nicht leicht.«

»Es ist recht«, nickte Maren, und war sehr blaß geworden. »Mein Bruder
wird mir zur Seite stehen und Ohm Rickert. Auch Jung Onnen ist ein
Verläßlicher. Sei ohne Sorge, Edlef. Du wirst hier alles in Ordnung
finden, wenn du heimkehrst.«

»Das weiß ich. Und zur Reise richte ich mir alles selbst.«

»Nicht nötig, das ist Frauensache. Gib nur dem Knecht und Ohm Rickert
Bescheid, was in der nächsten Zeit eilig zu tun ist.«

Die Gatten sahen sich an. In seinen Blicken glomm etwas Feindliches.

»Wie lange will Akke hierbleiben?« fragte Maren.

»Akke hat mich gebeten, ihr einen Dienst in Kopenhann zu verschaffen«,
entgegnete er gleichgültig.

»So! ... Sie weiß also schon um dein Fortgehen?«

»Ja, durch Zufall. Als ich sie im Stall fand. Sie wollte natürlich
durch die Vordertür zu uns kommen, sah aber dort ihren Vater ...«

»Und du willst Akke mit nach Kopenhagen nehmen?«

»Sie bat mich darum. -- Ich habe dort viel Bekannte.«

»Und das Kind?«

»Akke will dich bitten, es zu ihren Eltern zu bringen. Sie meint, dann
nehmen sie es schon auf ...«

»Sie trennt sich leicht von dem Kind???«

Edlef Holgers zuckte die Achseln. »Das liegt in ihrer Natur.«

Die Tür wurde aufgestoßen. »Hohlebbe«, schrie Ohm Rickert in die
Kammer. »Und die Flut fällt nicht mehr, sie _steht_. Mich dünkt aber,
sie kriecht schon wieder heran ...«

»Da sei Gott vor.«

Edlef und Maren liefen zugleich vor die Tür. Ja, da sahen sie es im
Scheine des Mondlichtes und der Hauslaterne. Das schon über die Stufen
herabgesunkene Wasser stieg. Da schauten sich die beiden Gatten wieder
in die Augen. »Gott bewahr’ uns vor einer ›Manndränke‹«, sagte Ohm
Rickert hinter ihnen.

Nun streckte Maren ihre zitternde Hand aus, und Edlef Holgers legte
für eines Augenblickes Dauer die seine hinein. Dann wandten sich beide
rasch ins Haus.

»Alles, was draußen zu tun ist, hab’ ich besorgt«, rief Edlef Ohm
Rickert zu. »Die ›Fethinge‹ sind mit Sandsäcken verwahrt, ich hoffe
nicht, daß die Flut unser Süßwasser verdirbt. Die zwei Boote haben
Jochen und ich verankert. Aber nun alle Mann heran, damit wir das Vieh
auf den Stallboden bekommen.«

»Doch wohl zuerst die Kinder auf den Hausboden«, weinte Mutter Holgers.

»Wir sind fünf Frauenleut«, sagte Maren. »Drei von uns wollen das rasch
tun.«

»Wer will den Mannsen beim Vieh helfen?«

Akke trat vor. »Das ist Arbeit für mich.«

»Und für mich!« folgte Tanten Frauke.

So begann die schwere Nacht für den Mutterhof.

Kläglich blökte und brüllte das Vieh. Es wollte zur ungewohnten Zeit
nicht aus den Ställen heraus und scheute vor der dumpf hallenden
Bretterrampe, die schon Edlefs Großvater hatte anlegen lassen,
um das Vieh in Stunden der höchsten Not sichern zu können. Immer
wieder entwichen die Tiere und wollten nach dem ebenerdigen Obdach
zurück. Trotzdem die schwarze, schillernde Schlange schon Besitz vom
Erdboden nahm und das Stroh durchfeuchtete. Mutter Holgers und die
Magd schleppten die schwere Holzwiege mit Lütt-Krischan. Maren trug
Akkes Kind. Klein-Karen »rettete« allerlei Unnützes und hinderte die
Erwachsenen. Onnen verwies es ihr. Seine sonnigen Knabenaugen trugen
einen über seine Jahre reifen Ausdruck. »Nimm du nur deine Puppe«,
sagte er liebreich. »Das ist dein Kind, bring’s in Sicherheit.«

Dann zog er die Schwester hastig auf den Hausboden und hieß sie
sich dort ruhig hinsetzen. -- Er selbst eilte wieder hinab und
verschnürte rasch und sachgemäß die Betten, um sie hinaus und hinauf
zu tragen, während das Wasser schon seine Knöchel umspülte. Von
den Ställen her klangen Edlef Holgers’ Befehle und der wilde Lärm,
den die verängstigten Tiere verursachten. Dazu kreischten Möwen und
Austernfischer, sie flogen ohne Scheu schutzsuchend bis in die Stuben
hinein.

»Maren«, rief Onnen mit fliegendem Atem. »Ich hörte, daß Bruder
Edlef nach Köpenhaun soll. Unseres Deiches wegen! Und sonst noch ...
Halligstudium! -- _Unsere_ Zukunft! Du _mußt_ ihn fortlassen, Maren,
du _mußt_. Nicht wahr, du tust es? Es ist zu notwendig. Ich weiß das,
Maren, wenn ich auch noch ein Junge bin.«

Maren nickte ihm zu. »Halligsach’ ist _unsere_ Sach’«, sagte sie. Und
setzte besorgt hinzu: »Sieh, wie das Wasser steigt. Wir dürfen nichts
mehr mitnehmen, müssen eilen, meine Schuhe sind schon voll Wasser ...«

»Meine auch«, lachte Onnen. Aber das Lachen verging ihm jäh, als er die
Tür öffnete. Gurgelnd, zischend, klatschend schossen die Wasser heran.
»Halt mich«, rief er Maren zu und schwang die gefährdeten Betten auf
Schulter und Kopf, und ließ sich halten, vorwärtsstoßen und führen von
der jungen Frau. Als sie auf den Hausboden kamen, schliefen die Kinder
schon, aber Onnen wollte nichts vom Bettgehen hören.

»Will zum Edlefbruder hinunter, vielleicht kann ich da noch helfen ...«

»Laß ihn«, wehrte Maren der Schwieger, die den Knaben zurückhalten
wollte. »Er ist umsichtig wie ein Mann, das Gewese liegt ihm am Herzen.«

Nun kämpfte sie mit Mutter Holgers und der Magd bei den Luken. Der
Sturm hatte zwei von ihnen aufgerissen und heulte durch sie hindurch.

»Laß sie offen, bis Mannshilfe kommt,« keuchte Mutter Holgers, »es ist
ohnehin zum Ersticken hier oben.«

Die drei Frauen saßen stumm bei den schlagenden Holzladen und konnten
sich nur dann und wann durch Zeichen verständigen. Denn ohrbetäubend
ratterte das losgebrochene, feste Holz, knarrten, gurgelten und
klatschten die Wassermassen.

»Christ Kyrie, Christ Kyrie«, schrie die Magd auf, und die Kinder
erwachten und weinten, und Klein-Karen fürchtete sich.

Später kamen triefend und erschöpft die anderen.

Akke sah seltsam wild und schön aus mit den vom Sturm gelösten
krausen Haaren und den kraftvollen Bewegungen ihrer starken Arme. Sie
versuchte die Haarmassen wieder in Flechten zu bändigen. »Heiß ist’s
hergegangen«, lachte sie mit ihrer tiefen Stimme. »_Die_ Arbeit liegt
mir besser, als Kinder päppeln.« Und sie nahm gleich Ohm Rickert Hammer
und Nägel aus der Hand, fing den schlagenden Laden auf und schlug die
Krammen wieder fest.

Da saßen sie alle im Dunkeln, aber Edlef zog aus einer Abseite eine
ungefüge Riesenlaterne hervor und entzündete darin das mächtige
Wachslicht.

Maren mühte sich, Onnen die nassen Stiefel und Strümpfe auszuziehen,
und rieb dann seine erstarrten Füße mit ihren lebenswarmen Händen.
Seine Augen sahen sie dankbar an, und er kroch willig auf das Heu, und
ließ sie die Federdecke über sich stopfen.

Auch Akke hatte sich ein Nest gewühlt. »Wenn ihr mich braucht, rüttelt
mich tüchtig«, tönte es zu den andern her. »Denn ich hab’ einen
Bärenschlaf. Wenn aber nur der blanke Hans heraufkommt, so laßt mich in
Ruh«, setzte sie leichtsinnig hinzu.

Bald hörte man ihre lauten Atemzüge, denen sich ein schnarchendes
Schnaufen aus Ohm Rickerts Ecke zugesellte. Knecht und Magd schliefen
übermüdet in unbequemer Stellung. Mutter Holgers dämmerte vor sich hin.
Tanten Frauke starrte mit seltsam glänzenden Augen in das Licht, als
sähe sie in den schwelenden Rauchwölkchen geheimnisvolle Dinge.

Die sah sie auch. Generationen zogen an ihr vorüber. Die vom Mutterhof.
Alle hatten sie so hier oben gesessen in Angst und Zagen, in Ergebung,
in wildem Wehren gegen den Tod, oder in tapferer Entschlossenheit.

Ob aber wohl eins darunter gewesen war, wie diese junge Frau Maren?
So ganz und gar selbstlos? War das nicht höher zu werten als
Gleichgültigkeit gegen den Tod oder als Todesmut? Wie sie immer wieder
sich erhob mit den müden Gliedern, der Mutter ein Kissen in das Kreuz
schob, die Magd beruhigte, nach den schlummernden Kindern sah, wenn sie
sich im Traume rührten! Und jetzt deckte sie die hergelaufene Akke zu,
die sich unruhig hin und her warf. Und schützte deren Augen vor dem
flackernden Licht der großen Laterne. Dann saß sie wieder still neben
dem jungen Gatten.

Wie war es wunderlich zwischen diesen beiden.

Und wer kannte sich aus in einem Holgers?

Hatte nicht Edlef sie selbst, die kinderlose Frauke, wieder in alle
Ehren eingesetzt, und femte nun doch sein eigen Weib?

Das war die Holgersselbstsucht, die mit der Holgersgutheit im Streit
lag seit Urbeginn.

Und der Holgershochmut wollte sich nicht beugen unter das Schicksal,
das »Entsagen« hieß.

Wie hatte die Ahne gesprochen? »Die Holgers sind wie harte Nüsse.
Niemand bringt sie auf. Und am liebsten bleiben sie droben in ihren
Zweigen. Aber einmal fallen auch sie reif vom Nußbaum herunter ins
Grab. Dann holt der Herrgott seinen Hammer und schlägt sie mühelos auf.
Schade nur, daß niemand erfährt, ob sie hohl waren oder voll süßen
Kernes.«

       *       *       *       *       *

Drunten in den Stuben stieß und polterte es.

Das Wasser spielte Ball mit den alten Möbeln. Kurze Zeit würde es
dauern und die Wände wurden eingedrückt. Wie lange sich dann wohl das
Haus auf den Grundpfählen halten würde? Christ Kyrie!!!

»Wollen wir nicht doch am Ende die Akke wecken?« fragte Maren.

»Laß sie schlafen«, entgegnete Edlef. »Du hörtest ja ihren Wunsch.«

»Sie ist ’n tapfere Frau«, schob Ohm Rickert dazwischen. »Gearbeitet
hat sie wie ein Pferd, und nun legt sie sich geruhig zum Sterben hin,
wie wenn nix wär.«

Akkes Kind fing an zu weinen.

Maren wickelte aus wollenen Tüchern die mitgebrachte warme Milchflasche
und betreute das kleine Wesen.

Jetzt prasselte drunten irgendeine Mauer zusammen, und das Wasser
umflutete das Haus. Durch die Luft kam es wie wimmernde Klagelaute,
jemand läutete die Glocken auf der Kirchwarf.

»Jesus,« schrie da Akke, »was ist das? Was soll das? Wird es denn
Ernst?« Sie rieb die Augen. Und sie kauerte plötzlich neben Edlef und
schüttelte ihn.

»Seid ihr denn auch Menschen? Wollt ihr klaglos versaufen wie die
Katzen?«

Edlef und Maren sahen bestürzt in Akkes verstörtes Gesicht.

»Hast du denn nicht geschlafen?«

»Fünf Minuten oder etwas mehr. Weil ich nicht wußte, daß es Ernst
war. Weil ... Ihr war’t alle so ruhig ... Aber nun läuten sie von der
Kirchwarf! ... Hört doch! Hört doch! Jesus, Edlef, ich will nicht
sterben.«

Sie stürzte zu der Luke, die sie selbst vor einer Stunde vernagelt
hatte und entriegelte sie. Polternd schlug der Laden aus ihrer Hand.
Alle auf dem Boden erwachten, als der eisige Nachtwind pfeifend über
sie hinstrich.

»Akke, wie kannst du?« rief Maren bestürzt und suchte sie vom Fenster
fortzuziehen, während Edlef den Laden wieder einfangen wollte.

Aber Akke schlug nach ihnen. »Laßt mich! Seht ihr nicht, wie das
Wasser da drunten wühlt? Ist denn keine Möglichkeit, aus diesem Loch
herauszukommen? O dies gräßliche Läuten! Geht’s denn zum Sterben?«

Sie schrie und schlug um sich und jammerte, und lehnte sich weit aus
der Lukenöffnung und lallte entsetzte Laute, wenn der tobende Gischt
sie umsprühte. Die beiden Säuglinge schrien jämmerlich, Maren legte
Lütt-Krischan trockene Wäsche unter und beruhigte Akkes Kind, daß es
wieder einschlief. »Herr, gebiete dem Sturm, schütz’ Haus und Turm«,
beteten Knecht und Magd.

Edlef nagelte den Laden aufs neue fest, und dabei konnte er sich nur
mit Mühe der jammernden Akke erwehren, die sich immer wieder auf ihn
warf.

»Memme«, rief Jung-Onnen plötzlich und stand in dürftigster Bekleidung
vor Akke. »Warum sagtest du denn vorhin so ein hochmütiges Wort, du
wolltest schlafen, wenn der blanke Hans käme? Und nun kommt er, und nun
ist alles gelogen?«

»Er soll nicht kommen!« Akke streckte abwehrend ihre Hände aus. »Ich
hab’ das nicht gewußt, ich hab’ das nicht gewußt ...«

Sie ächzte laut und warf sich auf ihren Bettplatz, und wiederholte
immerfort die Jammerworte. Dann sprang sie auf.

»Was seid ihr auch für gräsige Holzpuppen, ihr Holgers!« rief sie außer
sich. »O warum bin ich auf die grauenhafte Hallig gekommen! Warum bin
ich nicht in Hamburg geblieben! Dann dürft ich jetzt leben, leben,
leben ...«

Da schüttelte Onnen seine jungen, starken Fäuste vor ihren Augen:
»_Stirb anständig!!!_ Du! ... Schmäh die Hallig nicht ...«

Und er warf sich auf sein Lager und weinte wild und schmerzlich.

Da kroch Edlef Holgers zu ihm hin und nahm ihn in seine Arme. Was
hatte der junge Bruder da eben gesagt? »Stirb anständig!«

Edlef strich ihm über das Blondhaar, das heiß und feucht von der
inneren Erregung an der Stirn klebte. Und er fühlte, wie die jungen
Glieder zitterten.

»Nicht krank werden«, raunte Edlef an Onnens Ohr. »Wir zwei müssen
uns recht kennen lernen, du ... kleiner Bruder! Reiß’ dich zusammen!
In deine Hände will ich ja Maren geben, wenn ich fort muß ... Spürst
du mein Vertrauen? Ja? So sind wir heut erst rechte Halligbrüder
geworden ...« Ganz dicht schmiegte sich Onnen an des großen Bruders
Brust.

»Up ewig ungedeelt ...«, lallte er und dann lösten sich seine Glieder
in überwältigender Müdigkeit. Sacht ließ Edlef ihn auf das Lager
zurückgleiten, und legte sich neben ihn und faltete seine großen Hände
über den Kinderhänden. --

Am andern Morgen fiel ein Sonnenstrahl durch das Lukenloch und weckte
Maren. Sie schreckte auf. Alle Glieder schmerzten sie heftig. Die Arme
und Hände waren abgestorben, beide Kinder hielt sie krampfhaft an ihre
Brust gedrückt. Ihr Rücken lehnte an dem großen Bodenbalken, sie konnte
kaum den Kopf drehen. Unerträglicher Nackenschmerz quälte sie. Lange
konnte sie nicht geschlafen haben, die Säuglinge hatten die Nacht durch
geschrien, ohne doch die schwer ermüdeten anderen aufzuwecken. Auch war
Maren mehrmals zu dem laut redenden Onnen hingetreten und hatte ihm aus
dem Wasserkrug zu trinken gegeben. Tief und fest schlief Edlef neben
dem Knaben.

Nun tastete sich Maren nach dem Laden, riegelte ihn sachte auf und ließ
die Sonne in den dumpfen Oberboden hinein. Die lachende Sonne, die
eine grauenhafte Verwüstung beschien. Maren stöhnte auf, als sie die
kurze Umschau hielt. Von den Ställen her hörte sie das Vieh blöken und
brüllen. Sie legte die beiden festschlafenden Kinder in die Wiege. Als
sie aufschaute, sah sie in Tanten Fraukes ernste Augen.

»Maren, mein Deern, hilf mir auf, -- ich kann mich nicht rühren --,
aber Gott sei ewig Dank, wir leben und der Mutterhof auch ...«

»Aber _wie_ lebt er!« seufzte Maren.

»Komm, Tanten Frauke, wir wollen die andern nicht wecken, sieh, wie
völlig erschöpft sie schlafen.«

Sie tasteten sich vorsichtig über die Schläfer hinweg zur Stiege hin.

Als sie an Akkes Lager vorbeikamen, erschraken beide. Das Bett war
leer. Auch drunten weit und breit nichts von ihr zu entdecken.

»Vielleicht ist sie schon beim Vieh«, meinte beruhigend Tanten Frauke,
und sie schritt, so rasch es ihre steifen Glieder vermochten, nach dem
Stallboden. Auch Maren ging tapfer gegen die körperlichen Schmerzen
an. Sie schlich sich in die Küche, mußte sich dort aber an die Tür
lehnen in heftigem Schreck. Verheerend hatte der Sturm gewütet.
Schlamm, Seetang und Muscheln bedeckten den Küchenboden. Darin standen
die schmutzigen Küchenmöbel und Kochgeräte bunt durcheinander. Mit
unsäglicher Mühe öffnete Maren die eiserne Lade, in welcher sich
trockenes Holz befand. Streichhölzer lagen dabei, so konnte sie rasch
ein prasselndes Feuer entfachen. Als sie sich umdrehte, stand die Magd
Gesine mit verschlafenem Gesicht und krummem Rücken in der Tür, sie
schleppte einen Eimer Regenwasser.

»Den kriegen wir erst mal zu Feuer«, lachte sie. »Un denn en orndlichen
Kaffeepunsch, der bringt uns alle wieder auf die Beine. Christ Kyrie,
war das eine Nacht! Un wo süht dat hier ut!«

Sie reinigten den verschlammten Wasserkessel, füllten ihn und setzten
ihn auf das fauchende Feuer. Aus einem hochgelegenen Wandschapp, daran
die Wellen nicht gelangt hatten, holte Maren eine Flasche »reines
Gotteswort« und setzte sie auf den Herd. Nach einer Weile kam Tanten
Frauke mit dem halbgefüllten Milcheimer.

»Wir müssen doch die Mannsen wecken,« sagte sie besorgt, »das Vieh muß
vom Boden herunter, es sieht nicht alles so aus, wie es soll. Und die
Akke ist auch nicht droben.«

Tanten Frauke begab sich nach dem Oberboden, um dort Bescheid zu sagen,
unterdessen versuchte Maren, etwas Behaglichkeit in den Wohnpesel zu
bringen. Die Magd heizte den Ofen. Dabei kopfschüttelte sie ergiebig.
»Dat süht bös ut, buten un binnen, dat duert ’n beten, bet wi wedder in
de Reg sünd ...«

»Aber wir haben niemand verloren«, tröstete Maren sich selbst mit, denn
im Grunde war ihr das Herz bitter schwer.

»Dor kümmt de Brefträger«, sagte die Magd und wies nach dem Fenster.

Peter Hansen brachte an Edlef einen großen Brief und für Maren eine
fröhliche Karte von Nomine aus Bacharach am Rhein. Der Bote machte ein
ernstes Gesicht.

»Dat wier ’n sworer Abend un ne schlechte Nach!«

»Sünd ji god toweg?« fragte er teilnahmevoll.

»Ja, Hansen, god toweg.«

»Dann setten Se man glicks ›Gott sei Lob un Dank‹ achteran, Fru Maren.
Dat wier ’n richtigen Manndränke ... Gott sei allen gnädig.« Peter
Hansen setzte sich schwerfällig auf einen umgestürzten Zuber und
wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wie meinen Sie das?« fragte Maren mit stockendem Atem.

»Weeten Se denn noch gor nix, Fru Holgers? Hebben Se denn slöppt?«

»Sie wissen, Hansen, daß die Grootwarf am weitesten liegt, uns hat noch
niemand Nachricht gebracht ...« Maren sah den Boten aus jammervollen
Augen an.

»Die Schulwarf hat’s am härtesten getroffen ...« Der Briefträger
bedeckte einen Augenblick die Augen mit der Hand.

»Mein Bruder Manne?« fragte Maren heiser.

»De Scholmeester kann noch vun Glück seggen. De hat man blot de linke
Hand braken, äwer Vadder Luersen ...«

»Mein Mannebruder!« stöhnte Maren. »Und ich nicht bei ihm. Und was
ist’s mit Luersen?«

Da sah sie, daß der Briefbote weinte. »Sin Fru und sin Kinners sin em
verdrunken ...! Herrgott, Fru Holgers ...!«

Er sackte steuerlos in sich zusammen.

Die Magd jammerte laut. In Marens weißem Gesicht rührte sich kein Zug.
»Ist seine Tochter Akke dort?« fragte sie heiser.

»Dat is ’t jo man. De weet von nix. De is hüt vör Dau un Dag mit’n
Postschipper nah Pellworm segelt, un von dor gliks nah Husum. Se war
dull in de Fohrt ... Du grote Gott, ne, de weet von nix. Sonst weer
se jo wohl dor. De is doch all ehr Dag dat Kücken west in Luersens
Höhnerstall. --«

Maren hielt die Hände gefaltet. Sie murmelte tonlose Worte vor sich
hin: »Die ist fort ... Die weiß nichts ... Frau und alle Kinder
ertrunken ...«

Der Briefträger stieß sie ein wenig an, damit sie sich besänne. »Ja, so
was greift an, Frau Holgers«, meinte er betrübt.

Jetzt kam Edlef von den Ställen her.

»Uns gehen ein paar Stück Vieh drauf, Maren,« rief er ihr zu. »Mich
dauern die armen Tiere. Und _schwerer_ Schaden überall ... Was hast du,
Maren?«

Die Lippen in ihrem weißen Gesicht bewegten sich, aber man konnte
nichts verstehen. Die Magd reichte ihr besorgt eine Tasse vom heißen,
stark duftenden Kaffeepunsch. Maren trank gierig, und es kam etwas
Farbe in ihr trostloses Antlitz.

»Dat is man, Herr Holgers, daß Se blot Vieh verloren hebben,« sagte der
Bote, »awer up annere Warfen ...«

Und dann erzählte er noch einmal den ganzen Jammer der Schulwarf.

»Den Scholmeester hat de Fru Pastern all in Pflege«, setzte er hinzu.
»Da soll sich Fru Holgers nich sorgen. Aber bei Vadder Luersen, da muß
wohl uns’ Herrgott de Pfleg’ übernehmen ...«

»Ich komme heute noch hin auf die Schulwarf.«

»Das wird gut sein, Frau Holgers.«

Peter Hansen stärkte sich nun auch am dargereichten Kaffeepunsch, aber
er erzählte nichts mehr. Trotzdem Mutter Holgers, Tanten Frauke und der
Knecht dazu kamen. Er schüttelte nur immer mit dem Kopf und schien ganz
von dem Unglück der letzten Nacht erfüllt zu sein. Dann nahm er seine
Mütze und entfernte sich dankend. --

Fieberhaft arbeitete Maren. --

Ungeahnte Kräfte schienen ihr zu kommen. Sie scheuerte mit der Magd
an den verschlammten Stuben und Möbeln. Sie brachte die schreienden
Wochenkinder in frische Wäsche und in die behaglich-dunkle Ruhe von
der Ahne-Döntje. Sie schaffte Onnen vom Boden herunter und bettete ihn
einstweilen auf ihr eigenes Lager, denn der Knabe war übermüdet und
völlig schlafsüchtig. Maren aß auch gehorsam, was man ihr vorsetzte.
Man sah, sie wollte sich aufrecht halten, um all der vielen Pflichten
willen, die auf sie warteten. Dann, am Nachmittage, als die nötigste
Arbeit getan war, und Mutter und Tante sie drängten, stand sie fragend
vor ihrem Gatten. Der zimmerte mit dem Knecht und einem »Bohlsgenossen«
den umgerissenen Zaun wieder zurecht.

»Nicht wahr, du läßt mich jetzt zu Manne gehen?«

»Allstunds«, entgegnete Edlef.

Da wandte sie sich und stieg die Stufen hinunter und kehrte sich nicht
ein einziges Mal um. Und ihr Auge sah nichts von der Zerstörung auf dem
Mutterhof und sonst rings umher. Weil ihr eigen Herz verstört und voll
des Jammers war.

All die vielen Wasser- und Wellenberge waren zurückgerauscht, warm
schien jetzt eine milde Herbstsonne auf die verschlammten Fennen. In
der Ferne glitzerte die ruhig dünende See.

Maren schritt mit einem inneren Grauen an Vadder Luersens Haus vorüber.
Da hatte das Wasser die morschen Wände eingedrückt, ganz schief stand
die Kate, und durch das halb abgedeckte Dach schien die Sonne auf eine
Stätte der Verwüstung. Ein alter Knecht aus dem Nachbarhaus stand
allein vor dem verfallenen Gewese. Er grüßte Maren und deutete mit der
kurzen Stummelpfeife auf das Wrack.

»Eben hett man se wegbröcht.«

»Wen?« stieß Maren hervor.

»De Liken. De Fru un fief Kinner. De Paster hett se all in de Kirch
bringen laten. Dor liggen se, bet se to Erd bröcht ward. De Nahber
Luersen is gorni da west, as se verdrunken sün. De hett sin Akke söcht.
Un as de Flut kam, hett he bien Paster seten. De Akke wier so allstunds
sin Zockerpopp. Dat süll äwer nüms weten. Unten an de Postfähre hett
he ok stunnen ... Aber se is nich kamen. Un dann hett he weiter söcht,
Warf um Warf ... Un as he endlich heimgung ... Ja, -- da wier dat so
... Um Middernacht wier dat so ... Un in Morgengrauen hett man se
funnen, -- sien Akke nich, äwer sien Fru und Kinner.«

Maren stürmte weiter, von Grausen geschüttelt.

Dann klinkte sie endlich die Tür im Schulhaus auf. Und klopfte an und
lag an Manne Wögens Brust. Und lachte und weinte in höchster Erregung:
»Gottlob, ich bin bei dir.«

Er streichelte sie beruhigend mit der gesunden Rechten. Die linke Hand
und der Arm lagen zwischen zwei Holzstücken geschient, sie sah es mit
einem Blick. Und furchtbar blaß sah der Bruder aus und seine Augen
lagen gramvoll in den Höhlen. Ja, es schien Maren, als zöge sich durch
das leicht gewellte dunkle Blondhaar ein weißer Streifen ...

»Manne!« rief sie entsetzt.

Da tönte aus der Ecke, darinnen der alte Ohrenstuhl stand, ein
jammervolles, heiseres Singen. Marens Herz wollte stillstehen:

    »Slaap, slaap, mien Zockerpopp,
    Morgen fruh weck ik di op ...«

Manne Wögens wollte sie zurückhalten, aber Maren war schon bei dem
alten Sessel, drin alle Wögens ausgeruht hatten. War das Vadder
Luersen, der darin hockte? Der in seinen Armen ein altes, schmutziges
Kinderkissen schaukelte und mit leeren Augen und blödem Gesicht das
Lied lallte?

»Herrgott im Himmel, du!« stöhnte Maren und griff nach einem Halt. Der
Bruder umfaßte sie. Auch seine Augen brannten.

Vadder Luersen lächelte blöde. »Dat’s mien Akke«, sagte er
geheimnisvoll. »Ik heff se endlich funnen, mien söte Deern.« Und er
wiegte das Kissen und sang unermüdlich:

    Slaap, slaap, mien Zockerpopp,
    Morgen fruh weck ik di op ...

»So geht das seit heute nacht, da das Unglück geschah«, sagte Manne.
»Wir können ganz laut sprechen, er merkt nichts von seiner Umgebung und
erkennt niemand. Maren, gottlob, du lebst und bist gesund. Und alles
bei euch ist wohlauf. Ich hörte es, sonst säße ich nicht so ruhig hier.«

»Und wie geschah _dein_ Unglück?« fragte Maren leise und zeigte auf die
schwerverletzte Hand.

»Ach, nicht der Rede wert. Als wir die ... Leichen aus dem Hause
freilegen wollten, schlug ein Balken auf die Hand. Die Pastorin hat
mich geschient. Morgen kommt der Doktor, er hat schon angerufen; sorg’
dich nicht, Marenschwester.«

Sie zitterte in seinem Arm.

»Ist noch weiteres Unglück geschehen?«

»Die auf der Lüttwarf sind obdachlos geworden«, berichtete Manne. »Der
Pfarrer hat sie alle sechs aufgenommen. Drei alte Frauen sind drunter.
Das Jammern ist groß bei ihnen, weil sie alles verloren haben.« --

Maren berichtete von der bangen Nacht im Mutterhof. Mit tief
verfinstertem Gesicht hörte Manne zu, als sie von Akke erzählte. Scheu
streifte sein Blick das reine, blasse Gesicht der Schwester.

»Wann will Edlef fort?«

»Bald, Manne.«

»Es ist notwendig, Maren. Die Hallig fordert es, unsere Heimat. So leid
es mir für dich ist ...«

»O, es ist besser für uns beide, wenn er fort sein wird ...«

»Steht es _so_ um euch ...?«

»Ja, Manne.«

Schmerzlich schüttelte der Lehrer den Kopf. »Du arme Deern ...«

»Nicht so, Manne. Nicht beklagen. Ich habe alle meine Kraft so gerade
eben beisammen. Mitleid ... das könnte mich umwerfen.«

»Wie lange will Edlef fort?«

»Auf ein halbes Jahr, oder ein ganzes ... ich weiß es nicht.«

»Wir zwei wollen viel zusammen sein, mein Deern.«

»Ich will _viel_ arbeiten, Mannebruder. Daran werde ich gesunden. Der
Mutterhof hat einen Reichtum an Arbeit für mich ... Ich will auch Akkes
Kind behalten. Die Mutter ist auf und davon, und der Großvater ...« Sie
zeigte auf den Irren.

»Du starkes Herz!« sagte Manne Wögens. Und er küßte seine
Marenschwester auf das schlicht gescheitelte Braunhaar. »Geh’ jetzt«,
bat er dann liebreich. »Dein Bleiben ist auf dem Mutterhof. Wenn du
den Onnen entbehren kannst, schickst du mir Bericht, und ich gebe ihm
Nachricht von mir mit. Vadder Luersen bleibt bei mir, bis Fürsorge
getroffen ist, wo er unterkommt. Du siehst, er ist wie ein Kind. Mein
alter Knecht und ich bringen ihn jetzt zu Bett.«

»Ja, ja, ins Bett«, greinte Vadder Luersen. »Slaap, slaap, mien
Zockerpopp ...«

Da führte Manne Wögens seine Marenschwester hinaus.

Es war ihr unmöglich, noch einmal an Vadder Luersens Haus
vorbeizugehen. Ihre Nerven waren überreizt. Ihr schien es, als griffen
Arme und Hände von dort herüber nach ihr. So grauenvoll dünkte sie das
tote Haus. Und doch schritt Maren gleich rechter Hand den Weg hinunter
zur Kirchwarf hin. Trotzdem sie wußte, daß dort die Leichen aufgebahrt
lagen. Aber aus dem Pastorat schien ihr eine tröstliche Fernwirkung
zu kommen. Sie sehnte sich nach der gütigen Frau Luischen, nach dem
ernsten, verstehenden Lächeln des Seelsorgers. Und sie sah in Gedanken
an heiliger Stätte die ausgebreiteten Arme dessen, der gesagt hatte:
»Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!«

Pastor Licht und seine Frau traten gerade aus der Kirchtür. Sie gingen
wie zwei, die viel Leid tragen. Und man sah ihren bewegten Zügen an,
wie mächtig das, was da drinnen lag, ihr Inneres aufgerührt hatte.

Maren ging zu ihnen und begrüßte sie still. --

»Es ist ein Schnitter, der heißt Tod«, sagte Pastor Licht ernst.

Und Frau Luischen drückte Marens Hände und zog zugleich ihr warmes
Umschlagetuch um die junge, blasse Frau. Recht wie eine Henne, die
ihrem Küchlein warmen Unterschlupf gewährt. »Nicht anschauen, das da
drinnen«, riet sie und zeigte nach der Kirche. »Diesmal hat der Tod
kein friedvolles Aussehen ...«

Sie führte Maren ins Pfarrhaus.

Da war zwar auch noch nichts vom Frieden zu spüren. In der warmen
Diele saßen sechs alte Leutlein, drei Frauen und drei Männer. Sie
weinten, klagten und stritten sich ein weniges. Hörten auch nicht damit
auf, während die Pastorleute und ihr Gast die Diele durchschritten.

»Alle sechs über die Siebzig«, kopfschüttelte Pastor Licht. »Aber noch
ganz erdenheimisch. Dabei nicht einmal dankbar, daß unser Herrgott
sie noch nicht abrief. Sondern mit Herz und Sinn dem nachklagend, was
Motten und Rost verfallen ist. Und was gestern das Wasser verschlungen
hat. --«

»Werden die sechs bald ein Unterkommen finden?« fragte Maren
teilnahmevoll. »Frau Pastorin wird das auf die Dauer nicht schaffen
können ...«

»Freilich nicht«, meinte betrübt Frau Luischen. »Da sind besonders die
drei, Momme Mommsen, Gesche Wiensen und Melf Brodersen. Die haben einen
unheimlichen Appetit. Weiß nicht, wie ich sie satt kriegen soll. Und an
Arbeit fehlt’s auf unserer kleinen Warf. Und doch sind sie alle drei
gesund und müßten beschäftigt werden ...«

»Geben Sie sie mir«, rief Maren lebhaft. »Ich hab’ Arbeit in Hülle
und Fülle. Mein Mann verläßt mich, ...« sie erschrak selbst über das
eigenartige Wortspiel und setzte hastig hinzu: »Er ist nach Kopenhagen
gewählt. Soll auch in Kiel und Hamburg bleiben ...«

»Laden Sie sich auch nicht zu viel auf, Frau Holgers?« Pastor Licht
drohte mit dem Finger. »Sie haben doch schon Melenkes Kind bei sich ...«

Zum erstenmal lächelte Maren. »Ja, und Akkes Kind ist auch bei mir.«
Sie erzählte rasch von Akkes kopfloser Flucht, und daß sie das Kind
um des unglücklichen, schwer betroffenen Großvaters willen so lange
behalten wolle, bis Akke sich melde und es zu sich hole. »Nun kann die
Großwarf doch wieder ein rechter Mutterhof sein«, setzte sie errötend
hinzu.

Da sagte auch Pastor Licht: »Du starkes Herz!« Wie vorhin Manne Wögens.
Und gab ihr das väterliche Du, das er sonst nur für seine eigenen,
erwachsenen Konfirmanden hatte.

Nun wurde alles sachgemäß besprochen. Auch mit den drei alten Leuten.
Die waren ganz aufgeräumt, daß sie auf den stattlichen, reichen
Mutterhof sollten. Der Aufenthalt »bei Pastersch« sah ihnen wie
Almosennehmen aus, weil keine rechte Arbeit für sie da war.

»Ihr könnt gleich mitkommen«, gebot Maren freundlich den drei
Auserwählten. Dann nahm sie noch eine ergiebige Vesper mit den
gastfreien Wirten ein und zog schier fröhlich mit ihrem seltsamen,
humpelnden Gefolge ab. Das Pastorenpaar mit den drei Bresthaften winkte
ihnen lange nach. Händereibend schritt dann Pastor Licht in seiner
Stube auf und ab. »Siehst du, Luischen, vorhin drückte mich der Anblick
des schaurigen Todes da drinnen schier zu Boden. Und nun zeigt mir
gleichdrauf der Herrgott so echtes Menschentum und hebt mich wieder
auf. Nun kann ich froh an mein Tagwerk gehen.« --

Der Mutterhof empfing seine junge Herrin in voller Tätigkeit.
Der aufgebaute Zaun leuchtete ihr mit den vielen neueingesetzten
Holzteilen förmlich entgegen. Die von der Sturmflut weniger bedrängten
Warfbohlsgenossen hatten sich eingefunden, um an allen Ecken und
Enden zu helfen, und Maren Holgers begrüßte die Nachbarn mit dankbarem
Handschlag. Dann eilte sie ins Haus. Auch hier hatte man die Zeit gut
genutzt. Alle Stuben unten waren tüchtig durchheizt und sauber, die
Säuglinge schliefen in zwei Wiegen. Erstaunt sah Maren, daß Tanten
Frauke ihr nie benutztes Heiligtum für Akkes Kind hergegeben hatte.
Mutter Holgers schlief übermüdet von der unruhigen Nacht einen tiefen
Erschöpfungsschlaf, und Ohm Rickert ging bastelnd, rauchend und
philosophierend im ganzen Gewese umher.

»Allens im Lot«, sagte er nickend. Und setzte ritterlich hinzu: »Eben
meint ich noch, jetzt müßt büschen Sonne kommen, damit das hier wieder
durch und durch trocken und warm wird. Und süh so, -- da kommt auch
schon Nichte Maren.«

Und doch war es Maren, als sähe der Alte wie verlegen an ihr vorbei.
Da ging sie in den Wohnpesel des Mutterhofs, um nach Onnen und Karen
zu sehen, fand aber nur Karen fest schlafend auf dem Sofa. Und Onnens
Kammer ausgeräumt. Sie ging nach dem Jungteil und fand es leer und
unordentlich. Und lief nach Tanten Fraukes Altenteil, und sah Frauke
Holgers über ein Bett geneigt, in dem Onnen noch immer schlummerte.
Bei Marens Eintritt drehte sich Tanten Frauke um und war mit raschen
Schritten bei ihr. »Wie müde du aussiehst, meine Maren ... Und ich kann
dir keine Ruhe und keine Freude bringen.«

»Edlef?« fragte Maren. Und eine Flamme schlug ihr ins Gesicht, weil sie
zuerst und immer nur an ihn gedacht. Und sie sah doch, daß hier ein
Schwerkrankes lag -- ihr kleiner, guter Onnenschwager.

»In Onnen scheint eine ernste Krankheit zu stecken.« Tanten Frauke ging
mit zartem Takt über Marens Frage hinweg. »Er schläft seit heut morgen
fast ununterbrochen. Nur ein paar Minuten war er halbwach ..., als
Edlef Abschied nahm ...«

Maren taumelte. »Edlef ... nahm Abschied ...?«

»Ja, Maren, mein Deern. Er läßt dich grüßen. Er bekam ein Telegramm.
Hat alles noch geordnet, so gut es ging. Er übergibt dir den Mutterhof.
So sei er in guter Hand.«

Auch Tanten Frauke sah an Maren vorbei. Ganz bewußt. Und ganz ruhig
sprach sie. Als sei diese Abreise nicht für ein ganzes Jahr vor sich
gegangen, sondern etwas Alltägliches.

Und all ihre Gedanken, all ihr Feinempfinden, all ihre große Liebe zu
Maren schienen eine Mauer um das junge Weib zu bauen, die es schützen
sollte vor Neugier und wehtuendem Mitleid.

Mit tastenden Schritten ging Maren an Onnens Bett und sah still auf
den Schläfer nieder. Nach einer Weile schlug dieser die Augen auf.
Er schien Maren nicht gleich zu erkennen, aber dann festigte sich
sein Blick. »Du!« sagte er mit schattenhaftem Lächeln. »Einen schönen
Gruß ... Wenn ich nicht mehr so müde bin, soll ich dich beschützen,
Marenschwester ... Edlef läßt dir sagen: _Gott behüt!_«

Da kniete Maren am Bette nieder und ihr Kopf sank auf die fieberheiße
Hand des Knaben. Und sie weinte, wie sie nie in ihrem tapferen Leben
geweint hatte. --

Tanten Frauke ging sacht aus der Tür. Draußen nahm sie einen Holzstuhl,
stellte ihn vor die Tür und setzte sich darauf. Und hielt treue Wacht,
bis sich ein verzweifelndes Menschenkind durchgerungen hatte. --

       *       *       *       *       *

Auf Hallig Likamp lag Schnee.

Und ein kalter Nordost fauchte. Es war niemand unterwegs, den sein
Beruf nicht unbedingt hinaustrieb. Eisblumen glitzerten an jeglichen
Scheiben, und die Beilegeöfen verlangten viel Speisung, um die Stuben
einigermaßen behaglich zu machen.

Manne Wögens ging nach der Postwarf, um seine Briefe abzuholen und ein
Paket, das ihm angekündigt war. An der Anlegestelle des Postschiffes
wehte ein dunkelblauer Schleier. Nachdem er das festgestellt, ging er
ein wenig rascher zu und half der Aussteigenden.

»Hier«, sagte Nomine Holgers lachend.

Sie hielt ihm ein Postpaket hin. »Ich habe es für Sie ausgesucht in den
anderthalb Stunden des langweiligen Kreuzens.«

»Wie überaus freundlich!« lächelte er überhöflich. »Und daß wir uns im
Advent treffen, genau am Jahrestag wie beim letztenmal! Wissen Sie, daß
Sie ein Jahr lang nicht hier waren? Und weiß der Mutterhof, daß Sie
kommen?«

»Nein. Wir Holgers sind allem Brimborium und aller Sentimentalität
abhold. Das wissen Sie ja.«

»Das steht doch nicht so ganz fest. Aber allerdings bei Ihnen
persönlich habe ich diese Überzeugung. Sie sind einwandfrei
unsentimental, Fräulein Doktor.«

Nomine errötete. Höchst überflüssig, wie sie bei sich selbst
feststellte. Aber es berührte sie wunderlich, da der Lehrer ihr zum
erstenmal den Titel gab.

»Haben wir den gleichen Weg?« fragte sie fast verlegen. Und als er
ihr sagte, daß er sie nach dem Mutterhof geleiten wolle, nahm sie das
Gespräch wieder auf.

»Ich allein erscheine Ihnen ohne Gefühlsduselei??? Und Sie sind doch
der beste Freund der Ahne.«

»Eben darum. Bei ihr konnte ich tiefer schürfen. Und fand viel von
›Brimborium‹ und von dem, was Sie mit dem Schlagwort ›Sentimentalität‹
abtun.«

»Da wissen Sie in der Tat mehr als ich. Und meine Mutter? Erscheint sie
Ihnen auch sentimental?«

»Jedenfalls hat sich Frau Holgers innerlich und äußerlich so
verändert, daß Sie Ihre Mutter kaum wiedererkennen. Bleibt also noch
Tanten Frauke. Nun, bei ihr werden Sie mir selbst zugeben, daß sie,
gottlob (so sage ich), viel Brimborium zu eigen hat. Und Ihre jungen
Geschwister, Fräulein Doktor? Klein-Karen lebt in einer köstlichen
Puppen- und Märchenwelt, und Onnen???«

»Ja, den haben Sie mir gründlich verdorben«, fuhr es Nomine zornig
heraus.

Eine dunkle Röte jagte über Manne Wögens Stirn. Nach kurzer Pause
fragte er schier gleichgültig: »Wie wollen Sie das begründen?«

»Onnen ist etwas Besonderes ...« sagte sie heftig.

»Seltsam, daß Ihnen das nicht entgangen ist bei dem Studium und der
Doktorarbeit ...«

Sie sah ihn böse an. »Ich meine, ein Schulmeister sollte einem den
Fleiß nicht gar so verübeln.«

»Wenn der Fleiß so rücksichtslos ist wie der Ihre, Fräulein Doktor,
dann verüble ich ihn allerdings. Er ist Ihr schwerster Fehler und Ihr
größter Feind.«

»Ach nein, der sind _Sie_, Manne Wögens. Das wird mir von Mal zu Mal
klarer.«

»Ich staune über Ihre Menschenkenntnis, Fräulein Doktor.«

Sie sah das wunderliche Zucken in seinem Gesicht, und wußte nicht
recht, was sie daraus folgern sollte. »Onnen war ganz _mein_ Junge«,
nahm sie das Thema wieder auf. »Und es war mir der liebste Gedanke,
daß er mein ›Amanuensis‹ würde. Nun haben Sie ihn zum ›Halligburschen‹
gestempelt ...«

»Das war Onnen _immer_. Ein Bodenständiger -- einer, dem die
Heimatflucht das größte Verbrechen dünkt, wenn er’s auch noch gar nicht
in Worte faßt. Ich habe an Onnen nichts gemodelt, nur befestigt. Und
Sie, Fräulein Doktor, begingen einfach den Fehler, die Rechnung ohne
den Wirt zu machen.«

»Den Fehler kann ich noch beseitigen. Ich werde mich in diesen Ferien
ganz nur Onnen widmen. Brieflich ist die Verständigung schwer mit solch
einem trotzigen Feuerkopf. Aber durch persönlichen Einfluß ...«

»Den haben Sie nicht mehr, Fräulein Doktor ...«

Nomine Holgers blieb plötzlich stehen. »Daß ich nicht lache, Manne
Wögens ...«

»Da gibt’s nichts zu lachen«, sagte er schroff. »Onnen gehört auch gar
nicht mehr _Ihnen_.«

»Das sind ja überwältigende Neuigkeiten. Darf ich fragen, in wessen
Besitz mein leiblicher Bruder übergegangen ist? Doch sicher in den
Ihren ...«

»Sie irren, Fräulein Doktor. Er gehört jetzt meiner Schwester Maren.
Sie hat ihn allein und mit eigener schwerer Lebensgefahr in fast drei
Monaten aus Typhus und Diphtheritis gesund gepflegt.«

Wie Keulenschläge fielen seine Worte.

»Onnen? Maren?« stammelte Nomine, »davon weiß ich nichts ...«

»Sie haben ein Jahr lang nicht geschrieben, sind ein Jahr lang nicht
auf der Hallig gewesen«, klang es hart. »Als uns Onnen sterben wollte,
schrieb ich an Sie. Schier wider meinen Willen aus einem inneren Zwange
heraus ...«

»Ich habe nichts erhalten.«

»Nein, der Brief kam zurück. Adressat verzogen, unbekannt wohin ...«

»Ich war auf Reisen, _mußte_ mich erholen ...«

Der Trotz erhob sich wieder in ihr, sie wehrte sich gegen Manne Wögens
unbarmherzige Aufrichtigkeit.

»Ja, ich weiß. Sie hatten Ihre neue Adresse niemand hinterlassen. Das
ist bequem, Fräulein Doktor, aber es befremdet Leute, die noch mitten
im ›Brimborium‹ stehen ...«

Sie warf beleidigt den Kopf zurück. »Erzählen Sie weiter«, gebot
sie kurz. »Sie haben ja gewiß noch den ganzen Sack voll schöner
Neuigkeiten, Manne Wögens. Oder nicht?«

»Neuigkeiten? Ja! Schön? Nein! Aber so reichlich, daß ich fürchte, ich
komme nicht zu Ende, bis wir den Mutterhof erreicht haben.«

»So unartig also war’t ihr Halligleute, während ich nur ein Jahr fort
war?« versuchte Nomine zu scherzen.

»Ja, wir Halligleute -- Fräulein Doktor scheint sich überhaupt nicht
mehr dazu zu rechnen -- erlaubten uns _sehr_ unartig zu sein, über die
Gebühr unartig, -- Gott, was haben wir alles angestellt ...!«

Nomine Holgers sah ihn prüfend an. Die sonderbar bittere Art seiner
Berichterstattung befremdete sie. Es war kein Humor mehr dabei.

»Das scheint mir so«, sagte sie bedeutungsvoll. »Sie tragen ja noch den
Arm in der Binde. Haben Sie gerauft?«

»Mit dem Tode, ja. Aber er war stärker als wir alle.«

»Manne Wögens, Sie sind wirklich unausstehlich. Was soll diese ganze
Art? Wenn es Scherz sein soll ..., Sie pflegten früher geschmackvoller
zu scherzen.«

Er lachte grell und bitter auf. Und dann faßte er mit seiner gesunden
Rechten ihr Handgelenk und hielt es wie in einem Schraubstock fest.
Zornig blitzten seine Augen sie an. Sie wollte sich losreißen, aber er
zwang sie stehenzubleiben.

»Was ficht Sie an, Manne Wögens?« rief sie böse.

»Der _Zorn_, Prinzessin Nomine. Ein Jahr lang haben Sie sich nicht um
Ihre Heimat und um uns gekümmert. Ein Jahr lang haben wir hier in
Kümmernis und Herzenssorgen gelebt, und Sie haben nicht danach gefragt.
Meiner Maren wollten und sollten Sie eine Schwester sein; haben Sie
Ihr Wort gehalten? Alle Brücken zur Heimat hatten Sie hinter sich
abgebrochen. Warum? Aus kaltherziger, eigensüchtiger Bequemlichkeit.
Und wie wollen Sie vor Gott bestehen, wenn er Sie nach Melenke fragt?«

Nun hatte sie sich mit einem Ruck losgerissen.

»Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Herr Lehrer Wögens. Ich sitze
nicht mehr auf der Schulbank. Trotzdem will ich Ihnen Antwort geben.
Ernste Arbeit für meinen künftigen Beruf ist nicht kaltherzige
Bequemlichkeit. Allerdings, ich wollte nicht _unnütz_ gestört werden.
Und des Heimatballastes etwas ledig werden. Aber ich habe zweimal an
Melenke geschrieben und sie nach Kiel eingeladen. War auch ganz im
Anfang bei ihr in Hamburg. Aber ihre Umgebung war für mich unwürdig ...
Und dann ... nahm mich allerdings das Bauen meines Doktors _ganz_ in
Anspruch ...«

»Und damit war die Schwester völlig aus Ihrem Gedächtnis entschwunden?
Ich kann’s mir denken ...«

»Warum examinieren Sie mich?« fuhr sie wieder auf. »Ich verbitte mir’s.
Ich habe einmal Ohm Rickert in Husum getroffen. Noch vor zwei Monaten.
Und habe ihn nach Melenke gefragt. Da sah er mich an, als hätte ich
chaldäisch gesprochen. Und hatte es sehr hilde und rief mir nur zu, es
gehe ihr gut, es gehe ihr am besten von uns allen.«

Wieder lachte Manne Wögens kurz auf. »Sieh so, -- der Ohm Rickert. Ja,
das ist ein Humorist und Philosoph.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, bemerkte Nomine Holgers ärgerlich.
»Es wird das beste sein, ich lasse Sie hier stehen und stapfe allein
durch den Schnee zum Mutterhof. Da wird mir ja alles offenbar werden,
worüber Sie so krampfhaft orakeln.«

Er sah sie seltsam forschend von der Seite an, und einen Augenblick
wollte das Mitleid heiß in ihm aufwallen, wie sie so ahnungslos neben
ihm schritt.

Aber da schürzte ihr Mund sich schon wieder. »Daß Sie doch immer
schelten und schulmeistern müssen, Manne Wögens. Ich hatte mich
wahrhaftig auch auf _Sie_ gefreut. Aber nun ist alle Freude fort. Und
dabei will ich doch nur die paar Weihnachtstage bleiben, will dann ins
Ausland gehen in den ersten Tagen des neuen Jahres. Könnten Sie nicht
aus diesem Grunde ein bißchen netter sein?«

Sie blieb nun stehen, und wieder sahen sie sich in die Augen.

»Wie schrecklich blaß und elend er mit einemmal aussieht«, dachte sie.
»Und warum trägt er mir alles so nach? Was habe ich denn so Böses
getan?«

»Ich habe nie Anlage zum ›Nettsein‹ gehabt«, entgegnete er ruhig.

Da flog ein häßliches Wort ihm zu. »Philister!!!«

Unbewegt und ernst stand er vor ihr, und sah in seiner
hochaufgerichteten, stattlichen Größe auf sie nieder. Allen Zorn, allen
bitteren Unmut zwang er jetzt mannhaft zurück. Und sah nur das junge
Menschenkind vor sich, das all der furchtbaren Wahrheit im Mutterhof
ahnungslos entgegenging. Er bewegte die Lippen und formte die Worte,
die sie schonend vorbereiten sollten ...

»Um Gottes willen,« rief sie, »nur keine Moralpredigt mehr. Ich hab
genug für alle Ferien davon. Gö Dai, Manne Wögens ...«

Nomine Holgers gönnte ihm nicht einen einzigen Blick mehr. Sie wandte
sich und lief noch ein Stück den Deich entlang, und stieg dann die
Steinstufen zur Großwarf empor.

Und Manne Wögens stand still auf derselben Stelle und sah ihr nach. Als
wolle er dort Wurzel schlagen, wie die Bonnestave zu seinen Füßen.

       *       *       *       *       *

        _Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens._

»Wer tief verwundet ist von den Geschossen des Schicksals, der mag auf
die majestätischen Höhen der Berge und die ungebändigten Wogen schauen
und lernen, daß man mit der Weichheit nicht durchkommt, und daß Kraft
die Losung des Lebens ist.«

Dies Wort holte ich mir heut aus meiner Bücherei. Eine Bestätigung der
tiefen Wahrheit, die mir schon lange der tägliche Anblick der salzen
See gegeben hatte. --

Hart sind alle Halligleute.

Der Kampf mit den Elementen gibt ihnen seinen Stempel.

Kaum eine halbe Stunde duckte sie die Sturmflut.

Gleich waren sie wieder aufgesprungen, hatten sich gereckt, und ihre
starken Arme tilgten in kraftvoller Entschlossenheit die Spuren der
Vernichtung. --

Nur mein alter Nachbar Luersen ist liegengeblieben.

Der Stoß war zu derb, den ihm das Schicksal gab. Aber da ihm die
Vernunft abhanden kam, wurde zugleich sein Los gemildert. Er wiegt das
Kissen und ist glücklich.

Die Beerdigung der sechs Leichen bedeutete eine Läuterung für die ganze
Hallig.

Sechs Särge predigten lauter als Pastor Ephraim Licht. Und Lars Larsen
auf der Königswarf, der all sein Lebtag mit Peter Luersen verfeindet
war, lud uns zum Mahl in sein Haus. Und veranstaltete dann eine
Sammlung, zu der er selbst den größten Betrag stiftete. Die liegt nun
als hübsche, runde Summe auf der Kreissparkasse. Für Akke’s kleines
Mädchen. Wir haben es Anni genannt.

Und ich mußte richtig kämpfen um meinen Pflegling Luersen. Da war auch
nicht einer in der Gemeinde, der ihn nicht zu sich nehmen wollte.
Aber er wurde _mir_ zugesprochen. Weil es den Unglücklichen trotz der
Verblödung noch nach seinem verwüsteten Hause zieht, das neben dem
meinen liegt. -- Irgendwo im äußersten Winkel des kranken Gehirns muß
eine Erinnerung schlummern. Wird sie wach, dann läuft er mir plötzlich
fort und lehnt sich an den morschen Birnbaum in seinem ehemaligen
Gärtchen. Und wiegt sein Kissen und horcht nach dem Hause hin. Und
kehrt wieder heiter zu mir zurück. -- Gestern besuchte ich Maren und
nahm Luersen mit nach dem Mutterhof. Aber dort war er unruhig und
strebte fort. Da nahm Maren seine Hand und führte ihn an die Wiege
zu seinem Enkelkind. Hieß ihn sich setzen und legte ihm das kleine
Mädchen in den Arm. Paßte sorglich auf, daß er’s nicht fallen ließ.
Er sah darauf nieder und hielt die Arme steif und ruhig. Ließ es sich
auch wieder abnehmen und beobachtete, wie es in die Wiege zurückgelegt
wurde. Darauf nahm er sein Kissen und schaukelte es heftig. --

Nur des Nachts darf meine Magd dies Kissen waschen. Er ist ganz außer
sich und weint kläglich, wenn er es nicht früh an seinem Lager findet.

Ein aufgeweckter Mann war einst Peter Luersen. Ich selbst holte mir
von ihm manchen Rat. Und die Insulaner wandten sich in verzwickten
Angelegenheiten an ihn.

Er legte Mehdebücher an und half den Warfbohlsgenossen bei den
Berechnungen, wobei er einen Mathematiker von Fach beschämen konnte. Er
las gern gute Bücher. Meine zerlesenen habe ich alle an ihn abgegeben,
und da war er nun wieder der geborene Buchbinder und legte die
schönsten Deckel darum. Und nie kam er ohne ein paar Bücher vom Husumer
Markt zurück, die er sich von einem »fliegenden Händler« erstand.
Sein Gärtchen war mit das sauberste und schönste auf der Hallig. Sein
Birnbaum trug am reichlichsten. Weil er immer Neues ausdachte, um die
Frucht zu fördern.

Von all diesen Gaben ist nun nichts geblieben. Nichts als die
Vaterliebe. Und von dieser nur die Erinnerung an seine Erstgeburt,
seine Akke. Man könnte sich darüber vergrübeln, wenn das Leben nicht so
viel Arbeit für uns hätte. --

Neulich versuchte ich bei Luersen wieder einige Gedanken zu wecken.
Er war mir in seiner gesunden Zeit ein eifriger Mitarbeiter an meinem
Buche. Brachte mir jedes Pflänzchen, von dem er glaubte, es sei noch
nicht in mein Bereich gekommen, brachte mir seltsame Steinfunde, und
stöberte wertvolle alte Halligaufzeichnungen auf. Ganz andächtig konnte
er dann von Zeit zu Zeit in meinem Manuskript blättern und nachlesen.
So gab ich es ihm auch neulich einmal wieder in die Hand. Preislich und
dickleibig ist’s schon geworden. Es drängt dem Ende entgegen bei aller
Fülle des Stoffes, der noch vorliegt. Aber Peter Luersen hielt das
weiße Bündel kaum in der Hand, da fing er auch an es zu schaukeln:

    »Slaap, slaap, min Zockerpopp,
    Morgen früh weck ik di op.«

Alles dünkt ihm »Akke«. Das Kind Akke, das noch gut und rein war und
dem Vater zulieb lebte. --

Wir sind nun schon weit im Februar drinnen. Haben auch schon oft
wieder mit dem Wasser gekämpft, aber nicht so hart wie im letzten
Herbst. Doch schaue ich jedesmal mit Bangen nach der Nordseite von
Likamp. Hierhin öffnen sich die Mündungstrichter unserer Priele. Edlef
hat mir gezeigt, wie die Natur selbst schützend eingreift. Ein zäher
Lehm lagert dort, wo die Gefahr am größten lauert. An ihm findet
die wühlende See hartnäckigen Widerstand. Aber für die Ewigkeit ist
sein Lagern nicht berechnet. Edlef plant einen Steinschutzdamm mit
Zuhilfenahme von Faschinen. Und bei der arg bedrängten Kirchwarf
denkt er an Betonversenkung. Von Mal zu Mal raubt die salzen See
bei Sturmflut etwas von der Landzunge zwischen Kirchpriel und freier
See. Dem muß Einhalt geboten werden. Edlef verspricht sich viel von
seinem Aufenthalt in Hamburg. Ihn hat schon immer die Regulierung
der Unterelbe interessiert, nun ist er mitten drin im Studium des
einschlägigen Materials. Das will er dann für die Sicherung und
Eindeichung von Hallig Likamp verwenden.

Viele Insulaner stellen sich lau zu all den großzügigen Plänen.
Das ist tief bedauerlich. Ich verliere leicht die Geduld so viel
Kurzsichtigkeit gegenüber. So viel Gescheite und ernste Männer,
denen unsere Hallig lieb ist, beschäftigen sich mit der Insel. Sie
haben jedem Verständigen einleuchtende Grundsätze aufgestellt, auf
denen wir unbedingt aufbauen müssen. -- Ich versammle jetzt öfters
die Halligleute im Schulhause und halte kleine Vorträge, berate
sie auch nach bestem Wissen und Gewissen. Besonders die gerechte
Lastenverteilung an Arbeit und Kosten ist schwer, aber auch hier haben
Sachverständige die Wegweiser gestellt: »Wer den meisten Vorteil an der
Landerhaltung hat, der hat auch am meisten zu leisten.« --

Edlef schreibt mir verhältnismäßig oft, weil er weiß, welch rege
Anteilnahme ich seinen Plänen entgegenbringe, die alle das Wohl der
Hallig im Auge haben.

Aber nur ganz sachlich schreibt er mir. Von Maren enthalten seine
Briefe nichts. Er selbst schickt nur Postkarten nach dem Mutterhof.
In seinem Verhältnis zu Maren ist etwas verschüttet, was nicht wieder
gehoben werden kann. So meint Maren. Gott verhüte, daß sie recht hat.

Aber vielfach erwähnt Edlef seinen Bruder Onnen. Er liebt ihn, ist
ungeheuer stolz auf ihn und legt mir seine Förderung ans Herz. Mein
Brief, der damals über Onnens Lebensgefahr berichtete und über Marens
nimmermüde, Tag und Nacht währende Pflege hat ihn tief erschüttert. Er
fand dankbare, begeisterte Worte über Marens selbstloses Verhalten,
aber nur gegen mich. Maren selbst erhielt kein Wort darüber. -- --

Onnen durfte das Weihnachtsfest bei mir im Schulhaus verleben. Da
sind wir uns noch näher gekommen, wenn das überhaupt möglich war.
Merkwürdigerweise hat man Onnen nicht gesagt, daß seine Schwester
Nomine zu Hause gewesen ist. Onnen war zwar noch recht angegriffen,
aber der Besuch von Nomine hätte ja nichts Welterschütterndes für ihn
bedeutet. Es ist mir ein völliges Rätsel, warum sie ihn nicht hat sehen
wollen. --

So habe ich einen schönen, kleinen Tannenbaum für Karen und Onnen
geschmückt, und Peter Luersen hat in die hellen Lichter hineingeschaut,
doch ohne Erleuchtung für seinen armen Kopf. Gar nicht gekümmert hat
er sich um meine jungen Gäste. Das Wiegenkissen ist ihm allstunds
Gesellschaft genug.

Am Silvestertag kam dann Maren zu mir, um mir aus ihrem goldenen,
treuen Schwesterherzen heraus ein glückliches neues Jahr zu wünschen.
Sie faßte das »Glück« gleich in ein paar Begriffe zusammen, in
»Gesundheit«, »Gelingen meines Werkes« und »daraus entsprießendem
Mammon«, der mir eine große, herrliche Reise ermöglichen soll. -- Ich
war mit diesen Begriffen zufrieden. --

»Der Mutterhof hatte ein Krankes«, sprach Maren weiter zu mir. »Sonst
wäre ich längst bei meinem einsamen Mannebruder gewesen.«

»Schon wieder ein Krankes?« fragte ich. »Du kommst nicht heraus aus dem
Pflegen.«

»Hier war nichts Eigentliches zum Pflegen. Herz und Gemüt waren aus den
Fugen, und der arme Mensch, der dazu gehörte, mußte sich selber helfen.«

Da wußte ich, wer die Kranke war. --

Nach einer längeren Pause strich mir Maren über den Scheitel und die
Schläfen. Sie hatte sich auf die Armlehne meines alten Sorgenstuhles
gesetzt und meinte sinnend: »Auch durch Nomines Schläfenhaare zieht
sich ein weißer Streifen.«

»Unsinn!« begehrte ich auf. »Das Mädchen ist vierundzwanzig Jahre alt.«

»Aber in diesen Weihnachtsferien um ein Jahrzehnt, wenn nicht um mehr
gereift ...«

Maren und ich verstanden uns ohne Worte. Ich fragte nicht, wie Nomine
den Anblick des veränderten Mutterhofes aufgenommen und verwunden
hatte, und erfuhr nicht, wie sich die Krankheit nannte, die sie
niederzwang. Ich weiß nur, daß ihr einziger Ausgang nach dem Friedhof
zu den beiden verschneiten Gräbern gewesen ist. Weiß auch, daß
Nomine jetzt im Ausland weilt, und daß sie auf ihren Wunsch über die
Heimathallig von Maren auf dem Laufenden erhalten wird.

So schlummert auch mein allzu lebendiger Groll nach und nach still
ein. Aber äußerlich wird dieses letzte Wiedersehen noch eine größere
Schranke denn vordem zwischen Nomine Holgers und mir errichtet haben.

Vielleicht werden wir uns jetzt jahrelang nicht wiedersehen. Sie wird
ihr Staatsexamen machen und in eine neue Welt eintreten. Ich aber will
weiter meine besten Kräfte aus der Heimat saugen, und ihr weiter mein
Bestes geben.

       *       *       *       *       *

Seit einiger Zeit geht ein ungut Gerücht um.

Ich habe Müh’ und Not, es vor Maren zu bergen.

Man hat Edlef Holgers und Akke, geborene Luersen, in Hamburg zusammen
gesehen.

Warum sollen zwei Halligkinder sich nicht zufällig treffen können? Und
wenn Edlef wirklich längere Zeit mit ihr zusammen gewesen ist, so ist
das unvorsichtig, braucht aber keine Schlechtigkeit zu sein.

Wenn ich doch solche Zuträgereien von meiner Hallig verbannen könnte!
Sie passen so gar nicht zu unserer Einsamkeit, zu der tiefen,
besinnlichen Stille unserer Warfen!

Irgendeine fremde Eintagsfliege hat ein paar Staubkörner mit anderem
unnützen Tand auf die Insel gebracht.

Der Staub wuchs an, und nun bedarf es vieler Fäuste, um den
Schmutzhaufen fortzuschaffen.

Heute kam jemand zu mir und sprach davon mit ernstem Gesicht. Pastor
Ephraim Licht.

Dem mußte ich freilich zuhören. Denn ich weiß, daß ihm die Ehre seiner
Gemeinde am Herzen liegt.

Es wäre ja auch die allerernsteste Sache von der Welt ... _wenn_ ...
Aber dies »Wenn« würde ein Ehband zerreißen, würde Maren verzweifeln
lassen und Edlef zum Ehrlosen stempeln.

Und deshalb ist dieses »Wenn« ein Unsinn.

Das betonte ich auch dem Pastor gegenüber sehr energisch.

»Könnte man das Wort doch noch einfangen und unschädlich machen,« sagte
Pastor Licht traurig, »aber es hat schon Wurzel geschlagen ...«

»Wehe dem, durch den Ärgernis kommt.«

Für mich ist’s zum Lachen. Und dabei knirschte ich mit den Zähnen. --
Man raunt, Edlef sei der Vater von Akkes Kind. Pfui Teufel! --

       *       *       *       *       *

Dieses kräftige Wort schrieb ich gestern abend.

Heute bin ich ganz frohgemut.

Denn ich bekam wieder Besuch. Ganz unerwartet -- einen Besuch, den ich
in Marens Mädchenstübchen einquartiert habe. Dort qualmt er den weißen
Betthimmel und die lichten Gardinen voll, aber er ist nicht zu bewegen,
herauszukommen.

Die Magd muß ihm auch das Essen hinbringen.

Ohm Rickert ist’s.

Ich saß wie immer des Nachmittags an meinem Werk. Da sprang die
Tür auf, und jemand stand vor mir. War er selbst hereingestürzt?
Hereingeflogen? Oder hatte ihn jemand hereingeworfen?

Nun entspann sich unser Gespräch.

»Ohm Rickert, Ihr werdet mit dem Alter immer stürmischer, wie’s
scheint.«

Keine Antwort.

»Nun, so seid willkommen und setzt Euch.«

Keine Antwort.

»Habt Ihr eine Bestellung von Maren?«

Keine Antwort.

»Ist etwas geschehen? Seid doch nicht wunderlich!«

Da sah er mich aus Jammeraugen an, legte sein großes, rotes Bündel
auf die Erde, und stand so mit verschlungenen Händen wie ein demütig
Bittender vor mir. Ich schüttelte den Kopf über dem Rätsel.

»Gebt mir um Gottes willen für diese Nacht Unterstand«, bat der alte
Mann. -- »_Maren hat mir die Tür gewiesen._«

Da mußte ich mich fest in meinen Ohrenstuhl setzen.

»Erzählt«, sagte ich kurz.

Er war noch ganz verbast.

»Gut hab’ ich’s gemeint«, murmelte er heiser. »Ist ja schier eine
Heilige, die Maren, deshalb glaubt der Schulmeister wohl selbst nicht,
daß ich ihr könnt was Böses antun. Aber ich konnt’s nicht mit ansehen,
daß die Maren, die junge Herrin vom Mutterhof, mit einer Binde vor den
Augen herumlief. Jeder guckte sie bedauernd an. Ich hab’ schon die
Gelbsucht gekriegt vor Ärger über die vielen Besucher in letzter Zeit,
die sich doch früher nicht blicken ließen. Und immer liefen sie zuerst
zur Wiege von der lüttjen Deern und beriefen das schöne Kind. Aber nur,
um zu sehen, ob das Schandgerücht wahr sei. Ob das Lüttje am Ende doch
die Holgersnäs hätt ... Lehr mich eins, die schadenfrohen Wiwer kennen.
Un da hab’ ich denn der Maren ...«

Ich packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn:

»Ohm Rickert! Unglücksmensch!« schrie ich ihn an. »Was ich verhüten
will, das tut Ihr so ohne Scheu? So alt und erfahren seid Ihr und wißt
nicht, daß ein junges Weib an so was sterben kann?«

»Schulmeister, da irren Sie sich. Die Maren kenn ich gut. Die ist
eine, die nicht geschont sein will. Die will allstunds der blutigsten
Wahrheit und Gewißheit ins Gesicht sehen. Aber davon ist hier gar keine
Rede. Wie ich nur so’n büschen angedeutet habe ... so ganz verblümt ...
nur so in aller Liebe für meinen Augapfel Maren, da horchte sie schon
scharf auf. Und wie ich so’n beten ins Tühnen komm, ganz sachtgen von
Edlef un Akke und ... dem lütt Soggerpöös, ... da war ich auch schon
draußen. Nicht, daß sie mich angerührt hätte, sie sprang nur auf, so
rasch und zornig ... nie hab’ ich sie so gesehn. Und zeigte nach der
Tür. Nie, -- und wenn ich hundert Jahr alt werde, nie werde ich den
aufgehobenen Arm vergessen, der dem alten Mutterbruder Rickert die
Tür wies.« Der alte Mann schluchzte. »Ich hab’ dann rasch mein Bündel
gepackt, wußt ja zuerst rein nicht wohin. Da fielen Sie mir ein,
Schulmeister. Aber die Maren, die hört ich gleichdrauf singen und mit
Klein-Anni scherzen, -- wie wenn nix wär.«

Ich drückte seine Hand, sprach kein Wort, sondern brachte ihn am
hellerlichten Tage mit einem Teepunsch zu Bett. Und dann ging ich
wieder in mein Arbeitszimmer und lachte, und atmete froh auf aus
tiefstem Herzensgrund.

Du söte, du fixe Deern! Dem Verleumder deines Gatten die Tür zeigen
und dann herzlich lachen. Das ist Lebensweisheit, deiner würdig, meine
Marenschwester! --

       *       *       *       *       *

In der hellen Frühlingsonne stand Manne Wögens vor seinem
Schulhause. Es war erst sechs Uhr morgens, und er hielt seinen
stillen Dankgottesdienst, wie er es alltäglich tat. Denn es gab
täglich unendlich viel zu freuen, wie er in seinem dankbaren Herzen
feststellte. Und so erzog er auch seine Nachbarn und alle Schulkinder
und durch diese wieder die Eltern zur nimmermüden Dankbarkeit. Eine
feste, unangefochtene Gesundheit hatte er durch den Halligwinter
gebracht. Die gebrochene Hand war gut geheilt und ersparte ihm außerdem
das Barometer, denn sie zeigte in rührender Beflissenheit an, wenn sich
das Wetter ändern wollte. Sein Halligbuch gedieh ihm zur Herzensfreude.
Er hatte das Glück gehabt, in Berlin einen Verleger zu finden, der
sich für seine Arbeit interessierte. Er war persönlich bei ihm gewesen
und hatte ein paar anregende Tage in der fleißigen, nimmer rastenden
Großstadt verlebt. Nun schaffte er in großer Freude in dem Gedanken,
daß sein Werk nach der Vollendung weiter in guten Händen sein werde.

Ohm Rickert weilte noch bei ihm. Der arbeitete unermüdlich in Hof und
Garten und verdiente sich reichlich das Brot, das Manne Wögens ihm gab.
Denn durch Ohm Rickerts Hilfe war der Lehrer entlastet und konnte sich
nach den Unterrichtsstunden mit ganzer Hingabe seiner Arbeit widmen.
Auch Peder Luersen war ihm durch Ohm Rickert abgenommen worden. Der
Kranke hatte sich rasch an seinen neuen Pfleger gewöhnt.

Nach dem Mutterhof war Manne Wögens noch nicht wieder gekommen. Er
hatte durch Onnen hinsagen lassen, daß Ohm Rickert von ihm aufgenommen
sei. Nun wollte er Maren erst einmal in voller Ruhe das häßliche
Gerücht verwinden lassen. Er wußte, daß sie ihn suchen würde, wenn sie
des Bruders bedurfte. --

Der strahlende Sonnenaufgang verhieß einen frohen Tag.

In Manne Wögens’ Augen leuchtete ein helles Willkommen für das, was er
bringen würde.

»Dat is mit der Sonne grad so, wie mit den meisten Weltsachen und auch
mit den meisten Menschen«, sagte Ohm Rickert, der schon eine ganze
Weile hinter dem Lehrer stand, ohne daß dieser ihn bemerkte. »Sie
versprechen eine ganze Menge und dann halten sie’s nicht und narren
uns.«

»So kritisch?« lachte Manne Wögens. »Sind wir mit dem linken Bein
zuerst aus dem Bett gestiegen? Das gibt’s nicht im Schulhause. Schaut
nur weiter in die Sonne, Ohm Rickert, und auf unsere schöne, liebe
Hallig. Sie lacht nicht oft so, wir wollen’s wahrnehmen. Rein Hart,
klar Kimming!«

Ohm Rickert schüttelte den Kopf.

»An dem Lehrer erkenn ich den Schüler. Dem Onnen Holgers muß ich auch
des öfteren sagen: ›Lösch din Lichters ut, mien Jung, es kümmt anners,
as du dacht harst.‹«

»Nun, -- und?«

»Dat möt ik hüt ok dem Scholmeester seggen.«

»Man zu. Es wird nicht viel nützen, denn ich hab heut ›Spring im Herz’
und Sing im Leib‹, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.«

»Schulmeister, -- -- das Bett von Peder Luersen ist leer. Und im
nächsten Umkreis vom Schulhaus ist er nicht zu finden.«

Manne Wögens erschrak heftig. »Das ist freilich böse Botschaft. Aber
ich kann mir nicht denken, daß er sich ein Leides angetan hat.«

»Ein Leides? Mich dünkt, es wär’ die größte Wohltat, die der da oben
für den arm Stackel haben könnt ...«

»Wir müssen uns gleich aufmachen«, gebot der Schulmeister hastig. »Ich
laufe zur Kirchwarf. Möglich, daß sein kranker Geist sich plötzlich
erinnert und die Ertrunkenen dort sucht ... Auf meine Schulkinder kann
ich mich verlassen. Die beschäftigen sich schon selbst, wenn sie mich
nicht vorfinden. Ich lege ihnen einen Zettel hin.«

»Tun Sie das, Schulmeister. Und ich such’ auf der andern Seite. Wenn
Nahbar Luersen nicht schon in der Ewigkeit ist, dann soll er her.«

So trennten sie sich.

Ohm Rickert humpelte nach dem Nachbarhause und durchspähte das Wrack.
Stieg im verschlammten Gärtchen umher, an welches seit dem Unglück noch
keine ordnende Hand gekommen war. Aber Vadder Luersen war nicht zu
entdecken.

Ohm Rickert sprach nach seiner Gewohnheit mit sich selbst. »Die größte
Möglichkeit wär’, dat he, wat Luersen is, sich nach dem Mutterhof
verlaufen hätte. Denn die Maren tut’s jedem an. Aber mich bringt
niemand nach dem Mutterhof.«

Immer wiederholte er dies Gelöbnis, trotzdem seine Füße längst den Weg
nach der Großwarf eingeschlagen hatten. »Nicht zehn Pferde ziehen mich
allmeindag auf das Flag, wo man die Hand gegen mich aufgehoben hat ...«
Damit fing er auch schon an zu laufen. So gut es sein Gliederreißen
gestatten wollte, ging es geradenwegs dem Mutterhof zu. Denn sein
immer noch recht scharfes Auge hatte da etwas entdeckt. Er hatte es
bald erreicht und hob das schmutzig weiße Bündel auf. Dann lief Ohm
Rickert weiter und pustete und schnaufte gefährlich, denn sein altes
Herz schlug heftig gegen die Rippen. Seine Angst war groß, und mit ihr
stritt sich noch allerhand Unbekanntes und Uneingestandenes in seinem
Innern.

Von der Treppe, die von der Großwarf nach den Fennen führte, kam jemand
herunter gestolpert. »Christ Kyrie, wo wollt Ihr hin, Vadder Luersen«,
fragte Ohm Rickert und hielt den Kranken fest. Der erschrak heftig,
lachte aber gleich drauf. »Baden. Klein-Akke baden«, lallte er.

Und wandte sich zum nahen Priel.

Mit der Linken hielt Ohm Rickert ihn fest. Mit der Rechten löste er das
kleine, schlafende Wesen aus Peder Luersens Arm.

Da warf sich der Irre in jäher Wut auf ihn. Beide fielen sie zu Boden.
Aber Ohm Rickert schützte das Kind mit seinen Armen. Und ehe der
Kranke sich wieder aufrichten konnte, hatte Rickert die Kleine weit von
sich geschoben in dichte Bonnestave hinein. Es war erwacht und schrie
jämmerlich. Vadder Luersen hörte die Klagetöne und warf sich aufs neue
auf seinen Feind. Da rief Ohm Rickert gellend zum Mutterhof hinauf:
»Maren! Maren!«

Es kam rasche Hilfe. Bei dem guten Wetter arbeiteten alle draußen im
Hof und Garten. Maren rannte allen voran die Stufen hinunter. Sie und
der rasch nachfolgende Knecht rissen den Kranken zurück. Er lachte
gleich wieder, als er Maren sah, und ließ sich willig vom Knecht
führen. Das schmutzige Kissen war auf die Erde gefallen, er hob es auf
und schaukelte es heftig. --

»Christ Kyrie, das Lütte«, rief die Magd, und kniete bei Klein-Anni. --

Maren stand vor Ohm Rickert. Er blutete aus vielen Kratzwunden.

»Stützt Euch auf mich«, bat Maren liebreich und führte den Erschöpften.
Der erzählte ihr stockend, was vorgefallen. Dann wandte er sich
finster. »Ich gehör’ nicht hierher, -- du hast mich fortgewiesen,
Nichte Maren.«

»So führ’ ich Euch nun wieder hinein.«

Sie legte ihr weißes Halstuch um seine zerschundene Hand. »Uns ist
beiden weh geschehen«, sagte sie sanft. »Nun muß ich Euch danken,
Ohm Rickert, daß Ihr mir das Pflegekind rettetet. So seht Ihr, daß
Gott Euch auf dem Mutterhof braucht und ich auch. Ihr seid mir sehr
abgegangen all die Tage, Ohm Rickert ...« Da war er schon wieder in
ihrem Bann.

Und ließ sich geduldig in seine alte Behausung geleiten und all die
häßlichen Schrammen von der weichen Hand verbinden. Und wie Frau Maren
über ihn geneigt stand, raunte er an ihrem Ohr: »Ich denk allstunds gut
vom Edlef.«

Da wurde ihr Gesicht sehr blaß und sie trat ein wenig zurück. »Das
_muß_ auch jeder tun in diesem Hause«, sagte sie fest. »Sonst müßt ich
selbst dem Wunden dies Dach wieder verbieten. Sprecht nie mehr davon,
Ohm Rickert, wenn Ihr mich lieb habt.«

Als nach einer Stunde Manne Wögens kam, ganz voll Sorgen über den
Verbleib seines Schützlings, fand er ein sehr friedliches Bild.
Vadder Luersen saß still an Klein-Annis Wiege, hielt das Wiegenband
und bewegte sacht damit die Schwengel, wie er es von der ihm
gegenübersitzenden Mutter Holgers sah. Das Kissen hatte man ihm
fortgenommen.

Die Geschwister besprachen ernst den Fall.

»Du kannst ihn nicht bei dir behalten«, meinte Manne Wögens besorgt.
»Das Kind würde immer gefährdet sein.«

Maren sah ihn ratlos an.

Der Lehrer legte die Hand auf die Schulter des Kranken. »Kommt, Vadder
Luersen, wi willn nah Hus’.«

Aber Vadder Luersen achtete nicht darauf, und als ihn Manne fortziehen
wollte, widersetzte er sich heftig und zugleich voll Angst.

»Laß ihn«, bat Maren. »Das verstört ihn mir wieder ganz. Ich will Ohm
Rickert bitten, daß er sich hereinsetzt und auf ihn aufpaßt. Wir müssen
dann mit dem Pastor sprechen, wie es weitergehen soll.«

»Wenigstens singt er doch das schreckliche Lied nicht mehr«, meinte
Mutter Holgers. »Es kann wohl noch besser mit ihm werden. Und Platz zum
Schlafen hat auch der Mutterhof für ihn.«

Maren geleitete den Bruder zur Haustür.

»Du hast dir viel Sorge aufgeladen, Marenschwester«, meinte er trübe.
»Du siehst müde aus.«

»Nicht doch«, wehrte sie. »Das war nur heute ein bißchen viel, so in
aller Herrgottsfrühe. Sorg’ dich nicht um mich. Der Ohm Rickert ist ja
nun wieder bei mir ...«

Manne Wögens schüttelte lächelnd den Kopf. »Wie du den gezähmt hast,
Maren. Wo ist sein loses Maul geblieben? Weißt du, daß er dich eine
Heilige nennt?«

Maren errötete. »Das ist ja Unsinn! Er weiß nur, daß ich Schluderworte
nicht hören mag.« Sie sah lieblich lächelnd den Bruder an. »Manne, wo
sollte wohl Ohm Rickert ›Heilige‹ kennen gelernt haben?«

Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du Nachricht von Edlef?«

»Ja, gestern. Aber von sich selbst schreibt er gar nichts, der
ganze Brief wimmelt von ›Erdlahnungen‹, ›Faschinenbuhnen‹ und
›Strohbeschickung‹. Er ist sehr fleißig, dein Edlef. Und auch mit
seinem Geld und Gut setzt er sich ein. Die Halligleute schätzen ihn
sehr, Maren, mein Deern ...«

»Ja, und schneiden ihm die Ehre ab«, sagte sie bitter.

»Das steht ganz und gar auf einem andern Blatt«, rief der Lehrer eifrig
und nahm ihre Hand. »Du kennst die wunderliche Hallig nicht wie ich ...«

»Doch, Manne, _ich kenne_ sie.« Aus ihren Augen sah der Gram.

Da reichte er ihr rasch die Hand und ging mit weit ausholenden
Schritten zur Schulwarf. Sein alter Knecht kam ihm entgegen. »Allens im
Lot«, berichtete er. »Dat brummelt blot so’n beten in de Scholstuw. Ik
heww seggt: Ji Düwelstüg, wenn ji Larm makt, dann hol ik sülwst School.
Da hebben se Angst kregen ...«

Manne Wögens lachte. »Junge, Junge, dat is gewiß.« Und noch lachend
trat er in die Schulstube.

Da saß Onnen Holgers auf dem Katheder und las mit erhobener Stimme und
gutem Ausdruck eine biblische Geschichte vor. Und die Schulbuben und
Mädchen hatten die Hände gefaltet bis auf Geerd Mannsen. Der kerbte mit
einem Taschenmesser die Bank ein, was von den Umsitzenden mit Teilnahme
verfolgt wurde. Die hinderte sie aber nicht, zugleich die Geschichte
mit Spannung in sich aufzunehmen. Denn Schulkinder haben die Gabe, die
Ohren freizuhalten, wenn sie auch Herz, Hirn und Augen zu einer anderen
Sache brauchen.

Daß der Schulmeister mitten in der schönen Geschichte zurückkam, das
neue Messer von Geerd Mannsen enteignete, dem Sünder eins an die Ohren
gab und die Geschichte unterbrach, dünkte allen eine sehr unberechtigte
Störung. Nur Onnen sprang fröhlich von seinem hohen Sitz herunter.
Zugleich läutete es acht Uhr von der Kirchwarf, und die Pause begann.
Alle Kinder marschierten geordnet zur Tür hinaus auf den Hof zum
lärmenden Spiel, wobei auch Geerd Mannsen seine Ohrfeige vergaß.

»_Es ist sehr schwer, Lehrer zu sein, oha, oha_«, sagte Onnen, der
zurückgeblieben war. Er atmete tief und befreit auf.

»Sieh da, Onnen, mein Junge,« meinte der Lehrer, »da hast du ja schon
in deinen jungen Jahren begriffen, was die meisten erwachsenen Leute
noch nicht klar haben. Ja, es ist sehr schwer, ein Lehrer zu sein!«

Onnen machte ein sorgenvolles Gesicht. »Jeder wollte eine andere
Geschichte, Herr Lehrer. Das ging doch nicht. Und der Lärm dabei! Dann
hab’ ich eine gefunden, die paßte für alle.«

»Und welche war das?«

»Von Jesus und der Sünderin.«

Manne Wögens unterdrückte ein Lächeln. »Junge, wie kommst du auf die?«

»Weil da ein Spruch drüber steht: ›Und wenn ich mit Menschen- und
Engelszungen redete und hätte der _Liebe_ nicht, so wäre ich ein
tönendes Erz und eine klingende Schelle.‹ Ich dachte, von der Liebe ...
könnte man den Halligleuten gar nicht genug erzählen ... --«

Da nahm der Lehrer den Jungen und stellte ihn vor sich hin. Und
betrachtete ihn sehr aufmerksam. Und küßte ihn in ausbrechender Freude
auf die Stirn, was beide sehr verlegen machte.

»Sag mal, Onnen, mein Junge, möchtest du nicht Halligpastor oder -- --
Halliglehrer werden?«

Der Knabe sah ihn freimütig an. »Pastor nicht. Da müßt ich ja zu lange
von hier fort. Vielleicht Halligschulmeister ... _Wenn_ ich gut genug
dazu bin ...«

»Eben deshalb. Um dieses Wortes willen! Weil du so hohe Anforderungen
an dich stellst, Onnen, mein Junge. Wir werden nun viel darüber
sprechen, willst du? Du hast mich heute recht froh gemacht ...«

»Ich will alles tun, was Sie froh macht.« Onnen sah mit großer Liebe zu
seinem Lehrer auf. »Auch die Nomine schreibt es, und legt es mir ans
Herz. Ich habe einen Brief von ihr. Aber sie braucht es nicht erst zu
schreiben, ich tue es von allein ...« Nun ward es still im Schulzimmer.

Eine Weile wartete noch Onnen. Er blickte auf den Lehrer. Der schaute
durchs Fenster hinaus über die salzen See hin mit versonnenen Augen. In
Fernen hinein ...

Da schlich sich der Knabe hinaus. Und der Lehrer merkte nicht
einmal, wie die Tür klappte. Die Umwelt war versunken, er fühlte nur
eine unbeschreibliche, wohlige Wärme. Die kam vom strahlend blauen
Hallighimmel in leuchtenden Sonnenstrahlen und schien durch die
geöffneten kleinen Fenster der Schulstube geradenwegs in sein Herz
hinein.

       *       *       *       *       *

Am Spätnachmittage suchte Manne Wögens den Pastor auf. Die traute
Behaglichkeit, in der er »Philemon und Baucis« fand, stimmte gut zu
seiner eigenen, schier weichen Stimmung. Die Fenster des Pastorats
waren weit geöffnet, von draußen strömte die warme und doch seltsam
herbe Frühlingsluft herein und vermischte sich mit dem Duft eines sehr
guten Kaffees und dem eines nicht minder guten, echt thüringischen
Streuselkuchens.

»Ob ich es nicht gewußt habe, Herr Wögens!« begrüßte ihn freudig
die Pastorin. »Den ganzen Vormittag hat sich die Katze geputzt
und geschleckt, das ist ein untrügliches Zeichen für lieben
Nachmittagsbesuch.«

Damit goß sie ihm auch schon eine bauchige Tasse voll, versorgte
ihn mit Sahne und Zucker und lud auf seinen Teller eine Unmenge des
duftenden Gebäckes. Er wehrte erschrocken ab.

»Frau Pastorin, Sie scheinen der unbedingten Ansicht zu sein, daß die
Begriffe ›Schulmeister‹ und ›Hunger‹ zusammengehören«, rief er lachend.
»Mich hat aber eben meine brave Magd schon genudelt.«

»Doch sicher nicht mit Thüringer Streuselkuchen«, meinte Frau Luischen
stolz und ein wenig gekränkt.

»Essen Sie, Wögens, essen Sie!« sagte der Pastor behaglich. »Wenn Sie
dem Kuchen, der mit eitel Liebe gebacken ist, nicht alle Ehre antun,
dann erlaubt mir meine Frau nicht, daß ich Ihnen den geringsten Wunsch
erfülle. Und ich sehe doch, daß Sie allerhand Wünsche, nicht nur einen,
auf dem Herzen haben.«

»›’n ganzen Barg‹, wie meine Jungs sagen. Zuerst, Herr Pastor, was
fangen wir mit Luersen an? Der bleibt nicht bei mir und darf nicht bei
Maren bleiben.«

Und der Lehrer erzählte von der Gefahr, welcher Klein-Anni durch den
kranken Großvater ausgesetzt gewesen.

Frau Luischen schlug die Hände zusammen. »Das ist ja schauderhaft«,
rief sie. »Das ist ja gar nicht auszudenken! Und die liebe, junge Frau
Maren da immer so tapfer dazwischen! Herr Wögens, was haben Sie für
eine prächtige Schwester!«

Sie goß die Riesentasse gleich noch einmal voll, obschon sie noch zur
Hälfte gefüllt war. »Haben Sie keine Angst, Herr Lehrer!« sagte sie
eifrig. »Ich kann ruhig draufgießen, das gibt kein Gliederreißen. Bei
uns in Thüringen nicht, nur im Rheinlande. Ach, Herr Wögens, wollen Sie
den armen Luersen nicht zu _uns_ bringen? Das Pfarrhaus hat so viel
Platz. Und Kinder sind hier nicht zu gefährden.«

»Luischen, wer sagte denn heute morgen: Ephraim, nur keine fremden
Leute mehr ins Haus, die drei ›Bresthaften‹ bringen mich noch auf den
Schragen ...??? Wer war das doch, Luischen?«

»Ach, Ephraim, ›Vormittagred’ ist nicht Nachmittagred’.‹ Und der
Luersen dauert mich, und vor allen Dingen dauert mich Frau Maren
schrecklich. Und das Pfarrhaus soll immer mit gutem Beispiel
vorangehen ...«

»Das tun Sie wahrlich und haben es immer getan«, sagte der Lehrer warm.
»Es macht Ihnen so leicht niemand nach, wie Sie Ihr Haus voll laden mit
all den Mühseligen.«

»Doch, Frau Maren macht es genau so und noch viel gründlicher und hat
nicht einmal die Verpflichtung wie wir. Ach, Herr Wögens! Und der Edlef
Holgers läuft in der Welt herum ... Hat so eine Perle von einer Frau.
Und er? Was man da so zusammen hört ...«

»Pssscht! Luischen!« mahnte der Pastor, und zog seine Stirn in dichte
Falten. »Ich glaube, du läßt uns nachher ein bißchen allein.«

»Ach, Pastor, bei Mannesrat allein schaut nichts Erkleckliches heraus.
Sehen Sie, Herr Lehrer, es wäre schön, wenn Sie mir da ein Linschen
beistünden. Mein Pastor ist immer dafür, alles sanft und glatt zu
reden, aber ich muß hier meiner Mitschwester durch dick und dünn
beistehen. Wenn der Herr Holgers, -- ich hab’ ihn übrigens immer gern
gemocht, -- in der Welt ›herumfachiert‹ ...«

»Luischen, sieh zu deinen Worten ...«

»Ja, nicht wahr, Herr Lehrer, dann müssen wir Frauen zusammenstehen wie
_ein_ Mann, und ...«

»Luischen, ich sehe schon, du willst in den Reichstag. Da will ich nur
gleich Frau Maren fragen, ob sie mich mit verköstigt und das lebende
und tote Hauswesen des Pastorats betreuen will.«

»Pastor, was du redest. Und was machst du denn da? Ich glaube gar, du
willst den Tisch abräumen? Und mein Volkstedter Porzellan zerbrechen?
Das fehlte noch!«

Frau Luischen sprang hurtig auf und räumte die kostbaren,
goldgeränderten Tassen selbst zusammen. Stellte sie dann an das
feingemalte Kuchenbrett, fegte sorglich die Krümel vom blütenweißen
Tischtuch und trug alles hinaus. Manne Wögens sprang auf, um ihr die
Türen zu öffnen.

»Ich muß jetzt so etwas selbst tun«, sagte sie entschuldigend zu ihm,
»meine brave Magd quält sich mit den drei Bresthaften. Aber über Maren
und Edlef sprechen wir noch, gelle, Herr Lehrer?«

Da stand der Pastor ruhig auf, ging zur Tür, zog den Lehrer am
Rockärmel in die Stube zurück und schloß sehr energisch hinter Frau
Luischen ab.

»Wenn ich nicht Ihrem klaren Blick vertraute, lieber Wögens ...« meinte
der alte Pastor verlegen, »dann ...«

Der Lehrer drückte ihm mit einem guten Blick die Hand.

»Frau Pastorin ist uns allen lieb und wert«, sagte er warm. »Und gerade
das Streitbare und Aufrechte an ihr brauchen wir hier auf der Hallig.«

»Ach Gott ja, streitbar ist sie«, seufzte der Pastor. »Und doch
herzlich und lieb wie die lichte Sonne. Aber mit jedem, der nach ihrer
Meinung nicht gut tut, fährt sie gleich durch den Schornstein. Und
wenn’s einer vom Konsistorium wäre!«

Dann berieten sie lange und eingehend. Über alle Sorgen und Nöte der
Hallig. Und fühlten, wie ersprießlich ihr gutes Miteinandergehen
war. Und als Manne Wögens wieder zur Schulwarf schritt, lag sein
Sorgenbündel im bauchigen Lehnsessel des Pastors. Und dessen Nöte hatte
hinwiederum _er_ aufgepackt, einen strammen Rucksack voll. Aber sie
drückten ihn nicht allzusehr, denn er wußte viele starke Schultern auf
der Hallig, die sie mit dem Pastor tragen würden, wenn Manne Wögens sie
nur liebevoll und gerecht verteilte. --

Am meisten bedrückte ihn noch der Gedanke an Peder Luersen. Denn Pastor
Licht hatte dringend zur Unterbringung in eine Anstalt geraten. Und
solch ein Verpflanzen aus dem Halligboden in die Fremde dünkte den
Lehrer grausam.

Aber als er in seinen Wohnpesel trat, saß Peder Luersen ganz still auf
der Ofenbank und hielt die Hände gefaltet. Das weiße Kissen lag neben
ihm, aber er schaukelte es nicht.

»Seid Ihr wieder da, Nachbar Luersen?« fragte der Lehrer ruhig, als
spräche er zu einem Gesunden. »Wolltet Ihr nicht bei Maren bleiben?«
Ein paarmal mußte er die Frage wiederholen. Dann antwortete der Kranke:
»Da ist nichts.«

So schickte Manne Wögens schweren Herzens den Knecht wieder nach dem
Mutterhof, um Luersens Verbleib zu melden, und erfuhr bei seiner
Rückkehr, daß alles wohl auf dem Mutterhof sei und der Kranke gleich,
nachdem Klein-Anni zu Bett gebracht, das Haus verlassen habe.

So ging es nun Tag um Tag.

Jeden Morgen, nachdem Vadder Luersen geatzt worden, ging er rasch und
unentwegt dem Mutterhof zu. Dort nahm ihn Maren in Empfang, gab ihm
das Wiegenband, und er schaukelte das Kleine, ja er blickte wohl auch
manchmal längere Zeit auf das Geschöpfchen nieder und wehrte ihm die
Fliegen ab. Niemals mehr nahm er das Lütte eigenhändig aus der Wiege,
aber er ließ auch außer Maren niemand an das Bettchen heran.

So hatte der kranke Großvater sein Enkelkind gefunden und wachte den
ganzen Tag wie ein treuer Hund bei ihm in rührender Bedürfnislosigkeit.

Von einer Anstalt wurde nicht mehr gesprochen. Maren betreute Vadder
Luersen tagsüber, und abends nahm ihn Manne Wögens in seine und des
Schulhauses Obhut.

       *       *       *       *       *

        _Aufzeichnungen des Halligschulmeisters Manne Wögens._

»_Es sollen nicht aufhören Sommer und Winter, Frost und Hitze, Tag und
Nacht_«.

Dies wäre es, was ich über mein Leben zu sagen hätte.

Die harte Arbeit und ihren Schweiß, aber auch das Beglückende, das sie
mir gibt, will ich dankbar danebensetzen.

Wieder kamen Frühling und Sommer, es kamen Eintagsfliegen von Föhr
herüber, und es kam ein berühmter Maler, welcher der Hallig Freund
werden will und mit dem warmen Künstlerherzen unsere Insel und ihre
herbe Schönheit auf die Leinwand bannt. Wieder haben wir die Fennen
eingeteilt, und es meldet das Mehdebuch in diesem Jahr:

    Norderlätig:

      1 Schwesterteil das Verhäuß-Schifft,
      1 Schwesterteil die, welche ein Schifft in
        8 teilen, ohne Zugift.

    Das norderste Schifft bei dem Damme erhält Lars Larsen und gibt
    ¹/₅ Teil aus an die, welche ein Schifft in 8 teilen; als Zugift
    das oberste Bruderteil von Kleiderhörn. Das süderste Schifft
    bei dem Damme erhalten die, welche ein Schifft in 8 teilen, als
    Zugift das nächstoberste Bruderteil von Kleiderhörn. Varskoog
    erhalten die, welche ein Schifft in 8 teilen, als Zugift das
    nächstwesterste Teil von Kleiderhörn.

    Lars Larsen:     6 Nutzgras 6⁴⁷/₄₈  Lammgras
    Witwe Klausen:   0    "     3⁵⁷/₁₂₈     "
    Edlef Holgers:   7    "     7⁴⁷/₄₈      "
    Rickert Holgers: 4    "     2²⁷⁹/₆₀₈    "
    Henning Jürgens: 0    "     5⁵/₄₈       "
    Sonke Karsten:   0    "     2¹⁵⁵/₁₉₂    "

Unsere Mehdebücher in ihrer wunderlichen Verzwicktheit und zugleich
rührenden Einfachheit bilden den Schatz der Hallig. --

Sie selbst und unser eigenartiges Besitzwesen stehen wohl ganz einzig
da. --

Nun ist der Herbst gekommen und, wie ich in großer Bescheidenheit sagen
muß: »_Der_ Baum auf meiner Schulwarft steht entlaubt.«

Dagegen grünt und blüht der ganze Mensch Manne Wögens. Denn mein Buch
liegt fertig vor mir: »Im Banne der Heimat.« Prächtig hat es der
Verleger ausgestattet, und wenn auch die märchenhafte Summe, wovon
Schwester Maren träumt, erst kommen soll, so ist es doch bereits von
der ernsten Kritik mit überraschend warmen Worten aus der Taufe gehoben
worden. Und das Unerhörte, jahrelang Ersehnte, nie Geglaubte wird
Wahrheit werden, ich gehe nach dem Süden. Meine Behörde hat mir diesen
Urlaub gewährt und ich, der ich nie Ferien gekannt habe, dem immer Juli
und August die härteste Arbeit brachten, ich darf im Winter warme Sonne
und blauen Himmel erleben im fernen, schönen Land. Aber doppelt und
dreifach lieb wird mir die Heimat sein, wenn ich wiederkehre. In sechs
Wochen kann ich reisen. --

Im Mutterhof rüstet man zu Edlefs Heimkehr. Sie ist aber so unbestimmt,
daß ich nicht weiß, ob ich noch hier bin, wenn er kommt. Wie wird er
alles verändert finden! Einst wollte _er_ allen Staub hinausjagen aus
dem Mutterhof, aber die Spannkraft seines Willens versagte. Meine
Marenschwester ließ er als »verlassene Königin« im Märchen zurück. Das
trennt mich innerlich vom alten Freunde. Welche Macht da tätig war, um
diesen hochgemuten Jungen im Wachstum zu hemmen? Ich konnte es nicht
ergründen, so gründlich ich auch geforscht habe, durch meine Briefe.
Einmal suchte ich ihn in Hamburg auf. Er ist sehr verändert. Und sein
Auge sah an mir vorbei. Die Arbeit hält ihn mit Krallen gepackt. Sie
ist ihm ein Fronvogt. Mit der Peitsche treibt sie ihn an. Edlef Holgers
kennt nichts Beschauliches mehr. Und ich bange für den Mutterhof, wenn
er heimkehrt und diese Arbeitsunrast mitbringt. Dabei lag doch etwas
in seinen Augen, in seiner Stimme, wenn er sich unbeobachtet glaubte,
das sah aus wie -- Heimweh. Und Halligheimweh ist aufreibend wie eine
schwere Krankheit. Warum suchte er nicht längst die einfachste und
sicherste Heilung?

Mit Marenschwester habe ich nur wenig über diesen Besuch bei Edlef
gesprochen. »Laß!« wehrte sie mir. »Er hat mir so wehgetan, aber ich
kann von niemandem hören, _daß er es tat_.«

»Mein Deern,« sagte ich, »es wird eine große Veränderung für dich und
den Mutterhof kommen, wenn er wiederkehrt. Wirst du die Herrschaft
gern und willig abgeben wollen? Wie eine kleine Königin hast du den
Mutterhof regiert.«

»Edlef ist der Herr«, sagte sie ruhig. »All meine Arbeit war für ihn.«

Ich las in ihrer Seele. Marenschwester und ich waren von Kindheit an
innerlich untrennbar. Ich weiß, daß sie sich selbst zutiefst die
Schuld gibt an der Entfremdung zwischen Edlef und sich.

Schuldlose Schuld. Arme Maren!

Jedenfalls aber wird Edlef gerecht genug denken, der jungen Herrin tief
zu danken, wenn sie ihn wieder in sein Königreich führt.

Eine Macht ist der Mutterhof geworden.

Er war früher nur reich, jetzt ist er _groß_.

Meine Marenschwester hat der »Liebe« Hüsung gegeben. Es ist _warm_ im
Mutterhof. Und sie, die von dem Gatten keine Liebe empfing, hat aus dem
reichen Schatz ihres Innern geschürft und hat gegeben, -- immer nur
gegeben. Und je mehr sie gab, desto reicher wurde sie. Und sie, deren
Leib nicht gesegnet ward, wird »Mutter« genannt von allen, die ihrer
Kraft und ihres Rats bedürfen. »_Mutter Maren_« heißt meine noch so
junge Schwester auf Hallig Likamp.

Onnen erzählte mir, daß auch Nomine Holgers aus dem Ausland heimgekehrt
ist, um ihr Staatsexamen abzulegen. Danach will sie Edlef in der Heimat
begrüßen. Und will all die großzügigen Maßnahmen mit ihm durchsprechen,
die Edlef zum Schutze unserer Insel getroffen hat.

Ich werde dann fern sein.

In Nomines Stübchen will ich mein Buch legen lassen, es ist wie ein
Testament ...

Und zugleich eine Antwort auf ihre verschiedenen frohen Anzeigen hin,
die sie uns seit Jahren schickt und die Kunde von ihrem rastlosen Fleiß
geben.

Ob freilich mein Buch für sie ~summa cum laude~ sein wird? Ob sie
nicht darauf herabsieht wie auf ihre arme Hallig?

Was kümmert’s mich? Immer noch dies heimliche Fragen, das sich um
die Heimatflüchtige dreht. Meine Reise soll mich von dieser letzten,
sentimentalen Rückständigkeit befreien.

       *       *       *       *       *

Ich wollte mein »Zeitbuch« schließen und fortpacken, habe neue Seiten
hineingeheftet, welche die Schilderung der Reiseeindrücke bergen
sollen. Nun gebe ich noch einige Seiten für die Heimat her. Denn ich
hatte heute morgen eine seltsame Begegnung. Wir Warfbohlsgenossen haben
im Sommer das verfallene Haus von Peder Luersen wieder aufgebaut und
gezimmert. Jeder hat sein Bestes dazu getan. Schwester Maren gab mit
Edlefs Erlaubnis einen Teil der Mittel, auch stiftete sie ein Bett
hinein und alles Nötige für jemand, der vielleicht einmal auf unsere
Hallig verschlagen wird und hier übernachten muß. -- Nach Luersens
altem Hause wanderte ich heute, um einen Haussegen aufzuhängen:

    »Wo Glaube, da Liebe,
    Wo Liebe, da Friede,
    Wo Friede, da Segen,
    Wo Segen, da Gott,
    Wo Gott, keine Not.«

Die Halligleute halten darauf, daß in jedem Hause dieser Spruch hängt.
So wollte auch ich etwas stiften und nagelte den hübsch gerahmten
Spruch über das einfache Sofa im Wohnpesel. Das hat Tanten Frauke aus
ihrer Kemenate hineinstellen lassen.

Als ich just beim Einpacken von Hammer und Nägeln war, ließ mich ein
Geräusch aufblicken.

Und da lehnte Akke Luersen in der Tür.

Sie tastete sich mit unsicheren Schritten zu mir. Ihre Augen brannten
in dem blassen Gesicht. »Herr Lehrer, Sie werden mir die Wahrheit
sagen«, raunte sie heiser.

Beide Arme hob sie wild und zeigte mit den Händen ringsumher. »Ist
das wahr? Die Sturmflut? Alles leer? Alles? Vater, Mutter, die
Geschwister??? In Pellworm hat man’s mir gesagt. Von Kopenhagen komm
ich ...«

»Und habt in der ganzen Zeit nicht einmal geschrieben und gefragt, wie
steht’s daheim?« fragte ich ernst. Und mußte an Nomine denken, die in
all ihrer herben Mädchenhaftigkeit genau so gehandelt hatte wie die
verachtete, wilde Akke.

»Wem sollt ich schreiben? Der Vater hatte mir die Tür gewiesen ...
Und seit der letzten Sturmflut haßte ich die Hallig und alle Menschen
drauf ...«

»_Alle?_« fragte ich mit schwerer Betonung.

Eine fliegende Röte ging über ihr Gesicht. Und da wußte ich, daß sie
mich verstanden hatte. Ich hätte sie schütteln mögen im grimmigsten
Zorn.

Aber sie ließ mir nicht lange Zeit. »Wie furchtbar ist das alles«,
stöhnte sie. »Wo, -- wo sind -- -- finde ich alle Gräber? Auf der
Kirchwarf? Oder ...?«

»Ja, alle. Aber Ihr Vater lebt!«

Sie sah mich erschüttert an und packte wieder meinen Arm.

»Vater lebt? Ist das wahr? Und das sagen Sie jetzt? Wo ist er? O, diese
langsame Halligart!«

Ihre Worte überstürzten sich.

»Sie kommen früh genug zu ihm hin, Frau Akke. Und Sie haben lange Zeit
gebraucht, ihn zu suchen ...«

»Wo ist er?« drängte sie.

»Bei meiner Maren im Mutterhof. Und nachts bei mir.«

Die Röte ging wieder über ihr Gesicht. »Bei Maren?« fragte sie
ungläubig und verlegen ...

»Auch Ihr Kind lebt dort, Akke Luersen, Sie fragten noch nicht danach.«

»Was kümmert mich das Kind?« rief sie wild. »Das kenn ich nicht, und
es kennt _mich_ nicht. Nach meinem Vater verlang ich.« Sie schluchzte
schwer. »Warum sagten sie mir in Pellworm, er wäre tot? Und nun will
ich hin zu ihm.«

Vielleicht war es grausam von mir, die Tochter wieder zurückzuhalten,
trotzdem ich sah, der Schmerz war echt. Aber der Grimm in mir und
die Trauer um meiner Maren zertretenes Leben war zu lebendig, und so
verstellte ich die Tür und fragte laut: »Können Sie Marens Schwelle mit
reinem Gewissen betreten?« Da duckte sie sich scheu und sah mich nicht
an. Und das Leid um meine Marenschwester würgte mir die Kehle.

So standen wir eine Weile stumm.

»Was soll ich tun?« fragte sie dann finster.

»Ich selbst will Vadder Luersen holen.« Mir wurde das Sprechen schwer.
»Aber ... er ist krank ...«

»Was heißt das?« Ihre Stimme war unsicher. »Was fehlt ihm?«

»_Sie_ haben ihm gefehlt, Frau Akke. Sie und das Enkelkind und Ihre
Mutter mit den ertrunkenen Kindern ... das Leid hat ihn verwirrt ...«

Sie erwiderte kein Wort, und ich ging hinaus nach dem Mutterhofe. Dort
sprach ich mit Maren und konnte ihr liebes Gesicht nicht ansehen,
während ich ihr erzählte. So sehr schämte ich mich für Edlef, den ich
einst meinen liebsten Freund nannte. Der Kranke wollte mir durchaus
nicht folgen. Da ging Maren eine Strecke mit uns und löste nach einer
Weile ihren Arm aus dem seinen, und ich trat an ihre Stelle. Während
sie still zurückschritt. Als wir zum Hause kamen, blieb Vadder Luersen
stehen und horchte nach allen Seiten, aber er wollte nicht hineingehen.
Die neue Haustür mutete ihn fremd und unbehaglich an. Aber ich erzählte
ihm, daß das sein liebes, altes Haus sei, wo die Akke drin wohne. Und
schob ihn sacht vor mir her in das Stübchen. Er blieb auf dem Fleck, da
ich ihn hingestellt und machte ängstliche Augen. Und dann tastete er an
den Wänden hin und lachte. Denn er fühlte da manches Bekannte. Auch ein
kleines Wandschränkchen fand er mit einem alten Tabaksbeutel, den er
gierig beroch. Und dann lachte er wieder.

Mit vorgebeugtem Körper stand Akke. Sie streckte die Hände abwehrend
aus gegen das Jammerbild, und dann schlug sie auf den harten Boden
hin, wie ein gefällter Baum.

Ich lief zum nahen Schulhaus und holte Wein und Brot und Wasser, meine
alte Magd half mir alles tragen. Als wir zurückkamen, saß Akke mit
ihrem Vater auf dem Bettrand. Sie hielt seine Hand und strich sacht
darüber hin. Ihr schönes, wildes, derbes Gesicht war jäh gealtert. Sie
stand auf und sah mich an. »Kann ich hierbleiben?« fragte sie kurz
und hart. »Und kann mir mein Kind geschickt werden? Ich möchte den
alten Mann bei mir behalten. Vielleicht -- daß er mich noch einmal
erkennt ...« Sie schien alle Fragen ohne Pause tun zu wollen. So als
bliebe ihr keine Zeit sonst, und als wolle sie danach nie mehr ein Wort
an andere richten. »Könnten Sie mir Arbeit besorgen, Herr Lehrer? Damit
ich verdiene. Eine Weile geht’s noch mit meinem Ersparten. Die Gemeinde
soll keine Last mit uns haben.«

Ich konnte ihr das versprechen, denn Lars Larsen von der Schulwarf
sucht eine Hilfe für seinen großen Hausstand. Und er vermag reichlich
auszugeben. Im übrigen leidet kein Halligbewohner, daß irgendeiner von
der Insel sich in Bedrängnis befinde. Nur von der Schwelle meiner Maren
möcht’ ich Akke fernhalten ...

       *       *       *       *       *

Aber wer rechnet mit den wunderlichen Frauen ...

Heut kann ich schon niederschreiben, daß Maren allein das Haus der
Akke fertig eingerichtet und ihr übergeben hat. Vadder Luersen sitzt
in einem behaglichen Ohrenstuhl und zupft das Wiegenband. Wenn seine
Tochter spricht, dann hält er die Hand ans Ohr und lauscht. Als ob aus
weiter Ferne etwas zu ihm dränge. Seine Züge spannen sich dann ein
wenig. Noch scheint ihn aber das Ringen mit der Erkenntnis zu quälen.
Am friedvollsten ist er, wenn er das Kind ganz für sich allein hat.
Dann sitzt Tanten Frauke in seiner Nähe am Spinnrad. Sie hat das Amt
des Betreuens übernommen, während Akke auf Arbeit geht.

Ich sprach ernst mit meiner Marenschwester, warum sie doch so viel
Wohltaten auf die Frau häufe ...

»Ich kann niemand Aufrechtes am Boden liegen sehen«, sagte Maren sanft.

»War Akke so aufrecht?«

»Sie war immer heiter. Sie konnte lachen. Es ist furchtbar, wenn man
das Lachen verlernt. Deshalb möcht’ ich die Akke wieder aufheben. Ihr
Kind braucht das Lachen der Mutter ...«

Ich nahm Maren in meinen Arm. »Du, -- ich brauche auch Lachen, _dein_
Lachen, Schwester. Wo ist es?«

»Bei Edlef. Ich weiß nicht, Mannebruder, ob er es mir
wiederbringt.« -- --

Frau Akke hat meiner Marenschwester nicht mit Worten gedankt. Sie
geht finster und mit unbewegtem Gesicht einher. »Ich werde das alles
abverdienen«, hat sie gesagt.

Und Maren hat entgegnet: »Das sollst du auch, -- denn sonst hast du
keine Freude daran.«

So ist nun dies wunderliche Hauswesen wieder im Gange. Wir haben kein
Wrack mehr auf der Hallig. Ein zerfahrener Mensch beginnt ein neues
Leben, und Tanten Fraukes einsames Dasein hat neuen Inhalt bekommen.
Sie pflegt Vadder Luersens Körper und ist ein Arzt für Akkes Gemüt.

Pastor Licht geht wieder händereibend umher.

»Merken Sie es, Wögens? Der Herrgott ist wieder einmal auf der Hallig«,
sagte er glücklich. »Und warum, Wögens? Warum? Weil ›Mütterchen Maren‹,
der gute Engel von Likamp, das _rechte_ Beten hat: ›Komm, Herr Jesus,
sei unser Gast.‹«

       *       *       *       *       *

Es ging auf Weihnachten zu.

Manne Wögens hatte seinen Koffer und den strammen Rucksack gepackt.
Hatte beides an Knecht und Magd abgegeben, die trugen das Gepäck zur
Postfähre hinunter.

Er selbst lehnte am Fenster und schaute über die sturmgepeitschte
Hallig hin. Gestern war der erste Schnee gefallen, aber man entdeckte
schon nichts mehr von ihm. Sturm und Regen hatten ihn fortgewaschen und
gepeitscht.

Dies trübe Grau in Grau würde er nun lange nicht sehen. Ein
wunderliches Herzweh war in ihm, und er schalt sich selbst.
»Halligbursch! Grundinsulaner! Es ist, als ob ich schon wieder Heimweh
nach der Hallig hätte, und bin noch gar nicht fort.«

Er sah sich in dem wohlaufgeräumten Stübchen um, fand es leer und
ungemütlich.

Reisefieber und ein unklares Gefühl von Verlassenheit rissen an ihm
herum.

Da hörte er draußen Onnens Stimme. »Fort ist er. Sieh, da unten werden
seine Sachen weggeschafft. Nomine, ich renne nach. Vielleicht erwisch
ich ihn noch ... kommst du auch?«

»Ich komme bald«, sagte eine herbe Stimme in wunderlichem Klange ...
Dann bog sich die Klinke herunter.

Das Heimweh in Manne Wögens Brust schwieg.

Er sah auf das tief erschrockene Mädchen mit gutem, frohem Blick.

»Bleiben Sie nicht auf der Schwelle stehen, Fräulein Doktor. Treten
Sie ein! Lassen Sie auch den Onnen ruhig nach der Postfähre rennen ...
Warum sollen wir zwei Feinde nicht zum Abschied noch einmal die Klingen
kreuzen?«

Sie suchte nach einer Antwort. Es schien nicht mehr die selbstsichere
Nomine von einst ... Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Ich bin nicht mehr Feind, Manne Wögens«, sagte sie ruhig. Aber sie
meinte, man müsse ihr Herz laut schlagen hören.

Er sah sie durchdringend an.

»Sie stehen immer noch an der Tür. Ich komme mir ungastlich vor. In
welchen ›Salon‹ darf ich Sie geleiten?«

»Nur jetzt keinen Spott. Ich -- ich möchte in das Schulzimmer.«

Sie öffnete rasch die wohlbekannte, alte Tür.

Erstaunt und befremdet folgte er ihr.

Die Röte kam und ging auf ihrem regen Gesicht. »Manne Wögens, ich
komme, um Abbitte zu tun, da ist hier der rechte Platz ... Ganz klein
möchte ich mich machen ...«

Sie hockte sich auf eine niedere Schulbank. »Wissen Sie noch, wie ich
damals sagte (es ist lange, lange her), ich säße nicht mehr auf der
Schulbank, und Sie sollten nicht ewig schulmeistern? Nun sitze ich
wieder darauf. -- Wissen Sie alles noch, oder haben Sie es vergessen?«

»Ich habe nichts vergessen, was die Prinzessin jemals an guten und
bösen Dingen zum Schweinehirten gesagt hat.«

»Oh, nicht so ein finsteres Gesicht, Manne Wögens. -- Aber es ist gut,
tausendmal gut, daß Sie nichts vergessen haben. Gefürchtet habe ich
mich nur vor -- Gleichgültigkeit.«

»Es wäre mir lieb, wenn Sie ganz deutlich und ruhig sprechen wollten,
was Sie hierher führt«, sagte Manne Wögens schroff.

»Das habe ich Ihnen doch erklärt, -- ich wollte -- abbitten ...«

»Was heißt das? _Ich_ habe Ihnen nichts zu verzeihen. Daß Sie die
Hallig nicht liebhatten ... nun sie ist unsere Mutter, und eine Mutter
verzeiht alles und nimmt auch das lieblose Kind immer wieder ans Herz.
Daß Sie _mich_ nicht liebhaben konnten, war Ihr gutes Recht ...«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »_Ich habe die Hallig lieb! So_ lieb!
Ist’s denn so schlimm, daß ich erst lernen mußte, was anderen im Blut
liegt? Manne Wögens, -- ich hab’ nicht gewußt, was rechtes Heimweh
ist. Dann kamen im Ausland bitter einsame Stunden, und in diese hinein
brachte ein Professor mir Ihr Buch ...«

»Sie -- haben -- mein Buch schon gelesen?«

»_Im Banne der Heimat._ Ja. Manne Wögens, _Sie_ haben mir die Heimat
geschenkt. Darf ich Ihnen die Hand geben?«

Ganz mechanisch und sehr langsam reichte er sie ihr hin, zog sie aber
gleich wieder fort. Beinahe wie ein verlegener Junge, der das Weite
suchen will.

»Was ist das mit Ihnen, Fräulein Doktor?« fragte er ungeduldig. »Sind
Sie eine neue Ausgabe der alten spottsüchtigen Nomine Holgers? Ich
finde mich nicht zurecht.«

In ihr regte sich der Zorn. Aber der heiße Wunsch, jetzt nichts zu
verderben, drängte alle unguten Worte zurück. Sie standen Aug’ in
Auge ...

Und obgleich Nomine Holgers innerlich feststellte, daß Manne Wögens sie
unerhört quäle, war es doch der Schulmeister, der beide Fäuste ballte
und mit farblosen Lippen die Worte herausstieß: »Wie Sie mich quälen,
Nomine Holgers!«

Da sagte sie leise und wandte die Augen nicht von ihm: »Ihre
Marenschwester hat mir geschrieben, nicht einmal, sondern in jedem
Brief: ›Der Manne hat dich lieb bis in den Tod, denn er ist ein Wögens.
Aber er wird es dir niemals wieder sagen, _nie_.‹«

»Was soll das?« fragte Wögens verletzt.

»Da hab’ ich gedacht: ›So muß ich etwas ganz Ungewöhnliches tun,
-- etwas, das er vielleicht ... häßlich findet ... Aber ich muß es
trotzdem tun. Denn sonst erfährt er ja nie ...‹«

Und nun wandte sie doch den Blick von ihm fort und senkte den feinen
Kopf tief.

Ein großmächtiger Tintenfleck machte sich vor ihr auf der Schulbank
breit. Eine Viertelsflasche hatte Geerd Larsen heute ausgegossen, und
dafür einen Katzenkopf bekommen. Zu diesem Tintenfleck sagte Nomine
laut: »Ich habe dich _auch_ lieb, Manne Wögens!«

Vielleicht jauchzte der Lehrer auf, aber es klang wie ein Schluchzen.

Und mit einem Ruck straffte er sich. Legte die Hände auf den Rücken und
ging heftig auf und ab. Wäre Nomine seine Schülerin gewesen, so hätte
sie gewußt, daß der Lehrer Manne Wögens aus den Fugen war und wieder
zurechtkommen wollte.

Aber sie wußte es nicht. Und sie schlug jetzt in heller Scham beide
Hände vor das Gesicht.

Manne Wögens blieb stehen. So fest biß er sich auf die Lippen, daß
kleine Blutstropfen auf ihnen standen. Und in der peinigenden Stille
nahm er die Kreide und malte wilde Schnörkel an die Wandtafel, und
zerbrach die Kreide und warf die Stücke weit von sich.

Wieder nahm er den Dauerlauf auf. Blieb wieder stehen. Und sah sie an,
wie sie mit blassem Gesicht durch das Fenster schaute in den grauen
Regen hinein.

»Wär’ ich ein anderer, Nomine Holgers, -- ich nähme dich in meine Arme
und holte nach, was wir vier lange Jahre versäumt. Aber ich bin ...
Manne Wögens. Fahre nicht auf, Nomine. Du mußt mich verstehen. Ja, du
hast mir eben ›Unerhörtes‹ gesagt. So unerhört Schönes und Süßes, daß
ich es nicht annehmen kann, _jetzt_ nicht ... wenn ich ehrlich bleiben
will.«

Da kam ein Wehlaut aus Nomines Mund.

Er streckte die Arme nach ihr aus, und ließ sie wieder sinken.

»Du sollst dich nicht einen Augenblick gekränkt fühlen«, sagte er
tonlos vor innerer Erregung. »Und deshalb sag’ ich dir wieder und
wieder, was du nie mehr hören solltest: ›Nomine, ich hab’ dich lieb!
Ich hab’ dich lieb! Ich hab’ dich lieb!‹ Aber ich nehme dich nicht und
küsse dich nicht, weil du ganz frei sein sollst, während ich fort bin.
Denn über dich ist ein Rausch gekommen ... versteh mich recht, du Süße
... der Halligrausch. Ich weiß, wie er gewaltig zupackt. Du liebst
die Heimat mit einer späten gewaltigen Liebe und meinst, sie gelte
_mir_. Tu ich dir weh, Liebste? Ach, ich tu mir selbst am wehsten. Das
muß sein, du mußt dies kommende Vierteljahr auf der Hallig bleiben,
Nomine. Mußt die ganze Öde der kalten, einsamen Insel durchmachen. Um
dich zu prüfen, ob deine Liebe echt ist. Ob du es aushalten kannst
›up ewig ungedeelt‹ neben dem einfachen Schulmeister _in dieser Öde_
zu stehen ... Nach all deinem ernsten, wohlbelohnten Studium -- eine
Halligbäuerin zu werden. Denn das müßtest du werden -- Nomine -- mit
deinem ganzen Herzen ...«

Ein Sonnenstrahl, der erste an diesem grauen Regentage, fiel durch
das Fenster und leuchtete an der Wand auf, wohin das Mädchen seinen
trostlosen Blick gerichtet hatte. Ein Spruch hing da, ganz ungerahmt,
daß es aussah, als höben sich die Buchstaben aus der Wand heraus ...
»die Liebe aber ist die Größeste unter ihnen«.

Da demütigte sich die »Prinzessin« tief ...

»So will ich warten, bis du wiederkommst«, sagte sie einfach. »Du wirst
mich ganz unverändert finden, Manne Wögens, -- so wie ich heute zu dir
kam.«

»Du! Du!« stammelte er ... Und dann riß er seine zärtlichen, dürstenden
Blicke gewaltsam los -- »Gott behüt!« rief er noch.

Die Tür öffnete und schloß sich mit jähem Ruck.

Und Lehrer Wögens lief davon. Lief nach der Postfähre hinunter wie ein
Schuljunge, der unerträglichem Zwang entfliehen will ... Einmal sah er
sich um. Ein weißes Tuch winkte. Da rief er noch einmal in den Sturm
hinein: »Gott behüt ...!«

Langsam wandte sich Nomine vom Fenster fort. Sie nahm ihr Herz in beide
Hände. Fest, ganz fest.

Stammelte irgend etwas. Etwas Zärtliches, Glückseliges. Ihre Blicke
umfingen noch einmal das Schulstübchen. Ein alter, sturmerprobter
Filzhut hing in einer ganz versteckten Ecke am Nagel. Manne Wögens trug
ihn im Frühjahr bei garstigem Wetter zur Gartenarbeit. Häßlich war der
alte Hut, durchlöchert und verfärbt. Aber Nomine streichelte ihn und
setzte ihn sich mit einem lieben Lachen auf den schönen, zierlichen
Kopf. Und klinkte ganz sacht die Tür auf und wieder zu. Lief dann, ohne
aufzuhalten, ihren Weg zurück und trug ihr ernstes, schönes Geheimnis
mit lauter frohen, guten Gedanken in den Mutterhof. --

       *       *       *       *       *

Alle, welche Sitz und Stimme hatten auf der Hallig, waren beim
Gemeindevorsteher versammelt.

Es war eine ganz außergewöhnliche Sitzung. Und die verschlossenen
Friesengesichter sahen noch etwas ernster aus als sonst. Nicht
eigentlich, daß sie vermuteten, der Anlaß dieser Sitzung würde sich als
etwas Trauriges herausstellen, sondern weil sie alles Außergewöhnliche
besonders wichtig nahmen.

Viele sahen nicht nur ernst, sondern mißmutig und unbehaglich aus. Das
waren die starken Raucher. Die mit der »korten Piep« aufstanden, und
mit ihr zu Bette gingen.

Die konnten sich nicht mit dem Verbot zurechtfinden, das der
Gemeindevorsteher erlassen, -- bei einer Sitzung den »Nasenwärmer«
fortzulassen. Aber Ketel Boon hatte einmal das Wort »unwürdig«
gebraucht, und da er viel in großen Städten gewesen und ein angesehener
Mann war, so wollte niemand in seinem Hause »unwürdig« sein.

Vier hochgeschätzte Halligleute fehlten. Das waren Peder Luersen, der
seine »Fiw« noch nicht wieder beisammen hatte, Pastor Licht, der mit
schwerem Rheuma zu Bett lag, Edlef Holgers, der noch immer in Hamburg
lebte, und Manne Wögens, der »im Süden studeerte, wat he doch nich
im Norden bruken kunn«, wie der immer etwas giftige Boy Boysen sich
ausdrückte.

Lars Larsen eröffnete die Sitzung.

Dann gab er das Wort dem Gemeindevorsteher.

Und was dieser vorbrachte, machte alle Herzen warm, und war auch
jedem einzelnen recht aus der Seele gesprochen. Und in einem von ihnen
zündeten die Worte ein ganzes Freudenfeuer an, daß er kaum ruhig auf
seinem Stuhl sitzen konnte. Das war Rickert Holgers vom Mutterhof.
Und weil bei ihm die kurze Pfeife das Allheitmittel gegen Not und
Krankheit, und besonders auch gegen Rührung jeglicher Art bedeutete, so
löschte sein heftiges Verlangen nach Tabak alle gegenteiligen Erlasse
des Gemeindevorstehers in seinem Gedächtnis aus. Und er zündete sich
unter heftigem Schlucken und unbestimmten Lauten seinen Tröster an und
qualmte unerhört heftig.

Freilich legte er alles ebenso rasch fort, als plötzlich die Mühle
still stand und Lars Larsen vor Entrüstung den Faden verlor. Aber Ohm
Rickert war doch durch die paar kräftigen Züge erst mal wieder ins
Gleichgewicht gekommen.

»Geehrte Gemeindemitglieder! In ein paar Tagen, mich dünkt am
Donnerstag, will Edlef Holgers vom Mutterhof aus Hamburg zurückkommen.
Beinahe ein ganzes Jahr ist er fortgewesen, und hat in diesem Jahre nur
für uns gearbeitet, für das Wohl unserer Insel.«

»Junge, Junge, dat’s gewiß!« murmelte jemand.

»Seine Reisen und sein Aufenthalt in den wichtigen Hafenstädten hat
unserer Gemeinde nicht einen Pfennig gekostet. Mit seinem Hab und Gut
und mit seiner ganzen Gesundheit hat er sich eingesetzt nur aus Liebe
zur Heimat und ohne eigenen Gewinn. Hohe Herren sind auf unsere Hallig
gekommen und haben von Edlef Holgers gesprochen, als sei er selbst ein
hoher Herr. Das ehrt uns alle. Deshalb wollen wir ihn wieder ehren und
ihm einen schönen, warmen Empfang bereiten.«

»Dat’s doch Sach’ von sin Fru ...« warf Boy Boysens loses Mundwerk hin.

Ihm antworteten nur entrüstete Blicke, und Ohm Rickert machte eine
ausholende Gebärde, die gar nicht mißzuverstehen war.

Ketel Boon fuhr in seiner Rede fort.

»Wir wollen Edlef Holgers feierlich einholen. Wer vorher nach Pellworm
oder Husum kommt, soll Tannenzweige mitbringen. Wer noch kleine,
freundliche Kinder daheim hat, läßt sie die Sonntagskleider anziehen,
und so mit dem Tannengrün sollen sie am Poststeg stehen, wenn das
Segelboot kommt.«

»Ich heww nur mien gnarrige Olsch to Hus«, murrte Boy Boysen.

»Und wir wollen im Gottestischrock dabeistehen und ihm die Hand geben«,
schlug Ketel Boon weiter vor.

»Jawohl,« rief Lars Larsen, »und mich dünkt, es könnt nicht schaden,
wenn die Glocken auf der Kirchwarf geläutet würden.«

Aber da wurde Boy Boysen ganz wild, und widersetzte sich so laut und
heftig, daß der Vorschlag gleich fallen gelassen wurde.

»Das fehlte noch!« erregte er sich. Da wolle er sich dann nie und
nimmermehr mit Genuß begraben lassen, wenn wegen jedem »Buh und Bah«
geläutet würde.

»So lade ich euch alle am Tage von Edlef Holgers Ankunft in mein Haus
zu gutem Schmaus und gutem Trunk«, sagte Lars Larsen.

»Junge, Junge, dat’s gewiß«, beruhigte sich Boy Boysen. »Eten und
Drinken is beter as Läuten.«

Aber der Gemeindevorsteher stand immer noch an seinem Platz, und jetzt
handhabte er die Glocke, als wolle er seinen Vorredner deutlich Lügen
strafen. Oder auch, als wolle er nun etwas ganz besonders Frohes mit
hellem Klange einläuten:

»Liebe Gemeindeglieder! Wenn wir nun unseren Halligbruder also ehren,
was gebührt dann der Halligschwester? Was gebührt Mutter Maren?«

Da brach ein freudiges, erregtes Rufen los. »Ja, ja, _Mutter_ Maren!«
»Man zu, Gemeindevorsteher!« »Wi willn se _ok_ ehren, uns’ lütt Mutter
Maren!«

»Was Edlef Holgers draußen geschafft hat,« rief Ketel Boon jetzt
freudig und laut, »das hat Maren Holgers drinnen getan. Im eigenen
Haus und rings auf der Insel. Sie hat uns ein Armen- und Krankenhaus
erspart, denn sie nahm alles auf den Mutterhof, was mühselig und
beladen war.«

»Dat’s gewiß! Dat’s ekli wohr«, tönten die Stimmen durcheinander.

»Da giww du man noch’n Eten, Lars Larsen«, schlug der praktische Boy
Boysen vor. »Für de Mutter Maren ok.« Aber dieser materialistische
Vorschlag wurde mit lauter verächtlichen Blicken abgelehnt.

»Mein Rat ist so«, sagte der Gemeindevorsteher. »Wir schreiben eine
schöne Widmung auf und sagen darin alles, was wir auf dem Herzen
haben. Das soll ein guter, gewichtiger Dank für sie sein. Und in dem
Schreiben wollen wir sie ›Mutter‹ nennen. Damit begraben wir zugleich
das schlimme Vorurteil unserer Insel, daß nur _die_ Frauen etwas wert
seien, die der Hallig Kinder gegeben haben. Mutter Maren vom Mutterhof
hat uns _Liebe_ gegeben, und so sind wir _alle_ ihre Kinder geworden.«

Da streckten sich viele Hände gegen ihn aus in freudiger Zustimmung. Es
war nicht eine Stimme, die dagegen sprach.

»Willst du die Worte aufsetzen, Gemeindevorsteher?«

»Ich will’s.«

»Und wer soll sie Mutter Maren bringen?«

»Wir wollen _alle_ hingehen. Denn uns allen hat sie wohlgetan. Das gibt
einen stattlichen Ehrenzug!«

Da kam wieder freudige Zustimmung. Und dann gingen sie auseinander in
dem Gefühl, einen sehr wichtigen und sehr glücklichen Tag erlebt zu
haben.

Maren aber schmückte den Mutterhof.

Ihr eigen Herz war schon geschmückt. War ganz voll Liebe, voll Sonne,
voll innigsten Verzeihens, und stand in Blüten.

Aber der Mutterhof sollte nicht minder festlich ausschauen, wenn der
Herr endlich wieder einzog in seiner Väter Erbe, das die Gattin ihm
verwaltet und treulich gemehrt hatte.

Der junge Schwager Onnen half Maren in eifriger Hast. Was würde das
für ein köstliches Leben werden, meinte er, wenn erst der große Bruder
wieder daheim sei, und all die geplanten wichtigen Unternehmungen nun
Wahrheit würden. Wie würde Onnen daran wachsen! Und später die rechte
Hand von Edlef werden!

Und »Mutter Maren« würde wieder das Lachen lernen! Das war noch das
Schönste von allem!

In all das festliche Vorbereiten schickte Pastor Licht einen großen
Schreibebrief. Er selbst lag immer noch zu Bett. -- -- -- »Mutter
Maren« hieß den Boten warten und packte ein Körbchen voll schöner
Sachen. Lauter Kostproben von dem, womit Edlef empfangen und verwöhnt
werden sollte. Und dann erst, als sie noch den Korb mit Blumen
besteckt, die sie von den prangenden Fenstertöpfen abschnitt, und der
Bote den Rückweg angetreten hatte, setzte sie sich mit dem Brief zum
geruhigen Lesen nieder. --

Als sie etwas später aus der Haustür trat, da war ein Sturm über ihre
Gestalt und ihr zartes Gesicht gegangen. Gebeugt und alt sah sie aus.

Eine Stunde darauf stand sie schon an der Postfähre und sah mit
schmerzenden, brennenden Augen, wie das Segelboot zurechtgemacht wurde.
Das sollte sie nach Pellworm bringen und von dort wollte sie nach
Hamburg.

Sie sprach mit niemand über den Brief von Pastor Licht. Ruhig hatte
sie ihre Anordnungen gegeben und das Haus bestellt für eine längere
Abwesenheit. Ohm Rickert bekam eine Vollmacht, und Onnen erhielt ein
paar Vertrauensposten. Mutter Holgers übergab sie das Kind, und als die
alte Frau sie forschend und traurig ansah, legte sie die Hand auf ihre
Schulter: »Ein schwerer Unfall, Mutter. Edlef ... Er ruft mich.«

»Um Jesu willen, was ist? Wann kommst du wieder, Maren?«

»Das steht bei Gott.«

       *       *       *       *       *

Im Eppendorfer Krankenhaus führte »Schwester Käte« die junge Frau
gleich zu ihrem Gatten.

»Er hat sehr nach Ihnen verlangt, Frau Holgers«, sagte sie
teilnahmevoll. »Auch in der Narkose hat er immer nach Ihnen gerufen.
Soll ich Ihnen Näheres vom Unglück im Elbtunnel erzählen?«

»Nein, nein,« wehrte Maren. »Ich will zu meinem Mann. Aber wird es ihn
nicht zu sehr angreifen, wenn ich plötzlich vor ihm stehe? Wollen Sie
ihn vorbereiten, Schwester Käte?«

Diese wendete ihr Gesicht fort. Sie meinte, noch nie solch wehen
Ausdruck in den Augen eines Menschen gesehen zu haben.

»Nein, nein, Frau Holgers, gehen Sie nur, -- -- es ist besser, Sie
sehen den Verletzten _bald_ ... Aber erzählen Sie nicht von dem
Unglück, er -- weiß es nicht, wie schwer seine Verletzung ist. Wenn Sie
es über sich gewinnen könnten, Ihrem Manne _frohe_ Dinge zu erzählen
... so ...«

Sie drückte Maren fest die Hand. Wollte hinzusetzen: »So machen Sie
ihm das Sterben leichter«, aber die Stimme versagte der Leidgewohnten
diesen trostlosen Augen gegenüber.

Der Chefarzt ging vorüber und sah fragend die Schwester und die Fremde
an.

»Frau Holgers von Hallig Likamp ...«

Da trat lebhafte Teilnahme in sein kluges Gesicht.

Das also war »Mutter Maren«, von der ihm Pastor Licht geschrieben. Und
welche durch die Fieberträume des schwer siechen Mannes geschritten war
und in seinem Wachen lebte.

Er reichte Maren die Hand in rascher, herzlicher Art.

»Nur ganz unbefangen mit ihm sein«, riet er. »Ihr Frauen seid ja
doch nun einmal Helden im Schmerzverarbeiten ... Ihr Mann wurde uns
schrecklich zugerichtet gebracht. Wir mußten beide Beine sofort
abnehmen. Und leider ist er auch innerlich schwer verletzt.«

Sie schritt zu Edlefs Lager. Man hatte ihn in einem Zimmer allein
gebettet. Und Maren konnte ihm zulächeln und sah, wie ihm dies Lächeln
wohltat. Und während sie meinte aufschreien zu müssen vor Jammer und
Leid, scherzte sie mit dem Wunden: »Mein Edlef, sie warten alle daheim
auf dich, und du legst dich in die Heia ...?«

Er hielt ihre Hände und zwang sein schmerzverzerrtes Gesicht zur
heiteren Ruhe. »Maren, mein Deern, gottlob, du bist bei mir.« So als
läge gar nichts zwischen ihnen. Als seien all die eisigen Monate eitel
Frühling und Sommerwärme gewesen. --

Und Maren meinte bei sich, sie würde bis an ihr Lebensende die Worte
nicht vergessen, sondern würde ihre ganze Kraft aus ihnen saugen:
»Gottlob, Maren, mein Deern, du bist bei mir.«

Sie hielt seine Hand und plauderte mit ihm. Von allem, was den
Mutterhof betraf, und was sich dort ereignet hatte. Bei Akkes Namen
verfärbte sich Edlef, und Maren sah es und litt unsäglich. Aber gleich
nahm sie ihn wieder in ihre Arme: »Hast du Schmerzen?« fragte sie
liebreich.

»Ja, große Schmerzen«, gestand er. »Die Beine und Füße quälen mich
schrecklich. Sie müssen mehrfach gebrochen sein, aber man will es mir
wohl noch verheimlichen. Maren, -- wenn ich ein Krüppel würde! Oh, und
wie meine Brust schmerzt!«

»Greift dich auch das Reden nicht zu sehr an?« Sie sah voll namenloser
Sorge in sein gelblich-blasses Gesicht.

»Ach, nein, Maren, ich bin sehr froh, daß du gekommen bist! Wir Holgers
müssen immer erst durch Tiefen gehen, ehe wir zur Einsicht kommen.
Maren -- -- es ist kaum glaublich. -- Erst als ich unter den schweren,
immer aufs neue abgleitenden und stürzenden Steinen im Elbtunnel lag
-- Maren, da erst -- kam mir zum Bewußtsein, daß ich dich schnöde
verlassen hatte ...«

Edlef sprach abgerissen, manchmal ganz undeutlich. Dann wieder umfing
ihn wohltätige Ohnmacht.

Maren labte seine Stirn und die eingefallenen Schläfen mit kölnischem
Wasser. Und ihr Herz betete und schrie: Mein Gott, warum hast du mich
verlassen?

Als Edlef wieder die Augen aufschlug, faßte er sofort fest ihre Hände.

»Du bist bei mir, Maren. Und ich werde den Professor bitten, daß ich
bald heimkehren darf. -- Du allein kannst mich gesund pflegen. -- Und
du wirst auch einen Krüppel liebhaben, ja, Maren? Aber sorg dich nur
nicht -- der Professor ist sehr geschickt -- vielleicht flickt er mich
auch heil zurecht ...«

Nun stöhnte er auf, und Maren sah, wie sich helle Blutstropfen in
seinen Mundwinkeln sammelten. Sacht wischte sie mit ihrem kühlen
Leinentuch über seinen Mund.

»Blut?« stammelte er. »Wo kommt das wohl einmal her? Hab mir wohl gar
ein paar Zähne eingeschlagen? Und es war nur Ungeschick von deinem
großen Edlef, -- Maren, du kleine, süße Deern ... der Gang war so eng,
ich wollte über den Riesensteinhaufen hinweg -- die waren schlecht
geschlichtet und begruben mich ...«

Er wurde wieder ohnmächtig.

Nach einer Weile kam Schwester Käte. Sie beugte sich über Edlef und
bedeutete Maren, sie für eine Weile mit dem Wunden allein zu lassen.
Als Maren wieder gerufen wurde, lag Edlef mit wachen Augen. »Immer ist
Maren da, wenn ich sie rufe«, sagte er leise. »Immer. Im Leid -- meine
Mutter ... Schwester Käte, wann darf ich heimkehren ...?«

»Bald!«

Wie eine bohrende Nadel senkte sich dies »bald« in Marens Brust. Sie
nahm wieder ihren Platz am Bettrande ein, und wieder haschte der
Versehrte nach ihren beiden Händen.

»Maren, mein Deern, -- hast du mir vergeben?« Große Tränen rollten über
sein blasses Gesicht. Maren trank sie mit ihrem Munde auf.

»Lieber, Lieber!« stammelte sie -- »ich hab’ dich lieb!«

»Ja, das tust du. Süße Maren! Und ich wollte mehr ... Wollte einen Sohn
von dir haben ... Mutterhoferben ... Und nun hast du mir unsern Onnen
gerettet. Solch ein prächtiger Erbe ... _Gott_ segnete dich, Maren ...
die ganze Hallig nennt dich _Mutter_ ... Das ist mehr, viel mehr ...«

»Quäl dich nicht so«, bat sie. »Wir fangen ein neues, wunderschönes
Leben an, Edlef, Liebster ...«

»Ein neues Leben -- Ja! Aber sag’ mir, Maren -- nur das eine ... warum
hattest du kein Vertrauen zu mir???«

»Ich verstehe dich nicht, Edlef ...«

»Nein, laß! Ich hab’ es dir vergeben. Aber es war nicht gut, nicht
recht ... Es paßte nicht zu euch beiden Aufrechten ... Manne! Maren!
Eine falsche Scham ... Manne hätte es mir sagen müssen ...«

»Was sollte er dir sagen? Um Gottes willen, Edlef, sprich weiter, was
tat ich?«

Aber sie sah, wie die blassen Mundwinkel sich wieder mit Blut füllten.
Und während sie es sorgfältig abtupfte und den Erschöpften labte, rang
sie mit allen lichten und allen finsteren Mächten.

Edlef sah sie an. Voll Schmerz und Liebe. »Du, du, Maren! Warum? Ach,
warum?«

Da schrie Maren auf. Und sank an seinem Bett in die Knie. »Edlef,
hör’ mich! Sieh deine Maren an! _Was man dir auch gesagt haben mag_,
-- Lieber, rein weiß ich mich von jeder Schuld. Nie hab’ ich dir mit
meinem Willen ein Leids getan. Nie!«

Er sah sie an. Lange. Auf den Grund ihrer reinen Frauenseele drangen
seine Augen, in denen schon der Schimmer einer andern Welt lag. Dann
verklärte sich sein Gesicht. Er lächelte. Erstaunt, fragend, wissend.
Strahlend wurde sein Lächeln. Viele Dinge lagen darin.

Er nahm es mit hinüber in die Ewigkeit. --

Edlef Holgers kehrte heim.

In Tannengrün prangte der Mutterhof, und kleine Tannenzweiglein
bedeckten den Weg, der von der Haustür bis zur Warftreppe führte. Und
der Sarg war eingehüllt in Bonnestave. Die blaue Halligblume grüßte
ihren Sohn, der heimkehrte zur Halligerde.

So bekam Edlef Holgers doch noch das Kirchengeläut, das Boy Boysen ihm
versagen wollte. Der Klang der Halligglocken zitterte in der klaren
Winterluft.

Maren schritt allein hinter dem Toten.

Ehern stand die Majestät des Schmerzes in ihrem leidgereiften Antlitz.

Als der Sarg über die Schwelle des Mutterhofes gehoben wurde, sagte sie
laut und feierlich: »Sei willkommen, mein Edlef!«

Und die Träger meinten, sie würden niemals dies Wort vergessen und
nimmer das junge Weib in seinem heiligen Schmerz.

       *       *       *       *       *

Wider den Nordoststurm kämpfte sich ein Mann nach der Schulwarf. Helle,
durchdringende Glockenschläge, immer vier in einer Gruppe, drangen
durch die Winterluft zu ihm hin.

Und da wußte Manne Wögens, daß sein liebster Freund bereits in der
Erde lag, und daß er zu spät kam, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Man
»läutete den Toten aus«. Der Lehrer hüllte sich fröstelnd fester in
seinen Mantel.

Der Süden hatte ihn verwöhnt, auch lagen durchreiste und durchwachte
Nächte hinter ihm, seit Marens Telegramm ihn rief. Jetzt wollte er
nur noch sein schweres Gepäck heimbringen und dann gleich nach dem
Mutterhof zu seiner Marenschwester eilen. Ihr gehörte er jetzt _allein_.

Das war ihm klar geworden seit einer halben Stunde. Denn er hatte
telegraphisch seine Ankunft gemeldet und war nur von Ohm Rickert und
Onnen empfangen worden. Die, die er einzig und allein in einem zagen
Glücksahnen erwartet hatte, war nicht gekommen. Er zürnte ihr nicht
einmal. Sie hatte wohl das Rechte gewählt für sich und ihn. Denn mit
Edlefs Tode war großer Reichtum über Nomine gekommen, und sie war
Herrin des Mutterhofes bis zu Onnens Großjährigkeit. Ob sie dies Recht
ausnützen würde oder nach der Stadt und ihrem Beruf zurückkehren, _er_
würde in jedem Falle abseits stehen. Das hatte ihm ihr Fernbleiben
heute schonend sagen wollen.

Und Maren wollte er bitten, zu ihm zurückzukehren, anstatt ins
Altenteil des Mutterhofes zu ziehen. Beide Geschwister wieder einsam,
wie ehedem. Das Herz wurde ihm seltsam eng bei dem Gedanken, jetzt in
das kalte Schulhaus zu kommen, in seine unbehaglichen Stuben. Denn der
alte Emeritus, den die Behörde zu seiner Vertretung gesendet, hatte
währenddem beim Pfarrer gewohnt.

Nun erstieg Manne Wögens die Treppen zu seiner Warf und öffnete seine
Haustür. Durch die kleine Diele schritt er in sein Wohnstübchen. Da
mußte er sich gleich in den alten Ohrenstuhl fallen lassen, »drin alle
Wögens ausgerastet hatten«.

Denn das liebliche Bild, das sich ihm bot, übermannte ihn.

Über ihr schwarzes Trauerkleid hatte Nomine Holgers eine frauliche
Schürze gebunden, und sie hielt ein großes Brot im Arm und schnitt
duftende Scheiben davon ab. Die häuften sich neben dem Napf mit der
goldgelben Butter. Und wenn auch die Kinder zu dem lieblichen Bild von
»Werthers Lotte« fehlten, so besaß doch Manne Wögens Vorstellungskraft
genug, sie sich in stattlicher Zahl dazu zu denken. --

»Du bist hier?« fragte er selig erstaunt.

»Wo sollte ich sonst sein?«

»Unten am Steg ...«

»Da waren die andern.« Sie errötete heiß. »Ich gehöre doch _hier_ her.
Und mußte doch Essen für dich richten. Und mußte dir doch alles warm
machen ...«

»Ja, das tust du wahrlich. Kein Mensch hat mir je so warm gemacht, wie
du, Nomine Holgers ...«

Dann wurde er ganz ernst. Und in seinem lebendigen Gesicht sah das
Mädchen die tiefe Ergriffenheit.

»Willst du bei mir bleiben, Schulmeisterin?«

»Ja, Schulmeister, ich will!«

Da vergaß Manne Wögens, daß er zum Tod und Begräbnis gekommen war, und
er holte sich jauchzend das lachende Leben an sein Herz und in seine
Arme.

       *       *       *       *       *

Im Witwenstübchen saß Maren Holgers.

Das schwarze Trauerkleid lag in schweren Falten um ihre schlanke
Gestalt, und die dunkle Friesenhaube rahmte schier feierlich das
schöne, ernste Antlitz ein.

Vor ihr stand Onnen und hielt ihre beiden Hände.

»Du siehst arg müde aus, Mütterchen Maren«, sagte er besorgt. Sein
offenes, schönes Knabengesicht beugte sich unendlich liebevoll über
die junge Witwe. »Ich will auch gleich von dir fortgehen, dir tut das
Alleinsein not ...«

Ein liebes Lächeln trat in ihr Gesicht. »Ich könnte dich wohl
›Väterchen Onnen‹ nennen, so besorgt bist du um mich«, sagte sie
liebevoll.

»Ich gehe auch gleich, Mütterchen. Aber ich mußte dir sagen, dir ganz
allein, _wie ich mich freue_. Wie dankbar ich unserm Edlef bin. Daß er
alles _so_ und nicht anders geordnet hat. Nicht wahr, du fühlst, wie
ich mich freue?!« fragte Onnen stürmisch.

»Ja, das tue ich, du lieber Junge. Hab’ Dank! Ihr seid alle so gut zu
mir ...«

»Weil wir _alle_ dir _alles_ verdanken«, rief Onnen begeistert. »Weil
im Mutterhof so viel Sonne ist! Trotzdem ihr alle schwarze Kleider
tragt. Das ist wie ein Wunder ... Ach, Mütterchen Maren ...!«

»Du lieber Junge!«

Und Maren dachte still, wie viel Reichtum ihr doch geblieben sei, da
sie dieses seltene junge Menschenkind erziehen und leiten dürfe zu
allem Guten. Und so dem Mutterhof doch einen Erben geben konnte. Ganz
selbstlos, ohne eigenes Glück. Nur auf das Ansehen und die Ehre des
Mutterhofes und der Halligheimat bedacht. --

Onnen war hinausgestürmt.

In ihm war alles Wollen und Tatkraft.

Das Leben lag vor ihm wie die blühende Halligfenne in lauter goldener
Sommersonne. Lernen durfte er, -- lernen. All sein dürstendes Sehnen
stillen. Das angefangene Werk seines lieben, heimgegangenen Bruders
dereinst fortsetzen.

Er durfte bodenständig auf seiner Hallig bleiben, ohne einen Menschen
zu betrüben, ohne einem seiner Angehörigen liebgewordene Pläne zu
zerstören.

Alle waren einverstanden mit seinem Wollen, freuten sich mit ihm. Der
Reichtum erdrückte ihn fast. Da war es gut, daß man einen lieben,
klugen Lehrer hatte, der zugleich sein bester Freund war. Auf ihn
konnte man einen Teil der Freuden abladen und sich allstunds treuen Rat
holen. Zu ihm wollte Onnen jetzt stürmen und viel herrliche, schier
unerhörte Dinge und auch viel Ernsthaftes und Unverstandenes mit ihm
durchsprechen. --

Maren hatte ihm nachgesehen mit gutem Blick und tausend guten Gedanken.
Sie liebte diesen hochgemuten Jungen wie ein eigenes Kind. Und der Gram
um ihr totes, eingesargtes und begrabenes Glück wich einer großen,
alles überragenden Dankbarkeit gegen Edlef. Über sein Grab hinaus. --

Sie hatte am gestrigen Tage still ihre Habe gepackt, um wieder nach
denn Schulhause zum einsamen Mannebruder zu gehen. Da spürte sie es
zum Weinen schwer, wie sehr sie mit dem Mutterhof verwachsen war. Jede
kleinste Wurzel ihres Herzens mußte sie einzeln herausreißen, und das
tat unerträglich weh.

Nun hatte ihr heute der Hamburger Rechtsanwalt eröffnet, daß sie die
Herrin des Mutterhofes sei.

Daß Edlef ein Testament hinterlassen habe. Der Anwalt hatte einen
Brief des Toten an sie in ihre Hände gelegt. Darin standen die Gründe,
weshalb Edlef alte, überlieferte Bestimmungen zu ihren Gunsten umstieß.
»Weil Du mir _schrankenlos_ vertrautest. Weil nichts Dich anfocht, was
Dir die Umwelt zutrug. Weil Deine Liebe zu mir so stolz und groß war,
daß Du mich nicht ein einziges Mal gefragt hast: ›Ist es wahr, was man
mir sagte?‹ Dafür bist auch Du meines schrankenlosen Vertrauens würdig,
und sollst gesegnet sein, süße Mutter Maren.«

       *       *       *       *       *

Diesen Brief, oft gelesen und mit Tränen benetzt, barg Maren auf ihrem
Herzen. Aber sie sann in stillen Stunden, deren sie jetzt nach dem
strengen Trauergebot des Mutterhofes gar viele hatte, darüber nach, was
wohl in dem Spruch für ein Geheimnis liege, der ganz klein geschrieben
die Nachschrift des Briefes darstellte: »Und vergib uns unsere Schuld,
wie wir vergeben unsern Schuldigern ...«

Als Onnen aus der Haustür gestürmt war, hätte er beinahe Frau Akke
umgerannt, die zögernden Schrittes sich gegen das Haus hin bewegte.

Der Holgersjähzorn schoß in ihm hoch. »Was willst du da?« fragte er
barsch. »Meiner Maren weh tun? Das gibt’s nicht.«

Er bekam keine Antwort. Akkes Augen sahen ihn erschrocken und weh an.
Und sie wandte sich sofort und ging zurück.

Ihr müder Gehorsam entwaffnete den heißblütigen Jungen. Er fühlte,
-- diese gebeugte Frau wollte nichts Ungutes über die Schwelle des
Mutterhofes tragen. Da ging er mit ihr die kurze Strecke nach dem
Hause wieder zurück, und das Bewußtsein seines eigenen äußeren und
inneren Glückes gegenüber der müden Traurigkeit Akkes machte ihn gut
und ritterlich. Er öffnete ihr die schwere Haustür und rief ihr noch in
großer Verlegenheit zu: »Grüß dein klein’ Anni«, ehe er wieder stürmend
den Lauf nach der Schulwarf aufnahm. --

Nun stand Akke Bahn, geborene Luersen, vor Maren Holgers. Deren Blick
weitete sich bei ihrem plötzlichen Erscheinen in fragendem Erstaunen
und stiller Angst.

Aber Edlefs Brief, der auf ihrem Herzen lag, war wie ein Talisman, von
dem geheime Kräfte ausgingen.

Sie erhob sich von ihrem Sitz und holte für den stummen Gast einen
Stuhl.

Akke wehrte kopfschüttelnd ab. Sie rang nach Worten und fand kein
einziges.

Da sagte Maren ruhig und freundlich: »Du willst mir Kondolenz geben? So
setz dich auch.«

Aber Akke tastete sich nach rückwärts und legte einen noch größeren
Raum zwischen sich und die junge Witfrau. An den Türpfosten lehnte sie
sich. Scheu, als wollte sie jeden Augenblick das Weite suchen. »Können
wir eine Weile allein bleiben?« stieß sie heraus.

Maren nickte. »Wir sind ungestört.«

Und sie setzte sich auf das alte Thüringer Kanapee und faltete die
Hände in ihrem Schoß.

Akke war ruhelos. »Wenn nur der Anfang nicht so schwer wäre«, stöhnte
sie. »Du darfst mich mit keinem Wort unterbrechen, Maren Holgers, sonst
laufe ich dir wieder fort ... Weshalb ich hier bin? Weil Edlef Holgers
mich so sehr verachtete. Weil er nicht glaubte, ich könne je ein
Unrecht eingestehen. Und weil er dich so hochstellte, daß er meinte,
es brauche dir niemand die Wahrheit zu sagen, du würdest ihm vertrauen
über allen bösen Leumund hinweg. _Ich will besser sein, als Edlef von
mir gedacht hat_, -- deshalb bin ich hier. --«

Eine schwüle Pause entstand. Dann ließ sich Akke plötzlich schwer in
den Stuhl fallen, den sie vorher abgelehnt hatte.

»Du weißt ja nicht, Maren, wie das ist, wenn man jemand lieb hat, der
sich gar nicht um einen kümmert ... Ich bin dem Edlef schon als lütt
Scholdeern nachgelaufen. Und hab’ ihn mit guten Sachen beschenkt und
mit Steinen geworfen, -- nur damit er mich beachten sollt’. Aber er hat
nie an mich gedacht. Ich hab’ nicht mit Puppen gespielt, wie andere
Deerns, ich wollte immer bei den Jungens sein. Die ließen mich auch
mittun, weil ich mutig und stark war. Bis der Edlef dazu kam und mich
fortjagte. Das ist so gegangen, bis wir groß waren. Die Ahne hatte
mich zur Frau für Edlef bestimmt. Darauf baute ich. Ich wußte auch,
daß er ein Auge auf _dich_ hatte, Maren Holgers. Und daß du ihn nicht
ermuntertest. Da macht ich es genau wie du. Und nun wollt’ er mich
haben. Wie die Katz mit der Maus hab’ ich mit ihm gespielt. Und ganz
verrückt war er vor Eifersucht ... Aber so die richtige Holgerslieb,
-- die hat er ja doch nur für dich gehabt ... Und hat dich ja auch zu
seinem Weibe gemacht ... Die kurze Zeit unserer Brautschaft vorher war
keine Untreue gegen dich. Als ich dann später mit meinem Kind zu euch
kam, weil mein Mann mich schlecht behandelte, hat Edlef mir zuerst die
Tür gewiesen. Aber du kennst ihn ja. Keinen Hund konnte er fortjagen,
und als der Lütte anfing zu schreien, versprach er mir, einen Dienst
bei Bekannten für mich zu suchen. -- Er gehört zu den Leuten, die nicht
›nein‹ sagen können. Bei _der_ weichen Stelle sind sie zu packen. Ich
wußte ja längst, daß ihr unglücklich miteinander wart, weil du kein
Kind hattest, Maren Holgers ...« Von der Stelle, da Maren saß, kam ein
Laut. Und das Gesicht der jungen Frau war ganz weiß. »Nicht!« sagte sie
abweisend und hart. »Nicht von mir und meinem Mann sollst du sprechen,
-- nur von dir.«

Akke lachte bitter. »Ja, das ist dein Hochmut. Und so war auch Edlef.
Er litt es nie, daß ich von dir sprach. Ob bös oder gut, ich sollte
deinen Namen nicht erwähnen.«

Da faltete Maren die Hände noch fester, und in ihr wundes Herz kam es
wie Frieden.

»Maren Holgers, -- _ich hab’ den Edlef mit meiner Liebe verfolgt_. --
Wenn er in die Versammlung ging, war ich da, und wenn er nach Hause
kam, fand er mich. Und wies mich fort. -- -- -- Sag nicht, daß sich
jeder Mann jedes Mädchens erwehren könnte. Konnte er mich nicht mehr
lieben, so sollte er wenigstens mit mir sprechen. So blieb ich immer
um seinen Weg. -- Ich habe ihm erzählt, daß ich das Gerücht nach der
Hallig brachte, mein Kind sei von ihm. Da hat er mir kalt und ruhig
gesagt: ›_Das glaubt die Maren nicht._‹ Und so ganz zuversichtlich
immer wiederholt: ›Nein, meine Maren glaubt das nicht.‹ Da fraß
der Zorn an mir. Da hab ich’s anders angefangen. Und da hatte ich
Erfolg ...«

Maren hob den tief geneigten Kopf. Banges Entsetzen trat in ihre
leidvollen Augen.

»Ich sagte Edlef für heilig und ganz gewiß ...« Akke sah scheu auf
Maren und stieß dann rasch heraus: »Daß du schon _vor_ der Hochzeit
gewußt habest, niemals Kinder zu bekommen ... Daß dein Bruder und du
den Mutterhof _bewußt_ mit einer Unfruchtbaren betrogen hättet ...«

»Akke!« stöhnte Maren, »was tat ich dir ...?«

Die Worte kamen nun stoßweise aus Akkes Mund: »Du kennst ja Edlef. Das
traf ihn. Er hatte dir so vertraut. Und er war stolz. Ich wußte, er
hätte dich nie gefragt. Stolz und hochmütig wie du. Und er glaubte mir.
Weil er selbst nicht lügen konnte. Dann hat er mich zum letztenmal
davongejagt ... Aber ganz gebrochen sah er aus. Weil sein Vertrauen tot
war ...«

Akke erhob sich. Und sah befremdet auf die Herrin des Mutterhofes. Die
konnte sich wohl kaum noch aufrecht halten. Wie der Tod sah sie aus.
Aber sie schrie nicht und klagte und weinte nicht, wie andere Frauen.
Hätte sie es doch getan. Dann wären die grauen, ernsten Augen wohl
nicht so furchtbar anklagend auf Akke geheftet. Diese leidvollen Augen,
denen man durchwachte Nächte ansah.

Wieder tönte Akkes harte Stimme:

»Ich habe dir das alles nicht gesagt, Maren Holgers, um dich etwa jetzt
um Verzeihung zu bitten. Die will ich nicht. Und brauche ich nicht. Nur
um meiner selbst willen klage ich mich an. Ich _will_ besser sein als
Edlef von mir gedacht hat.«

Tiefe Stille. Und darin nur diese anklagenden, wehen Augen. Akke
schlich nach der Tür.

»Ich gehe nun, Maren Holgers. Ich ziehe ganz fort von der Hallig. Den
kranken Vater nehme ich mit mir. Und das Kind. Mein Mann ruft mich. Er
hat einen Schlaganfall gehabt und ist gelähmt ...«

Da war Maren Holgers plötzlich neben ihr, und ihre Hand legte sich auf
Akkes Arm und hielt sie zurück.

»Arme Akke!« sagte eine gute Stimme. Das Bewußtsein des eigenen
Reichtums, des festen Verbundenseins mit Edlef über Tod und Vergehen
hinaus stand groß auf in Maren Holgers. Und sie dachte nicht mehr an
die Schuld, nur noch an das Unglück der Halligschwester. Der man das
letzte »Scherflein« nehmen wollte, -- die Heimat. Und mit diesem
starken Empfinden kam eine große Ruhe über sie. »Willst du nicht deinen
Mann auf die Hallig holen, Akke?« fragte sie. »Euer Haus hat doch Raum
für ihn. Und die Hallig -- die braucht dich, Akke. Du bist fleißig, --
und -- viel stärker als ich -- -- du wirst mir oft helfen können ...
Willst du, Akke?«

Da straffte sich eine gebeugte Gestalt und ein heißes, irrendes Herz
wurde seiner Last ledig. Eine Antwort bekam Maren nicht. Aber deren
Herz schlug zum erstenmal ruhig und froh, als sie der Enteilenden
nachsah. Dann horchte sie befremdet nach draußen hin. Da waren viele
Stimmen aufgestanden. Die rannten miteinander. Auch leise lachende
Kinderlaute waren dazwischen. Onnens helle, warme Stimme tönte obenauf.

Maren tritt vor die Haustür.

Die ist mit Tannen bekränzt und mit zwei Tannenbäumen eingerahmt. Und
den Weg bedecken Blüten der blauen Halligblume. Kinder treten auf sie
zu, die tragen Bonnestave in ihren Händen. Und lachen sie glücklich an,
und rufen: »Mutter Maren!«

Und der Gemeindevorsteher liest etwas aus einem großen Bogen vor, aber
seine Stimme versagt so oft, daß Maren gar nichts davon versteht. Bis
er plötzlich abbricht und auch nur die zwei Worte stammelt: »Mutter
Maren.« Dann drängen sich die »drei Obdachlosen« vor und drücken ihre
Hände, und Lütt Krischan wird ihr auf den Arm gegeben. So steht sie
lieblich da, die »Mutter Maren mit dem Kinde«. Auch Bruder Mannes Hände
strecken sich ihr entgegen, und Schwester Nomine umfängt sie glücklich.
Mutter Holgers weint still in ihr Tuch. Tanten Frauke steht etwas
abseits mit ihren versonnenen Augen. Die sieht wieder die Holgerssippe.
Sieht Geschlechter kommen und gehen, und zieht ihre stillen Vergleiche.

Maren drückt viele Hände und sagte wenig Worte.

Aber ihr Herz spricht laut: »_Ich hab’ euch alle lieb!_«

Dann gehen die hundert Inselleute still davon.

Ein tiefes Freuen liegt über der Hallig.

Maren hebt das Antlitz, über das linde Tränen rinnen. Sie schaut nach
dem Gottesacker ...

Und weiter hin über die liebe Heimat und die salzen See. -- In ihrem
Herzen ist ein heiliges Gelöbnis.

Sie nimmt Onnens Hand und schreitet mit dem jungen Erben still über die
Schwelle des Mutterhofes.


Ende.




Verlagsanzeigen




Romane von

Felicitas Rose


=Wien Sleef, der Knecht=

Ein Buch, das mit seinem Glauben in das Morgen deutet; eine Dichtung,
die Storms reifen Schöpfungen gleichgestellt werden darf.

            (Dresdner Nachrichten.)


=Die vom Sunderhof.=

Das Schicksal eines Bauerngeschlechtes, das sich durch vier
Generationen vollzieht, wächst hier ins Große, Bedeutsame. Echtes
deutsches, heimatverbundenes Leben ersteht aus der Heidelandschaft.


*=Das Haus mit den grünen Fensterläden.=

Mehr noch als in den bisherigen Werten der Heidedichterin leuchtet in
ihrem neuesten Roman ein starker gütiger Humor durch eine ernste, reich
bewegte Handlung.


*=Die Wengelohs.= Roman.

Es ist, als ob die Welt Reuters in neuer Wandlung auferstanden wäre und
ein Klang aus dem Waldhorn Eichendorffs darüber hinflöge.


*=Der hillige Ginsterbusch.=

Das Aufblühen einer edlen Frauenseele. Ein Buch der Selbsterneuerung
von innen heraus, wie es unserer Zeit dringend not tut!


*=Die Erbschmiede.=

Ein Buch aus der Seele der Lüneburger Heide, das geheimnisvolle
Einblicke in die Eigenart der wortkargen, kraftvoll gütigen Heidjer
erschließt.


*=Heideschulmeister Uwe Karsten.=

Die stille und doch mächtige Poesie der Heide, wie sie in so
ergreifender Melodie seit Liliencrons Heidebildern nicht gehört
wurde, durchströmt dieses Buch, und mit dem Leben der Heide sind
Menschenschicksale wunderbar verflochten.

            (Badische Neueste Nachrichten.)


*=Die Eiks von Eichen.=

Kantige Menschen, die im Jähzorn fehlen können, aber in Wahrheit einen
Schatz von Tatkraft und leuchtender Güte bergen. Seltsame Gestalten und
eigenartige Erlebnisse legen eine ungewöhnliche Stimmung über dieses
Buch.

            (Fränkischer Kurier.)


*=Das Lyzeum in Birkholz.=

Der stille, schwermütige Zauber der niederdeutschen Landschaft, die
anheimelnde Geschlossenheit einer kleinen Stadt, der schwerblütige
Charakter des Heideschulmeisters stehen scharf umrissen in den
meisterlich miteinander verwobenen Schicksalen.

            (Düsseldorfer Tageblatt.)


*=Erlenkamp Erben.=

Der Abenteuerlust des Erben der Erlenkamp steht das bodenständige
Patriziertum gegenüber. Der ernsten Tragik hält köstlicher Humor das
Gleichgewicht, und gesunde Lebensbejahung treibt die Sorgenwolken immer
wieder auseinander.

            (Abendpost, Chikago.)


*=Meerkönigs Haus.=

Mit vollendeter Kunst sind die Menschen in das ruhige, selbstsichere
Leben der alten Hansastadt gestellt, und wie aus Gemälden alter
deutscher Meister schauen sie uns daraus entgegen.

            (Literaturbericht, Berlin.)


*=Der Mutterhof.= Ein Halligroman.

In diesem Roman ist alles groß, stark, sicher und schicksalsvoll. Auf
dem Mutterhof gilt der uralte Wahlspruch vom Segen der Fruchtbarkeit,
doch eine schwere Tragik hängt über der jungen Frau Maren, der das
Schicksal Mutterglück verweigerte.

            (Tägliche Rundschau.)


*=Der Tisch der Rasmussens.= Die Geschichte einer Familie.

Eine spannende Handlung, durchweht von einem köstlichen Humor.


*=Der graue Alltag und sein Licht.=

Mit 20 Originalzeichnungen von _H. Krahforst_, Aachen.

Ein bestrickender Zauber geht von diesem Buch aus, das uns vom Alltag
zum Licht führt. Wieder weiß Felicitas Rose ungemein zu fesseln, die
mannigfaltigen Schicksale sind mit der sicheren Hand gezeichnet.


*=Drohnen.= Eine Geschichte für junge und alte Nichtstuer.

Lebensechte Gestalten in bunter Fülle, eigenartige und fein beobachtete
Charaktere, feiner, warmer Humor.

            (Karlsruher Tageblatt.)


*=Bilder aus den vier Wänden.=

Ein köstlicher Humor durchleuchtet diese intimen und feinen
Kabinettstücke. Aus den Erzählungen spricht eine Liebe, die über die
engen Grenzen sich weitet zur alles umfassenden Menschenliebe.


Jeder Band in Original-Ganzleinen gebunden 4.80 RM., die mit *
bezeichn. Bände auch als Sonderausg. Ganzleinen RM. 3.80

Einige Bände auch in Halbleder lt. besonderer Liste.


    =Rotbraunes Heidekraut.= Lieder. Mit 4 Bildern von H.
        _Krahforst_. Aachen.

            Volksausgabe 1 RM.

=Provinzmädel.= 5 Doppelbände, jeder Doppelband in biegsamem Ganzleinen
=2.25 RM.= Band I: Kleinstadtluft / Kerlchens Lern- und Wanderjahre.
/ Band II: Kerlchen wird vernünftig. / Kerlchen als Erzieher. / Band
III: Kerlchen als Anstandsdame / Kerlchen als Sorgen- und Sektbrecher.
/ Band IV: Liebesgeschichten / Kerlchens Flitterwochen / Band V:
Kerlchens Mutterglück. / Kerlchens Ebenbild


Berlin · Deutsches Verlagshaus Bong & Co. · Leipzig




Bongs Klassiker-Bibliothek


Die Texte sind sorgfältig revidiert, eine von ersten Literarhistorikern
geschriebene Einleitung führt in den Dichter und sein Wert ein, und
reichhaltige Erläuterungen erleichtern das Verständnis. So kommt Bongs
Klassiker-Bibliothek nicht nur ein literarisches, sondern zugleich ein
ethisches und nationales Verdienst zu.

            (»Danziger Zeitung«.)

    _Arndt_, 4 Bde.

    _Arnim_, 2 Bde.

    _Arnim_ und _Brentano_, Des Knaben Wunderhorn, 2 Bde.

    _Bürger_, 2 Bde.

    _Chamisso_, 2 Bde. (3 Teile).

    _Chamisso_ (Vollst. Ausg.), 3 Bde.

    _Droste-Hülshoff_, 3 Bde.

    _Eichendorff_, 3 Bde.

    _Fouqué_, 1 Bd.

    _Freiligrath_, 3 Bde.

    _Goethe_ (Auswahl) 6 Bde.

    _Goethe_ (Erweiterte Ausgabe), 11 Bde.

    _Goethe_, Register allein, 2 Bde.

    _Grabbe_, 3 Bde.

    _Grillparzer_ (Auswahl), 5 Bde.

    _Grimm_, Märchen, 2 Bde.

    _Grimm_, Sagen, 2 B.

    _Grimmelshausen_, 3 Bde.

    _Grün_, 3 Bde.

    _Gutzkow_, 4 Bde.

    _Gutzkow_ (Erweit. Ausgabe), 7 Bde.

    _Gutzkow_, Ritter v. Geiste, 3 Bde.

    _Halm_, 2 Bde.

    _Hauff_, 3 Bde.

    _Hebbel_, 5 Bde.

    _Hebbel_ (Werke und Tagebücher), 7 Bde.

    _Hebbel_ (Tagebücher), 2 Bde.

    _Hebel_, 2 Bde.

    _Heine_ (Auswahl), 5 Bde.

    _Heine_, 15 Teile (Vollst. Ausg.), 7 B.

    _Herder_, 6 Bde. (z. Zt. nur Halbleder)

    _Herwegh_, 1 Bd.

    _Hoffmann_ (E. T. A.), 8 Bde.

    _Hoffmann v. Fallersleben_, 2 Bde.

    _Hölderlin_, 2 Bde.

    _Homer_, 2 Bde.

    _Immermann_, Münchhausen mit Oberhof, 2 Bde.

    _Immermann_, 3 B.

    _Keller_ (Gottfried), 5 Bde.

    _Kerner_ (Just.), 2 B.

    _Kleist_ (H. v.), 3 Bde.

    _Körner_, 1 Bd.

    _Lenau_, 2 Bde.

    _Lessing_, 5 Bde.

    _Ludwig_, 3 Bde.

    _Meyer_, C. F., 3 Bde.

    _Mörike_, 2 Bde.

    _Nestroy_, 2 Bde.

    _Nibelungenlied_, 1 Bd.

    _Nietzsche_, 4 Bde.

    _Novalis_, 2 Bde.

    _Reuter_, 6 Bde.

    _Scheffel_, 3 Bde.

    _Schenkendorf_, 1 Bd.

    _Schiller_, Auswahl, 6 Bde.

    _Schiller_ (Vollständ. Ausgabe), 11 Bde.

    _Shakespeare_, Dramen, 4 Bde.

    _Shakespeare_ (Erw. Ausgabe), 6 Bde.

    _Shakespeare_ (Vollst. komment. Ausgabe), 7 Bde.

    _Storm_, 3 Bde.

    _Sturm u. Drang_, Dichtungen aus der Geniezeit, 2 Bde.

    _Uhland_ (Schulausgabe), 1 Bd.

    _Uhland_ (Erweit. Ausgabe), 2 Bde.

    _Wagner_, Musikdramen (s. unten)

    _Zschokke_, 4 Bde.

        =Jeder Band in Ganzleinen RM. 2.20, in Halbleder RM. 4.50.
        Halblederausgaben nach besonderer Liste.=


Weitere Klassiker-Ausgaben:

    =Goethe= (Vollst. Ausgabe mit Register) 22 Bde. Ganzleinen
        88 RM. Halbleder 132 RM.

    =Lessing= (Vollst. Ausg.) 25 Bde. Ganzl. 135 RM.; Halbled.
        180 RM. Anmerk. u. Register allein 5 Bde. 27 RM.; Halbled.
        36 RM.

    =Rich. Wagner= Musikdramen 2 Bde. Geschenkausg. Ganzl. je
        3.25 RM.

Den Freunden von »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek« steht das 160 S.
starke, =reich illustr. Bändchen »Lebensbilder unserer Klassiker«=
gegen Einsendung von 25 Pf. postfrei zur Verfügung. Die »Lebensbilder«
enthalten eine Schilderung des Lebens und Wirkens unserer Klassiker
sowie die Inhaltsangaben der in »Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek«
erschienenen Werke, ferner: 58 Porträte und einen Anhang: »Grundlinien
der Kultur- und Literaturgeschichte von 1740 bis zur Gegenwart.«




    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
    Unterschiedliche Schreibweisen im Original wurden beibehalten.

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MUTTERHOF ***

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without further opportunities to fix the problem.

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation's website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without
widespread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
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editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
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