Selbstbetrachtungen

By Emperor of Rome Marcus Aurelius

The Project Gutenberg EBook of Selbstbetrachtungen, by Marc Aurel

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Title: Selbstbetrachtungen

Author: Marc Aurel

Release Date: February 12, 2005 [EBook #15028]
[Last updated: January 13, 2018]

Language: German


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MARC AUREL

SELBSTBETRACHTUNGEN

Deutsche Bibliothek in Berlin

Für die Deutsche Bibliothek nach der Übersetzung von F.C. Schneider
herausgegeben und eingeleitet von Alexander von Gleichen-Rußwurm




Einleitung

Der Philosoph auf dem Kaiserthron gehört zu den bedeutendsten Männern
des ausklingenden Altertums. Marcus Annius Verus wurde den 25. April des
Jahres 121 n. Chr. Geb. zu Rom geboren wo seine Familie, seit der
Urgroßvater aus Spanien eingewandert war, sich zu hohem Rang
emporgearbeitet hatte. Sorgfältige Erziehung, gepaart mit großer
Lernbegierde, erschlossen ihm die Wissenschaft seines Jahrhunderts, die
in der Philosophie den höchsten, in unserem Sinn sogar den einzigen
Ausdruck fand. Schon im zwölften Jahr nahm der kräftig aufblühende
Jüngling den weißen Mantel und bekundete dadurch, daß er auch äußerlich
zur Kaste der Philosophen gehören wolle.

Streng und ernst gab sich die Weltweisheit des zweiten Jahrhunderts.
Entbehrungen, oft bis zum Übermaß gesteigert, wie sie später zur
typischen Eigenschaft christlicher Asketen wurden, verlangten die
Anhänger der Stoa und sahen in der Abkehr von allen Interessen,
Zerstreuungen wie Freuden der Welt die einzig richtige Stellungnahme
eines Weisen den vergänglichen Dingen gegenüber.

Zurückgezogen von seinen Altersgenossen, vielleicht ein wenig ostentativ
in den weißen Mantel gehüllt, mit den Stoikern Rusticus, Apollonius,
Claudius Maximus in anregend erzieherischem Gespräch, wandelte der
Jüngling durch die stillen abgelegenen Gärten einer Villa, bis zu deren
Mauern der Lärm der römischen Weltstadt brandete. Auf Bitten seiner
Mutter, die mit Bangen bemerkte, daß ihr Sohn unter der Last
selbstauferlegter Entbehrungen blasser und schmächtiger wurde, stellte
er seinen Lebenswandel auf gesündere Basis und gesellte den geistigen
Exerzitien nützliche, körperliche Übungen. Die Herrschaft des gesunden
Menschenverstandes, die in den Taten und Schriften des späteren Kaisers
so glücklich zum Ausdruck kommt, beginnt schon in den Jünglingsjahren,
sobald der einseitige Einfluß allzu strenger stoischer Lebensanschauung
gemäßigt erscheint. Den Anhängern der Stoa treten als Lehrer zur Seite
Claudius Severus, der Peripatetiker und der Platoniker Sextus aus
Chaeronea, ein Enkel Plutarchs. Epiktets nachgelassene, von Arrhianos
gesammelte Schriften prägen sich der eindrucksfähigen jungen Seele ein
und wirken bestimmend auf die ethische Entwicklung des still für sich
Heranwachsenden.

Kaiser Hadrian fand Gefallen an dem ernsten, außerordentlich wahrhaften
Philosophenschüler und veranlaßte im Jahr 136 dessen Verlobung mit der
Tochter seines Mitregenten Verus. Als Folge dieser Verlobung ist dann
die Adoptierung seitens Antoninus (eines Sohnes des Verus) zu
betrachten, der selbst von Hadrian an Kindes Statt angenommen und zum
Thronfolger ernannt war. Unter dem Namen Marcus Aelius Aurelius Verus
trat der junge Denker aus der Verborgenheit auf den Schauplatz der
großen Welt.

Sein Biograph berichtet, daß er nur ungern sein beschauliches Leben
verlassen und einen Palast in der Stadt auf Hadrians Befehl bezogen
habe. Doch im Treiben des Hofes, im bewegten politischen Frage- und
Antwortspiel, auf dem Forum vor Gericht, bei den Mühen kriegerischer
Unternehmungen wuchs und reifte erst die philosophische Saat des herben
jugendlichen Frühlings zu reicher Ernte. Als Kaiser Hadrian am 10. Juli
138 zu Bajä starb, bestieg Antonin den Thron und berief sofort Marc
Aurel an seine Seite, ihn in alle Geheimnisse der Regierungskunst
einzuweihen. Die frühere Verlobung wurde aufgehoben und die Vermählung
mit Faustina, der Kaisertochter, gefeiert. Nun war im römischen Reich
jene Zeit angebrochen, die Platos Ideal vom Staate nach einer Richtung
hin zu erfüllen schien. Zwei Philosophen herrschten gemeinsam, von
edelster, einzig dastehender Freundschaft getragen und förderten während
dreiundzwanzig friedlicher Jahre Wohlstand und Kultur in bemerkenswerter
Weise. Gut bedachte soziale Maßregeln glichen manche Härten aus, es
wurde für vornehm gehalten, gebildet, ja gelehrt zu sein und edle
Duldsamkeit herrschte in den Fragen des Glaubens, soweit sie nur den
Glauben, nicht aber die politische Betätigung betrafen.

Der gekrönte Apostel der Menschenliebe--wie Stuart Mill den Kaiser Marc
Aurel genannt hat--hoffte nach dem Tod Antonins (im März 161) die
friedliche, sonnige Zeit der Philosophenherrschaft weiter zu führen und
sein Ideal eines Herrschers in sozialer Fürsorge zu verwirklichen. Aber
das Schicksal, das ihm einen herrlichen Lebenssommer gewährt, gab ihm
einen desto stürmischeren Herbst. Hungersnot und Pest suchten Rom und
die römischen Provinzen heim, schwere Kriege mit den Parthern und
Markomanen brachen aus, Aufstände wie derjenige in Ägypten vom Jahr 170
bildeten drohende Gefahren für das Reich. Dies alles lenkte von
wohltätiger Friedensarbeit ab und zwang die Arbeit des
Philosophenkaisers auf andere, ihm innerlich fremde Bahnen. Dazu kamen
harte Mißstimmungen in der eigenen Familie. Faustinas üppiges, man sagt
sogar ausschweifendes Leben stand in grellem Gegensatz zu Marc Aurels
anspruchsloser Einfachheit und die ungerechten, oft auf willkürlicher
Anmaßung beruhenden Handlungen seines Sohnes Kommodus führten zu
schlimmen Befürchtungen in bezug auf die Zukunft des Reiches.

Stunden der Sorge und der stillen Einkehr im Feldlager oder im
kaiserlichen Palast waren es, in denen der alternde Herrscher seine
Gedanken niederschrieb zum eigenen Trost. Milde Gesinnung, strenge
Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue sind das Zeichen seiner Sinnesweise
und haben die "Selbstbetrachtungen" zu einem Denkmal edler
Menschlichkeit gemacht, das nie veraltet, weil es ein Bekenntnis ohne
Pose, ohne zeitlich beschränkten Zweck und ohne Darstellung
vergänglicher äußerer Tatsachen ist.

Die Handschriften, der Mode entsprechend in griechischer Sprache
abgefaßt, trugen den Titel "[Greek: chatheauton]," was später mit
"Selbstbetrachtungen" wiedergegeben wurde. Nach hartem Tagewerk des
Abends beim Schein der unruhig flackernden Öllampen verfaßt, bald im
Lager an der Donau bei Carnunt, bald nach lebhaften, ermüdenden
Senatssitzungen in Rom, sind Marc Aurels Aphorismen aus der Quelle des
wirklichen Lebens geflossen. Starke Taten des Geistes verkünden sie und
sind Worte eines hohen Herzens.

Ihr Ursprung läßt sich nicht verkennen. Als Tagebuch einer gesunden
Seele, die stark und fest die Krankheiten des Körpers und die Schläge
des Schicksals von sich abweist, geben sie Kraft und Frieden. Kurz und
scharf, klar gefaßt und manchmal aufleuchtend wie ein Edelstein zeigen
sie Ruhe des Herzens und Begeisterungsfähigkeit, Vernunft und
aufrichtige Liebe für alles Tüchtige. "Sie offenbaren"--wie Hippolyte
Taine sich ausdrückt--"die Seele eines großen Dichters, der sich
bezwingt, die Augen vom Herrlichen gebannt und im Flüsterton voll
Bewunderung sich selber sagt: ´Mensch, als Bürger dieser großen Stadt
hast du gelebt; fünf oder drei Jahre, was ficht´s dich an!´"

Die Auffassung des Kaisers über den Wert des Lebens steht der des
freigelassenen Sklaven Epiktet sehr nahe. Beiden liegen am innigsten
jene Lehren der Stoa am Herzen, die sich mit sittlichen und religiösen
Fragen beschäftigen. Nicht darauf kommt es dem Kaiser an, daß man
möglichst viel Wissen anhäufe, sondern daß man mit dem Gott in der
eigenen Brust sich verständige und ihm in Lauterkeit diene. Die
Philosophie soll in stetem Wechsel der Ereignisse, im Wandel von Glück
und Unglück, vergänglichen Sorgen und vergänglichen Freuden einen festen
Halt bieten und ein Panzer sein gegen die Eitelkeiten der Welt. Ihre
Aufgabe ist also die Bildung des Charakters und die Beruhigung des
Gemüts. Sie erfüllt diese beiden Bedingungen, wenn ihre Anhänger die
drei wichtigsten Punkte des stoischen Systems nie außer Augen lassen:
die Lehre vom steten Wechsel, dem Dahinfließen aller Dinge, dann das
Bewußtsein der Hinfälligkeit des Daseins und schließlich die Erkenntnis,
daß Werden und Vergehen einen Kreislauf bilden, in dem ein Einzelnes
nicht Bestand haben kann.

An solche Grundsätze knüpft Marc Aurel die Betrachtung, wie wenig eine
Persönlichkeit, ganz einerlei ob sie bedeutend oder unbedeutend sei, im
großen Strom des Daseins gelte. Deshalb ist es verkehrt, Vergängliches
zu sehr zu lieben, sein Herz an Sterblichkeit zu hängen und Ruhm als
heiliges Gut zu begehren.

Diesem Verneinen und Ablehnen steht als positiver Kern der Lehre die
Pflichttreue gegenüber, trotz der Eitelkeit und Vergänglichkeit allen
Strebens der Sterblichen. Seiner Lebensstellung und seinem kräftigeren
Charakter entsprechend hält Marc Aurel nachdrücklicher an den Pflichten
des Einzelnen der menschlichen Gesellschaft gegenüber fest, als es die
Stoiker im allgemeinen und der phrygische Sklave Epiktet im besonderen
getan. Aus diesem Grund lehnte er das Christentum vollständig ab, wenn
er auch wie die Christen Duldung und allgemeine Menschenliebe verlangte.
Er spricht fast immer von Göttern, manchmal von "dem Gott" und selten
von "Zeus", der ihm als Gesamtausdruck der Gottheit vorschwebt.
Äußerlich hielt er streng an dem bestehenden öffentlichen Kultus fest,
in dem er als Oberhaupt des römischen Staates eine politische
Notwendigkeit sah, innerlich war er gottgläubig im Sinne der
Philosophen, nahm "die Volksgötter" für Symbole und sagte sich, daß es
nicht verlohne noch menschenwürdig sei, in einer Welt ohne Gottheit zu
leben. Aus diesem seinem Glauben und aus einer festbegründeten
politischen Überzeugung sah er im Gebaren der Christen Auflehnung gegen
die Staatsgewalt, also eine Schädigung des Gemeinwohls und ging mit
heftigen Verfolgungen gegen die Aufwiegler vor. Grundlosen Trotz nannte
der milde Kaiser das Benehmen der Märtyrer.

Im sittlichen Leben des Menschen ruht der Schwerpunkt seiner
Weltanschauung. Ihm, dem vielbeschäftigten, vom Tage vollauf in Anspruch
genommenen Herrscher, liegt es fern zu forschen, dialektisch zu arbeiten
oder überhaupt ein System aufzustellen. Seine Weisheit ist Lebenskunst.
Er baut sie auf dem Wissen und den Erkenntnissen seiner Zeit, wie ein
Emerson, ein Lubbok, ein Maeterlinck ihre Weltanschauung auf die
Wissenschaft ihres Jahrhunderts stellten, ohne in der Theorie einen
Fortschritt zu bedeuten. Vernünftige Arbeit ist ihm das Ziel, das ein
vernunftbegabtes Wesen verfolgen muß und das allein Glück wie zeitliche
Güter zu bieten vermag. Aber nur wer sich zu erheben vermag über jedes
persönliche Interesse an Dingen und Menschen, wer mit jedem Wunsch und
jeder Begierde fertig ist, mit der Gegenwart zufrieden und mit dem Tode
vertraut erscheint, zeigt sich mit der Natur im Einklang und erfüllt die
stille Pflicht, sich und sein Leben als belanglosen Teil des Ganzen zu
betrachten.

Was in den Selbstbetrachtungen mit feierlicher Größe niedergelegt war,
hat lange unbeachtet und vergessen in stillen Büchersammlungen
überwintert, wie das Samenkorn im tiefgepflügten Feld. Unter den Wirren
der Völkerwanderung und während der Jahrhunderte der Scholastik dachte
niemand des Kaisers, der als Gefolgsmann der Stoa mit dieser Lehre
christlicher Verachtung anheimgefallen war. Erst als die geistige
Bewegung der Renaissance mit dem Humanismus einsetzte, begann außer
Plato auch die Stoa beachtet zu werden, wenn sich auch die Wertschätzung
zunächst auf Seneca beschränkte. Doch es war noch ein weiter Weg
zurückzulegen, bis Spinoza in seinem Ideal des Weisen eine Gestalt
schuf, die sich wohl mit Marc Aurel vergleichen läßt. In der Ethik sagt
Spinoza "Der Weise ... wird in der Seele kaum beunruhigt sondern seiner
selbst, Gottes und der Außenwelt mit einer gewissen Notwendigkeit
bewußt. Er hört niemals auf zu sein und ist immer in tiefster Seele
wahrhaft befriedigt." Auch Leibniz benutzte die Gedankenreihen der
Stoiker in der Theodizee, deren Aussprüche manchmal stark an die
Selbstbetrachtungen anklingen. Daß Kant und nach ihm Fichte den
Pflichtgedanken ähnlich wie ihn der kaiserliche Philosoph gefühlt, zu
synthetischer Entwicklung brachten, ist bekannt, Verwandtes klingt in
Schleiermacher, in Schopenhauer und in den modernen Denkern an, die
abseits von dem Wirken der Fachphilosophen sich bemühen, der Gegenwart
eine praktische Ethik zu geben.

In deutscher Sprache ist Marc Aurels Büchlein öfters an die
Öffentlichkeit gekommen. Die vorliegende Neuherausgabe schließt sich an
Schneiders vielgerühmte Übersetzung, die zum erstenmal im Jahr 1864
erschien und mehrfach aufgelegt wurde, die fehlenden Stellen (über 100
Nummern hat Schneider ausgelassen) sind zum Teil nach der Ausgabe von
Cleß (aus dem Jahr 1866) ergänzt, zum Teil nach dem griechischen Text
unter Vergleichung der Cleßschen Übersetzung neu hergestellt.

Der Gegenwart bietet das schlichte Selbstbekenntnis eines großen Mannes
aus dem Altertum viel ernste Anregung und stärkt den Wunsch, in
wohlbegründeter Weltanschauung Halt und Richtung zu finden.

Alexander v. Gleichen-Rußwurm




Erstes Buch


1. Von meinem Großvater [Verus] weiß ich, was edle Sitten sind und was
es heißt: frei sein von Zorn.

2. Der Ruf und das Andenken, in welchem mein Vater steht, predigen mir
Bescheidenheit und männliches Wesen.

3. Der Mutter Werk ist es, wenn ich gottesfürchtig und mitteilsam bin;
wenn ich nicht nur schlechte Taten, sondern auch schlechte Gedanken
fliehe; auch daß ich einfach lebe und nicht prunke wie reiche Leute.

4. Mein Urgroßvater litt nicht, daß ich die öffentliche Schule besuchte,
sorgte aber dafür, daß ich zu Hause von tüchtigen Lehrern unterrichtet
wurde, und überzeugte mich, daß man zu solchem Zweck nicht sparen dürfe.

5. Mein Erzieher gab nicht zu, daß ich mich an den Wettfahrten
beteiligte, weder in Grün noch in Blau, auch nicht, daß ich Ring- und
Fechterkünste trieb. Er lehrte mich Mühen ertragen, wenig bedürfen,
selbst Hand anlegen, mich wenig kümmern um anderer Leute Angelegenheiten
und einen Widerwillen haben gegen jede Ohrenbläserei.

6. Diognet bewahrte mich vor allen unnützen Beschäftigungen; vor dem
Glauben an das, was Wundertäter und Gaukler von Zauberformeln, vom
Geisterbannen usw. lehrten; davor, daß ich Wachteln hielt, und vor
andern solchen Liebhabereien. Er lehrte mich ein freies Wort vertragen;
gewöhnte mich an philosophische Studien, schickte mich zuerst zu
Bacchius, dann zu Tandasis und Marcian, ließ mich schon als Knabe
Dialoge verfassen und gab mir Geschmack an dem einfachen, mit einem Fell
bedeckten Feldbett, wie es bei den Lehrern der griechischen Schule im
Gebrauch ist.

7. Dem Rusticus verdanke ich, daß es mir einfiel, in sittlicher Hinsicht
für mich zu sorgen und an meiner Veredlung zu arbeiten; daß ich frei
blieb von dem Ehrgeiz der Sophisten; daß ich nicht Abhandlungen schrieb
über abstrakte Dinge, noch Reden hielt zum Zweck der Erbauung, noch
prunkend mich als einen streng und wohlgesinnten jungen Mann darstellte,
und daß ich von rhetorischen, poetischen und stilistischen Studien
abstand; daß ich zu Hause nicht im Staatskleid einherging oder sonst
etwas derartiges tat, und daß die Briefe, die ich schrieb, einfach
waren, so einfach und schmucklos, wie er selbst einen an meine Mutter
von Sinuessa aus schrieb. Ihm habe ich´s auch zu danken, wenn ich mit
denen, die mich gekränkt oder sonst sich gegen mich vergangen haben,
leicht zu versöhnen bin, sobald sie nur selbst schnell bereit sind,
entgegenzukommen. Auch lehrte er mich, was ich las, genau zu lesen und
mich nicht mit einer oberflächlichen Kenntnis zu begnügen, auch nicht
gleich beizustimmen dem, was oberflächliche Beurteiler sagen. Endlich
war er´s auch, der mich mit den Schriften Epiktets bekannt machte, die
er mir aus freien Stücken mitteilte.

8. Apollonius zeigte mir, daß Geistesfreiheit eine Festigkeit sei, die
dem Spiel des Zufalls nichts einräumt; daß man auf nichts ohne Ausnahme
so achten müsse, wie auf die Gebote der Vernunft. Auch was Gleichmut sei
bei heftigen Schmerzen, bei Verlust eines Kindes, in langen Krankheiten,
habe ich von ihm lernen können.--Er zeigte mir handgreiflich an einem
lebendigen Beispiel, daß man der ungestümste und gelassenste Mensch
zugleich sein kann, und daß man beim Studium philosophischer Werke die
gute Laune nicht zu verlieren brauche. Er ließ mich einen Menschen
sehen, der es offenbar für die geringste seiner guten Eigenschaften
hielt, daß er Übung und Gewandtheit besaß, die Grundgesetze der
Wissenschaft zu lehren; und bewies mir, wie man von Freunden sogenannte
Gunstbezeugungen aufnehmen müsse, ohne dadurch in Abhängigkeit von ihnen
zu geraten, aber auch ohne gefühllos darüber hinzugehen.

9. An Sextus konnt´ ich lernen, was Herzensgüte sei. Sein Haus bot das
Muster eines väterlichen Regimentes und er gab mir den Begriff eines
Lebens, das der Natur entspricht. Er besaß eine ungekünstelte Würde und
war stets bemüht, die Wünsche seiner Freunde zu erraten. Duldsam gegen
Unwissende hatte er doch keinen Blick für die, die an bloßen Vorurteilen
kleben. Sonst wußte er sich mit allen gut zu stellen, so daß er
denselben Menschen, die ihm wegen seines gütigen und milden Wesens nicht
schmeicheln konnten, zu gleicher Zeit die größte Ehrfurcht einflößte.
Seine Anleitung, die zum Leben notwendigen Grundsätze aufzufinden und
näher zu gestalten, war eine durchaus verständliche. Niemals zeigte er
eine Spur von Zorn oder einer andern Leidenschaft, sondern er war der
leidenschaftsloseste und der hingebendste Mensch zugleich. Er suchte Lob,
aber ein geräuschloses; er war hochgelehrt, aber ohne Prahlerei.

10. Von Alexander, dem Grammatiker lernte ich, wie man sich jeglicher
Scheltworte enthalten und es ohne Vorwurf hinnehmen kann, was einem auf
fehlerhafte, rohe oder plumpe Art vorgebracht wird; ebenso aber auch,
wie man sich geschickt nur über das, was zu sagen not tut, auszulassen
habe, sei´s in Form einer Antwort oder der Bestätigung oder der
gemeinschaftlichen Überlegung über die Sache selbst, nicht über den
Ausdruck, oder durch eine treffende anderweite Bemerkung.

11. Durch Phronto gewann ich die Überzeugung, daß der Despotismus
Mißgunst, Unredlichkeit und Heuchelei in hohem Maße zu erzeugen pflege,
und daß der Edelgeborene im allgemeinen ziemlich unedel sei.

12. Alexander, der Platoniker brachte mir bei, daß ich mich nur selten
und nie ohne Not zu jemand mündlich oder schriftlich äußern dürfe: ich
hätte keine Zeit; und daß ich nicht so, unter dem Vorwande dringender
Geschäfte, mich beständig weigern solle, die Pflichten zu erfüllen, die
uns die Beziehungen zu denen, mit denen wir leben, auferlegen.

13. Catulus riet mir, daß ich´s nicht unberücksichtigt lassen sollte,
wenn sich ein Freund bei mir über etwas beklage, selbst wenn er keinen
Grund dazu hätte, sondern daß ich versuchen müsse, die Sache ins reine
zu bringen. Wie man von seinen Lehrern stark eingenommen sein kann, sah
ich an ihm; ebenso aber auch, wie lieb man seine Kinder haben müsse.

14. An meinem Bruder Severus hatte ich häuslichen Sinn, Wahrheits- und
Gerechtigkeitsliebe zu bewundern. Er machte mich mit Thraseas, Helvidius,
Cato, Dio und Brutus bekannt und führte mich zu dem Begriff eines
Staates, in welchem alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz, und einer
Regierung, die nichts so hoch hält als die bürgerliche Freiheit.
Außerdem blieb er, um anderes zu übergehen, in der Achtung vor der
Philosophie sich immer gleich; war wohltätig, ja in hohem Grade
freigebig; hoffte immer das Beste und zweifelte nie an der Liebe seiner
Freunde. Hatte er etwas gegen jemand, so hielt er damit nicht zurück,
und seine Freunde hatten niemals nötig, ihn erst auszuforschen, was er
wollte oder nicht wollte, weil es offen am Tage lag.

15. Von Maximus konnte ich lernen, mich selbst beherrschen, nicht hin-
und herschwanken, guten Mutes sein in mißlichen Verhältnissen oder in
Krankheiten auch wie man in seinem Benehmen Weisheit mit Würde verbinden
muß, und an ein Werk, das rasch auszuführen ist, doch nicht unbesonnen
gehen darf. Von ihm waren alle überzeugt, daß er gerade so dachte, wie
er sprach, und was er tat, in guter Absicht tat. Etwas zu bewundern oder
sich verblüffen zu lassen, zu eilen oder zu zögern, ratlos zu sein und
niedergeschlagen oder ausgelassen in Freude oder Zorn oder
argwöhnisch--das alles war seine Sache nicht. Aber wohltätig zu sein und
versöhnlich, hielt er für seine Pflicht. Er haßte jede Unwahrheit und
machte so mehr den Eindruck eines geraden als eines feinen Mannes.
Niemals hat sich einer von ihm verachtet geglaubt; aber ebensowenig
wagte es jemand, sich für besser zu halten als er war. Auch wußte er auf
anmutige Weise zu scherzen.

16. Mein Vater hatte in seinem Wesen etwas Sanftes, aber zugleich auch
eine unerschütterliche Festigkeit in dem, was er gründlich erwogen
hatte. Er war ohne Ehrgeiz hinsichtlich dessen, was man gewöhnlich Ehre
nennt. Er arbeitete gern und unermüdlich. Wer mit Dingen kam, die das
gemeine Wohl zu fördern versprachen, den hörte er an und versäumte es
nie, einem jeden die Anerkennung zu zollen, die ihm gebührte. Wo
vorwärts zu gehen und wo einzuhalten sei, wußte er. Er war herablassend
gegen jedermann; erließ den Freunden die Pflicht, immer mit ihm zu
speisen oder, wenn er reiste, mit ihm zu gehen; und stets blieb er sich
gleich auch gegen die, die er notgedrungen zu Hause ließ. Seine
Erörterungen in den Ratsversammlungen waren stets sehr genau, und er
hielt aus und begnügte sich nicht mit Ideen, die auf der flachen Hand
liegen, bloß um die Versammlung für geschlossen zu erklären. Er war
sorgsam bemüht, sich seine Freunde zu erhalten, wurde ihrer niemals
überdrüssig, verlangte aber auch nicht heftig nach ihnen. Er war sich
selbst genug in allen Stücken und immer heiter. Er hatte einen scharfen
Blick für das, was kommen würde, und traf für die kleinsten Dinge
Vorbereitungen ohne Aufhebens zu machen, so wie er sich denn überhaupt
jedes Beifallrufen und alle Schmeicheleien verbat. Was seiner Regierung
notwendig war, überwachte er stets, ging mit den öffentlichen Geldern
haushälterisch um und ließ es sich ruhig gefallen, wenn man ihm darüber
Vorwürfe machte.--Den Göttern gegenüber war er frei von Aberglauben, und
was sein Verhältnis zu den Menschen betrifft, so fiel es ihm nicht ein,
um die Volksgunst zu buhlen, dem großen Haufen sich gefällig zu erzeigen
und sich bei ihm einzuschmeicheln, sondern er war in allen Stücken
nüchtern, besonnen, taktvoll und ohne Sucht nach Neuerungen. Von den
Dingen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen--und deren bot ihm
das Glück eine Menge dar--machte er ohne zu prunken, aber auch ohne sich
zu entschuldigen Gebrauch, so daß er, was da war, einfach nahm, was
nicht da war, auch nicht entbehrte. Niemand konnte sagen, daß er ein
Krittler, oder daß er ein gewöhnlicher Mensch oder ein Pedant sei,
sondern man mußte ihn einen reifen, vollendeten, über jede Schmeichelei
erhabenen Mann nennen, der wohl imstande sei, eigenen und fremden
Angelegenheiten vorzustehen. Außerdem: die echten Philosophen schätzte
er sehr, ließ aber auch die andern unangetastet, obschon er ihnen keinen
Einfluß auf sich einräumte. In seinem Umgange war er ferner höchst
liebenswürdig und witzig, ohne darin zu übertreiben. In der Sorge für
seinen Leib wußte er das rechte Maß zu halten, nicht wie ein
Lebenssüchtiger oder wie einer, der sich schniegelt oder sich
vernachlässigt; sondern er brachte es durch die eigene Aufmerksamkeit
nur dahin, daß er den Arzt fast gar nicht brauchte und weder innere noch
äußere Mittel nötig hatte.--Vor allem aber war ihm eigen, denen, die
wirklich etwas leisteten, sei´s in der Beredsamkeit oder in der
Gesetzeskunde oder in der Sittenlehre oder in irgendeinem anderen Fach,
ohne Neid den Vorrang einzuräumen und sie wo er konnte zu unterstützen,
damit ein jeder in seinem Fache auch die nötige Anerkennung fände. Wie
seine Vorfahren geherrscht, so herrschte er auch, ohne jedoch die
Meinung hervorrufen zu wollen, als wache er über dem Althergebrachten.
Er war nicht leicht zu bewegen oder von etwas abzubringen, sondern
pflegte auch gern zu bleiben, wo er gerade war und wobei. Nach den
heftigsten Kopfschmerzen sah man ihn frisch und kräftig zu den gewohnten
Geschäften eilen. Geheimnisse pflegte er nur äußerst wenige und nur in
seltenen Fällen zu haben und nur um des allgemeinen Wohles willen.
Verständig und mäßig im Anordnen von Schauspielen, von Bauten, von
Spenden an das Volk u. dgl. mehr, zeigte er sich als ein Mann, der nur
auf seine Pflicht sieht, sich aber um den Ruhm nicht kümmert, den seine
Handlungen ihm verschaffen können.--Er badete nur zur gewöhnlichen
Stunde, liebte das Bauen nicht, legte auf das Essen keinen Wert, auch
nicht auf Kleider und deren Stoffe und Farben, noch auf schöne Sklaven.
Seine Kleider ließ er sich meist aus Lorium, dem unteren Landgute, oder
aus Lanubium kommen und bediente sich dazu des Generalpächters in
Tusculum, der ihn um diesen Dienst gebeten hatte.--In seiner ganzen Art
zu sein war nichts Unschickliches oder gar Ungeziemendes oder auch nur
Ungestümes oder was man sagt: "bis zur Hitze", sondern alles war bei ihm
wohl überdacht, ruhig, gelassen, wohl geordnet, fest und mit sich selbst
im Einklang. Man könnte auf ihn anwenden, was man vom Sokrates gesagt
hat, daß er sowohl sich solcher Dinge zu enthalten imstande war, deren
sich viele aus Schwachheit nicht enthalten können, als auch daß er
genießen durfte, was viele darum nicht dürfen, weil sie sich gehen
lassen. Das eine gründlich vertragen, und in dem andern nüchtern sein,
das aber ist die Sache eines Mannes von starkem, unbesiegbaren Geiste,
wie er ihn z.B. auch in der Krankheit des Maximus an den Tag gelegt
hat.--

17. Den Göttern habe ich´s zu danken, daß ich treffliche Vorfahren,
treffliche Eltern, eine treffliche Schwester, treffliche Lehrer,
treffliche Diener und fast lauter treffliche Verwandte und Freunde habe,
und daß ich gegen keinen von ihnen fehlte, obgleich ich bei meiner Natur
leicht hätte dahin kommen können. Es ist eine Wohltat der Götter, daß
die Umstände nicht so zusammentrafen, daß ich mir Schande auflud. Sie
fügten es so, daß ich nicht länger von der Geliebten meines Großvaters
erzogen wurde; daß ich meine Jugendfrische mir erhielt und daß ich
meinem fürstlichen Vater untertan war, der mir allen Dünkel austreiben
und mich überzeugen wollte, man könne bei Hof leben ohne Leibwache, ohne
kostbare Kleider, ohne Fackeln, ohne gewisse Bildsäulen und ähnlichen
Pomp, und daß es sehr wohl anging, sich so viel als möglich bürgerlich
einzurichten, wenn man dabei nur nicht zu demütig und zu sorglos würde
in Erfüllung der Pflichten, die der Regent gegen das Ganze hat. Götter
haben mir einen Bruder gegeben, dessen sittlicher Wandel mich antrieb,
auf mich selber acht zu haben, und dessen Achtung und Liebe mich
glücklich machten.--Sie haben mir Kinder gegeben, die nicht ohne
geistige Anlagen sind und von gesundem Körper.--Den Göttern verdanke
ich´s, daß ich nicht weiter kam in der Redekunst und in der Dichtkunst
und in den übrigen Studien, welche mich völlig in Beschlag genommen
hätten, wären mir gute Fortschritte beschieden gewesen. Ebenso daß ich
meine Erzieher frühzeitig schon so in Ehren hielt, wie sie´s zu
verlangen schienen, und ihnen nicht bloß Hoffnung machte, ich würde das
später tun, indem sie zu der Zeit ja noch so jung seien. Ferner, daß ich
Apollonius, Rusticus und Maximus kennen lernte; daß ich das Bild eines
naturgemäßen Lebens so klar und so oft vor der Seele hatte, daß es nicht
an den Göttern und an den Gaben, Hilfen und Winken, die ich von dorther
empfing, liegen kann, wenn ich an einem solchen Leben gehindert worden
bin; sondern wenn ich´s bisher nicht geführt habe, muß es meine Schuld
sein, indem ich die Erinnerungen der Götter, ich möchte sagen, ihre
ausdrücklichen Belehrungen, nicht beherzigte. Den Göttern verdanke
ich´s, daß mein Körper ein solches Leben so lange ausgehalten hat;--daß
ich weder die Benedicta noch den Theodot berührt habe, und daß ich
später überhaupt von dieser Leidenschaft genas; daß ich in meinem
heftigen Unwillen den ich so oft gegen Rusticus empfand, nichts weiter
tat, was ich hätte bereuen müssen; und daß meine Mutter, der ein früher
Tod beschieden war, doch noch ihre letzten Jahre bei mir leben konnte.
Auch fügten sie´s, daß ich, sooft ich einen Armen oder sonst Bedürftigen
unterstützen wollte, nie hören durfte, es fehle mir an den hierzu
erforderlichen Mitteln, und daß ich selbst nie in die Notwendigkeit
versetzt wurde, bei einem andern zu borgen; und daß ich ein solches Weib
besitze: so folgsam, zärtlich und in ihren Sitten so einfach, und daß
ich meinen Kindern tüchtige Erzieher geben konnte. Die Götter gaben mir
durch Träume Hilfsmittel an die Hand gegen allerlei Krankheiten so gegen
Blutauswurf und Schwindel. Auch verhüteten sie, als ich das Studium der
Philosophie anfing, daß ich einem Sophisten in die Hände fiel oder mit
einem solchen Schriftsteller meine Zeit verdarb, oder mit der Lösung
ihrer Trugschlüsse mich einließ, oder mit der Himmelskunde mich
beschäftigte. Denn zu allen diesen Dingen bedarf es der helfenden Götter
und des Glückes.

Geschrieben bei den Quaden am Granna.


18

Man muß sich beizeiten sagen: ich werde einem vorwitzigen, einem
undankbaren, einem schmähsüchtigen, einem verschlagenen oder neidischen
oder unverträglichen Menschen begegnen. Denn solche Eigenschaften liegen
jedem nahe, der die wahren Güter und die wahren Übel nicht kennt. Habe
ich aber eingesehen, einmal, daß nur die Tugend ein Gut und nur das
Laster ein Übel, und dann, daß der, der Böses tut, mir verwandt ist,
nicht sowohl nach Blut und Abstammung, als in der Gesinnung und in dem,
was der Mensch von den Göttern hat, so kann ich weder von jemand unter
ihnen Schaden leiden--denn ich lasse mich nicht verführen--noch kann ich
dem, der mir verwandt ist, zürnen oder mich feindlich von ihm abwenden,
da wir ja dazu geboren sind, uns gegenseitig zu unterstützen, wie die
Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne
einander dienen. Also ist es gegen die Natur, einander feindlich zu
leben. Und das tut doch, wer auf jemand zürnt oder ihm entgegenwirkt.


19

Was ich bin, ist ein Dreifaches: Körper und Seele und was das Ganze
beherrscht.--Lege beiseite, was dich zerstreut, die Bücher und alles,
was hier zu nichts führt; des Fleischlichen achte gering wie einer, der
bald sterben muß! Es ist Blut und Knochen und ein Geflecht aus Nerven,
Adern und Gefäßen gewebt. Dann betrachte deine Seele, und was sie ist:
ein Hauch; nicht immer dasselbe, sondern fortwährend ausgegeben und
wieder eingesogen. Drittens also das, was die Herrschaft führt! Da sei
doch kein Tor, du bist nicht mehr jung: so laß auch nicht länger
geschehen daß es diene; daß es hingenommen werde von einem Zuge, der
dich dem Menschlichen entfremdet; daß es dem Verhängnis oder dem
gegenwärtigen Augenblicke grolle oder ausweiche dem, was kommen soll!


20

Das Göttliche ist voll von Spuren der Vorsehung, das Zufällige nach Art,
Zusammenhang und Verflechtung ist nicht zu trennen von dem durch die
Vorsehung Geordneten. Alles fließt von hier aus. Daneben das Notwendige
und was dem Weltall, dessen Teil du bist, zuträglich ist. Jedem Teile
der Natur aber ist das gut, was seinen Halt an der Natur des Ganzen hat
und wovon diese wiederum getragen wird. Die Welt aber wird getragen wie
von den Verwandlungen der Grundstoffe so auch von denen der
zusammengesetzten Dinge.--Das muß dir genügen und feststehen für immer.
Nach der Weisheit, wie sie in Büchern zu finden ist, strebe nicht,
sondern halte sie dir fern, damit du ohne Seufzer, mit wahrer Seelenruhe
und den Göttern von Herzen dankbar sterben kannst.




Zweites Buch


1

Erinnere dich, seit wann du diese Betrachtungen nun schon aufschiebst,
und wie oft dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne daß
du sie nutztest. Endlich solltest du doch einmal einsehen, was das für
eine Welt ist, der du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen
Ausfluß du bist; und daß dir die Zeit zugemessen ist, die, wenn du sie
nicht brauchst dich abzuklären, vergehen wird, wie du selbst, und nicht
wiederkommen.


2

Immer sei darauf bedacht, wie es einem Manne geziemt, bei allem, was es
zu tun gibt, eine strenge und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe,
Freimut und Gerechtigkeit zu üben, und dir dabei alle Nebengedanken
fernzuhalten. Und du wirst sie dir fernhalten, sobald du jede deiner
Handlungen als die letzte im Leben ansiehst: fern von jeder
Unbesonnenheit und der Erregtheit, die dich taub macht gegen die Stimme
der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von
Unwillen über das, was das Schicksal dir beschieden hat.--Du siehst, wie
wenig es ist, was man sich aneignen muß, um ein glückliches, ja
göttliches Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen nicht mehr
von dem, der dies beobachtet.


3

Fahre nur immer fort, dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu
fördern wirst du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen
jeglichen. Für dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der du ohne
Selbstachtung dein Glück aus dir heraus verlegst in die Seelen anderer.


4

Trotz deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und dein unstetes
Wesen aufzugeben, zerstreuen dich die Außendinge noch immer? Mag sein,
wenn du jenes Streben nur festhälst. Denn das bleibt die größte Torheit,
sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Dichten und
Trachten lenkt.


5

Wenn man nicht herausbringen kann, was in des andern Seele vorgeht, so
ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendigerweise unglücklich ist
man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im unklaren ist.


6

Daran mußt du immer denken, was das Wesen der Welt und was das deinige
ist, und wie sich beides zueinander verhält, nämlich was für ein Teil
des Ganzen du bist und zu welchem Ganzen du gehörst, und daß dich
niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen
entspricht, dessen Teil du bist.


7

Theophrast sagt in seiner Vergleichung der menschlichen Fehler--wie
diese denn allenfalls verglichen werden können--: schwerer seien die,
die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich
erscheint der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz
und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während
der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser
erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet:
es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als
mit Bedauern, so ist das gewiß richtig und der Philosophie nur
angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der
gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen
wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache
so ansieht, als begehe er das Unrecht aus heiler Haut.


8

Jegliches tun und bedenken wie einer, der im Begriff ist, das Leben zu
verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber,
wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann wohl auf.
Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen
Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt
ohne Vorsehung? Doch sie sind und sie kümmern sich um die menschlichen
Dinge. Noch mehr. Sie haben es, was die Übel betrifft, und zwar die
eigentlichen, ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren.
Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so
eingerichtet, daß es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden.
Denn wie sollte etwas, wobei der Mensch nicht schlimmer wird, sein Leben
verschlimmern? Selbst die bloße Natur--sei es, daß wir sie uns ohne
Bewußtsein oder mit Bewußtsein begabt vorstellen; gewiß ist, daß sie
nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen--hätte
dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus
Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, daß sie Gutes und Böses in gleicher
Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteil werden ließe. Tod
aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und
Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne
Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch
sittliche Mängel begründen: also sind sie auch weder gut noch böse
(weder ein Glück noch ein Unglück).


9

Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber,
in der Geisteswelt deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal
was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz
und Hochmut sich breit macht! Wie nichtig und verächtlich, wie
schmutzig, hinfällig, tot!--Man folge dem Zug des Geistes; man frage
nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben; man
untersuche, was eigentlich sterben heißt (und man wird, wenn man der
Phantasie keinen Einfluß auf seine Gedanken verstattet, darin nichts
anderes als ein Werk der Natur erkennen: kindisch aber wäre es doch, vor
einem Werk der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist,
sich zu fürchten); man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und
mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des
Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.


10

Nichts Elenderes als ein Mensch, der alles wie im Kreise durchläuft, die
Tiefen der Erde ergründen will, wie Pindar sagt, der um alles und jedes
sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört
über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Gedanken zu machen und
nicht begreifen mag, daß es genug ist, für den Gott in der eignen Brust
zu leben und ihm zu dienen, wie sich´s gebührt. Das aber ist sein
Dienst: ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von
Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die
Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend, und mit denen der
Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die
letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil soviele
nicht wissen, was Güter und was Übel sind,--eine Blindheit, nicht
geringer als die, wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.


11

Und wenn du dreitausend Jahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, es
hat ja doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er
lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als was er einmal verlieren wird.
Und so läuft das längste wie das kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das
Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich
ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem
niemand verlieren kann weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder
wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt?--An
die beiden Dinge also müssen wir denken: einmal, daß alles seinem Wesen
nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und daß es
keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang
oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, daß auch der, der am
längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr jung
stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil
man nur dieses besitzt, und niemand kann verlieren, was er nicht hat.


12

Alles beruht auf der Ansicht! Dafür zeugen die Aussprüche des Kynikers
Menimus und für diesen zeugt wieder die Brauchbarkeit des Gesagten, wenn
man es auf das Wahre darin einschränkt.


13

Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie
sich von der Natur abzusondern, gleichsam aus ihr herauszuwachsen
strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgend etwas, das sich
ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja
diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn
sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu
tun, wie allemal im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich
hinnehmen läßt; oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas
tut oder spricht; oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck
haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im
unklaren sind. Denn auch das Kleinste muß in Beziehung zu einem Zweck
gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist: den
Grundsätzen und Satzungen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.


14

Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Punkt; des
Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes
leicht verweslich, seine Seele--einem Kreisel vergleichbar, sein
Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz,
alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum,
ein Rauch: sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm Vergessenheit.
Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die
Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns
tragen, rein und unverletzt zu erhalten, daß er Herr sei über Freude und
Leid, daß er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchele
und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, daß er
alles, was ihm widerfährt und was ihm zugeteilt wird, so aufnehme, als
komme es von da, von wo er selbst gekommen, und daß er endlich den Tod
mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller Elemente,
aus denen jegliches lebendiges Wesen besteht. Denn wenn den Elementen
dadurch nichts Schlimmes widerfährt, daß sie fortwährend ineinander
übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und
Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das
Naturgemäße ist niemals vom Übel.




Drittes Buch


1

Wir müssen uns nicht bloß bedenken, daß das Leben mit jedem Tage
schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrigbleibt, sondern auch
beherzigen, daß es ja ungewiß ist, wenn man ein längeres Leben vor sich
hat, ob sich die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis
der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen
werden, die uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren
machen. Denn wieviele werden im Alter nicht kindisch! Und bei wem ein
solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der
Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu
begehren; aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der
Pflichten, die ihm obliegen zu überschauen, die Erscheinungen sich zu
zergliedern und darüber, ob´s Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer
durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden--das ist bei
ihm erloschen. Also eilen muß man, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem
Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu
betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.


2

Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch das, was nur
beiläufiges Merkmal ist, einen gewissen Reiz ausübt. So machen z.B. die
Risse und Sprünge im Brot, die gewissermaßen gegen die Absicht des
Bäckers sind, die Eßlust besonders rege. Ebenso geht es mit den Feigen,
die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und den Oliven, die gerade
wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind, faul zu
werden. Die niederhängenden Ähren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum
am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen
Reiz, wenn man´s für sich betrachtet; aber weil es uns an den Werken der
Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als
eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an
Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden
wir kaum etwas von solchen Nebenumständen auffinden, was uns nicht
angenehm deuchte. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche
Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns
Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Äuge wird mit
gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der
liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige
Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.


3

Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer
Krankheit gestorben. Die Chaldäer weissagten vielen den Tod, dann hat
sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar--nach dem sie
so manche Stadt von Grund aus zerstört und in der Schlacht soviele
Tausende ums Leben gebracht, schieden selbst aus dem Leben. Heraklit,
der über den Weltbrand philosophiert, starb an der Wassersucht, den
Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates--ein Ungeziefer anderer
Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: du bist eingestiegen,
gefahren, im Hafen eingelaufen: so steige nun aus! Geht´s in ein anderes
Leben--gewiß in keins, das ohne Götter ist. Ist´s aber ein Zustand der
Unempfindlichkeit--auch gut: wir hören auf von Leid und Freude hin
gehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von um so schlechterer
Art je edler der Eingeschlossene, denn er ist Geist und göttlichen
Wesens, jenes aber Staub und verweslicher Stoff.


4

Verschwende deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht,
es sei denn, daß du jemand damit ersprießlich sein kannst. Du versäumst
offenbar notwendigere Dinge, wenn dich nichts weiter beschäftigt, als
was der und jener macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er
sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der
Beobachtung seiner selbst. Man muß alles Eitle und Vergebliche aus der
Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vorzüglich alle müßige und
nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über
die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und
mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so daß man gleich sieht:
hier ist alles lauter und gut und so, wie es einem Gliede der
menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genußsucht und
Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Mißtrauen, nichts von alle
dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen kann, daß es seine Seele
beschäftige. Und ein solcher Mensch--dem es nun ja auch nicht an dem
Streben nach Auszeichnung fehlen kann--ist ein Priester und Diener der
Götter, der Gewinn aus dem inneren Gottesbewußtsein zu ziehen weiß, so
daß ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz
berücken, nichts Böses überhaupt reizen kann; er ist ein Held in jenem
großen Kampf gegen die Leidenschaft und eingetaucht in das Wesen der
Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen.
Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine
Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern
die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie, was
ihm das Schicksal gesponnen im Gewebe des Ganzen, der Hauptgegenstand
seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in
der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen
des Schicksals. Stets ist er eingedenk, daß alle Vernunftwesen einander
verwandt sind, und daß es zur menschlichen Natur gehört, für andere zu
sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben
führen, da er ja weiß, was die, die nicht so leben, sind, wie sie´s zu
Hause und außer dem Hause, am Tage und bei Nacht und mit wem sie ihr
Wesen treiben. Das Lob derer also, die nicht sich selber zu genügen
wissen, hat für ihn nicht den geringsten Wert.


5

Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl,
nichts ungeprüft, nichts wobei du noch ein Bedenken hast. Drücke deine
Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein
Vielgeschäftiger. Sondern mit einem Worte: der Gott in dir führe das
Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung
du nun auch angehören magst, so daß du immer in der Verfassung bist,
wenn du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen.--Eidschwur
und Zeugenschaft mußt du immer entbehren können.--Innerlich aber sei
heiter, nicht bedürfend, daß die Hilfe von außen dir komme, auch nicht
des Friedens bedürftig, den andere uns geben können.--Steh aufrecht,
heißt es, nicht: lasse dich stellen!


6

Kannst du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit,
Wahrheit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit oder mit einem Wort: als den
Zustand der Seele, wo du in allem, was eine Sache der Vernunft und
Selbstbestimmung ist, mit dir selbst, in dem aber, was ohne dich
geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist; kannst du, sage ich, etwas
entdecken, was noch besser ist als dies, so wende dich dem mit ganzer
Seele zu und freue dich, daß du das Beste aufgefunden hast. Sollte es
aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in dir wohnenden Gott,
der deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken
prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen
sucht, und der sich selbst--den Göttern unterwirft und für das Wohl der
Menschen Sorge trägt: solltest du finden, daß gegen dieses alles andere
gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und
laß in deine Seele nichts eindringen, was, wenn es dich einmal
angezogen, dich an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes,
deines Eigentums, hindert. Denn diesem Gute, dem höchsten nach Wesen und
Wirkung, irgend etwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuß an
die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst
wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in
Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und
unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch
immer zugleich das Zuträgliche, sei es, daß es uns frommt als denkenden
oder als empfindenden Wesen. Finden wir nun etwas, das uns als
Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir´s festhalten und
pflegen. Ist es aber nur für unser Empfinden zuträglich, so haben wir es
mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hin zunehmen, und nur dafür zu
sorgen, daß wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die
Dinge gehörig prüfen.


7

Bilde dir nie ein, daß etwas gut für dich sein könnte, was dich nötigt,
einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, jemand zu hassen,
argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, dich zu verstellen
oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen
braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren
Dienst jederzeit die erste Rolle spielen läßt, wird nie zu einer
Tragödie Anlaß geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große
Gesellschaft suchen; er wird leben im höchsten Sinne des Worts und weder
auf der Jagd noch auf der Flucht. Ob seine Seele auf lange oder kurze
Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde,
auch wenn er bald scheiden müßte, sich dazu ganz ebenso auf den Weg
machen, wie wenn es gelte, irgend etwas anderes mit Anstand und mit
edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durchs ganze Leben Sorge
trägt, ist nur das, daß seine Seele sich stets in einem Zustande
befinde, der einem auf das Zusammenleben mit andern angewiesenen
vernünftigen Wesen geziemt.


8

In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden
und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und
Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche
heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts
Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch
nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und nichts, was ihn zu
Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich
"vollendet", wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur
mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, daß er ein
tragischer sei, noch ehe das Stück geendet hat.


9

Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so mußt
du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten,
daß sich in deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche
widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre
Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan
und den Göttern gehorsam.


10

Alles übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht
völlig hin. Dabei bleibe man sich bewußt, daß jeder eigentlich nur dem
gegenwärtigen Augenblick lebe. Denn alles übrige ist entweder durchlebt
oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist´s, was jeder lebt, und ein
Kleines, wo er lebt--das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, auch
der größte, den er hinterläßt: damit er sich forterbe in der Kette
dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht
einmal sich selbst begreifen, geschweige denn einen längst vor ihnen
Gestorbenen!


11

Den aufgestellten Lebensregeln ist aber noch eine hinzuzufügen. Von
jedem Gegenstande, der sich deinem Nachdenken darbietet, suche dir stets
einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so daß du weißt, was er
an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit du ihn
selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst.
Denn nichts erzeugt in dem Grad hohen Sinn und edle Denkungsart, als
wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem
Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu
geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, daß man bei sich überlegt,
in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in
demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie
dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich
die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft
verhalten, daß man weiß, was man jedesmal vor sich hat, wo es sich
herschreibt und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu
zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelsüchtig oder vertrauend
voll, hingebend oder auf sich selbst beruhend; so daß man sich von jedem
Einzelnen sagen muß, entweder: es kommt von Gott, oder: es ist ein Stück
jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt,
oder endlich: es kommt von einem unsrer Genossen und Brüder, der nicht
gewußt hat, was naturgemäß ist. Du aber weißt es, und darum begegnest du
ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe
und Gerechtigkeit. Und auch in gleichgültigen Dingen zeigst du ein ihrem
Wert entsprechendes Verhalten.


12

Wenn du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was dir zu tun gerade
obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne daß dich ein
anderer Gedanke dabei leitet, als der, dein Inneres rein zu erhalten,
als solltest du bald deinen Geist aufgeben; wenn du dich auf diese Weise
zusammennimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern dir genügen
lässest an der dir von Natur zu Gebote stehenden Energie und an der
Wahrhaftigkeit, die aus jedem deiner Worte hervor leuchten muß, so wirst
du ein glückliches Leben führen. Und ich wüßte nicht, wer dich daran
hindern sollte.


13

Wie die Ärzte zu raschen Heilungen stets ihre Instrumente und Eisen zur
Hand haben, so mußt du behufs der Erkenntnis göttlicher und menschlicher
Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit
du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich
des Zusammenhangs beider bewußt ist. Denn Menschliches läßt sich
ebensowenig richtig behandeln ohne Beziehung auf Göttliches als
umgekehrt.


14

Höre endlich auf, dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu
denken, daß du dazu kommst, was du dir für spätere Zeiten deines Lebens
aufbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder
hervorzusuchen. Darum gib solche törichte Pläne auf, und wenn du dich
selber lieb hast, schaffe dir--noch vermagst du´s--eiligst die Hilfe,
deren du bedarfst!


15

In manchem Wort, das unbedeutend scheint, wie z.B. Stehlen, Säen,
Kaufen, Ruhen, Sehen, was es zu tun gibt, liegt oft ein tieferer Sinn.
Wie mancher sagt: "ich will doch sehen, was es gibt", und denkt nicht
daran, daß es dazu eines anderen Schauens bedarf, als das der Augen.


16

Leib, Seele, Geist--das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen
Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen
Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere
Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden
Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein
Nero; in allem, was vorteilhaft scheint, sich vom Geiste leiten zu
lassen, ist auch die Sache solcher, die das Dasein der Götter leugnen,
das Vaterland verraten und die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur
niemand sieht. Wenn soweit also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so
bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal
Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu
entweihen, sich nicht durch Gedankenmenge zu verwirren, sondern im
Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden
wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und daß
man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran
sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb
doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des
Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und
willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.




Viertes Buch


1

Wenn der in uns herrschende Geist seiner Natur folgt, kann es uns--den
Ereignissen gegenüber--nicht schwer fallen, auf jede Möglichkeit
vorbereitet zu sein und das Gegebene hinzunehmen. Das Festbestimmte,
Abgemachte ist es dann überhaupt nicht, wofür wir Interesse haben,
sondern: was uns gut und wünschenswert scheint, ist doch immer nur mit
Vorbehalt ein Gegenstand unseres Strebens; was sich uns aber geradezu in
den Weg stellt, betrachten wir als ein Mittel zu unsrer Übung--: der
Flamme gleich, die sich auch solcher Stoffe zu bemächtigen weiß, deren
Berührung ein kleineres Licht verlöschen würde, aber ein helles Feuer
nimmt in sich auf und verzehrt, was man ihm zuführt, und wird nur größer
dadurch.


2

Bei allem, was du tust, gehe besonnen zu Werke und so, daß du dabei die
höchste Lebenskunst im Auge hast!


3

Man liebt es, sich zuzeiten aufs Land, ins Gebirge, an die See
zurückzuziehn. Auch du sehnst dich vielleicht dahin. Im Grunde genommen
aber steckt dahinter eine große Beschränktheit. Es steht dir ja frei, zu
jeglicher Stunde dich in dich selbst zurückzuziehn, und nirgends finden
wir eine so friedliche und ungestörte Zuflucht als in der eignen Seele,
sobald wir nur etwas von dem in uns tragen, was wir nur anzuschauen
brauchen, um uns in eine vollkommen ruhige und glückliche Stimmung
versetzt zu sehn--eine Stimmung, die nach meiner Ansicht freilich ein
anständiges, sittliches Wesen bedingt. Auf diese Weise also ziehe dich
beständig zurück, um dich immer wieder aufzufrischen. Einfach und klar
und bestimmt aber seien jene Ideen, die aus deiner Seele so manches
hinweg spülen, wenn du sie dir vergegenwärtigst, und dir eine Zuflucht
schaffen sollen, aus der du nicht übel launisch zurückkehrst. Und was
sollte dich auch alsdann verdrießen? "Die Schlechtigkeit der Menschen?"
Aber wenn du bedenkst, daß die vernünftigen Wesen füreinander geboren
sind, daß das Ertragen des Unrechts zur Gerechtigkeit gehört, daß die
Menschen unfreiwillig sündigen, und dann--wie viel streitsüchtige,
argwöhnische, gehässige und gewalttätige Menschen dahin gemußt haben und
nun ein Raub der Verwesung sind--wirst du da deine Abneigung nicht los
werden? "Oder ist es dein Schicksal?" So erinnere dich nur jenes
Zwiefachen: entweder wir sagen: es gibt eine Vorsehung, oder: wir sehen
uns als Teile und Glieder eines Ganzen an, und unserer Betrachtug der
Welt liegt die Idee eines Reiches zugrunde. "Oder ist es dein Leib, der
irgendwie schmerzt?" Aber du weißt ja, der Geist, wenn er sich selbst
begriffen und seine Macht kennen gelernt hat, hängt nicht ab von
sanfteren oder rauheren Lüften; auch weißt du, wie wir über Schmerz und
Freude denken, und bist einverstanden damit. "Oder macht dir der Ehrgeiz
zu schaffen?" Aber wie schnell breitet Vergessenheit über alles ihren
Schleier! wie unablässig drängt eins das andere in dieser Welt ohne
Anfang und ohne Ende! Wie nichtig ist jeder Nachklang unseres Tuns! wie
veränderlich und wie urteilslos jede Meinung, die sich über uns bildet
und wie eng der Kreis, in dem sie sich bildet! Die ganze Erde ist ja nur
ein Punkt im All, und wie klein ist nun wieder der Winkel auf ihr, wo
von uns die Rede sein kann! Wie viele können es sein, und was für
welche, die unsern Ruhm verkünden? In der Tat also gilt es sich
zurückzuziehen auf eben diesen kleinen Raum, der unser ist, und hier
sich weder zerstreuen, noch einspannen zu lassen, sondern sich frei zu
bewegen und die Dinge anzusehen wie ein Mensch, wie ein Glied der
Gesellschaft, wie ein sterbliches Wesen. Unter allen Wahrheiten aber,
die dir am geläufigsten sind, müssen jedenfalls die beiden sein: die
eine: daß Außendinge die Seele nicht berühren dürfen, sondern wirklich
Außendinge sein und bleiben müssen. Denn Widerwärtigkeiten gibt es nur
für den, der sie dafür hält. Die andere: daß alles, was du siehst, sich
bald verwandeln und nicht mehr sein werde, wie du selbst schon eine
Menge Wandlungen durchgemacht hast. Mit einem Wort: die Welt ist ein
ewiger Wechsel, das Leben ein Wahn!


4

Haben wir alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft? dann
auch die Stimme, die uns sagt, was wir tun und lassen sollen; dann auch
eine Gesetzgebung; wir sind also alle Bürger eines und desselben
Reiches. Und so würde folgen, daß die Welt ein Reich ist. Denn welches
Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein?--Stammt nun etwa
jene Denkkraft, jenes Vernünftige und Gesetzgebende aus diesem uns allen
gemeinsamen Reiche oder sonst woher? Denn gleichwie bei verschiedenen
Stoffen jeder seine besondere Quelle hat (denn es ist Nichts, was aus
dem Nichts entstände, so wenig wie Etwas in das Nichts übergeht), so muß
auch das Geistige irgendwoher stammen.


5

Mit dem Tode verhält sich´s wie mit der Geburt: beide sind Geheimnisse
der Natur. Dieselben Elemente welche hier sich einigen, werden dort
gelöst. Und das ist nichts, was uns unwürdig vorkommen könnte. Es
widerspricht weder dem vernünftigen Wesen selbst, noch der Art und
Weise seiner Einrichtung.


6

Es liegt freilich in der Natur der Sache, daß gewisse Leute einen
solchen Widerspruch darin finden. Aber wer dies nicht will, will nicht,
daß der Feigenbaum Saft habe. Überhaupt aber sei dessen eingedenk, daß
ihr beide, du und er, in kürzester Zeit sterben werdet, und daß bald
nicht einmal euer Name übrigbleibt.


7

Laß deinen Wahn schwinden, du hörst auf dich zu beklagen. Beklagst du
dich nicht mehr, ist auch das Übel weg.


8

Der Begriff des Heilsamen und des Schädlichen schließt es schon in sich,
daß, was den Menschen nicht verdirbt, auch sein Leben nicht verderben
oder verbittern kann weder äußerlich noch innerlich.


9

Weil es nützlich ist, handelt die Natur notwendigerweise so, wie sie
handelt.


10

Alles, was geschieht, geschieht mit Recht; einer genauen Beobachtung
kann das nicht entgehen. Auch sage ich nicht bloß: es ist in der
Ordnung, sondern: es ist recht, d.h. als käme es von einem, der alles
nach Recht und Würdigkeit austeilt. Setze deine Beobachtungen nur fort,
und du selbst--was du auch tust, mache gut! gut im eigentlichsten Sinne
des Worts! Denke daran bei jeder deiner Handlungen!


11

Wie derjenige denkt, der dich verletzt, oder wie er will, daß du denken
sollst, so denke gerade nicht. Sondern sieh die Sache an, wie sie in
Wahrheit ist.


12

Zu zweierlei müssen wir stets bereit sein: einmal, zu handeln einzig den
Forderungen gemäß, welche das in uns herrschende Gesetz an uns
stellt--und das heißt immer auch zugleich zum Nutzen der Menschen
handeln. Sodann: auf unserer Meinung nicht zu beharren, wenn einer da
ist, der sie berichtigen und uns so von ihr abbringen kann. Doch muß
jede Sinnesänderung davon ausgehen, daß die neue Ansicht die richtige
und gute sei, nicht davon, daß sie Annehmlichkeiten und äußere Vorteile
verschaffe.


13

Wenn du Vernunft hast, warum gebrauchst du sie nicht? Tut sie das
ihrige, was kannst du mehr verlangen?


14

Was du bist, ist doch nicht das Ganze. So wirst du denn auch einst
aufgehen in dem, der dich erzeugte; oder vielmehr, nach geschehener
Wandlung wirst du wieder aufgenommen werden in seine Erzeugernatur.


15

Viele Weihrauchkörner fallen auf denselben Altar der Gottheit--das ist
des Menschen Leben. Wieviel davon schon gestreut ist, wieviel noch
nicht, was liegt daran?


16

Sobald du dich zu den Grundsätzen und dem Dienst der Vernunft bekehrst,
kannst du innerhalb zehn Tagen denen ein Gott sein, denen du jetzt so
verächtlich erscheinst wie ein Affe oder ein wildes Tier.


17

Richte dich nicht ein, als solltest du hundert Jahre alt werden. Denn
wie nahe ist vielleicht dein Ende! Aber solange du lebst, solange es in
deiner Macht steht--sei gut!


18

Welch ein Gewinn, wenn man auf anderer Leute Worte, Angelegenheiten und
Gedanken nicht achtet, sondern nur merkt auf das eigene Tun, ob es
gerecht und fromm und gut sei,

 "--das Auge abgewendet
vom Pfuhl des Lasters, nur der eignen Bahn
nachgehend, grad und unverrückt."


19

Der Ruhmbegierige bedenkt nicht, daß auch die in aller Kürze nicht mehr
sein werden, die seiner gedenken, und daß es sich mit jedem folgenden
Geschlecht ebenso verhält, bis endlich die Erinnerung, durch solche
fortgepflanzt, die nun erloschen sind, selber erlischt. Aber gesetzt
auch, sie wären unsterblich, die deinen Namen nennen, und unsterblich
dieses Namens Gedächtnis: was nützt dir´s? dir, der du bereits gestorben
bist? Aber auch, was nützt dir´s bei deinem Leben? Es sei denn, daß du
zeitliche Vorteile dabei hast. Sind also Ruhm und Ehre dir zuteil
geworden, achte dieser Gabe nicht! sie macht dich eitel und abhängig vom
Geist und Wort der andern.


20

Jegliches Schöne ist schön durch sich selbst und in sich vollendet, so
daß für ein Lob kein Raum in ihm ist. Wird es doch durch Lob weder
schlechter noch besser. Dies gilt auch von dem, was man in der Regel
schön nennt, von dem körperlich Schönen und den Werken der Kunst. Das
wahrhaft Schöne bedarf des Lobes ebensowenig als das göttliche Gesetz,
die Wahrheit, die Güte, die Scham. Oder vermag daran etwa das Lob zu
bessern oder der Tadel zu verderben? Wird die Schönheit des Edelsteins,
des Purpurs, des Goldes, des Elfenbeins, die Schönheit eines
Instruments, einer Blüte, eines Bäumchens geringer dadurch, daß man sie
nicht lobt?


21

Wenn die Seelen fortdauern, wie vermag sie der Luftraum von Ewigkeit her
zu fassen? Aber wie ist denn die Erde imstande, die Leichname sovieler
Jahrtausende zu fassen? Die Leiber, nachdem sie eine Zeitlang gedauert
haben, verwandeln sich und lösen sich auf, und so wird andern Leibern
Platz gemacht. Ebenso die in den Äther versetzten Seelen. Eine Zeitlang
halten sie zusammen, dann verändern sie sich, dehnen sich aus,
verbrennen und gehen in das allgemeine Schöpferwesen auf, so daß ein
Raum für neue Bewohner entsteht. So etwa ließe sich die Ansicht von der
Fortdauer der Seelen erklären. Was aber die Leiber betrifft, so kommt
hier nicht bloß die Menge der auf jene Weise untergebrachten, sondern
auch die der täglich von uns und von den Tieren verzehrten Leiber in
Betracht. Welch eine Menge verschwindet und wird so gleichsam begraben
in den Leibern derer, die sich davon nähren, und immer derselbe Raum
ist´s, der sie faßt, durch Verwandlung in Blut, in Luft- und
Wärmestoffe. Das Prinzip oder die Summe aller dieser Erscheinungen ist
also: die Auflösung in die Materie und in den Urgrund aller Dinge.


22

Stets entschieden, gilt es, zu sein und das Rechte im Auge zu haben bei
jeglichem Streben. In dem Gedankenleben aber sei das Begreifliche dein
Leitstern.


23

Was mit dir zusammenstimmt, o Welt, ist auch für mich angemessen! Nichts
kommt zu früh für mich und nichts zu spät, wenn´s bei dir heißt: "Zu
guter Stunde." Eine süße Frucht ist mir alles, was du gezeitigt hast,
Natur. Von dir und in dir ist alles und zu dir kehrt es zurück.--Als
Aristophanes Theben wiedersah, rief er: "Du liebe Stadt des Kekrops!"
und ich, ich sollte mit dem Blick auf dich nicht sagen: "Du liebe Stadt
des höchsten Gottes?"


24

Nur auf wenig Dinge, heißt es, darf sich deine Tätigkeit erstrecken,
wenn du dich wohl befinden willst. Aber wäre es nicht besser, sie auf
das Notwendige zu richten? auf das, was wir als Wesen, die auf das Leben
in Gemeinschaft angewiesen sind, tun sollen? Denn das hieße nicht bloß
das Vielerlei, sondern auch das Schlechte vermeiden und müßte uns also
doppelt glücklich machen. Gewiß würden wir ruhiger und zufriedener sein,
wenn wir das meiste von dem, was wir zu reden und zu tun pflegen, als
überflüssig ließen. Ist es doch durchaus notwendig, daß wir in jedem
einzelnen Falle, ehe wir handeln, eine Stimme der Warnung vernehmen; und
sollte die von etwas ausgehen können, das an sich selbst unnötig ist?
Zuerst aber befreie deine Gedanken von allem, was unnütz ist, dann wirst
du auch nichts Unnützes tun.


25

Mache den Versuch--vielleicht gelingt dir´s--zu leben wie ein Mensch,
der mit seinem Schicksal zufrieden ist, und, weil er recht handelt und
liebevoll gesinnt ist, auch den inneren Frieden besitzt.


26

Willst du? so höre noch dies: Rege dich nicht selbst auf, und bleibe
immer bei dir. Hat sich jemand an dir vergangen: an sich selbst hat er
sich vergangen. Ist dir etwas Trauriges widerfahren: es war dir von
Anfang an bestimmt; was geschieht, ist alles Fügung. Und im Ganzen: das
Leben ist kurz. Die Gegenwart ist´s, die wir nutzen sollen, durch
rechtschaffenes und überlegtes Handeln, und wenn wir ausruhen wollen,
durch ein besonnenes Ausruhen. Auch in Erholungsstunden bleibe nüchtern!


27

Entweder ist die Welt ein wohlgeordnetes Ganzes oder ein zufälliges
Gemenge, das man aber doch eine Weltordnung nennt. Doch wie? Kann in dir
eine gewisse Ordnung herrschen, wenn im Weltganzen Unordnung herrscht?
Und das könnte sein bei der ineinandergestimmten Vereinigung aller
möglichen Kräfte, die einander widerstreiten und zerteilt sind?


28

Es gibt schwarze Charaktere, weibische, halsstarrige, tierische,
viehische, kindische, träge, zweideutige, geckenhafte, betrügerische,
tyrannische Charaktere.


29

Wenn der ein Fremdling ist in der Welt, der nicht weiß, was auf ihr ist
und geschieht, so nenne ich den einen Flüchtling, der sich den
Ansprüchen des Staates entzieht; einen Blinden, der das Auge seines
Geistes schließt; einen Bettler, der eines andern bedarf und nicht in
sich alles zum Leben Nötige trägt; einen Auswuchs des Weltalls, der von
dem Grundgesetz der Allnatur abweicht und--mit dem Schicksal hadert! als
hätte sie, die dich hervorgebracht, nicht auch dieses erzeugt; ein
abgehauenes Glied der menschlichen Gesellschaft, der mit seiner Seele
von dem Lebensprinzip der einen alle Vernunftwesen umfassenden Gemeinde
geschieden ist.


30

Es gibt Philosophen, die keinen Rock anzuziehen haben und halbnackt
einhergehen. "Nichts zu essen, aber treu der Idee." Auch für mich ist
die Philosophie kein Brotstudium.


31

Liebe immerhin die Kunst, die du gelernt hast, und ruhe dich aus in ihr.
Doch gehe durchs Leben nicht anders wie einer, der alles, was er hat von
ganzem Herzen den Göttern weiht, niemandes Tyrann und niemandes Knecht.


32

Betrachten wir die Geschichte, z.B. die Zeiten Vespasians, so finden wir
Menschen, die sich freien, Kinder zeugen, krank liegen, sterben, Krieg
führen, Feste feiern, Handel treiben, Acker bauen; finden Schmeichler,
Freche, Mißtrauische, Listige, oder solche, die ihr Ende herbeiwünschen,
die sich über die schlimmen Zeiten beklagen; finden Liebhaber,
Geizhälse, Ehrgeizige, Herrschsüchtige. Nicht wahr? Ihr Leben ist jetzt
nirgends mehr zu finden. Gehen wir über auf die Zeiten des Trajan: alles
ganz ebenso. Und auch diese Zeit ging zu Grabe.--So betrachte die
Grabschriften aller Zeiten und Völker, damit du siehst, wie viele, die
sich aufschwangen, nach kurzer Zeit wieder sanken und vergingen.
Namentlich muß man immer wieder an die denken, bei denen wir´s mit
eignen Augen gesehen haben, wie sie nach eitlen Dingen trachteten, wie
sie nicht taten, was ihrer Bildung entsprach, daran nicht unablässig
festhielten und sich daran nicht genügen ließen. Und fällt uns dann die
Regel ein, daß die Behandlung einer Sache ihren Maßstab in dem Wert der
Sache selbst hat, so wollen wir sie doch ja beobachten, damit wir uns
vor dem Ekel bewahren, der die notwendige Folge davon ist, daß man den
Dingen mehr Wert beilegt, als sie verdienen.


33

Worte, die ehemals im Gebrauch waren, sind nun veraltet. So sind auch
die Namen einst hochberühmter Männer, eines Camill, Scipio, Cato, dann
eines Augustus, dann Hadrians, dann Antoninus Pius, später gleichsam
veraltete Worte. Sie verbleichen bald und nehmen das Gewand der Sage an,
bald sind sie gar versunken in Vergessenheit. Dies gilt von denen, die
ehemals so wunderbar geleuchtet haben. Denn von den andern, sind sie nur
tot, weiß man nichts mehr, hat man nie etwas gehört. Also ist
Unvergeßlichkeit ein leeres Wort. Aber was ist es denn nun, wonach
sich´s lohnt zu streben? Nur das eine: eine tüchtige Gesinnung, ein
Leben zum Besten anderer, Wahrheit in jeder Äußerung, ein Zustand des
Gemüts, wonach dir alles, was geschieht, notwendig scheint und dir
befreundet, aus einer Quelle fließend, mit der du vertraut bist.


34

Gib dich dem Schicksal willig hin, und erlaube ihm, dich mit den Dingen
zu verflechten, die es dir irgend zuerkennt.


35

Eintagsfliegen sind beide, der Gedenkende und der, dessen gedacht wird.


36

Alles entsteht durch Verwandlung, und die Natur liebt nichts so sehr,
als das Vorhandene umzumodeln und Neues von ähnlicher Art zu erzeugen.
Jedes Einzelwesen ist gewissermaßen der Same eines zukünftigen, und es
wäre eine große Beschränktheit, nur das als ein Samenkorn anzusehen, was
in die Erde oder in den Mutterschoß geworfen wird.


37

Wie bald wirst du tot sein, und noch immer bist du nicht ohne Falsch,
nicht ohne Leidenschaft, nicht frei von dem Vorurteil, daß Äußeres dem
Menschen schaden könne, nicht sanftmütig gegen jedermann, und noch immer
nicht überzeugt, daß Gerechtigkeit die einzig wahre Klugheit sei.


38

Mache dich mit den herrschenden Gesinnungen der Menschen bekannt, mit
ihren Sorgen und mit dem, was sie fliehen und was sie erstreben.


39

In der Seele eines andern sitzt es nicht, was dich unglücklich macht,
auch nicht in der Wendung deiner äußeren Verhältnisse. Wo denn, fragst
du? In deinem Urteil! Halte es nicht für ein Unglück, und alles steht
gut. Und wenn, was dich zunächst umgibt, deine Haut verwundet,
geschnitten, gebrannt wird, muß der Teil deines Wesens, der über solche
Dinge urteilt, in Ruhe sein, d.h. er muß denken, daß das, was ebenso den
Guten wie den Bösen treffen kann, unser Unglück oder unser Glück
unmöglich ausmacht. Denn was bald der erfährt, der gegen die Natur lebt,
bald wieder der, der ihrer Stimme folgt, das kann doch selbst nicht
widernatürlich oder natürlich heißen.


40

Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, ein Weltstoff und eine
Weltseele. In dieses Weltbewußtsein wird alles aufgenommen, so wie aus
ihm alles hervorgeht, so jedoch, daß von den Einzelwesen eines des
anderen Mitursache ist und auch sonst die innigste Verknüpfung unter
ihnen stattfindet.


41

Nach Epiktet ist der Mensch--eine Seele mit einem Toten belastet.


42

Was zu dem Wandlungsprozeß gehört, dem wir alle unterworfen sind, das
kann als solches weder gut noch böse sein.


43

Ein Strom des Werdens, in dem eins das andre jagt, ist die Zeit. Denn
ein jegliches Ding--verschlungen ist´s, kaum da es aufgetaucht. Aber
kaum ist das eine dahin, trägt die Woge schon wieder ein anderes her.
Doch auch dieses wird weggeschwemmt.


44

Wie die Rose die Vertraute des Sommers und die Früchte die Freunde des
Herbstes sind, so ist das Schicksal uns freundlich gesinnt, mag es nun
Krankheit oder Tod oder Schimpf und Schande heißen. Denn Kummer machen
solche Dinge nur dem Toren.


45

Das Folgende entspricht immer dem Vorangehenden, nicht nur in der Weise
des Nacheinander mit bloß äußerer Verknüpfung, sondern durch ein inneres
geistiges Band. Denn wie im Reiche des Gewordenen alles harmonisch
gefügt ist, so tritt uns auch auf dem Gebiete des Werdens keine bloße
Aufeinanderfolge, sondern eine wunderbare innere Verwandtschaft
entgegen.


46

Mag es richtig sein, was Heraklit sagt, daß in der Natur das eine des
andern Tod sei, der Erde Tod das Wasser, des Wassers die Luft, der Luft
das Feuer und umgekehrt; doch hat er nicht gewußt, wohin alles führt.
Aber es läßt sich auch von solchen Leuten lernen, die das Ziel ihres
Weges aus dem Gedächtnis verloren haben, auch von solchen, die, je mehr
sie mit dem alles beherrschenden Geiste verkehren, tatsächlich sich
desto mehr von ihm entfernen, auch von denen, welchen gerade das fremd
ist, was sie täglich beschauen, oder die wie im Traume handeln und reden
(denn auch das nennt man noch Tätigkeit), oder endlich von solchen, die
wie die kleinen Kinder alles nachmachen.


47

Wenn dir ein Gott weissagte, du werdest morgen, höchstens übermorgen
sterben, so könntest du dich über dieses "Übermorgen" doch nur freuen,
wenn gar nichts Edles in dir steckt. Denn was ist´s für ein Aufschub!
Ebenso gleichgültig aber müßte es dir sein, wenn man dir prophezeite:
nicht morgen, sondern erst nach langen Jahren!


48

Bedenke, wie viele Ärzte sind gestorben, nachdem sie an wie vielen
Krankenbetten bedenklich den Kopf geschüttelt; wie viele Astrologen, die
erst andern mit großer Wichtigkeit den Tod verkündigten; wie viele
Philosophen, nachdem sie über Tod und Unsterblichkeit ihre tausenderlei
Gedanken ausgekramt; wie viele Kriegshelden mit dem Blute anderer
bespritzt; wie viele Fürsten, die ihres Rechtes über Leben und Tod mit
großem Übermute brauchten, als wären sie selbst nicht auch sterbliche
Menschen; wie viele Städte--Helion, Pompeji, Herkulanum und unzählige
andere--sind, daß ich so sage, gestorben! Dann die du selbst gekannt
hast, einer nach dem andern! Der jenen begrub, wurde dann selbst
begraben, und das binnen kurzem. Denn alles Menschliche ist nichtig und
vorübergehend, das Gestern eine Seifenblase, das Morgen--erst eine
einbalsamierte Leiche, dann ein Haufen Asche. Darum nutze das Heute so
wie du sollst, dann scheidet sich´s leicht: wie die Olive, wenn sie reif
geworden abfällt--preisend den Zweig, an dem sie hing, dankend dem Baum,
der sie hervorgebracht!


49

Wie der Fels im Meere, an dem die Wellen unaufhörlich rütteln, steht, so
daß ringsum der Brandung Ungestüm sich legen muß, so stehe auch du!
Nenne dich nicht unglücklich, wenn dir ein "Unglück" widerfuhr! Nein,
sondern preise dich glücklich, daß, obwohl es dir widerfahren ist, der
Schmerz dir doch nichts anhat und weder Gegenwärtiges dich mürbe machen,
noch Zukünftiges dich ängstigen kann. Jedem könnt´ es begegnen, aber
nicht jeder hätte es so ertragen. Und warum nennst du das eine ein
Unglück, das andere ein Glück? Nennst du nicht das ein Unglück für den
Menschen, was ein Fehlgriff seiner Natur ist? Aber wie sollte das ein
Fehlgriff der menschlichen Natur sein können, was nicht wider ihren
Willen ist? Und du kennst doch ihren Willen? Kann dich denn irgendein
Schicksal hindern, gerecht zu sein, hochherzig, besonnen, klug,
selbständig in deiner Meinung, wahrhaft in deinen Reden, sittsam und
frei in deinem Betragen, hindern an dem, was, wenn es vorhanden ist, so
recht dem Zweck der Menschennatur entspricht? So oft also etwas
Schmerzhaftes dir nahe tritt: denke, es sei kein Unglück; aber ein Glück
ist, es mit edlem Mut zu tragen.


50

Es ist zwar ein lächerliches aber wirksames Hilfsmittel, wenn man den
Tod verachten lernen will, sich die Menschen zu vergegenwärtigen, die
mit aller Inbrunst am Leben hingen. Denn was war ihr Los, als daß sie
/zu früh/ starben? Begraben liegen sie alle, die Fabius, Julianus,
Lepidus oder wie sie heißen mögen, die allerdings so manche andere
überlebten, dann aber doch auch an die Reihe mußten.--Wie klein ist
dieser ganze Lebensraum, und unter wieviel Mühen, mit wie schlechter
Gesellschaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es ist
nicht der Rede wert. Hinter dir eine Ewigkeit und vor dir eine Ewigkeit:
dazwischen--was für ein Unterschied ob du drei Tage oder drei
Jahrhunderte zu leben hast?


51

Immer wandle den kürzesten Weg, den du zu gehen hast! Er ist der
natürliche. Man folgt da im Reden und Tun nur der gesunden Vernunft. Du
wirst dich auf diese Weise von mancher Sorge und von manchem Ballast
befreien.




Fünftes Buch


1

Früh, wenn´s dir leid tut schon aufgewacht zu sein, sage dir gleich, du
seist erwacht, dich menschlich zu betätigen. Um der Tätigkeit willen
bist du geboren und in die Welt gekommen, und du wolltest verdrießlich
sein, daß du ans Werk gehen mußt? Oder bist du dazu geschaffen, in den
Federn liegend dich zu pflegen? Freilich ist dies angenehmer; aber bist
du um des Vergnügens willen da, nicht vielmehr um etwas zu schaffen und
dich anzustrengen? Sieh alle Kreaturen, die Sperlinge, die Ameisen, die
Spinnen, die Bienen, wie jedes sein Werk vollbringt und jedes in seiner
Weise an der Aufgabe des Ganzen arbeitet! Und du wolltest das deinige
nicht tun? nicht den Weg laufen, den die menschliche Natur dir
vorschreibt?--Man muß doch auch ausruhen, sagst du. Freilich muß man.
Doch in dem Maße, das die Natur dir selbst an die Hand gibt, ebenso wie
für das Essen und Trinken. Darin aber willst du die Grenze überschreiten
und mehr tun als nötig ist, nur in der Tätigkeit zurückbleiben? Da sieht
man, daß du dich selbst nicht lieb hast, sonst würdest du die
menschliche Natur und deren Willen lieb haben. Andere, die mit Liebe die
Kunst betreiben, die sie gelernt haben, sind oft so versessen darauf,
daß sie darüber vergessen, sich zu waschen oder zu frühstücken. Du aber
ehrst die Menschheit in dir nicht einmal so hoch wie jene ihre Kunst,
wie der Drechsler seine Drechselei, der Tänzer seine Sprünge, der
Geizhals sein Geld, der Ehrgeizige seinen Ruhm. Denn sobald solche Leute
ihrem Beruf mit Eifer hingegeben sind, liegt ihnen am Essen und Schlafen
weit weniger, als daran, daß sie´s weiter bringen in dem, was ihres
Amtes ist. Und du bist imstande, das für andere Tätigsein niedriger zu
stellen und eines solchen Eifers nicht für wert zu halten?


2

Es ist wahrlich nicht so schwer, jeden beunruhigenden und unziemlichen
Gedanken, der sich aufdrängt, wieder loszuwerden und hinwegzutilgen, so
daß die vollkommene Stille und Heiterkeit des Gemüts gleich
wiederhergestellt ist.


3

Erkenne, daß du jeder echt menschlichen Äußerung in Wort und Werk würdig
bist, und laß dich von keinem Tadel oder Stichelrede, die andere dir
nachsenden, beschwatzen. Was edel ist zu sagen und zu tun, dessen bist
du niemals unwürdig. Jene haben ihre eigenen Grundsätze, denen sie
folgen, und ihren eigenen Sinn. Darauf darfst du keine Rücksicht
nehmen, sondern mußt den geraden Weg gehen, den deine und die allgemein
menschliche Natur dir vorschreibt. Und es ist in der Tat nur ein Weg,
den diese beiden dir weisen.


4

So laß uns durchs Leben gehen, bis wir verfallen und uns zur Ruhe
begeben, den Geist dahin aushauchend, von wo wir ihn tagtäglich
eingesogen, dahin zurücksinkend, woher der Keim zu unserm Dasein stammt,
woher wir durch so viele Jahre Speise und Trank nahmen, was uns durchs
Leben trug und wovon wir oft genug einen schlechten Gebrauch gemacht
haben.


5

Dein Scharfsinn ist es nicht, weswegen man dich bewundern muß. Aber
gesetzt auch, er könnte dir nicht abgesprochen werden, so wirst du doch
gestehen müssen, daß vieles andere mehr in deiner Natur liegt. Und dies
ist es nun, was du vor allem pflegen und kundgeben mußt, z.B. deine
Lauterkeit und deinen Ernst, deine Sündhaftigkeit und deine Abneigung
gegen sinnlichen Genuß, deine Zufriedenheit mit deinem Schicksal, deine
Mäßigkeit, Güte, Freisinnigkeit, Einfachheit, dein gesetztes würdevolles
Wesen. Und fühlst du nicht, was du alles hättest sein können? was deine
Natur und angeborenes Geschick so wohl zugelassen hätten, und bist es
dennoch schuldig geblieben? Oder war es die Mannhaftigkeit deiner
Naturanlage, was dich /zwang/, mürrisch zu sein und knickerig und ein
Schmeichler, ein Feind oder Sklave deines eigenen Leibes, ein eitler und
ehrgeiziger Mensch? Wahrlich, nein. Du könntest längst von diesen
Fehlern frei sein. Ist es aber wahr, daß du von Natur etwas schwerfällig
bist und langsam von Begriffen, so gilt es auch darin sich anzustrengen
und zu üben, nicht, diese Schwäche unberücksichtigt zu lassen oder gar
sich darin zu gefallen.


6

Es gibt Menschen, die, wenn sie jemand einen Gefallen getan haben, dies
gleich als eine Gunstbezeigung angesehen wissen wollen; ferner solche,
die, wenn sie auch nicht gerade solche Ansprüche erheben, doch sehr
genau wissen wollen, was sie getan haben, und den, dem sie wohlgetan,
bei sich selbst wenigstens als ihren Schuldner betrachten; endlich
solche, die gewissermaßen nicht wissen, was sie taten--dem Weinstock
gleich, der seine Trauben trägt und nichts weiter will, nachdem er die
ihm eigentümliche Frucht einmal hervorgebracht hat. Das Pferd, das
seinen Weg gelaufen ist, der Hund, der das Wild erjagt, und die Biene,
die ihren Honig bereitet hat, erhebt kein Geschrei, ruft niemand zu:
seht, das hab´ ich getan, sondern geht gleich zu etwas anderem über, wie
der Baum wieder neue Früchte ansetzt zu seiner Zeit. Und so soll´s auch
beim Menschen sein, wenn er ein gutes Werk vollbracht hat.--Also
wirklich, zu denen soll man gehören, die, was sie tun, gleichsam auf
unbegreifliche Weise tun? Ja; aber daß wir zu ihnen gehören, soll man
begreifen! Du sagst: ein Wesen, das zur Gemeinschaft geboren ist, müsse
doch wissen, wenn es seiner Bestimmung gemäß, d.i. wenn es für andere
handelt, und wahrlich doch auch wollen, daß dies der andere merke. Wohl
wahr, aber du machst davon nicht die richtige Anwendung, und darum bist
du nun einmal einer von denen, die ich eben beschrieben habe, denn auch
bei jenen ist es der Schein von Wahrheit, der sie irre leitet.
Jedenfalls aber würdest du mich mißverstehen, wenn du aus irgendeinem
Grunde es unterlassen wolltest, etwas zum Wohle anderer zu tun.


7

Die Athener beteten: "Regne, regne, lieber Zeus, auf die Äcker und
Wiesen der Athener!" Und man bete entweder gar nicht oder nur in dieser
Weise, einfältig und ohne Kunst.


8

Gerade, wie man sagt, daß der Arzt dem einen das Reiten, dem andern
kalte Bäder, dem dritten barfuß zu gehen /verordnete/, ebenso muß man
auch sagen, daß die Natur bald Krankheit, bald Verletzung, bald
schmerzliche Verluste zu /verordnen/ pflegt. Dort wendet man den
Ausdruck an, um zu bezeichnen, daß er den Menschen jene Mittel als der
Gesundheit entsprechend gegeben habe, und hier gilt es ja auch, daß
alles das, was einem widerfährt, ihm als dem allgemeinen Schicksal
entsprechend gegeben wird. Ebenso brauchen wir von unsern Schicksalen
den Ausdruck "sich fügen", wie ihn die Baumeister brauchen von den
Quadern, die bei Mauer- oder Pyramidenbauten sich schönstens
zusammenordnen. Denn durch alles geht eine große Harmonie. Und wie im
Reiche der Natur die Natur eines Einzelwesens nicht begriffen werden
kann außer im Zusammenhange aller andern Einzelwesen, so auch auf dem
Gebiete des Geschehens kein einzelner Umstand und Grund abgesehen von
allen übrigen: was denn auch der Sinn jener vulgären Ausdrucksweise ist,
wenn man sagt: es "/trug sich zu/", oder, es war ihm "/beschieden/".
Lasset uns also dergleichen hinnehmen, gleichwie jene nahmen, was
Äskulap ihnen verordnet; denn auch davon war manches bitter und wurde
süß nur durch die Hoffnung auf Genesung. Dieselbe Bedeutung aber, welche
für dich deine Gesundheit hat, muß auch die Erfüllung und Vollendung
dessen für dich haben, was im Sinne des Universums liegt, und du mußt
alles, was geschieht, und wäre es auch noch so wenig freundlich,
willkommen heißen, weil sein Ziel ja nichts anderes ist als die
Gesundheit der Welt, das Glück und Wohlbefinden des höchsten Gottes.
Hätte es sich doch gar nicht zugetragen, wenn es nicht für das Ganze
zuträglich gewesen wäre; hätte es doch kein Zufall so gefügt, fügte es
sich nicht harmonisch in die Verwaltung aller Dinge. Also zwei Gründe
sind, weshalb dir dein Schicksal gefallen muß. Der eine: weil es /dein/
Schicksal ist, weil es dir verordnet ward mit Rücksicht auf dich--von
oben her in ursächlicher Verkettung mit dem ersten Grunde. Der andere:
weil es der Grund des vollkommenen Glückes, ja fürwahr auch des
Bestehens dessen ist, der alles regiert. Denn es ist eine Verletzung des
Ganzen in seiner Vollständigkeit, wenn du den geringsten seiner
Bestandteile--und seine Bestandteile sind immer auch zugleich
Ursachen--aus seiner Verbindung und seinem Zusammenhange reißest.
Und--soweit das in deiner Hand steht, reißest du wirklich los und
trennst das Zusammengehörige, sobald du murrst über dein Schicksal.


9

Du darfst nicht unwillig werden, den Mut nicht sinken lassen oder gar
verzweifeln, wenn es dir nicht vollständig gelingt, immer nach richtigen
Grundsätzen zu handeln. Bist du von deiner Höhe heruntergefallen, erhebe
dich wieder, sei zufrieden, wenn nur wenigstens das meiste an dir nach
echter Menschenart ist, und laß dich beglücken von dem, was dir von
neuem gelang. Meine nicht, daß die Philosophie ein Zuchtmeister sei.
Greife zu ihr nur so wie die Augenkranken zum Schwamm oder zum Ei, wie
andere zum Pflaster oder zum Guß. Denn nichts wird dich zwingen, der
Vernunft zu gehorchen. Man muß sich ihr viel mehr vertrauensvoll
hingeben. Du weißt die Philosophie will nichts anderes, als was deine
Natur auch will. Du aber hast etwas anderes gewollt, etwas ihr
Widerstreitendes, weil es dir angenehmer schien. Die Lust macht uns
solche Vorspiegelungen. Aber besinne dich, ob Hochherzigkeit, Freiheit
des Geistes, Einfalt, Gleichmut, Sittenreinheit nicht doch das
Angenehmere sind. Oder was ist angenehmer als Weisheit, wenn man
darunter das nie Anstoßende, glatt Hinfließende der geistigen Kraft
versteht?


10

Das Wesen und die Bedeutung der Verhältnisse dieses Lebens sind im
allgemeinen in ein solches Dunkel gehüllt, daß sie nicht wenig
Philosophen und nicht bloß den gewöhnlichen als völlig unbegreiflich
erscheinen Auch die Stoiker bekennen, daß sie sie kaum verstehen. Dann
sind auch unsere Ansichten so höchst veränderlich. Es gibt ja keinen
Menschen, der sich in seinen Ansichten gleich bliebe. Ferner was nun die
"Güter" dieses Lebens anlangt, wie vergänglich und nichtig sind sie!
Können sie doch das Eigentum jedes Nichtswürdigen werden! Aber nicht
minder elend steht es mit dem Geist der Zeit. Selbst die beste seiner
Äußerungen, welche Mühe hat man sie zu ertragen, ja es kostet nicht
wenig, sich selber zu ertragen. Bei solcher Taubheit und Verkommenheit
der Zustände, bei diesem ewigen Wechsel des Wesens und der Form, bei
dieser Unberechenbarkeit der Richtung, die die Dinge nehmen--was da der
Liebe und des Strebens noch wert sein soll, vermag ich nicht zu sehen.
Im Gegenteil, es ist der einzige Trost, daß man der allgemeinen
Auflösung entgegengeht.--Drum trage geduldig die Zeit, die noch
dazwischen liegt, und beherzige nur das, daß nichts dir widerfahren
kann, was nicht in der Natur des Ganzen begründet liegt, und dann: daß
du die Freiheit hast, alles zu unterlassen, was wider die Stimme deines
Genius ist. Denn die zu überhören kann dich niemand zwingen.


11

Wozu gebrauchst du jetzt deine Seele? So muß man sich bei jeder
Gelegenheit fragen. Oder, was geht jetzt vor in dem Teile deines Wesens,
den man den vornehmsten nennt? Oder was für eine Seele hast du jetzt,
die eines Kindes oder eines Jünglings, eines Weibes, eines Tyrannen,
eines zahmen oder eines wilden Tieres?


12

Wie es im Grunde damit steht, was bei der Menge als das Gute gilt, kann
man auch daraus erkennen, daß jenes Wort eines alten Komikers: "denn für
den Edlen ziemt sich solches nicht" auf alle diese Scheingüter, wie
Reichtum Luxus, Ehre, anwendbar ist (wiewohl die Leute das allerdings
nicht gelten lassen wollen), während es auf wahre Güter, wie Klugheit,
Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, angewendet vollkommen widersinnig
wäre.


13

Woraus wir bestehen, ist Form und Inhalt. Keins von beiden aber wird ins
Nichts verschwinden, so wenig wie es aus dem Nichts hervorgegangen ist.
Sondern jeder Teil unseres Wesens wird durch Verwandlung übergeführt in
irgendeinen Teil des Weltganzen dieser geht dann wieder in einen andern
über und so ins Unendliche. Durch diesen Verwandlungsprozeß erhalte ich
mein Dasein, durch ihn erhielten es auch die, die mich erzeugten, und so
wieder rückwärts ins Unendliche. Denn "ins Unendliche" darf man wirklich
sagen, wenn auch der Weltlauf seine fest begrenzten Zeiträume hat.


14

Die Vernunft und die Lebenskunst sind Kräfte, die sich selbst genügen
und die keinen andern Richter über ihre Äußerungen haben als sich
selbst. Sie haben ihr Prinzip und ihre Ziele in sich, und richtig heißen
ihre Handlungen, weil durch sie der rechte Weg offenbar wird.


15

Nichts ist Sache des Menschen, was ihn als Menschen nichts angeht, was
von der menschlichen Natur weder gefordert noch verheißen wird, und was
zu ihrer Vollendung nichts beiträgt--was also auch kein Ziel
menschlichen Strebens sein oder ein Gut d.i. ein Mittel zu diesem Ziele
zu gelangen genannt werden kann. Wäre dies nicht, so hätten wir unrecht,
es als eine Pflicht des Menschen anzusehen, dergleichen Dinge zu
verachten und sich ihnen zu widersetzen, und dürften den nicht loben,
der ihrer nicht bedarf. Auch könnte, wenn dies Güter wären, der nicht
gut sein, der freiwillig dem Genusse solcher Dinge entsagt. Nun aber
sind wir in der Tat um so viel besser, je mehr wir solcher Dinge uns
enthalten, und je leichter wir ihren Mangel ertragen.


16

Wie die Gedanken sind, die du am häufigsten denkst, ganz so ist auch
deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige
sie also mit solchen wie die: daß man, wo man auch leben muß, glücklich
sein könne; daß alles um irgendeiner Sache willen gemacht sei, und wozu
es gemacht sei, dahin werde es auch getragen, und wohin es getragen
werde, da liege auch der Zweck seines Daseins, wo aber dieser, da sei
auch das ihm Zuträgliche und Heilsame. Das den vernünftigen Wesen
Heilsame aber ist die Gemeinschaft. Denn zur Gemeinschaft sind wir
geboren. Oder liegt es nicht auf der Hand, daß das Geringere um des
Besseren willen, die besseren Dinge aber füreinander da sind? Besser
aber als das Unbeseelte ist das Beseelte, und besser als dieses das
Vernünftige.


17

Nach dem Unmöglichen streben ist wahnsinnig; unmöglich aber ist es, daß
der gemeine Mensch anders als gemein handelt.


18

Nichts geschieht uns, was zu ertragen uns nicht natürlich wäre. Bei
manchen Schicksalen sind wir freilich nur aus Stumpfsinn oder aus
Prahlerei standhaft und unverwundbar. Und das ist eben das Traurige, daß
Gefühllosigkeit und Gefallsucht stärker sein sollen, als Einsicht!


19

Die Umstände sind es nun einmal durchaus nicht, wodurch die Seele
berührt wird; sie haben keinen Zugang zu ihr und können sie weder
umstimmen, noch irgend bewegen. Die Seele stimmt und bewegt sich einzig
selber, und je nach dem Urteil und der Auffassung zu der sie´s bringen
kann, gestaltet sie die Dinge, die vor ihr liegen.


20

Das Gesetz, das uns vorschreibt, den Menschen wohl zu tun und sie zu
ertragen, macht sie uns zu den befreundetsten Wesen. Insofern sie uns
aber hinderlich werden können, das uns Gebührende zu tun, ist mir der
Mensch etwas ebenso Gleichgültiges wie die Sonne, der Wind, das Tier.
Nur daß sich ihrem verderblichen Einflusse ja eben entgegentreten läßt.
Man entziehe sich ihnen oder suche sie umzuwandeln, so geschieht unserm
Streben und unserer Neigung kein Eintrag. Auf diese Weise verwandelt und
bildet die Seele ein Hindernis unseres Willens um in sein Gegenteil: was
unser Werk aufhalten sollte, gestaltet sich selbst zum guten Werke, und
ein Weg eröffnet sich eben da, wo uns der Weg versperrt ward.


21

Dem, was das Beste in der Welt ist, dem Wesen nämlich, das alles hat und
alles verwaltet, gebührt unsere Ehrfurcht. Nicht minder aber auch dem,
was das Beste in uns ist. Es ist jenem verwandt, da ja auch in uns etwas
ist, was alles andere hat und wovon dein ganzes Leben regiert wird.


22

Was dem Staate nicht schadet, schadet auch dem Bürger nicht. Diese Regel
halte fest, sooft du dir einbildest, daß dir ein Schaden geschieht.
Ist´s keiner für die Gemeinschaft, der du angehörst, dann auch keiner
für dich. Und wenn´s für jene keiner ist--kannst du dem Menschen zürnen,
der nichts getan hat, was dem Ganzen schadet?


23

Denke recht oft daran, wie alles, was ist und was geschieht, so schnell
wieder hinweggeführt wird und entschlüpft. Die ganze Materie ist ein
ewig bewegter Strom, alles Gewirkte und alles Wirkende ein tausendfacher
Wechsel, eine Kette ewiger Verwandlungen. Nichts steht fest. Vorwärts
und rückwärts eine Unendlichkeit in der alles verschwindet. Wie töricht
also jeder, der mit irgend etwas groß tut, oder von irgendeiner Sache
sich hin- und herreißen läßt oder darüber jammert, als ob der Kummer
nicht nur kurze Zeit währte.


24

Denke, welch ein winziges Stück des ganzen Weltwesens du bist, wie klein
und verschwindend der Punkt in der ganzen Ewigkeit, auf den du gestellt
bist, und dein Schicksal--welch ein Bruchteil des gesamten!


25

Hat mich jemand beleidigt--mag er selbst zusehen. Es ist seine Neigung,
seine Art zu handeln, der er folgte. Ich habe die meinige, so wie die
Natur des Alls sie mir gegeben, und ich handle so, wie meine Natur will,
daß ich handeln soll.


26

Der die Herrschaft führende Teil deines Wesens bleibe stets ungerührt
von den leisen oder heftigen Regungen in deinem Fleisch. Er mische sich
nicht hinein, beschränke sich auf sein Gebiet und umgrenze jene Reize in
den Gliedern. Steigen sie aber auf einem anderen Wege der
Mitleidenschaft zur Seele auf, die ja doch immer mit dem Leibe in
Verbindung bleibt, dann ist die Empfindung eine naturgemäße, und man
darf ihr nicht entgegen sein, nur daß die Vernunft nicht komme und ihr
Urteil hinzufüge, ob hier etwas gut oder böse sei.


27

Lebe mit den Göttern! D.h. zeige ihnen, daß deine Seele zufrieden sei
mit dem, was sie dir beschieden, daß sie tue, was der Genius will, den
uns der höchste Gott als ein Stück seiner selbst zum Leiter und Führer
gegeben hat. Dieser Genius aber ist der Geist, die Vernunft eines jeden.


28

Kannst du jemand zürnen, der ein körperliches Gebrechen hat? Er kann
nichts dafür, wenn seine Nähe dir widerwärtig ist. Ebenso betrachte nun
auch die sittlichen Mängel. Allein der Mensch, sagst du, hat seine
Vernunft, und kann erkennen, was ihm fehlt. Sehr richtig. Folglich hast
du deine Vernunft auch und kannst durch dein vernünftiges Verhalten
deinen Nächsten zur Vernunft bringen, kannst dich ihm offenbaren, ihn
erinnern, und so, wenn er dich hört, ihn heilen, ohne daß du nötig
hättest zu zürnen oder zu seufzen oder hoffärtig zu sein.


29

Wie du beim Abschied vom Leben über das Leben denken wirst, so darfst du
schon jetzt darüber denken und danach leben. Hindert man dich, dann
scheide freiwillig, doch so, als erführst du dabei nichts Übles. "Ein
Rauch ist alles? laßt mich gehen!" Warum scheint dir das so schwer?
Solange mich jedoch nichts dergleichen wirklich zwingt, die Welt zu
verlassen, will ich auch frei bleiben und mich von niemand hindern
lassen zu tun, was ich will. Denn was ich will, ist entsprechend der
Natur eines vernünftigen, für das Leben in der Gemeinschaft bestimmten
Wesens.


30

Der Geist des Alls ist gesellig. Er hat die Wesen niederer Gattung um
der höheren willen erzeugt und die der höheren zueinander gefügt. Man
kann es deutlich sehen, wie all sein Tun im Unterordnen und im Beiordnen
besteht, wie er einem jeglichen die Stellung gab, die seinem Wesen
entspricht, und die Wesen der höchsten Ordnung durch gleichen Sinn
einander einte.


31

Prüfe dich, wie du bis dahin dich verhalten hast gegen Götter, Eltern,
Brüder, Weib, Kinder, Lehrer, Erzieher, Freunde, Genossen und Diener; ob
du bis dahin keinem unter ihnen auf ungebührliche Weise begegnet bist
mit Wort und Werk. Erinnere dich, was du schon durchgemacht, und was du
imstande gewesen bist zu tragen. Wie leicht ist´s möglich, daß die
Geschichte deines Lebens bereits vollendet, dein Dienst vollbracht ist;
und wie viel Schönes hast du schon gesehen, wie oft ist´s dir vergönnt
gewesen, Freud und Leid gering zu achten, deinen Ehrgeiz zu unterdrücken
und gegen Unverständige verständig zu sein!


32

Warum betrüben rohe unerfahrene Gemüter die gebildeten und erfahrenen?
Aber welche Seele nennst du gebildet und erfahren? Die, welche den
Ursprung und das Ziel der Dinge und die Vernunft kennt, die das ganze
Universum durchdringt und durch die ganze Ewigkeit in bestimmten
Perioden alles verwaltet.


33

Wie lange noch, und du bist Staub und Asche! Und nur der Name lebt noch,
ja nicht einmal der Name; denn was ist er?--Ein bloßer Schall und
Nachklang. Und was im Leben am meisten geschätzt wird, ist nichtig,
faul, von größerer Bedeutung nicht, als wenn sich ein paar Hunde
herumbeißen oder ein paar Kinder sich zanken, jetzt lachend und dann
wieder weinend. Glaube aber und Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Wahrheit--

--"zum Olymp, der weitstraßigen Erde entflohen!" Was also hält dich hier
noch fest? Alles sinnlich Wahrnehmbare ist unbeständig und fort und fort
der Verwandlung unterworfen, die Sinne selbst sind trüb und leicht zu
täuschen und was man Seele nennt, ein Aufdampfen des Bluts. Ein
Berühmtsein in solcher Welt, wie eitel! So bleibt nur übrig, geduldig zu
warten bis wir verlöschen und unsere Stelle wechseln, und bis das
geschieht, die Götter zu ehren und zu preisen, den Menschen wohl zu tun,
sie zu ertragen oder sich ihnen zu entziehen. Was aber außerhalb der
Grenzen deines Körper- und Seelenwesens liegt, kann weder dein werden,
noch dich irgend angehen.


34

Stets kann es dir gut gehen, wenn du richtig wandelst, rechtschaffen
denkst und tust. Denn von jedem denkenden Wesen, sei es Gott oder
Mensch, gilt dieses Zwiefache: einmal, daß es in seinem Laufe von einem
andern nicht aufgehalten werden kann, und zweitens, daß sein größtes Gut
in der gerechten Sinnes- und Handlungsweise besteht, und sein Streben
darüber nicht hinausgeht.


35

Wenn dies oder jenes, das sich ereignet, nicht meine Schlechtigkeit noch
die Folge meiner Schlechtigkeit ist, noch ein Schaden, der das Ganze
trifft, was kann es mir verschlagen? Nur muß man darüber im klaren sein,
in welchem Falle das Ganze betroffen wird.


36

Nie darfst du dich mit deinen Gedanken von den andern losmachen, sondern
mußt ihnen helfen nach besten Kräften und in dem rechten Maße. Sind sie
freilich nur in unwesentlichen Dingen heruntergekommen, so dürfen sie
das nicht für einen wirklichen Schaden halten. Es ist nur eine schlimme
Gewohnheit. Du für deine Person mache es also immer wie jener Greis, der
beim Weggehen von einem spielenden Kinde sich dessen Kreisel geben ließ,
obwohl er recht gut wußte, daß es nur ein Spielzeug war. Oder wolltest
du, ständest du vor dem Richterstuhl und hörtest die Frage, ob du nicht
wüßtest, was es mit diesen Dingen auf sich habe, antworten: "Ja, aber
sie schienen doch dem und jenem so wünschenswert?" und dann den
wohlverdienten Spruch empfangen: "Also, darum mußtest auch du ein Narr
sein!"--So sei denn endlich einmal, und gerade wenn du recht verlassen
bist, ein glücklicher Mensch, d.i. ein Mensch, der sich das Glück selbst
zu bereiten weiß, d.i. die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze
und die guten Handlungen.




Sechstes Buch


1

Der Stoff der Welt ist bildsam und gefügig, aber etwas Böses kann der
ihn beherrschende Geist damit aus sich selbst heraus nicht vornehmen,
weil Schlechtes in ihm gar keine Statt hat. Durch ihn kann nichts zu
Schaden kommen, und es ist nichts, was sich nicht ihm gemäß gestaltete
und vollendete.


2

Darauf darf dir nichts ankommen, ob du vor Kälte klappernd oder im
Schweiß gebadet deine Pflicht tust; ob du dabei einschläfst oder des
Schlafes überdrüssig wirst; ob du dadurch in schlechten oder in guten
Ruf kommst; ob du darunter das Leben einbüßest oder sonst etwas leiden
mußt. Denn auch das Sterben ist ja nur eine von den Aufgaben des Lebens.
Genug, wenn du sie glücklich lösest, sobald sie dir vorliegt.


3

Sieh auf den Grund jeder Sache! Ihre Eigenschaften dürfen deinem Blick
ebensowenig wie ihr Wert entgehen.


4

In der Sinnenwelt verwandelt sich alles sehr schnell und löst sich
entweder auf, wenn die Körperwelt ein Ganzes bleibt, oder zerstreut sich
in Atome.


5

Die alles beherrschende Vernunft weiß wohl, in welcher Stellung sie sich
befindet und auf welche Art von Stoff sie wirkt.


6

Die beste Art, sich an jemand zu rächen, ist, es ihm nicht gleich zu
tun.


7

Darin allein suche deine Freude und Erholung, mit dem Gedanken an Gott
von einer Liebestat zur andern zu schreiten!


8

Das nenne ich die Seele oder das die Herrschaftführende im Menschen, was
ihn weckt und lenkt, was ihn zu dem macht, was er ist und sein will, und
was bewirkt, daß alles, was ihm widerfährt, ihm so erscheine, wie er´s
haben will.


9

Jegliches Ding vollendet sich gemäß der Natur des Ganzen, nicht in
Gemäßheit eines andern Wesens, das etwa die Dinge von außen umgebe oder
eingeschlossen wäre in ihrem Innern oder gar völlig getrennt von ihnen.


10

Entweder es ist alles ein Gebräu des Zufalls, Verflechtung und
Zerstreuung, oder es gibt eine Einheit, eine Ordnung, eine Vorsehung.
Nehm ich das erstere an, wie kann ich wünschen in diesem planlosen
Gemisch, in dieser allgemeinen Verwirrung zu bleiben? Was könnte mir
dann lieber sein, als so bald wie möglich Erde zu werden? Denn die
Auflösung wartete meiner, was ich auch anfinge. Ist aber das andere, so
bin ich mit Ehrfurcht erfüllt und heiteren Sinnes und vertraue dem
Herrscher des Alls.


11

Wenn in deiner Umgebung etwas geschieht, was dich aufbringen und empören
will, so ziehe dich rasch in dich selbst zurück, und gib den Eindrücken,
die deine Haltung aufs Spiel setzen, dich nicht über Gebühr hin. Je
öfter wir die harmonische Stimmung der Seele wiederzugewinnen wissen,
desto fähiger werden wir, sie immer zu behaupten.


12

Wenn du eine Stiefmutter und eine rechte Mutter zugleich hättest, so
würdest du zwar jene ehren, deine Zuflucht aber doch stets bei dieser
suchen. Ebenso ist es bei mir mit dem Hofleben und der Philosophie. Hier
der Ort, wo ich einkehre, hier meine Ruhestätte. Auch ist es die
Philosophie, die mir jenes erträglich macht und die mich selbst
erträglich macht an meinem Hofe.


13

Es ist gar nicht so unrecht, wenn man sich beim Essen und Trinken sagt:
also dies ist der Leichnam eines Fisches, dies der Leichnam eines
Vogels, eines Schweines usw. und beim Falernerwein: dies hier der
ausgedrückte Saft einer Traube, oder beim Anblick eines Purpurkleides:
Was du hier siehst, sind Tierhaare in Schneckenblut getaucht--denn
solche Vorstellungen geben uns ein Bild der Sache, wie sie wirklich ist,
und dringen in ihr inneres Wesen ein.--Man mache es nur überhaupt im
Leben so, entkleide alles, was sich uns als des Strebens würdig
aufdrängt, seiner Umhüllung, und sehe von dem äußeren Glanze ab, mit dem
es wichtig tut. Der Schein ist ein gefährlicher Betrüger. Gerade wenn du
glaubst mit ernsten und hohen Dingen beschäftigt zu sein, übt er am
meisten seine täuschende Gewalt.


14

Die Menge legt den höchsten Wert auf den Besitz rein sinnlicher Dinge.
Teils sind es Dinge von festem und natürlichem Zusammenhalt, wie Steine
und Holzarten, z.B. Feigenbäume, Weinstöcke und Ölbäume. Höher hinauf
fängt man an den Nutzen einzusehen, den uns die belebte Natur leistet,
wie Herden von Groß- oder Kleinvieh, und noch eine Stufe höher die
Brauchbarkeit der in unserm Dienst stehenden Einzelvernunft. Wer aber
nichts Edleres und Höheres kennt, als das allgemeine Vernunftwesen, dem
ist jenes alles geringfügig und unbedeutend. Er hat kein anderes
Interesse, als daß seine Vernunft der allgemeinen Menschenvernunft
entspreche und so sich jederzeit bewege, und daß er andere
seinesgleichen ebendahin bringe.


15

Hier ist etwas, das im Werden begriffen ist, dort etwas, das geworden
sein möchte; und doch ist jedes Werdende zum Teil auch schon vergangen.
Dieses Fließen und Wechseln erneuert die Welt fort und fort, wie der
ununterbrochene Schritt der Zeit die Ewigkeit erneuert. Wolltest du nun
auf etwas, das diesem Strome angehört der nimmer still steht, einen
besonderen Wert legen, so würdest du einem Menschen gleichen, der eben
anfinge, einen vorüberfliegenden Sperling in sein Herz zu schließen,
gerade wenn er seinen Blicken auch schon entschwunden ist. Ist doch das
Leben selbst nichts anderes als das Verdunsten des Bluts und das
Einatmen der Luft. Und sowie du, was du eingezogen hast, im
nächstfolgenden Augenblick immer wieder hingibst, so wirst du auch
dieses ganze Atmungsvermögen, das du gestern oder vorgestern empfingst,
wieder hingeben.


16

Nicht das ist das Wichtige, daß wir ausatmen wie die Pflanzen, einatmen
wie die Tiere, oder daß wir die Bilder der Dinge in unserer Vorstellung
haben, daß wir durch Triebe in Bewegung gesetzt werden, daß wir uns
zusammenscharen, oder daß wir uns nähren--denn dieselbe Bedeutung hat
auch das Ausscheiden der überflüssigen Nahrung; auch nicht, daß wir
beklatscht werden--und die Ehre ist größtenteils nichts anderes. Sondern
daß man der uns eigentümlichen Bildung gemäß sich gehen lasse oder an
sich halte, worauf ja jedes Studium und jede Kunst gerichtet ist. Denn
jede Arbeit will nichts anderes als die Dinge ihrem Zweck gemäß
gestalten, wie man am Weingärtner, am Pferdebändiger, am Lehrer und
Pädagogen sehen kann. In dieser gestaltenden Tätigkeit liegt der ganze
Wert unseres Daseins. Steht es damit gut bei dir, so brauchst du dir um
andere Dinge keine Sorge zu machen. Hörst du aber nicht auf, auf eine
Menge anderer Dinge Wert zu legen, so bist du auch noch kein freier,
selbständiger, leidenschaftsloser Mensch, sondern stets in der Lage,
neidisch und eifersüchtig und hinterlistig zu sein gegen die, die
besitzen, was du so hochstellst, und argwöhnisch, daß es dir einer
nehmen möchte, und in Verzweiflung, wenn es dir fehlt, und voll Tadel
gegen die Götter. Ist es aber die Gesinnung allein, die deinen Wert und
deine Würde in deinen Augen ausmacht, so wirst du dich selber achten,
deinen Nebenmenschen gefallen und die Götter loben und preisen können.


17

Aufwärts und niederwärts--ein Kreislauf ist die Bewegung der Urstoffe.
Auch die Tugend geht ihren Gang, doch er ist ganz anderer Art, mehr so
wie der Lauf, den das Göttliche nimmt. Mag er auch schwer zu begreifen
sein: das sieht man, daß sie vorwärts schreitet.


18

Was tut man? Die Zeitgenossen mag man nicht rühmen, aber von den
Nachkommen, die man nicht kennt noch jemals kennen wird, will man
gerühmt werden. Ist das nicht gerade so, wie wenn´s dich schmerzte, daß
deine Vorfahren nichts von dir zu rühmen hatten?


19

Denke nicht, wenn dir etwas schwer fällt, es sei nicht menschen-möglich.
Und was nur irgendeinem Menschen möglich und geziemend ist, davon sei
überzeugt daß es auch für dich erreichbar sein wird.


20

Wenn uns in der Fechtschule jemand geritzt oder beim Ringen einen Schlag
versetzt hat, so tragen wir ihm das gewiß nicht nach, fühlen uns auch
nicht beleidigt und denken nichts Übles von dem Menschen; wir nehmen uns
wohl vor ihm in acht, aber nicht als vor einem Feinde, der uns
verdächtig sein müßte, sondern nur so, daß wir ihm ruhig aus dem Wege
gehen. Machten wir es doch im Leben auch so! Ließen wir doch da auch so
manches unbeachtet, was uns von denen widerfährt, mit denen wir ringen.
Es steht uns ja immer frei, den Leuten, wie ich´s genannt habe, aus dem
Wege zu gehen, ohne Argwohn und ohne Groll.


21

Wenn mich jemand überzeugen und mir beweisen kann, daß meine Ansicht
oder meine Handlungsweise nicht die richtige sei, so will ich sie mit
Freuden ändern. Denn ich suche die Wahrheit, sie, die niemand Schaden
zufügt. Wohl aber nimmt Derjenige Schaden, der auf seinem Irrtum und
seiner Unwissenheit beharrt.


22

Ich suche das meinige zu tun: alles übrige, alles was leblos oder
vernunftlos oder seines Weges unkundig und verirrt ist, geht mich nichts
an und kann mich nicht irremachen.


23

Die unvernünftigen Tiere und alle vernunftlosen Dinge, die dir, dem
Vernunftbegabten zu Gebote stehen, magst du mit edlem, freiem Sinn
gebrauchen. Die Menschen aber, die ebenso vernunftbegabten, brauche so,
daß du auf die Verbindung Rücksicht nimmst, in der du von Natur mit
ihnen stehst. Und bei allem, was du tust, rufe die Götter an, ohne dir
Sorge zu machen um das "Wie lang?", denn selbst drei Stunden Lebensfrist
genügten!


24

Alexander der Große und sein Maultiertreiber sind beide an denselben Ort
gegangen. Entweder wurden sie beide in dieselben Kräfte der zu immer
neuen Schöpfungen bereiten Welt aufgenommen, oder sie lösten sich beide
auf gleiche Weise in ihre Atome auf.


25

Bedenke, wie vielerlei in einem jeden unter uns in einem und demselben
Augenblick zugleich vorgeht, sei´s Leibliches, sei´s Geistiges. So
kannst du dich nicht wundern, wenn so viel mehr, wenn alles, was
geschieht in dem einen und allen, das wir Welt nennen, zugleich
vorhanden ist.


26

Wenn jemand dich fragte, wie der Name Antonin geschrieben wird, würdest
du da nicht jeden Buchstaben deutlich und mit gehaltener Stimme angeben?
Warum machst du´s nicht auch so, wenn jemand mit dir zankt? Warum zankst
du wieder und bringst deine Worte nicht ruhig und gemessen vor? Auf die
Gemessenheit kommt´s an bei jeder Pflichterfüllung. Bewahre sie dir, laß
dich nicht aufbringen, leide den, der dich nicht leiden kann, und gehe
ruhig deines Weges.


27

Welch ein Mangel an Bildung, wenn du den Menschen verbieten willst, nach
dem zu streben, was ihnen gut und nützlich scheint! Und doch tust du´s
gewissermaßen immer, wenn du darüber Klage führst, daß sie unrecht
handeln. Denn auch dabei sind sie doch stets um das bemüht, was ihnen
gut und nützlich ist. Du sagst, es sei nicht so, es sei nicht das
wahrhaft Nützliche. Darum belehre sie und zeige es ihnen, ohne darüber
zu klagen.


28

Der Tod ist das Ausruhen von den Widersprüchen der sinnlichen
Wahrnehmungen, von den Regungen unserer Leidenschaften, von den
Entwicklungen unseres Geistes und von dem Dienst des Fleisches.


29

Schändlich ist es, wenn die Seele in deinem Leben eher den Dienst
versagt, als der Leib ermüdet ist.


30

Nimm dich in acht ein Tyrann zu werden, es liegt etwas Ansteckendes in
dieser Hofluft. Bewahre deine Einfalt, Tugend, Reinheit, Würde, deine
Natürlichkeit, Gottesfurcht, deine Gerechtigkeitsliebe, deine Liebe und
Güte und deinen Eifer in Erfüllung der Pflicht. Ringe danach, daß du
bleibst, wie dich die Philosophie haben will. Ehre die Götter und sorge
für das Heil der Menschen! Das Leben ist kurz. Daß es dir eine Frucht
nicht schuldig bleibe: die heilige Gesinnung, aus der die Werke für das
Wohl der andern fließen! Drum sei in allen Stücken ein Schüler deines
Vorgängers Antonin! so beharrlich und fest wie er im Gehorsam gegen die
Gebote der Vernunft, so gleichmütig in allen Dingen, so ehrwürdig und
heiter und warm, auch im Äußeren, so freundlich, so fern von jeder
Ruhmbegier und doch so eifrig, alles zu begreifen und in sich zu
verarbeiten! Unterließ er doch nichts, wovon er sich nicht zuvor
gründlich überzeugt hätte, daß es untunlich sei; ertrug er doch geduldig
alle, die in ungerechter Weise tadelten, ohne sie wieder zu tadeln.
Nichts betrieb er auf eilfertige Manier, und niemals fanden
Verleumdungen bei ihm Gehör. Wie selbständig war sein Urteil über die
Sitten und Handlungen seiner Umgebung! Darum war er auch gänzlich fern
von Schmähsucht oder von Ängstlichkeit, von Mißtrauen oder von der
Sucht, andere zu meistern. Wie wenig Bedürfnisse er hatte, konnte man
sehen an seiner Art zu wohnen, zu schlafen, sich zu kleiden, zu speisen
und sich bedienen zu lassen. Und wie geduldig war er und langmütig!
Seine freundschaftlichen Verbindungen hielt er fest; er konnte die gut
leiden, die seinen Ansichten offen widersprachen, und sich freuen über
jeden, der ihm das Bessere zeigte. Dabei hat er die Götter geehrt, ohne
in Aberglauben zu verfallen. Und so nimm ihn dir zum steten Vorbild,
damit du so wie er dem Tode mit gutem Gewissen entgegengehen kannst.


31

Besinne dich, komm wieder zu dir. Wie du beim Aufwachen gesehen, daß es
Träume waren, was dich beunruhigt hat: siehe auch das, was dir im Wachen
begegnet, nicht anders an!


32

Für den Leib des Menschen ist alles gleichgültig, d.h. eine
unterschiedslose Masse, denn er hat die Fähigkeit nicht zu
unterscheiden. Aber auch für die Seele ist alles gleich, was nicht ihre
eigene Tätigkeit betrifft. Alles aber, was eine Wirkung der Seele ist,
hängt auch lediglich von ihr ab, vorausgesetzt, daß sie sich auf etwas
Gegenwärtiges bezieht. Denn was sie zu tun haben wird oder getan hat,
ist auch kein Gegenstand für sie.


33

Keine Arbeit für meine Hände oder meine Füße ist widernatürlich, solange
sie nur in den Bereich dessen fällt, was Hände und Füße zu tun haben.
Ebenso gibt es für den Menschen als solchen keine Anstrengung, die man
unnatürlich nennen könnte, sobald der Mensch dabei tut, was menschlich
ist. Ist sie aber nichts Unnatürliches, dann ist sie gewiß auch nichts
Übles.


34

Was sind´s für Freuden, die der Ehebrecher, Räuber, Mörder, der Tyrann
empfindet?


35

Siehst du nicht, wie der gewöhnliche Künstler sich zwar nach dem
Geschmack des Publikums zu richten weiß, aber doch an den Vorschriften
seiner Kunst festhält und ihren Regeln zu genügen strebt? Und ist es
nicht schlimm, wenn Leute wie der Architekt, der Arzt das Gesetz ihrer
Kunst besser im Auge behalten, als der Mensch das Gesetz seines Lebens,
das er gemein hat mit den Göttern?!


36

Was ist Asien und Europa? ein paar kleine Stückchen der Welt. Was ist
das ganze Meer? ein Tropfen der Welt. Und der Athos? eine Weltscholle.
Alles ist klein, veränderlich, verschwindend. Aber alles kommt und geht
hervor oder folgt aus jenem allwaltenden Geiste. Und das Schädliche und
Giftige ist nur ein Anhängsel des Wohltätigen und Schönen. Denke nicht,
daß es mit dem, was du verehrst, nichts zu schaffen habe; sondern siehe
bei allem nur immer auf die Quelle!


37

Wer sieht, was heute geschieht, hat alles gesehen, was von Ewigkeit war
und in Ewigkeit sein wird. Denn es ist alles von derselben Art und
Gestalt.


38

Alle Dinge stehen untereinander in Verbindung und sind insofern einander
befreundet. Eines folgt dem andern und bildet mit ihm eine Reihe, durch
die Gemeinschaft des Ortes oder des Wesens vermittelt.


39

Schmiege dich in die Verhältnisse, die dir gesetzt sind, und liebe die
Menschen, mit denen du verbunden bist, liebe sie wahrhaft!


40

Jedes Werkzeug und Gefäß ist gut, wenn es imstand ist zu leisten, wozu
es gemacht wurde, wenn auch der, der es verfertigte, längst fort ist. In
der Natur aber tragen alle Dinge die sie bildende Kraft in sich und
behalten sie, solange sie selber sind. Und um so ehrwürdiger erscheint
diese Kraft, je mehr du ihrem Bildungstriebe folgst, d.h. je mehr sich
alles in dir nach dem Geiste richtet. Denn im Universum richtet sich
auch alles nach dem Geiste.


41

Solange du etwas, was keine Sache des Vorsatzes und des freien Willens
ist, für gut oder böse hältst, so lange kannst du auch nicht umhin, wenn
dich ein Unfall betrifft oder das Glück ausbleibt, die Götter zu tadeln
oder die Menschen zu hassen als die Urheber deines Unglücks,
die--vermutlich wenigstensschuld sind, daß du leidest. Und so verführt
uns dieser Standpunkt zu mancher Ungerechtigkeit. Wenden wir dagegen die
Begriffe Gut und Böse nur bei den Dingen an, die in unserer Macht
stehen, so fällt jeder Grund weg, Gott anzuklagen und uns feindlich zu
stellen gegen irgendeinen Menschen.


42

Wir alle arbeiten an der Vollendung eines Werkes, die einen mit
Bewußtsein und Verstand, die anderen unbewußt. Sogar die Schlafenden
nennt, wenn ich nicht irre, Heraklit Arbeiter, Mitarbeiter an dem, was
in der Welt geschieht. Aber jeder auf andere Art. Luxusarbeit ist die
Arbeit des Tadlers, dessen, der den Ereignissen entgegenzutreten wagt
und das Geschehene ungeschehen machen will. Denn auch solche Leute
braucht das Weltganze. Und du mußt wissen, zu welchen du gehörst. Er,
der alles Verwaltende wird sich deiner schon auf angemessene Weise
bedienen und dich schon aufnehmen in die Zahl der Mitarbeiter und
Gehilfen. Du aber sorge dafür, daß du nicht bist wie jener schlechte
Vers im Gedicht, dessen Chrysipp gedenkt!


43

Will denn die Sonne leisten, was der Regen leistet? Will Äskulap als
Fruchtspender etwas hervorbringen? Will auch nur einer von den Sternen
ganz dasselbe, was der andere will? Und doch fördern alle dasselbe Werk.


44

Wenn die Götter überhaupt über mich und über das, was geschehen soll,
ratschlagen, dann ist ihr Rat auch ein guter. Denn einmal, einen
ratlosen Gott kann man sich nicht leicht vorstellen. Und dann, aus
welchem Grunde sollten sie mir weh tun wollen? Was könnte dabei für sie
oder für das Ganze, dem sie besonders vorstehen, herauskommen? Betreffen
ihre Beratungen aber nicht meine besonderen Angelegenheiten so doch
gewiß die allgemeinen der Welt, aus denen dann auch die meinigen sich
ergeben, und die ich willkommen heißen und lieben muß. Kümmern sie sich
aber um gar nichts, was wir jedoch nicht glauben dürfen--und was würde
dann aus unsern Opfern, unsern Gebeten, unsern Eidschwüren und aus alle
dem, was wir lediglich in der Voraussetzung zu tun pflegen, daß die
Götter da sind und daß sie mit uns leben?--aber gesetzt, sie kümmerten
sich nicht um meine Angelegenheiten, so liegt es doch mir selbst ob, mich
darum zu kümmern. Denn dazu habe ich meine Vernunft daß ich weiß, was
mir dienlich ist.


45

Was überall und jedem geschieht, ist dem Ganzen zuträglich. Schon dies
wäre hinreichend. Doch bei genauer Beobachtung wirst du überall auch
das noch finden: Was dem einen widerfährt, ist auch dem andern
zuträglich. Hier ist nämlich das Wort "zuträglich" allgemein zu
verstehen, auch von den gleichgültigsten Dingen.


46

Was du im Theater und an ähnlichen Orten empfindest, wo sich deinem Auge
ein und dasselbe Schauspiel immer wieder darbietet bis zum Ekel, das
hast du im Leben eigentlich fortwährend zu leiden. Denn alles, was
geschieht, von welcher Seite es auch kommen mag, ist doch immer
dasselbe. Wie lange wird´s nur noch dauern?


47

Stelle dir beständig die Gestorbenen jeden Standes, jeder Berufsart und
jeden Stammes vor, steige in dieser Reihe bis zu einem Philistion, einem
Phöbus und Origanion hinunter! Dann gehe zu den anderen Klassen über!
Auch wir müssen ja unsere Wohnung dorthin verlegen, wo so viele
gewaltige Redner, so viele ehrwürdige Philosophen, wie Heraklit,
Pythagoras und Sokrates, ferner so viele Helden der Vorzeit, so viele
Heerführer und Gewaltherrscher späterer Tage und außer diesen Eudorus,
Hipparch, Archimedes und andere scharfsinnige, hochherzige,
arbeitslustige, gewandte, selbstgefällige Geister, ja selbst jene
spöttischen Verächter des hinfälligen kurzdauernden Menschenlebens, wie
ein Menippus und so viele andere seiner Art verweilen. Von diesen allen
stelle dir vor, daß sie längst beigesetzt sind. Was liegt nun für sie
Furchtbares darin? Was denn für jene, deren Namen überhaupt nicht mehr
genannt werden? Da ist eines nur von hohem Wert, nämlich Wahrheit und
Gerechtigkeit getreu durchs ganze Leben zu üben, auch im Kampf gegen
Lügner und Ungerechte.


48

Willst du dir eine Freude bereiten, so richte deinen Blick auf die
trefflichen Eigenschaften deiner Zeitgenossen und siehe, wie der eine
ein so hohes Maß von Tatkraft, der andere von Bescheidenheit besitzt,
wie freigebig der dritte ist usf. Denn nichts ist so erquicklich als das
Bild von Tugenden, die sich in den Sitten der mit uns Lebenden
offenbaren und reichlich unserm Blick sich darbieten. Darum halte es dir
nun auch beständig vor Augen!


49

Ärgert´s dich, daß du nur so viel Pfund wiegst und nicht mehr? So sei
auch nicht ärgerlich darüber, daß dir nicht länger zu leben bestimmt
ist. Denn wie jeder zufrieden ist mit seinem Körpergewicht, so sollten
wir alle auch zufrieden sein mit der uns zugemessenen Lebensdauer.


50

Komm, wir wollen versuchen sie zu überreden! Handle aber auch gegen
ihren Willen, wenn es Gerechtigkeit und Vernunft gebieten. Hindern sie
uns mit Gewalt, so benutzen wir dieses Hemmnis zur Übung in einer andern
Tugend, im Gleichmut und in der Seelenruhe. Denn alles, was wir
erstreben, erstreben wir ja nur unter gewissen Voraussetzungen. Halten
diese nicht Stich--wer wird das Unmögliche wollen? Nur daß unser Streben
ein edles war! Denn ein solches trägt seinen Lohn in sich selbst--wie
alles, was wir tun, wenn wir unserer innersten Natur gehorchen.


51

Der Ehrgeizige setzt sein Glück in die Tätigkeit eines andern, der
Vergnügungssüchtige in die eigene Leidenschaft, der Vernünftige in seine
Handlungsweise.


52

Du hast es gar nicht nötig, dir über irgendeine Sache Gedanken zu machen
und deine Seele zu beschweren. Denn eine absolute Notwendigkeit zum
Urteil liegt niemals in den Dingen.


53

Gewöhne dich, wenn du jemand sprechen hörst, so genau als möglich
hinzuhören, und dich in seine Seele zu versetzen.


54

Was dem Schwarm nicht zuträglich ist, taugt auch nichts für die einzelne
Biene.


55

Dem Gelbsüchtigen schmeckt der Honig bitter; der von einem tollen Hunde
Gebissene scheut das Wasser; das Kind kennt nichts Schöneres als seinen
Ball. Wie kannst du zürnen? Verlangst du, daß der Irrtum weniger Einfluß
haben soll als eine kranke Galle, als ein dem Körper eingeflößtes Gift?


56

Niemand kann dich hindern, dem Gesetze deiner eigensten Natur zu folgen.
Was du im Widerspruch mit der allgemeinen Menschennatur tust, wird dir
nicht gelingen.--


57

Wollten die Schiffsleute den Steuermann, die Kranken den Arzt schmähen,
würden sie dann sonst noch auf jemand achten? Aber wie sollte jener der
Mannschaft eine glückliche Landung oder dieser den Leidenden Genesung
verschaffen?


58

Wie viele von denen, mit denen ich zusammen die Welt betreten habe, sind
schon wieder daraus geschieden!


59

Wer sind die, denen man gefallen möchte, und um welcher Vorteile willen
und durch welcherlei Mittel? Wie schnell wird die Zeit alles
verschlingen und wie vieles hat sie schon verschlungen!




Siebentes Buch


1

Was ist Schlechtigkeit? Nichts anderes, als was du schon oft gesehen
hast. Und so halte bei jedem Zufall den Gedanken bereit: "Es ist nur
etwas, das du schon oft gesehen hast." Dann wirst du erkennen, daß
alles, wovon die Geschichte alter, mittlerer und neuer Zeit handelt, und
womit sich der Staat wie die Familie jetzt beschäftigt, in jeder
Beziehung das nämliche sei. Nichts Neues, alles gewöhnlich und von
kurzer Dauer.


2

Deine Lebensgrundsätze werden stets ihre Gültigkeit für dich behalten,
solange dir die ihnen entsprechenden Grundbegriffe nicht abhanden
gekommen sind. Das aber kannst du verhindern, indem du dieselben immer
wieder zu neuem Leben in dir anfachst und über das, was notwendig ist,
nicht aufhörst nachzudenken--: wobei dich nichts zu stören vermag, weil
alles, was zu deinem Gedankenleben von außen hinzutritt, als solches
keinen Einfluß auf dasselbe hat. Halte dich also nur so, daß es dir
äußerlich bleibt! Hast du aber deine Lebenshaltung einmal eingebüßt: Du
kannst sie wieder gewinnen. Sieh die Dinge wieder gerade so an, wie du
sie angesehen hattest! Darin besteht alles Wiederaufleben.


3

Das Leben ist freilich weiter nichts als ein eitles Jagen nach Pomp, als
ein Bühnenspiel, wo Züge von Last- und anderem Vieh erscheinen, oder ein
Lanzenrennen, ein Herumbeißen junger Hunde um den hingeworfenen Knochen,
ein Geschnappe der Fische nach dem Bissen, die Mühen und Strapazen der
Ameisen, das Hin- und Herlaufen unruhig gemachter Fliegen, oder ein
Guckkasten, wo ein Bild nach dem andern abschnurrt: aber mitten in
diesem Getreibe festzustehen mit ruhigem und freundlichem Sinn, das eben
ist unsere Aufgabe.


4

Bei einer Rede gilt es achtzuhaben auf die Worte, bei einer Handlung auf
den erstrebten Erfolg. Dort ist die Frage nach der Bedeutung jedes
Ausdrucks, hier handelt sich´s um den Zweck, der verfolgt wird.


5

Die Frage ist, ob meine Einsicht ausreicht, was ich mir vorgenommen,
auszuführen oder nicht. Genügt sie, so brauche ich sie als ein
Werkzeug, das die Natur mir an die Hand gegeben. Reicht sie nicht aus,
dann überlasse ich entweder das Werk dem, der besser imstande ist es zu
vollbringen, wofern dies nicht für mich geradezu unziemlich ist, oder
ich handle so gut ich kann mit Zuziehung dessen, den zur Vollendung
eines gemeinnützigen Werkes eben meine Einsicht als Ergänzung bedarf.
Denn alles, was ich tue, mag ich es nun durch meine eigene Kraft oder
mit Hilfe eines andern zustande bringen--dem Wohl des Ganzen muß es
immer dienen.


6

Wieviel Hochgepriesene sind bereits der Vergessenheit überantwortet und
wie viele, die ihnen Loblieder sangen, sind schon hinweggeräumt!


7

Du hast dich nicht zu schämen, wenn du Hilfe brauchst. Tu nur dein
Mögliches! wie bei der Erstürmung einer Mauer jeder Soldat eben auch nur
sein Möglichstes tun muß! Denn wenn du gelähmt auch die Brustwehr allein
nicht erklimmen kannst, bist du es mit Hilfe eines andern wohl imstand.


8

Laß dich das Zukünftige nicht anfechten! Du wirst, wenn´s nötig ist,
schon hinkommen, getragen von derselben Geisteskraft, die dich das
Gegenwärtige beherrschen läßt.


9

Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu
nichts ist sich fremd. Eines schließt sich dem anderen an und schmückt
mit ihm vereint dieselbe Welt. Aus allem, was ist, bildet sich doch nur
die eine Welt; in allem, was ist, lebt nur der eine Gott. Es ist nur ein
Stoff und ein Gesetz, in den vernunftbegabten Wesen die eine Vernunft.
Nur eine Wahrheit gibt´s und für die Wesen derselben Gattung auch nur
eine Vollkommenheit.


10

Alles Stoffliche verschwindet gar bald im Urstoff des Ganzen und jede
wirkende Kraft wird gar bald in die Vernunft des Ganzen aufgenommen.
Aber ebenso schnell findet die Erinnerung an alles ihr Grab im ewigen
Zeitlauf.


11

Für die vernünftigen Wesen ist eine naturgemäße Handlungsweise auch
immer zugleich eine vernunftgemäße.


12

Von selbst stehe aufrecht--nicht aufrecht gehalten!


13

Was in dem einzelnen Organismus die Glieder des Leibes, das sind in dem
Gesamtorganismus die einzelnen vernunftbegabten Wesen. Auch sie sind zum
Zusammenwirken geschaffen. Sagst du dir nur recht oft: Du seist ein
Glied in dem großen System der Geister, so kann ein solcher Gedanke
nicht anders als dich aufs tiefste berühren. Siehst du dich aber nur als
einen Teil dieses Ganzen an, so liebst du die Menschen auch noch nicht
von Herzen, so macht dir das Gutestun noch nicht an sich selbst Freude,
so übst du es nur als eine Pflicht, so ist es noch keine Wohltat für
dich selber.


14

Mag den Teilen, die durch den Stoß berührt werden können, von außen her
zustoßen, was da will, dann mögen sich die beschädigten Teile, wenn sie
wollen, beschweren. Ich habe jedoch, solange ich ein Ereignis nicht für
ein Übel halte, noch nicht dabei gelitten. Es aber nicht dafür zu
halten, steht mir ja ganz frei.


15

Der Smaragd spricht: was auch einer tun oder sagen mag, ich muß Smaragd
sein und meine Farbe bewahren. So sprech auch ich: mag einer tun und
sagen, was er will, ich muß die Tugend bewahren.


16

Die Seele beunruhige und erschrecke sich nicht. Kann´s ein anderer, mag
er´s tun. Sie selbst für sich sei solchen Regungen unzugänglich. Daß
aber der Leib nichts leide, dafür mag er, wenn er kann, selbst sorgen,
und wenn er leidet, mag er´s sagen. Doch die Seele, der eigentliche Sitz
der Furcht und jeder schmerzlichen Empfindung, kann nicht leiden, wenn
du ihr nicht die Meinung, daß sie leide, erst beibringst. Denn an und
für sich, und wenn sie sich nicht selbst die Bedürfnisse schafft, ist
die Seele bedürfnislos und deshalb auch, wenn sie sich nicht selbst
beunruhigt, unerschütterlich.


17

Glücklich sein heißt einen guten Charakter haben. Was machst du also
hier, Einbildung? Geh um der Götter willen, wie du kamst, denn ich
brauche dich nicht! Du bist gekommen nach deiner alten Gewohnheit Ich
zürne dir nicht, nur geh fort!


18

Wäre es möglich, daß dir der Wechsel, dem alles unterworfen ist, Furcht
einjage? Was könnte denn geschehen, wenn sich die Dinge nicht
veränderten? Was gibt es Angemesseneres für die Natur als diese
Veränderung? Könntest du dich denn nähren, wenn die Speisen sich nicht
verwandelten? Überhaupt hängt von dieser Eigenschaft der Nutzen jedes
Dinges ab. Und siehst du nun nicht, daß die Veränderung, der du
unterworfen bist, von derselben Art und ebenso notwendig ist für das
Ganze?


19

Alle Körper nehmen durch das Weltall, wie durch einen reißenden Strom,
ihren Lauf und sind, wie die Glieder unseres Leibes untereinander, so
mit jenem Ganzen innig verbunden und wirken mit ihm. Wie manchen
Chrysipp, wie manchen Sokrates, wie manchen Epiktet hat schon die Welle
verschlungen! Diesen Gedanken hege beim Anblick jedes Menschen und jedes
Gegenstands.


20

Das eine liegt mir am Herzen, daß ich nichts tue, was dem Willen
dermenschlichen Natur zuwider ist, oder was sie in dieser Art oder was
sie gerade jetzt nicht will.


21

Bald wird alles bei dir und bald wirst auch du bei allen vergessen sein.


22

Es ist ein dem Menschen eigentümlicher Vorzug, daß er auch die liebt,
die ihm weh getan haben. Und es gelingt ihm, wenn er bedenkt, daß
Menschen Brüder sind, daß sie aus Unverstand und unfreiwillig fehlen,
daß beide, der Beleidigte und der Beleidiger nach kurzer Zeit den Toten
angehören werden, und vor allem: daß eigentlich niemand ihm schaden,
d.h. sein Inneres schlechter machen kann als es vorher gewesen.


23

Wie man aus Wachs etwas formt, so formt die Allnatur aus den Urstoffen
die verschiedenen Wesen; jetzt das Roß, dann, wenn dieses zerschmolz,
den Baum, bald den Menschen, bald etwas anderes, und ein jegliches nur
zu kurzem Bestand. Aber wie es dem Kistchen gleichgültig war, daß man´s
gezimmert, so auch, daß man es nun wieder auseinander nimmt.


24

Ein zorniges Gesicht ist widernatürlich. Wenn die Sanftmut im Innern
erstirbt, erlischt auch die äußere Zier, daß sie nicht überall wieder
angefacht werden kann. Schon daraus geht hervor, daß jeder grollende
Blick vernunftwidrig ist. Wem das Gewissen ausgegangen, der hat keine
Ursache zu leben.


25

In kurzem wird die allwaltende Natur alles, was du siehst, verwandeln
und aus demselben Stoff andere Dinge bereiten und aus deren Stoff wieder
andere Dinge, damit sich die Welt immer verjüngt.


26

Sobald dir jemand weh getan hat, mußt du sogleich untersuchen, welche
Ansicht über Gut und Böse ihn dazu vermochte. Denn sowie dir dies klar
geworden wirst du Mitleid fühlen mit ihm und dich weder wundern noch
erzürnen. Entweder nämlich findest du, daß du über das Gute gar keine
wesentlich andere Ansicht hast als er; und dann mußt du ihm verzeihen.
Oder du siehst den Unterschied; dann aber ist´s ja nicht so schwer,
freundlich zu bleiben dem, der--sich geirrt hat.--


27

Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, als an das, was du hast. Und
wenn dir bewußt wird, was von diesem das Allerbeste sei, mußt du dir
klarmachen, wie du´s gewinnen könntest, im Fall du es nicht besäßest. Je
zufriedener dich aber sein Besitz macht, um so mehr mußt du dich hüten,
ihn mit einem solchen Wohlgefallen zu betrachten, daß dich sein Verlust
beunruhigen könnte.


28

Ziehe dich in dich selbst zurück! Die uns beherrschende Vernunft ist ja
so beschaffen, daß sie am Rechttun und an der daraus hervorgehenden Ruhe
Genügen findet.


29

Mache den Einbildungen ein Ende! Hemme den Zug der Leidenschaften!
Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt! Mache dich mit dem vertraut, was
dir oder einem anderen begegnet. Trenne und zerlege alles in seine
Urkraft und seinen Stoff. Gedenke der letzten Stunde! Fehler, die andere
begehen, laß ruhen, wo sie begangen sind.


30

Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf das, wovon gesprochen wird,
versenke deinen Geist in die Betrachtung der Begebenheiten und ihrer
Ursachen.


31

Dein Schmuck sei Einfalt, Bescheidenheit und Gleichgültigkeit gegen
alles, was zwischen Tugend und Laster in der Mitte liegt. Liebe das
Menschengeschlecht, folge der Gottheit! Alles, sagt jemand, geschieht
nach bestimmten Gesetzen, ob Götter sind oder ob aus Atomen alles
entsteht, gleichviel. Genug eben, daß alles gesetzmäßig ist.


32

Vom Tod: Der Tod ist Zerstreuung oder Auflösung in Atome oder
Vernichtung, ein Auslöschen oder ein Versetzen.


33

Vom Schmerz: Ist er unerträglich, führt er auch den Tod herbei; ist er
anhaltend, so läßt er sich auch ertragen. Wenn nur die Seele dabei an
sich hält, bewahrt sie auch ihre Ruhe und leidet keinen Schaden. Die vom
Schmerz getroffenen Glieder mögen dann, wenn sie können, sich selbst
darüber aussprechen.


34

Vom Ruhm: Betrachte die Gesinnungen der Ruhmsüchtigen, von welcher Art
sie sind und was sie einerseits meiden und andererseits suchen! Bedenke
ferner: Wie bei den übereinandergewirbelten Sandhügeln, die früher
hergewehten von den später aufgehäuften bedeckt werden, so wird auch im
Leben das Frühere vom Späteren bedeckt.


35

Plato fragt: "Wem hoher Sinn und Einsicht in die Zeiten und in das Wesen
der Dinge verliehen ward--glaubst du, daß der das menschliche Leben für
etwas Großes halten kann?" und er antwortet: "Unmöglich kann ich´s."
Nun, und ebenso unmöglich ist´s, daß ich den Tod für etwas Furchtbares
halte.


36

Ein Ausspruch des Antisthenes: "Königlich ist´s, wohlzutun und
Schmähungen ruhig über sich ergehen zu lassen."


37

Schändlich ist´s, wenn die Seele nur Macht hat über unsere Mienen, nicht
über sich selbst, wenn sie nur jene, nicht aber sich selber
umzugestalten vermag.


38

Wie kann dich denn bald dies, bald jenes ärgern, das dich doch nichts
angeht?


39

Freude den ewigen Göttern! doch uns auch Freude verleihe!


40

Die Früchte sind zum Pflücken, so das Leben auch. Hier keimt das Leben,
dort der Tod.


41

Wenn ich samt Kind von den Göttern einmal verlassen bin, Grund ist auch
dafür.--


42

Was recht und gut, trag´ ich mit mir herum.


43

Mit andern weinen oder jubeln, nicht geziemt´s.


44

Blicke oft zu den Sternen empor--als wandeltest du mit ihnen. Solche
Gedanken reinigen die Seele von dem Schmutz des Erdenlebens.


45

Platonische Aussprüche: "Diesem würde ich mit Recht antworten: du
urteilst unrichtig, o Mensch, wenn du meinst, daß ein Mann, der auch nur
einigen Wert hat, die bedenkliche Wahl zwischen Leben und Sterben ins
Auge fassen und nicht vielmehr nur das erwägen soll, ob, was er tue,
recht oder unrecht und die Tat eines Guten oder Schlechten sei."


46

"So verhält es sich in der Tat, ihr Männer von Athen. Den Posten, auf
den einer, in der Meinung, daß es der beste sei, sich selbst gestellt
hat oder auf den er von seinem Feldherrn gestellt worden ist, muß
er--dünkt mich--auch in Gefahr behaupten und dabei weder Tod noch irgend
etwas anderes mehr in Betracht ziehen, als die Schande."


47

"Sieh gut zu, mein Freund, ob das Edle und Gute nicht in etwas anderem
bestehe als in Erhaltung eines fremden oder des eigenen Lebens! Denn wer
wirklich ein Mann ist, soll nicht wünschen, so oder so lange zu leben,
noch mit feiger Liebe am Leben hängen, sondern die Bestimmung hierüber
Gott überlassen und glauben, was selbst die Weiber wissen, daß auch
nicht einer seinem Schicksal entrinne, er denke nur daran, wie er die
ihm noch beschiedene Lebenszeit so gut als möglich verbringe."


48

Schön ist, was Plato gesagt hat, daß, wer vom Menschen reden wolle, das
Irdische gleichsam von einem höheren Standpunkt aus betrachten müsse. So
die Versammlungen, Kriegszüge, Feldarbeiten, Ehen, Friedensschlüsse,
Geburten, Todesfälle, lärmenden Gerichtsverhandlungen, verödeten
Ländereien, die mancherlei fremden Völkerschaften, ihre Feste,
Totenklagen, Jahrmärkte, diesen Mischmasch aus den fremdartigsten
Bestandteilen.


49

Betrachte die Vergangenheit, den steten Wechsel der Herrschaft. Daraus
kannst du auch die Zukunft vorhersehen, denn sie wird durchaus
gleichartig sein und kann unmöglich von der Regel der Gegenwart
abweichen. Daher ist es auch einerlei, ob du das menschliche Leben
vierzig oder zehntausend Jahre hindurch erforschest. Was wirst du mehr
sehen?


50

"Zur Erde muß, was von der Erde stammt;
Doch zu des Himmels Pforte drängt
Jegliche Art, die seiner Flur entsprossen--"
Was nichts anderes besagt, als daß sich die ineinander verschlungenen
Atome trennen und die empfindungslosen Elemente sich zerstreuen.


51

"Durch Essen, Trinken und durch andres Gaukelwerk sind wir bemüht, den
Tod uns fern zu halten. Doch müssen wir den Fahrwind, der von oben
streicht, Sei´s auch zu unserm Leid, hinnehmen ohne Weh."


52

Mag jemand immerhin kampfgeübter sein als du! Er sei nur nicht
menschenfreundlicher, nicht anspruchsloser, nicht ergebener in das
Schicksal, nicht nachsichtsvoller den Fehlern der Nebenmenschen
gegenüber.


53

Bei einer Wirksamkeit, die sich nach göttlichem und menschlichem Gesetz
vollzieht, ist niemals Gefahr. Nichts hast du zu befürchten, sobald
deine Tätigkeit, ihr Ziel in aller Ruhe verfolgend, sich nur auf eine
deiner Bildung angemessene Art entfaltet.


54

Immer steht es bei dir, das gegenwärtige Geschick zu segnen, mit denen,
die dir grade nahe stehen, nach Recht und Billigkeit zu verfahren, und
die Gedanken, die sich dir eben darbieten, ruhig durchzudenken, ohne
dich an das Unbegreifliche zu kehren.


55

Sieh dich nicht nach den leitenden Grundsätzen anderer um, sondern halte
den Blick auf das Ziel gerichtet, worauf dich die Natur hinweist, sowohl
die Allnatur durch das Schicksal als deine eigene durch deine Pflichten.
Jeder aber hat die Folgen seiner Natur zu tragen. Nun sind aber die
übrigen Wesen wegen der Vernünftigen geschaffen, wie überhaupt alles
weniger Edle für das Edlere. Die Vernunftwesen aber sind eines um des
anderen willen da. Der erste Trieb des Menschen ist sein Trieb zur
Geselligkeit, das zweite in ihm die Überlegenheit gegenüber sinnlichen
Reizen. Denn vernünftiger und verständiger Tatkraft ist es eigen, sich
selbst zu beschränken und weder den Anforderungen der Sinne noch der
Triebe je zu unterliegen. Beide sind tierisch. Die Vernunft will aber
den Vorrang haben und sich nicht von jenen meistern lassen und das mit
Recht. Denn sie ist von Natur dazu da, sich jener überall zu ihren
Zwecken zu bedienen. Der dritte Vorzug in der Einrichtung eines
vernünftigen Wesens besteht darin, nicht blindlings beizupflichten, noch
sich täuschen zu lassen. Mit diesen Vorzügen ausgestattet, gehe die
herrschende Vernunft vorwärts. Und sie hat, was ihr gebührt.


56

Lebe so, als solltest du jetzt scheiden und als wäre die dir noch
vergönnte Zeit ein überflüssiges Geschenk.


57

Liebe das, was dir begegnet und zugemessen ist, denn was könntest du
ziemlicher tun?


58

Bei allem, was dir widerfährt, stelle dir diejenigen vor Augen, denen
dasselbe widerfahren ist, und die sich dabei widerwillig, voll eitler
Verwunderung oder höchst vorwurfsvoll bewiesen haben. Denn wolltest du
diesen wohl gleichen? oder wolltest du nicht lieber solche ungehörige
Eigenschaften anderen überlassen, selbst aber nur darauf achten, wie du
deine Erfahrungen zu benutzen hast? Und du wirst sie aufs beste
benutzen, sie werden dir einen herrlichen Stoff liefern, wenn du keine
andere Absicht hast, als dich bei allem, was du tust, als edler Mensch
zu zeigen, dessen eingedenk, daß alles andere gleichgültig für dich ist
nur nicht, wie du handelst!


59

Blicke in dein Inneres! Da drinnen ist eine Quelle des Guten, die nimmer
aufhört zu sprudeln, wenn du nur nicht aufhörst nachzugraben.


60

Auch der Körper muß eine feste Haltung haben und weder in der Bewegung
noch in der Ruhe diese Festigkeit verleugnen. Denn wie deine Seele auf
deinem Gesicht zu lesen ist und eben darum deine Mienen zu beherrschen
und zu formen weiß, so soll auch der ganze Körper ein Ausdruck der Seele
sein. Aber wohlgemerkt! ohne gesuchte Pose!


61

Dieselbe Kunst, die in den Kampfspielen gilt, wo man gerüstet sein muß
auch auf solche Streiche, die unvorhergesehen, plötzlich kommen,
herrscht auch im Leben.


62

Kenntest du die Quellen, aus denen bei so vielen Urteile und Interessen
fließen, du würdest nach der Menschen Lob und Zeugnis nicht begierig
sein.


63

Keine Seele, heißt es irgendwo, kommt anders um die Wahrheit als wider
ihren Willen. Nicht anders also auch um die Gerechtigkeit und Mäßigkeit
und Güte, um alle diese Tugenden.--Je mehr man das beherzigt, desto
milder wird man gegen alle.


64

Bei jeder Unlust sei dir der Gedanke zur Hand, daß sie nichts
Entehrendes sei, noch die herrschende Denkkraft verschlimmere. Denn
weder an und für sich als etwas Körperliches betrachtet, noch in ihrem
Verhältnis zur Gesellschaft, kann diese von jener zerrüttet werden. Doch
möge dir bei den meisten schmerzlichen Empfindungen der Ausspruch
Epikurs dienlich sein, daß sie ebensowenig unerträglich als ewig dauernd
sind, wofern du nur ihrer Grenzen eingedenk bist und nichts
hinzudichtest. So manches ist dem Schmerze eng verwandt, was nur mehr
auf verborgene Weise lästig wird, z.B. Schläfrigkeit, innere Glut,
Appetitlosigkeit. Drum sage dir, wenn so etwas dich trifft, nur
geradezu: du erliegst ja dem Schmerz.


65

Hüte dich selbst gegen Unmenschen so gesinnt zu sein, wie Menschen gegen
Menschen gesinnt zu sein pflegen.


66

Woher wissen wir, ob nicht Telauges eine edlere Denkungsart hatte, als
Sokrates? Denn hier ist es nicht genug, daß Sokrates auf ruhmvollere Art
starb, daß er in seinen Unterredungen mit den Sophisten größere
Gewandtheit zeigte, daß er mit mehr Geduld die Nacht unter dem eiskalten
Himmel zubrachte, daß er dem Befehle, den Salaminier herbeizuführen,
sich, wie es schien, mit noch größerer Seelenstärke widersetzte, daß er,
was man, selbst wenn es wahr wäre, allermeist bezweifeln möchte, auf den
Straßen stolz einherschritt, sondern man muß vielmehr folgende Fragen in
Erwägung ziehen: Wie war Sokrates´ Seele beschaffen? Genügte ihm die
Gerechtigkeit gegen Menschen und die Frömmigkeit gegen die Götter? Hat
er sich nie ohne Grund über die Schlechtigkeit anderer geärgert, nie
ihrer Unwissenheit nachgegeben? Hat er die vom Ganzen ihm zugeteilten
Geschicke nie mit Befremden ausgenommen oder unter sie, als unter ein
unerträgliches Joch, sich gebeugt? Nie seine Vernunft zur Genossin der
Leiden des armseligen Fleisches gemacht?


67

Die Natur hat dich nicht so dem großen Teig einverleibt, daß du dich
nicht eingrenzen und das deinige allein aus dir selbst heraus tun
könntest. Du kannst fürwahr ein göttlicher Mensch sein, ohne von
irgendeiner Seele gekannt zu werden. Und magst du daran verzweifeln, in
der und jener Wissenschaft oder Kunst jemals dich auszuzeichnen: ein
freier, edler, hilfreicher, gottesfürchtiger Mensch kannst du immer
werden.


68

Unverrückt kannst du dein Leben in höchster Geistesfreudigkeit
hinbringen, wenn auch alle Menschen nach Herzenslust ein Geschrei wider
dich erheben und wenn auch wilde Tiere die schwachen Glieder dieses um
dich angesammelten Fleischgemenges zerreißen sollten. Denn was hindert
dich, deiner denkenden Seele trotz alledem ihre Heiterkeit, ein
richtiges Urteil über die Umstände und eine erfolgreiche Benutzung der
ihr dargebotenen Gelegenheiten zu bewahren? Dann sagt das Urteil zum
Ereignis: "Das bist du dem Wesen nach, auch wenn du der Meinung nach
anders erscheinst!" und die Benutzung spricht zur Gelegenheit: "Dich
suchte ich eben; denn immer bietet mir die Gegenwart Stoff zur Ausübung
einer vernünftigen und staatsbürgerlichen Tugend und überhaupt einer
Kunst, die eines Menschen oder Gottes würdig ist." Steht ja doch jedes
Begegnis im innigsten Bezuge zu Gott oder zum Menschen und ist mithin
nichts Unerhörtes oder schwer zu Behandelndes, sondern vielmehr etwas
Bekanntes und Leichtes.


69

Die sittliche Vollkommenheit bringt es mit sich, daß wir jeden Tag leben
können, als wäre er der letzte, frei von Zorn, Schlaffheit und
Verstellung.


70

Den unsterblichen Göttern ist es keine Last, die ganze Ewigkeit hindurch
fortwährend eine solche Masse Nichtswürdiger zu dulden--vorausgesetzt,
daß sie sich um sie kümmern. Und du--du wolltest ungeduldig werden? und
bist vielleicht gar selbst einer von den Bösen?


71

Lächerlich ist es, der Schlechtigkeit anderer aus dem Wege gehen zu
wollen, was unmöglich ist, aber der eigenen nicht, was doch möglich ist.


72

Was die vernünftige und zu staatsbürgerlicher Tugend berufene Tatkraft
nicht vernünftig, noch gemeinnützig findet, das hält sie mit gutem Grund
unter der Würde.


73

Wenn du ein gutes Werk getan und dem anderen wirklich wohl getan hast,
warum bist du dann gar so töricht, ein Drittes zu begehren, nämlich den
Ruhm ob solcher Tat oder irgendeine Vergeltung?


74

Niemand wird es überdrüssig, sich Vorteile zu verschaffen. Vorteil
verschaffen aber ist eine Tätigkeit an die wir von Natur gewiesen sind.
Darum werde nie müde, dir Vorteile zu verschaffen, indem du selber
Vorteil schaffst.


75

Die Allnatur fühlte den Drang zur Weltschöpfung. Nun aber geschieht
alles, was geschieht, nach dem Gesetz der notwendigen Folge, oder es ist
auch das Wichtigste dessen Verwirklichung die weltbeherrschende Vernunft
eigens anstrebt, ohne Grund vorhanden. In vielen Fällen wird es deine
Seelenruhe erhöhen, wenn du dessen eingedenk bist.




Achtes Buch


1

Mag es immerhin deinen Ehrgeiz herabdrücken, daß du nicht allezeit, daß
du zumal in deiner Jugend nicht wie ein Philosoph gelebt hast, sondern
vielen anderen und dir selbst auch als ein Mensch erschienen bist, der
von der Philosophie weit entfernt ist, so daß es dir nicht leicht sein
dürfte, dir noch das Ansehen eines Philosophen zu verschaffen. Ein
solcher Strich durch deine Rechnung ist nur heilsam. Genügen muß es dir
nun, von jetzt an so zu leben, wie es deine Natur vorschreibt. Achte
also darauf, was sie will, und laß dich durch nichts davon abbringen. Du
hast so manches versucht, dich hierhin und dorthin gewendet, aber
nirgends dein Glück gefunden, nicht im Spekulieren, nicht im Reichtum,
nicht in der Ehre, nicht in der Sinnenlust, nirgends. Wo ist es denn nun
wirklich? Nur im Tun dessen, was die menschliche Natur begehrt. Und wie
gelangt man dazu? Dadurch, daß man die Grundsätze festhält, aus denen
ein solches Streben und Handeln mit Notwendigkeit hervorgeht, die
Grundsätze, daß dem Menschen nichts gut sei, was ihn nicht gerecht,
mäßig, standhaft und frei macht, und daß nichts böse sei, was nicht das
Gegenteil von alledem hervorbringt.


2

Bei jeder Handlung frage dich: wie steht es eigentlich damit? wird es
dich auch nicht gereuen? Eine kurze Zeit nur noch, und du bist tot und
alles hat aufgehört. Wenn aber das, was du vorhast, einem Wesen geziemt,
das Vernunft hat, auf die Gemeinschaft angewiesen ist und nach denselben
Gesetzen wie die Götter leben soll, was verlangst du mehr?


3

Was sind Alexander, Cajus und Pompejus gegen Diogenes, Heraklit und
Sokrates? Denn diese hatten die Welt der Dinge erforscht und kannten den
Grund und die Weise ihres Bestehens, und ihre Seelen blieben sich immer
gleich. Bei jenen aber, welche Furcht vor den Dingen und welche
Abhängigkeit von ihnen!


4

--Nur fein ruhig und gelassen: sie werden dasselbe tun, auch wenn du
dich zerrissest!


5

Zunächst laß dich nicht beunruhigen, alles geht seinen Gang, wie es der
Natur gemäß ist. Noch eine kurze Frist und du bist nirgends mehr, wie
Hadrian und Augustus. Dann fasse deine Lebensaufgabe unverwandten Blicks
ins Auge und denke daran, daß du ein guter Mensch sein sollst. Was die
menschliche Natur von dir fordert, tue unbeirrt, sage nur, was dir
durchaus gerecht erscheint und dies auf wohlwollende, bescheidene und
offenherzige Art.


6

Es ist Aufgabe der großen Natur, das Vorhandene von einer Stelle zur
anderen zu versetzen, es umzumodeln, wegzuräumen und neu einzupflanzen.
Alles ist Wechsel! Man darf also das Neue nicht bang erwarten. Alles ist
Gewohnheit, aber auch alles gleichmäßig verteilt.


7

In der gesamten Natur liegt die Tendenz, sich wohlzuverhalten. Die Natur
der vernunftbegabten Wesen ist aber nur dann in ihrem normalen Zustande,
wenn sie, was das Gedankenleben betrifft, weder der Unwahrheit, noch dem
Unerkannten beifällt, wenn sie die Strebungen der Seele nur auf
gemeinnützige Werke richtet, unseren Neigungen und Abneigungen nur
solche Gegenstände gibt, die in unserer Macht stehen, und wenn sie alles
billigt, was die gesamte Natur über uns verhängt. Denn sie ist ein Teil
dieser Allnatur, wie die Natur des Blattes ein Teil der Baumnatur ist,
nur daß diese als fühllose und vernunftlose in ihrem Bestehen gehemmt
werden kann, während die menschliche Natur ein Teil der ungehinderten,
vernünftigen und gerechten Natur ist, vor der die zu ihr gehörigen
Einzelwesen untereinander gleich sind, indem sie jedem von Zeit und
Stoff und Form und Fähigkeit so viel gibt, als seinem Wesen entspricht,
eine Gleichheit, die wir freilich nicht sehen, wenn wir die Einzelwesen
untereinander vergleichen, sondern nur, wenn wir deren Gesamtheit mit
der der andern Ordnung zusammenhalten.


8

So manches geziemt sich nicht zu jeder Zeit. Wohl aber geziemt sich´s
immer, den Stolz zurückzudrängen, Freud und Leid gering zu achten, über
ehrgeizige Gelüste erhaben zu sein, gefühllosen und undankbaren Menschen
nicht zu zürnen, ja vielmehr sich ihrer anzunehmen.


9

Niemand höre hinfort von dir, daß du das Leben am Hofe überhaupt oder
nur das deinige tadelst.


10

Die Reue ist eine Selbstanklage darüber, daß man sich einen Vorteil hat
entgehen lassen. Das Gute aber ist notwendigerweise vorteilhaft und
somit auch die Sorge des guten und edlen Menschen. Dagegen hat wohl noch
nie der edle Mensch darüber Reue gefühlt daß er sich ein Vergnügen hat
entgehen lassen; woraus zu entnehmen ist, daß die Lust nichts
Vorteilhaftes und nichts Gutes ist.


11

Was ist dieser Gegenstand hier seinem Wesen und seinen Eigenschaften
nach? Was ist er nach seinem Stoff? Welche Kraft wirkt in ihm? Was tut
er in der Welt und wie lange ist seine Dauer?


12

Sooft du verdrossen vom Schlaf erwachst, bedenke, daß gemeinnützige
Handlungen deinen Anlagen und deinem Charakter entsprechen, der Schlaf
dir aber mit den vernunftlosen Tieren gemeinsam ist. Was nun der Natur
eines jeden Wesens entspricht, ist demselben verwandter, angemessener,
ja sogar angenehmer.


13

Ohne Unterlaß und womöglich bei jedem Gedanken wende die Lehren der
Physik, der Ethik und der Dialektik an!


14

Sobald du weißt, was für Ansichten und Grundsätze einer hat über Gut und
Böse, über Lust und Schmerz und über die Wirkungen beider, über Ehre und
Schande, Leben und Sterben, kann dir nicht wunderbar und fremdartig
vorkommen, was er tut; du weißt alsdann: er ist gezwungen, so zu
handeln. Und ferner wenn sich doch kein Mensch darüber wundert, daß der
Feigenbaum Feigen trägt, und der Arzt nicht, wenn jemand das Fieber hat,
noch der Steuermann wenn der Wind entgegensteht; warum also befremdlich
finden, daß das Weltganze hervorbringt, was dem Keime nach in ihm liegt?


15

Seine Meinung zu ändern, und dem, der sie berichtigt, Gehör zu schenken,
ist nichts, was unsere Selbständigkeit aufhebt. Es ist ja doch auch dann
dein Trieb und Urteil, dein Sinn, aus welchem deine Tätigkeit
hervorgeht.


16

Lag´s an dir, warum hast du´s getan? War ein anderer schuld, wem willst
du Vorwürfe machen? Den Atomen oder den Göttern? Beides ist Unsinn. Du
hast niemand Vorwürfe zu machen. Suche den, der schuld war, eines
Besseren zu belehren, oder wenn dies nicht möglich, bessere an der Sache
selbst. Aber auch, wenn dieses nicht angeht, wozu dienen die Vorwürfe?
Man muß eben nichts ohne Überlegung tun.


17

Was stirbt, kommt darum noch nicht aus der Welt. Aber wenn es auch hier
bleibt, verändert es sich doch und löst sich auf in seine Grundstoffe,
in die Elemente der Welt und in deine. Und auch diese ändern sich--ohne
Murren.


18

Jedes Wesen, z.B. ein Pferd, ein Weinstock, dient irgendeinem Zweck. Was
Wunder? Auch die Sonne wird dir sagen: "Ich muß wirken" und ebenso die
übrigen Gottheiten. Wozu gibt´s dich? Etwa zu sinnlichen Freuden? Sieh
doch einmal zu, ob vernünftiges Nachdenken das gestattet!


19

Es ist mit jedem Dinge, seinem Ende, Ursprunge und Bestehen nach nicht
anders wie mit einem Ball, den jemand wirft. Ist´s etwas Gutes, wenn er
in die Höhe steigt, oder etwas Schlimmes, wenn er niederfährt und zur
Erde fällt? Was ist´s für eine Wohltat für die Wasserblase, wenn sie
zusammenhält, und was für ein Leid, wenn sie zerplatzt? Und ebenso das
Licht, wenn es brennt und wenn es verlischt?


20

Drehe einmal das Innere deines Körpers nach außen und sieh, welcher Art
es ist, wenn Alter, Krankheit, Ausschweifung ihn aufreiben! Kurz dauert
sowohl das Leben dessen, der lobt, als dessen, der gelobt wird, dessen,
der eines anderen gedenkt und dessen gedacht wird. Überdies geschieht
dies ja nur in einem kleinen Winkel der Erde und selbst da stimmen nicht
alle überein. Und die ganze Erde ist nur ein Punkt.


21

Was du tust, setze stets in Beziehung auf der Menschen Wohlfahrt; was
dir widerfährt, nimm hin und beziehe es auf die Götter, als auf die
Quelle aller Dinge, aus der jegliches Geschehen herausfließt.


22

Habe acht auf das, was dir gerade vorliegt, sei es eine Ansicht oder ein
Geschehnis oder ein Ausdruck! Sonst geschieht dir ganz recht. Du willst
lieber erst morgen gut werden, als es heute schon sein.


23

Was siehst du beim Baden? Öl, Schweiß, Schmutz, klebriges Wasser--lauter
ekelerregende Dinge. Von ebender Art ist jeder einzelne Teil des Lebens
und was darin vorkommt.


24

Lucilla sah den Verus sterben, nachher starb auch Lucilla, Secunda den
Marimus und dann folgte ihm Secunda, Epitynchanus den Diotimus und bald
folgte diesem Epitynchanus, Antoninus die Faustina und dann folgte ihr
Antoninus nach, Celer den Hadrian und dann starb auch Celer. So ging´s
mit allen.


25

Jene scharfsinnigen Menschen, jene Zukunftsdeuter, jene Hohlköpfe--wo
sind sie? Wo, z.B., die scharfsinnigen Männer wie Charax, Demetrius, die
Platoniker, Eudämon und andere der Art? Alle vergänglich und längst
schon tot. Von einigen hat sich nicht einmal auf kurze Zeit ein Andenken
erhalten. Aus anderen wurden Helden der Fabel; andere wiederum
verschwanden bereits aus dieser Reihe. Gedenke also dessen, daß auch
dein Körperbau sich auflösen, sein Lebensgeist erlöschen oder auswandern
oder sich versetzen lassen muß.


26

Die Freude der Menschen besteht darin, wahrhaft menschlich zu handeln.
Wahrhaft menschlich ist aber das Wohlwollen gegen seinesgleichen,
Verachtung der Sinnenreife, Unterscheidung bestechender Vorstellungen,
Betrachtung der Allnatur und ihrer Wirkungen.


27

Für den Menschen sind dreierlei Beziehungen wichtig, erstens die zu
seiner eigenen, ihn umgebenden Körperhülle, zweitens die zu seinem
göttlichen Ursprung der alles bewirkt, und drittens zu den Zeitgenossen.


28

Der Schmerz ist entweder für den Leib ein Übel--dann geht er nur diesen
etwas an--oder eines für die Seele. Die Seele kann aber ihre Heiterkeit
und Ruhe bewahren und den Schmerz deshalb für kein Übel nehmen. Denn
Urteil, Trieb, Neigung und Abneigung haben sämtlich ihren Sitz im
Innern. Und kein Übel kann da eindringen.


29

Unterdrücke deine Einbildungen und sage dir bei jeder Gelegenheit: Nun
steht es doch bei mir allein, keine Bosheit, keine Begierde und
überhaupt keine Leidenschaft in der Seele aufkommen zu lassen. Dagegen
will ich alles nach seinem Wesen betrachten und seinem Wert entsprechend
benutzen. Vergiß nicht diese dir von der Natur geschenkte Gabe!


30

Rede würdevoll im Senat wie im geselligen Verkehr, ohne affektiert zu
werden. Rede mit gesunder Vernunft!


31

Der Hof des Augustus, seine Gemahlin, seine Tochter, seine Enkel, seine
Stiefsöhne, seine Schwester, Agrippa, seine Verwandten, Hausgenossen und
Freunde, Arius, Mäcenas, seine Leibärzte und Priester, kurz sein ganzer
Hof--eine Beute des Totes! Von da geh weiter, nicht etwa zum Tod eines
Einzelmenschen, sondern zum Aussterben ganzer Familien, wie der der
Pompejer. Manches Grabmal trägt die Aufschrift: "Der Letzte seines
Stammes." Und nun stelle dir vor, wie sehr sich die Vorfahren bemühten,
einen Stammhalter zu hinterlassen und doch mußte einer notwendig der
letzte sein. Überdies denke an das Vergehen ganzer Geschlechter.


32

Wir müssen in unser Leben Ordnung und Planmäßigkeit bringen, und jede
unserer Handlungen muß ihren bestimmten Zweck haben. Wenn sie den
erreicht ist es gut; und eigentlich kann sie niemand daran hindern.
Äußere Hemmnisse können wenigstens nichts tun, um sie minder gerecht,
besonnen, überlegt zu machen, und wenn sie sonst deiner Tätigkeit etwas
in den Weg legen, bietet sich wohl gerade durch ein Hindernis, wenn
man´s nur gelassen aufnimmt und begierig acht hat auf das, was zu tun
übrigbleibt, ein neuer Gegenstand der Tätigkeit, dessen Behandlung sich
in die Lebensordnung fügen läßt, von der wir reden.


33

Sei bescheiden, wenn du empfangen, und frisch bei der Hand, wenn du
etwas weggeben sollst!


34

Solltest du einmal eine abgehauene Hand, einen Fuß, einen Kopf, getrennt
vom übrigen Körper zu sehen bekommen: siehe, das sind Sinnbilder solcher
Menschen, die nicht zufrieden sein wollen mit ihrem Schicksal, oder
deren Handlungsweise bloß ihrem eigenen Vorteil dient, ein Sinnbild auch
deines Wesens, wie du manchmal bist. Doch sieh, es steht dir frei, dich
wieder mit dem großen Ganzen zu vereinigen, von dem du dich geschieden
hast. Anderen Gliedern des Weltalls verstattet die Gottheit nicht,
nachdem sie sich abgelöst haben, wieder zusammenzukommen. Aber dem
Menschen hat es ihre Güte gewährt. Sie legte es von Haus aus in des
Menschen Hand, in dem Zusammenhang mit dem Ganzen zu verbleiben und wenn
er daraus geschieden war, zurückzukehren, aufs neue mit ihm zu
verwachsen und den alten Platz wieder einzunehmen.


35

Wie die Natur jegliches Hindernis als solches zu beseitigen, in ihre
Notwendigkeit hereinzuziehen und zu einem Bestandteil ihrer selbst zu
machen weiß, so kann auch das vernunftbegabte Wesen jede Hemmung in
seinen eigenen Stoff verwandeln und sie benutzen zur Verwirklichung
seines Strebens, worauf dasselbe auch gerichtet sein möge.


36

Wenn du dein Leben im ganzen vor dir hättest, wenn du sähest, was dir
alles bevorsteht, welche Entmutigung müßte dich ergreifen! Aber wenn du
ruhig wartetest, bis es kommt, und bei jedem einzelnen, wenn es da ist,
dich fragtest, was denn dabei eigentlich nicht zu ertragen sei--du
müßtest dich deiner Verzagtheit schämen. Kümmern sollten wir uns immer
nur um das Gegenwärtige, da uns nur dieses, nicht Zukünftiges und nicht
Vergangenes, wirklich lästig fallen kann. Und unfehlbar wird diese Last
gemindert, wenn wir das Gegenwärtige rein so nehmen, wie es ist, ihm
nichts Fremdes hinzudichten und uns selber widerlegen, wenn wir meinen,
auch dies nicht einmal ertragen zu können.


37

Sitzen etwa auch jetzt noch Panthea und Pergamus am Sarge des Verus?
Oder Chaurias und Diotimus an Hadrians Grab? Das wäre lächerlich. Würden
es aber jene fühlen, wenn sie daneben säßen und, wenn sie es fühlten,
würden sie sich freuen, und wenn sie sich freuten, würden diese dadurch
unsterblich sein? War es nicht auch ihre Bestimmung zuerst, alte Frauen
und Männer zu werden und dann zu sterben? Und können denn die Klagenden
dem Tod entrinnen? Der ganze Körper ist ein Schlauch voll Unrat und
Moder.


38

Ist dir Scharfsinn eigen, verwende ihn zu klugem Urteil.


39

Unter den Anlagen vernunftbegabter Wesen finde ich keine, die der
Gerechtigkeit gegenübersteht, wohl aber eine, die der Wollust das
Gleichgewicht hält: die Enthaltsamkeit.


40

Könntest du deine Ansicht über das, was dich zu schmerzen scheint,
ändern, so würdest du vollständig in Sicherheit sein. Wer ist das /du/,
frage ich: die Vernunft. Aber ich bin nicht die Vernunft, entgegnest du.
Mag sein, wenn sich die Vernunft nur eben nicht betrübt. Alles übrige,
wenn es sich schlecht befindet, mag denken und fühlen, was es will.


41

Jede Hemmung des Empfindungslebens sowohl, wie die eines Triebes ist für
die tierische Natur ein Übel. Anders die Hemmungen und Übel im
Pflanzenleben. Für die geistbegabten Wesen aber kann nur das ein Übel
sein, was das Geistesleben stört. Hiervon mache die Anwendung auf dich
selbst. Leid und Freude berühren nur die Sphäre des Empfindens. Eine
Hemmung des Triebes kann allerdings auch schon für die vernünftige
Kreatur ein Übel sein; allein nur dann, wenn es ein absoluter Trieb ist.
Dann aber, wenn du so nur das Allgemeine ins Auge fassest, was sollte
dir schaden und was dich hindern können? Denn in die dem Geiste
eigentümliche Sphäre kann nichts anderes störend eingreifen, nicht
Feuer, nicht Eisen, kein Despot, keine Lästerung, nichts, was nicht vom
Geiste selber herrührt. Solange eine Kugel besteht, so lange bleibt sie
eben--rund nach allen Seiten.


42

Habe ich noch niemals einen andern absichtlich betrübt so ziemt es mir
auch nicht, mich selber zu betrüben.


43

Mögen andere ihre Freude haben, woran sie wollen; meine Freude ist, wenn
ich eine gesunde Seele habe, ein Herz, das keinem Menschen zürnt, nichts
Menschliches sich fernhält, sondern alles mit freundlichem Blick ansieht
und aufnimmt und jedem begegnet, wie´s ihm gebührt.


44

Nütze die Gegenwart aus. Wer dem Nachruhm lieber nachgeht, bedenkt
nicht, daß die kommenden Geschlechter ebenso beschaffen sein werden, wie
jene, unter denen er leidet. Auch sie sind ja sterblich. Überhaupt was
kümmert es dich, ob unter ihnen diese und jene Stimmen über dich laut
werden oder ob sie diese und jene Meinung von dir haben?


45

Nimm mich und versetze mich, wohin du willst! Bringe ich doch überall
den Genius mit, der mir günstig ist, den Geist, der seine Aufgabe darin
erkennt, sich so zu verhalten und so zu wirken, wie es seine Bildung
verlangt. Und welche äußere Lebensstellung wäre es wert, daß um
ihretwillen meine Seele sich schlecht befinde und herabgedrückt oder
gewaltsam erregt, gebunden oder bestürzt gemacht ihres Wertes verlustig
ginge? Was kannst du finden, das solcher Opfer wert wäre?


46

Keinem kann etwas begegnen, das nicht Menschenschicksal wäre, so wenig
als dem Stier etwas zustößt, das nicht der Stiernatur, oder dem
Weinstock etwas, das nicht dem Wesen des Weinstocks, oder dem Stein
etwas, das nicht der Natur des Steins angemessen wäre. Wenn nun jedem
begegnet, was gewöhnlich oder natürlich ist, warum solltest du dich
darüber ärgern? Denn die Natur durfte nichts Unerträgliches über dich
verhängen.


47

Wenn in deiner Gemütsverfassung etwas ist, was dich bekümmert, wer
hindert dich, den leitenden Gedanken der die Störung verursacht, zu
berichtigen? Ebenso wenn es dir leid ist, das nicht getan zu haben, was
dir als das einzig Richtige erscheint, warum tust du es nicht lieber
noch, sondern gibst dich dem Schmerz darüber hin? Du vermagst es nicht,
ein Hindernis, stärker als daß du´s beseitigen könntest, hält dich ab?
Nun so wehre der Traurigkeit nur um so mehr: der Grund, warum du´s
unterließest, liegt ja dann nicht in dir! Aber freilich, wenn man nicht
so handeln kann, ist´s nicht wert zu leben. Und darum scheide du aus dem
Leben mit frohem Mut und--da du ja auch sterben müßtest, wenn du so
gehandelt--freundlichen Sinnes gegen die, die dich gehindert!


48

Die Seele des Menschen ist unangreifbar, wenn sie in sich gesammelt
daran sich genügen läßt, daß sie nichts tut, was sie nicht will, auch
wenn sie sich einmal unvernünftigerweise widersetzen sollte, am meisten
aber, wenn sie jederzeit mit Vernunft zu Werke geht. Darum, sage ich,
ist die leidenschaftslose Seele eine wahre Burg und Festung. Denn der
Mensch hat keine stärkere Schutzwehr. Hat er sich hier geborgen, kann
ihn nichts gefangen nehmen. Wer dies nicht einsieht, ist unverständig;
wer es aber einsieht und dennoch seine Zuflucht dort nicht sucht,
unglücklich.


49

Zu dem, was dich ein erster scharfer Blick gelehrt, füge weiter nichts
hinzu. Du hast erfahren, der und jener rede schlecht von dir. Nun gut.
Aber, daß du gekränkt seist, das hast du nicht gehört. Du siehst, dein
Kind ist krank. Nun gut. Aber daß es in Gefahr schwebe, das siehst du
nicht. Und so lasse es immer bei dem ersten bewenden, und füge nichts
aus deinem Innern hinzu, so wird dir auch nichts geschehen. Hast du aber
dennoch deine weiteren Gedanken dabei, so beweise dich hierin gerade als
ein Mensch, der, was im Leben zu geschehen pflegt, durchschaut hat.


50

"Hier, diese Gurke ist bitter." Lege sie weg! "Hier ist ein
Dornstrauch." Geh ihm aus dem Weg! Weiter ist darüber nichts zu sagen.
Wolltest du fortfahren und fragen: aber wozu in aller Welt ist solches
Zeug? so würde dich der Naturforscher gründlich auslachen, ebenso wie
dich der Tischler und der Schuster auslachen würde, wenn du´s ihnen zum
Vorwurf machtest, daß in ihren Werkstätten Späne und Überbleibsel aller
Art herumliegen. Mit dem Unterschiede, daß diese Leute einen Ort haben,
wohin sie diese Dinge werfen, die Natur aber hat nichts draußen. Sondern
das Bewunderungswürdige ihrer Kunst besteht eben darin, daß sie, die
sich lediglich selber begrenzt, alles, was in ihr zu verderben, alt und
unnütz zu werden droht, so in sich hinein verwandelt, daß sie daraus
wieder etwas anderes Neues macht, daß sie keines Stoffes außer sich
selbst bedarf und das faul Gewordene nicht hinauswerfen muß. Sie hat an
ihrem eigenen Raume, an ihrem eigenen Material und an ihrer eigenen
Kunst völlig genug.


51

Sei in deinem Tun nicht fahrlässig, in deinen Reden nicht verworren, in
deinen Gedanken nicht zerstreut; laß dein Gemüt nicht eng werden, noch
leidenschaftlich aufwallen, noch laß dich von Geschäften vollauf in
Beschlag nehmen. Mögen sie dich ermorden, zerfleischen, verfluchen, was
tut´s? Deine denkende Seele kann dessenungeachtet rein, verständig,
besonnen und gerecht bleiben. Hört denn die reine süße Quelle auf, rein
und süß zu quellen, wenn einer, der dabei steht, sie verwünscht? Und
wenn er Schmutz und Schlamm hineinwürfe, würde sie´s nicht sofort
ausscheiden und hinwegspülen, um rein zu bleiben wie zuvor? Du auch bist
im Besitz einer solchen ewig reinen Quelle, wenn du die Seele frei,
liebevoll, einfältig ehrfurchtsvoll dir zu bewahren weißt.


52

Wer nicht weiß, was die Welt ist, weiß nicht, wo er lebt. Aber nur, der
da weiß, wozu er da ist, weiß, was die Welt ist. Wem aber eins von
diesen Stücken fehlt, der kann auch wohl seine eigene Bestimmung nicht
angeben. In welchem Lichte erscheint dir nun der Mensch, der um den
lauten Beifall jener buhlt, die nicht wissen, wo noch wer sie sind?


53

Soll dich ein Mensch loben, der sich in einer Stunde dreimal verflucht?
Wie oft strebst du danach, einem Menschen zu gefallen, der sich selber
nicht gefällt? Oder kann sich der gefallen, der fast alles, was er tut,
bereut?


54

Hinfort verkehre du nicht bloß mit der dich umgebenden Luft, sondern
ebenso auch mit dem alles umgebenden Geiste! Denn der Geist ergießt und
verteilt sich nicht minder überall dahin, wo jemand ist, der ihn
einzusaugen vermag, als die Luft dahin, wo man sie atmen kann.


55

Im allgemeinen schadet das Böse der Welt nicht, und im einzelnen Falle
schadet es nur dem, dem es vergönnt ist, sich frei davon zu machen,
sobald er nur will.


56

Nach meinem Dafürhalten ist die Ansicht, die mein Nächster hat, etwas
ebenso Gleichgültiges für mich als sein ganzes geistiges und leibliches
Wesen. Denn wenn es auch durchaus richtig ist, daß wir einer um des
andern willen da sind, so ist doch jede unserer Seelen etwas
Selbständiges für sich. Wäre dies nicht, so müßte ja auch die
Schlechtigkeit meines Nebenmenschen mein Verderben sein, was doch der
Gottheit nicht gefallen hat, so einzurichten, damit mein Unglück nicht
von andern abhängig sei.


57

Die Sonnenstrahlen scheinen von der Sonne herzuströmen, und wiewohl sie
sich überallhin ergießen, werden sie doch nicht ausgegossen. Denn
dieses Fließen und Gießen ist nichts als Ausdehnung. Recht deutlich kann
man sehen, was der Strahl sei, wenn die Sonne durch eine enge Öffnung in
einen dunkeln Raum scheint. Ihr Strahl fällt in gerader Richtung und
wird, nachdem er die Luft durchschnitten hat, an dem gegenüberstehenden
Körper gleichsam gebrochen. Doch bleibt er an ihm haften und löscht
nicht aus. Ebenso müssen nun die Ausstrahlungen der Seele sein, kein
Ausgießen, sondern ein sich Ausdehnen, kein heftiges und stürmisches
Aufprallen auf die sich entgegenstellenden Dinge, aber auch kein
Herabgleiten von ihnen, sondern ein Beharren und Erleuchten alles
dessen, was ihrer Strömung begegnet, und so, als beraube jegliches Ding
sich selbst ihres Glanzes, wenn es ihn nicht empfängt.


58

Wer sich vor dem Tode fürchtet, fürchtet sich entweder vor dem Erlöschen
jeglicher Empfindung, oder vor einem Wechsel des Empfindens. Aber wenn
man gar nichts mehr fühlt, ist auch ein Schmerz nicht mehr möglich.
Erhalten wir aber ein anderes Fühlen, so werden wir andere Wesen, hören
also auch nicht auf zu leben.


59

Die Menschen sind füreinander geboren. So belehre oder dulde, die´s
nicht wissen.


60

Anders ist der Flug des Geschosses und anders der, den der Geist nimmt.
Und doch bewegt sich der Geist, wenn er Bedacht nimmt, oder wenn er
überlegt, nicht weniger in gerader Richtung und dem Ziel entgegen.


61

Suche einzudringen in jedes Menschen Inneres, aber verstatte es auch
jedermann, in deine Seele einzudringen!




Neuntes Buch


1

Wer unrecht handelt, handelt gottlos. Denn die Natur hat die
vernünftigen Wesen füreinander geschaffen nicht daß sie einander
schaden, sondern nach Würdigkeit einander nützen sollen. Wer ihr Gebot
übertritt, frevelt demnach offenbar wider die älteste der Gottheiten.
Auch der mit Lügen umgeht, ist gottlos. Denn die Natur ist das Reich des
Seienden. Alles aber, was ist, stimmt als solches überein mit seinem
Grunde. Und diese Übereinstimmung nennt man Wahrheit. Auf ihr beruht
alles, was man wahr nennt im einzelnen Falle. Der Lügner also handelt
gottlos, weil er andere betrügt und somit unrecht handelt, tut er´s mit
Absicht. Geschieht es unwillkürlich weil er nicht mit der Natur im
Einklang ist, handelt er gottlos, weil er die Ordnung stört, indem er
ankämpft gegen das Ganze. Denn im Kampf ist jeder, der sich wider die
Wahrheit bestimmt, weil er von Natur für sie bestimmt ward. Wer aber
dies außer acht läßt, ist schon so weit, Wahrheit und Lüge nicht
unterscheiden zu können. Endlich handelt auch der gottlos, der dem
Vergnügen nachgeht als einem Gute und vor dem Schmerz als einem Übel
flieht, da ein solcher notwendig oft in den Fall kommt, die Natur zu
tadeln, als teile sie den Guten und den Schlechten ihre Gaben nicht nach
Verdienst aus. Denn wie oft genießen böse Menschen Glück und Freude, und
haben, was ihnen Freude schaffen kann, während die Guten dem Leid
anheimfallen und dem, was Leiden schafft. Ferner wird, wer sich vor dem
Schmerze fürchtet, auch nicht ohne Furcht in die Zukunft blicken können,
was schon gottlos ist, während der, der nach Lust strebt, sich kaum des
Unrechts wird enthalten können, was offenbar gottlos ist. Und jedenfalls
muß doch, wer in Übereinstimmung mit der Natur leben und ihr folgen
will, gleichgültig gegen das sein, wogegen sich die Natur gleichgültig
verhält, das aber tut sie gegen Lust und Schmerz, gegen Tod und Leben,
Ehre und Schande. Wer also alles dies nicht gleichgültig ansieht, ist
offenbar gottlos. Die gemeinsame Natur aber, sage ich, bedient sich
derselben nach einerlei Regel (das heißt, sie begegnet nach dem Gesetz
der Aufeinanderfolge den jetzigen wie den künftigen nach einerlei Regel)
kraft eines uranfänglichen Zuges der Vorsehung, vermöge dessen sie von
einem bestimmten Anfang her zur gegenwärtigen Welteinrichtung
fortschritt, indem sie gewisse Grundstoffe des Werdenden zusammenfaßte
und die erzeugenden Kräfte der Stoffe selbst, ihrer Verwandlungen und
ihrer derartigen Aufeinanderfolge abgrenzte.


2

Besser wär´s, wenn man die Welt verlassen könnte, ehe man all die Lüge
und Heuchelei, den Prunk und Stolz geschmeckt. Hat man nun aber diese
Dinge einmal schmecken müssen, so ist´s doch wohl der günstigere Fall,
dann bald die Seele auszuhauchen, als mitten in dem Elend sitzen zu
bleiben? Oder hat dich die Erfahrung nicht gelehrt, die Pest zu fliehen?
und welche Pest ist schlimmer, die Verdorbenheit der uns umgebenden
Luft, die Pest, die nur das tierische Wesen als solches trifft, oder die
Verderbnis der Seele, die eigentliche Menschenpest?


3

Denke nicht gering vom Sterben, sondern laß es dir wohlgefallen wie
eines der Dinge, in denen sich der Wille der Natur ausspricht. Denn von
derselben Art wie das Kindsein und das Altsein, das Wachsen und
Mannbarwerden oder das Zahnen und Bärtigwerden und Graues-Haar-Bekommen
oder das Zeugen und Gebären und alle diese Tätigkeiten der Natur, wie
sie die verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich bringen, ist auch das
Sterben. Daher ist es die Sache eines verständigen Menschen, weder mit
Gleichgültigkeit noch mit heftiger Gemütsbewegung noch in übermütiger
Weise an den Tod zu denken, sondern auf ihn zu blicken eben wie auf
eine jener Naturwirkungen. Und wie du des Augenblickes harrst, wo das
Kindlein der Mutter Schoß verlassen haben wird, so erwarte auch die
Stunde, da deine Seele dieser Hülle entweichen wird.--Eindringlich ist
auch jene gewöhnliche Regel, die man gibt, um jemand zur Zufriedenheit
mit dem Lose der Sterblichkeit zu stimmen: einmal, sieh dir die Dinge
genau an, von denen du dich trennen mußt, und dann in ethischer
Beziehung, welch ein Elend, womit du einst nicht mehr verflochten sein
wirst! Zwar ist es keineswegs nötig, sich daran zu stoßen, Pflicht ist
es vielmehr, es zu lindern oder ruhig zu ertragen, allein man darf doch
daran denken, daß es nicht eine Trennung gibt von gleichgesinnten
Menschen. Denn dies wäre das einzige, was uns rückwärts ziehen und an
das Leben fesseln könnte, wenn es uns vergönnt wäre, mit Menschen
zusammenzuleben, die von denselben Grundsätzen und Ideen beseelt sind
wie wir. Nun aber weißt du ja, welches Leiden der Zwiespalt ist, der
unter den Menschen herrscht, und kannst nicht anders als den Tod
anflehen, daß er eilig kommen möge, damit du nicht auch noch mit dir
selbst in Zwiespalt gerätst.


4

Wer unrecht handelt, schadet sich selbst.


5

Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut, nicht bloß, der etwas tut.


6

Wenn du gesundes Urteil hast und die Gewohnheit, für andere zu handeln,
und ein Gemüt, das mit den äußeren Verhältnissen zufrieden ist, so hast
du genug.


7

Unterdrücke die bloße Einbildung, trenne den Trieb, dämpfe die Begierde;
erhalte dem herrschenden Teil deiner Seele die Herrschaft über sich
selbst!


8

Wie es nur eine Erde gibt für alles Irdische, ein Licht für alles, was
sehen, und eine Luft für alles, was atmen kann, so ist es auch nur ein
Geist, der unter sämtliche Vernunftwesen verteilt ist.


9

Alle Dinge von derselben Art streben zueinander als zu dem Gleichartigen
hin. Alles, was von Erde ist, gleitet zur Erde, alles Flüssige läuft
zusammen, und so auch das Luftige, so daß es der Gewalt bedarf um solche
Dinge auseinanderzuhalten. Das Feuer hat zwar seinen Zug nach oben,
vermöge des Elementarfeuers, aber auch da erfaßt es alles ihm Ähnliche
und bringt die trockeneren Stoffe zum Brennen, eben weil diesen weniger
von dem beigemischt ist, was ein Entflammen hindert. Ebenso nun und noch
mehr strebt auch alles, was der vernünftigen Natur angehört, zueinander
hin. Denn je edler es ist als das übrige, um so bereiter ist es auch,
sich dem Verwandten zu einen und mit ihm zusammenzugehen. Schon auf der
Stufe der vernunftlosen Wesen finden sich Scharen und Herden, findet
sich das Auffüttern der Jungen, eine Art von Liebe. Denn schon hier ist
Seele und jener Gemeinschaftstrieb in höherer Weise, als er in der
Pflanzenwelt und im Gestein sich findet. Bei den Vernunftbegabten nun
kommt es zu Staaten, Freundschaften, Familien, Genossenschaften, und in
den Kriegen selbst zu Bündnissen und Waffenstillständen. Und wenn wir zu
den noch höheren Wesen fortschreiten, mögen sie auch um Unendlichsten
auseinander sein: auch da ist Einheit, wie bei den Sternen; so daß, je
höher wir kommen, desto entschiedener die Sympathie sich auch auf die
Entferntesten erstreckt. Aber was geschieht? Die vernünftigen Wesen
allein sind es, die dieses Zueinanderstrebens, dieses Zusammenhaltens
nicht eingedenk bleiben, und hier allein vermag man jenes
Zusammenfließen nicht wahrzunehmen! Und dennoch--: mögen sie sich
immerhin fliehen, sie umschließen sich doch. Die Natur zwingt sie. Man
sehe nur genau! Eher findest du Erde, die nicht an Erde hängt, als einen
Menschen vom Menschen abgelöst.


10

Frucht bringen Mensch und Gott und Welt, ein jegliches zu seiner Zeit,
in anderer Weise freilich als der Weinstock und dergleichen Dinge. Auch
die Vernunft hat ihre Frucht, von allgemeiner und von individueller Art.
Und was aus ihr hervorgeht, ist eben immer wieder--Vernunft.


11

Belehre den Fehlenden eines Besseren, wenn du es vermagst. Wo nicht,
erinnere dich, daß dir für diesen Fall Nachsicht verliehen ist. Auch die
Götter sind nachsichtig, ja sie sind den Fehlenden zu einigem, wie
Gesundheit, Reichtum, Ehre behilflich. So gütig sind sie! Auch du kannst
es sein. Oder, sage, wer hindert dich daran?


12

Leide nicht mit der Miene eines Unglücklichen oder in der Absicht,
bewundert oder bemitleidet zu werden. Wolle vielmehr nur das eine,
deine Kraft in Bewegung zu setzen oder zurückzuhalten, wie es das
Gemeinwesen erheischt.


13

Heut, sprichst du, bin ich aller meiner Plage entronnen. Sag lieber:
heut hab ich all meine Plage abgeworfen. Denn in dir, in deiner
Vorstellung war sie, nicht außer dir.


14

Alles bleibt sich gleich. Gewöhnlich in Hinsicht auf Erfahrung,
vergänglich in Hinsicht auf Zeit, schmutzig in Hinsicht des Stoffes.
Alles, was jetzt ist, war ebenso bei denen, die wir bestattet haben.


15

Die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände sind außer uns. Einsam stehen sie
sozusagen vor unserer Tür. Sie wissen nichts von sich selbst, urteilen
auch nicht über sich. Wer urteilt also über sie? Der herrschende Teil
unserer Seele.


16

Gut und Böse, Tugend und Laster ruhen bei vernunftbegabten Wesen nicht
auf einem Zustande, sondern auf einer Tätigkeit.


17

Für den emporgeworfenen Stein ist es ebensowenig ein Glück, in die Höhe
zu fliegen, als ein Unglück herabzufallen.


18

Dringe in das Innere der Seele bei den Herrschenden und du wirst sehen,
vor was für Richtern du dich fürchtest und was für Richter sie über sich
selbst sind.


19

Alles wechselt stets. Auch du selbst bist im steten Wechsel begriffen,
um nicht zu sagen in Verwesung. Ebenso die ganze Welt.


20

Das Vergehen eines anderen muß man bei ihm lassen.


21

Das Aufhören der Tätigkeit, Stillstehen der Triebe und der
Vorstellungen--der Tod--ist kein Übel. Denn wie ist es mit den
verschiedenen Stufen des Lebens, mit der Kindheit, der Jugend, dem
Mannes- und Greisenalter? ist nicht ihr Wechsel--Tod? und ist das etwas
Schlimmes? Nicht anders der Wechsel der Zeiten. Die Zeiten der Vorväter
hören auf mit dem Zeitalter der Väter usf. Ist bei allen diesen
Veränderungen etwas Schlimmes? Also auch nicht, wenn dein Leben
wechselt, stillsteht und aufhört.


22

Forsche in deiner eigenen Seele, in der Seele des Weltganzen und in der
deines Nächsten. In deiner eigenen, um ihr Sinn für Gerechtigkeit
einzuflößen, in der des Weltganzen, um dich zu erinnern, wovon du ein
Teil bist, in der des Nächsten, um zu erkennen, ob er wissentlich oder
unwissentlich handelt und um zu fühlen, daß sie der deinigen verwandt
sei.


23

So wie deine ganze Persönlichkeit der ergänzende Teil eines Gemeinwesens
ist, so soll auch jede deiner Handlungen das gemeinschaftliche Handeln
dieses Gemeinwesens ergänzen. Tut sie dies nicht, ist sie mehr oder
weniger diesen Absichten fern, so zerstückelt sie dein Leben, hindert
seine Harmonie, ist aufrührerisch wie ein Mensch, der im Volke seine
Partei dem Zusammenwirken mit den andern entfremdet.


24

Wie Knabenzänkereien und Kinderspiele, so flüchtig sind unsere
Lebensgeister, mit Leichen belastet. Warum sollte da die Totenfeier
einen Eindruck auf uns machen.


25

Gehe auf das Wesen der ursächlichen Kraft jedes Gegenstandes ein und
sieh bei deiner Betrachtung von seinem Stoff ab und bestimme zum Schluß
die längste Spanne Zeit, die er in seiner ihm eigentümlichen Art dauert.


26

Du hast unendlich gelitten lediglich deshalb, weil deine Seele sich
nicht begnügte zu tun, wozu sie gemacht ist.


27

Wenn jemand dich tadelt oder haßt oder Schlechtes von dir redet, so gehe
heran an seine Seele, dringe ein, und sieh, was er eigentlich für ein
Mensch sei. Du wirst finden, daß du dich nicht zu beunruhigen brauchst,
was er auch von dir denken mag. Du mußt ihm jedenfalls wohlgesinnt
bleiben, da er von Natur dein Freund ist, und da ihm sicherlich auch die
Götter helfen, wie dir, in all den Dingen, um die sie Sorge tragen.


28

Alles in der Welt dreht sich im Kreise, von oben nach unten, von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Und doch auch in jedes Einzelwesen dringt die
Seele des Alls. Ist dies, so nimm, was sie hervortreibt, mag sie nun
einmal nur sich schöpferisch bewiesen haben, so daß nun eins aus dem
andern mit Notwendigkeit folgt und alles eigentlich nur eines ist, oder
mag alles atomengleich entstehen und bestehen. Gleichviel. Denn gibt es
einen Gott, so steht alles gut; ist aber alles nur von ungefähr, darfst
du doch nicht von ungefähr sein!


29

Einem reißenden Strom gleicht die Welt: Alles führt sie dahin. Wie
nichtig die Taten des Menschen, die er politisch oder philosophisch
nennt, wie eitel Schaum! Aber was nun, lieber Mensch? Tue, was die Natur
gerade jetzt von dir fordert. Strebe, wenn dir ein Gegenstand des
Strebens gegeben wird, und blicke nicht um dich, ob´s einer sieht. Auch
bilde dir den Platonischen Staat nicht ein, sondern sei zufrieden wenn
es nur ein klein wenig vorwärts geht und halte solchen kleinen
Fortschritt nicht gering. Denn wer wird ihre Gesinnung ändern? Ohne eine
solche Änderung der Gesinnung aber, was würde anderes daraus entstehen,
als ein Knechtsdienst unter Seufzen, ein Gehorsam solcher, die sich
stellen, als wären sie überzeugt. Die Alexander, Philippus, Demetrius
von Phalerum mögen zusehen, ob sie erkannt, was die Natur will, und ob
sie sich selbst in Zucht gehalten haben. Waren es aber Schauspieler,
wird mich doch niemand dazu verdammen, sie nachzuahmen. Einfalt und
Würde kennzeichnen das Geschäft der Philosophie. Verführe du mich nicht
zur Aufgeblasenheit!


30

Betrachte wie von einer Anhöhe aus die unzähligen Volkshaufen mit ihren
unzähligen Religionsgebräuchen, die Seefahrten nach allen Windrichtungen
unter Stürmen und bei ruhiger See und die Verschiedenheiten zwischen den
Dingen, die werden, sind und vergehen! Betrachte auch die Lebensweise,
wie sie vormals unter anderen war, wie sie nach dir sein wird und wie
sie jetzt unter fremden Völkern herrscht! Ferner wie viele nicht einmal
deinen Namen kennen, wie viele ihn bald vergessen werden, wie viele
jetzt vielleicht deine Lobredner, nächstens deine Tadler sind und wie
weder der Nachruhm, noch das Ansehen, noch sonst etwas von allem, was
dazu gehört, der Rede wert ist.


31

Ein unerschütterliches Herz den Dingen gegenüber, die von außen kommen,
ein rechtschaffenes in denen, die von dir abhängen! Das heißt, dein
Streben und Tun finde Ziel und Zweck in gemeinnütziger Tätigkeit; denn
das ist deiner Natur gemäß.


32

Viel unnötigen Anlaß zu deiner Beunruhigung, die ganz und gar auf deinem
Wahn beruht, kannst du aus dem Weg schaffen und dir selbst unverzüglich
weiten Spielraum eröffnen. Umfasse nur mit deinem Geist das Weltall,
betrachte die Ewigkeit und dann wieder die schnelle Verwandlung jedes
einzelnen Dings: welch kurzer Zeitraum liegt zwischen seiner Entstehung
und Auflösung, wie unermeßlich ist die Zeit vor seinem Werden, wie
unendlich nach seinem Ende.


33

Was du um dich siehst, wird bald zerstört und wer dieser Zerstörung
zuschaut, wird selbst auch sehr bald zerstört und durch den Tod wird der
älteste Greis mit dem Frühverstorbenen in denselben Zustand versetzt.


34

Wie ihr Inneres beschaffen ist, welche Interessen sie verfolgen, um
welcher Dinge willen sie Lieb und Achtung zollen, das suche zu
erforschen, mit einem Wort: die nackten Seelen!--Wenn man glaubt, durch
Tadel Schaden und durch Lob Nutzen zu stiften, welch ein Glaube!


35

Verlust ist nichts anderes als Veränderung, die die Natur so liebt, wie
wir wissen,--sie, die doch alles richtig macht. Oder wolltest du sagen,
alles, was geschehen sei oder geschehen werde, sei schlecht? Aber sollte
sich dann unter so vielen Göttern nicht wenigstens eine Macht finden,
die es wieder zurechtbrächte? und die Welt sollte verdammt sein, in den
Banden unaufhörlicher Übel zu liegen?


36

Der Stoff jeden Dinges ist Fäulnis: Wasser, Staub, Knochen, Schmutz. Die
Marmorbrüche sind Verhärtungen der Erde, Gold, Silber ihr Bodensatz,
unsere Kleider--Tierhaare, Purpur, Blut und alles übrige ist von der
Art. Selbst der Lebensgeist ist von solcher Art, denn er ist auch steter
Umwandlung unterworfen.


37

Genug des elenden Lebens, des Murrens und des äffischen Benehmens! Warum
bist du unruhig, was findest du hier so unerhört? Was bringt dich außer
Fassung? Die ursächliche Kraft der Dinge? Betrachte sie nur! Aber
vielleicht der Stoff? Sieh ihn nur an! Sonst gibt es aber nichts. Sei
also doch endlich argloser und freundlicher gegen die Götter! Es ist ja
einerlei, ob du diese Untersuchungen hundert oder nur drei Jahre
anstellst.


38

Hat sich jemand vergangen, trägt er den Schaden. Vielleicht hat er sich
aber gar nicht vergangen.


39

Entweder ist ein denkendes Wesen die Urquelle des ganzen Weltalls, von
der aus dem All als einem Körper alles zuströmt. Dann darf sich der Teil
über das, was zum Nutzen des Ganzen geschieht, nicht beklagen, Oder das
All ist ein Gewirr von Atomen, zufällig gemischt und zufällig getrennt.
Wozu dann deine Unruhe? Sprich nur zu deiner Vernunft: "Du bist tot,
schon in Verwesung und wie ein Tier, das auf die Weide geht und seinen
Hunger stillt."


40

Entweder die Götter vermögen nichts, oder sie haben Macht. Können sie
nichts, was betest du? Haben sie aber Macht, warum bittest du sie nicht
lieber darum, daß sie dir geben, nichts zu fürchten, nichts zu begehren,
dich über nichts zu betrüben, als darum, daß sie dich vor solchen
Dingen, die du fürchtest, bewahren oder solche, die du möchtest, dir
gewähren? Denn wenn sie den Menschen überhaupt helfen können, so können
sie ihnen doch auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du, das
hätten die Götter in deine Macht gestellt. Nun, ist es denn da nicht
besser, was in unserer Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als mit
knechtischem gemeinem Sinn dahin zu langen, was nicht in unserer Macht
steht? Wer aber hat dir gesagt, daß die Götter uns in den Dingen, die in
unserer Hand liegen, nicht beistehen? Fange nur an, um solche Dinge zu
bitten, dann wirst du ja sehen! Einer bittet, er möchte frei werden von
einer Last? du bitte, wie du´s nicht nötig haben möchtest, davon befreit
zu werden. Jener, daß ihm sein Kind erhalten werden möge? du, daß du
nicht fürchten mögest, es zu verlieren usf. Mit einem Wort, gib allen
deinen Gebeten eine solche Richtung, und sieh, was geschehen wird.


41

Epikur erzählt: in meinen Krankheiten erinnere ich mich nie eines
Gesprächs über die Leiden des Menschen; nie sprach ich mit denen, die
mich besuchten, darüber. Sondern ich arbeitete weiter, über
naturhistorische Gegenstände im allgemeinen und besonders nachdenkend,
wie die Seele, trotzdem, daß sie an den Bewegungen im Körper teilhat,
ruhig bleiben und das ihr eigentümliche Gut bewahren möge. Auch gab ich
den Ärzten niemals Gelegenheit, sich meinetwegen zu rühmen, als hätten
sie etwas ausgerichtet, sondern lebte nachher nicht angenehmer und
besser wie vorher. So halte es auch du, in Krankheiten nicht bloß,
sondern in jeder Widerwärtigkeit. Den Grundsatz haben alle
Philosophenschulen, gerade unter mißlichen Verhältnissen der Philosophie
sich treu zu zeigen, mit Leuten, die dem wissenschaftlichen Denken
fernstehen, lieber nicht zu schwatzen und seine Gedanken lediglich auf
das jedesmal zu Tuende und auf die Mittel zur Ausführung dessen, was uns
obliegt zu richten.


42

Sooft dir jemand mit seiner Unverschämtheit zu nahe tritt, lege dir die
Frage vor, ob es nicht Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das
Unmögliche wirst du doch nicht verlangen. Und dieser ist nun eben einer
von den Unverschämten, die es in der Welt geben muß. Dasselbe gilt von
den Schlauköpfen, von den Treulosen, von jedem Lasterhaften. Und sobald
dir dieser Gedanke geläufig wird, daß es unmöglich ist, daß solche Leute
nicht sind, siehst du dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt.
Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die Natur jeder dieser
bösen Richtungen gegenüber dem Menschen verliehen hat. So gab sie z.B.
der Lieblosigkeit gegenüber, gleichsam als Gegengift die Sanftmut.
Überhaupt aber steht dir frei, den Irrenden eines Besseren zu belehren.
Und ein Irrender ist jeder Böse: er führt sich durch sein Unrecht selbst
vom vorgesteckten Weg ab. Was aber schadet dir´s? Vermag er etwas wider
deine Seele?--Und was ist denn Übles oder Fremdartiges daran, wenn ein
zuchtloser Mensch tut, was eben eines solchen Menschen ist. Eher hättest
du dir selbst darüber Vorwürfe zu machen, daß du nicht erwartet hast, er
werde solches tun. Deine Vernunft gibt dir doch Anlaß genug zu dem
Gedanken, daß es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese Weise
vergehen, und nun, weil du nicht hörst auf das, was sie dir sagt,
wunderst du dich, daß er sich vergangen hat! Jedesmal also, wenn du
jemand der Treulosigkeit oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den
Blick in dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch dein Fehler,
wenn du einem Menschen von solchem Charakter dein Vertrauen schenktest
oder wenn du ihm eine Wohltat erwiesest mit allerlei Nebenabsichten und
ohne den Lohn deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen. Was
willst du denn noch weiter, wenn du einem Menschen wohlgetan? Ist´s
nicht genug, daß du deiner Natur entsprechend gehandelt? strebst du nach
einer besonderen Belohnung? Als ob das Auge Bezahlung forderte dafür,
daß es sieht, und die Füße dafür, daß sie schreiten! Und wie Aug´ und
Fuß dazu geschaffen sind, daß sie das Ihrige haben in der Erfüllung
ihrer natürlichen Verrichtungen, so hat auch der Mensch, zum Wohltun
geschaffen, sooft er ein gutes Werk getan und anderen irgendwie
äußerlich beistand, eben nur getan, wozu er bestimmt ist, und empfängt
darin das Seinige.




Zehntes Buch


1

Wirst du denn, liebe Seele, wohl einmal gut und lauter und einig mit dir
selbst und ohne fremde Umhüllung und durchsichtiger sein, als der dich
umgebende Leib? Froh werden eines liebenswürdigen und liebenden
Charakters? Wirst du einmal befriedigt und bedürfnislos sein, nach
nichts dich sehnend, nichts begehrend, weder Geistiges noch Ungeistiges,
um daran eben nur Genuß zu haben? weder mehr an Zeit, noch mehr an Raum
oder Gelegenheit, um den Genuß weiter auszudehnen? weder eine günstigere
Temperatur der Luft, noch eine ansprechendere in deiner menschlichen
Umgebung? vielmehr zufrieden sein mit eben der Lage, in der du dich
befindest, dich überhaupt des Vorhandenen erfreuen und dich überzeugen,
daß dir alles zu Gebote steht, daß sich alles wohl verhält und daß es
von den Göttern kommt, sich also wohlverhalten muß, sofern es ihnen
selbst wohlgefällig ist und sofern sie´s ja nur geben mit Rücksicht auf
die Seligkeit des vollkommensten Wesens, des guten und gerechten und
schönen, jenes Wesens, das alles dasjenige erzeugt und zusammenhält und
umgibt und in sich faßt, was, wenn es sich auflöst, der Grund zur
Entstehung eines anderen von ähnlicher Beschaffenheit wird? Wirst du
mit einem Worte wohl einmal eine Seele sein, die mit Göttern und
Menschen so verkehrt, daß du weder an ihnen etwas auszusetzen hast, noch
daß sie dich beschuldigen können?


2

Nachdem du erforscht, was deine Natur fordert, was rein nur ihrem Gebot
entspricht, so führe dasselbe nun auch aus oder laß es zu, sofern
dadurch das Triebleben an dir nicht schlechter wird. Dann frage dich,
was ebendieser Seite deines Wesens entspricht und vergönne es dir,
sofern dadurch das Vernünftige an dir nicht leidet--das Vernünftige, das
immer zugleich auch ein Geselliges ist. Und wenn du diesen Grundsätzen
folgst, bedarf es keines anderen Bestrebens.


3

Entweder hast du von Natur die Kraft, jedes dir begegnende Geschick zu
ertragen oder es gebricht dir an dieser natürlichen Kraft. Trifft dich
nun ein Schicksal, das zu ertragen du stark genug bist, sei nicht
ungehalten und ertrage es durch deine natürliche Kraft. Übersteigt es
aber diese natürliche Kraft, sei auch darüber nicht unwillig. Was dich
zugrunde richtet, wird auch zugrunde gehen. Jedoch vergiß auch nicht,
daß du bestimmt bist, alles zu ertragen, was erträglich und leidlich zu
machen deine Vorstellung die Macht hat, durch den Gedanken nämlich, daß
es dir heilsam oder daß es deine Pflicht sei.


4

Irrt sich jemand, so belehre ihn mit Wohlwollen und zeige ihm, was er
übersehen hat! Vermagst du das aber nicht, so klage dich selbst an oder
auch dich selbst nicht einmal!


5

Alles, was dir geschieht, ist dir von Ewigkeit her vorausbestimmt. Jener
große Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat beides, dein Dasein und
dieses dein Geschick, von Ewigkeit aufs innigste verwoben.


6

Mag die Welt ein Gewirr von Atomen oder ein geordnetes Ganzes sein, mein
erster Grundsatz sei: Ich bin ein Teil des Ganzen und stehe unter der
Herrschaft der Natur.--Der zweite: Ich hänge mit allen gleichartigen
Teilen eng zusammen. Eingedenk des ersten Grundsatzes werde ich nicht
unzufrieden sein, was mir auch für Anteil am Ganzen zugedacht ist. Es
kann nichts einem Teil schaden, was dem Ganzen zuträglich ist. Denn das
Ganze enthält nichts, was ihm nicht selbst zuträglich wäre. Sämtliche
Wesen haben das miteinander gemein, daß sie von keinem ihnen äußerlichen
Umstande gezwungen werden können etwas hervorzubringen, was ihnen selbst
schädlich wäre. Und dasselbe gilt natürlich auch von der ganzen Welt.
Was aber dem Ganzen nützt, kann dem Teile nicht schädlich sein, d.h. ich
darf nicht klagen über das, was von dem All mir zugeteilt wird. Sofern
ich aber mit den mir gleichartigen Teilen zusammenhänge, werde ich
nichts gegen das Gemeinwohl unternehmen, vielmehr werde ich, mit steter
Rücksicht auf die mir gleichartigen Wesen, mein Streben ganz auf das
gemeine Beste richten und vom Gegenteil ablenken. Führe ich diese
Vorsätze aus, muß mein Leben glücklich dahinfließen, so glücklich, als
nach Erfahrung das Leben eines Bürgers verläuft, das von einer seine
Mitbürger beglückenden Tat zur anderen fortschreitet und mit Freuden
übernimmt, was ihm der Staat auch auferlegt.


7

Alle Teile des Ganzen, das heißt die vom Weltraum umschlossenen Dinge,
müssen notwendig zerstört oder mit einem richtigen Ausdruck umgewandelt
werden. Wäre nun dies von Natur aus ein Übel für sie, so stünde das
Ganze bei dem steten Wechsel der Teile und ihrem vorausbestimmten
Untergang unter keiner guten Leitung. Denn sollte die Natur selbst die
Einrichtung getroffen haben, ihren eigenen Teilen Schlimmes zuzufügen,
ja sie nicht nur ins Unglück zu stürzen, sondern diesen Sturz sogar
notwendig machen? Oder sollte es ihr verborgen sein, daß derartiges
einträte? Beides ist nicht zu glauben. Wollte nun jemand, von der
Allnatur absehend, diese Umwandlung nur aus dem Wesen der Dinge
ableiten, so ist es bei alledem lächerlich, einerseits zu behaupten, daß
die Teile des Ganzen sich ihrer Anlage nach verwandeln müssen, und
andererseits sich über manches Naturereignis zu verwundern oder zu
ärgern, zumal die Auflösung in jene Teile erfolgt, aus denen das Ding
entstanden ist, sei diese nun eine Zerstäubung der Grundstoffe, woraus
es zusammengesetzt war, oder ein Übergang, z.B. der festen Teile in das
Erdige, der geistigen in das Luftige, so daß auch diese in den Keimstoff
des Weltganzen aufgenommen werden, mag dieses nun nach einem bestimmten
Kreislauf der Zeit in Feuer auflodern oder sich in stetem Wechsel wieder
erneuen. Bilde dir aber nicht ein, daß jene festen und geistigen Teile
von Geburt an dir kleben. Dies alles ist dir vielmehr erst von gestern
und vorgestern durch Speisen und eingeatmete Luft zugeflossen. Mithin
wird nur das, was deine Natur auf solche Art angenommen, nicht aber
das, was von der Mutter Natur dir angeboren ist, umgewandelt. Wolltest
du aber auch vorgeben, daß diese jenes mit deiner besonderen
Eigentümlichkeit so eng verflochten habe, so halte ich dieses Vorgeben
in der Tat für einen nichtigen Einwurf gegen meine Behauptung.


8

Hast du die Namen: gut, ehrfürchtig, wahrhaft, verständig, gleichmütig,
hochherzig dir beigelegt, so sorge dafür, daß du sie nie verlierst oder
immer bald wieder erwirbst. Aber bedenke auch, was sie besagen!
Verstand--ein sorgsam erworbenes, gründliches Wissen um Einzelnes?
Gleichmut--ein bereitwilliges Aufnehmen des von der Natur uns
Zuerkannten; Hochherzigkeit--ein Erhabensein des Geistes über jede leise
oder laute Regung im Fleisch, über das, was man Ehre nennt, auch über
den Tod und alles dieses. Vermagst du nun, dich diesen Namen zu
erhalten, ohne doch gerade danach zu streben, daß andere dich bei ihnen
nennen, so wirst du ein anderer Mensch sein und ein anderes Leben
anfangen. Bleibst du aber noch ferner, wie du bisher warst, fährst fort
in einer Lebensweise, die dich befleckt und aufreibt, so bist du ein
gewissenloser Mensch, ein Mensch, der eben nichts als leben will, und
gleichst jenen Halbmenschen, die man mit wilden Tieren kämpfen läßt,
die nämlich, wenn sie mit Wunden bedeckt und mit Blut besudelt sind,
inständigst bitten, man möchte sie doch bis auf den folgenden Tag
aufheben, um--wieder vorgeworfen zu werden denselben Krallen und
denselben Zähnen. Also tauche dein Wesen in jene wenigen Namen. Und wenn
du es nur irgend ermöglichen kannst, halte bei ihnen aus, wie einer, der
auf den Inseln der Seligen gelandet. Merkst du aber, daß man dich
heraustreiben will und daß du nicht obsiegen wirst, so ziehe dich eilig
in einen Winkel zurück wo du dich wahren kannst; oder--verlasse das
Leben!--Um jener Namen eingedenk zu bleiben, ist es kein schlechtes
Hilfsmittel, sich die Götter vorzuhalten, die nicht sowohl begehren, daß
man sie schmeichelnd verehre, als daß alle vernunftbegabten Wesen ihnen
ähnlich werden, und daß der Mensch tue, was des Menschen ist.


9

Hast du hohe und heilige Wahrheiten dir ohne selbständiges Forschen eben
nur eingebildet, so werden sie dir auch wieder abhanden kommen, so
können Komödienspiel, Anfeindung, Furcht, Schrecken, Knechtschaft sie
dir täglich entreißen. Es gilt aber, sich eine solche Anschauungs- und
Lebensweise anzueignen, daß man das Vorliegende sofort abzutun
jederzeit bereit ist und doch dabei weder die geistige Ausbildung außer
acht läßt, noch das Vertrauen verleugnet, womit uns jede tiefere
Erkenntnis der Dinge erfüllt, das zwar an sich ein innerliches ist, doch
aber nicht verborgen bleiben kann. Denn alsdann wirst du deiner
Lauterkeit, deiner Würde froh werden, was jedes Ding seinem Wesen nach
ist, welche Stelle es in der Welt einnimmt, wie lang es seiner Natur
nach dauern wird, aus welchen Teilen es besteht, wem es zufallen, wer es
geben und rauben kann.


10

Eine kleine Spinne ist stolz darauf, wenn sie eine Fliege erjagt hat,
jener Mensch, wenn er ein Häschen, dieser, wenn er in seinem Netz eine
Sardelle, ein dritter, wenn er einen Eber oder Bären, und noch ein
anderer, wenn er Sarmaten fängt. Sind aber diese, wenn man die
Triebfeder untersucht, nicht insgesamt Räuber?


11

Erwirb dir die Kenntnis, die Art der Verwandlung aller Dinge ineinander
wissenschaftlich zu untersuchen. Merke beständig darauf und übe dies in
diesem Fach! Denn nichts fördert so gut die Hochherzigkeit. Wer diese
besitzt, hat seinen Leib schon abgestreift und wenn er bedenkt, daß er
in nicht gar langer Zeit dieses alles verlassen und aus dem
Menschenleben scheiden muß, so übergibt er sich in betreff dessen, was
er leistet, ganz allein der Rechtschaffenheit, in betreff seiner
Schicksale aber der Natur. Was jedoch andere von ihm sagen oder urteilen
oder ihm zuleid tun mögen, das läßt er sich nicht anfechten. Denn mit
den zwei Punkten, erstens das gut zu tun, was man zu tun hat, und
zweitens in Liebe hinzunehmen, was einem beschieden ist, läßt er alle
anderen Aufgaben und Ziele fahren. Er will nichts, als auf dem Pfad des
Gesetzes seinen Zweck zu verfolgen und also der Gottheit nachzustreben,
die gleichfalls geraden Wegs auf ihr Ziel zugeht.


12

Was für ein Bedenken hält dich ab, vor allem zu sehen, was der
Augenblick zu tun gebietet? Freilich mußt du´s völlig erwogen haben, ehe
du getrost und unbeirrt daran gehen kannst. Ist dir also noch irgend
etwas daran unklar, so halte an und ziehe die Besten zu Rat. Sonst aber,
tritt auch ein Hindernis dir in den Weg, schreite nur besonnen vorwärts,
den einmal empfundenen Antrieben folgend und treu dich haltend an das,
was dir als das Rechte erschienen ist. Denn dies zu verfolgen bleibt
immer das Beste. Ihm untreu werden heißt von seiner eigenen Natur
abfallen. Darum sage ich, daß wer in allen Stücken der Vernunft
gehorcht, ruhig und leicht bewegt, heiter und ernst zugleich zu sein
vermag.


13

Frage dich, sobald du des Morgens aufgestanden bist: geht es dich etwas
an, ob ein anderer das Gute und Rechte tut? Nichts geht´s dich an. Hast
du vergessen, was das für Leute sind, die ewig nur zu loben oder zu
tadeln wissen? wie sie´s treiben auf ihrem Lager, bei Tafel, überall,
was es für Diebe und Räuber sind, nicht äußerlich mit Händen und Füßen,
sondern innerlich an dem kostbarsten Teile ihres Wesens, mit dem sie
sich doch, wenn sie wollten, Glauben, Ehrfurcht, Wahrheit, Sitte, den
guten Genius zu eigen machen könnten.


14

Der wohlgesittete und ehrfurchtsvolle Mensch sagt zur Natur, der alles
spendenden und wieder nehmenden: gib, was du willst, und nimm, was du
willst. Er spricht´s nicht etwa, zu besonderem Mut sich aufraffend,
sondern aus reinem Gehorsam und aus Liebe.


15

Du hast nur noch wenig zu leben. Lebe wie auf einem Berge! Gleichviel wo
in der Welt du lebst, denn die Welt ist ein Menschenverein. Und die
Menschen sollen eben den wahren Menschen, den der Natur gemäß lebenden
schauen und beschauen. Mögen sie ihn immerhin aus dem Wege räumen, wenn
sie ihn nicht vertragen können.


16

Nun gilt es nicht mehr zu untersuchen, was ein tüchtiger Mensch sei,
sondern einer zu sein.


17

Der Gedanke an die Ewigkeit und an das Weltall sei dir stets nahe:
verglichen mit dem All wird dir dann alles als ein Körnlein und mit der
Ewigkeit verglichen wie ein Handumdrehen erscheinen.


18

Jedes Sinnenwesen, das du betrachtest, stelle dir in seiner Auflösung,
Verwandlung, gleichsam Verwesung oder Vernichtung vor oder von der
Seite, die ihm von der Natur gleichsam als die vergehende bestimmt ist.


19

Was sind denn die Esser und Trinker und Schläfer und Erzeuger und was
sie sonst machen? was sind sie, die sich aufblähen und so hoch drein
schauen, die so zornig sind und so von oben herab urteilen? Vor
kurzem--wem haben sie gedient und um welchen Preis? Und wieder eine
kleine Weile--wo sind sie dann?


20

Nicht bloß, was die Natur dem Menschen schickt, ist ihm zuträglich,
sondern es ist ihm auch gerade dann von Nutzen, wann sie´s schickt.


21

Der Regen--ein Liebling der Erde; doch auch des blauen Himmels Liebling.
Das Weltall liebt zu tun (sagt man nicht: "liebt, zu tun?") alles, was
eben geschehen soll. Ich also sage zu ihm: deine Liebe ist auch meine.


22

Entweder du lebst hier, wie du gewohnt bist, oder du kommst anderswohin,
wie du am Ende auch gewollt, oder du stirbst und hast ausgedient. Das ist
alles. Drum sei guten Muts!


23

Vergiß nicht, daß du da, wo du lebst, ganz dasselbe hast, was du im
Gebirge oder an der See oder sonstwo, wohin du dich sehnst, haben
würdest. Dem Hirten, sagt Plato, der so bei seiner Hürde auf dem Berge
weidet, ist´s nicht anders zumute, wie dem, den eine Stadtmauer umgibt.


24

Wozu das Herrschende in mir? Und was mache ich jetzt selbst aus ihm?
Oder wozu bediene ich mich jetzt seiner? Ist es ohne Einsicht? Oder von
der Gemeinschaft getrennt und abgerissen? Oder so an das Fleisch
gekettet und mit ihm verschmolzen, daß es alle seine Bewegungen teilen
muß?


25

Wer seinem Herrn entläuft, ist ein Ausreißer. Der Herr ist das Gesetz;
wer also der Befolgung des Gesetzes sich entzieht, ist ein Ausreißer.
Nicht minder aber verdient diesen schimpflichen Namen auch der, der sich
erzürnt oder betrübt oder fürchtet. Denn er will nicht, daß geschehen
wäre oder geschehe oder geschehen soll, was der alles Verwaltende, der
allen Gesetz ist, bestimmt.


26

Der eine vertraut dem Mutterschoß den Samen und geht dann fort. Dann
nimmt eine andere wirkende Kraft den Samen auf, verarbeitet ihn und
vollendet die Bildung des Kindes. Welch ein Wesen aus solchem Stoff!
Wieder schluckt die Mutter durch den Schlund Nahrung. Dann nimmt diese
eine andere wirkende Kraft auf und bewirkt daraus Empfindung, Reife und
überhaupt Leben und Stärke und wer weiß wieviele und welcherlei Dinge
sonst! Betrachte nur die verborgenen Wirkungen und lerne die hierbei
tätige Kraft kennen, wie wir auch die Kraft, vermöge der die Körper sich
senken oder steigen, zwar nicht sichtbar aber doch geistig wahrnehmen.


27

Denke stets daran, daß alles, wie es jetzt ist, auch einst war und dann
schließe, daß es künftig ebenso sein werde. Stelle dir alle
gleichartigen Schauspiele und Auftritte vor, die du aus Erfahrung oder
aus der Geschichte kennst, z.B., den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof
Antonins, den ganzen Hof Philipps, Alexanders und den Hof des Krösus.
Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen gegeben.


28

Ein Mensch, der seinem Unwillen über irgend etwas Luft macht und sich
beklagt, unterscheidet sich im Grunde genommen gar nicht von--einem
Stück Vieh, das beim Schlachten mit allen Vieren um sich stößt und dazu
schreit. Und anders ist auch nicht einmal der, der auf seinem Lager
hingestreckt stillschweigend seufzt, wenn man ihm den Verband anlegt.
Denn dem vernunftbegabten Wesen ist es doch gegeben--und das ist seine
Auszeichnung, bereitwillig sich in das zu schicken, was ihm geschieht.
Sich schicken wenigstens ist notwendig für alle.


29

Bei jeglichem Dinge, womit du beschäftigt bist, frage dich, ob der Tod
darum, weil er dich seiner beraubt, etwas so Schreckliches ist.


30

Sooft du unter dem Fehler eines anderen zu leiden hast, frage dich, ob
du nicht auch in ähnlicher Weise gefehlt, ob du z.B. nicht auch schon
das Geld, das Vergnügen, den Ruhm und ähnliches für ein Gut gehalten
hast. Dann wirst du deinen Zorn bald lassen, zumal wenn dir dazu noch
einfällt, daß er gezwungen war. Denn was kann er tun? Aber wenn es
möglich wäre, befreie ihn von jenem Zwang!


31

Siehst du, Satyrio, den Sokratiker, so stelle dir den Eutyches oder
Hymenes vor; siehst du den Euphrates, so denke an Eutyches oder
Silvanus und auch an Alkiphron und Tropäophorus und auch bei Xenophons
Anblick falle dir Kniton oder Severus ein, und indem du auf dich selbst
zurückschaust, stelle dir einen anderen Kaiser und bei jedem wieder
seinesgleichen vor! Dann falle dir zugleich die Frage ein: "Wo sind nun
jene?" Nirgends oder wer weiß wo. Denn auf diese Art wird dir alles
Menschliche stets nur als ein Rauch, als ein wahres Nichts erscheinen,
zumal, wenn du dich zugleich erinnerst, daß, was sich einmal verwandelt
hat, in der unendlichen Zeit nicht mehr sein werde. Wie lange also du
noch? Warum genügt es dir nicht, diese kurze Spanne Zeit mit Anstand
hinter dich zu bringen? Was für schwierige Dinge und Aufgaben sind es
denn, denen du aus dem Wege gehen möchtest? Aber was ist denn dies alles
anders als Übungen für die Vernunft, daß sie die Dinge des Lebens immer
tiefer und wahrer erschauen lerne? Also verweile nur bei jeglichem
Gegenstande so lange, bis du ihn dir völlig zu eigen gemacht hast, wie
ein starker Magen sich alles zu eigen macht, oder wie ein helles Feuer,
was du hineinwerfen magst, in Glanz und Flamme verwandelt.


32

Niemand müsse mit Wahrheit von dir sagen können, daß du nicht lauter,
daß du nicht rechtschaffen seist; vielmehr sei der ein Lügner, der also
von dir urteilen wollte. Das alles aber kommt nur auf dich an. Denn wer
will dich hindern, rechtschaffen und lauter zu sein? Fasse nur den
Entschluß, nicht länger zu leben, ohne ein solcher Mann zu werden. Auch
die Vernunft billigt es keineswegs, wenn du es nicht bist.


33

Ruhe nicht eher, als bis du es so weit gebracht hast, daß ein der
menschlichen Bestimmung entsprechendes Handeln in jedem einzelnen Falle
dir ganz dasselbe ist, was ein Leben in Herrlichkeit und Freude für die
Genußsüchtigen. Denn eben als einen Genuß mußt du es auffassen, wenn dir
vergönnt ist, deiner Natur gemäß zu leben. Und dies ist dir immer
vergönnt. Nicht so den Dingen der unbeseelten Natur: der Walze ist es
oft verwehrt, sich in der ihr natürlichen Weise zu bewegen und ebenso
dem Wasser und dem Feuer usf. Denn hier sind mannigfache Hindernisse.
Geist aber und Vernunft vermögen Kraft ihrer natürlichen Beschaffenheit
und in Kraft ihres Willens alle Hindernisse zu überwinden. Drum gilt es,
nichts so lebendig vor Augen zu haben, als diese Leichtigkeit, mit der
die Vernunft sich durchzusetzen vermag, mit der sie sich, wie das Feuer
nach oben, der Stein nach unten, die Walze um ihre Achse, durch alles
hindurch bewegt. Was es auch für sie an Hindernissen gibt, das gehört
entweder dem toten Leibe an, oder es kann sie, ohne Beihilfe des
Gedankens und wenn sie nicht selbst die Erlaubnis dazu gibt, nicht
verwunden, ihr überhaupt nichts Böses tun. Sonst müßte sie ja dadurch
notwendig schlechter werden, wie man dies bei anderen Schöpfungen sieht,
daß, wenn ihnen etwas Übles widerfährt, sie wirklich darunter leiden,
d.h. dadurch schlechter werden. Beim Menschen aber muß man vielmehr
sagen, wenn er den Hemmungen, auf die er stößt, richtig begegnet, wird
er besser dadurch und preiswürdiger.--Überhaupt aber denke daran, daß
dem eingesessenen Bürger nichts schadet, was dem Staate nichts schadet,
und ebensowenig dem Staat, was dem Gesetz nichts schadet. Von dem, was
man Unglücksfall nennt, schadet aber nichts dem Gesetz. Was also dem
Gesetz nichts schadet, schadet weder dem Staat noch dem Bürger.


34

Für den, den wahre Philosophie erfüllt, reicht die Erinnerung an jene
Verse hin:

"Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere
        treibt dann
  Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet
        der Frühling.--
  So der Menschen Geschlecht."--

um Traurigkeit und Furcht ihm zu verscheuchen. Blätter sind auch deine
Kindlein. Blätter alles, was so laut schreit, um sich Glauben zu
verschaffen, was so hohes Lob zu spenden oder so zu verfluchen oder nur
so insgeheim zu tadeln oder zu spotten liebt; Blätter auch, die deinen
Ruhm verkünden sollen. Denn um die Frühlingszeit keimt alles hervor.
Dann kommt der Herbstwind und wirft wieder alles zu Boden, damit anderes
an seine Stelle trete. Kurze Lebensdauer ist der Charakter aller Dinge.
Du aber fliehst und verfolgst alles, als sollte es ewig dauern. Über ein
Kleines, und auch deine Augen schließen sich, und den, der dich
bestattet, beweint bald ein anderer.


35

Ein gesundes Auge muß jeden Anblick ertragen können und darf nicht immer
bloß Grünes sehen wollen. Ein gesundes Ohr, eine gesunde Nase ist auf
jeden Schall und jeden Geruch gefaßt. Ein gesunder Magen verhält sich
gegen jede Speise gleich, wie die Mühle eben alles mahlt, was zu mahlen
geht. Ebenso nun muß auch eine gesunde Seele auf jedes Schicksal gefaßt
sein. Wer aber spricht: meine Kinder müssen am Leben bleiben, oder: die
Leute müssen stets billigen, was ich tue, dessen Seele gleicht dem Auge,
welches das Grüne, oder den Zähnen, die nur Weiches haben wollen.


36

Niemand ist so glücklich, daß nicht einst an seinem Sterbelager einige
stehen sollten, die diesen Fall willkommen heißen. Ist´s auch ein
trefflicher und weiser Mensch, so findet sich am Ende doch immer jemand,
der aufatmend von ihm sagt: nun werde ich von diesem Zuchtmeister
erlöst; er war zwar keinem von uns lästig, aber ich hatte immer das
Gefühl, als verdamme er uns stillschweigend alle miteinander! Und das
ist beim Tode eines Trefflichen! Wie vieles mag unsereiner also an sich
haben, um deswillen so mancher wünscht, von uns befreit zu werden. Daran
denke in deiner Sterbestunde! Denke, du sollst eine Welt verlassen, aus
der dich deine Genossen, aus der dich die, für die du so vieles
ausgestanden, soviel gebetet und gesorgt hast, nun hinwegwünschen, indem
sie aus deinem Scheiden so manche Hoffnung schöpfen. Was könnte dich
also noch länger hier festhalten! Und doch darfst du deshalb mit nicht
geringerem Wohlwollen von ihnen scheiden, sondern mußt um deiner selbst
willen ihnen Freund bleiben und freundlich, sanft von ihnen Abschied
nehmen, ebenso sanft, wie sich die Seele dessen vom Körper trennt, dem
ein seliges Sterben beschieden ist. Denn die Natur hat dich auch so mit
deinen Freunden verbunden. Und wenn sie dich jetzt von ihnen ablöst, so
geschieht dies eben als von deinen Freunden, und nicht so, daß du von
ihnen fortgerissen würdest, sondern sanft von ihnen scheidest. Es ist
dies wenigstens auch eine von den Forderungen der Natur.


37

Bei allem, was von anderen geschieht, suche herauszubringen, welchen
Zweck sie verfolgen. Aber fange damit bei dir selbst an, erforsche
zuerst immer dich selbst!


38

Das, was dich bewegt, was dich mit unsichtbaren Fäden hierhin und
dorthin zieht, das ist in deinem Innern. Hier schlummert das beredte
Wort, hier wurzelt das Leben, hier ist der eigentliche Mensch. Nie
schreibe diese Bedeutung dem Gefäße zu, das dieses dein Inneres umgibt,
oder den Organen, die ihm angegliedert sind. Ohne bewegende Kraft sind
sie nicht mehr, als ein Weberschiff ohne Weber, eine Feder ohne
Schreiber, eine Peitsche ohne Wagenlenker.




Elftes Buch


1

Wir betrachten noch einmal die Eigentümlichkeit der vernünftigen Seele.
Also: sie sieht sich selbst, sie setzt sich selbst auseinander, die
Frucht, die sie hervorbringt erntet sie auch selbst (nicht wie bei den
Früchten, die die Pflanzen- oder Tiernatur hervorbringt, die andere
ernten). Ferner, sie erreicht ihr Ziel, wann immer das Leben zu Ende
sein mag; anders als bei den Tanzstücken, und bei jedem Schauspiel, wo
die ganze Handlung zum bloßen Stückwerk wird, wenn etwas dazwischen
kommt. Denn sie führt, was sie sich vorgesetzt, vollständig und makellos
zu Ende, an welchem Teile der Handlung und wo überhaupt sie auch
betroffen werden mag, so daß sie sagen kann: "Ich habe das Meinige
beisammen." Sie umfaßt ferner die ganze Welt samt dem sie umgebenden
Raume, und vermag sich ein Bild von ihr zu machen; sie dringt in die
Unendlichkeit der Zeit, nimmt wahr die periodisch stattfindende
Wiedergeburt aller Dinge, betrachtet sie und erkennt, daß, die nach uns
kommen, nichts anderes sehen werden, so wie auch unsere Vorfahren nichts
anderes sahen, sondern daß der, der etwa vierzig Jahre alt geworden,
wofern er nur Geist hat, alles was gewesen und was sein wird, gesehen
hat. Endlich ist es der vernünftigen Seele auch eigen, den Nächsten zu
lieben, wahr zu sein, Ehrfurcht zu haben und nichts höher zu achten als
sich selbst. Und in dem allen stimmt sie mit den Forderungen des
allgemeinen Weltgesetzes überein, so daß zwischen der gesunden Vernunft
und dem Wesen der Gerechtigkeit kein Unterschied ist.


2

Ein schöner Gesang, ein schöner Tanz, ein schönes Spiel ist nur so lange
schön, solange man das Ganze anschaut. Zerlegt man aber jenen in seine
einzelnen Töne, diese in ihre einzelnen Bewegungen, und hält dieselben
für sich fest, so verlieren sie ihren Reiz. Nur die Tugend und was von
ihr ausgeht, ist und bleibt immer schön. Daher übe nur bei allem andern
jene Zergliederung, auch bei der Anschauung des Lebens.


3

Wann ist die Seele wahrhaft bereit, sich von dem Leibe zu trennen und so
entweder zu verlöschen oder zu zerstieben, oder mit ihm fortzudauern?
Wenn diese Bereitheit aus dem eigenen Urteil hervorgeht; wenn es nicht
bloß aus Hartnäckigkeit geschieht, wie bei den Christen, sondern mit
Überlegung und Würde und ohne Schauspielerei, so daß auch andere dem
Eindrucke sich nicht entziehen können.


4

Hast du etwas getan zum Wohle anderer? Dann hast du auch dein eigenes
gefördert. Das kann man gar nicht oft genug sich selber sagen.


5

Was treibst du für eine Kunst? Die Kunst, gut zu sein. Wie könnte dies
aber anders gelingen als durch klare Einsicht in das Wesen der Natur und
des Menschen.


6

Zuerst entstanden die Tragödien, die uns erinnern, daß alles, was
geschieht, gerade so geschehen müsse. Und dann wollen wir doch, was uns
auf der Bühne ergötzt, uns nicht zum Anstoß gereichen lassen, wenn´s auf
der größeren Bühne uns entgegentritt. Auf die Tragödie folgt die alte
Komödie. Ihr Freimut war erzieherisch. Wir wurden durch ihr
offenherziges Wesen gemahnt, Prunk und Stolz abzutun. Daher entlehnte
sogar ein Diogenes nicht selten aus ihr. Dann kam die Komödie der
mittleren Zeit und dann die neueste. Sie artete bald in ein künstliches
Wesen der Nachahmung aus. Und wenn wir auch nicht verkennen daß sie so
manches Treffliche enthält, so frage ich doch: welchen Zweck denn
eigentlich diese ganze dramatische Poesie verfolge?


7

Wie weit bist du in der Erkenntnis, daß keine andere Lebensweise zum
Philosophieren so geeignet sei, als die, die du jetzt gerade führst?


8

Ein Zweig von seinem Nachbarzweige losgehauen, ist damit notwendig
zugleich auch vom ganzen Baume abgehauen. So auch der Mensch: hat er
sich nur mit einem einzigen zerspalten, so ist er von der ganzen
menschlichen Gesellschaft abgefallen. Den Zweig nun haut ein anderer ab,
der Mensch aber trennt durch seinen Haß und seine Feindschaft sich
selbst von seinem Nächsten, freilich, ohne es zu wissen, daß er sich
damit auch vom Ganzen losgerissen. Doch ist es ein Geschenk des Gottes,
der die menschliche Gesellschaft gründete, daß es uns freisteht, mit
dem, woran wir früher hielten, wiederum zusammenzuwachsen und so zur
Vollendung des Ganzen wieder beizutragen, nur daß, je öfter eine solche
Lostrennung geschieht, die Einigung und Wiederherstellung desto
schwieriger wird, und daß ein Zweig, der von Anfang an im Zusammenhange
mit dem Stamme blieb und mit ihm verwachsen stets dasselbe ein- und
aushauchte, doch ein ganz ander Ding ist, als der Zweig, der erst
getrennt, dann wieder eingepfropft worden. Denn was auch die Gärtner
sagen mögen: er wächst wohl an, doch nicht zu jener vollen
Lebenseinheit.


9

Wer dich auch hindern möchte in der Befolgung rein vernünftiger
Grundsätze--, wie es ihm nicht gelingen soll, dich deiner gesunden
Lebensweise wirklich abwendig zu machen--, so soll er noch viel weniger
deinem Herzen die freundliche Gesinnung entreißen. Verrät es doch
dieselbe Schwäche, wenn man solchen Leuten gram wird, wie wenn man
seinem Vorsatz untreu wird, sich niederschlagen läßt und vom Platze
weicht. Den Fahnenflüchtigen gleichen beide, der sowohl der aus Furcht
zurücktritt, wie der, der mit seinem natürlichen Freund und Bruder
verfeindet ist.


10

Kein Naturprodukt steht einem Erzeugnisse der Kunst nach, denn die
Künste sind Nachahmer der Natur. Darum dürfte denn wohl dem
vollkommensten und umfassendsten Naturwesen die künstlerische
Geschicklichkeit nicht fehlen. Und wie die Künste das Geringere nur
leisten um des Besseren willen--darin der Natur selber ähnlich--: so
auch der Mensch, wofern Gerechtigkeit entstehen soll, aus der dann
weiter alle übrigen Tugenden sich entwickeln. Denn wollten wir uns nur
mit sittlich gleichgültigen Dingen zu schaffen machen, wollten wir
leichtgläubig, voreilig, wetterwendisch sein, so stände es schlecht um
die Gerechtigkeit.


11

Nicht kommen die Dinge, die du mit Leidenschaft suchst oder fliehst, zu
dir, nicht sie drängen sich dir auf, sondern du drängst dich ihnen auf.
Kannst du das Nachdenken über sie nur lassen, so bleiben sie auch ruhig
wo sie sind, und man wird dich alsdann nicht ihnen nachlaufen oder auf
der Flucht vor ihnen sehen.


12

Die Seele gleicht einer vollkommenen Kugel, insofern sie sich weder nach
etwas hindehnt, noch nach innen einläuft, weder zerstreut wird, noch
zusammenschmilzt. Sie wird von einem Licht erleuchtet, bei dem sie die
allgemeine Wahrheit und die eigene erkennen kann.


13

Wenn ich bereit bin, einem Irrenden das Rechte zu zeigen, so soll ich
das nicht etwa tun aus Begierde, ihn bloßzustellen, auch nicht, um mit
meiner Langmut zu prahlen, sondern in Liebe und Aufrichtigkeit, wie die
Geschichte von Phokion erzählt, wofern dieser Mann nicht etwa wieder mit
seiner Aufrichtigkeit geprahlt hat. Es muß ein innerliches Tun sein, die
Götter müssen einen Menschen sehen, der nichts mit Ärger aufnimmt,
niemals sich beklagt. Denn was gäbe es auch wohl Schlimmes für dich,
wenn du das stets freiwillig tust, was deiner Natur entspricht, das
Gemeinwohl auf jede mögliche Weise zu fördern, was der Allnatur gerade
dienlich ist.


14

Die einander verachten, sind gerade die, die einander zu gefallen
streben; und die sich untereinander hervortun wollen, gerade die, die
sich voreinander bücken.


15

Wie zweideutig und schmutzig ist jeder, der zu einem andern sagt:
sprich, meine ich´s nicht wirklich gut zu dir? So etwas zu sagen! Es muß
von selber klar werden. Auf deiner Stirn muß es geschrieben stehen: so
ist´s; aus den Augen muß es hervorleuchten, wie des Liebenden Blick die
Liebe gleich verrät. Geheuchelte Aufrichtigkeit ist wie ein Dolch.
Nichts häßlicher als Wolfsfreundschaft. Meide sie allermeist! Der
Gutgesinnte, Aufrichtige und Wohlwollende zeigt sich unverkennbar schon
in seinen Augen.


16

Wahrhaft gut zu leben--das ist eine Kraft und Fertigkeit der Seele; und
sie verfügt darüber, wenn sie gegen das, was gleichgültig ist, sich
wirklich auch gleichgültig verhält. Diese Gleichgültigkeit aber beruht
wieder darauf, daß man die Dinge sich genau und von allen Seiten
ansieht. Denn wir sind es selbst, die ihnen eine uns ängstigende
Bedeutung unterlegen und sie uns so ausmalen, während es doch in unserer
Macht steht, sie nicht so auszumalen, oder wenn sich ein solches Bild
einmal unvermerkt in unsere Seele geschlichen hat, es sofort wieder
auszulöschen. Auch braucht es solcher Vorsicht ja nur kurze Zeit! das
Leben geht zu Ende!--Was hat demnach dies richtige Verhalten für große
Schwierigkeiten? Denn ist es naturgemäß, so freue dich und nimm es
leicht, ist´s naturwidrig, untersuche, was deiner Natur gemäß ist,
strebe danach, auch wenn es dir keinen Ruhm einbringt. Jedem ist
gestattet, sein eigenes Wohl zu suchen.


17

Untersuche, woher jedes Ding seinen Ursprung nimmt und aus welchen
Stoffen es besteht und in welche Form es sich verwandelt, wozu es durch
die Umwandlung wird und daß ihm damit kein Übel widerfährt.


18

Das Wichtigste ist immer zu wissen, in welchem Verhältnisse ich zu
anderen stehe, nämlich, daß wir alle, einer um des anderen willen da
sind (wobei sich das Verhältnis näher auch so gestalten kann, daß einer
der Vorgesetzte der andern ist, wie der Widder der Schafherde, der Stier
der Rinderherde). Dann, daß man die Menschen beobachtet, wie sie´s
daheim, bei Tische oder sonstwo zu treiben pflegen, und welche
Grundsätze als treibende Kraft in ihnen liegen. Und zumeist, welche
Gewalt haben ihre Grundsätze über sie und mit wieviel Eigendünkel
verrichten sie ihre Handlungen? Drittens, daß man bedenkt, daß alle, die
unvernünftig handeln, unfreiwillig und unwissend so handeln--und Schmerz
genug für sie liegt schon darin, daß sie eben Ungerechte, Undankbare,
Geizige oder mit einem Worte Übeltäter heißen. Ferner, daß auch du so
manchen Fehler hast und von derselben Art bist wie sie; daß, wenn du
dich von gewissen Vergnügungen fern gehalten hast--vielleicht war´s
Feigheit oder Ehrgeiz oder etwas dem Ähnliches, was dich fernhielt--du
doch auch den Charakter hast, aus dem jene Vergehungen entspringen.
Ferner, daß es gar nicht immer so feststeht, ob sie gefehlt haben, wenn
es dir auch so scheint. Denn vieles geschieht aus einer weisen
Berechnung der Umstände, die uns verborgen sein können. Man muß
überhaupt erst so manches gelernt haben, ehe man über die Handlungsweise
eines anderen richtig urteilen kann. Dann denke man doch immer wieder an
die Kürze des menschlichen Lebens, zumal wenn man so recht aufgelegt
ist, unwillig zu werden und aufzubrausen. Und weiter, daß es ja eben
nicht jene Handlungen sind, die uns Beschwerde machen, sondern unsere
Vorstellungen, die wir uns über sie machen. Schicke sie heim, und dein
Zorn wird sich legen. Aber wie? Durch die Erwägung daß, was dir durch
jene widerfährt, in Wahrheit nichts Schlechtes sei. Wäre es schlecht,
dann wärst du ja notwendig selber dadurch schlecht geworden.--Und
weiter, daß Zorn und Unwille über solche Dinge uns doch viel mehr
beschweren, als die Dinge, über die du dich erzürnst. Und endlich, daß
ein liebevolles Gemüt, wenn seine Liebe wirklich echt und ungeheuchelt
ist, durch nichts kann überwunden werden. Auch dein allerärgster Feind
kann dir nichts anhaben, wenn du auf deiner Liebe zu ihm beharrst, wenn
du bei Gelegenheit ihn ermahnst und gerade, wenn er im Begriff ist, dir
weh zu tun, ihm freundlich zusprichst: nicht doch, Lieber; wir sind zu
etwas anderem geboren; mir schadest du ja nicht, du schadest dir selber,
Kind! wenn du ihm so in sanfter Weise und alles wohlerwogen zeigst, daß
sich dies so verhalte, und daß nicht einmal die Tiere so verfahren, die
in Herden beisammen leben. Freilich muß dies ohne alle Ironie geschehen,
nicht mit dem versteckten Wunsche, ihn zu demütigen, sondern aus reiner
Liebe und ohne das Gefühl erlittener Kränkung, auch nicht im
Schulmeisterton oder im Beisein eines andern, sondern mit ihm allein,
selbst wenn andere gegenwärtig wären.--Diese neun Punkte also erwäge
fleißig, laß sie Eingang bei dir finden, als wären es ebensoviele Gaben
der Musen und fange einmal an, ein Mensch zu sein, solange du noch
lebst. Sanftmut und Milde--das ist das echte Menschliche und Männliche;
hierin liegt Kraft und Tapferkeit und Stärke, nicht im Zorn und im
beleidigten Wesen. Denn je näher etwas an die völlige
Leidenschaftslosigkeit grenzt, desto näher kommt es wirklicher Macht.
Und wie die Traurigkeit ein Zeichen der Schwäche ist, so ist es auch der
Zorn. In beiden sind wir verwundete, geschlagene Leute. Aber freilich,
vor Kriecherei muß man sich ebensosehr hüten, wie vor dem Zorn, da sie
ebenso gegen die Grundbedingungen der Gemeinschaft ist und ebenso
verderblich wirkt.--Willst du, so nimm vom Musageten noch ein Zehntes:
Wahnsinnig ist´s zu fordern, daß schlechte Menschen nicht fehlen sollen,
unbillig aber und willkürlich, zu verstatten, daß sie sich gegen andere
vergehen, nicht aber, daß sie dich verwunden.


19

Viererlei Verirrungen des Geistes gibt es, vor denen man sich stets in
acht zu nehmen hat, und denen man, sobald sie ausgespürt sind, ausbiegen
muß, indem man sich bewußt wird: dies ist ein Gedanke, zu dem dich
nichts zwingt; dies ist etwas, wodurch die menschliche Gesellschaft
aufgelöst wird; dies redest du nicht von dir selbst (und es gibt nichts
Törichteres, als nicht aus sich selbst heraus zu sprechen). Endlich,
eine Schmach ist es, die du dir selber zufügst, sooft das göttlichere
Teil an dir erniedrigt und herabgewürdigt ist von dem geringeren und
sterblichen und dessen groben Lüsten.


20

Alles Luftige und Feurige, was deinem Wesen beigemischt ist, obwohl es
von Natur nach oben strebt, gehorcht doch der Anordnung des Alls und
bleibt hier ruhig in der gesamten Masse. Ebenso alles Erdige und
Feuchte, das nach unten strebt, wird doch fortwährend gehoben und
behauptet den seiner Natur nicht zukommenden Ort. So gehorchen die
Stoffe der Natur, wenn sie gewaltsam irgendwohin gestellt sind, und
verweilen hier, bis das Zeichen zu ihrer Auflösung gegeben ist. Ist es
nun nicht schlimm, wenn die Vernunft allein nicht gehorsam sein will und
die ihr zugewiesene Stelle mit Unwillen betrachtet? Und das, wiewohl
ihr nirgend Zwang auferlegt wird, sondern nur das, was ihrer Natur
entspricht? Denn jede ihrer Bewegungen nach dem Unrecht oder nach dem
Sinnenreiz, nach dem Zorn, nach dem Schmerz und nach der Furcht ist
nichts anderes, als ein solches Fortstreben von dem ihr zugewiesenen
Orte, als ein Abfall von der Natur. Und sooft deine Vernunft über
irgendein Ereignis mißmutig wird, verläßt sie ihren Posten. Du bist zur
Gleichmütigkeit und Gottesfurcht nicht weniger als zur Gerechtigkeit
geschaffen. Der Begriff des Gemeingeists enthält noch jene Tugenden ja
sie sind sogar älter als das Recht.


21

Wer nicht im Leben einen und denselben Zweck verfolgt der ist auch
eigentlich nicht ein und derselbe Mensch. Doch kommt es vor allem darauf
an, von welcher Art dieser Zweck ist. Es hängt dies genau mit dem
Begriff der Güter zusammen, der schwankend und unbestimmt bleibt,
solange es sich darum handelt, was jedem einzelnen gut ist, und der zur
Klarheit und Bestimmtheit nur gebracht werden kann, wenn man das Ganze,
die Gemeinschaft aller ins Auge faßt. Und so muß auch der Zweck des
Lebens eines jeden sich nach dem Ganzen richten, mit dem Zweck der
Gemeinschaft, der man angehört, harmonisch wirken. Wer nun alle seine
besonderen Neigungen diesem Zweck unterordnet und ihm gemäß gestaltet,
der wird dadurch auch Konsequenz in seine Handlungsweise bringen und so
immer derselbe Mensch sein.


22

Das menschliche Leben gibt mir oft nichts weiter, als das Bild einer
Haus- oder Feldmaus, die erschrocken hin und her läuft.


23

Sokrates nannte die Meinungen der Menge Lamien, Schreckgestalten für
Kinder.


24

Die Lakedämonier stellten bei ihren Schauspielen die Sitze für Fremde in
den Schatten. Sie selbst setzten sich an den ersten besten Platz.


25

Als Sokrates sich bei Perdikkas entschuldigte, warum er seine Einladung
nicht angenommen habe, sagte er: damit ich nicht vor Schimpf und Schande
zu vergehen brauche als einer, der Wohltat empfängt, ohne sie mit
Wohltat vergelten zu können.


26

In Epikurs Schriften war die Lebensregel aufgezeichnet, daß man aus der
Reihe der alten Tugendfreunde beständig einen im Andenken behalten
solle.


27

Die Pythagoräer sagen, man müsse früh zum Himmel aufblicken, damit wir
derer gedenken, die immer eines und dasselbe, und die ihr Werk stets auf
dieselbe Weise treiben, damit wir ihrer Ordnung, ihrer Reinheit, ihres
unverhüllten Wesens gedenken. Denn die Gestirne haben keine Hülle.


28

Was für ein Mann war Sokrates, der ein Fell umgürtete, als Xanthippe in
seinem Obergewand ausgegangen war! Und was sagte er zu seinen Freunden,
als sie ihn in diesem Aufzug erblickten und entsetzt zurücktraten? Nicht
das Kleid macht den Mann!


29

Weder im Schreiben noch im Lesen kannst du Vorschriften erteilen, ehe du
mit deren Befolgung vorausgegangen bist. Im Leben noch viel weniger.


30

"Der Sklavenseele ziemt es mitzusprechen nicht."


31

"Laß sie die Tugend schmähen, mit was für Worten
      sie wollen"--
"--Und es lachte das Herz mir im Busen."


32

Lästern werden die Schwätzer mit harten Worten die Tugend.


33

Wer im Winter eine Feige sucht, ist wahnwitzig. Ebenso wer sich nach
einem Kind sehnt, wenn ihm ein solches nicht mehr vergönnt ist.


34

Nach Epiktet soll jeder, der sein Kind küßt, bei sich denken: morgen
vielleicht ist es tot. Das klingt wie eine Lästerung. Aber, sagt er,
kann das eine Lästerung genannt werden, womit ich etwas rein Natürliches
bezeichne? wenn ich z.B. sage: die Ähren werden abgemäht?


35

Jetzt unreife Traube, dann reif, dann getrocknet--lauter Wandlungen,
doch nicht etwa in ein Nichts, sondern in ein Etwas, das jetzt noch
nicht ist.


36

Einen Räuber des Willens gibt es nicht, sagt Epiktet.


37

Du mußt, sagt derselbe, mit dem Beifall kunstgerecht umgehen lernen und
bei deinen Zielen die Vorsicht beobachten, daß sie an Bedingungen
geknüpft sind, sich aufs Gemeinwohl richten und durch den Wert der Dinge
bestimmen lassen. Aber der Begierden mußt du dich enthalten und meiden,
was nicht in deiner Gewalt steht.


38

Der Streit betrifft also (sagt Epiktet) nicht eine Alltagsangelegenheit,
sondern vielmehr die Frage, ob man wahnsinnig sei oder nicht. Denn nach
stoischer Anschauung sind alle Lasterhaften wahnsinnig.


39

Sokrates sagte: Was wollt ihr? wollt ihr Seelen vernünftiger oder
unvernünftiger Wesen? Vernünftiger. Welcher Vernünftigen? Gesunder oder
verderbter? Gesunder. Nun, warum sucht ihr sie nicht auf? Suchen? weil
wir sie haben! Also warum zankt und streitet ihr euch?




Zwölftes Buch


1

Alles, was du jetzt auf Umwegen zu erreichen wünschest, könntest du
schon besitzen, wenn du nicht mißgünstig gegen dich selber wärest. Es
wäre dein sobald du imstande wärst, was hinter dir liegt, auf sich
beruhen zu lassen, was vor dir, der Vorsehung anheimzustellen, und nur
das Gegenwärtige der Frömmigkeit und Gerechtigkeit gemäß zu gestalten;
der Frömmigkeit, indem du dich deines Schicksals freust, der
Gerechtigkeit, indem du freimütig und ohne Umschweif die Wahrheit redest
und tust, was das Gesetz und was der Wert jeder Sache erfordern,
unbeirrt von anderer Schlechtigkeit, von irgendwelchen übelangebrachten
Vorstellungen, von dem Gerede anderer und von den Empfindungen deiner
fleischlichen Hülle. Denn wenn du so deinem Lebensende entgegengehst,
alles andere mit Gleichgültigkeit betrachtest, nur das Göttliche in dir,
die herrschende Vernunft verehrend, und nicht sowohl das Aufhören des
Daseins als vielmehr das Nichtbeginnen eines naturgemäßen Lebens
fürchtest, dann darfst du auch ein Mensch heißen, der würdig ist der
Welt, die ihn hervorgebracht, und wirst aufhören, ein Fremdling zu sein
in deinem Vaterlande.


2

Nackt und von dem Gefäß, der Schale, dem Schmutz des Körpers entblößt
sieht Gott die Seele. Denn die eigentliche Berührung zwischen ihm und
seinen Werken findet nur vermittelst seines Geistes statt. Mach es ihm
nach und du befreist dich von so mancher Last und Sorge. Denn wer erst
absehen gelernt hat von seinem Leibe, der ihm das Nächste ist, der
achtet dann gewiß auch nicht mehr auf Kleidung, Häuslichkeit, Ansehen
bei den Leuten und all dergleichen Äußerlichkeiten.


3

Du bestehst aus drei Teilen: Leib, Seele und Geist. Leib und Seele sind
dein, nur soweit es deine Pflicht ist, für sie zu sorgen. Der Geist aber
ist ganz eigentlich dein. Doch nur, wenn du ihn frei zu machen weißt von
allen Einflüssen der Außenwelt, des eigenen Leibes und der dem Leibe
eingepflanzten Seele, so daß er ein Leben aus sich und für sich selber
führt, vollbringt, was die Gerechtigkeit gebietet, will, was das
Schicksal auferlegt und wahr ist in seinen Reden, nur dann kannst du die
noch übrige Zeit ruhig und heiter leben und wirst treu bleiben deinem
Genius.


4

Ich wundere mich oft darüber, wie derselbe Mensch, der sich mehr liebt
als alle anderen, dennoch mehr Gewicht auf das Urteil anderer über ihn,
als auf das eigene legen kann. Bedenkt man freilich, daß kein noch so
bedeutender Lehrer, ja daß kein Gott es auch nur einen Tag lang von uns
erreichen würde, gleich zu sagen, was wir denken, so wie wir den
Gedanken nur gefaßt, so ist´s auch wiederum natürlich, daß wir eine weit
größere Scheu vor dem haben, was andere von uns denken, als vor unserer
eigenen Meinung.


5

Wie mag es nur kommen, daß die Götter, die doch alles so schön und
menschenfreundlich eingerichtet haben, das eine übersehen konnten, daß
selbst die wenigen trefflichen Menschen, die mit dem Göttlichen aufs
innigste verkehrten und sich ihm durch fromme Werke und heiligen Dienst
zu besonderen Freunden gemacht haben, wenn sie einmal tot sind, nicht
wiederkommen, sondern ganz und gar verschwunden sind? Allein, wenn sich
die Sache wirklich so verhält, so wisse, daß, wenn es anders hätte sein
sollen, sie´s auch anders gemacht hätten. Wäre es gut gewesen, hätte es
auch gewiß geschehen können; wäre es natürlich, so würde es die Natur
auch einrichten. Daraus also, daß es nicht so ist, wofern es nämlich
nicht so ist, erkennst du, daß es nicht so sein darf. Und--würdest du
denn überhaupt auf diese Weise mit den Göttern rechten, wenn nicht die
stillschweigende Voraussetzung wäre, daß sie die besten und
gerechtesten sind? Und daraus folgt ja schon von selbst, daß sie in
ihren Anordnungen nicht ungerecht und gegen die Vernunft verfahren
konnten.


6

Auch daran kann man sich gewöhnen, was einem anfangs verzweifelt
erscheint. Die linke Hand, die zu so vielen Dingen unbrauchbar ist aus
Mangel an Gewöhnung, ist doch z.B. zur Führung des Zügels weit
geschickter als die rechte. Weil sie´s gewohnt ist.


7

Denke an die Beschaffenheit des Leibes und der Seele, worin du dich vom
Tod ergreifen lassen mußt, sowie an die Kürze des Lebens, an den
unermeßlichen Zeitraum hinter dir und vor dir, an die Gebrechlichkeit
jeden Stoffes.


8

Betrachte die wirkenden Kräfte der Dinge, von ihrer Hülle entkleidet,
ebenso den Zweck jeden Geschehens! Frage, was Unlust, was Lust, was Tod,
was Ruhm sei, an wem die Schuld der eigenen Ruhelosigkeit liege, wie
niemand von einem anderen gehindert werde und daß alles auf die
Vorstellung ankomme.


9

Bei der Anwendung unserer Grundsätze aufs Leben gilt es mehr dem Ringer,
als dem Fechter ähnlich zu sein. Der nämlich ist verloren, sobald ihm
das Schwert abhanden kommt. Jenem aber steht die Faust immer zu Gebot;
er braucht sie eben nur zu ballen.


10

Sieh zu, wie die Dinge in der Welt beschaffen sind, und unterscheide an
ihnen Stoff, wirkende Kraft, Zweck.


11

Welche Gewalt hat doch der Mensch, der nichts tut, als was Gott loben
kann, und der alles hinnimmt, was Gott ihm sendet!


12

Über das, was eine Folge des natürlichen Verlaufs ist, soll man weder
Göttern noch Menschen Vorwürfe machen. Jene verfehlen sich weder
willkürlich noch unwillkürlich, diese nur unwillkürlich. Also gibt´s
keinen Anlaß, ihnen etwas vorzuwerfen.


13

Was für ein lächerlicher Fremdling auf Erden ist der, der über irgendein
Ereignis in seinem Leben erstaunt.


14

Ist alles eine unabänderliche Notwendigkeit, wie kannst du widerstreben?
Gibt´s aber eine Vorsehung, die sich versöhnen läßt, so mache dich des
göttlichen Beistands würdig! Ist aber auch dieses nicht das Richtige,
ist vielmehr alles nur die planloseste Verwirrung, dann sei froh, daß du
selbst mitten in diesem Wirrwarr an deinem Geiste ein leitendes Triebrad
besitzest. Wohin dich nun auch jene Strömung treiben mag--mag sie den
Leib, die Seele, alles mit hinwegführen, den Geist wird sie nicht mit
sich fortführen!


15

Das Licht der Lampe scheint, bis man es auslöscht; nicht eher gibt es
seinen Strahl ab. Soll denn die Wahrheit, die Gerechtigkeit und
Besonnenheit in dir eher verlöschen?


16

Wenn jemand dir die Meinung beigebracht, er habe sich vergangen, weißt
du auch gewiß, ob es ein Vergehen ist? und wenn er sich wirklich
vergangen hat, ist er selber auch der Meinung? Oder gliche er dann nicht
einem Menschen, der sich selbst das Auge auskratzt? Wer überhaupt
verlangt, daß der Lasterhafte nicht fehlen soll, kommt mir vor wie
einer, der nicht will, daß der Feigenbaum den Feigen Saft gibt, daß die
Kinder schreien, daß Pferde wiehern und dergleichen natürliche Dinge
mehr. Denn was soll er tun, hat er die Anlage dazu? Hast du den Mut,
heile ihn!


17

Was sich nicht ziemt, das tue auch nicht, und was nicht wahr ist, sage
nicht. Dein Hauptbestreben sei jederzeit, das Ganze im Auge zu haben.


18

Sieh immer auf das Ganze und mache dir klar, was in dir gerade die
Vorstellung erzeugt, indem du daran die Urkraft, den Stoff, den Zweck,
die Zeit, in der etwas wieder aufhören muß, unterscheide.


19

Merkst du endlich, daß etwas Besseres und Göttlicheres in dir ist, als
das, was die Leidenschaften hervorruft und was dich bald hierin, bald
dorthin zieht, gleich einer Puppe? Was waltet jetzt in meinem Denken?
Ist´s Furcht, Argwohn oder Begierde oder etwas anderes?


20

Fürs erste: Handle nicht ohne Ursache, nicht ohne Zweck! Zum anderen:
Suche nichts anderes als den allgemeinen Nutzen zu erreichen!


21

Binde dich an keinen Ort, an nichts von dem, was du jetzt siehst, an
keinen derer, die jetzt leben. Denn das alles ist wandelbar und wird
vergehen, um anderen Platz zu machen.


22

Alles ist Vorstellung, und diese hängt von dir ab. Räume, wenn du
willst, die Vorstellung aus dem Weg, und du wirst wie ein Seefahrer, der
das Vorgebirge umschifft hat, auf ruhiger See in die windstille,
wogenfreie Bucht einfahren.


23

Jegliche Tätigkeit, die zur bestimmten Zeit ihr Ende erreicht, leidet
dadurch, daß sie es wirklich erreicht hat, keinen Schaden. Ebensowenig
erleidet der, welcher sich hierbei tätig erwiesen hat, durch diese
Beendigung einen Nachteil. Gleichfalls nun leidet der Inbegriff aller
dieser Tätigkeitsäußerungen, das heißt das Leben, durch ebendieses Ende
keinen Nachteil, und so ist auch der, welcher zu seiner Zeit die Reihe
geschlossen hat, hierdurch in keine schlimme Lage versetzt worden. Jene
Zeit aber und diese Lebensgrenze weist die Natur ab, und zwar zuweilen,
wenn sie erst im Greisenalter eintritt, zugleich die eigene Natur des
Menschen, jedesmal aber jene Allnatur; denn durch Umwandlung ihrer Teile
wird das ganze Weltgebäude stets verjüngt und wieder in volle Blüte
versetzt. Alles aber, was dem Ganzen zuträglich, ist jederzeit auch
schön und zeitgemäß. So ist auch das Aufhören des Lebens für niemand
nachteilig, zumal da es auch, weil von unserer Willkür unabhängig und
dem Gemeinwohl nicht zuwider, niemand Schande macht; vielmehr ist
dasselbe ein Gut, insofern es für das Ganze zeitgemäß nützlich und
zuträglich ist. So ist auch der ein von Gott Geführter, der sich von
Gott auf dessen Wegen und mit seiner Gesinnung zu gleichen Zielen führen
läßt.


24

Folgende drei Grundsätze mußt du stets vor Augen haben: Erstens nämlich
in Ansehung dessen, was du tust, nie ohne Grund noch anders zu
verfahren, als die Gerechtigkeit selbst verfahren haben würde; in
Ansehung dessen aber, was dir von außen zustößt, mag es nun von einem
unglücklichen Zufall oder von der Vorsehung herrühren, dich weder über den
Zufall zu beschweren, noch die Vorsehung anzuklagen. Zweitens, bei jedem
Wesen darauf zu achten, wie es von seiner Empfängnis an bis zu seiner
Beseelung und von seiner Beseelung an bis zu seiner Entseelung
beschaffen sei, desgleichen aus welcherlei Bestandteilen es
zusammengesetzt und in was für welche es wieder aufgelöst werde.
Drittens, daß, wenn du, plötzlich über die Erde emporgerückt, auf die
Menschenwelt herabschauen, den großen, vielgestaltigen Wechsel in
derselben wahrnehmen und zugleich den ganzen Umkreis luftiger und
ätherischer Wesen mit /einem/ Blicke überschauen könntest, daß du
dennoch, sage ich, sooft du emporgerückt würdest, immer wieder dasselbe,
nämlich alles gleichförmig und kurzdauernd finden müßtest. Und hierauf
dürftest du stolz sein.


25

Mache dich nur von deinem Wahne los, und du bist gerettet! Wer hindert
dich denn, ihn abzutun?


26

Trägst du an irgend etwas schwer, so hast du vergessen, daß alles sich
der Allnatur gemäß ereignet und daß fremde Vergehungen dich nicht
anfechten sollen, ferner vergessen, daß alles, was geschieht, immer so
geschehen ist, immer so geschehen wird und überall jetzt so geschieht,
vergessen, welch innige Verwandtschaft zwischen dem einzelnen Menschen
und dem ganzen Menschengeschlecht besteht; denn hier ist nicht eine
Gemeinschaft von Blut oder Samen, sondern der Vernunft. Du hast aber
auch das vergessen, daß der denkende Geist eines jeden ein Gott und ein
Ausfluß der Gottheit ist, vergessen, daß niemand etwas ihm
ausschließlich Eigenes besitzt, sondern sein Kind sowohl als sein Leib
und selbst seine Seele aus jener Quelle ihm zugekommen ist, vergessen
endlich, daß jeder nur den gegenwärtigen Augenblick lebt und folglich
auch nur diesen verliert.


27

Rufe dir immerfort diejenigen wieder ins Andenken zurück, die sich über
irgend etwas gar zu sehr betrübt oder die durch Unglücksfälle,
Feindschaften, durch die größten Ehrenstellen oder durch andere
Glücksumstände großes Aufsehen erregt haben. Dann lege deinem Nachdenken
die Frage vor: "Wo ist jetzt das alles?" Rauch ist´s und Asche, eine
Märe oder auch nicht einmal eine Märe. Daneben laß dir auch so vieles
andere der Art einfallen, zum Beispiel was Fabius Catullinus auf seinem
Landgut, Lusius Lupus in seinen Gärten, Stertinius in Bajä, Tiberius auf
Capri, Rufus in Velia getrieben haben und alle jene, die auf Meinungen
beruhendes Interesse für irgend etwas hatten. Bedenke, wie geringfügig
jeder Gegenstand ihrer Bestrebungen gewesen sei und wieviel
philosophischer es wäre, sich bei jeder dargebotenen Gelegenheit als
gerecht, besonnen, den Göttern folgsam, ohne Gleißnerei zu zeigen. Denn
der Hochmut, der sich mit Demut brüstet, ist der allerunerträglichste.


28

Die dich etwa fragen möchten, wo du denn eigentlich die Götter gesehen,
und woraus du entnommen habest, daß sie sind, so daß du sie verehren
magst, denen gib zur Antwort: Einmal, sie sind wirklich mit Augen zu
sehen. Dann, auch meine Seele habe ich ja noch nie gesehen, und halte
sie doch in Ehren. Daraus, daß ich ihre Macht immer gespürt, habe ich
entnommen, daß die Götter sind, und darum verehre ich sie.


29

Bei jedem Gegenstand zu sehen, was er im ganzen, was er nach seinem
Stoff, was nach seiner Kraft sei, von ganzer Seele das Rechte tun und
das Wahre reden, darauf beruht das Heil des Lebens. Eine gute Tat der
andern so anreihen, daß auch nicht der kleinste Zwischenraum bleibt, was
heißt das anders, als das Leben genießen?


30

Es gibt nur /ein/ Sonnenlicht, obwohl gebrochen durch Mauern, Berge,
tausend anderes. Ein gemeinsamer Stoff, obwohl hindurchgehend durch
tausend eigentümliche Bildungen. Ein Leben, obwohl verteilt auf
unzählige Wesen, deren jedes seine Besonderheit hat. Eine Vernunft,
obwohl auch sie zerteilt erscheint. Alles übrige, die Welt der Dinge,
der empfindungslosen, ist ohne Zusammenhang in sich, obgleich auch hier
der Geist waltet und alles in seine Wagschale fällt, nur das
Menschenherz hat seinen ihm eigentümlichen Zug nach dem, was ihm
verwandt ist, und läßt sich diesen Gemeinschaftstrieb nicht nehmen.


31

Was wünschest du? Bloß fortzudauern? Nein, vielmehr zu empfinden, dich
zu bewegen, zu wachsen, wiederum stille zu stehen, deine Stimme zu
gebrauchen, nachzudenken. Was von allem diesem scheint dir noch
wünschenswert? Ist aber eines wie das andere geringfügig, so wende dich
dem zu, was zuletzt allein noch übrigbleibt: dem Gehorsam gegen die
Vernunft und gegen die Gottheit. Der Verehrung von diesen widerspricht
es jedoch, wenn man sich vom Gedanken gedrückt fühlt, durch den Tod der
erstgenannten Dinge beraubt zu werden.


32

Welch kleines Teilchen der unendlichen und unermeßlichen Zeit ist jedem
von uns zugemessen! So schnell wird es ja von der Ewigkeit verschlungen.
Welch kleines Teilchen von der ganzen Wesenheit! Welch kleines Teilchen
von der ganzen Weltseele! Wie klein ist das Erdklümpchen, auf dem du
umherschleichst! Dies alles bedenke und halte dann nichts für groß als
das: zu tun, wie deine Natur dich leitet, und zu leiden, was die
Allnatur mit sich bringt.


33

Welchen Gebrauch macht die herrschende Vernunft von sich selbst? Hierauf
kommt ja alles an. Das übrige aber, mag es von deiner Willkür abhängen
oder nicht, ist nur Totenstaub und Dunst.


34

Der zur Verachtung des Todes dienlichste Gedanke ist der, daß selbst
diejenigen, welche Sinnenlust für ein Gut und Unlust für ein Übel
erklärten, ihn doch verachtet haben.


35

Wer nur das, was zur rechten Zeit geschieht, für ein Gut hält, wem es
gleichgültig ist, ob er eine größere oder kleinere Zahl vernunftgemäßer
Handlungen aufzuweisen habe, wer zwischen einer länger oder kürzer
dauernden Betrachtung der Welt keinen Unterschied macht, für den ist
auch der Tod nichts Furchtbares.


36

So hast du denn dein Bürgerrecht gehabt, o Mensch, in diesem großen
Reiche. Wie lange es gedauert, darauf kommt´s nicht an. Was den Gesetzen
gemäß ist, ist auch jedem billig. Was also wäre Schlimmes daran wenn du
entlassen wirst? entlassen ja nicht von einem Despoten oder ungerechten
Richter, sondern von der Natur, derselben, die dich eingeführt. So darf
ja wohl der Schauspielleiter, der einen Schauspieler angestellt, ihm
wieder kündigen. Aber, sagst du, von fünf Akten sind ja erst drei
abgespielt! Sehr gut. Doch sind im Leben auch drei Akte das ganze
Stück. Der ehemals die Stoffe zusammenfügte und der jetzt sie wieder
löst, der hat das Ende zu bestimmen. Du bist unschuldig an beidem. So
gehe denn versöhnt! Der dich abspannt, ist´s auch.





End of the Project Gutenberg EBook of Selbstbetrachtungen, by Marc Aurel

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SELBSTBETRACHTUNGEN ***

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