Der Berg der Läuterung

By Emil Ertl

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Title: Der Berg der Läuterung

Author: Emil Ertl

Release date: September 13, 2025 [eBook #76870]

Language: German

Original publication: Leipzig: L. Staackmann Verlag, 1922

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BERG DER LÄUTERUNG ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~

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                               Emil Ertl

                        Der Berg der Läuterung




                                  Der
                          Berg der Läuterung

                                  von

                               Emil Ertl


                            [Illustration]

                    L. Staackmann Verlag / Leipzig
                                 1922




        Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten

            +Für Amerika: Copyright 1922 by L. Staackmann,
                               Leipzig+


                 Druck von Grimme & Trömel in Leipzig.




            Der Hölle Greu'l entflohn, will ich nun singen
            Vom steilen Berg, wo sich die Seelen läutern
            Und würdig werden, sich zum Licht zu schwingen....

            ... Gebeugten Rückens sah ich sie da stehen,
             Erdrückt halb von der Last, unmenschlich schwer,
             Und der Geduldigste sogar -- zu flehen
             Schien weinend er: Ach Gott, ich kann nicht mehr!


                                             ~Dante~, Purgatorio.




                                Inhalt


                                              Seite

                    1. Die Sofapuppe              9

                    2. Das Rotkehlchen           33

                    3. Die Sphinx               115

                    4. Der Mieter               187

                    5. Die Zobelkinder          255




                             Die Sofapuppe


Die alte würdige Kammerfrau hatte eben die letzte Hand an die
Abendtoilette ihrer jugendlichen Herrin gelegt, mit erfahrenen Fingern
nestelte sie noch am kostbaren Pelzbesatz der Dekolletage und war
gerade damit fertig geworden, als das Telephon klingelte.

»Bitte, wollen Sie gefälligst nachsehen?« befahl die Dame.

Während die treue Dienerin sich entfernte, kramte die schöne junge
Frau in dem Schmuckkästchen, das auf dem Stellfach der Psyche stand,
trat vor den Spiegel und legte sich eine prachtvolle Diamantenrivière
um den schlanken Hals, indem sie die herrlich geformten Arme
zurückbog und die Schließe einschnappen ließ. Die großen Solitärs des
geschmackvollen Schmuckstückes blitzten wie lebendiges Feuer um ihren
blendend weißen Hals und sprühten tausend farbige Funken bei jedem
Atemzug der tadellosen Büste. Ein befriedigtes Lächeln spielte um ihre
sonst ernst verschlossenen Lippen, erwartungsvoll wendete sie sich der
wiedereintretenden Zofe entgegen.

»Kommt mein Mann mich abholen?«

»Der gnädige Herr läßt sich entschuldigen, er muß noch zu einer Sitzung
fahren, die er gänzlich vergessen hatte, und hierauf noch einmal in
sein Bureau zurückkehren, aber nur für ein paar Minuten. Er bittet die
gnädige Frau, ihn dort abzuholen, in etwa einer halben Stunde wird er
das Auto herschicken.«

»Dann hätte ich mich nicht so zu beeilen brauchen,« sagte die Dame
verstimmt.

Mit einer müden Geste trat sie ans Sofa und ließ sich sichtlich
übelgelaunt in die Kissen gleiten.

»Nichts ist lästiger, als wenn man in großer Toilette so dasitzen und
warten soll,« sagte sie, die Lippen aufwerfend. »Überhaupt die leidigen
Gesellschaften, Abend für Abend! Sie sind im Dienste meiner verewigten
Eltern grau geworden und kennen mich lange genug, um zu begreifen, wie
lästig mir das ist! Am liebsten kleidete ich mich wieder um und bliebe
daheim.«

»Das würde der gnädige Herr sehr übel nehmen,« erlaubte sich die alte
Zofe zu bemerken. »Gerade heute, am Verlobungstag ...«

»Ja, eben, gerade heute!« flammte die junge Frau auf, während Röte in
ihre Wangen stieg. »Wie gern hätte ich gerade diesen Abend zu Hause
und mit ihm allein verbracht! Bekam ich in den bald vier Jahren, die
wir verheiratet sind, ihn überhaupt zu sehen außer in Gesellschaft?
Diesen einen Abend, am Jahrestag unserer Verlobung, hätte er mir wohl
widmen können! Aber da ist wieder einmal so ein hohes Tier aufgetaucht,
eine einflußreiche Persönlichkeit, der ich den Hof machen soll,
damit er geschäftlichen Nutzen daraus zieht. Finden Sie das nicht
unwürdig? Übrigens wird er mich mit solchen Zumutungen ein nächstes
Mal voraussichtlich verschonen, ich hab' mir schon vorgenommen, so
unliebenswürdig wie möglich zu sein.«

»Das wird der gnädigen Frau schwerlich gelingen,« sagte die
weißhaarige Dienerin mit einem nachsichtigen mütterlichen Lächeln.
»Wenn man an Jugend, Schönheit und Glanz der Toilette alle anderen
Damen überstrahlt, so wäre es eine wahre Kunst, nicht auch an
Liebenswürdigkeit die Königin des Abends zu sein.«

Da keine Antwort erfolgte, fragte sie nach einer kleinen Pause:
»Befehlen gnädige Frau sonst etwas?« und verließ, als die Frage
verneint wurde, fast unhörbar das Gemach.

Allein geblieben und sich langweilend, verfiel die schöne junge Dame
darauf, das Feuerwerk der glitzernden Diamanten zu beobachten, das
der gegenüber befindliche Spiegel zurückwarf. Sie wiegte sich leise
in den Hüften, die Facetten der Steine in allen Farben spielen zu
lassen, hob die Hände hoch, scheinbar an der Coiffüre noch etwas zu
ordnen, und ergötzte sich daran, wie die bunten Blitze, die an ihren
schmalen Fingern und Handgelenken aufleuchteten, mit dem Flimmern des
Brillantenkolliers wetteiferten, das ihren Hals schmückte und einen
Sprühregen feuriger Funken auf die volle weiße Brust niedertropfen
ließ. Aber schließlich wurde sie dieser nichtigen Beschäftigung
überdrüssig und lehnte sich mit einem leisen Gähnen in die Sofaecke
zurück. Ein Seufzer stahl sich über ihre Lippen ... Plötzlich fiel ihr
Blick auf die Puppe, die in der anderen Sofaecke saß und sie unverwandt
anglotzte.

In welch wunderlicher Gesellschaft befand sie sich da! Was war das für
ein gespenstisches Ding, dies snobistische Spielzeug für die müßigen
Launen Erwachsener, mit dem ihr Mann sie beglückt hatte? Aus einem der
feinsten Luxusgeschäfte in der Kärntnerstraße hatte er es heute morgen
als Überraschung zum Verlobungstag an sie schicken lassen, er liebte
es, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Zum erstenmal kam sie jetzt
dazu, die Puppe etwas genauer ins Auge zu fassen. Sie konnte nicht
umhin, den erlesenen Geschmack zu bewundern, mit dem sie gearbeitet
war, die geistreiche Kunstfertigkeit, die dem kleinen Popanz etwas wie
menschliche Eigenart, eine geheimnisvolle Absonderlichkeit einzuhauchen
gewußt hatte.

Es war eine Japanerin in silberdurchwirktem Seidenkimono,
Saffianpantöffelchen an den Füßen, das pechschwarze Haar zu einem
kunstvollen Bau getürmt und von silbernen Gestecken zusammengehalten.
Dem Gesicht, das ursprünglich vielleicht nichts weiter als ein Polster
aus gelblichem Filz gewesen war, hatte künstlerische Pinsel- und
Nadelmalerei so eigenartig individuelle Züge verliehen, daß man die
kleine Dame, wenn man sie nur einmal gesehen, schon persönlich zu
kennen glaubte. Denn sie war ein Wesen für sich, kein gleichgültiger
Abklatsch, etwas wie ein lebendiger Mensch und wie ein solcher nur ein
einziges Mal auf der Welt vorhanden, mit keinem anderen zu verwechseln.
Ganz besonders die Augen, aus denen ein Paar glänzend schwarzer Perlen
ernst und fast zürnend herausstachen, schienen wie von einem Ausdruck
menschlicher Leidenschaftlichkeit beseelt.

Die schöne junge Frau, die diese Augen unverwandt und beharrlich auf
sich gerichtet sah, fing an, sich einigermaßen zu beunruhigen. Es war,
als kröche ihr irgend etwas Unheimliches den Nacken herauf.

»Was siehst du mich so sonderbar an?« fragte sie plötzlich.

Sie sagte es ganz laut und fuhr unwillkürlich zusammen, über den
Ton ihrer eigenen Stimme erschreckend. Aber sogleich kehrte ihre
Besonnenheit zurück, und indem sie sich nach der anderen Sofaecke
hinüberneigte, in der die Puppe stumm und unbeweglich saß, mit Augen,
in denen etwas wie ein feuchter Schimmer zu glänzen schien, sagte sie
begütigend und beinahe zärtlich, wie man zu einem greinenden Kinde
spricht: »Du füllst deinen Platz schlecht aus! Bist du nicht auf der
Welt, um Vergnügen zu bereiten? Warum blickst du so trübselig drein? So
lächle doch nur ein ganz klein wenig! Unterhalte mich! Vertreib' mir
die Zeit!«

Sie hatte sich so weit vorgebeugt, daß sie die Puppe ganz aus der
Nähe sehen konnte. Jetzt schrak sie jäh empor und zog sich starr vor
Entsetzen in ihre Sofaecke zurück, die Puppe hatte einen tiefen,
herzbewegenden Seufzer ausgestoßen.

»Mir ist das Weinen näher als das Lachen,« sagte die Puppe ganz
deutlich.

Betreten und scheu wagte die schöne junge Dame kaum mehr nach ihr
hinüberzusehen, ihre Lippen bewegten sich und stammelten stumme Worte
... Endlich brachte sie wie einen Hauch die Frage hervor: »Weshalb?
Erklär' es mir! Weshalb?«

Aber die Puppe schwieg. Die junge Frau überlegte. Sie hatte sich wieder
gefaßt und dachte nach. Da kam ihr ein Gedanke.

»Wer hat dich in die Welt gesetzt?« fragte sie.

Und da die Puppe noch immer keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Du
siehst wie eine hochelegante kleine Dame aus, hast aber vielleicht
nicht immer so gute und sorgenfreie Tage gesehen, wie ich sie dir
in meinem Hause bieten kann. Ich weiß, der Krieg hat viel Elend
und Kummer über die Menschen gebracht und der Friede noch nicht
viel daran gebessert. Mancher, der stolz und reich war, ist arm und
haltlos geworden, und es gibt Damen, die der besten Gesellschaft
angehörten, in glänzenden Verhältnissen lebten wie ich, und nun,
der Not ins Auge blickend, sich mit ihrer Hände Arbeit kümmerlich
fortbringen. Der Geschmack, der deine äußere Erscheinung auszeichnet,
läßt mich vermuten, daß auch du dein Dasein einer solchen
Unglücklichen verdankst, die, in einem Milieu der Kultur und des
Überflusses aufgewachsen, nun plötzlich +vis-à-vis de rien+
steht. Im ungeheizten Stübchen, frierend und zähneklappernd, beim
Schein des Öllämpchens, das sie mit ihren Entbehrungen speist, kramt
sie vielleicht die teuersten Andenken ihrer Jugend, die letzten
Überbleibsel ihres Wohlstandes zusammen, um durch Herstellung solch
überflüssiger Dinger, wie du eins bist, die Kauflust der Geldverdiener
zu reizen und sich noch eine Zeitlang über Wasser zu halten. Und nun,
da du mich so vor dir sahst, schön, glänzend, reich und glücklich,
da kam dir wohl die Erinnerung an jene andere, aus deren Händen
du hervorgegangen bist, und an die du noch immer eine gewisse
Anhänglichkeit bewahrst, und die abgrundtiefen Gegensätze, die das
heutige Leben zwischen den Menschen und ihren Schicksalen aufreißt,
preßten dir das Herz zusammen und machten dich traurig. Ist es so, wie
ich sage? Habe ich recht geraten? Gesteh's mir! Sprich!«

Aber die Puppe rührte sich nicht. Stumm und steif saß sie da, die
dunkel glänzenden Perlen der Augen in die gegenüberliegende Sofaecke
gebohrt, und schwieg. Es war kein Ton mehr aus ihr herauszulocken.

Die junge Frau hatte sich erhoben, unruhig hastete sie auf dem weichen
Teppich auf und nieder und krampfte nachsinnend die Hände ineinander.
Alles in ihr war aufgewühlt. Sie fühlte das Bedürfnis nach einer guten
Tat, sie suchte nach einer Gelegenheit hierzu, sie wollte Not lindern
helfen, heute, an ihrem Verlobungstag. Von der Straße herauf gab die
Hupe des Chauffeurs das Zeichen, daß das Auto eingetroffen sei, sie
abzuholen. Da trat sie entschlossen an die Toilette und drückte auf den
Klingelknopf. Die Zofe erschien. Sie nannte ihr das Geschäft in der
Kärntnerstraße, wo die Sofapuppe herstammte, und befahl:

»Läuten Sie sofort an, möglich, daß schon geschlossen ist, vielleicht
haben sie aber doch noch offen. Ich ließe fragen, wo die reizenden
Puppen hergestellt werden, von denen mein Mann heute eine gekauft hat.«

In Eile legte sie sich selbst den Pelzmantel um die Schultern und
suchte mit zitternden Händen alles Geld zusammen, das sich in ihrem
Schreibbureau finden ließ. Die alte Dienerin, die inzwischen die
gewünschte Auskunft erhalten hatte, begleitete sie die teppichbelegte
Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Noch einmal, zwischen Tür und
Angel, ließ die Dame sich die Adresse wiederholen: »Frau Hauptmann
Larisch, Rudolfgasse 36!«

»Rudolfgasse 36!« rief sie dem Chauffeur zu, während er ihr in die
Limousine half.

Der Wagen sauste davon. Die Straßenlaternen flogen in langen Zeilen
an den Fenstern vorüber. Ihr Mann würde wohl ungehalten sein, in die
Gesellschaft kamen sie sicher zu spät. Aber was tat's? Mochte er sich
in Geduld fassen! Wie oft hatte er schon auf sich warten lassen! Beruht
nicht jede Ehe auf Gegenseitigkeit? ...

Das Haus Rudolfgasse 36 war ein verlotterter alter Kasten mit
stockdunklem Flur. Fast unter Lebensgefahr tastete sie sich eine
finstere Kellertreppe hinunter, die Hausmeisterwohnung zu suchen. Ob
Frau Hauptmann Larisch hier wohne? Jawohl, die wohnte hier, dritte
Stiege, vierter Stock, Tür Nummer 42. Mit Müh' und Not erreichte sie
über einen holperigen Hof hinweg endlich ihr Ziel und zog an einer
Klingel. Eine Frau, von der sie im herrschenden Zwielicht nur die
Umrisse wahrnehmen konnte, öffnete und fragte nach ihrem Begehr.

»Ist Frau Hauptmann Larisch zu sprechen?«

»Bitte einzutreten.«

In einer niedrigen Stube, die anscheinend als Werkstatt diente, kochte
eine Suppe oder dergleichen auf dem eisernen Öfchen. Auf dem Tische
lagen unter einer dürftigen, trübe brennenden Hängelampe Farbentuben,
Pinsel und allerhand Nähzugehör durcheinander, Puppenperücken, winzige
Lederschühchen, ein ganzer Berg, und Stoffreste, teilweise bereits
zugeschnitten. Auch von dem blauen silberdurchwirkten Seidenbrokat,
aus dem der Kimono der Sofapuppe geschneidert war, stand ein Kleidchen
schon fertig da, aber noch ohne Körper.

»Womit kann ich dienen?« fragte die ebenfalls noch blutjunge, dürftig
aber sauber gekleidete Frau, die die Eingangstür geöffnet hatte.

»Ach so, Sie sind selbst --? Sie machen die reizenden Puppen, nicht
wahr --?«

In diesem Augenblick stockte sie und trat einen Schritt zurück. Sie
hatte diese Frau Larisch erst jetzt schärfer ins Auge gefaßt und geriet
außer Fassung.

»Berta!« rief sie entsetzt. »Seh' ich recht? Oder täusche ich mich --?«

»Nein, Aimée, du täuschest dich nicht,« sagte die andere ruhig. »Es
ist lange her, daß wir uns zum letztenmal gesehen haben.«

»Nur allzulange! Bald hätt' ich dich nicht wiedererkannt, du trägst
einen Schüttelkopf --? Steht dir übrigens gut! Aber wo ist dein
herrliches, langes schwarzes Haar hingekommen?«

Frau Larisch lachte. »Ja, denke, das hab' ich auf Perücken für meine
Puppen verarbeiten lassen. Hilf, was helfen kann! ... Die prahlen nun
damit, und für mich ist's bequemer so.«

Die elegante junge Frau schlug die Hände zusammen: »Nein! Wie man sich
~dazu~ entschließen kann --! Unser Haar, das gehört doch so zu
uns, mir wär's, als würde ein Teil von mir gemordet!«

»Nun, gerade zum Vergnügen tut man's auch nicht ... Wie hast du mich
übrigens aufgefunden? Kann ich dir mit etwas dienen?«

»Nein, nein, im Gegenteil, ich wollte ... es kam mir plötzlich so
in den Sinn ...« Frau Aimée stockte und wurde verlegen. »Du hast es
verstanden,« sagte sie mit leisem Vorwurf, »eine wahre Nebelschicht um
dich zu verbreiten. Ich wußte ja nicht einmal, daß du verheiratet
bist.«

»Es war eine Kriegstrauung, wir machten nicht viel Aufhebens davon.«

»Dein Mann ist -- Offizier?«

»Er ist gefallen ... Willst du nicht Platz nehmen? Du entschuldigst,
wenn ich weiter arbeite. Ich muß jede Minute ausnützen, bis in die
Nacht hinein.«

Die Puppenschneiderin paßte zwei zugeschnittene Zeugstücke aneinander
und ließ die Nadel fliegen, indes Aimée sich am Arbeitstisch auf einen
wackeligen Stuhl gesetzt hatte. Sie war verwirrt und betreten. Dieser
tapferen Frau gegenüber, die im Institut ihre beste Freundin gewesen,
ließ sich nicht leicht die Wohltäterin spielen, hier tat größtes
Zartgefühl not, um so mehr, als sie später gewisser Umstände halber
sich einander entfremdet hatten.

»Ich muß dich schelten, Berta,« nahm sie mit etwas gepreßter Brust das
Gespräch wieder auf. »Warum hast du all die Jahre her nichts mehr von
dir hören lassen?«

»Du lieber Himmel, wer hatte in der Zeit nicht mit sich selbst genug zu
tun!« antwortete Frau Larisch, emsig arbeitend. Und aufrichtig setzte
sie hinzu: Ȇbrigens bestand doch auch nicht mehr dasselbe herzliche
Einvernehmen zwischen uns wie einst. Dein Mann hatte uns beiden in
gleicher Weise den Hof gemacht, das fördert selten die Freundschaft
zwischen jungen Mädchen.«

Sie setzte einen Augenblick mit Nähen aus, hob den Kopf und lächelte.

»Ich erinnere mich noch der großen Bälle, wo wir für Rivalinnen
galten. Besonders an ein Kostümfest im Hotel Métropole -- du entsinnst
dich wohl auch noch daran? Ich trug ein Kleid aus diesem herrlichen
Silberbrokat,« sie strich mit der Hand über das fertige Gewändchen, das
steif auf dem Tisch stand, und lachte jetzt aus vollem Herzen. »Das
wird nun alles auf Kimonos verschneidert,« sagte sie, »so machen sich
die Reliquien nützlich.« Und wieder ernster geworden und ihre Arbeit
wieder aufnehmend, fuhr sie fort: »Wie gut, daß mein Vater damals in
der Lage war, mir so kostbare Stoffe zu spendieren! Ja, an jenem Abend
war ich fast etwas wie eine Art Ballkönigin. Dein Mann hatte mich in
so auffallender Weise bevorzugt, daß alle Tanten bereits die Köpfe
zusammensteckten.«

»Bist du ihm noch böse?« fragte Aimée mit übertriebenem Mitgefühl, das
eine gewisse Genugtuung nur schlecht verhüllte.

»Was dir einfällt! Nein, böse war ich ihm niemals, bei Gott! Und später
bin ich ihm sogar von Herzen dankbar gewesen.«

Frau Aimée stutzte: »Dankbar? Wieso dankbar?«

»Ganz einfach. Wäre seine Wahl damals auf mich gefallen, statt auf dich
-- wer weiß, hätte ich schließlich nicht doch ja gesagt. Denn damals
wußte ich noch nicht, was Liebe ist. Das wußte ich erst, als ich meinen
verstorbenen Mann kennen lernte.«

»Ihr habt euch sehr geliebt?« sagte Aimée oberflächlich teilnehmend.

»Ich liebe ihn noch. Und daß er mich liebte, bewies er am deutlichsten
dadurch, daß er mich zur Frau nahm, trotzdem mein armer Vater -- du
weißt ja wohl?«

»Nein, nein, ich weiß von nichts! Erzähle! Lebt dein Vater noch?«

»Er ist einem Schlaganfall erlegen, bald nach dem großen Unglück. Durch
eine Konjunktur, die der Krieg mit sich brachte, hatte er nämlich sein,
wie du dich wohl erinnerst, ziemlich bedeutendes Vermögen verloren.«

»Arme Berta!« rief Aimée, nun von aufrichtigem Mitleid überströmend.
»Und so mußt du nun ganz allein ... und gänzlich verarmt, ohne Mittel
...«

»O, es ist nicht so schlimm,« sagte Frau Larisch; »ich verdiene gut,
wir kommen durch ... Und -- allein? O nein, ich bin nicht allein.«
Abermals lächelnd, blickte sie auf und deutete nach der Stubentür knapp
am Öfchen. »Da nebenan schläft ein herziger Junge, drei Jahre alt, ein
süßer Bengel. Du hast wohl auch so was Kleines? Nein --? Wie schade!
Das ist doch erst das Wahre, damit fängt für eine Frau das richtige
Leben überhaupt erst an ... Der Junge ist meine ganze Freude, und so
bin ich, siehst du, durchaus nicht allein. Auch weilen ja die lieben
Verstorbenen noch immer um mich, der arme Vater, mein guter Mann.
Ihn lernte ich gerade damals kennen, als die Firma zusammengebrochen
war. Und darum weiß ich auch ganz bestimmt, daß er mich wirklich
und wahrhaftig liebte, nur um meiner selbst willen. Denn ich hatte
aufgehört, eine gute Partie zu sein, was ich ja in der Zeit, wo ich
im Ballsaal umworben wurde, noch gewesen war. Und so eine richtige
Liebe, noch übers Grab hinaus, ist doch kein leerer Wahn und ein
wahrer Trost ... Dies alles, siehst du, verleiht mir die Kraft, die
innere Sicherheit und Ruhe, die mir jetzt so nottut. Ich bin nicht
so bedauernswert, wie es den Anschein hat, ich tausche mit niemand.
Verstehst du mich, Aimée?«

Frau Aimée schwieg und biß die Lippe. Sie wußte nicht mehr, wozu sie
eigentlich gekommen sei. Um einer anderen zu helfen? War sie nicht
hilfsbedürftiger als jene? Ein böser Argwohn, giftig wie eine Schlange
und schon früher gelegentlich erwacht, aber immer wieder eingelullt,
hatte sich heimlich an ihr Herz geschlichen, umschnürte es nun
plötzlich und nagte daran.

»Um welche Zeit war es doch,« fragte sie starr und gespannt, »daß
deinen Vater das geschäftliche Unglück traf?«

»Vor wenigen Tagen sind es gerade vier Jahre gewesen,« antwortete Frau
Larisch unbefangen.

Die elegante junge Frau erblaßte. Vier Jahre? Ausgerechnet vier Jahre,
gerade vor wenigen Tagen? Und genau heute vor vier Jahren hatte Harry
um sie angehalten! Sollte zwischen diesen beiden Tatsachen nicht
ein gewisser Zusammenhang bestehen? War es denn nicht einigermaßen
zweifelhaft, ob Harry heute vor vier Jahren gerade um sie, Aimée,
angehalten haben würde, wenn Berta damals noch eine gute Partie gewesen
wäre? Sprach nicht vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür,
daß in Harrys Schwanken zwischen ihr und Berta lediglich die großen
Gewinne den Ausschlag zu ihren eigenen Gunsten gegeben hatten, die ihr
Vater ebenso unerwartet aus dem Kriege gezogen, wie Bertas Vater durch
den Krieg ruiniert worden war? Wieviel hatte sie sich damals darauf
zugute getan, über Berta triumphiert zu haben! Und nun wurde sie sich
zu ihrer tiefsten Beschämung und Empörung plötzlich dessen bewußt, daß
sicherlich nicht ihre Schönheit und sonstigen Vorzüge allein es gewesen
waren, die ihrer Wagschale das entscheidende Gewicht verliehen hatten.
Sie richtete sich steil auf, erhob sich und schwankte, eine unbekannte
Schwäche wandelte sie an, mechanisch griff sie nach der Lehne des
Stuhles, sich festzuhalten ...

Erschrocken war Frau Larisch aufgesprungen, sie zu stützen. »Aimée, was
ist dir?«

»Nichts, gar nichts! Nur etwas schwül -- hier in der Nähe des Ofens.
Nun ist's wieder vorbei. Ich wollte meinen Pelz nicht ablegen, mein
Aufzug paßt nicht in diese trauliche Umgebung der Arbeit. Muß auch
gleich wieder fort. Darf ich deinen Jungen sehen?«

Mit der Weisheit des Herzens, die der bittere Ernst des Lebens
ausbildet, ahnte Berta, was in der Seele der Freundin vorging.
Aber sie fühlte auch, daß Worte hier nichts bessern konnten. Sie
begnügte sich deshalb damit, sie in die Arme zu schließen und wie in
jungen Mädchenjahren zu liebkosen, indem sie sagte: »Du hast es ein
wenig mit den Nerven, Kind! Vermutlich überanstrengst du dich mit
gesellschaftlichen Verpflichtungen, die doch keine rechte Befriedigung
gewähren. Solltest dir lieber auch so einen kleinen Jungen anschaffen
-- ich will schnell einen Leuchter holen, ihn dir zu zeigen.«

Sie ging in den winzigen Vorflur hinaus, da schoß Aimée der Gedanke
durch den Kopf, ob sie der großmütigen Absicht, die sie hergeführt,
nicht doch irgendwie entsprechen könne. War Berta auch zu stolz,
einzugestehen, daß sie mit der Not kämpfte, so bewies die Umgebung,
in der sie hauste, doch das Gegenteil. Und diesen albernen Stolz
zu beugen, der die Vorteile und die vielfältige Überlegenheit des
Reichtums glatt abzuleugnen versuchte, hätte Aimée eine gewisse
Genugtuung gewährt. Aber Geld --? Das konnte mit Recht verletzen.
Durch ein Andenken hingegen an die Freundin sich verletzt zu fühlen,
das wäre nur wieder eine Regung jenes dummen Stolzes gewesen, mit dem
die Mittellosen sich gern eitel überheben. Sie hörte Frau Larisch
zurückkehren. Da überlegte sie nicht länger, nestelte ihre kostbare
Diamantenrivière vom Halse und ließ sie in den auf dem Tische
stehenden Nähkorb gleiten. Es war das Hochzeitsgeschenk Harrys, und
Aimée empfand in dem Augenblick, wo sie die blitzenden Steine unter
Seidensträhnen und Stoffresten verschwinden sah, ein boshaftes Gefühl
der Erleichterung darüber, daß dieses Kollier nunmehr in den Besitz
derjenigen überging, der es vielleicht nur ein unglücklicher Zufall
vorenthalten hatte. Im nächsten Augenblick freilich kam ihr ihre
Handlungsweise schon verrückt, taktlos, beleidigend vor, aber es war
zu spät, sie rückgängig zu machen, Frau Berta trat mit der Kerze ins
Zimmer.

Auf den Zehenspitzen schlichen sie an das Bettchen des Kindes,
das, ruhig atmend, ein Händchen auf der Brust, das andere seitlich
ausgestreckt, einem schlummernden Engel glich. Aimée wurde weich und
warm ums Herz. Sie schmeichelte sich nun doch wieder, etwas Gutes
getan zu haben, der Erlös des kostbaren Schmuckes konnte diesem holden
Geschöpfe eine gesunde und frohe Kindheit, eine gute Erziehung, eine
aussichtsreiche Zukunft sichern. Nun hatte sie gewissermaßen Teil an
Bertas Mutterschaft, da ihr die eigene bisher versagt geblieben ...

Andächtig betrachtend, stand sie mit unwillkürlich gefalteten Händen,
als plötzlich das Leid sie überwältigte. In bittere Tränen ausbrechend,
faßte sie nach Bertas Hand, sie rasch zu drücken, dann stürzte sie
hinaus. Sie war nicht mehr zu halten. Stumm eilte sie durchs Zimmer,
flüchtete gleichsam gegen die Eingangstür. Und wie verfolgt lief sie
den Gang entlang und die Treppe hinunter, immer heftiger schluchzend
und sich so zwecklos und elend fühlend, wie sonst stolz und königlich.

Während die Limousine gegen den Graben flog, wo Harrys Bureau sich
befand, ließ sie ein Fenster herunter, schabte etwas Schnee von den
Eisblumen und kühlte sich die Augen, damit ihr Mann nichts merken
sollte. Übrigens kam sie gegen alle Voraussicht noch immer zu früh, er
hatte noch einiges zu erledigen und ließ sie warten. Die Verstimmung
hierüber half ihr das normale Aussehen wiedergewinnen. Endlich trat
er ein, schon in Zylinder und Frackmantel, eleganter Diplomat von den
Lackschuhen bis zum glatten Scheitel, überlegen, hochfahrend, kühl und
etwas beißend wie immer. Mit einer unwillkürlichen Bewegung zog sie den
Pelz über dem Halse zusammen, aber schon hatte sein scharfer Blick die
Blöße erspäht.

»Was fällt dir ein, Aimée! Wo hast du deine Diamantenrivière gelassen?«

Nicht ohne Geschick spielte sie die Erstaunte.

»Ach sieh! Das ist nun albern! Die hab' ich umzunehmen vergessen! Aber
was tut's? Es kommt mir nicht darauf an.«

»Mir aber wohl! Der nackte Hals sieht geradezu armselig aus!«

»Man sagt, eine schöne Frau sei am schönsten ohne jeden Schmuck.«

»Na, hör' mal, für so schön brauchst du dich gerade nicht zu halten!«
sagte er brutal.

Das Wort traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr Stolz bäumte sich.

»Lassen wir's darauf ankommen, ob sich nicht trotzdem Herren genug ...
Wenn ich nur wollte ...!«

Ihre Augen blitzten. Er überhörte geflissentlich die versteckte, aber
darum nicht minder infame Drohung.

»Vorwärts, komm! Wir fahren nach Hause. Du nimmst den Schmuck um.«

»Ich lasse mich nicht zwingen.«

»So kannst du unmöglich in Gesellschaft gehen!«

»Dann geh' allein!«

»Das will ich tun.«

Schweigend stiegen sie Seite an Seite die Treppe hinunter. Wortlos
nebeneinander sitzend, fuhren sie durch die dunkle Nacht. Als die
Limousine vor der Villa hielt, stieg er aus, schloß die Haustür auf,
ließ sie eintreten und schloß wieder zu. Sie hörte, wie der Wagen
davonrollte. Wie im Traume wankte sie die Stufen empor.

»Ich bin nicht ganz wohl und wünsche vorderhand allein zu bleiben,«
sagte sie zu der bestürzt dreinsehenden alten Kammerfrau und zog sich
in ihr Zimmer zurück.

In der Ecke des Sofas saß starr und unbeweglich die kleine Japanerin,
in ihrem silberdurchwirkten Seidenkimono, das rabenschwarze Haar
kunstvoll aufgesteckt, die Saffianpantöffelchen an den Füßen, und
stierte nachdenklich und versunken in die gegenüberliegende Sofaecke.

In einer Aufwallung von Entrüstung ging Aimée auf die Puppe los: »Was
faselst du ins Blaue hinein? Jene andere braucht meine Hilfe nicht, und
wenn eine von uns beiden unglücklich ist, so bin ich es!«

Da wendete die Puppe plötzlich ganz unerwartet den Kopf herum und
richtete die glänzenden schwarzen Perlen ihrer Augensterne auf sie,
mit einem Ausdruck unsäglicher Traurigkeit: »Das war es doch, Madame,
warum ich sagte, das Weinen sei mir näher als das Lachen.«

Wie versteint starrte Aimée sie an. In demselben Augenblick pochte es
an die Tür. Es war die Zofe.

»Gnädige Frau entschuldigen, dies Päckchen wurde eben abgegeben: sofort
und persönlich in Ihre Hände zu legen.«

Gespannt riß Aimée die Umhüllung auf ... Diamanten funkelten ihr
entgegen ...




                            Das Rotkehlchen


»Meine alten Tage die hab' ich mir auch anders vorgestellt!« pflegte
Herr Ziervogel mit einem gutmütig-sauren Lächeln sich zu äußern.
Und dann holte er gewöhnlich einen kleinen Seufzer aus der schon
etwas kurzatmig gewordenen Brust hervor und fügte nicht ohne Laune
hinzu: »Denn das Leben, das unsereiner jetzt führt, das ist wie eine
Windbäckerei, in die man vergessen hat, die Schlagsahne einzufüllen!«

Immerhin --! Wenn es wenigstens süß wie spanischer Wind geschmeckt
hätte. Aber weit entfernt davon! ... Und gar Schlagsahne! Blieb
die nicht seit Jahren für den bedauernswerten Mitteleuropäer ein
ausschweifender Märchentraum?

Stets hatte Herr Ziervogel ein bißchen das Gefühl, daß ihm Unrecht
geschehe, daß er unverdientermaßen in die Klemme geraten sei, und
daß man ihn schnöderweise im Stiche gelassen habe -- »man«, jener
dickhäutige »man«, der an allem Schuld trägt und sich für nichts
verantwortlich fühlt. Jenes schillernde Chamäleon von einem »man«,
das sich bald hinter das Schicksal versteckt, bald hinter die
gesellschaftlichen Einrichtungen, manchmal wohl auch bloß hinter die
hohen Behörden, die (nach Joachim Ziervogels Meinung wenigstens)
eigentlich dafür zu sorgen hätten, daß es halbwegs gerecht zugehe auf
dieser Erde. Ach, du lieber Gott, darum kümmerten sich die hohen
Behörden nun allerdings schon lange nicht mehr. Sie hatten aufgehört,
Schutzmann zu spielen, und es vorgezogen, um nur halbwegs auf ihre
Kosten zu kommen, selbst unter die Beutelschneider, Buschklepper und
Manichäer zu gehen und dem zur Freiheit erwachten ehemaligen »Untertan«
das Fell über die Ohren zu ziehen.

Manchmal fehlte nicht viel, daß Herr Ziervogel an der Menschheit, ja
an der göttlichen Weltordnung selbst irre geworden wäre. Sah es nicht
fast wie ein schlechter Witz aus, daß gerade er, Zuckerbäcker seines
Zeichens, noch am Rande des Lebens so viel Bitteres auskosten mußte?
Hatte er etwa nicht redlich gearbeitet und sich geplagt, solange er
in den Jahren stand? War er kein nützliches Glied der menschlichen
Gemeinschaft gewesen?

Gerne tat er sich etwas darauf zugute, daß seine Konditorei schier ein
Menschenalter hindurch Kindern wie Erwachsenen ein Born der Freude
und Erquickung gewesen sei. Wie viele Mühselige und Beladene hatten
sich dort Magentrost und Herzstärkung geholt, als der Meister selbst
noch ausübend war und unverdrossen seines Amtes waltete, bis ins
geschäftig wackelnde Doppelkinn hinein von heiligem Eifer durchdrungen,
die Kundschaft mit bekannter Zuvorkommenheit zu bedienen. Nicht etwa
bloß aus der stillen Vorstadtgasse, in welcher der Geschäftsladen
sich befand, nein, auch aus allen umliegenden Gassen und Straßen,
manchmal gar aus den angrenzenden Vorstädten strömten die Leute herbei,
angelockt durch den wohlverdienten Ruhm, dessen die Erzeugnisse
Ziervogelscher Kunstfertigkeit sich erfreuten. Denn nirgends waren die
kandierten Früchte so vollsaftig, die Tortengüsse so eisspiegelglatt,
die Faschingskrapfen so flaumig, um nicht zu sagen ätherisch, und
nirgends in der ganzen Stadt schmeckten die Mohn- und Nußbeugel
köstlicher als in der Andreasgasse beim »süßen Joachim« -- wie der
Volksmund ihn getauft hatte.

Aber nein, ach nein, sie »schmeckten« ja leider durchaus nicht mehr,
in dieser bösen Nachkriegszeit! Die Halbvergangenheit war längst zu
einer ganzen, das Präteritum zu einem Plusquamperfektum geworden: denn
so ausgesucht und köstlich ~hatten~ sie bloß geschmeckt, all die
erwähnten ambrosischen Näschereien -- einst, vor Jahren, in besseren
Zeiten, damals, als die Menschen noch keine Ahnung davon hatten, wie
schlecht es einem ergehen könne auf dieser besten aller Welten, und
der süße Joachim noch nicht so unvorsichtig gewesen war, sein Gewerbe
zurückzulegen, um sich als Rentner aufzutun. Damals, ja, damals, in
jener bereits geschichtlich gewordenen Epoche, als er noch seelenrein
und schneeweiß wie ein Unschuldslamm in Pikeejacke und Tellermütze
hinter dem Ladentisch stand, auf dem die geschliffenen Glasaufsätze
funkelten. Hinter jener kühlen, appetitlichen Marmorplatte, auf der
er mit zärtlichen Fingern all die leckeren Apfel- und Pflaumenkuchen,
Kaffee- und Indianerkrapfen, Cremeschnitten und Nußschifferln,
Schaumrollen und Vanillekipferln so frommsinnig zur öffentlichen
Besichtigung auszubreiten wußte wie die Schaubrote auf Jahves Altar
(nur weit mehr als bloß ihrer zwölfe waren es selbstverständlich), daß
auch die verhärtetste Brust der eindringlichen Sprache des Gemüts nicht
länger widerstehen konnte und sich beseligt hinschmelzend der süßen
Weltfreude öffnete.

Vorbei! ... Vorbei! ... Für immer vorbei!

Herr Ziervogel hatte eine Tochter und ein Rotkehlchen, und beide
konnten wunderschön singen. Das Rotkehlchen ließ mit Vorliebe eine
ganz feine, behutsame, etwas schwermütige Weise vernehmen, während
der Tochter -- Anna hieß sie -- immer nur ein munteres Liedchen auf
den Lippen schwebte. Es waren oft die verschiedensten Weisen, die sie
trällerte, vor sich hinsummte oder aus voller Brust heraussang, wie
sie ihr gerade einfielen und in den Sinn kamen. Aber es kamen ihr
ausschließlich nur fröhliche Weisen in den Sinn, und eine trübselige
und kopfhängerische wäre ihr niemals auch nur im Schlafe eingefallen.

Einmal, als es gerade wieder anfing Frühling zu werden, sagte das
Mädchen zu seinem Vater: »Weißt du, was ich mir wünsche?« Und als Herr
Ziervogel erschrocken und gespannt aufblickte, gestand sie: wenn sie
dem Schnaberl (so hieß das Rotkehlchen) die Freiheit schenken dürfte,
das wäre halt ihr aller-, aller-, allersehnlichster Wunsch!

Ein erleichtertes Atemholen von seiten des also Angeredeten hätte
einem unberufenen Zuhörer die Vermutung nahegelegt, Ziervogel sei auf
einen weit kostspieligeren Wunsch gefaßt gewesen, wie etwa, um ein
Beispiel zu nennen: ein neues Zahnbürstchen, einen Schuhdoppler, ein
Henkeltöpfchen für die Küche -- die kleinste Selbstverständlichkeit
erforderte heute schon einen abgrundtiefen Griff in die Hosentasche.
Wie trostlos wäre er gewesen, dem herzlieben Töchterchen etwas
abschlagen zu müssen! Dessen durfte er sich nun für überhoben halten.
Denn ein billiges Vergnügen war es doch wenigstens, das Rotkehlchen
freizulassen, das ließ sich nicht bestreiten. Und doch -- ein merkbarer
Widerstand stemmte sich in seinem verborgensten Innern dagegen.
Denn: ließe ein rechtschaffener Singvogel sich unter Umständen nicht
ganz vorteilhaft verwerten? In bares Geld umsetzen? Gegen etwas
Nützlicheres, als er selbst zu sein sich rühmen durfte, auszutauschen?
Der Schnaberl mit seinem kleinen, behutsamen, etwas schwermütigen
Liedchen konnte immerhin eine Semmel wert sein. Oder wenigstens eine
jener Regiezigarren von der landesüblichen Sorte der Stinkadores, deren
ein zur Ruhe gesetzter Gewerbsmann, für wie vermögend er sonst auch
gegolten, sich kaum noch am Sonntag hie und da eine vergönnen durfte.

Aber der häßliche Gedanke -- so rasch aufgeblitzt, war auch schon
im selben Augenblick wieder schamhaft erloschen. Pfui, Joachim! Ein
argloses Waldvögelein als Ware einschätzen? Handelsgeschäfte mit ihm
treiben wollen? Einen sangesfrohen Hausgenossen, wie Schnaberl es war,
schnöde verschachern?

Meister Ziervogel errötete ein klein wenig und besann sich. Was
hatten doch die unhaltbaren wirtschaftlichen Zustände allmählich aus
ihm gemacht! Wie schofel war er geworden! Er, dem es sonst ein ganz
besonderes Vergnügen gewährte, das »Radl laufen zu lassen«, wie man
zu sagen pflegt. Er, zu dessen Lieblingsbeschäftigungen, seit er als
Privatmann lebte, es gehört hatte, sich nobel, splendid, großartig
aufzuspielen! Kein Mensch hätte ihm in den Jahren unmittelbar vor dem
Kriege den ehemaligen Zuckerbäcker angemerkt, so kavaliermäßig leicht
war seine Hand im Geldausgeben gewesen: sogar der wie ein ausländischer
Diplomat aussehende Zahlmarkör im Kaffeehaus hatte ihn »Herr Baron«
genannt und fast wie seinesgleichen behandelt; dazu mußte man von guten
Eltern sein. Und nun --! Den Schnaberl verschachern? Woher kam ihm der
unwürdige Einfall?

Eine alte Erfahrung, daß die Not den Menschen nicht besser macht. Und
daß man sich leicht selbst untreu wird, wenn man einmal die Nerven
verloren hat. Aber ist es ein Wunder, wenn man sie verliert, bei dieser
lawinenartig anschwellenden Teuerung, die einen nicht etwa bloß mit
Knappheit, nein, mit dem baren Elend bedrohte? Die Jugend freilich, die
nimmt das alles auf die leichte Achsel, aber wer einmal anfängt, die
Last der Jahre zu spüren, dem sitzt die bittere Sorge im Nacken. Und
dabei täte man besser, sich nichts davon merken zu lassen, sonst lachen
einen noch die eigenen Kinder aus, oder -- in Anbetracht des schuldigen
Respekts, wenn sie nämlich lieb und anhänglich sind, wie die gute Anna
es war, bemitleiden sie einen wenigstens insgeheim ein bißchen als
kümmerlichen Trübsalblaser und Angsthasen, der vor lauter Jammern übers
Tauwetter den Sonnenschein gänzlich übersehe, welcher so linde wieder
aus den Wolken hervorspitze.

All dergleichen Besinnlichkeiten und selbstkritische Erwägungen
verfehlten nicht eine gewisse heilsame Wirkung. Sonach reinigte
Herr Ziervogel mit scharfer Bürste Herz und Nieren von allen
Flecken knickerischer Anwandlungen, daß sie wieder blitzblank
glänzten, wie das Kupfergeschirr einst geglänzt hatte in seiner
Konditorsküche, und verbarg die an ihn herangetretene, aber siegreich
abgewiesene Versuchung einer entgeltlichen Schnaberlverwertung
hinter freiheitsfreundlichen Worten, die sich mit Wärme für des
Vögleins Entkerkerung einsetzten. Warum sollte auch die gute Anna das
Rotkehlchen nicht auslassen, wenn ihr nun einmal das Herz danach stand?
Mochte es fliegen, wohin es wollte! War's kein zuwachsender Gewinn,
so war's doch ein verminderter Verlust. Denn einen so starken Esser
wie den Schnaberl gab's nicht bald, es fiel ihm gar nicht ein, sich
einzuschränken, wie es die Menschen doch ausnahmslos tun mußten; und
das Weichfutter wurde mit jedem Tag unerschwinglicher.

Jubelnd fiel Anna dem glücklich herumgekriegten Vater um den Hals und
machte Miene, ihn zu erwürgen: »Am ersten schönen Frühlingstag fliegt
er! Dann gibt's ein glückliches Geschöpf mehr auf dieser wonnigen
Erde!«

Heute sah es freilich noch nicht danach aus, als ob der erste schöne
Frühlingstag schon knapp vor der Tür stünde. Darum nahm sie, wie
sie oft getan, den Schnaberlkäfig in den Arm und stieg damit in den
Dachstock des Hauses hinauf, wo seit langer Zeit ein kleiner Junge
krank lag, den sie kannte, das Söhnchen einer Lehrerswitwe. Er hieß
Felix, und seine Mutter pflegte nicht ohne Bitterkeit zu sagen:
»Jawohl, Felix, Felix heißt er; denn das bedeutet: der Glückliche ...«

Andere kränkliche Kinder hatten zu ihrer Erholung und Kräftigung ins
Ausland reisen dürfen, wo großmütige Wohltäter sich ihres Elends
erbarmten; dieser Knabe aber war so schwer leidend, daß kein Kinderzug
ihn mitnehmen konnte. Seit Jahr und Tag siechte er hoffnungslos dahin,
oft stundenlang allein gelassen in der dürftigen Dachkammer, wo sein
schmales Bett stand, denn die Mutter mußte tagsüber ins Verdienen
gehen. Immer einmal, wenn sie Zeit dazu fand, machte Anna diesem Knaben
(und wohl auch sich selbst) die Freude, das Bauer mit dem Schnaberl
zu ihm heraufzubringen; das Rotkehlchen singen zu hören, so wehmütig
dessen süßes kleines Lied auch klang, war seine ganze Seligkeit.
Vorübergehend vergaß er dann, wie schlecht es ihm ging, und meinte für
Augenblicke, gesund und froh zu sein wie andere Kinder und frei und
ledig aller Gebresten im Walde dem Gesang der Vögel zu lauschen.

Auch diesmal stellte Anna das Vogelbauer vor den Knaben auf die
Bettdecke und erzählte ihm, noch voll der frischen Freude, daß der
Vater ihr erlaubt habe, dem Schnaberl die Freiheit zu schenken, und
daß sie ihn am ersten warmen Tage auslassen würde. Sie bedachte nicht,
daß es dem armen Jungen vielleicht nicht ganz leicht fallen würde,
sich von dem Vögelchen zu trennen, sie bemerkte auch nicht, wie er
erschrak. Bleich war ja der arme Felix immer, er konnte nicht noch mehr
erbleichen, und der Ernst und die Sorgen, die sich mit einem Ausdruck,
welcher sonst nur Erwachsenen eigen ist, in seinem abgehärmten
Kindergesichtchen aussprachen, konnten unmöglich noch ernster und
sorgenvoller blicken.

                   *       *       *       *       *

Die Schleifmühlgasse im vierten Gemeindebezirk, in welcher die
Ziervogels, Vater und Tochter, wohnten, schwamm am nächsten Tage in der
Flut ausgiebiger Frühlingstränen, die der Himmel über den Jammer der
einst so gut gelaunten Wienerstadt vergoß, als der süße Joachim und
sein Freund Bock, der Tür an Tür mit ihm in demselben Hause eine ebenso
armselige Zweizimmerwohnung innehatte wie er, den langen Weg nach dem
städtischen Amtsgebäude antraten, wie sie fast jeden Morgen taten.

Denn abgesehen von den häuslichen Besorgungen, die es täglich zu machen
gab, um diese oder jene Bedarfsware einzukaufen, die man dort und
dort, in dieser oder jener Gasse, am entgegengesetzten Ende der Stadt,
angeblich um ein paar Kronen billiger bekommen sollte; ganz abgesehen
hiervon -- waren auch auf dem Amte beinahe täglich eine Unzahl lästiger
Geschäfte zu erledigen, und sie vermehrten sich noch von Woche zu
Woche. Manchmal hatte es schier den Anschein, als gehörte es zu den
vornehmsten Aufgaben einer Republik, zu den ohnedies schon reichlich
vorhandenen Bürgerpflichten immer wieder neue hinzuzuerfinden.

Fast regelmäßig unternahmen die beiden Freunde solche Wege gemeinsam,
Schulter an Schulter, in nie wankender Nibelungentreue. Denn geteiltes
Leid ist halbes Leid, und daß es jedesmal ein Leidensweg war, den sie
antraten, das wußten sie im voraus. Ach ja, zum Henker, ein Dornen-
und Leidensweg war es, ein scheußlicher, eine aufreibende Pilgerfahrt,
treppauf, treppab, mit müden Beinen die nicht enden wollenden öden
Korridore entlang. Ein demütigender Bußgang von Amtsstube zu Amtsstube,
mit stundenlangem Warten und verzweifeltem Reihestehen, gepufft und
gestoßen im Gedränge und fortwährend in der Angst, die Börse oder
die Brieftasche könnte plötzlich verschwunden sein. Angeschnauzt
von ungeduldigen Beamten, hin- und hergenarrt von einer Kanzlei in
die andere, mit Rügen und Drohungen überhäuft, schwitzend, ächzend,
zitternd, der Erschöpfung nahe und dabei unablässig die Hand in
der Tasche: Blechen, blechen, blechen! Stempelvorschreibungen
und fällige Gebühren, Zustellungsspesen und Vorladekosten,
Kommissionsverpflichtungen, Drucksortenersatz, Straftaxen,
Verzugszinsen, Voreinzahlungen und Nachzahlungen, gelegentlich
wohl auch Nachzahlungen auf die schon geleisteten Voreinzahlungen
oder Voreinzahlungen auf die noch zu leistenden Nachzahlungen --
und so weiter, und so fort, im abwechslungsreichen Trott des ewig
unersättlichen und immer wütig schnaubenden Amtsschimmels.

Herr Anselm Bock war sichtlich mißmutig. Allmählich fing die Sache doch
an, ihm über die Hutschnur zu gehen. In seinen Adern rollte nicht die
Milch der frommen Denkart, die seinen Freund Joachim zu einem sanften
und umgänglichen Gesellschafter machte. Es kochte darin, wenn nicht
gerade »gärend Drachengift«, so doch die Galle, von der ein Drechsler
eine gewisse Dosis in sich haben muß, damit es an der Drehbank nicht
zimper zugehe. Denn wenn nicht die Späne fliegen, leidenschaftlich wie
sprühende Funken in einer Dorfschmiede, so kommt nichts Ordentliches
dabei heraus, und es ist dann auch kein Drechsler, wie er sein soll,
der an der Drehbank steht.

Daß nun eine solche schon von Haus aus vorhandene und allmählich
schier zur Berufskrankheit gesteigerte Anlage zur Vehemenz durch
die obwaltenden Zeitumstände nicht zur Rückbildung gebracht werden
konnte, leuchtet ein. In Herrn Bocks Stiefeln nistete die Karies.
Durch einige Lückerln, die im Oberleder klafften und darum allgemein
sichtbar waren, drang das Wasser dieses triefenden Regentages ungehemmt
ein, und durch die Sohle aus Gründen, die unsichtbar blieben, nicht
minder. Die quatschende Nässe, die infolgedessen bei jedem Schritt zu
spüren war, und das damit in Verbindung stehende quatschende Geräusch,
das die Schritte rhythmisch begleitete, weichte den ohnedies schon
ziemlich zermürbten Rest von Herrn Bocks Widerstandskraft völlig auf
und bewirkte, daß eine stillwachsende Wut in ihm sich ansammelte, die
schließlich einen Höhenpunkt erreichen und einen Ausbruch erzwingen
mußte.

Und richtig, es dauerte nicht lang, so blieb er plötzlich stehen,
gerade in der Wiedner Hauptstraße, mitten im Gewühl der Menschen.
Äußerlich ließ er sich nicht einmal besonders viel merken; eine um so
gefährlichere Entschlossenheit dagegen kündigte sich in dem Beben an,
mit dem er jetzt die folgenden, vorläufig nur zum Teil verständlichen
Worte hervorstieß: »Ich hab's satt! Was meinst, Ziervogel? Steigen wir
aus!«

Notgedrungen hatte auch der süße Joachim Halt gemacht und beäugte
verdutzt den rabiat gewordenen Gefährten, aus dessen flackerndem
Auge bei aller Beherrschung und scheinbaren Ruhe ein fürchterlicher
Abgrund drohte. Seine ausgemergelte Gestalt, die eingefallenen Wangen,
die pergamentgelbe, sichtlich verärgerte Gesichtsfarbe ließen darauf
schließen, daß die Leber über ihre Verhältnisse lebte, während der
Magen darbte.

»Aussteigen, Anselm?« wiederholte Ziervogel unsicher und nichts Gutes
ahnend. »Wie meinst du das?«

Es befand sich zufällig gerade da, wo sie stehengeblieben waren, eine
Haltestelle der Straßenbahn, und auf die Fahrgäste weisend, die einen
soeben anhaltenden Wagen verließen, um rasch im Gewühl der Leute zu
verschwinden, sagte Bock: »Wie ich es meine? Daß ein jeder das Recht
hat auszusteigen, mein' ich, der nicht mehr mitfahren will. Verstehst
du mich, Joachim? Man ist am Ziel, oder wenigstens nicht mehr weit
davon, das ewige Gedränge, das fortwährende Gepufft- und Gestoßenwerden
hat man ohnedies schon dick satt -- nicht wahr? Nun, und so steigt man
halt aus. Siehst du, so mein' ich's.«

Schweigend und in grüblerischer Laune setzten sie ihren Weg fort.
Die Worte des Freundes gingen Herrn Ziervogel im Kopfe herum. Sie
veranlaßten ihn sogar ein paarmal, Zeige- und Mittelfinger in den
Halsausschnitt zu stecken, um nachzuprüfen, ob er etwa einen zu engen
Hemdkragen umgenommen hätte. Aber jedesmal erinnerte er sich dann:
er trug ja längst keine Stärkwäsche mehr, sonst hätte er sein halbes
Einkommen der Feinputzerei in den Rachen werfen müssen! Er trug doch
immer nur ein und denselben Kautschukkragen, besaß überhaupt nur
diesen einzigen! Und der war, aufrichtig gesagt, recht bequem. Als
Gelegenheitskauf aus zweiter Hand sogar reichlich weit. Oder -- um
lieber gleich die ganze Wahrheit zu gestehen: um zwei Nummern weiter
war er, als es nötig gewesen wäre. Sonach schien's ausgeschlossen, daß
das Würgen, das er im Hals spürte, von einem zu engen Hemdkragen sollte
herrühren können.

Und das Unheimliche an der Sache war für ihn nämlich dieses, daß er
sein und Bocks Geschick für unlösbar miteinander verflochten hielt
und meinte, was jener etwa zu beschließen für angezeigt fände, würde
irgendwie auch für ihn Geltung gewinnen. Denn ihre Freundschaft
wurzelte nicht so sehr in einer inneren Übereinstimmung der
Gemüter, als eben in jener Verknüpfung durch ein Schicksal, das sie
gewissermaßen wie ein Paar Pferde vor den Wagen ähnlicher Erlebnisse
gespannt hatte -- denn aus Höflichkeit soll das im Grunde noch besser
passende Gleichnis von zwei Ochsen, die das nämliche Joch zu tragen
haben, lieber unterdrückt werden.

Beide waren sie, früh verwitwet, mit je einem Kinde zurückgeblieben,
das sie sorgsam betreut und liebevoll großgezogen hatten. Joachim mit
der bereits genannten Rotkehlchengönnerin Anna, Anselm mit einem bisher
noch unerwähnten blonden Ludwig, der gegenwärtig feuereifrigst auf die
Bankprüfung büffelte, nachdem ihn vor wenigen Monaten erst Sibirien
ausgespien hatte, wo als Frucht eines sechsjährigen Nachdenkens die
Erkenntnis in ihm gereift war, daß mit seinem bisherigen Beruf eines
aktiven Offiziers nichts mehr anzufangen sei.

Aber des Gleichartigen gab es noch viel mehr. Beide hatten sie einst
ihre Geschäftsläden knapp nebeneinander gehabt, Tür an Tür, genau
so, wie sie jetzt wieder Tür an Tür nebeneinander wohnten. Auch
dort waren sie stets gute Nachbarn gewesen, ihre Kinder, solange
sie noch klein waren und die Kinderschuhe nicht ausgetreten hatten,
spielten miteinander in der stillen Andreasgasse, im Winter mit einem
Handschlitten im Schnee, im Sommer mit kleinen Steinkugeln, die sie
an der Hausmauer herab- und übers Pflaster rollen ließen, ein Spiel,
das man »Anmäuerln« nannte, und das unter Umständen zur Wegnahme
und Enteignung des feindlichen Kügleins führte. Und sogar in ihrem
Beruf gab es eine gewisse Ähnlichkeit insofern, als beide dem Gaumen
ihrer Mitmenschen schmeichelten; allein: wenn Ziervogel ihn mit
Süßigkeiten kitzelte, so wirkte Bock durch das schwerere Geschütz
des Tabaks, obzwar nur mittelbar. Denn aus seiner Werkstatt gingen
die schönen, glatten, englischen Pfeifen hervor, die trotzig-geraden
oder anmutig-geschwungenen, die mit ihren braunpolierten Köpfen
aus gemasertem Rosenwurzelholz und mit ihren sauber gearbeiteten
Mundstücken aus silbergrauem oder marmorschwarzem Horn jeden Raucher
entzückten.

Die belangreichste Übereinstimmung ihrer Schicksale aber, die sie,
Gott sei's geklagt, zu Leidensgefährten und Unglücksgenossen machte,
war die, daß sie beide die Unvorsichtigkeit begangen hatten, sich
einige Jahre vor Ausbruch des großen Krieges zur Ruhe zu setzen,
weil sie mit den paar hunderttausend Kronen, die ein jeder von ihnen
erwirtschaftet hatte, sich für wohlhabend hielten. Von den Zinsen der
Wertpapiere, die im Bankfach lagen, glaubten sie gemächlich zehren
und die Früchte ihrer Arbeit während eines möglichst langandauernden
sorglosen Alters mit Heiterkeit genießen zu können. Verhängnisvoller
Irrtum! Denn bei Anlage ihrer Ersparnisse waren sie leider nicht
leichtsinnig und wie kühne Glücksritter ins Zeug gegangen, sondern
hatten peinlichste Vorsicht walten lassen und die Auswahl unter den in
Betracht kommenden Anlagewerten nur nach den Grundsätzen strengster
Gediegenheit getroffen. Die Folge davon war, daß sie das Unsicherste,
was es derzeit unter der Sonne gab, nämlich lauter mündelsichere
Papiere besaßen, Staatsschuldverschreibungen und dergleichen, von denen
es großenteils zweifelhaft blieb, ob sie jemals noch einen Zinsschein
einlösen würden. Sofern jedoch diese famosen Gewährleister der Mündel-
und Waisensicherheit ihre Abschnitte überhaupt noch flüssig machten,
erfolgte die Zahlung natürlich auf Grund der einst für hocherwünscht
gehaltenen festen Verzinslichkeit, die durch die Geldentwertung zur
Posse wurde, unter Umständen wohl auch zum Trauerspiel führte. Um das
Erträgnis, das ein auf diese Art angelegtes Vermögen von beispielsweise
hunderttausend Kronen im Jahr abwarf, konnte man sich jetzt gerade
anderthalb Kilo Schweinefett kaufen, oder zweieinhalb Dutzend Eier,
oder ein Viertelpaar Stiefel, oder einen halben Filzhut, oder, wenn man
einmal ein Festessen veranstalten wollte, zwei Drittel eines Feldhasen,
wobei man allerdings mit dem beim Trödler verwerteten Fell fast das
Viertel der zwei Drittel wieder hereinbrachte.

Ein bares Nichts war also der durch Jahre mühsam erarbeitete Wohlstand
über Nacht geworden. Und schier zu einem Nichts verschrumpft sah auch
der von Haus aus schmächtige und untermittelgroße Drechslermeister
aus, wie er nun mit gesenktem Haupt, triefend von Nässe -- denn einen
Regenschirm besaß er längst nicht mehr -- neben dem breiteren und
noch immer dicklichen Ziervogel die Straßen entlang trabte. Gegen
den strömenden Regen war dieser etwas besser geschützt, hielt er
doch (ein Vermächtnis üppigerer Tage) an einem hölzernen Stock ein
Drahtgestell über sich ausgespannt, auf dem noch die Reste eines
halbseidenen Überzuges flatterten. Und so beobachtete er aus seiner
verhältnismäßigen Geborgenheit hervor mißtrauisch und besorgt den
bockig verstummten Bock, der sich heute in den Kopf gesetzt zu haben
schien, dem Freunde Rätsel aufzugeben. Mit schwerem und bangem
Herzen verfolgte er jede seiner Bewegungen, spähte er nach jeder
seiner Mienen, um zu erraten, was in ihm vorgehe. Denn das dunkle,
beziehungsreich betonte und darum etwas unbehagliche Wort, wer nicht
mehr mitfahren wolle, dem stünde es frei, auszusteigen, beunruhigte ihn
unausgesetzt. Er verstand es nicht, nein, ganz und gar verstand er es
nicht, wollte es nicht verstehen, sträubte sich mit Händen und Füßen
dagegen, es zu verstehen ...

Auf dem ~Hinweg~ ins Amtsgebäude nämlich. Und auf diesem ganzen
langen Hinweg vermied er es mit Geschick, den verstummten Anselm noch
einmal durch eine Frage zu reizen und zum Reden zu veranlassen, um ihm
nur ja keine Gelegenheit zu bieten, sich deutlicher auszusprechen. Das
war um acht oder neun Uhr am Morgen. Ganz anders vier oder fünf Stunden
später, als sie das Amtshaus wieder verließen und im Begriffe standen,
den Heimweg anzutreten.

So lange hatten sie nämlich gebraucht, um: 1. die neuen Brotkarten zu
beheben; 2. ihr Bezugsrecht auf Küchenbrandkohle geltend zu machen,
das ihnen irrtümlich vorenthalten worden war; 3. den Nachweis zu
erbringen, daß sie seit 1911 kein Gewerbe mehr ausübten, denn man hatte
ihnen trotzdem die Erwerbssteuer für die letztabgelaufenen neun Jahre
nachträglich samt Verzugszinsen vorgeschrieben; 4. die Tabakkarte
umzutauschen, zu welchem Ende ein Meldeschein vorzulegen war, den
sie sich nicht anders zu verschaffen wußten, als indem sie bei der
polizeilichen Meldestelle um amtlich bestätigte Auskunft ansuchten, wo
die Herren Bock und Ziervogel wohnten; 5. auf die längst beglichene
Gasrechnung die für ein halbes Jahr rückwirkende Preiserhöhung
nachzuzahlen; 6. eine empfindliche Gefällsstrafe zu erlegen, weil sie
ein mit vorgeschrittenem Alter und Kränklichkeit begründetes Gesuch um
Einkommensteuerermäßigung nicht hoch genug gestempelt hatten; 7. die
vom Hauswirt bestätigte genaue Beschreibung ihrer Zweizimmerwohnungen
vorzulegen, weil das Wohnungsamt behauptete, sie hätten jeder um drei
Zimmer mehr, als erlaubt sei (was natürlich auf einer Verwechslung
mit ihren früher innegehabten Wohnungen beruhte); 8. die Zuckerkarten
gegen Empfangsbescheinigung zurückzugeben, weil die behördliche
Zuckerbelieferung eingestellt werden sollte und der vom Ernährungsamt
zugeteilte Zucker seit dreiviertel Jahren ohnedies nicht zugeteilt
worden war; und endlich 9. die letzte Teilzahlung der Vermögensabgabe
abzutragen, obgleich das Vermögen, von dem diese Abgabe zu leisten war,
sich inzwischen bis auf unbedeutende Überreste verflüchtigt hatte.

Die übrigen Gegenstände, die noch auf ihrer Liste standen, mußten sie
auf den nächsten Tag verschieben; heute war es nicht mehr möglich,
sie zu erledigen, die Kanzleien wurden um zwei Uhr geschlossen,
und ohnedies krümmte sich, wie ein getretener Regenwurm, vor jeder
Amtsstubentür noch eine verzweifelte Menschenschlange.

Ein Wolf saß dem erschöpften, entmutigten, entnervten Ziervogel
in den Eingeweiden, als die beiden Freunde und pflichtbewußten
Bundesstaatsbürger nach diesen vier bis fünf Stunden Amtstätigkeit
(leidender Form) wieder auf die Straße heraustraten. Ein lebendiger,
riesiger, hungriger Wolf, und der heulte nach Fleisch. Ein Wolf, bei
dem plötzlich die angestammte Wildheit ausbrach, weil die Kartoffeln
und das Sauerkraut ihm eingefallen waren, womit er gefüttert zu
werden pflegte, und weil er wußte, daß man ihm zur Stillung seines
Wolfshungers auch heute wieder nichts anderes als Kartoffeln und
Sauerkraut vorsetzen würde. Wie besessen kläffte, bellte, rumorte das
ungeschlachte Scheusal in der dunkeln Bauchhöhle, in die es eingesperrt
war, biß wütend um sich und kratzte mit den Krallen seiner Pfoten
an den Wänden -- so höllsauer war es dem süßen Joachim lange nicht
zumute gewesen, er fühlte sich glatt am Ende seiner Kräfte. Und in dem
Augenblick beherrschte ihn nur mehr der einzige Gedanke: Schluß machen
mit dieser ewigen Qual, diesen unausgesetzten Foltern und Martern!
Schluß machen mit einem Leben, das sich aus nichts mehr als Schikanen
und Drangsalierungen, Entbehrung und Bettelhaftigkeit zusammensetzte.
Schluß mit einem Dasein, das längst jeder Freude und jedes Reizes
entkleidet war! Aussteigen! Nicht länger mitfahren! Oh, Freund Anselm
hatte recht, nun begriff er's ganz genau, wie der es meinte: wem das
ewige Gedränge, das stete Gepufft- und Gestoßenwerden zu dick wurde,
dem stand es frei, ein Ende zu machen! Bei der nächsten Haltestelle
sprang man ganz einfach ab und verlor sich unauffällig im unendlichen
Strom der gleitenden Erscheinungen ...

Aber plötzlich -- Wunder über Wunder! -- was schwebte seinen
abgespannten und zugleich aufgepeitschten Sinnen deutlich zum Greifen
da plötzlich vor Augen? Ein Gulasch war es -- eine Luftspiegelung hatte
es ihm vorgegaukelt -- ein Gulasch, das sich in einer appetitlichen
braunen Tunke badete, und dem ein knuspriges Salzstangel Gesellschaft
leistete und ein schäumendes Glas goldbraunen Schwechater Bieres.
Vorkriegserinnerungen, die ihm das Herz im Leibe hüpfen machten!
Wie köstlich war solch ein Gabelfrühstück gewesen, kurz vor Tisch,
wenn man sich so recht gründlich den Appetit damit verdarb! Und das
sollte nun für immer vorbei sein? Ewig unerreichbar? Ein nie mehr zu
verwirklichender Sehnsuchtstraum? Niemehr, niemals wieder erschwingbar?
Ein Leckerbissen, den sich ein in Dürftigkeit geratener Mittelständler
nicht mehr vergönnen durfte, weil es seine Verhältnisse überstiegen
hätte, einen unerlaubten Aufwand für ihn bedeutete? Die kargste
Notwendigkeit höchstens billigte das Schicksal noch den Versklavten zu,
alles Überflüssige blieb verpönt!

Ein seinem Zuckerbäckerherzen bis dahin unbekanntes Bedürfnis nach
irgend einer kleinen Ausschweifung brachte ihm unversehens das Lied
ins Gedächtnis, das er einst in froher Tafelrunde hatte mitsingen
helfen: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ... Und
-- hol's der Geier! -- einmal wollte er sich noch des Lebens freuen,
eh' es zu Ende ging, geschehe auch, was da wolle! Einmal noch zum
Gabelfrühstück ein Gulasch sich vergönnen mit einem Salzstangel und
einem Glas Bier, solange er das Licht der Sonne noch schaute. Und wenn
er dann vielleicht einen ganzen Monat dafür hätte fasten müssen --
einmal noch wollte er leichtsinnig sein, eh' es zu spät dazu war, nur
dies eine Mal noch, gerade heute, ein bißchen Verschwendung treiben,
ein wenig über die Schnur hauen, eben ein ganz klein wenig nur, einmal
bloß, ein einziges Mal noch im Leben!

»Was meinst du, Bock?« sagte er kühn entschlossen und machte Halt. »Zum
Mittagessen kommen wir doch nicht mehr rechtzeitig nach Hause --«

Er zog die Uhr, wollte sie ziehen -- und griff ins Leere!
Unverrichteter Dinge kam die Hand wieder heraus, fuhr abermals hinein
... er knöpfte den Überrock auf -- um Gottes, Christi, Himmels willen!

»Bock --! Die Uhr! ... Meine goldene Uhr! ... Beim Teufel ist sie! ...
Die goldene Uhr! Meine schöne, wertvolle goldene Uhr --!«

Wirklich! Fort war sie! Verschwunden! Die wertvolle goldene Uhr!
Empfohlen hatte sie sich! Auf Nimmerwiedersehen! Und die Kette auch!
Die wertvolle goldene Kette auch!

Die sofort eingeleiteten Schritte eröffneten wenig Aussicht auf
Wiedererlangung. Das sei schon einmal nicht anders im Amtsgebäude,
meinte gähnend der Beamte, der die Anzeige zu den Akten nahm;
wenigstens ein dutzendmal täglich komme es vor.

»Machen Sie ruhig das Kreuz darüber,« fügte er gemütlich scherzend
hinzu. »Steht denn nicht angeschrieben: Achtung vor Taschendieben? No
also! Wenn man Achtung vor ihnen haben soll, dürfen wir sie doch nicht
erwischen!«

Weniges später standen die beiden Nibelungentreuen abermals auf der
Straße und traten Schulter an Schulter zum zweitenmal den Heimweg an.
Der Regen hatte aufgehört, aber von Ziervogels Wangen fiel jetzt ab
und zu ein verstohlener Tropfen und benetzte den schäbig gewordenen
Aufschlag seines Überziehers. Er fühlte sich so müde, so entkräftet,
daß er sogar den Wunsch äußerte, die Straßenbahn zur Heimfahrt zu
benutzen. Als sie aber ihr Geld zusammenzählten, verfügten sie alle
beide miteinander kaum mehr über eine Barschaft von siebzig Kronen. Das
langte nicht für zwei Trambahnfahrscheine.

»Im Frieden wäre man darum im Auto auf den Semmering gefahren,« brummte
Bock verdrossen.

Aber das Brummen half zu nichts. So schwer der süße Joachim sich
schleppte, es blieb nichts übrig, als zu Fuß zu gehen. Besorgt und
hilfsbereit hielt Anselm, obwohl er der viel kleinere und dünnere war,
ihn untergefaßt und stützte ihn nach Leibeskräften. Hinter der rauhen
Außenseite barg er im Grund doch eine treue Seele, die auch das heftige
und -- im Vergleich zum Beruf eines Zuckerbäckers -- etwas gewalttätige
Drechslergewerbe nicht völlig hatte verhärten können ...

Auf diesem langen, stöhnenden Heimweg war es, daß die beiden Freunde
jene furchtbare, schwerwiegende, düster vorausgeahnte Tat wirklich
auszuführen beschlossen, von der Anselm in seinem Tatendrang schon am
Morgen wie von einer Erlösung gesprochen und jetzt im Feuereifer der
Überzeugung behauptete, sie müsse mit aller Tatkraft tatsächlich zur
Tatsache gemacht werden; während der nichts weniger als tatendurstige
Joachim erst infolge der schlimmen Erfahrungen dieses Vormittags sich
mehr und mehr mit dem Gedanken an sie vertraut gemacht hatte und nur
Schritt für Schritt vor der stößigen Hartnäckigkeit der Bockschen
Überredung zurückwich.

Ebenso wie für jenen, stand es aber nun schließlich auch für diesen
fest, daß es töricht sei, nur aus Gewohnheit oder purer Feigheit
im Höllenpfuhl weiterzuschmachten, wenn es bloß eines herzhaften
Augenblickes bedurfte, sich für immer daraus zu befreien. Ein Plan,
an den sie sich bei Ausführung ihres schwarzen Entschlusses halten
wollten, wurde entworfen und durchgesprochen, und als sie endlich
die Schleifmühlgasse erreicht hatten, waren auch die sämtlichen
damit zusammenhängenden Fragen genügend erörtert und geklärt, die
vorgebrachten Einwände großenteils widerlegt, die aufgetauchten Zweifel
und Bedenken so ziemlich überwunden.

Noch einmal machten sie auf dem Treppenflur vor ihren beziehentlichen
Wohnungen halt, blickten einander mannhaft in die Augen und besiegelten
die getroffene Verabredung mit einem kräftigen Händedruck und einem
feierlichen »Es bleibt dabei!« Hierauf schieden sie voneinander mit der
geheimnisvoll-düsteren Miene von Verschwörern, die rätselhaftes Unheil
brüten, und verschwanden ein jeder hinter der Tür, die auf einem noch
aus besseren Zeiten stammenden Messingschild den Namen des Betreffenden
trug und sich dadurch als Eingangspforte zu der ihm gebührenden
Behausung zu erkennen gab.

                   *       *       *       *       *

Eine von Bocks Lebensregeln lautete: Verschieb nicht, was du heut'
besorgen kannst, auf morgen; während sein Freund im Gegenteil dem
Grundsatz huldigte: Wenn du vorhast ein wichtig' Sach', so sieh dich
für und tu' gemach. Diesmal mußte ausnahmsweise der Drechslermeister
nachgeben, vielleicht tat er's nicht einmal ungern, weil er wohl selbst
einsehen mochte, daß eine Sache, die man nur ein einziges Mal und dann
nie wieder im Leben besorgen kann, schließlich doch auch nicht gerade
übereilt zu werden brauche.

Jedenfalls war es Herrn Ziervogel gelungen, etwas wie eine Art
Galgenfrist durchzusetzen. Erst wenn wieder schön Wetter eingetreten
wäre und die Sonne vom klaren Frühlingshimmel schiene, sollte (um
Bocks dreifach unterstrichene Ausdrucksweise zu wiederholen) die Tat
tatsächlich zur Tatsache werden. Es war ein zu ungemütlicher Gedanke,
in die Donau zu gehen, solange es wie mit Kübeln aus den Wolken goß und
man auch so schon genügend naß wurde. Denn nachdem sie alle anderen
Wege, die vom Diesseits ins Jenseits führen, durchberaten und einen
jeden sorgfältig geprüft hatten, waren sie darüber einig geworden, daß
der Wasserweg noch immer am meisten für sich habe. Nun, und daß für
zwei Wiener vom guten alten Schlag unter allen Gewässern dieser Erde
nur die schöne blaue Donau in Betracht kommen könne, das schien ihnen
selbstverständlich.

In der Ziervogelschen Wohnstube stand ein Fenster offen; trotz der
wochenlangen Regenzeit, die man hinter sich hatte, war die Luft mild
und weich. Der feuchte Frühlingswind, der über hohe Feuermauern
hinstrich und über tiefe Hinterhöfe und sogar über ein kleines
Hyazinthenbeet in einem winzigen Hausgärtlein, eh' daß er den Weg durch
dieses Fenster fand, führte so liebliche Lenzdüfte mit sich, daß dem
Rotkehlchen Schnaberl, das in der erwähnten Wohnstube in seinem Käfig
an der Wand hing, ganz eigen zumute wurde, es wußte selbst nicht wie.
Sehnsuchtsvoll spitzte es mit seinen lebendigen Äuglein, die gleich
schwarzen Glasperlen glänzten, nach dem großen irdenen Mehlwurmhäfen
hinüber, das wie gewöhnlich auf dem Ofen stand, und das winzige
Herzlein beschleunigte unwillkürlich seinen Schlag. Als nun aber gar
auf dem Fußboden überraschenderweise -- denn wie lange schon war kein
Strahl Sonne zu sehen gewesen! -- urplötzlich eine grelle Lichttafel
ausgebreitet lag, da vermochte Schnaberl nicht länger an sich zu
halten. Jubelnd ließ er die gewohnte kleine, zierliche, behutsame Weise
ertönen -- das heißt, er bemühte sich wenigstens, sie ~jubelnd~
ertönen zu lassen, und versuchte sie ebenso flott und fröhlich
herauszubringen, wie Annas lustige Liedchen zu klingen pflegten.
Vergeblich! Es schwebte trotzdem jener gewisse Hauch von Schwermut
darüber, welcher der bescheidenen Rotkehlchenkantilene nun einmal eigen
ist; denn die Liedweise, die einer von Natur aus in sich hat, läßt sich
nicht verleugnen und bleibt immer dieselbe.

Der guten Anna, die gerade das Zimmer betrat, war es gar nicht
recht, daß dem Vater, an dem sie ohnedies seit längerer Zeit eine
ungewöhnliche Gedrücktheit und Verstimmung wahrgenommen hatte, nun auch
noch die Ohren mit trübsinnigem Getute gefüllt werden sollten. Das
halbunterdrückte Lachen -- sie hatte Erbssuppe zum Kochen zugestellt
und die Erbsen hineinzutun vergessen, das kam ihr, so beschämend es
war, urkomisch vor --; dieses Lachen also, das halbunterdrückt noch
um ihre Lippen schwebte, machte einer besorgten Miene Platz, als sie
das etwas triste Flöten vernahm, das dem Käfig an der Wand entquoll.
Aber im nämlichen Augenblick hatte sie auch schon einen Plan zur
Abhilfe bereit und zielbewußt einen gemästeten Leckerbissen aus
dem Mehlwurmhäfen gefischt, mit dem sie, den verunglückten und ins
Gegenteil verkehrten Jubel aus der Welt zu schaffen, dem Schnaberl den
Schnabel stopfte.

Vater Ziervogel, der am Tisch saß und Patiencen legte, lehnte sich,
einen Seufzer von sich gebend, in den Divan zurück und sagte mit
kläglicher Stimme: »Ach bitte, Anna, laß den Vorhang herunter, die
entsetzliche Sonne macht mich noch verrückt.«

»Sei doch froh, lieber Vater, daß sie endlich wieder scheint,«
sagte sie und zögerte; erfüllte aber, wenn auch kopfschüttelnd und
widerstrebend, schließlich doch seinen Wunsch, während er sich erhoben
hatte und mit wackligen Schritten in der Stube auf und nieder zu gehen
anfing, die Hände auf dem Rücken.

»Mein Kopf ist dumm geworden!« klagte er. »Die Studiata bring' ich
überhaupt nicht mehr zuweg'! Rein vernagelt bin ich manchmal ...«

»Muß es denn gerade die Studiata sein?« fragte Anna tröstend dagegen.
»Leg' den Zopf, den triffst du sicherlich und unterhältst dich
ebensogut dabei.«

»Der Zopf hilft mir nichts, er ist zu einfach und geht immer aus, ganz
wie von selbst. Da braucht man sich nicht zu plagen, kommt von seinen
Gedanken nicht los und dreht sich immer im gleichen Kreis herum.«

Bekümmert beobachtete die Tochter die sorgenvolle Miene, die gebrochene
Haltung des rastlos Aufundabschreitenden. Seit Wochen schon zerbrach
sie sich den Kopf, was so plötzlich in ihn gefahren sein mochte? Denn
bis dahin hatte er das Unvermeidliche, das die Zeitumstände mit sich
brachten, mit Fassung, wo nicht mit Laune hingenommen, und daß der
Verlust der Uhr samt Kette ihn so aus der Bahn geworfen habe, wie er
selbst es behauptete, das hielt sie nicht recht für glaubhaft; den
hätte er doch wohl endlich können verschmerzt haben, meinte sie. Da er
nun vor dem Wetterglas haltmachte, das neben dem Fenster hing, hoffte
sie ihn zu ermuntern, indem sie sagte: »Ist kein Wunder, wenn einer
miselsüchtig wird bei dem andauernden Regen und Nebel. Der Kummer um
die gestohlene Uhr liegt dir auch noch immer im Magen. Gib acht, Vater,
wie das jetzt alles von dir abfallen wird, wenn nur erst der Frühling
seinen Einzug hält. Sieh, wie sich's aufklärt, wie auf einmal die Sonne
vom Himmel lacht! Die schlimme Zeit ist überwunden und ...«

Erschrocken hielt sie inne.

»Nichts ist überwunden! Nichts lacht vom Himmel und nichts hält seinen
Einzug!« schrie Meister Ziervogel bleich vor Erregung. »Willst du's
besser wissen als mein Barometer? Es ist gefallen, was sag' ich? --
gestürzt ist es, die Regenperiode ist nicht zu Ende, im Gegenteil, sie
fängt jetzt erst recht an, da hilft kein Unheilkrächzen, wir werden
noch lange keinen Frühling zu sehen bekommen! Und die Sonne, die
Sonne« -- er hatte rasch den Vorhang wieder zurückgezogen und schloß,
auf den Fußboden weisend, von dem die grelle Lichttafel jetzt ebenso
plötzlich verschwunden wie vorhin aufgetaucht war, mit einem Unterton
frohlockender Genugtuung in der Stimme: »Wo ist die Sonne? Fort ist
sie! Verkrochen hat sie sich, auf Nimmerwiedersehn!«

Wer hätte sich nun einen Reim darauf machen können, was das alles
bedeutete? Daß das Fortdauern des Trübsalwetters seinen Wünschen zu
entsprechen schien? Daß er die Sonne nicht leiden mochte und es ein
Unheilkrächzen nannte, wenn man den nahenden Frühling verkündete?
Rätsel über Rätsel! Die gute Anna hatte Zeit genug, darüber
nachzudenken, als sie wieder in ihrer Küche stand und die gargekochten
Erbsen durchs Sieb trieb, mit Umsicht und Geschick die spärlichen
Stellen benützend, wo es noch keine größeren Löcher hatte, als es der
Natur und dem Zweck eines Siebes eben entspricht. Aber vorderhand
zeitigte ihr Nachdenken kein Ergebnis.

Gegen Mittag pochte es an Ziervogels Tür. Er schrak zusammen, wie das
Klopfen einer knöchernen Hand klang es seinem überreizten Empfinden,
und dem kleinen, gelblichen, hohläugigen Bock, der eintrat, schien
zum Knochenmann nichts als die Sense zu fehlen. Einer stummen Mahnung
gleich stand der entsetzlich tatentschlossene Freund vor ihm, eine
Verkörperung des Schicksals, das man irgendwie zu versöhnen das
unwillkürliche Bedürfnis fühlt.

»Willst du nicht Platz nehmen, Anselm?«

»Danke! Ich gehe gleich wieder. Es ist Zeit, Joachim! Der erste schöne
Tag ruft uns zur Tat! Heut' um zwei, wenn es dir recht ist, hol' ich
dich.«

»Hol' dich selbst dieser und jener!« antwortete schnöde der
Zuckerbäcker. »Das nenn' ich keinen schönen Tag, was man im amtlichen
Wetterbericht höchstens mit dreiviertelbewölkt bezeichnen könnte.
Alles was recht ist, aber zu mehr, als was abgemacht ist, fühl' ich
mich nicht verpflichtet. Übrigens wollte ich ohnedies noch einmal
mit dir sprechen ... Aber so nimm doch endlich Platz,« wiederholte
er dringlicher, »und steh' nicht wie ein Gläubiger vor mir, der eine
Schuld einfordern kommt!«

Kaum hatte Bock der Aufforderung entsprochen und sich nun doch
niedergesetzt, so war auch schon ein Meinungsaustausch im Gang, der
Fragen, welche längst bereinigt schienen, abermals aufrollte. Noch
einmal setzte Joachim sich gegen Anselms leidenschaftlich-verbittertem
Willen zur Wehr, an dem er wie an einem Angelhaken zappelte und
schnebbelte. Und eines der Hauptbedenken, das der am Leben hängende
Zuckerbäcker dem Drängen des entschlossenen Drechslermeisters
entgegensetzte, lautete: »Das können wir doch unseren Kindern nicht
antun!« Worauf Bock die Gegenvorstellung erhob, die Jugend komme
unglaublich rasch über so etwas hinweg.

Nur die menschliche Eitelkeit sei es, behauptete er, die einem das
Gegenteil einreden wolle. In Wahrheit könne man den Kindern gar nichts
Besseres erweisen, als ihr Lebensschifflein flott zu machen, indem man
Ballast auswerfe, worunter er in dieser scheußlichen Zeit, in der es
auf jeden Esser ankomme, vor allem die alten Leute verstehe, die zu
nichts Rechtem mehr zu gebrauchen seien und nur Geld kosteten. Aber
die Menschen, die man zivilisiert nenne, er wisse eigentlich nicht,
weshalb, die seien nicht so mildherzig wie die Indianer, daß sie
ihren unnütz gewordenen Alten den Tomahawk vergönnen würden. Darum
bliebe nichts übrig, als daß diese selbst so einsichtsvoll wären, sich
rechtzeitig zu empfehlen.

»Und haben wir zweibeide es uns nicht redlich verdient,« fragte er,
»daß man uns endlich unsere Ruhe gönne? Sollen wir denn durchaus noch
länger mit all dem Elend gestraft bleiben?«

»Die Jungen müssen's noch viel länger aushalten,« wagte Ziervogel,
schon wieder schüchterner geworden, dagegen einzuwenden.

»Die Jugend ist eine ganz andere Rasse. Hör' ich deine Anna nicht
lachen und singen, so oft ich in ihre Nähe komme? Und meinst du, mein
Ludwig sei anders? Sechs Jahre seines Lebens hat er in Sibirien
versumpert, dreißig ist er jetzt alt, sitzt noch auf der Schulbank und
plagt sich mit der verteufelten Bankprüfung herum -- glaubst du, das
störe seine Laune? Ich -- obgleich ich doch nicht er, sondern eben ich
bin, könnt' mir die Haare einzeln ausrupfen, wenn ich daran denk',
wieviel verlorene Zeit, wieviel verlorene Jugend und vergeudete Kraft
--! Und er --? Voll Ulk steckt er! Wunderschön findet er die Welt, so
wie sie ist, wünscht sie sich nicht einmal anders, und das Leben macht
ihm direkt Spaß, er hat seine Freude dran -- kannst du das für möglich
halten? -- Siehst du,« schloß er, »so ist die Jugend!«

Er hatte sich ereifert und fast wie in Verärgerung gesprochen -- die
Leber, die Leber, die bittere Leber! Der süße Joachim aber wußte nichts
von einer Leber, er mußte lächeln, mitten im Kummer und Leid, er hatte
die Gabe, sich in die Jugend hineinzudenken, und fand, daß es im Grunde
doch sehr nett wäre, noch einmal in ihrer Haut zu stecken.

»Die würden eigentlich gut zueinander passen, der Ludwig und die Anna,«
sagte er mit nachsinnendem Wohlgefallen.

»Um Gottes willen! Mal' den Teufel nicht an die Wand!« rief Anselm
entsetzt. »Nicht einmal denken kann man heutzutag' an so etwas, so
wird einem schwarz vor den Augen! Am Ende gar heiraten -- wie? Ein
Verbrechen wär' es! Billionär allermindestens müßt' einer sein! ...
Aber auch abgesehn vom Geld: Kinder in die Welt setzen? In dieses
miserable Elendsnest hinein? Daß sie einen noch verfluchen für die
Gefälligkeit, die man ihnen damit erwiesen hat? Ein Verbrechen,«
wiederholte er mit Überzeugung, »direkt ein Verbrechen wär' es!«

»No, no, no,« machte Ziervogel, den es ein wenig verschnupfte, daß der
andere seine Anna als Schwiegertochter so unverholen ablehnte.

»Ereifre dich nicht so!« sagte er. »Es besteht ja keine Gefahr! Die
beiden können einander ohnedies nicht ausstehn, schaun sich nicht
einmal an, behandeln sich gegenseitig als Luft. Eine unausrottbare
Feindschaft ist zwischen ihnen, ich glaube, sie rührt noch von damals
her, von der kleinen Marmorkugel ... aus der Zeit, wo sie noch Kinder
waren.«

»Von einer Marmorkugel weiß ich nichts,« stellte Bock fest. »Meines
Wissens stammt die Feindschaft von einem Schneehaufen.«

»Von einem Schneehaufen weiß wieder ich nichts,« versetzte Ziervogel
trocken. »Sondern die Sache war so, daß der Ludwig, als sie einmal
Anmäuerln miteinander spielten, ein herziges kleines Kugerl aus
rotem Untersberger Marmor, das ich der Anna geschenkt hatte, ganz
widerrechtlich ...«

»Es war nicht widerrechtlich!« begehrte Anselm, der nun doch von der
Kugel etwas zu wissen schien, in gereiztem Tone auf. »Sondern von jeher
ist es beim Anmäuerln Gebrauch gewesen, daß man den Abstand vom kleinen
Finger aus zum Daumen mißt und nicht ...«

»Im Gegenteil!« unterbrach ihn Joachim; »seit jeher hat man vom kleinen
Finger zum Zeigefinger gemessen, was man die kleine Spanne nennt!
Das wird dir ein jeder bestätigen, der von der Sache etwas versteht.
Und weil man nun also beim Anmäuerln eine gegnerische Kugel nur dann
konfiszieren darf, wenn sie innerhalb der kleinen Spanne liegt, so war
es nach den Spielregeln auch nicht möglich, der Anna ihr Kugerl ...«

»Verfallen war der Anna ihr Kugerl!« schrie Bock. »Von Rechts wegen
verfallen! Denn auf der ganzen Welt gibt's nur eine einzige Spanne, die
vom kleinen Finger zum Daumen reicht, und wer das Gegenteil behauptet,«
loderte er im Jähzorn auf, »der ist ... der ist ... mit dem will ich
... mit dem ...«

Aber sich noch rechtzeitig erfangend, lenkte er in einen ruhigeren
Ton wieder ein und fuhr fort: »Wozu soll ich mich ärgern? Es bleibt
sich ja gleich. Der Grund, warum der Ludwig und die Anna nichts
voneinander wissen wollen, ist ja gar nicht das Kugerl. Sondern
soweit ich mich erinnern kann, hat die Feindschaft damit angefangen,
daß die Anna einmal, wie er sie im Handschlitten in der Andreasgasse
umherkutschierte, ihm von hinten einen Schupps versetzt hat. Nun, und
da ist er natürlich auf einen Schneehaufen geplumpst und bis über die
Ohren darein versunken. So etwas verzeiht ein Bub' einem Mädel halt
nie ... Das heißt --« verbesserte er sich: »schließlich sind das alles
nur Vermutungen von mir; gesagt hat mir der Ludwig nichts davon, seit
er erwachsen war, und gesprochen hab' ich mit ihm natürlich auch nicht
mehr darüber, seit er aus Sibirien wieder zurück ist.«

»In Sibirien hätt' er allerdings Zeit gehabt, den Schneehaufen zu
vergessen,« sagte Ziervogel mit leisem Spott. »Lang genug wär's her,
sollte man meinen, seit er den Schupps bekommen hat.«

»Auch nicht länger, als seit die Anna ihrem Marmorkugerl nachtrauert,«
bockte Bock dagegen.

Der süße Joachim aber empfand das Bedürfnis, mit seinem Freunde und
Nachbar in Frieden zu leben, und schlug vor, es dabei bewenden zu
lassen. Schließlich laufe es auf dasselbe hinaus, ob Schneehaufen oder
Kugerl. Die Tatsache, daß die jungen Leute, von denen eins offenbar
so nachtragend sei wie's andere, irgend etwas gegeneinander auf dem
Herzen hätten, werde dadurch nicht geändert und bleibe auf alle Fälle
recht bedauerlich.

Damit hatte nun Bock, der immer recht behalten mußte, endlich
das erwünschte Stichwort beim Schopf, das ihm die Rückkehr zum
Ausgangspunkt gestattete; indem er nämlich wiederholte, es sei ihm
durchaus nicht möglich, etwas Bedauerliches darin zu erblicken, wenn in
einer Zeit, wo niemand der Menschheit eine Fortsetzung wünschen könne,
die Geschlechter einander, mit instinktiver Abneigung gegenüberstünden.
Im Gegenteil, daß dies auch bei Ludwig und Anna der Fall sei,
erleichtere ihm erheblich den Abschied vom Leben.

»Denn wären unsere Kinder einander gut,« sagte er, »so hätte ich ja
keine ruhige Minute mehr, noch übers Grab hinaus. Ob lebend oder
sterbend käm' ich aus der Angst nicht mehr heraus, daß sie am Ende
Unsinn treiben und uns zu Schwieger- und schließlich wohl gar noch zu
Großvätern machen könnten!«

Hierauf versank Ziervogel für eine kleine Zeit in Schweigen, denn er
hatte die Bemerkung auf den Lippen, wer nicht mehr am Leben wäre, dem
könne es schließlich gleichgültig sein, ob er zum Großvater gemacht
würde oder nicht, und im Grunde ginge es ihn auch gar nichts mehr an.
Indessen zog er es vor, den Gedanken, der ihn gar zu traurig stimmte,
lieber zu unterdrücken, um den Schlußpunkt, den Bock endlich unter
den Meinungskampf gesetzt hatte, nicht ins Wanken zu bringen. Für
solche Nachgiebigkeit erwies sich der Drechsler denn auch erkenntlich,
indem er schließlich eine neuerliche Fristverlängerung zugestand,
allerdings nur unter dem Druck unableugbarer Tatsachen. Denn die
Sonne hatte sich nach und nach so dichte graue und schwarze Schleier
übers Antlitz gezogen und der Himmel ein paarmal ein so unzeitgemäßes
Grollen vernehmen lassen, daß auch der rosigste Wetterbericht die
Dreiviertelbewölkung hätte streichen und ehrlicherweise ausgesprochenes
Regenwetter mit Neigung zur Gewitterbildung hätte melden müssen.

Sonach wurde die »Tat« abermals vertagt, was den Schnaberl an der Wand
ziemlich gleichgültig ließ, während die Geschichte von der Feindschaft,
die zwischen Ludwig und Anna angeblich herrschen sollte, ihm ein
nachsichtiges Lächeln abgenötigt hätte, wäre Lächeln Vogelart. Denn er
meinte Grund zu der Annahme zu haben, daß die beiden jungen Leute sich
nur deshalb so anstellten, als stünde der Kleinkinderzank von einst
noch heute trennend zwischen ihnen, weil sie ganz gut wußten, daß Vater
Bock Zeter und Mordio geschrien hätte, wäre er dahinter gekommen, daß
sie in Wahrheit längst ein Herz und eine Seele waren. Oft und oft,
wenn die alten Herrn Schulter an Schulter miteinander auszogen, um
in unerschütterlicher Nibelungentreue den Kampf mit den Widrigkeiten
des Alltags aufzunehmen, waren dem Schnaberl aus der Gegend der ans
Wohnzimmer stoßenden Küche verdächtige Geräusche zu Ohren gekommen, aus
denen er schließen zu dürfen glaubte, daß über Kugerl und Schneehaufen
hinweg Ludwigs und Annas Lippen sich gefunden hatten. Einigermaßen
darüber betroffen, daß das Schnäbeln bei den Menschen nicht so lautlos
vor sich gehe, wie beim Volk der Meisen, Drosseln und Spechte, war
er doch ein zu diskreter Hausgenosse, um nicht verständnisvoll zu
schweigen und die Gedanken, die er sich machte, zu tiefst im Busen zu
verschließen.

Indessen sollten seine stummen Vermutungen sich nur zu bald als
zutreffend erweisen. Denn zehn oder zwölf Tage später, an einem Morgen,
wo gleichsam über Nacht die Gewalt des Nachwinters gebrochen, das
Gelichter der Nebel- und Regengeister mit einmal niedergerungen war
und der lachende Frühling auf dem strahlendblauen Himmelszelte seinen
Einzug gehalten hatte, da ereignete es sich, daß Herr Ludwig plötzlich
in jenes Zimmer gestürzt kam, in dem sich außer dem Schnaberl nur noch
die gute Anna befand, welche dessen Wassernäpfchen soeben mit frischem
Hochquell gefüllt hatte. Der Bankprüfling, der in Wickelgamaschen und
schäbigem Feldgrau seine militärische Vergangenheit nicht verleugnete,
schien die Ziervogelsche Wohnstube mit einem feindlichen Schützengraben
zu verwechseln -- mit solchem Ungestüm und so wildem Hurrageschrei
drang er in sie ein, ein weißes Papier in der erhobenen Faust
schwenkend.

Soweit Schnaberl die Laute der Menschensprache zu deuten wußte,
handelte es sich um einen errungenen Erfolg, um irgend ein gewichtiges
Ereignis, das auch für Anna Bedeutung zu haben schien. Wenigstens gab
sie ihrer Freude durch weit geöffnete Arme Ausdruck, in welche Ludwig
alsbald hineinstürzte wie in einen angenehmen Abgrund, in dem man sich
nicht übel bettet. Und nun begann ein so ungestümes Umhalsen, emsiges
Küssen und unternehmungslustiges Kosen, wie es nur zu festlichen
Gelegenheiten denkbar ist. Und das dauerte mit ungebrochener Heftigkeit
so lange an, bis Anna endlich sagte: »Hör' mal, jetzt ist es aber
genug! Bedenke, daß wir nicht allein sind. Der Schnaberl sieht uns zu,
und ich glaube fast, der wäre längst bis über die Ohren rot geworden,
wenn er nicht schon von Haus aus ein Rotkehlchen wäre.«

Darauf nahm Ludwig wieder Gesittung an und schlug vor, Arm in Arm vor
die erstaunten Väter zu treten und ihnen kurzerhand die vollzogene
Verlobung mitzuteilen. Allerdings sei es ratsam, meinte er, raschest
die nötigen Erklärungen hinzuzufügen, ehe sie Zeit fänden, vom Schlag
gerührt zu werden. Denn tödlich erschrecken würden sie sicher im
ersten Augenblick; im zweiten aber dann um so freudiger überrascht
ihren Segen dazu geben, sobald sie die näheren Umstände zur Kenntnis
genommen und insbesondere von der schönen, vielversprechenden Laufbahn
gehört hätten, die der treue Kamerad -- ein Großindustrieller, der die
Leidensjahre in Sibirien mit ihm geteilt -- nach erfolgreich abgelegter
Bankprüfung einzuschlagen ihm ermöglicht hatte. Diese Mitteilung werde
die beiden alten Herrn nicht nur über das Fortkommen ihrer Kinder und
künftigen Enkel, sondern auch über ihre eigene Zukunft beruhigen, ihnen
mit einem Schlage die schwere Sorgenlast von den Schultern nehmen
und vor ihren freudig erstaunten Blicken die unerwartete Aussicht
auf ein geruhsames Alter auftun, am behaglich durchwärmten Ofen des
Familienglückes.

Die beseligte Braut war's natürlich zufrieden, es stellte sich aber
bald heraus, daß beide Väter ausgegangen waren, und merkwürdigerweise
lag -- was noch niemals vorgekommen -- auf eines jeden Tisch ein
Zettel, worauf übereinstimmend geschrieben stand: »Komme heute nicht
zum Essen, habe auswärts zu tun!«

Einen Augenblick stutzte Anna, der Trübsinn fiel ihr ein, dem ihr Vater
während der letzten Wochen verfallen gewesen, und die rührselig-weiche
Zärtlichkeit, mit der er sie diesen Morgen in die Arme schloß. Aber
so ungewöhnlich es ihr schien, daß schriftliche Nachricht an die
Stelle der zwei gesprochenen Worte trat, welche die Notwendigkeit
des Ausbleibens über Mittag ungleich einfacher und zwangloser, wie
sie meinte, mündlich mitgeteilt hätten, so war sie doch zu heiter
und arglos, um die Erklärung Ludwigs nicht völlig ausreichend zu
finden: die alten Herrn fröhnten in ihrer vorrepublikanischen
Gewissenhaftigkeit dem Vergnügen, sich bei den Behörden einmal recht
gründlich lieb Kind zu machen, und weihten ausnahmsweise mal zu diesem
Ende den ganzen Tag von früh bis spät dem amtlichen Angeschnauztwerden.

»Nun wollen wir uns aber für ihr Ausbleiben rächen,« schlug sie
vor, »und sie mit einer Festjause empfangen, die sich sehen lassen
kann: Kaffee mit Kuchen, wirklichen Kaffee aus Bohnen nämlich, mit
wirklicher Sahne (diese notgedrungen freilich bloß Kondens). Dazu
echten Friedensgugelhupf mit Mandeln und Rosinen, als hätten wir das
große Los gezogen (was wir ja eigentlich auch haben, du mit mir und
ich mit dir, aber nicht gerade aus dummem Glück). Eine Flasche Wein
könntest du auch besorgen und etwas Leberpastete, Zervelat-, Hirn-
und Mettwurst, ferner Rollmöpse oder sonst was Pikantes, frischen
Pumpernickel und knuspriges Weißbrot nicht zu vergessen, damit ich
leckere Brötchen streichen kann, in übermütigster Abwechslung. Denn daß
der Friede, der bekanntlich nur aus Humanität geschlossen wurde, uns
den weißen Wecken bis auf dreihundert Kronen verteuert hat, daran soll
mir heute (oder eigentlich dir, denn du mußt alles bezahlen, ich habe
nichts) weiß Gott, wenig gelegen sein! Wie sparsam ich wirtschaften
kann und auch zu wirtschaften gewohnt bin, das wirst du später, bei
gelegenerer Zeit noch zur Genüge erfahren. Für heute wäre sparen
unangebracht, ich sage: alles an seinem Ort, wo Freude einkehrte, soll
man sich's wohl sein lassen! Darum bestell' schließlich auch noch,
lieber Ludwig,« fuhr sie fort, »aber bei einem ersten Konditor, wenn
ich bitten darf, daß man meinen könnte, die Firma Ziervogel ›Zum süßen
Joachim‹ bestünde noch heute, Faschingskrapfen zur Karnevalsnachfeier,
eine gegupfte stattliche Schüssel voll. Diese fromme Fastenspeise auch
noch selbst zu backen, bleibt mir leider keine Zeit mehr, für alles
andere will ich sorgen. Denn heute muß der Tisch sich biegen, als wären
wir nicht das gerade Gegenteil von Kriegsgewinnern, und das Väterpaar
soll sich einmal ausgiebig gütlich tun, schon aus dem hinterlistigen
Grunde, damit sie aus der Fassung kommen und das Brummen vergessen.
Weil man nämlich einen Vater, der zu Vorwürfen ausholt und meint, man
dürfe nicht heiraten, die Zeiten seien zu schlecht dafür, den Mund am
besten damit schließt, indem man eine so hoffnungsfrohe Zuversicht und
einen so himmlisch leichten Sinn (um nicht zu sagen, einen solchen
Leichtsinn) an den Tag legt, daß es ihm die Rede verschlägt und er
vor Staunen sprachlos wird. So, und jetzt geh',« schloß sie, »und tu'
pünktlich, wie ich dich geheißen! Hier noch einen Kuß auf den Weg,
damit bist du entlassen, ich habe alle Hände voll zu schaffen. Erfülle
deine Pflicht wie ich die meine! Was ich zu des Werkes Vollendung
benötige, trägst du mir zu wie Hermann der Rabe und reichst mir's
stumm durch den Türspalt herein, zu sprechen bin ich bis auf weiteres
nicht. Und damit Gott befohlen, gegen vier Uhr sehn wir uns wieder,
bis dahin werden wohl auch die Väter, mit gesundem Appetit, hoff' ich,
heimgekehrt sein.«

Um sich als künftigen Mustergatten zu empfehlen, blieb Herrn Ludwig
nichts übrig, als ihren Anordnungen ohne Widerrede zu gehorchen. Gerne
hätte er, weil heut' schon solch ein Glücks- und Freudentag war, sich
die sonderbare Erlaubnis erwirkt, ihr beim Kuchenbacken behilflich
sein zu dürfen; aber die schüchternen Versuche in dieser Richtung
scheiterten an Annas Entschlossenheit, tatsächlich einen Kuchen zur
Welt zu bringen und keinen verunglückten Mehlbatzen, der den Spott der
Mitwelt herausfordern hätte können. Darum blieb es dabei, er mußte
sich auf den Weg machen, die befohlenen Einkäufe zu besorgen, sie
hatte die Sperrkette vorgelegt und nahm die von ihm herbeigeschleppten
Mundvorräte und Kochzutaten nur durch den Türspalt in Empfang, ohne
seinen jedesmal wieder erneuten Bitten, doch nur wenigstens auf eine
halbe Minute eingelassen zu werden, im geringsten Gehör zu schenken.
Sondern in dem Augenblick, wo er seine Pakete durch den Spalt gesteckt
und abgeliefert hatte, fiel die Tür wieder ins Schloß, und man hörte,
wie innen der Schlüssel umgedreht wurde. Denn ein Gugelhupf, wie er
sein soll, kommt nicht so obenhin in weltlicher Zerstreutheit zustande.
Er ist ein Werk, das seinen Meister nur unter der Bedingung lobt, daß
dieser mit tiefinnerlicher Sammlung und heiliger Versunkenheit sich an
seine hehre Aufgabe hingibt.

                   *       *       *       *       *

Indessen ging der guten Anna die Arbeit so leicht von der Hand, daß sie
rascher damit zustande kam, als sie gedacht hätte. Da sie an diesem
Tage für sich selbst kein Mittagsbrot kochte, sondern mit Umsicht
Appetit ansammelte, um für die Festjause ausgiebig damit versehen
zu sein, so kam alles, was an Zeit, Stoff und Kraft zur Verfügung
stand, ausschließlich dem Kuchen zugute, der denn auch in seiner
goldigbraunen Herrlichkeit bereits in der ersten Nachmittagsstunde
wie ein überzuckertes Wunder fertig dastand, Zeugnis davon ablegend,
daß schöpferische Fähigkeiten sich vererben und der Weltkrieg dem
Eindringen der Mandeln und Rosinen nach Mitteleuropa noch weitaus
länger hätte einen Riegel vorschieben müssen, ehe eine richtige Wiener
Zuckerbäckerstochter aus der Übung gekommen wäre, einen vorbildlichen
Gugelhupf zu backen.

Vater Ziervogel ließ sich noch immer nicht blicken, untätig bleiben
war Annas Sache auch nicht, und da vor den Fenstern nach wie vor der
gleiche gold- und blaustrahlende Frühlingstag stand, fiel ihr plötzlich
der Schnaberl ein, dem sie an dem ersten solchen Tage die Freiheit
zu schenken sich gelobt hatte. Wie gut traf es sich, daß diese Frage
gerade heute brennend wurde, da ein überströmender Drang in ihr war,
Freude zu spenden einer jeglichen Kreatur, ja, womöglich die ganze
Welt zu beglücken. Reichlich blieb noch Zeit, das Rotkehlchen in den
Stadtpark zu tragen, wo die Fesseln fallen sollten, so hatte sie
sich's zurechtgelegt. Und sogleich beschloß sie, an die Ausführung zu
schreiten.

Bevor sie aber das Haus verließ, stieg sie noch, den Käfig in der Hand,
den oft betretenen Weg zum Dachstock hinan, um ihren armen kranken
Freund zu besuchen, den kleinen Felix, der unter seinen Leiden, in
Einsamkeit erduldet, stets so unsäglich dankbar war, wenn sie ihn
besuchen kam und gar den Schnaberl mit heraufbrachte. Abermals, wie
es ihre Gewohnheit war, stellte sie den Vogel in seinem Bauer vor den
Knaben auf die Bettdecke, in demselben Augenblick aber kam es ihr in
den Sinn, und zwar zum erstenmal, woran sie bis dahin noch gar nicht
gedacht hatte: daß es nämlich für den bedauernswerten Jungen aller
Wahrscheinlichkeit nach ein bitteres Weh bedeuten würde, von dem
Vogel Abschied zu nehmen, dessen süßes, trauriges Liedchen ihm Wald
und Freiheit vorzutäuschen pflegte. Und sich beherrschend, sagte sie,
unsicher geworden: »Eigentlich sollte er heute fliegen, aber nun will
ich mir's doch noch einmal überlegen ... Was meinst du?«

Sinnend nickte Felix mit dem Kopfe, er war ja längst darauf gefaßt, daß
eines Tages Ernst gemacht werden würde. Wenn ihn etwas überraschte,
so war es nicht ihre Mitteilung, sondern das Zögern, mit dem sie sie
vorbrachte. Wohin sie wohl annehme, daß Schnaberl flöge, erkundigte er
sich.

»Ach, wohin es ihn eben ziehen wird. Fort, hinaus, ins Freie, ins
Weite! Wie oft wohl sehnte er sich danach! Aber da war immer ein
Gitter, immer ein Käfig ...«

»Wie schön würde er es haben!« sagte der kranke Knabe und lächelte mit
einem Blick in die Ferne.

Anna wußte nichts von den Kämpfen, die sich in seiner Seele abgespielt,
seit jenem Tage, wo sie ihm zum erstenmal ihren Plan eröffnet hatte,
dem Vogel die Freiheit zu schenken. Und sie ahnte auch nichts davon,
daß er gesiegt und sich zu jener Herzensreinheit durchgerungen hatte,
die nichts mehr für sich selbst begehrt. Aber es fiel ihr auf, daß
jetzt jener vergrämte Ausdruck in seinen Zügen fehlte, der an den Ernst
und die Sorgen Erwachsener erinnert hatte; eine himmlische Heiterkeit
sprach aus seinem Kinderblick, in welchem es wie von tiefinnerlicher
Verklärung leuchtete.

»In der Freiheit,« sagte er, »würde er seines Lebens erst recht froh
werden ... Sich durch die Lüfte schwingen! ... Sich in den Wipfeln der
höchsten Bäume wiegen! ... Wäre es nicht ganz etwas anderes, als auf
den Sprösseln des Käfigs hin und her zu hüpfen? ... Laß ihn fliegen!«
bat er. »Die Sehnsucht muß ihm ja das Herz abdrücken. Laß ihn fliegen!«

»Ich könnte ihn dann nicht mehr zu dir heraufbringen,« antwortete Anna
behutsam. »Du würdest ihn nie, niemals wieder singen hören.«

»Ich will gerne darauf verzichten, ihn singen zu hören,« sagte Felix.
»Laß ihn fliegen! Bitte, bitte, gute Anna, laß ihn fliegen!«

Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Anna bereute, ihm damals
von ihrer Absicht gesprochen, eine solche überhaupt je gehegt zu haben.
Ihr deuchte jetzt, der Vogel sei gar nicht einmal so unglücklich in
seinem Käfig. Längst mochte er sich mit der Gefangenschaft abgefunden
haben, war vielleicht überhaupt nicht von den Naturen, die sich nach
Freiheit sehnen ... Aber Felix gab jetzt nicht mehr nach. Er erlebte
in sich die Wonnen, mit denen das Befreitwerden aus der Gefangenschaft
ein sehnsüchtiges Herz erfüllt, er hätte dem Schnaberl schier sein
Glück neiden mögen, hätt' er es ihm nicht aus ganzer Seele vergönnt. Es
blieb mehr als fraglich, ob er an des Rotkehlchens Singen jemals wieder
Freude finden konnte, wenn der Gedanke ihn quälte, daß er die Ursache
sei, weshalb es noch immer im Käfig schmachtete.

So blieb der guten Anna schließlich nichts übrig, als dem Drängen des
armen kranken Knaben nachzugeben und ihm zu versprechen, daß sie ihr
Vorhaben genau so, wie es geplant gewesen, zur Ausführung bringen
würde. Und als sie endlich von ihm schied, um nun wirklich den Käfig
in den Stadtpark zu tragen, hielt er sich aufrecht und freudig und sah
ihr strahlenden Auges nach, solange er meinte, von ihr noch beobachtet
werden zu können. Wie sie aber die Tür hinter sich zuzog, konnte sie
mit dem letzten Blick durch den Spalt eben noch seinen ausbrechenden
Schmerz auffangen, der ihn weinend in die Kissen zurückwarf.

Immer hatte es ihr das bitterste Erdenweh geschienen, wenn sie sich
der Unmöglichkeit gegenübersah, dem einen Liebe zu erweisen, ohne dem
anderen Leid zuzufügen. Der Schnaberl war es, welcher sich diesmal in
der angenehmen Lage befand, der vom Schicksal Begünstigte zu sein ...

In derselben Stunde, in der das stille, friedliche Leben der
Schleifmühlgasse durch die leiseren Wellen und Wellchen solcher
Herzensnöte gekräuselt wurde, rollte die große Donau ihre breiten
grauen Wogen an anderen Herzensnöten vorüber, die vielleicht noch
bitterer waren und sich im Busen eines auf der steinernen Uferböschung
sitzenden Zuckerbäckers zusammendrängten. Ein ahnungsvolles Gemurmel
wie das Flüstern und Locken von Nixen und fischgeschwänzten Weibern
entstieg dem gewaltig hinziehenden Strome, der hier wohl an die
vierhundert Schritt breit war. Das Wasser rauschte, das Wasser schwoll,
von Herrn Ziervogel aber hätte niemand behaupten können, daß er sich
halb hingezogen, halb hinsinkend der kühlen Flut entgegensehne. Im
Gegenteil, es war ihm ein grauenvoller Gedanke, in dieser noch recht
herben Frühlingsluft, die die Sonne nur ganz oberflächlich mit dem
goldenen Strahlenmantel wohltuender Wärme umhüllte, auch nur die große
Zehe mit dem kalten Wasser in Berührung zu bringen, und er wäre am
liebsten auf und davon gelaufen und landeinwärts entflohen, weit fort
von dem nassen Element, hätte nicht mit strenger Miene der kleine
Drechslermeister an seiner Seite gesessen, ihn mit hundertäugiger
Wachsamkeit belauernd wie in der antiken Sage Argos die in eine Kuh
verwandelte Jo.

»Es nützt kein Zögern,« sagte Bock. »Je länger man wartet, desto
schwerer fällt's. Hier heißt es wie an der Drehbank: resolut den Stahl
ansetzen! Die Zähne zusammengebissen und die Augen zu -- in einer
halben Minute ist alles vorbei. Ich will einmal bis drei zählen, auf
drei springen wir auf und stürzen uns kopfüber in die Flut. Also
aufgepaßt! Eins ... zwei ...«

»Aushalten! Aushalten!« fiel Ziervogel ihm in den Arm. »Du stellst
dir die Sache einfacher vor, als sie ist. Nahe dem Ufer scheint der
Strom ganz seicht, man sieht es deutlich, so trüb und schmutzig das
Wasser auch ist. Hier gibt es kein Sichhineinstürzen, lieber Freund,
am allerwenigsten kopfüber, das Ergebnis wären Beulen und blaue
Flecken. Höchstens hineinwaten könnte man, im Anfang bis über die
Knöchel im Wasser, später vielleicht bis zu den Knien, aber auch dabei
bleibt das Ersaufen noch immer ein Kunststück. Und wie lange es wohl
so weitergeht? Niemand ahnt es. Vielleicht zehn Schritt, vielleicht
zwanzig, vielleicht fängt gar erst bei fünfzig die Tiefe an. Bis dahin
hat man sich zuverlässig einen Schnupfen zugezogen und wenn nicht, doch
allerhand verdammtes Unbehagen ausgestanden. Wozu? Nicht einmal bei
Schwerverbrechern gibt es eine Verschärfung der Todesstrafe. Warum soll
gerade ich mir eine Verschärfung diktieren lassen? Fällt mir gar nicht
ein! Wenn du willst, daß ich mittun soll, so mußt du dir schon was
anderes ausdenken.«

»Du stellst dich rein an,« gab Bock ärgerlich zur Antwort, »als ob
du mir einen Gefallen damit erwiesest, wenn du dich den unleidlichen
Zuständen unseres Zeitalters durch einen raschen Entschluß entziehst.
Haben wir die Tat nicht reiflich erwogen und gemeinsam beschlossen?
Zwinge ich dich dazu? Liegt es nicht in deinem eigenen Vorteil, ein
Ende zu machen? Von mir aus bleib' am Leben, frette dich weiter, werde
hundert Jahre und darüber und laß dich bis ins wacklige Greisenalter
hinein drangsalieren und mit Schikanen füttern, in diesem Lande, wo
statt Milch und Honig Tränen fließen und das Wiener Schnitzel längst
zur Legende geworden ist. Feiere, mit einem Wort, wenn es dir behagt,
noch deine goldene Hochzeit mit der notigen Bettelhaftigkeit, so wie
einst der heilige Franziskus sich mit der Armut vermählte -- ich habe
nichts dagegen, du bist dein eigener Herr. Das eine aber laß dir sagen.
Seit Jahren haben wir jeden Schritt gemeinsam unternommen, Schulter
an Schulter, in nie wankender Nibelungentreue, und mit kerndeutschem
Handschlag auch diesmal das feierliche Gelöbnis besiegelt: Es
bleibt dabei! Wenn du jetzt auskneifst, nenne ich dich nicht bloß
einen Feigling, nein, einen Treulosen nenn' ich dich, denn im
entscheidendsten Augenblicke unseres Lebens hast du die langbestandene
Gemeinschaft gekündigt, das Tischtuch zwischen uns zerschnitten und
mich schnöde im Stich gelassen! So, nun weißt du's wenigstens, wie ich
über die Sache denke, und kennst meine Meinung. Und nun geh' heim und
kehre zurück in die Knechtschaft der Entbehrungen und in die Tretmühle
des Elends, wenn es dich danach gelüstet, oder tu' sonst, was dir
gefällt, und was du nicht lassen kannst!«

Also sprach Bock. Wie Schwerter fuhren die Worte aus seinem Munde.
Ja, als Drechsler hatte er's leicht, resolut zu sein, während das
Einfüllen von Obersschaum in Indianerkrapfen oder das Komponieren
eines Tortengusses eine so sanfte und zartbesaitete Tätigkeit ist, daß
sich unter ihrem Einfluß nur die liebenswürdigeren Eigenschaften des
Gemütes ausbilden, der Heldengeist dagegen verkümmert. Überdies gehörte
Anselm schon von Natur zu den Unentwegten, die in jedem Falle nicht
nur eine bestimmte Meinung haben, sondern diese Meinung (wenigstens
vorübergehend) auch für die einzig richtige halten. Unseliger Zwiespalt
dagegen, der du Ziervogels Seele in zwei fast gleiche Teile zerlegst,
von denen niemand wissen kann, ob einer und welcher auf der Goldwage
der Entschließung schwerer oder leichter wiegt als der andere! Welcher
Wagschale ist es bestimmt zu steigen, und welcher zu sinken? Wird die
süße Gewohnheit des Daseins die Oberhand gewinnen, die den Zuckerbäcker
trotz alledem mit hundert Ketten an diese schlechteste aller Welten
schmiedet? Oder der Drang nach Freiheit die Fesseln sprengen und
ihm Schulter an Schulter mit dem Freunde die Pforte in ein besseres
Jenseits auftun?

Ach, wie klar und lichtdurchflutet lachte der zartblaue Himmel,
blankgescheuert von der langen Regenzeit, auf die frischbegrünten
Überschwemmungsgebiete nieder, durch die der mächtige Strom
rauschend seine Bahn hinzog. Wunderhold war solch ein Frühlingstag!
Freudenau hieß dieses schier urländliche Auen- und Wiesenrevier des
unteren Praters, in dem sie sich befanden, und wenn man die Lerchen
trillern hörte, die wie glimmende Funken jenseits des Flusses, über
dem »Schierlingsgrund« und den »Biberhaufen«, jenen Hutweiden und
Erlenbüschen des geschichtlichen Schlachtfeldes von Aspern, hoch in
den Lüften wirbelten, da fühlte man, man brauchte es nicht erst zu
begreifen, daß Freude der Nerv und Herzschlag dieser Stadt und dieses
Landes sei. Wie schwer fiel es doch, sich von all der trauten Schönheit
loszureißen, trotz alledem und alledem!

Aber andrerseits bedeutete die Nibelungentreue, die sie einander bis
dahin gehalten, und auf die Anselm sich ausdrücklich berief, dem
Biedersinn des süßen Joachim nicht bloß eine leere Redensart. In
einer altertümlichen Tischgesellschaft, welcher er einst angehörte,
hatte er den Kneipnamen »Armin, der Cherusker« geführt, und seine
Kundschaft, solange er in der Konditorei tätig gewesen, rekrutierte
sich großenteils aus jenen volksbewußten Kreisen, welche gegenüber
der starken slavischen Strömung im alten Österreich ihr Deutschtum
kräftig zu betonen liebten. So kam's, daß er auf negerfarbige
Schokoladetorten, mulattenbraune Kaffee- und rosenrote Biskuittorten
mit Punschgeschmack (die berühmte Ziervogelsche Spezialität)
unzähligemal die Inschrift: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!« in
weißem Zuckerguß kunstvoll verschnörkelt hingemalt hatte. Und es galt
ihm für das oberste Gebot völkischer Gesinnung, daß eines deutschen
Mannes Treue ebenso unerschütterlich und ohne Wanken fest müsse stehen
wie jene vielbesungene Wacht am Rhein.

Nein, wenn alle untreu wurden, Armin, der Cherusker, wurde es nie und
nimmer! Ihm war es Ehrenpflicht, Schulter an Schulter mit dem Kameraden
durch dick und dünn, wenn nötig sogar ins Wasser zu gehen. Nur ein
wenig Zeit zu gewinnen, versuchte er noch.

»Zähl' auf mich, Anselm,« sagte er; »ich lasse dich keinesfalls im
Stich, wie du mir's zumutest, ich sperre mich auch nicht gegen die
Tat, nur gegen die Art ihrer Ausführung. Wir müssen trachten, gleich
ins volle zu kommen, ins tiefe Wasser nämlich, von Anfang an in die
Mitte des Flusses. Darum schlage ich vor: gehn wir zur Rudolfsbrücke
hinauf, die auf hohen Pfeilern über den Strom setzt. Von ihr bin ich
bereit, einen Kopfsprung zu tun, wie ich in meinen jungen Jahren in der
Schwimmschule keinen schöneren verübte.«

Aber Bock durchschaute argwöhnisch die Absicht des Verzögerns und
Hinausfristens, er gab zu bedenken, daß die Rudolfsbrücke eine gute
Stunde entfernt und von Fuhrwerken und Fußgängern belebt sei, auch
behauptete er, an Schwindel zu leiden und jede andere Todesart einem
solchen Salto mortale aus der Höhe vorzuziehen. Damit hatte er sich
erhoben und war die Futtermauer der Böschung hinuntergeklettert. Er
stand jetzt knapp am Wasser und tauchte die Hand hinein, um zu prüfen,
wie kalt es sei, zog sie aber rasch wieder zurück und verlor nun selbst
ein wenig den Mut, weil er ebenfalls das Kalte nicht liebte und so
wenig wie Ziervogel sich nach einer Verschärfung der Todesstrafe
sehnte.

Indessen wollte er sich von dem jähen Umschlagen seiner Stimmung
nichts merken lassen und blieb bis auf weiteres in scheinbar düsterer
Versunkenheit am Rande des Wassers stehen, was bewirkte, daß dem süßen
Joachim das Herz bis zum Halse herauf zu pochen begann, denn er meinte
jeden Augenblick, der andere würde ernst machen und ein heldisches
Beispiel geben. In seiner Angst, die mit jeder Sekunde größer wurde,
und während er krampfhaft sein Gehirn anstrengte, irgend ein Lockmittel
ausfindig zu machen, womit der vermeintlich tatentschlossene Bock sich
ins Leben zurückködern ließe, kam ihm plötzlich die Erinnerung, daß
am Vorabend, als seine Tochter gerade eine Besorgung machte und er
zufällig einen Augenblick allein in der Küche stand, etwas Papierenes
durch den Briefspalt der Tür hereingesteckt worden war, und als er es
auffing, so war's ein rosenrotes Briefchen gewesen, an Anna adressiert,
und zwar von einer ihm wohlbekannten, nämlich von Ludwigs Hand. Das
hätte zu denken geben müssen, an jenem Abend aber und dem folgenden
Morgen war keine Zeit zum Denken gewesen, die »Tat« hing wie ein
Schwert über seinem Haupt. Erst in diesem Augenblicke würdigte er die
Bedeutung und den Wert seiner Entdeckung: ein Liebesbriefchen Ludwigs
an Anna! Als ob ihm eine Rettungsleine zugeworfen worden wäre, so
erlösend empfand er es, daß ein so kostbarer Umstand gerade in der
höchsten Not ihm noch rechtzeitig eingefallen war.

Und er sagte: »Ich habe mich eines besseren besonnen, lieber Bock,
und will nicht länger wählerisch sein, schließlich bin ich mit jeder
Todesart einverstanden. Darum leuchte mir nur rühmlich mit gutem
Beispiel voran, bester Freund, ich folge dir standhaft nach, und ging's
in die Hölle, darauf kannst du dich verlassen. Denn im Grunde sterbe
ich ja gern,« sagte er mit einem scheinheiligen Seufzer; »weiß ich doch
mein süßes Zuckerkindchen, meinen teuren Liebling, meinen Augapfel,
mein Herzblatt, die liebe gute Anna, glücklich und gottlob fürs Leben
versorgt.«

Die Wirkung dieser Worte war, daß Bock sofort kehrtmachte und die
Böschungsmauer wieder heraufkletterte. Der Verdacht, daß in der
Schleifmühlgasse hinter seinem Rücken etwas ihm Unerwünschtes vorgehen
mochte, weckte seinen Ärger, und leider knüpft Ärger die Menschen oft
inniger ans Leben als Liebe. Außer der Leber regte sich aber auch noch
die Neugier in ihm, denn wie alle Drechsler war er neu- und wißbegierig
und hätte es nicht über sich gebracht, sich auszulöschen, solange der
süße Joachim etwas wußte, das er selbst nicht wußte. Und schließlich
war er im Grunde auch nicht böse darüber, daß er einen Anlaß fand, auf
unauffällige Weise den Rückzug anzutreten. Denn seit dem Eintauchen
der Hand ins kalte Wasser teilte er insgeheim Ziervogels ursprüngliche
Meinung, daß in manchen Fällen ein bißchen Hinausschieben immer noch
empfehlenswerter sei als ein vorschnelles Übereilen.

Der süße Joachim hatte ein bißchen geschwindelt, als er von Annas
Glück und Versorgtsein fürs Leben faselte. Es war eine Rückkehr zur
Wahrheit, als er nun aus dem Elefanten wieder die Mücke machte und dem
stürmischen Fragen und Drängen Bocks die Beteuerung entgegensetzte,
nichts weiter zu wissen, als daß Anna ein Briefchen empfangen habe,
allerdings ein rosenrotes, und zwar von der Hand Ludwigs. Aber eine
Rückkehr zur Ehrlichkeit war es noch immer nicht, denn absichtlich
und mit Vorbedacht begleitete er seine Versicherung mit einem
zweideutigen Lächeln, das in Bocks ohnedies schon mißtrauischer Seele
die Überzeugung festigen mußte, es werde ihm etwas verheimlicht, und
der andere wisse mehr, als er eingestehen wolle. Sonach bot sich dem
Drechslermeister die schönste Gelegenheit, sich als den Gewissenhaften
aufzuspielen, der noch nicht daran denken könne, ein besseres Jenseits
aufzusuchen, weil er vorerst auf dieser Erde noch nicht entbehrlich
sei.

»Es tut mir leid,« sagte er, »daß ich nun selbst derjenige sein muß,
der eine Vertagung unsrer Tat beantragt. Aber es zieht mich jetzt
nach Hause, nach dem Rechten zu sehn, ich kann nicht zugeben, daß der
Ludwig eine Torheit begeht. An einem der nächsten Tage, sobald es
mir gelungen sein wird, ihn zur Vernunft zu bringen, wollen wir dann
um so entschlossener hierher zurückkehren und nachholen, was heute
versäumt wurde. Für diesmal aber geh' ich heim, und zwar sofort und
auf dem nächsten Wege. Denn mein Lebtag hab' ich mich an den Grundsatz
gehalten: Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.«

Daß Ziervogel über eine solche Wendung der Dinge nicht gerade
ungehalten war und den Entschlüssen des Freundes keine Hindernisse in
den Weg legte, läßt sich denken. Während des ganzen Rückwegs über die
Praterwiesen hüpfte ihm das Herz im Leibe, noch nie entzückte ihn in
solchem Maße das junge Grün auf den Bäumen, das liebliche Gedränge von
Schneeglöckchen und Veilchen im Grase, und am liebsten hätte er selbst
von Zeit zu Zeit einen Luftsprung ausgeführt wie ein Osterböcklein,
hätte er nicht gefürchtet, sich des alten Bocks Ungnade dadurch
zuzuziehen.

Als sie sich, von der Sophienbrücke kommend, der Gegend des
Hauptzollamts näherten, hörte man wüsten Lärm von der Ringstraße
her, alles war schwarz von Menschen, Geschrei und Gejohle stieg auf,
böswillig zertrümmerte Schaufenster klirrten. Aufrührerische Arbeiter,
die eine Kundgebung gegen die Teuerung veranstalteten und sinnlos
Millionen von Werten vernichteten, weil die Not ihnen noch immer nicht
groß genug war. So wenigstens meinte Bock, indem er wütend die Faust
ballte.

»Diese Falotten! Diese Tagediebe! Diese Patentrepublikaner! Löhne
beziehn sie wie die Minister, versaufen sie und wundern sich dann, wenn
das Brot teurer wird!«

Der Zuckerbäcker war im Grunde derselben Ansicht, hatte es aber mit
der Angst. Versprengte Trupps entschlossen aussehender junger Burschen
zogen tatendurstig an ihnen vorüber!

»Um Gottes willen, Anselm, schweig still! Du bringst uns noch an die
Laterne!«

Aber der Drechslermeister war nicht gewohnt, mit kandierten Meinungen
aufzuwarten. Die Leber spielte ihm wieder einmal einen Streich, die
bittere Leber.

»Diese Falotten! Diese Falotten! So ein Mob soll reif für die Freiheit
sein?«

Da hatten ein paar von den Demonstranten die erhobene Faust
wahrgenommen. Drohende Blicke und drohende Worte scheuchten die beiden
Freunde zur Seite, sogar ein paar Püffe und Rippenstöße setzte es,
die sie völlig von ihrer Richtung abdrängten. Ein wahres Glück, daß
sich schon ganz in der Nähe der Stadtpark befand. So gelang es dem
besonneneren Ziervogel, der den sinnlos wild gewordenen Drechsler
untergefaßt hatte und mit Gewalt von der Straße fortzog, ihn und sich
in die stillen und menschenleeren Anlagen zu flüchten, die wie eine
grüne Schonung abseits von dem Lärm unter der milden Frühlingssonne
träumten. Hier durften sie sich als gerettet betrachten, während
außerhalb das Getriebe des Verkehrs und der Leidenschaften weitertobte.

Als sie nun, der eine erlöst aufatmend, der andere beharrlich weiter
grollend, die breiten Kieswege zwischen frischbegrünten Sträuchern und
frühblütigen Blumenbeeten entlang schritten, stutzten sie plötzlich,
beide zu gleicher Zeit, und blieben stehen, sahen sich an und staunten.
Sie schüttelten den Kopf, wollten ihren Augen nicht trauen, mußten sich
aber schließlich doch überzeugen, daß das junge Mädchen, welches ihnen
soeben über den Weg gelaufen war und nun die gepflegte Rasenfläche
durchquerte, um plötzlich im Gebüsch zu verschwinden, niemand anders
war als Ziervogels Herzblatt Anna. Jawohl, das »süße Zuckerkindchen«
war es, wie er sie in zärtlichen Wallungen seiner Konditorseele nannte,
es blieb kein Zweifel übrig, daß sie es wirklich war. Denn gerade in
diesem Augenblicke brach sie wieder aus dem Gebüsche vor, erblickte und
erkannte das unerwartete Väterpaar und eilte jetzt schnurstracks ihnen
entgegen.

Mit fliegendem Atem begann sie zu erzählen, und es war höchste Zeit,
daß sie es tat, bereits schwankten die beiden Alten, wen sie wohl für
verrückt halten sollten, ob sich selbst, oder das Mädchen. Nun fand
Annas auffallendes Tun seine Erklärung. Das Rotkehlchen hatte sie
ausgelassen, den Schnaberl! Hatte ihm wollen die Freiheit schenken und
gemeint, er würde sich jubilierend in die Lüfte schwingen und wie ein
Pfeil davonsausen. Statt dessen flatterte das armselige Vögelchen
ängstlich am Boden hin, hatte das Fliegen offenbar verlernt, oder es
nie gekonnt, und wußte von der köstlichen Gabe der Freiheit keinen
Gebrauch zu machen. Jämmerlich piepste es voll Sehnsucht nach seinem
Käfig, war aber doch wieder zu geschreckt und unvernünftig, um sich
haschen zu lassen, und huschte aufkreischend und flügelschlagend davon,
wenn man die Hand nach ihm ausstreckte. Ein kläglicher Anblick und
eine gefährliche Sache! Denn schon hatte eine pürschende Katze sich
gezeigt, die lauernd das Einfassungsgitter entlangschlich. Solle der
gute Schnaberl nicht das Opfer eines Abenteuers werden, so mußte man
ihn möglichst rasch wieder einfangen, der Käfig war ihm unentbehrlich,
er gewährte ihm Schutz gegen seine eigene Dummheit und Unfähigkeit.

»Helft mir um Gottes willen seiner habhaft werden!« bat Anna. »Wenn wir
ihn geschickt treiben, daß er das offenstehende Türchen nur überhaupt
findet, so kehrt er mit Wonne von selbst in die gesicherte Hut zurück
und dankt seinem Herrgott, daß er unbehelligt wieder auf den Sprösseln
hin- und herhüpfen darf und sein Futter im Nürscherl hat.«

Hilfsbereit stellten die beiden alten Herren sich zur Verfügung. Man
entwarf einen Kriegsplan, postierte das Vogelbauer mit weitgeöffnetem
Türchen einladend in die Mitte dichteren Buschwerks und versuchte
nun den Schnaberl vorsichtig zu umzingeln und einzukreisen. Aber
er mißverstand die wohlwollende Absicht, glaubte sich verfolgt und
bedroht und flatterte in Todesangst vor den gutmeinenden Gönnern her,
immer wieder ein Loch im Dreieck erspähend, durch das er entwischen
konnte. Lange blieb das Kesseltreiben erfolglos, und so wenig der
blinde Eifer der Verbündeten die Rasenflächen, die Fliederbosketts
und selbst die Tulpen- und Hyazinthenbeete schonte, es schien doch
eine Zeitlang alle Strategie zu versagen. Bis endlich durch einen
Zufall der gehetzte Schnaberl, von einem vorüberlaufenden Kinde
gerade in jenes Gebüsch gescheucht, wo der Käfig seiner wartete,
diesen erblickte, Heimatserinnerungen in sich erwachen fühlte und,
plötzlich wieder Vernunft annehmend, gemächlich hineinspazierte, um
sich am Futternäpfchen für die ausgestandene Mühsal zu entschädigen.
Dies gewahren, herzustürzen, das Türchen schließen und das Bauer mit
Siegesfreude vom Boden heben und in ausgestreckter Hand hochhalten, war
für Ziervogel das Werk eines Augenblicks.

Fast gleichzeitig indessen erbebte er bis ins innerste Mark, wie aus
dem Boden getaucht stand eine drohende Gestalt vor ihm, ein Schutzmann,
der ihm und dem erschrocken herbeigeeilten Bock bekanntgab, daß sie
wegen freventlicher Beschädigung der öffentlichen Anlagen strafbar
seien und zur Verantwortung gezogen werden müßten. Er holte einen
Schreibblock aus der Tasche hervor und erforschte, die Personaldaten
aufnehmend, Herz und Nieren der Übeltäter: »Wie heißen Sie? -- Und Sie?
-- Alter? Beruf? Wohnung? Ziervogel und Bock -- eine saubere Firma!
Anlagenzertrampler, G. m. b. H.! Schön! Na, warten Sie, Ihnen vertreib'
ich das Verwüsten von Rasen und Blumenbeeten! Den heutigen Tag werden
Sie sich merken, Sie sollen mir nicht ohne eine gesalzene Strafe
davonkommen!«

Aufs tiefste gedemütigt und zerknirscht, erteilten die armen Sünder
im Bewußtsein ihrer Schuld der Mensch gewordenen Gerechtigkeit
bereitwillig die gewünschten Auskünfte, während das Bauer mit dem
wieder fröhlich umherhüpfenden Schnaberl zwischen ihnen auf dem Kiesweg
stand. Nach beendigtem Verhör sich umsehend, wo die Anna inzwischen
geblieben sei, mußten sie feststellen, daß diese es vorgezogen
hatte, unauffällig zu verschwinden, was man ihr eigentlich nicht
übelnehmen konnte, da es gelungen und der Erfolg auf ihrer Seite
war. In einigermaßen gedrückter Stimmung traten sie den Heimweg an,
wobei die saure Arbeit, das Vogelbauer zu tragen, ausschließlich dem
süßen Joachim zufiel. Denn Bock betrachtete den Schnaberl als interne
Ziervogelsche Familienangelegenheit und ärgerte sich im stillen
gelb und grün, daß er wegen des verflogenen Rotkehlchens zu einer
empfindlichen Strafe verknurrt zu werden die schönste Aussicht habe,
und zwar infolge süßlicher Auffassung der Pflichten gegen Singvögel
seitens der Zuckerbäckerstochter, der er ohnedies schon grollte und den
Kopf zurechtzusetzen sich geschworen hatte, falls sie seinem Ludwig
diesen Körperteil mit der sogenannten Liebe wirklich sollte verdreht
haben.

Bockig, wie er bei solchen Gelegenheiten war, höhnte er, im
Schleifmühlgassen-Hause angelangt, während sie die Treppe
hinaufstiegen, ingrimmig schnödetuend zwischen den Zähnen: »Da wären
wir ja alle drei wieder reumütig in unsern Käfig zurückgekehrt!« Und
damit wollte er sich ungesäumt in seine muffige Höhle verkriechen,
fand aber die Tür verschlossen, so daß ihm nichts übrig blieb, als
Ziervogels Einladung anzunehmen und vorläufig bei diesem einzutreten.
Kaum aber hatte er die Schwelle überschritten, so stutzte er und
staunte, und der süße Joachim nicht minder. Das Wohnzimmer war mit
Reisig festlich geschmückt (Ludwig hatte ein übriges getan), ein
feingedeckter Tisch, mit Flaschen und leckeren Speisen besetzt, die
ein Blumenstrauß überschattete, schien nur der fröhlichen Gäste zu
harren. Inmitten der Stube aber standen Arm in Arm Ludwig und Anna in
Feiertagskleidern und begrüßten die in der Türöffnung erscheinenden
Heimkehrer mit einer ebenso anmutigen wie tadellosen Verbeugung, sich
als Verlobte empfehlend und in kindlicher Ehrerbietung den väterlichen
Segen erbittend.

Der Ziervogelvater stellte den Schnaberl auf den Schubladkasten und
bekam so die Hände frei, seine Tochter zu umarmen, nachdem er sich
vorher noch umständlich geschneuzt hatte. Der alte Bock dagegen legte
(bildlich gesprochen) die Hörner ein und versuchte den (nach seiner
Meinung übergeschnappten) Sohn mit der Frage vor den Kopf zu stoßen,
was dieser ganze Blödsinn eigentlich zu bedeuten habe? Worauf Ludwig
den etwas derben, aber nicht ganz unerwarteten Ausfall überzeugt
lächelnd mit dem Hervorziehen zweier Schriftstücke aus der Brusttasche
parierte: das eine bescheinigte die erfolgreich abgelegte Bankprüfung,
während das andere als der Bescheid eines namhaften und weitbekannten
Fabrikunternehmens sich entpuppte, welches den Hauptmann Ludwig Bock
unter seine Mitarbeiter aufzunehmen sich bereit erklärte und ihm dafür
eine recht stattliche Entlohnung in Aussicht stellte.

Während der alte Bock noch sprachlos staunte, nahm der junge mit
heiterer Bescheidenheit das Wort und sagte: »Du mußt dir aber,
lieber Vater, in deinem berechtigten Stolz auf deinen Einzigen
nicht etwa einbilden, daß ich dieses seltene Glück, so rasch einen
aussichtsreichen Wirkungskreis gefunden zu haben, meinen besonderen
Verdiensten verdanke (von denen mir leider nichts bekannt ist). Ich
verdanke es lediglich der treuen Freundschaft des Vorstands und Leiters
jenes Industrieunternehmens, eines ehemaligen Kameraden, mit dem ich
sechs lange Jahre hindurch in Sibirien Freud und Leid geteilt habe,
vorwiegend natürlich das letztere neben vielem Elend und Ungemach.
Bin ich berechtigt, seine Freundschaft zurückzustoßen, wenn er nun
auch seine Hoffnungen, seine aufbauende Arbeit und so Gott will, seine
Erfolge mit mir zu teilen bereit ist? Ich habe eingeschlagen in die
dargebotene Hand und gedenke meinen Mann zu stehen. Aber noch besser
als einsam, wird mir dies an der Seite eines wackeren Weibes gelingen.
Die Zeiten sind hart, manchmal sehen sie schier trostlos aus, so daß
die Begründung einer Familie fast als ein kühnes Wagnis erscheinen
könnte. Wir aber sind jung und wären es nicht, wären wir nicht voll
des Glaubens und der Hoffnung. Mit Leichtsinn sollt ihr aber deshalb,
liebe Väter, unser Vorhaben nicht verwechseln! Das Gehalt, das mir in
Aussicht gestellt ist, sichert uns bis auf weiteres vor Not, es wird
bei der Sparsamkeit, an die Anna gewöhnt ist, auch noch dazu reichen,
euer Alter freundlicher zu gestalten, als es in den letzten Jahren
gewesen ist. Und daß das Erträgnis meiner Arbeit sich auch in Zukunft
nicht vermindere, sondern mit der voraussichtlich noch anwachsenden
Teuerung Schritt halte, dafür laßt mich nur sorgen. So bitten wir euch
denn, verehrte Väter, alle ängstlichen Bedenken, die ihr etwa gegen
unsere Verbindung hegen solltet, entschlossen über Bord zu werfen und
unsere getreue Absicht, den Stamm der Ziervögel und der Böcke in einer
neuen Generation zur Einheit zu verschmelzen, nicht aus Zaghaftigkeit
und Mangel an Zuversicht zu durchkreuzen.«

Nach dieser männlichen Rede, die den Zuckerbäcker in süße Zähren
auflöste, während sie den Drechsler wenigstens mundtot machte, begab
man sich zu Tische. Bei den belegten Brötchen blieb der bockende Anselm
noch einsilbig und in sich gekehrt, als der Duft des Bohnenkaffees
ihm aber in die Nase stieg und Anna durch Zusatz von etwas Sahne ihm
den seit Jahren entbehrten »Kapuziner« mischte, da hob er drohend
den Finger und schmunzelte dazu: »Mir scheint, ihr wollt uns darüber
hinwegtäuschen, ihr Verschwender, daß diese Erde zur Hölle geworden
ist?«

»Wäre sie's denn wirklich?« sagte Anna, seine Hand ergreifend und sie
warm drückend. »Vielleicht ist sie nur ein Fegefeuer, in welchem wir
uns, wenn wir uns tapfer bewähren, mit der Zeit noch einmal den Himmel
verdienen können?«

Sie sah so anmutig dabei aus, daß sogar der alte Griesgram ein halb
bewunderndes, halb ungläubiges Lächeln nicht unterdrücken konnte und
kopfschüttelnd sagte: »Weiß Gott, fast scheint mir, die Menschheit ist
tatsächlich nicht unterzukriegen!«

Von da ab taute er mehr und mehr auf, und als er erst ein Gläschen Wein
getrunken hatte, wurde er sogar heiter, und beim zweiten brachte er auf
einmal, sich selbst überraschend, das Wohl des Brautpaares aus.

Er freue sich, sagte er hieran anknüpfend, daß die Feindschaft, die
doch lange zwischen Ludwig und Anna bestanden habe, so unerwartet
begraben worden, doch nehme es ihn wunder, wie es bei der Überbrückung
solch unvereinbarer Gegensätze wohl zugegangen sein möge? Worauf
Ludwig, fast ein wenig ernst geworden, erwiderte, vielleicht sei die
alte Feindschaft bloß in Vergessenheit geraten, daß sie regelrecht
begraben wäre, davon wisse er eigentlich nichts; vielmehr hätte er im
Schnee Sibiriens sich mehr als einmal schmerzlich daran erinnert, daß
ihm für den Schupps, mit dem ein kleines Mädel ihn einst in den Schnee
geschmissen, niemals eine richtige Genugtuung zuteil geworden.

»Ich bin in diesem Punkte glücklicher daran als du,« wendete Anna, nun
ebenfalls plötzlich ernst geworden, sich an ihn; »denn für mich besteht
die Möglichkeit, meine Schuld zu sühnen, indem ich Abbitte leiste, was
ich hiermit denn auch feierlichst verrichte. Du selbst, lieber Ludwig,
befindest dich in weit schlimmerer Lage, denn du könntest die begangene
Rechtsverletzung nur gut machen, indem du mir mein Lieblingskugerl, das
du damals gegen alle Spielregel raubtest, wieder zurückstellst. Dies
bleibt natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn mit einem Ersatz ist
mir nicht gedient, es müßte genau dasselbe marmorne Kügelchen sein,
weil sich nur an dieses die Erinnerungen knüpfen, die mir teuer sind.
Sonach würdest du ewig in meiner Schuld verharren, wäre ich nicht
entschlossen, dein Unrecht nachzusehen und dir die Gewissenslast von
der Seele zu nehmen. Erkenne, daß ich dir eine milde Herrin bin,«
schloß sie großartig und huldreich: »ich schenke dir das einst geraubte
und für immer verschollene Marmorkugerl!«

»Tausend Dank!« rief Ludwig, ihre Hand küssend, griff in die
Westentasche und legte eine kleine Kugel aus rotem Untersberger Marmor
vor sie auf das Tischtuch.

»In allen Fährlichkeiten des Krieges und der Gefangenschaft war dies
teure Andenken aus Kindertagen mein Talisman. Daß ich es nun entsühnt
als mein rechtmäßiges Eigentum betrachten und behalten darf, das stärkt
in mir die Hoffnung, daß der Stern, der mich unversehrt durch eine
Hölle von Gefahren geleitet hat, mir nun auch durchs Fegefeuer und in
den Himmel hinein glückbringend voranleuchten werde.«

Damit steckte er die kleine Kugel wieder ein. Den glückbringenden Stern
hatte er aber in Ton und Blick so beziehungsreich unterstrichen, daß
niemand im Zweifel bleiben konnte, wer eigentlich damit gemeint sei, am
wenigsten natürlich Anna selbst. Darum ergriff sie nun dankbar seine
Hand und tat mit ihr dasselbe, was er vorhin mit der ihrigen getan.

Inmitten solch innig gemütlicher Stimmungen, die Ziervogel
empfindungsvoll mitmachte, hatte der alte Bock, dessen Leber sich jetzt
durch Durst hervortat, dem ungewohnten Wein emsig zugesprochen, und als
Schnaberl auf einmal an sein Vorhandensein zu erinnern das Bedürfnis
fühlte und in die Festfreude hinein seine kleine, behutsame, etwas
schwermütige Rotkehlchenkantilene vernehmen ließ, fing er plötzlich
ganz erbost Händel mit ihm an und befahl ihm still zu sein und nicht
zu mucken, er hätte hier nichts mitzureden und könne froh sein, wieder
gesichert in seinem Käfig zu sitzen.

»Was meinst du, Ziervogel,« sagte er; »sind wir nicht berechtigt, ein
lustiges Lied von ihm zu fordern? Ist er nicht freiwillig und mit
wahrem Vergnügen in seinen Käfig zurückgekehrt?«

»Genau so wie ich,« antwortete Ziervogel mit einer nur dem Freunde
verständlichen Anspielung und fing, da er gleichfalls den Wein nicht
geschont hatte, etwas unvermittelt zu lachen an. »Ich gesteh' es ganz
offen, hi, hi, hi, ich bin nicht reif für die Freiheit!«

»Nein, das ist richtig, du bist nicht reif für die Freiheit!«
bestätigte Bock, dem es Spaß machte, dem jungen Paar Rätsel aufzugeben.
»Aber wenn ich ganz aufrichtig sein soll, und um die Wahrheit zu
gestehn« -- er legte die Hand an den Mund, beugte sich vor und
flüsterte ihm ins Ohr: »~Ich auch nicht!~« Und ebenfalls in
unbändiges Lachen ausbrechend, konjugierte er: »Ich bin nicht reif, und
du bist nicht reif, und der Schnaberl ist nicht reif für die Freiheit!
Ha, ha, ha ...!«

»Nein, der Schnaberl, hi, hi, hi, der ist erst recht nicht reif für die
Freiheit!« gröhlte Ziervogel.

»Wir sind alle nicht reif für die Freiheit!« schrie Bock, vor Lachen
fast platzend. Und angesäuselt, wie er war, hob er das Glas: »Im Grunde
ist das Leben doch ein recht fideler Käfig! Es lebe hoch, hoch, hoch!«

Der süße Joachim setzte seine Baßstimme ein, und die beiden Alten
begannen zu singen: »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen
glüht ...«

Während die Wogen der Feststimmung so fröhlich schäumten und brandeten,
war der guten Anna, durch den Schnaberl daran erinnert, plötzlich der
Felix eingefallen, jener bedauernswerte kleine Junge, der oben im
Dachgeschoß krank lag. Wie würde der sich freuen, wenn er erfuhr, daß
das Rotkehlchen wieder da war und auch in Zukunft freiwillig dableiben
würde.

In einem unbewachten Augenblicke stahl sie sich fort und eilte, den
Schnaberlkäfig im Arm, die Treppe hinauf, pochte an die Tür und trat,
als sich nichts rührte, behutsam ein. Still und unbewegt lag der kranke
Knabe in seinem schmalen Bett, auf den Fußspitzen näherte sie sich und
stellte, wie sie es sonst getan, das Bauer leise auf die Bettdecke. Es
fiel ihr auf, daß er keine Freude äußerte, überhaupt kein Lebenszeichen
von sich gab -- schlummerte er schon? Mit pochendem Herzen beugte sie
sich über ihn, ergriff seine Hand, ließ sie aber erschrocken wieder
los, denn es war die kalte, starre Hand eines Toten.

Da hob sie den Käfig mit dem Vogel vorsichtig wieder von der Bettdecke,
stellte ihn auf den Fußboden und stand mit gefalteten Händen an der
Seite des Bettes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erinnerte
sich, wie verständnisvoll und innerlich miterlebend der arme Junge
sie in ihrem Vorhaben bestärkt hatte, dem Schnaberl die Freiheit zu
schenken. Wie aus jedem seiner Worte seine eigene unbegrenzte Sehnsucht
sich offenbarte: Hinaus! Ins Freie! Ins Weite und Unbegrenzte! ...

Und dazwischen hörte sie die Mutter des Knaben in ihrem vergrämten
und verbitterten Tone sagen: »Felix heißt er, jawohl, Felix. Denn das
bedeutet: der Glückliche ...«




                              Die Sphinx


Es war noch in der Zeit vor dem Weltkrieg, daß ich hier und da einmal,
wenn mein Weg mich durch die städtischen Anlagen führte, einem
hageren alten Herrn begegnete, der sich, auf seinen Stock gestützt,
mühsam vorwärtsbewegte. Infolge seiner Jahre oder durch irgend eine
Nervenkrankheit gelähmt, konnte er beim Gehen die Füße nicht mehr
heben, und es sah bejammernswert aus, wie er sie Schritt vor Schritt
mit scharrendem Geräusch über den Kies der Parkwege hinschleifte
und sich abplagte, vom Fleck zu kommen. Irgend jemand nannte mir
gelegentlich seinen Namen, ich hatte ihn aber bald wieder vergessen.
Er war General des Ruhestandes, und es gab eine ziemliche Anzahl
pensionierter Generale in der mittelgroßen Provinzstadt, in der ich
mich damals vorübergehend aufhielt: die liebliche Umgebung, die
ausgedehnten Gärten und öffentlichen Anlagen, die sie auszeichnen,
und die im Vergleich zur Hauptstadt einfacheren und wohlfeileren
Lebensbedingungen, die sie zu jener Zeit noch gewährte, machten sie zu
einem gesuchten Wohnort für Ruhebedürftige mit beschränktem Einkommen.

Sooft mein Weg sich mit dem des gebrechlichen alten Herrn kreuzte,
befand er sich in Gesellschaft einer zwar nicht mehr ganz jungen,
aber doch nicht eigentlich frauenhaft aussehenden Erscheinung, die
ich für seine Tochter hielt; eine Vermutung, die sich später als
zutreffend erwiesen hat. Es war ein schlankes, blasses Mädchen von
guter, fast möchte ich sagen: vornehmer Haltung, das einst sehr hübsch,
vielleicht sogar auffallend schön gewesen sein mochte, jedoch die
Blüte überschritten hatte. Jeder Kenner der Frauenschönheit weiß,
daß es eine verräterische Schärfe der Linie gibt, die manchmal ganz
unvermittelt und viel zu früh die jugendliche Rundung und Weichheit
ablöst und gerade tadellosen Zügen verhängnisvoll werden kann, indem
sie an Verfall und Zerstörung edler Bauwerke denken läßt. Kleine,
im einzelnen kaum nachweisbare, in ihrer Gesamtheit aber doch
entscheidende Veränderungen werden dann leicht zur Ursache jenes
fatalen Abstandes, wie er zwischen den späteren, härter wirkenden
Abzügen eines Porträtstiches und seinen frühen, noch unverstählten
Remarquedrucken besteht. Hier fanden sie sich mit einem Anflug zarter
Fältchen und bleichender Härchen an den Schläfen in dem melancholischen
Ziele vereint, etwas wie Spätsommerstimmung über dies reine Antlitz
zu hauchen, aus dem dennoch der gleichsam frühlinghafte Reiz der
Jungfräulichkeit noch nicht geschwunden war, ohne daß sich eigentlich
sagen ließ, weshalb es nicht ebensogut das Antlitz einer verheirateten
Frau hätte sein können.

Im übrigen hätte ich, vielbeschäftigt, wie ich war, das an sich nicht
eben auffallende Paar wohl kaum besonders beachtet, hätte nicht,
je öfter ich ihm begegnete, das Verhalten von Vater und Tochter
gegeneinander mehr und mehr meine Aufmerksamkeit erregt. Denn niemals
sah ich die beiden ein Wort miteinander wechseln; wie Fremde, um
nicht zu sagen wie Feinde, die an die gleiche Galeere geschmiedet
sind, schienen sie ihre gegenseitige Nähe eher zu erdulden als sich
ihrer zu erfreuen, jedenfalls zogen sie keinen Vorteil daraus, keine
Anregung, keine Erleichterung. Es mußte befremden, daß das stille,
verblühte, aber noch immer schöne Mädchen sich keineswegs, wie man
hätte erwarten sollen, an der Seite ihres Vaters hielt, sondern dem
mühselig an seinem Stock hinschlürfenden Greise, der sich nur langsam
weiterbewegte, in der Regel ein paar Schritte voraus war. Geradeso,
als gehörte sie gar nicht zu ihm, ging sie oder schlich vielmehr,
zögernd Schritt vor Schritt setzend, wie eine Nachtwandlerin vor ihm
her, zumeist mit zu Boden gesenktem Blick, gleichsam wie beschämt oder
benommen von Trübsal. Nur ab und zu einmal blieb sie stehen, sich
nach ihm zurückzuwenden. Mit unbewegtem Gesicht, auf dem etwas wie
ein Ausdruck von erstarrter Trauer stand, sah sie ihm zu, wie er mit
seinen kurzen, zittrigen Schrittchen sich vorwärtsschob. Äußerlich
zwar beherrscht, insgeheim aber, wie ich mir einbildete, mit zehrender
Reizbarkeit schien sie ungeduldig darauf zu warten, daß er endlich
vom Fleck käme. Und wenn er sie mit der Zeit dann wirklich eingeholt
hatte, machte sie in jäher Bewegung kehrt und wendete sich wieder zum
Gehen. Ohne ein Wort zu reden, setzte sie ihren Weg fort, sie schien
sich um den gelähmten alten Herrn jetzt ebensowenig mehr zu kümmern
wie vorhin, abermals sah es aus, als gehe er sie überhaupt nichts an,
als gehörten sie gar nicht zueinander. So wiederholte sich immer auf
dieselbe Weise der gleiche Vorgang des Erwartens und Sichentfernens,
stumm, in völliger Schweigsamkeit, ohne daß die beiden einen Laut
miteinander gesprochen, ein Lächeln oder auch nur einen freundlichen
Blick miteinander getauscht hätten.

Dieses ungewöhnliche Benehmen eines weiblichen Wesens, das einen
Kranken begleitete, machte im Anfang, ich kann es nicht leugnen, auf
mich den Eindruck der Härte und Lieblosigkeit. Nach meinem Gefühl hätte
eine gute Tochter den gebrechlichen und hilflosen Vater führen und
stützen, oder wenigstens an seiner Seite bleiben müssen, seiner Wünsche
gewärtig, zu jeder Handreichung bereit. Es wäre ihre Pflicht gewesen,
meinte ich, ihn zu betreuen, durch Zuspruch zu stärken, mit ihm zu
plaudern, ihn über seinen Zustand hinwegzutäuschen. Oh, wir wissen ja
immer so genau, was andere hätten tun sollen, und nehmen uns heraus,
wo uns die Kenntnis der näheren Umstände mangelt, ein fertiges Urteil
nach der Schablone aus allgemeinen Annahmen zurechtzubosseln. Bei mir
wenigstens stand die einmal gewonnene Ansicht damals so fest, daß ich
die alte Mahnung, wonach es ratsam sei, jedes Ding von zwei Seiten zu
betrachten, gänzlich außer acht ließ und eine Regung überwallender
Teilnahme mit dem alten General in mir aufstieg, sooft ich ihn sah, ja
ein mit Entrüstung gemischtes Mitleid, weil ihn das Schicksal mit einer
liebeleeren und herzenskalten Tochter gestraft hätte.

Erst ein Gespräch, das unter Bekannten geführt wurde, machte mich
stutzig. Es war von der Selbstsucht des Alters die Rede, und ein
angesehener Arzt, den man als warmherzigen Menschenfreund kannte,
erinnerte daran, wie es gelegentlich vorkomme, daß Eltern von der
Jugend die widerspruchslose Hingabe des persönlichen Daseins, die
völlige Aufopferung des eignen Lebensglückes als selbstverständliche
Kindespflicht forderten. Ohne einen Namen zu nennen, spielte
er so deutlich auf bestimmte Verhältnisse an, daß ich das Paar
wiederzuerkennen glaubte, das mir aus den städtischen Anlagen bekannt
war, und zum Widerspruch gereizt die Seite der Gegenpartei ergriff,
indem ich die Ansprüche geltend machte, die ein alter, kränklicher
Vater an die in seinem Haushalt lebende rüstige Tochter zu stellen
meines Erachtens immerhin das Recht hätte. Worauf jener erwiderte,
als sein Eigentum, seine Sache dürfe niemand, wer es auch sei, und
unter keinen Umständen einen Nebenmenschen betrachten. In dem Fall,
den er im Auge habe, stünde es aber womöglich noch schlimmer. Denn der
hämische Greis, von dem er rede, habe seiner Tochter, um sie für sich
allein zu behalten, nicht nur jede Verbindung hintertrieben und durch
Ränke unmöglich gemacht, sondern mißbrauche die Abhängigkeit von ihm,
in der er sie heimtückisch zu erhalten gewußt, noch außerdem dazu,
die wohlfeile Krankenpflegerin, die er sich in ihr herangebildet, in
einer Weise auszunützen und mit boshaften Launen zu quälen, daß keine
bezahlte Krankenschwester unter ähnlichen Plackereien auch nur einen
Tag bei ihm ausharren würde.

Es war noch immer kein Name genannt, und das Gespräch wurde, nachdem
ich so viel erfahren hatte, unterbrochen oder nahm eine andere Wendung.
Da mir aber kein Zweifel blieb, von wem eigentlich die Rede gewesen,
so sah ich mich natürlich genötigt, mein vorschnelles Urteil über das
unglückliche schöne Mädchen zu überprüfen. Ich sagte mir, daß ihre
vom Üblichen abweichende Art durch Umstände geboten sein könne, der
alte Herr mochte die Marotte haben, seinen Spaziergang wenigstens
zum Schein ohne Begleitung machen zu wollen, oder der Arzt hatte ihm
während der Bewegung im Freien das Sprechen untersagt. Ich mußte mir
auch eingestehen, daß es eine fast übermenschliche Forderung sei, von
einem gesunden, hoffnungsvollen, lebensdurstigen, aber an der Seite
eines zittrigen und noch dazu übellaunigen Greises mehr und mehr
hinwelkenden Geschöpf ein stetes Gleichgewicht des Gemüts bei jahrelang
andauernden Krankendiensten zu verlangen, und ich konnte nicht umhin,
unter solchen Umständen ein allmähliches Versinken in Trostlosigkeit,
ja ein gelegentliches Hervorbrechen vergeblich unterdrückter Regungen
von Ungeduld bis zu einem gewissen Grade begreiflich zu finden.
Und als ich bei einer nächsten Begegnung von meinem neu gewonnenen
Standpunkt aus schärfere Beobachtungen anstellte, geriet meine
ursprüngliche Anschauung doch einigermaßen ins Wanken. Das eigentümlich
phosphoreszierende Auge, der bösartige, fast möchte ich sagen:
gifthauchende Blick des alten Herrn fielen mir erst jetzt unliebsam
auf, es war ihm sicher alle Hinterhältigkeit, alle ohnmächtige
Geifersucht der Schwäche und Hinfälligkeit zuzutrauen. Kurz, ich
fühlte mich mehr und mehr geneigt, meine mitleidige Teilnahme eher
dem anderen Teile zuzuwenden, über den ich bis dahin abgesprochen
hatte, und befand mich auf dem besten Wege, meine vorgefaßte Meinung
richtigzustellen, als Umstände eintraten, infolge deren das in jedem
Falle beklagenswerte Paar nicht nur meinem Auge, sondern auch meinen
Gedanken so vollständig entschwand, als hätte es niemals existiert.

Der Ausbruch des unseligen Völkerkampfes entfernte mich jäh aus jener
stillen Stadt, die gegenwärtigen Forderungen, die Tag und Stunde
an jeden einzelnen stellte, verdrängten mit gebieterischer Gewalt
die Bilder der friedlichen Vergangenheit. Wenn die Verantwortungen
sich häufen, so füllt sich das Bewußtsein mit einem neuen und so
dicht gedrängten Inhalt, daß für nichts anderes mehr Raum bleibt.
Und je atemloser die mannigfaltigsten Ereignisse einander jagen, um
so ungestümer reißen sie auch die Zeit mit sich fort, daß sie einem
wie im Fluge entgleitet. So läßt ein unendlich vermehrtes Erleben
die Jahre merkwürdigerweise nicht länger, sondern kürzer erscheinen,
und ich mußte die verflossenen immer wieder nachzählen, um daran zu
glauben, daß ich um so viel älter geworden war, als in dem frühen
Frühling, der dem entsetzlichen Niederbruch des Vaterlands folgte, ein
bedeutungsloser Umstand, dem ich dennoch Folge zu geben nicht umhin
konnte, mich für wenige Wochen in dieselbe Stadt der stillen Gärten und
ruhebedürftigen Menschen zurückführte, die ich zu Beginn des Krieges
mit völkischer Entschlossenheit und voll hoffnungsvoller Begeisterung
verlassen hatte.

Einen ganz merkwürdigen Eindruck machte es nun auf mich, als ich,
zufällig wieder die jetzt von Flieder- und Jasmingerüchen erfüllten
Parkanlagen durchquerend, dasselbe Paar, dem ich damals wiederholt
begegnet, das mir aber, wie erwähnt, inzwischen völlig aus dem
Gedächtnis entschwunden war, neuerdings vor mir auftauchen sah. Die
Zeit schien spurlos an ihm vorübergegangen zu sein; es war, als seien
die langen Jahre der Greuel aus der Weltgeschichte ausgestrichen, als
hielten wir noch auf demselben Punkte, wo wir vor dem Spätsommer 1914
uns befunden hatten. Ebenso wie damals schleppte der alte General
sich mühselig über die knirschenden Kieswege hin, ebenso wie damals
ging die Tochter vor ihm her, blieb stehen und wendete sich nach ihm
zurück, ihn zu erwarten. Und geradeso wie einst wechselten sie dabei
kein Wort miteinander, zogen sie wie unter dem Zwang einer lästigen
Pflicht ihre Bahn dahin, stumm und verdrossen wie blinde Pferde am
Göpel. Nur viel gebrechlicher noch war, wie ich bei näherem Zusehen
bemerken konnte, der bedauernswerte alte Herr inzwischen geworden.
Es genügte ihm jetzt nicht mehr der Stock, auf den er sich sonst
gestützt hatte, zwei Krücken, in denen er mit den Achseln hing, dienten
ihm zum Halt. Er setzte sie mit den Kautschukzwingen vor sich in
den Sand, neigte den Oberkörper vor und schwang die gänzlich leblos
gewordenen Beine, die zurückgeblieben waren, wie ein Pendel hinter sich
drein. Von Zeit zu Zeit machte er halt, um von dieser offenbar recht
anstrengenden Turnübung auszurasten. Dann stand auch die Tochter still
und beschäftigte sich damit, in einigem Abstand von ihm den Zweig eines
Strauches herabzubeugen, um den Duft der Blüten einzuatmen, oder neigte
sich nieder, ein Blümchen zu pflücken, einen Grashalm abzubrechen, aus
dem sie dann zum Zeitvertreib einen Knoten zu flechten, eine Schleife
zu schürzen sich bemühte.

Etwas wie Empörung gegen das Schicksal, gegen die Weltordnung fing bei
diesem Anblick sich in mir zu regen an. Hunderte von lebensfrischen und
gesunden jungen Leuten hatte ich eines allzufrühen Todes sterben sehen,
die Zahl der anderen, von deren entsetzlichem Ende ich nicht selbst
Zeuge gewesen, meldete die Statistik, und sie ging in die Millionen.
Hier aber schleppte ein lebender Leichnam, gemieden vom Tode, vergessen
von der Parze, die so vielen Brauchbaren und Tüchtigen den Lebensfaden
abgerissen hatte, hartnäckig sein wertloses Dasein weiter, sich selbst
und anderen zur Qual. Es war mir in diesem Augenblicke, als stünde
dieser unnütze alte Mann im Bunde mit den unheilvollen Mächten der
Finsternis, die am Volkskörper zehrten, als hätte er sich mit ihnen
verbündet, das Feld nicht zu räumen und sich unter keinen Umständen
abberufen zu lassen, nur um die allgemeine Not noch zu steigern und
die Schwierigkeiten der Ernährung durch einen überflüssigen Brotesser
mehr noch schwieriger zu gestalten. Und als mich im Vorübergehen
einer jener stechenden und giftigen Blicke aus dem Auge des Generals
berührte, vor denen es mir schon damals gegraut hatte, da fühlte ich
mich unwillkürlich geneigt, es als eine Art Bosheit von ihm auszulegen,
daß er noch immer unter den Lebenden weilte und durchaus nicht sterben
wollte.

Aber auch an seiner Begleiterin war, das konnte ich rasch bemerken, die
Zwischenzeit nicht ganz so spurlos vorübergegangen, wie es beim ersten
Anblick scheinen mochte; jedoch im entgegengesetzten Sinne, darüber gab
es keinen Zweifel, sobald man sie nur schärfer ins Auge faßte. Denn
sie hatte keineswegs gealtert, wie sich hätte voraussetzen lassen,
im Gegenteil, etwas wie ein neu erwachter Geist, einem Lichtstrahl
vergleichbar aus dem Auge hervorbrechend, faßte die einstige Schönheit,
von der ich früher nur Überreste hatte feststellen können, zu einer
unerwarteten Spätblüte zusammen und ließ ihre Züge lieblicher,
rosiger, bräutlicher erscheinen, als ich es je für möglich gehalten
hätte. Und nicht bloß jugendlicher als damals kam sie mir jetzt vor,
auch selbstbewußter, zuversichtlicher, freier: nichts mehr von jener
Trostlosigkeit, als deren Verkörperung sie mir sonst gegolten. Weit
eher schien mir der Eindruck, den ich von ihr empfing, auf feste
Ziele zu deuten, auf Entschlossenheit und beherrschten Gemütszustand.
Und war dieser Eindruck auch flüchtig, und kehrte der Blick, den ich
im Vorbeigehen auffing, rasch sich besinnend und in Demut sogleich
wieder hinter gesenkte Lider zurück und in das Joch einer freiwillig
erduldeten Dienstbarkeit -- es war doch einer jener großen, suchenden,
von kühnen Antrieben durchzitterten Blicke gewesen, den nur eine Seele
aussendet, die um die Freiheit weiß, ein Blick, der blitzartig die
überraschende Wandlung enthüllte, die sich vollzogen haben mußte, wenn
ich mich nicht gänzlich täuschte.

Indessen war ich nicht abgeneigt, da meine Beobachtung sich
naturgemäß auf den Bruchteil einer Minute beschränkte, eine solche
Täuschung zunächst für das wahrscheinlichere zu halten, es hätte
mir ja andernfalls auch jede Erklärung gefehlt. Dem Zufall blieb
es vorbehalten, mich darüber zu belehren, daß unsere gefühlsmäßig
aufleuchtenden Erkenntnisse durch das Fehlen einer ausreichenden
Begründung nicht gegenstandslos werden können. Seinem Eingreifen hatte
ich es zu danken, daß mir in der Folge ein Einblick zuteil wurde, wie
die großen Zeitgedanken sich im Schicksal des einzelnen widerspiegeln,
er war es, der mir einen Faden an die Hand gab, an dem ich mich
weitertasten konnte. Eine Gelegenheit, die ich um so lebhafter ergriff,
je mehr das junge alte Mädchen anfing, mir zum Problem zu werden.

Eine öffentliche Anzeige, die ich an Mauerecken und Litfaßsäulen
angeschlagen fand, machte mich auf eine Versammlung aufmerksam,
in der eine entschlossene Wählergruppe offenbar Anhänger für ihre
grundstürzenden Forderungen zu werben gedachte. Anscheinend handelte
es sich dabei nicht so eigentlich um die Verbreitung politischer
Schlagworte, wie deren jede Partei auf ihre Fahne geschrieben hat,
sondern mehr um eine Vorarbeit hierzu, indem durch eine grundsätzliche
Kritik der hergebrachten Sitten- und Pflichtenlehre die Gesinnungen
beeinflußt, die Gemüter umgepflügt werden sollten, um für die Aufnahme
der gefährlichen Saat bereitet zu sein. Von vornherein begierig,
einen deutlicheren Begriff von den geheimen Unterströmungen und
seltsamen Gärungen, die den Umsturz begleiteten, aus eigner Anschauung
zu gewinnen, sah ich mich zum Besuch jener Versammlung noch ganz
besonders durch frühe geistige Beziehungen zu einem alten Schulfreund
aufgefordert, dessen Namen die erwähnten Maueranschläge in großen
roten Buchstaben als Vortragenden nannten. Obgleich seit vielen
Jahren außer jedem Zusammenhang mit ihm, erinnerte ich mich doch
gerne der vielfachen Anregungen, die ich einst von ihm empfangen, des
glühenden und leidenschaftlichen Gedankenaustausches, durch den wir uns
gegenseitig gefördert hatten, in jenen längst verflossenen Tagen, wo
wir als halbreife Jünglinge die Welt umzubauen uns stark genug dünkten
und nach langen gefühlsreichen Wegen durch Wald und Flur oft mehr
voneinander gelernt zu haben meinten als von dem besten unserer Lehrer.

Zum Unterschied von allen übrigen Kollegen hatte Karl Schuda nach
der Reifeprüfung keine Hochschule bezogen. Er war in die Welt
hinausgewandert; es hieß, daß er sich auf einem Kohlenschiff der
unteren Donau sein Brot verdiene. Später sollte er in Bukarest ein
Handelsgeschäft eröffnet, noch später in Bulgarien Grundbesitz erworben
haben. Blieb er dem Kontinent gleich treu, so schien er doch auf
dem Balkan sein Amerika zu suchen. Gefunden hatte er's wohl kaum,
oder höchstens insofern, als es auch in Ländern der unbegrenzten
Möglichkeiten Schiffbrüchige gibt. Indessen wäre es Übelwollen
gewesen, ihm nachzusagen, er habe seinen Beruf verfehlt, als er
unversehens wieder in der Heimat, und zwar als Zeitungsschreiber
auftauchte; denn er schrieb ein gutes Deutsch und führte eine
vortreffliche Klinge. Als Aufwühler und Umsturzmann stellte er sich
in den Dienst der Plötzlichkeit, verschmähte es aber, den Ton aus
der Gosse zu holen, und blieb ungewöhnlich. Bei allem, was ich im
Lauf der Jahre zwar selten, aber doch gelegentlich von ihm gelesen,
hatte ich den Eindruck einer starken, ehrlichen, überzeugten
Persönlichkeit gewonnen, der ich Achtung nicht versagen konnte, auch
wo es mir widerstritt, die Gesinnung zu teilen. Und was mich an den
Veröffentlichungen, die mir von ihm zu Gesicht gekommen, vorwiegend
fesselte und wie aus alten Tagen unserer Freundschaft erwärmend
ansprach, das war der heilige Eifer, mit dem er die Gefolgschaft,
die er der hochroten Fahne leistete, an den tiefsten Forderungen
der Ethik zu überprüfen nicht müde wurde. Die innere Erregtheit
einer schwärmerischen Menschenliebe diente seiner Parteileidenschaft
zur Rechtfertigung, und wenn er irrte, so war nicht Neid und
wirtschaftliche Gehässigkeit die Quelle dieses Irrtums, sondern ein
lebendiges Mitempfinden jeder sozialen Hilfsbedürftigkeit.

Diese bejahende Note seines Wesens, die ihn von sonstigen
Wüstenpredigern ähnlichen Schlages vorteilhaft unterschied, kam
auch in dem angekündigten Vortrag, zu dem ich mich einzufinden nicht
versäumt hatte, zu entscheidendem Durchbruch. Freudigkeit galt ihm
als oberstes Ziel, und der Weg dahin konnte nur über die Freiheit
führen. Darum verwarf er jeden Zwang, jede Bevormundung, sogar jede
Obrigkeit, mit Ausnahme der vom Volk selbst eingesetzten, wobei es
dahingestellt bleiben mochte, wer das Volk eigentlich sei. Darum
verwarf er überhaupt alles »Sollen«, das sich nach einem Worte Kants
aus dem »Sein« nicht »herausklauben« lasse, und anerkannte keine Macht
des Gewissens neben dem freien Willen. Und darum wendete er sich wie
gegen die »Herrenmoral«, so auch gleicherweise mit aller Schärfe gegen
die Verweichlichung der Lebensinstinkte, wie sie durch das »Narkotikum
der Evangelien« -- dies war der Ausdruck, den er gebrauchte --
hervorgerufen werde. Denn würdig der Erlösung von äußerem Zwang sei nur
der, der sich selbst erlöst hätte von den inneren Fesseln, als welche
er die vererbten Vorurteile bezeichnete, durch die wir uns Gewalt
antäten, zu wollen, was wir im Grunde nicht wollen, und zu tun, was wir
lieber unterlassen würden. Dies beuge, verkümmere, knicke die wahre
Natur und das innerste Wesen der Menschen und sei die eigentliche Sünde
wider den Geist, für die es keine Lossprechung gebe. Wie der Flachs
von Grannen und Werg, so müsse das zur Freiheit erwachende Gemüt
gereinigt werden von allen schwächlichen Gewohnheiten einer stillen
Ergebung, einer demütigenden Anpassung und Selbstüberwindung, einer
schmählichen Zwiespältigkeit zwischen wahrem Willen und aufgezwungener
Pflicht. Starke, ganze, uneingeengte Seelen brauche die Menschheit,
wahrhafte, aufrichtige, jeder Selbstentäußerung fremde Seelen, deren
oberstes Sittengesetz darin bestehe, sich selbst zu erfüllen. So
fordere es das lebendige Leben und der Aufstieg zu einer reineren und
schöneren Zukunft.

Er sprach frei, fließend und innerlich bewegt, sein Wort wußte zu
zünden. Unzähligemal sah er sich durch brausenden Beifall unterbrochen,
der Saal war dicht besetzt, und auch das gewähltere Publikum, das die
vorderen Sitzreihen einnahm, kargte nicht mit den Äußerungen einer
Anerkennung, die freilich mehr der rednerischen Leistung als dem Inhalt
gelten mochte.

Um dem andringenden Schwarm derer, die zuhören wollten, im Saale
Raum zu schaffen, hatte man auch in den tiefen Nischen der Fenster,
die mit Holzläden verschlossen waren, Bänke aufgestellt, und als
mein Auge mitten im Vortrag zufällig eine dieser Bänke streifte, die
die Sitzreihen flankierten, blieb es starr wie an einer Erscheinung
dort hängen. Zu meiner größten Überraschung hatte ich die schöne
Generalstochter, meine unbekannte Bekannte aus den städtischen Anlagen,
erblickt, wie sie mit glühenden Wangen den Ausführungen des Redners
lauschte. Weit vorgebeugt, gleichsam mit angehaltenem Atem saß sie da,
kein Auge von der Vortragsbühne wendend, als fürchte sie, es könnte
ihr eins dieser offenbarenden Worte, eine dieser ebenso ungezwungenen
wie ausdrucksvollen Gebärden entgehen, die sie begleiteten. Kein
Prophet konnte sich einen gläubigeren Anhänger, kein Apostel einen
teilnehmenderen und verständnisvolleren Jünger wünschen. Ich sah,
wie sie diese oder jene Äußerung, die sie besonders überzeugte, mit
begeistertem Kopfnicken begleitete, wie ihr Antlitz dabei aufleuchtete,
ihre Pulse stockten oder rascher flogen, und ich konnte beobachten,
wie sie keine Gelegenheit versäumte, durch leidenschaftliches
Händeklatschen in den allgemeinen Beifall mit einzustimmen, der der
verführerischen Sophistik meines ehemaligen Schulfreundes gezollt
wurde.

Ich wüßte selbst nicht zu sagen, warum auch ich bei diesem Anblick auf
einmal einer entschiedenen Neigung in mir gewahr wurde, manchem, was
Karl Schuda vorbrachte, doch eine gewisse Berechtigung zuzugestehen.
Vielleicht war die tiefere Ursache davon in einem halb unbewußt sich
regenden Gefühl mitleidiger Teilnahme zu suchen, der Teilnahme
für dieses bedauernswerte weibliche Wesen, dessen ungeheure innere
Erregung verständlich wurde, wenn ihm plötzlich zum Bewußtsein kam,
was alles es unwiederbringlich dem dürren Begriff einer herkömmlichen
Pflichterfüllung aufgeopfert hatte. So stark die Bindungen der
Religion, der Kindesliebe, der weiblichen Hilfsbereitschaft immer sein
mochten -- wäre es verwunderlich gewesen, wenn diesem Mädchen die
entschwindende Jugend als zwecklos und unsinnig vergeudet erschienen
und zu spät, ach viel zu spät die Erkenntnis aufgedämmert wäre, daß
auch sie ein unverlierbares Recht darauf gehabt hätte, ihr eigenes
Leben zu leben? Hätte nicht jeder es begreiflich finden müssen, wenn
sie noch jetzt in aufwallendem Unmut die drückenden Fesseln abgeworfen
und sich rücksichtslos zum neuen Evangelium der freien Persönlichkeit
bekannt hätte, die an kein Gesetz als an das der eigenen Bestimmung
gebunden ist? So wie es eine Linie gibt, über die hinaus auch der
muskelkräftigste Nacken der ihm aufgebürdeten Last nicht mehr gewachsen
ist, so gibt es auch für die moralische Leistungsfähigkeit eine Grenze,
wo das Menschenmögliche endet -- tausendfach und eindringlicher als
je hat es sich im Weltkrieg erwiesen. Alle Schranken und Mauern, mit
denen die Notwendigkeiten menschlicher Gemeinschaft den Einzelwillen
im Wege der Vererbung und Erziehung einengen, stürzen dann zusammen,
um dem nackten Bedürfnis die Bahn freizugeben. So erinnere ich mich,
in einer mittelalterlichen Chronik gelesen zu haben, wie die Bürger
einer üppigen und fröhlichen Stadt, bekehrt durch einen flammenzüngigen
Bußprediger, so lange in der Ausübung aller christlichen Tugenden,
als da sind: Armut, Keuschheit, Demut und Selbstentäußerung,
Enthaltsamkeit, Freigebigkeit, Nächstenliebe und Eifer im guten
miteinander gewetteifert -- so lange in all solch frommem Abbruchtun
und Verzichten sich gegenseitig gesteigert und überboten hätten, bis
diese ganze Stadt schließlich vor die Hunde gekommen und eines Tages
durch das plötzliche Hervorbrechen des künstlich zurückgestauten
Kraftüberschusses in jähem Rückschlag zu einem wahren Sodom und Gomorra
geworden sei, das sich in bis dahin unerhörten Ausschweifungen und
Orgien austobte. Die Natur läßt sich eben auf die Dauer keine Gewalt
antun, und die entsagende Heiligkeit, so lange sie auf Erden wandelt,
läuft immer wieder aufs neue Gefahr, von den dammbrechenden Wogen der
Weltlust verschlungen zu werden.

Daß auch meine sonderbare Heilige aus den städtischen Parkanlagen der
Weltlichkeit nicht unzugänglich geblieben war, darüber blieb mir bald
kein Zweifel mehr. Denn als ich nach Schluß des Vortrags mich in
das ans Podium stoßende Künstlerzimmerchen begab, um Karl Schuda zu
begrüßen und ihm nach so langer Zeit die Hand zu drücken, fand ich zu
meiner nicht geringen Überraschung dort meine schöne Unbekannte vor,
wie sie ihm für das, was er ihr gegeben, ihren Dank auf eine recht
eigene Weise aussprach, nämlich wortlos, indem sie die Arme um seinen
Nacken geschlungen hatte und ihn küßte. Es war mir peinlich, sie
durch mein Eindringen aus dieser zärtlichen Stellung aufgeschreckt,
bestürzt und verlegen zur Seite treten zu sehen, Karl Schuda indessen
überbrückte gelassen und unbefangen den fatalen Augenblick, indem
er nach einigen schlichten Worten freudiger Genugtuung über meine
Teilnahme an seinem Vortrag uns miteinander bekannt machte. Bei dieser
Gelegenheit erfuhr ich, daß die Beziehungen der beiden nicht erst von
heute stammten, denn während er mich als Jugendgenossen und alten
Schulkameraden einführte, stellte er sie als seine werte Freundin
und treue Mitarbeiterin vor, der er mehr zu danken habe, als sich in
der Geschwindigkeit sagen lasse. Daß er dabei nach ihrer Hand faßte
und sie mit Wärme schüttelte, trug dazu bei, sie rasch ihre Haltung
wiederfinden zu lassen. Verständig beteiligte sie sich an einem
leichten Gespräch, das bald in Gang kam, aber nur Äußerlichkeiten
berührte und sich an der Oberfläche der Dinge hielt. Zum erstenmal
hörte ich ihre Stimme, die eine angenehme Altfärbung hatte; alles,
was sie äußerte, nahm mich mehr und mehr für sie ein, steigerte mein
Interesse nicht nur für ihre Person, sondern auch für die Art ihrer
Beziehungen zu meinem Freunde. Die Freiheit, mit der sie sprach,
das Du, das sie einander gaben, mehr noch die unausgesprochenen
Einverständnisse, die zwischen den Worten hervorschimmerten, ließen
mich erkennen, daß sie auf vertrautem Fuße miteinander standen. Ja, es
setzte sich, ohne daß ich eigentlich zu sagen wüßte warum -- denn das
Unwägbare, das nur mit übersinnlichen Fühlern ertastet wird, läßt sich
nicht in Begriffe fassen -- allmählich die Überzeugung in mir fest, daß
sie seine Geliebte sei.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch beim nächsten Wiedersehen
mit meinem Freunde, das tags darauf stattfand. Einige tiefgehende
Meinungsverschiedenheiten, gleich trennenden Abgründen ganz zufällig
und unwillkürlich zwischen dem flüchtigen Geplauder im Künstlerzimmer
aufklaffend, hatten in uns allen den Wunsch rege gemacht, uns
eingehender miteinander auszusprechen. Es war für den nächsten Abend
ein gemeinsamer Weg ins Freie verabredet worden, und ich fand mich nach
des Tages Arbeit in Karl Schudas Wohnung, die er studentisch seine
»Bude« nannte, pünktlich ein, um ihn abzuholen. Sein Arbeitszimmer trug
in der Tat das Gepräge einer studentischen Behausung und ließ nicht
nur jeden Geschmack, sondern auch jede Spur von Ordnung vermissen, so
daß ich mich im stillen fragte, wie es möglich sei, sich unter diesen
Bergen aufgestapelter Bücher, in diesem Wust umherliegender Schriften
und Papiere zurechtzufinden. Den einzigen Schmuck bildeten ein paar
frühe Rosen, die in einem Trinkglas auf dem Schreibtisch standen. Wer
konnte sie ihm gebracht haben, diese duftenden Zeugen einer liebevollen
Aufmerksamkeit, die ihn mit ihren Gedanken umschwebte? Denn daß er sich
selbst aus eigenem Antrieb sollte Rosen eingeschafft haben, um sie auf
seinen Schreibtisch zu stellen, das sah ihm gerade nicht ähnlich.

Es ergab sich von selbst, daß wir unsere Anknüpfungen in der
Vergangenheit suchten, und wir unterhielten uns eben von gemeinsam
verlebten Jugendtagen, als er die Uhr zog und einen Blick darauf warf.
Mit einem Anflug von Ungeduld sagte er: »Die Baronin pflegt sonst nicht
auf sich warten zu lassen,« und steckte die Uhr wieder zu sich.

Mir aber hatte es einen gewaltigen Ruck gegeben. Ich beachtete kaum,
daß er entgegen der Zeitströmung und der eigenen Parteidoktrin die
erfolgte Aberkennung des Adeltitels bei seiner Freundin absichtlich
übersah, und wunderte mich auch nicht darüber in diesem Augenblick;
etwas ganz anderes war es, was meine Aufmerksamkeit gefesselt hielt
und meine Gedanken beschäftigte, ein Ding, dessen Anblick mir,
so nichtssagend es an sich war, doch etwas wie ein leises Grauen
einflößte und beinahe physischen Schmerz verursachte. Denn es sind
oft die unscheinbarsten Gegenstände, die uns verborgene Zusammenhänge
enthüllen, und nichts kann uns empfindlicher enttäuschen und tiefer
erschüttern, als wenn wir da, wo wir rechtfertigen möchten, uns
gezwungen sehen, anzuklagen.

Es kommt manchmal vor, daß uns an Menschen, die wir flüchtig sehen,
irgend eine nebensächliche Einzelheit der äußeren Erscheinung besonders
auffällt, wie uns denn an einer Frau vielleicht die Brosche, die sie
trägt, die Farbe der Hutschleife oder -feder Eindruck macht oder bei
einem Manne die Perle der Busennadel, der elfenbeinerne Griff seines
Spazierstocks im Gedächtnis haften bleibt. So kannte ich an dem alten
General von meinem zufälligen Begegnen her die goldene Panzeruhrkette,
die quer über seine Weste lief, und die Berlocke, die mittels eines
Springringes daran befestigt war. Es war ein Petschaft aus schwarzem,
goldmontiertem Basalt, die Gestalt einer niedlichen ägyptischen
Sphinx, aus deren smaragdenen Augen, so winzig sie sein mochten, bei
mancher Bewegung ein unheimlich grünlicher Schimmer hervorsprühte.
Deutlich erinnerte ich mich, diese seltsame Berlocke wiederholt bei
dem gebrechlichen alten Herrn gesehen zu haben; sein böser Blick,
den ich in Gedanken gifthauchend genannt hatte, mochte in meinem
Unterbewußtsein mit den ab und zu aufblitzenden grünen Augensternen der
kleinen Sphinx irgendwie zusammengeflossen sein. Kurz, das aparte, fein
gearbeitete Juwel war nicht zu verwechseln, und ich erkannte es sofort
wieder, als ich es nun für einen Augenblick an Karl Schudas Uhrkette
baumeln sah, einer sogenannten Sportkette, die er samt der Uhr aus der
Tasche gezogen und ein paar Sekunden lang in der Hand gehalten hatte.

Ein Gefühl wie bei der unbeabsichtigten Berührung einer Kröte
bemächtigte sich meiner, als mir mit Blitzesschnelle klar wurde, daß es
nur Umstände der bedenklichsten Art sein konnten, die diesen Gegenstand
von höchstpersönlichem Wert in Karl Schudas Hände gespielt hatten.
Welche Möglichkeiten! Eine Tochter, die es nicht erwarten konnte, den
hinfälligen Vater zu beerben! Die seine Hilflosigkeit dazu mißbrauchte,
ein durch Gewohnheit Liebgewordenes ihm irgendwie abzudringen, um
es hinter seinem Rücken insgeheim dem Geliebten zu verehren. Und
schlimmer noch vielleicht, weit schlimmer! Auf was für Abwege konnte
dieses Mädchen sich verirrt haben, weil ihre knappen Mittel für ein
auf einwandfreie Weise erworbenes Andenken nicht reichten! Oh, welcher
Handlungsweise war ein Weib, das mit letzter Verzweiflung liebte, nicht
etwa fähig! Ein schwaches Weib, zerrüttet durch die Überspannung ihrer
moralischen Kräfte, betört von der Schalmei einer neuen persönlichen
Freiheit, die alles Überkommene entwurzelte, alle Hemmungen zum alten
Eisen warf und ein halbverlorenes Leben zurückzuschenken verhieß --
was war einer solchen Frau, die jeden inneren Halt und jeden Maßstab
für das Erlaubte verloren haben mochte, nicht alles zuzutrauen! Ich
wehrte mich gegen die andringenden Gedanken, ich strengte mich an sie
abzuweisen, ich entsetzte mich davor, sie zu Ende zu denken.

Um meine Bestürzung zu verbergen und nur überhaupt etwas zu sagen,
verfiel ich darauf, mich nach dem Befinden des alten Generals zu
erkundigen. Worauf Karl Schuda erwiderte, er sei nun auf dem besten
Wege, auch noch schwachsinnig zu werden. »Ein boshafter Teufel,« sagte
er voll Bitterkeit, »und obendrein schwachsinnig -- so was füttern
wir!« Und als ich mit unverhüllter Mißbilligung bemerkte, erschlagen
könne man ihn doch wohl nicht, wie die Indianer ihre Greise, da
antwortete er mir mit der kühlen und zynischen Frage: »Warum nicht?«

»Und wo bleibt die Menschenliebe, auf die doch auch du deine
Forderungen gründest?«

»Man schadet den Menschen, wenn man die Kadaver liebt.«

Daraufhin ließ ich den Gegenstand auf sich beruhen und erkundigte
mich nur, ob der General nicht mehr ausgehe, es falle mir auf, ihm in
letzter Zeit nicht mehr begegnet zu sein.

»Matratzengruft!« sagte Karl Schuda kurz und trocken.

»Bedauernswert!«

»Wenigstens haben die quälenden Promenaden ein Ende.«

In diesem Augenblick trat die Baronin ein, lebhaft und aufgeräumt.
»Entschuldige die Verspätung, er wollte mich durchaus nicht weggehen
lassen.«

Sie trug ein gefaltetes Papier in der Hand, und Karl Schuda fragte:
»Was bringst du mir?«

»Wir haben doch nach einem Zitat gesucht, das uns beiden irgendwie
vorschwebte,« sagte sie Platz nehmend. »Ich habe es gefunden. Das
heißt, ich weiß nicht bestimmt, ob es das gesuchte ist, aber es drückt
ungefähr den Sinn aus, den wir vor Augen hatten. Ich denke, du wirst es
brauchen können. Es ist von Lowell; Amerikaner zitiert man immer gern.«

Und indem sie das Blatt entfaltete, las sie:

  +We quench our longing, that we may be still,
  Content with merely living,
  But would we learn our hearts full scope,
  Our lives must climb from hope to hope
  And realize our longing.+

»Das +would+ macht mir Schwierigkeiten,« sagte Karl Schuda
nachdenklich; »heißt es ›würden wir‹, oder hat es die ursprüngliche
Bedeutung von ›wollen‹? Überhaupt scheint mir in den Versen der Sinn
doch nicht restlos enthalten, nach dem wir suchten: daß es nämlich das
Wort ›Verzicht‹ in unserm Wörterbuch nicht geben dürfe, soll unsre
wahre Natur sich frei entfalten.«

»Doch, doch!« beharrte sie eifrig. »Ich denke, daß letzten Endes
dasselbe gemeint ist, was auch wir meinten. Vielleicht ist es nur
allzu schwebend ausgedrückt und absichtlich im leichten Schleier der
Verssprache verhüllt. Eine Übersetzung könnte den Sinn deutlicher
herausarbeiten.«

»Hast du eine Übersetzung versucht?«

»Versucht allerdings,« sagte sie leicht errötend; »ob es mir gelungen
ist, weiß ich nicht.« Und indem sie sich gleichsam entschuldigend an
mich wendete, fuhr sie fort: »Ich habe mit Zeilen und Wörtern nicht so
sparsam gewirtschaftet wie das Original. Vielleicht bin ich wirklich in
den Fehler verfallen, mehr das, was wir hören wollten, herauszulesen,
als was der Dichter eigentlich zu sagen die Absicht hatte. Entscheiden
Sie selbst.«

Damit reichte sie unserem Freunde das Blatt hin, und er las:

  Die Sehnsucht zwingen nieder wir und schweigen,
  Zufrieden, wenn wir nur das Leben haben,
  Entsagungsvoll beruhigt im Gemüte.
  Doch wollen wir des Herzens reichste Gaben
  Und ganze Kraft entfaltet sehn zur Blüte,
  Von Hoffnung gilt's zu Hoffnung aufzusteigen,
  Bis sich erfüllt der Sehnsucht letzte Ziele zeigen.

»So kann ich es brauchen, besten Dank!« sagte Karl Schuda. »Entsagung
und Verzicht sind Unsinn. Nur wenn zur Wirklichkeit wird, was wir
ersehnten, haben wir das Leben nicht verspielt. -- Nun wollen wir aber
auch danach handeln,« setzte er leichten Tones hinzu; »mir wenigstens
fällt es nicht ein, auf den verabredeten Spaziergang zu verzichten.«

Er erhob sich, und wir begaben uns ins Freie. Eine Zeitlang ergingen
wir uns in den ausgedehnten Parkanlagen, und da der Aufbruch später als
beabsichtigt erfolgt, das Zunehmen der Tage auch noch nicht ausgiebig
genug zu merken war, so fing es bereits leise zu dämmern an, als wir
den Fuß des bewaldeten Hügels erreichten, der in jener angenehmen
Stadt mitten zwischen Häuserzeilen und Gassen aus dem Boden wächst und
auf seinem Gipfel die Überreste eines alten Kastells trägt. Eben begann
der Weg anzusteigen, da blieb die Baronin stehen und zögerte. »Nun muß
ich unbedingt nach Hause. Es ist spät geworden, er wird ohnedies schon
ungehalten sein.«

Karl Schuda brauste auf: Die reine Sklaverei, in der sie lebe! Ein
menschenunwürdiges Dasein führe sie! »Wenigstens eine Stunde an die
Luft zu gehen, brauchst du dir doch nicht verbieten zu lassen!« rief er
heftig.

»Er war die letzten Tage ganz besonders elend,« sagte sie wie zu ihrer
Entschuldigung. Trotzdem setzte sie, als er sich zum Weitergehen
wendete, wie ein gehorsames Hündchen den Weg an seiner Seite fort.

»Nazarenische Dekadenz!« grollte Karl Schuda vor sich hin. »Die ganze
Welt nichts als ein einziges großes Barmherzigenspital! Zum Geier auch
-- was sinkt, soll man stoßen!«

Schweigend stiegen wir bergan. Das verletzend rohe Wort klang mir im
Ohre nach; ich wartete, ob denn die Baronin nichts dagegen einwenden
würde.

Sie war auch die erste, die wieder das Wort nahm, schien sich aber
inzwischen mit ihrem Gewissen abgefunden zu haben. Mit einer Art
kindischem Trotz sagte sie: »Soll er zusehen, wie er mit sich selbst
fertig wird, wenn er es durchaus nicht anders haben will. Warum läßt
er auch keine Pflegerin zu? Allein kann ich, kann ich es nicht mehr
leisten!«

Unter dichten Laubkronen verfolgten wir unseren Weg weiter, immer
bergaufwärts. Im Schatten der Bäume dunkelte stellenweise schon
die Nacht, die balsamische Düfte aushauchte, daß man in fernen
Märchengärten zu weilen glaubte, wären die Geräusche der Stadt nicht
gewesen, die hier und da zu uns empordrangen, und die Lichter,
die vereinzelt in den Gassen aufleuchteten und manchmal zwischen
schwankendem Gezweig in der Tiefe sichtbar wurden ...

Mir klang noch immer jenes vorhin gefallene grausame Nietzsche-Wort
nach: Was sinkt, soll man stoßen. Ich wendete mich an Karl Schuda und
sagte: »Du vertratst doch neulich die Meinung, daß es kein Sollen
geben dürfe. Das kann nur die Bedeutung haben, daß es der Natur Gewalt
antun heißt, wenn wir irgend etwas gegen unsre inneren Bedürfnisse
unternehmen. Aber das Mitfühlen mit den Schwachen, das Erbarmen mit
dem Elend, gehört es -- wenigstens für hochstehende Menschen -- nicht
auch zu den unabweisbaren inneren Bedürfnissen? Und heißt es wirklich
unsre wahre Natur verkümmern, wenn es uns gelingt, sie bis zu jener
vornehmen Größe zu steigern, die die Voraussetzung der Selbstlosigkeit,
der Selbstentäußerung ist? Der Christus der Evangelien erscheint dir
als Verkörperung der Lebensschwäche, was immerhin stimmen mag, wenn man
bloß den äußerlichen Verlauf seines Schicksals ins Auge faßt; so wie
etwa die Friedensschlüsse, die uns entrechten, äußerlich genommen als
Auswirkung einer glänzenden Kraftfülle gelten können. Aber sind nicht
eben jene Evangelien, die das Unterliegen verherrlichen, Kraftquelle
von Jahrtausenden geworden? Und verbirgt hinter der rohen Gewalt und
den Ausschreitungen eines ungebändigten Siegerwillens nicht von jeher
die menschliche Kleinheit und Schwäche ihr haßverzerrtes Antlitz? Wahre
Größe ohne Güte und Barmherzigkeit gibt es nicht: Lionardo da Vinci,
der die gefangenen Vögelchen aufkauft, um sie fliegen zu lassen -- ist
der etwa ein empfindsamer Schwächling?«

»Die Singvögel konnten ihm nichts zuleide tun,« entgegnete Karl Schuda
trocken. »Hätte er Wölfe freigelassen, so wäre er ein Narr gewesen.«

Die knappe, witzige Replik entwaffnete mich beinahe, sie ernüchterte
auf alle Fälle meinen Eifer.

Die Baronin kam mir zu Hilfe. »Es steckt Ernst in diesem scheinbaren
Scherze,« sagte sie. »Die Drosseln, Finken und Lerchen, das sind
unsre Wünsche und Sehnsüchte, die zum Himmel steigen. Lassen wir sie
fliegen! Geben wir ihnen die Freiheit! Wo wir aber Gefahr laufen,
zerrissen, aufgefressen zu werden, da bleibt uns nichts übrig, als hart
und erbarmungslos zu sein. Denn beides liegt in unserm Wesen, die Güte
und die Härte, und beides kann zur Pflicht werden.«

»So gibt es doch noch eine Pflicht?«

»Sogar Pflichten,« warf Karl Schuda dazwischen; »aber nicht im alten
Sinne des kategorischen Sollens. Wir erfüllen sie, nicht indem wir uns
bezwingen, sondern indem wir uns selbst erleben.«

»Und wenn dieses Erleben mit den Ansprüchen unsrer Mitmenschen in
Widerstreit gerät?«

»Dann gilt es stark sein,« fiel die Baronin mit Lebhaftigkeit ein, »und
sich darüber klar werden, daß wir alles verlieren können und dennoch
nichts verloren haben, solange wir uns selbst besitzen.«

Wir waren auf der Plattform des Hügels angelangt, wo zwischen altem
Bastionsgemäuer eine bescheidene Gartenanlage sich hinbreitet. Der
unendlich weite Himmel über und um uns flimmerte von unzähligen
Sternen, und in der schwarzen Tiefe, aus der die Stadt wie in unruhigem
Schlummer ab und zu ein gepreßtes Stöhnen vernehmen ließ, schienen
Schwärme von Glühwürmchen sich niedergelassen zu haben, oder den
Abgrund, der die Höhe umringte, hatten Wasserfluten verschlungen, in
denen sich die Sterne spiegelten. Schweigend machten wir die Runde,
immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrend und immer wieder eine neue
Runde antretend, in unerschöpfter Lust, das wundersame Doppelspiel des
himmlischen und irdischen Lichtgefunkels in uns aufzunehmen.

Es ist eine bekannte Erfahrung, daß nichts so lebhaft dazu anregt, an
das Geheimnisvolle zu rühren oder die Tiefen des eigenen Innern zu
durchforschen, als der Anblick des gestirnten Himmels. Auch die Baronin
unterlag jetzt diesem Zauber, sie schien wie zu sich selbst oder doch
unbeirrt durch die Anwesenheit eines fast Unbekannten zu sprechen, als
sie nun in merkbarer Beklommenheit sagte: »Das Leben bleibt ein großes
Rätsel, und die Wege, die wir wandeln, führen aufs Geratewohl durch
weite, unbekannte dunkle Wälder. Welch ein Wunder, wenn wir das Ziel
nicht gänzlich verfehlen! Ich habe eine strenge Erziehung genossen, ich
wußte von nichts als von Pflicht. War ich glücklich? Innerlich beruhigt
vielleicht -- die Ruhe des Friedhofs: Die Sehnsucht zwingen nieder wir
und schweigen, zufrieden, wenn wir nur das Leben haben ...«

»Jawohl! Diese Zufriedenheit, dieses Sichabfinden, dieses Entsagen!
Eine der Hauptquellen der sozialen Rückständigkeit! Man frage nur
einmal in Amerika an!«

»Die Methodisten?« gab ich zu bedenken.

»Sektierer, deren bloßes Vorhandensein schon beweist, daß die andern
nichts davon wissen wollen.«

»Wieviel Tränen habe ich darüber vergossen!« fuhr die Baronin mit
einem Seufzer fort. »Denn solcherart war meine Zufriedenheit. Aber
war das überhaupt ein Leben, was ich lebte? Und war ich es selbst,
die es lebte? Wie die Maden gewisser Schlupfwespen in einem fremden
Körper sich breitmachen, so schalteten in meinem Inneren überkommene
Normen, eingeimpfte Regeln, Vorschriften von verschiedenster Herkunft
in unumschränkter Selbstherrlichkeit. Ich wurde nicht gefragt, ich war
tot, und hatte ich ja einmal etwas mitzureden, so war es höchstens, um
mir Zwang und Gewalt anzutun und mich noch toter zu machen als tot. Da
kamst du,« sagte sie, des Freundes Hand mit Wärme ergreifend, »da brach
der Tag der Befreiung an.«

Sie blieb stehen, ich sah in der Dunkelheit, wie sein Scheitel sich
über ihre Hand beugte. Dann schnellte er empor, und gutmütig auflachend
zog er sie mit sich fort. »Zum Erlöser hab' ich doch kaum das Zeug ...
Nur freilich -- ein bißchen Schüren und Umwälzen tut immer gut. Das
Volk erwacht, und ich habe meinen Teil daran. Aber wenn mich die Teufel
in der Hölle einmal fragen sollten, ob ich auch etwas Gutes gestiftet
hätte auf Erden, so könnte es sein, daß ich alles andre vergesse und
als meine froheste Tat es rühme, dich, Teuerste, erweckt zu haben.«

»Ja, das tatest du! Durch dich allein bin ich zu Freiheit und
Freudigkeit erwacht, durch dich zum wahren Leben erweckt worden. Und
gerade hier setzt nun das Rätsel ein ...«

»Welches Rätsel?«

»Das große Lebensrätsel, das Unerklärbare, der bleibende Widerspruch.
Der Sünde wider den Geist, wie du es nennst, bin ich nun ledig. Ich
erkenne kein Gesetz an außer dem in mir selbst. Das macht mich froh und
stark und mutig, ich fühle die Wahrhaftigkeit mit mir im Bunde. Und
dennoch weiß ich, daß ich schuldig geworden bin. Und weiß auch, daß
jede Schuld ihre Sühne fordert, wie mit kosmischer Notwendigkeit.«

Karl Schuda wurde ungeduldig. Schuld! Sühne! Eischalen, die dem eben
erst ans Licht gedrungenen Küchlein noch anhafteten! Er suchte es ihr
auszureden. Nachtgedanken! Nichts als Nachtgedanken, zur Selbstqual
ersonnen! Aber in diesem Punkte versagte sein Einfluß, sie ließ sich
nicht wankend machen. Sie blieb bei ihrer Überzeugung. Sie könne es
nun einmal nicht anders empfinden. Auch hier sei sie außerstande, ihre
eingeborene Natur zu verleugnen. »Oder möchtest du lieber,« fragte sie,
»daß ich dir blindlings nachbete, auch gegen meine unbestreitbare
innere Erfahrung? Das willst du gewiß nicht!«

Nein, das wollte er freilich nicht. Die Freiheit der eigenen Meinung
über alles!

»Und du brauchst auch gar nicht zu befürchten,« sagte sie noch, »daß
ich mich zwecklos quäle. Du irrst, wenn du annimmst, daß diese Gedanken
etwas Quälendes für mich hätten. Im Gegenteil! Tröstlich und beruhigend
sind sie mir, ich spüre Gesetz und Ordnung darin und das Gegenteil von
Willkür. Und so deutlich ich voraussehe, was kommen wird und muß, so
empfinde ich es doch zugleich wie eine Bestimmung: du sollst schuldig
werden! Und bin doch froh und stark und mutig dabei und möchte nicht
mehr zurück. Warum? Vielleicht weil ich spüre: dies ist das Leben, dies
dein Schicksal und dein Beruf auf Erden? Ich weiß es nicht. Aber sind
das nicht Rätsel? Sind das nicht Widersprüche?« Und während sie für
einen Augenblick stehenblieb und das Antlitz zum Sternenhimmel erhob,
entrang es sich ihr wie ein Seufzer: »Ist Leben und Schuldigwerden
vielleicht ein und dasselbe?«

Sie schwieg. Stumm und nachdenklich setzten wir, die kühle Nachtluft
atmend, unseren Rundgang auf der Höhe fort, besinnlich geworden durch
die von ihr aufgeworfenen Fragen, jedes im stillen für sich in seine
Gedanken versunken. Bis plötzlich Karl Schuda haltmachte. Er steckte
ein Zündholz an, um nach der Uhr zu sehen. Einen Augenblick baumelte
die kleine schwarze Sphinx an der Uhrkette in der Luft, beleuchtet von
der aufzischenden Flamme. Im grellen Schein sprühten ihre smaragdenen
Augen und sandten grünliche Strahlen aus. Dann war das Zündholz
erloschen ...

Abermals kroch mir beim Anblick des funkelnden Juwels ein häßliches
Gefühl über den Rücken, indem meine Gedanken verstohlen in die
Krankenstube des hilflosen alten Mannes huschten, der irgendwo da
unten im dunkeln Abgrund in seiner Matratzengruft stöhnte. Und aus der
Finsternis, die uns umgab, wuchs plötzlich die kleine basaltschwarze
grünäugige Sphinx zu Riesengröße auf und stand wie ein dräuendes Tier
starr und regungslos am nächtlichen Horizont. Gibst du mir Rätsel zu
raten, grausames Ungeheuer? Ist Leben und Schuldigwerden vielleicht
wirklich dasselbe? Eine untrennbare Einheit wie die Prägung auf der
Vorder- und Rückseite der nämlichen Münze? ... Nur ein paar Augenblicke
-- und die schaurige Erscheinung war verschwunden. Ich mußte lächeln.
Ein breiter, massiger Bergrücken reckte da drüben in der Ferne seine
finsteren Umrisse zum Sternenhimmel ...

Karl Schuda hatte zugesagt, noch an diesem selben Abend in einer
Wählerversammlung für einen erkrankten Redner einzuspringen. Als wir
wieder in die Stadt hinabgelangt waren, trennte er sich von uns an
einer Straßenkreuzung, während ich die Baronin, die nun Eile zu haben
schien und ihre Schritte beschleunigte, bis an das Haus begleitete, in
dem sie wohnte.

Es lag an einem langgestreckten, stillen und gänzlich verkehrsarmen
Platze, wie es deren nur in verträumten Provinzstädten gibt. Schon
hatte ich nach kurzer Verabschiedung das entgegengesetzte Ende dieses
Platzes erreicht, als ich mich, durch irgendein Geräusch veranlaßt,
noch einmal umwendete. Es fiel mir auf, daß an der Stirnseite des
Hauses, die vorhin in völligem Dunkel gelegen hatte, jetzt eine Reihe
von fünf oder sechs Fenstern hell erleuchtet war. Man sah Schatten an
ihnen vorüberhuschen, wie wenn Leute in den Zimmern hin und her liefen.
Aus einem der Fenster, das offenstand, glaubte ich auch Stimmengewirr
zu vernehmen, als redeten mehrere Menschen zugleich erregt
durcheinander. Bald darauf hörte ich, daß das Haustor aufgeschlossen
und dumpf krachend wieder zugeschlagen wurde. Irgend eine dunkle
Gestalt trabte eilfertig in schweren Stiefeln über das Pflaster davon
und bog in eine Seitengasse ein, wo das Geräusch der Schritte nach
und nach verhallte. Ich stand noch immer still, wie festgebannt, ich
wartete, ohne zu wissen worauf. Nun wurden auch die übrigen Fenster
weit aufgetan, eins nach dem anderen. Und dann wurde Zimmer für
Zimmer das Licht abgedreht, während die Fenster offen stehenblieben.
Man konnte jetzt nur noch in einem einzigen Zimmer einen schwachen
Lichtschein wahrnehmen. Sonst alles dunkel, nachtschwarz gähnten die
leeren Fensterhöhlen. Und alles wieder still, regungslos, totenstill
... Bangigkeit im Herzen, trat ich endlich den Heimweg an.

Den anderen Tag las ich in den Ortsblättern, daß der General gestorben
war.

Er hatte eine zu große Dosis Veronal zu sich genommen -- aus
Versehen natürlich, so stand es in den Zeitungen. Ein Selbstmord
sei gänzlich ausgeschlossen, der alte Herr hätte zwar wie alle
Angehörigen des Mittelstandes unter den Zeitverhältnissen zu leiden
gehabt, immerhin aber in ausreichenden Umständen gelebt, an allen
öffentlichen Ereignissen in ungebrochener Geistesfrische noch regen
Anteil genommen und auch sein schweres körperliches Übel stets mit
um so mehr Geduld und Langmut ertragen, als ihm seine Tochter seit
vielen Jahren mit rührender Hingebung als liebevolle und aufopfernde
Pflegerin zur Seite gestanden sei. Den Angaben, die die Blätter
über seine Laufbahn enthielten, konnte ich entnehmen, daß er über
achtzig Jahre alt geworden war und seit Königgrätz, wo er als junger
Offizier sich ausgezeichnet hatte, seinen Heldentaten kein neues
Lorbeerblatt hinzugefügt zu haben schien. Übrigens waren alle Nachrufe
selbstverständlich in dem ortsüblich ehrenvollen, ja ruhmredigen
Ton gehalten -- nur ein kleineres, durch seine unflätigen Angriffe
bekanntes umstürzlerisches Organ äußerte seine Befriedigung darüber,
daß wieder einer jener überzähligen Schädlinge vom Schauplatz
verschwunden sei, die das alte Österreich ins Unglück gestürzt hätten
und dem neuen wie zehrende Parasiten im Pelz säßen. Und ich konnte
in dem Augenblick, wo ich dies las, mich eines gewissen reumütigen
Unbehagens nicht erwehren, weil auch ich, als ich zum erstenmal nach
dem mörderischen Kriege des hinfälligen alten Mannes wieder ansichtig
geworden, ihm in meinen unwillkürlichen Gedanken gleichsam einen
Vorwurf daraus gemacht hatte, daß er noch immer unter den Lebenden
weilte.

Der Tod mildert unser Urteil über die Menschen, verschiebt unsere
Stellungnahme ihnen gegenüber ganz ohne unser Zutun; jedermann weiß
es, es ist eine Binsenwahrheit. Aber obgleich wir es wissen, müssen
wir es doch in jedem Falle wieder neu erfahren, und manchmal sind die
Wandlungen, die sich in uns vollziehen, einschneidender, als wir je
vorausgesehen hätten.

Karl Schuda, als wir auf dem halb ländlichen Friedhof Seite an Seite
uns dem Zug der Leidtragenden anschlossen, sagte: »Sie hatten schon
auch ihre Qualitäten, diese altösterreichischen Militärs ...«

Ich blickte ihn halb verwundert an und nickte zustimmend. Sonst
wechselten wir kein Wort miteinander. Die Bestattung fand der Zeit
entsprechend selbstverständlich ohne jedes militärische Gepränge von
der Friedhofshalle aus statt. Die Feierlichkeit war so einfach wie
möglich und beschränkte sich auf das Unerläßliche. Die Baronin, auf
diesem letzten gemeinsamen Wege nicht wie sonst ihrem Vater voraus,
schritt als erste hinter seinem Sarge her. Der dichte Schleier verbarg
uns ihr Antlitz, als wir, Karl Schuda und ich, unter vielen anderen
Freunden und Bekannten ihr die Hand drückten, während die Schollen in
die Grube polterten. Ich scheute mich fast, diese Hand zu berühren.
Ein fürchterlicher Verdacht, dessen ich mich selbst beinahe schämte,
schnürte mir das Herz zusammen. Wie einem eine Melodie manchmal nicht
aus dem Kopf will, so verfolgte mich unablässig das kulturniedrigste
aller Worte, das die deutsche Sprache jemals geprägt: »Was sinkt, soll
man stoßen.« Wie gern hätte ich der Baronin ins Auge geblickt, um
davon befreit zu werden! Denn im Grunde war ich doch überzeugt, daß ein
einziger Blick in dies Auge mir Beruhigung hätte verschaffen können.
Aber sie blieb unsichtbar hinter dem schwarzen Krepp; auch wurde ich
durch die übrigen Leidtragenden alsbald wieder von ihr abgedrängt.

Am Friedhofstor verabschiedete ich mich auch von Karl Schuda. Meine
Abreise war für den darauffolgenden Tag festgesetzt.

»Auch ich verreise demnächst,« sagte er gepreßt.

»Wohin?«

»Bei unsereinem steht das nicht so fest,« antwortete er ausweichend.
»Wo es eben gerade etwas zu tun gibt ... Leb' wohl!«

Wir reichten einander die Hand, Auge in Auge gesenkt. Ein letzter
Strahl der alten Jugendfreundschaft leuchtete darin auf und berührte
uns gegenseitig mit wohltuender Wärme.

Er hat inzwischen sein Schicksal vollendet, ich sollte ihn nie
wiedersehen ...

Schon früher, aus beiläufigen Bemerkungen, die er, trotz seiner
offenbar absichtlichen Zurückhaltung in diesem Punkte, nicht immer
hatte unterdrücken können, war es mir zur Gewißheit geworden, daß
Karl Schuda große Hoffnungen auf Ungarn setzte. Dort hatte bereits
Ende März eine Verschmelzung der sozialdemokratischen Partei mit
der kommunistischen sich vollzogen und Bela Kun als Volkskommissar
des Auswärtigen in einem Funkspruch »An Alle!« den Arbeitern der
Welt kundgetan, daß nun der Wind aus einem andern Loch blasen würde.
Auf die Arbeiter der Welt schien das zwar keinen besonderen Eindruck
zu machen, wenigstens rührten sie sich nicht. Auch daß Lenin den
neuen Bruderstaat mit begeistertem Bombast begrüßt hatte, brachte
der gequälten Menschheit noch lange keine Erlösung. Und es gehörte
schon ein recht gläubiges Gemüt dazu, um anzunehmen, daß durch die
Erklärung des Standrechts die wahre Freiheit begründet oder durch die
Abschaffung von Rang und Titeln den Übergriffen der Feinde Ungarns
Einhalt getan werden könne, dem Vormarsch der »Bourgeoiseroberer«,
wie jene Proklamation die Ententegünstlinge nannte, von denen jeder
einen Fetzen ungarischen Territoriums an sich gerissen hatte. Auf die
Zukunftshoffnungen einer entflammten Bekennernatur, wie mein Freund
es war, mochte aber schon die in so naher Nachbarschaft erfolgte
Schaffung der Proletarierdiktatur allein, die angeblich vollzogene
Vereinigung der gesamten Arbeiter, Soldaten und Bauern unter der Fahne
der sozialistischen Weltrevolution einen bestrickenden Zauber und eine
gewaltige Anziehungskraft ausüben. Aus diesem Grunde vermutete ich
in Budapest, dem Sitz der jüngsten Räterepublik, Karl Schudas geheim
gehaltenes Reiseziel, und zwar mit stillem Bedauern und aufrichtiger
Sorge. Denn schon damals sah es nicht danach aus, als ob Schillers Wort
»Freiheit ist nur in dem Reich der Träume« durch Tibor Szamuely und
ähnliche Gestalten bolschewistischen Gepräges widerlegt werden würde.

Den Verlauf, den das gefährliche ungarische Experiment in der
Folge genommen hat, ist bekannt. Bekannt, daß es trotz den
zweifellos hochfliegenden Plänen und edeln Absichten Einzelner
in blutige Gewaltherrschaft ausartete, das Land infolge kühnen
volkswirtschaftlichen Dilettierens ungezählte Milliarden kostete
und mit einem kläglichen Zusammenbruch endete. Vier Monate
bolschewistischer Herrlichkeit hatten genügt, dem unglücklichen
Staatswesen unendlich mehr Schaden zuzufügen als alle vorausgegangenen
schweren Jahre des Krieges zusammengenommen. Die rumänische
Armee stand, während die »Bourgeoiseroberer« wie immer von edler
Grundsätzlichkeit troffen, plündernd und raubend vor den Toren von
Budapest, und die Volkskommissare mit ihren Genossen, nachdem sie noch
einmal, kindlich genug, das Proletariat der Welt um Hilfe angerufen
hatten, beeilten sich, über die österreichischen Grenzen zu entkommen,
soweit sie nicht unter irgend einem Titel dingfest gemacht worden
waren.

Ob Karl Schuda dies alles aus unmittelbarer Nähe miterlebt oder
vielleicht sogar als tätiger Teilnehmer sich daran beteiligt habe,
blieb mir unbekannt. Ich wußte ja nicht einmal sicher, wohin er sich
damals gewendet hatte, hörte nichts mehr von ihm und war auch durch
meine eigenen Angelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen, als daß
meine Gedanken zu ihm oder in jene stille Stadt der blühenden Gärten,
wo der Zufall uns zusammengeführt hatte, noch öfters zurückgekehrt
wären.

So war ein Jahr vergangen, seit wir nach dem Begräbnis des alten
Generals am Friedhofstor voneinander Abschied genommen, als ich, in
einem Wiener Kaffeehaus rasch eine Zeitung durchfliegend, auf eine
telegraphische Nachricht aus Budapest stieß, wonach ein gewisser
Nagyhegy, rekte Souda, wegen Teilnahme an den Greueln der einstigen
Räteregierung verhaftet worden sei. Mit ihm sollte auch seine
»Konkubine«, die Tochter eines ehemaligen österreichischen Generals,
wegen Vorschubleistung zu den ihm zur Last gelegten strafwürdigen
Handlungen in Untersuchung gezogen worden sein.

Ich hatte mir für denselben Abend eine Karte in die Oper verschafft,
die bei der entsetzlich anwachsenden Teuerung ein kleines Vermögen
kostete. Ich wollte sie nicht verfallen lassen und begab mich,
nachdem ich jene Notiz mehrmals hintereinander gelesen und, da sie von
einem Korrespondenzbureau herrührte, in allen Zeitungen gleichlautend
gefunden hatte, unmittelbar aus dem Kaffeehaus ins Theater, obgleich
mir jede Lust vergangen war, die »Tote Stadt« zu hören. Aber schon
nach dem ersten Aufzug verließ ich das Parkett. Es bohrte und nagte
eine Unruhe in mir, die mich zu keinem reinen Genuß kommen ließ.
Immer aufs neue wiederholte ich mir, was ich mir schon hundertmal
wiederholt hatte: daß eine zufällige Ähnlichkeit der Umstände mich
irreführen konnte und meine Besorgnis vielleicht gänzlich überflüssig
sei; daß es viele österreichische Generale gegeben hätte und darum
auch viele Generalstöchter geben müsse, und daß der slawische Name
Souda vielleicht ganz anders ausgesprochen würde als der Karl Schudas.
Aber dennoch verfiel ich immer wieder in Traurigkeit, wenn ich mir
vorstellte, daß mein alter Schulfreund, für den ich noch immer Gefühle
übrig hatte, wie sie eben nur aus Jugendbeziehungen nachhallten,
samt seiner schönen Freundin ins Unglück geraten sein sollte. Eine
Traurigkeit, die sich bei dem Gedanken noch steigerte, daß er, verführt
durch die Glut seines gottverlassenen Erlöserwillens, vielleicht
wirklich schwere Schuld im politischen Sinne auf sich geladen und
sogar seine arme Gefährtin darein verstrickt haben könnte.

Nur eine Tätigkeit, die mir Aufklärung verhieß, konnte meine
überreizten Nerven entspannen. Ich setzte mich noch in der Nacht an
den Schreibtisch, um jenem mir allerdings nur entfernt bekannten Arzt
zu schreiben, der vor einer Reihe von Jahren, noch vor dem Kriege, in
einem zufälligen Gespräch, an das ich mich noch gut erinnerte, das
Recht der Jugend gegen die Selbstsucht des Alters in Schutz genommen
und dabei, wie ich mir damals einbildete, auf das Verhalten des greisen
Generals seiner bedauernswerten Tochter gegenüber angespielt hatte. Ich
durfte annehmen, daß er mit der Familie befreundet gewesen, und fragte
an, ob er mir von der Baronin und meinem Jugendfreunde, dem Publizisten
Karl Schuda, in dessen Gesellschaft ich sie später einigemal getroffen
hätte, Nachricht geben könne.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich an die
richtige Adresse gewendet, denn jener Arzt und Menschenfreund, der,
wie ich erst jetzt erfuhr, den alten General behandelt und seinen
Tod festgestellt hatte, nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal
der Baronin. Er wußte mir aber nichts zu berichten, als daß sie bald
nach dem Selbstmord ihres Vaters zugleich mit dem »gefährlichen
Rattenfänger«, wie er Schuda nannte, aus der Stadt verschwunden und
seither nicht mehr dahin zurückgekehrt sei. Er fürchte, daß eine
Zeitungsnachricht aus Budapest, die ihn jüngst erschreckt habe, und auf
die er mich aufmerksam mache -- das mir wohlbekannte Telegramm war im
Ausschnitt angeschlossen -- sich auf das verschollene Paar beziehe.

So wenig aufklärend diese Zeilen auch waren, so kann ich doch nicht
anders sagen, als daß ich aufatmete, während ich sie las. Wenn irgend
wer, so mußte jener Arzt es wissen, auf welche Weise der General aus
dem Leben geschieden war. Und daß er von einem Selbstmord wie von
einer unbezweifelbaren Tatsache sprach, nahm mir eine schwere Last vom
Herzen. Denn das von der Baronin geprägte Wort: »Wir müssen schuldig
werden«, vielleicht im Zusammenhang mit Karl Schudas rohem Ausspruch
»Was sinkt, soll man stoßen«, hatte Befürchtungen in mir erweckt, vor
denen mir schauderte. Jetzt hielt ich die Gewißheit in Händen, daß
wenigstens das Entehrende und Unsühnbare, das mich unüberbrückbar
von meinen Freunden geschieden hätte, nicht im Bereich des Möglichen
lag. Es gibt eine Schuld, die der Mensch verzeihen kann und darf,
die zu verzeihen sogar ein Gebot der Nächstenliebe ist. Aber es gibt
auch einen Punkt, wo Nachsicht und milde Beurteilung ein Ende haben
müssen. Nun konnte ich wieder hoffen, daß dieser Punkt nie und nirgends
überschritten worden sei.

Der erwähnte Arzt ließ die Gelegenheit nicht ungenützt, dem knappen
Tatsächlichen, das er mir übermitteln konnte, auch noch einige weitere
Ausführungen beizufügen, zu welchen das Interesse ihn reizen mochte,
das er als Seelenforscher an der Sache nahm.

Der Baronin, schrieb er, traue er in ihrer Anhängerschaft an den
politisch stark exponierten Freund ohne weiteres das Äußerste zu. Der
Tod des Generals, eines von Haus aus unleidlich rücksichtslosen, mit
sich und der Welt zerfallenen altösterreichischen Kommißoffiziers
und Leuteschinders, sei viel zu spät erfolgt, um seiner Tochter noch
rechtzeitig jene äußere und innere Freiheit zu schenken, die ihr
ohne verzweifelte Entschlüsse einen Weg zu der jeder Menschenseele
unentbehrlichen Freudigkeit eröffnet hätte. Zur Hörigkeit erzogen,
durch militärisch-bourgeoise Vorurteile in jeder natürlichen
Entwicklung gehemmt, hätte sie, im Begriffe, von der Jugend Abschied
zu nehmen, unbedingt auch seelisch dem Einfluß eines jeden unterliegen
müssen, der sie zum Weib machte, gleichgültig, ob es ein Jesuit
oder ein Bolschewik war. Darum wundere er sich auch nicht darüber,
wenn sie in Karl Schuda vielleicht etwas wie einen Erlöser und in
seinen zersetzenden Hirngespinsten ein Allheilmittel der Menschheit
erblickt hätte. Mannigfache Erfahrungen ähnlicher Art ließen ihm
den Fall, so verhängnisvoll er für die Baronin verlaufen könne, als
durchaus begreiflich erscheinen und böten die Erklärung für den damals
von ihm vertretenen Standpunkt, den wohl nunmehr auch ich besser
zu würdigen wissen werde: daß selbst liebevolle Absicht der Eltern
ein engherzig gewaltsames Niederhalten jenes besonderen Eigenlebens
nicht entschuldigen könne, auf das jede neue Generation wieder
ihren besonderen Anspruch habe. Jedenfalls sei er in diesem Punkte
gerade in seinen Kreisen so oft auf völlige Verständnislosigkeit
gestoßen, daß er die großen Opfer, die unsere Zeit fordere, nicht für
vergeblich dargebracht halten würde, wenn es ihr gelänge, die vielfach
verknöcherten Anschauungen der bürgerlichen Gesellschaft wenigstens
einigermaßen zu revolutionieren.

An die scharfe und grausame ärztliche Diagnose, der ich nicht in
jedem Punkte beizupflichten vermochte, schlossen sich noch ein paar
Bemerkungen über die Vorgänge in Ungarn, die er als gebürtiger
Siebenbürger Sachse mit besonderer Anteilnahme verfolgte. Die gesunde
Reaktion, die die Ordnung halbwegs wiederhergestellt und die friedliche
Regelung der Beziehungen zu den westlichen Gewalthabern in die Wege
geleitet hatte, war durch die Notwendigkeit, allerorts immer wieder
aufzüngelnde Flammen zu dämpfen, unausgesetzt in Atem gehalten. Es
wurde gemunkelt, daß die neue Regierung sich dabei oft nicht minder
harter Maßnahmen bediene als die alte; manche behaupteten schlankweg,
an die Stelle des roten sei nun der weiße Terror getreten. Von
diesseits der Grenzen war die Stichhaltigkeit der umgehenden Gerüchte
um so schwerer zu überprüfen, als auch die ungarische Öffentlichkeit
selbst vielfach im Dunkeln tappte. Ein dichter Schleier blieb besonders
über jene Vorgänge gebreitet, die mit der Ausrottung letzter Überreste
der verflossenen Räteregierung und mit der Verfolgung ihrer da und dort
noch verborgenen Parteigänger zusammenhingen. Unter diesen Umständen,
meinte der Briefschreiber, sei es bis auf weiteres wohl ausgeschlossen,
etwas darüber in Erfahrung zu bringen, ob Karl Schuda und seine
Freundin mit den in jenem Zeitungstelegramm erwähnten Personen
identisch seien.

Mir war es durch das gleichzeitige Verschwinden des abgängigen
Paares aus jener Stadt fast zur Gewißheit geworden, daß der wegen
revolutionärer Umtriebe verhaftete »Nagyhegy, rekte Souda« und
seine »Konkubine« für mich nicht zu den gänzlich Gleichgültigen und
Unbekannten zählten. Da aber selbst mein Gewährsmann, dem nähere
Beziehungen zu Ungarn zur Verfügung standen als mir, an jeder
Möglichkeit zweifelte, das Schicksal der beiden zu erforschen, so
erlahmte allmählich auch bei mir die Neigung, mich länger mit dieser
Angelegenheit zu beschäftigen. Und als wieder einige Zeit verstrichen
war und hundert andere, für mich wichtigere Dinge die verblassenden
Gestalten ins Dunkel des Vergessens zurückgedrängt hatten, wurden sie
mir allmählich zu Abgeschiedenen, an die zu denken man kaum noch Zeit
findet, und denen jemals wieder zu begegnen man endgültig verzichtet
hat.

Aber die Welt ist nicht ganz so groß, wie sie uns manchmal scheinen
will. Und wie wir von Menschen, die in derselben Stadt mit uns wohnen,
und die unser Dasein, wären wir mit ihnen in Berührung gekommen,
vielleicht unsäglich bereichert hätten, oft unser ganzes Leben lang wie
durch einen Ozean getrennt bleiben, so kommt es anderseits auch vor,
daß weit auseinanderführende Wege unversehens wieder in einem Punkt
zusammenlaufen, sich kreuzen, sich schneiden, und daß gerade in dem
Augenblick, wo wir diesen Kreuzungspunkt passieren, ein Mensch dort
sitzt und von der Wanderschaft ausruht, der uns irgendwie einmal lieb
gewesen ist, und den wir längst für hoffnungslos verschollen gehalten
hatten.

Solch eine außerhalb jeder Berechnung liegende Begegnung brachte
auch mir um Weihnacht 1920, also reichlich anderthalb Jahre
nach jenen Frühlingstagen, in denen ich durch Karl Schuda die
persönliche Bekanntschaft der schönen Generalstochter gemacht hatte,
unvorhergesehene Aufklärung darüber, was aus ihm und seiner Freundin
geworden sei. Erwünscht und doch nicht wünschenswert, reifte mir
aus diesem unselig abgeschlossenen Doppelleben die bittere Frucht
der Erkenntnis entgegen, daß wir in eine Zeit hineingeboren zu sein
das Unglück haben, deren überreizte Phantasie in der Erfindung
beklagenswerter Schicksale sich nicht genugtun zu können glaubt.

Eine Gesellschaft edler Frauen, an deren Spitze eine der
opferwilligsten Wohltäterinnen Wiens stand, hatte schon vor mehreren
Jahren aus privaten Mitteln eine Anstalt ins Leben gerufen, in der
durch Höhenluft und -sonne der Todeskeim bekämpft werden sollte, den
die Not des Krieges und mehr noch des Friedens in die Brust so vieler
Darbenden gesenkt hatte. Die Heilstätte lag in den steirischen Bergen,
hoch oben in der Nachbarschaft der Felsen, und war ausschließlich
dem weiblichen Geschlecht, den Hilflosesten der Hilflosen, gewidmet,
gewährte aber bisher, da man versuchsweise vorgehen und sich erst
allmählich erweitern wollte, bloß einer Anzahl von gegen zwanzig
Leidenden Aufnahme, ein Tropfen auf den brennend heißen Stein des
allgemeinen Elends. Jetzt sollte das Unternehmen auf breitere Grundlage
gestellt und die Anteilnahme der Öffentlichkeit dafür geweckt werden.
Vor allem galt es, eine mit Lichtbildern ausgestattete Werbeschrift
in die Hände jener Wohlhabenden und dabei opferbereiten Mitbürger
gelangen zu lassen, deren es noch immer gab, und als gerade um jene
Weihnachtszeit die Vorsteherin mit dem Ersuchen an mich herantrat,
meine Feder in den Dienst der guten Sache zu stellen, zögerte ich
keinen Augenblick mit meiner Zusage und machte mich trotz der
strengen Kälte in Gesellschaft des Lichtbildners auf den Weg nach dem
verschneiten steirischen Marktflecken, der den Ausgangspunkt für die
Bergwanderung bildete.

In Begleitung des jungen und rüstigen Bezirksarztes, der uns am Bahnhof
erwartet hatte, traten wir bald nach unserer Ankunft durch glitzernden
und knirschenden Schnee den Aufstieg zur Höhe an. Es war ein
prachtvoller Wintertag, himmelblau und weiß, jedes Zweiglein des Waldes
von Kristallen des Rauhfrostes flimmernd, jedes stürzende Wässerlein
ein Wunderbau vereister Tropfsteingebilde. Und als wir nach zwei
Stunden scharfen Steigens die mit weißen, flaumigen Kissen bedeckte
Bergstufe erreichten, auf der die Heilstätte siedelte, machte sich die
rätselhafte Erscheinung der Sonnenstrahlung so wohltuend fühlbar, daß
wir die Röcke ablegen und auf dem Arme tragen mußten, um uns später
beim Eintritt ins Haus nicht der Gefahr einer Erkältung auszusetzen.

Der Bezirksarzt, der tagtäglich zu jeder Jahreszeit diesen Weg
zurücklegte, war selbstverständlich für die unbeschreibliche Schönheit
des Hochgebirgswinters nicht ganz so empfänglich mehr wie wir, billigte
aber die Absicht des Lichtbildners, das Hauptgewicht auf Naturaufnahmen
zu legen. Den Menschenfreunden, die man zur Zeichnung von Anteilen zu
bestimmen hoffte, sollte doch eine rechte Augenlust geboten werden,
um die Berg- und Sonnenfreude in ihnen zu wecken. Vom Hause selbst,
indessen ich es besichtigte und mich über seine Verhältnisse eingehend
unterrichtete, wurden deshalb nur die günstigsten Anblicke auf die
Platte gebannt und insbesondere der Liegehalle nicht vergessen, wo
eine Reihe schwerkranker Frauen, bis ans Kinn in Decken gehüllt, sich
sonnte, die heilkräftige Alpenluft atmend.

Während hierauf mein Arbeitsgenosse mit Kamera und Stativ sich
aufmachte, die dankbarsten und bezeichnendsten Punkte der näheren
Umgebung auszukundschaften und im Bilde festzuhalten, verweilte ich
noch im Gespräch mit dem Arzte an der Sonnenseite des Hauses im Freien,
mein Taschenbuch mit den für mich wissenswertesten Auskünften füllend,
die der wohlbewanderte Fachmann mir bereitwillig gewährte, als eine
Pflegerin mit der Bitte an mich herantrat, vor Verlassen der Anstalt
die Stelle 9 aufzusuchen: die Kranke, die dort liege, wünsche mich zu
sprechen. Nicht ohne Befremden, aber gespannt, wer hier etwas von mir
wollen und worum es sich dabei handeln könne, beschloß ich, der Bitte
unverzüglich zu willfahren, entschuldigte mich bei dem Arzt und folgte
der Pflegerin, die mich den sich sonnenden Patientinnen entlang zu dem
mit Nummer 9 bezeichneten Liegeplatz geleitete.

Eine bleiche Frau mit großen, vergeistigten Augen erwartete mich
sehnsüchtigen Blicks. Sie versuchte, als ich mich näherte, sich
aufzurichten, was ihr nicht gelingen wollte, da sie wie ein Kind im
Steckkissen eingepackt lag. Als aber die Pflegerin sie zurechtweisend
ermahnte, ihre Stellung nicht zu verändern, gab sie sich schließlich
darein, sich notgedrungen darauf beschränkend, mir mit dem Kopfe
zuzunicken. Höflich grüßend, ohne sie zu kennen, trat ich an ihre
Liegerstatt heran und fragte, womit ich ihr dienen könne.

Ihre Stimme war tonlos und dünn wie ein Faden, ich beugte mich zu
ihr nieder, da mir ihre mehr gehauchten als gesprochenen Worte
unverständlich geblieben waren. Sie wiederholte, ob ich mich ihrer denn
nicht mehr erinnere, und nannte ihren Namen ...

Ich fuhr zurück, suchte mich aber rasch zu fassen. Die vor mir lag, war
eine Schwerkranke auf der letzten Stufe der Auszehrung. Trotzdem zeigte
der Schnitt des Gesichts, von der Seite gesehen, noch immer Spuren von
Schönheit, die klare, nur etwas allzu strenge Linie einer antiken
Gemme.

Es mochte sich doch etwas wie Bestürzung in meinen Mienen gespiegelt
haben. Tieftraurig stammelte sie: »Ich habe mich verändert -- nicht
wahr?« Und während Tränen in ihre Augen traten, die neben den hageren,
eingefallenen Wangen und Schläfen fast übergroß erschienen, sagte sie
bewegt: »Das waren glückliche Tage damals ... Richtige Frühlingstage
... Als wir noch mit Karl Schuda ... Sie erinnern sich doch?«

Die Tränen flossen über und kollerten in die ausgehöhlten Wangen
nieder. Hilflos lag sie da wie eine Mumie. Ich blickte um mich, knapp
hinter mir stand das nächste Bett. Keine Möglichkeit, an ihrem Lager
Platz zu nehmen. Das Reden strengte sie an, so tief ich mich auch
zu ihr herabneigte. Ich kniete nieder, auf die steinernen Fliesen,
knapp an ihrer Seite, wie vor dem Unglück selbst demütig auf die
Knie gezwungen. Wie vor dem Fluch und Jammer, wie vor dem bitteren
Leidenskelch der ganzen Menschheit lag ich vor ihr auf den Knien.
Zerknirscht, in Ehrfurcht, wie vor einem Bilde der schmerzhaften
Mutter. So kniete ich überströmend von Mitleid zur Seite dieser
weinenden Frau auf den steinernen Fliesen des Bodens, mich nahe über
ihr Antlitz beugend.

Und ich drückte mein Taschentuch gegen ihre Augen und trocknete ihre
Tränen. Mein Kopf lag fast an ihrer Brust. »Nun können Sie ganz leise
sprechen. Ich höre Sie.«

»Ja -- was ich Ihnen sagen wollte ... Es waren Ideale, für die er
kämpfte ... Für Menschheitsziele hat er sich geopfert ... Es ist
eine Lüge, daß er ein Verbrecher war! ... Seine Gegner haben sie
ausgesprengt, die Rückschrittsmänner! ... Diese Bluthunde! ... Nur
um ihre Schandtat zu rechtfertigen!« Ihr Auge flammte in wildem Haß.
»Himmelschreiend ist es,« fuhr sie leidenschaftlich fort, »was alles
sie ihm nachsagen! Aber Sie glauben es doch nicht?« schloß sie. »Sie
bewahren ihm doch ein treues Angedenken?«

In banger Erwartung hob sie den Kopf vom Kissen und forschte gespannt
in meinen Zügen. Ich nickte stumm, während ich ihr fest ins Auge
blickte. Es war wie ein feierliches Gelöbnis, das ich ablegte, ich
fand nicht die Kraft, es ihr zu versagen, obgleich ich nichts Näheres
darüber wußte, ~was~ man unserem Freunde eigentlich zur Last
lege, und noch weniger, wessen er sich in Wahrheit schuldig gemacht
hatte. Indessen erreichte ich wenigstens mein Ziel. Der gepeinigten
Frau fiel offenbar ein Stein vom Herzen, sie ließ den Kopf zurücksinken
und atmete tief auf, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. Abermals
trocknete ich mit meinem Tuche ihre Tränen, die nun in sichtlicher
Erleichterung reichlicher flossen.

Ein roter Fleck beiderseits hatte sich über ihren Backenknochen
festgesetzt. Der kurze Atem flog, das Fieber schüttelte sie.

»Das war es ...« nur stoßweise brachte sie die Worte über die Lippen,
»was ich Ihnen ... sagen wollte. Das war es ... was ich von Ihnen ...
hören wollte ... Nun weiß ich doch ... daß wenigstens Sie ... an ihn
glauben ... Er schätzte Sie sehr.«

Hundert Fragen lagen mir auf der Zunge. Ich konnte, ich durfte nicht
fragen. Der Anblick der Beklagenswerten zerriß mir das Herz. Ich
empfand es als Pflicht der Nächstenliebe, ihre Gedanken in andere
Bahnen zu lenken. Ich pries die Großartigkeit dieser Berglandschaft,
die Schönheit des Alpenwinters, die Heilkraft der Luft, den Segen der
Sonne. Ich sprach die Hoffnung aus, daß sie genesen würde.

Sie aber bewegte nur abweisend das Haupt. Es schien mir, daß sie
mit dem Leben abgeschlossen habe, ja, daß sie es ehrlich bedauerte,
überhaupt noch am Leben zu sein. Denn ich zweifelte keinen Augenblick,
daß es ihr ernst damit war, als sie nun in einem Stoßseufzer, der zwar
nicht geradezu, für mich aber verständlich genug, die drängendste
meiner unausgesprochenen Fragen beantwortete, ihr innerstes Sehnen
zusammenfaßte: »Hätte man doch auch mich gerichtet!«

Welch schaurigen Abgrund rissen doch diese wenigen, knappen Worte vor
mir auf! Welch schreckliche Einblicke gewährten sie! Was alles ließen
sie mich ahnen, welch ein wildes, grausiges Erleben! Wieviel Entsetzen,
Haß und Todesbangen, wieviel Beängstigung, Gram und Verzweiflung --
vergossenes Blut, vergossene Tränen! Nun blieb mir kein Zweifel mehr
darüber, auf welche Weise Karl Schuda geendet hatte. Tief erschüttert
verharrte ich in Schweigen. Die lange Kette der verschneiten, in der
Sonne glänzenden Hochgipfel draußen in der Ferne verschwamm mir vor den
Augen. Der Arzt ging an der Halle vorüber. Er mochte sich wundern, mich
an der Seite einer Kranken auf dem Fußboden knien zu sehen. Es war mir,
als hätte er mir einen mahnenden Blick zugeworfen, jede Erregung der
Schwerleidenden zu vermeiden. Auf alle Fälle sah ich die Notwendigkeit
ein, mich zusammenzunehmen.

»Es war gewiß sein heißester Wunsch,« sagte ich, mich aufrichtend, »Sie
dem Leben erhalten zu wissen.«

»Oh, es kommt doch auf dasselbe hinaus ... An seiner Seite wär's mir
leichter geworden ... Und auch rascher gegangen ... Der Keim, da in
der Brust ... In der Untersuchungshaft ... in den feuchten, finsteren
Löchern ... zusammengepfercht mit Gesindel ... da holte ich ihn mir ...
Man hat uns auseinandergerissen!« klagte sie. »Mich sprachen sie frei
... Als ob mir das Leben noch etwas gelten könnte! ... Es sollte mir
nicht vergönnt sein, gemeinsam mit ihm ...«

Ein heißes, tränenloses Aufschluchzen, und plötzlich weiteten sich
ihre Pupillen, als ob sie etwas Entsetzliches schaute. Mit einer
gewaltsamen Bewegung entwand sie sich den umhüllenden Decken, rang die
Arme frei und richtete sich auf, mit dem Ellenbogen gegen die Kissen
gestützt. »Das ist die Sühne, verstehen Sie,« stieß sie hervor, den
visionären Blick in weite Fernen gerichtet. »Mein Vater hat auch einsam
sterben müssen ... Ich wußte es doch ... ich ahnte es wenigstens, daß
es schlimm um ihn stünde ... daß er sich kränkte, weil seine Tochter
... Ach! ... Geschäftige Zungen hatten es ihm hinterbracht ... Und er
kränkte sich darüber ... Man hätte ihn nicht allein lassen dürfen ...
das wußte ich ... Und ließ ihn dennoch allein!«

Mochte sie doch bekennen, wenn es sie nur erleichterte! Wie oft
hatte ich gehört, daß Sterbende ganz ruhig und sogar heiter wurden,
sobald sie gebeichtet und die Lossprechung empfangen hatten. Ach,
loszusprechen war freilich meines Amtes nicht, aber diese Schuld
wenigstens, so schwer sie war, konnte ich doch verstehen, und was ein
Mensch am anderen versteht und begreift, das ist vielleicht auch vor
einem höheren Richterstuhl verziehen. In meinen Augen reinigte ihr
Bild sich schon durch das bloße Bekenntnis. Ihr sittliches Fühlen
konnte seine Zartheit nicht eingebüßt haben, sonst hätte sie ihr
Verfehlen nicht so bitter empfunden. Aber wie immer -- ich sah ein,
daß es vor allem darauf ankam, ihrem leidenden Zustand Rechnung zu
tragen. Entschlossen erhob ich mich, nahm sie in meine Arme, wie eine
Pflegerin es tut, und suchte sie mit sanfter Gewalt in die Kissen
zurückzuzwingen. Vergeblich! Denn sie widersetzte sich, überhörte meine
Mahnung, sich nicht unnötig zu quälen, meine Drohung, daß ich es nicht
verantworten könne, länger bei ihr zu verweilen, wenn sie nicht davon
ablasse, gegen sich selbst zu wüten. Heftig faßte sie meinen Arm und
rüttelte daran. »Sie glauben doch an eine Sühne, die der Schuld folgen
muß?« flüsterte sie, Wahnsinn in den Augen. »Karl Schuda glaubte nicht
daran ... Aber hierin irrte er ... Es ist so, ich weiß es ... Und es
ist gut, daß es so ist, das ist ja unser Trost ... sonst müßten wir
ja verzweifeln ... Und sehen sie nun ... das ist der Grund, warum ich
einsam sterben muß ... so wie mein Vater einsam gestorben ist!«

»Baronin, ich bitte Sie, wenn Sie so fortfahren ... Nein! Nun will ich
gehen ... Leben Sie wohl!«

»Nein, nein, bitte! ... Ich gehorche ... Was verlangen Sie von mir?
Gott! Ja! Nun will ich ganz ruhig liegen!«

Erschöpft ließ sie sich in die Kissen zurücksinken und lag nun wirklich
still, mit geschlossenen Augen. Ihre Brust arbeitete schwer. Aber ein
liebliches Lächeln, unerwartet erblüht, spielte jetzt um ihre Lippen.
Und immer ruhiger wurde ihr Atem und immer lieblicher dieses Lächeln,
das das ganze Antlitz verklärte. Nach einer Weile sagte sie völlig klar
und beruhigt, noch immer mit geschlossenen Augen: »Sehen Sie, das ist
das Rätsel ... für das ich sowenig kann wie irgend wer: daß ich trotz
allem ... doch nichts daran ändern möchte ... Ich liebte ihn ... Ich
wurde schuldig ... Und ich büße ... Es war das Leben!«

Das sanfte, verklärte Lächeln blieb um ihre Mundwinkel schweben. Sie
glich jetzt, wie sie regungslos dalag, einer Toten, die in Erwartung
der ewigen Seligkeit entschlummert ist. Nur die Brust, die sich nunmehr
ganz stetig auf und nieder bewegte, zeigte an, daß noch Leben in ihr
sei. Ich hoffte, der Schlaf würde sie überwältigen. Und nachdem ich sie
noch eine Zeitlang still für mich betrachtet und unter mannigfaltigen
Gedanken im Geiste von ihr Abschied genommen hatte, erhob ich mich
behutsam, legte die zurückgeschlagenen Decken vorsichtig wieder zurecht
und war eben im Begriff, mich leise zu entfernen, als nach wenigen
Schritten ein Anruf mich zurückhielt.

»Nehmen Sie, bitte,« sagte sie, neuerdings auf ihrem Lager
emporgerichtet, und streckte die Hand gegen mich aus. Ich fühlte einen
kleinen, harten, kalten Gegenstand, den sie rasch von ihrer Armkette
genestelt hatte, in meine Hand gleiten ... »Ein Andenken ... an mich
... an ihn ... das einzige, was mir von ihm geblieben ist ... Ich hätte
mich nie davon trennen können, wüßte ich nicht ... Bitte, tun Sie mir
den Gefallen!«

In demselben Augenblick sank sie zurück, ihre Brust hob und senkte sich
nicht mehr. Kein Geräusch des Atmens. Ich griff nach der Hand, sie war
noch warm, erwiderte aber nicht meinen Druck. Bestürzt winkte ich die
Schwester herbei, die sich mit kühler Kennerschaft langsam über sie
beugte. Als sie sich wieder aufrichtete, sagte sie mit dem unbewegten
Gesicht der Pflegerinnen: »Es ist vorüber. Sieht sie nicht wie eine
Schlafende aus?«

In der Tat schwebte noch dasselbe liebliche, friedsame, verklärte
Lächeln um ihre Lippen wie vorhin, da ich mir eingebildet hatte, sie
schlafe. -- -- --

                   *       *       *       *       *

Während ich diese Zeilen zu Papiere bringe, sieht mir ein stummer Gast
aufmerksam dabei zu. Er wendet keinen Blick von mir, verfolgt jede
meiner Bewegungen, beobachtet mich unausgesetzt mit seinen kalten,
undurchdringlichen grünschillernden Augen.

Es ist eine kleine Sphinx aus schwarzem Basalt, die auf dem Aufsatz
meines Schreibtisches steht.

Sie ist überaus fein gearbeitet, in Gold montiert, oben mit einem
kleinen Ring versehen, so daß man sie auch als Anhänger tragen kann,
und in den dunkeln Stein sind zwei winzige blitzende Smaragden
eingesetzt, genau an der Stelle, wo die Menschen die beiden Fensterchen
haben, durch die sie die Bilder dieser Welt in ihre Seele hineinlassen,
um sich an ihnen zu erfreuen. Die kleine Sphinx besitzt aber leider
keine Seele, wenigstens habe ich etwas dergleichen bei ihr noch nie
bemerkt, und hat auch an nichts eine wahre Freude, höchstens am
Bösen. Daher kommt es wohl auch, daß ihr Gesichtsausdruck eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem eines Menschen ohne Seele hat: er ist hart,
verschlossen, grausam und mitleidlos.

Schon manchmal wandelte mich deswegen die Versuchung an, den
unheimlichen kleinen Popanz von seinem angestammten Platz über meinem
Schreibtisch zu entthronen und in das Verlies irgend einer dunkeln
Schublade zu verbannen. Aber dann denke ich wieder, daß es keinem
Menschen schaden kann, wenn er dauernd ein Memento vor Augen hat. Und
in dieser Hinsicht erfüllt die grünäugige Sphinx ihre Aufgabe. Erinnert
sie mich doch an die arme Unglückliche, die sie mir sterbend einst als
Andenken in die Hand gedrückt hat, hoch oben in den Bergen, als ich
für immer von ihr Abschied nahm. Und erinnert mich zugleich an den
verewigten Freund, an dessen Uhrkette ich sie eines Tags zu meiner
peinlichen Überraschung hängen sah, und der sie vermutlich zum Siegeln
benutzt hatte.

Im Grunde genommen ist sie nämlich nichts weiter als ein Petschaft. Und
vielleicht waren es nur meine eigenen unbeaufsichtigten Gefühle, die
-- wenigstens zuzeiten und in gewissen Augenblicken -- die Vorstellung
des Unheimlichen oder gar Übelwollenden in die stumme kleine Gestalt
hineintrugen. Dann hätte ich ihr freilich bitter unrecht getan. Konnte
sie denn etwas dafür, daß die Initialen +K+ und +S+, die
in kunstvoller Verschlingung auf ihrer unteren Fläche in den Stein
geschnitten sind, zufällig mit den Anfangsbuchstaben des Namens Karl
Schudas, meines verstorbenen Freundes, übereinstimmten? Aber manchmal
sind wir wie die Kinder, die die Tischecke für boshaft halten und nach
ihr schlagen, weil sie sich daran gestoßen haben.

Auf alle Fälle habe ich mich inzwischen an den Anblick der kleinen
schwarzen Sphinx gewöhnt. Sie ist mir allmählich zum Sinnbild geworden,
das mich stetig daran mahnt, wie leicht in Zeiten schwankender Begriffe
selbst der Hochstehende und im Grunde Vornehmdenkende auf Abwege
geraten kann. Darum soll sie auf meinem Schreibtisch stehenbleiben.
Und soll mir, sooft ich sie erblicke, das Schicksal jener beiden
Heimgegangenen ins Gedächtnis zurückrufen, deren Verlust ich, so wenig
ich ihre Überzeugungen teilen und ihre Handlungen billigen konnte, aufs
schmerzlichste beklage.

Sie haben gebüßt und gesühnt, ich halte ihr Andenken in Ehren. Bei all
ihren Verfehlungen waren sie doch Entschlossene, sie weigerten dem
Leben nicht den harten Zoll, durch den wir uns die Freiheit erkaufen,
uns selbst und die als eingeboren empfundene Sendung zu erfüllen. Und
wenn ich an sie zurückdenke, den Blick von meiner Arbeit hebe und
die kleine schwarze Sphinx aus Basalt vor mir über dem Schreibtisch
erblicke, wie sie mich mit ihrem grünschillernden Augenpaar so kalt
und starr, fast drohend anfunkelt, dann kommt es mir wohl einmal in
den Sinn, ihr jene dunkle Schicksalsfrage vorzulegen, mit der sich
einst, in einer dufterfüllten Frühlingsnacht, die unglückliche Frau,
die durch die Schuld zum Leben erweckt wurde, an die tausend fühllosen
Sterne wendete, die wie ebenso viele unergründliche Geheimnisse über
uns am Himmel standen: »Ist Leben und Schuldigwerden vielleicht ein und
dasselbe?«

Aber ich weiß es im voraus: ich frage vergebens. Die kleine düstere
Gestalt bleibt stumm und gibt keine Antwort ...




                              Der Mieter


Es wird behauptet, daß der stete Umgang mit Zahlen verknöchert, das ist
aber gar nicht richtig. Wenigstens nicht immer. Es kommt dabei wie bei
so vielem ganz auf den betreffenden Menschen an.

Herr Pleß war eine so liebenswürdige Natur, daß er auch mit den
Zahlen liebenswürdig umging. Und darum taten auch sie ihm nichts
zuleide. Schon als Praktikant, später als Offizial und noch später als
Oberoffizial trug er sie so reinlich, sorgfältig und behutsam in die
riesigen Kassa- und Kontrollbücher ein, daß sie selbst ihre Freude
daran hatten. Wie Soldaten, die voll Zutrauen zu ihrem Vorgesetzten
aufblickten, standen sie stramm in Reih und Glied, und niemals kam es
vor, daß sich eine in eine falsche Spalte verirrte. Sie nahmen sich
ordentlich zusammen, ihm nur ja keine Ungelegenheiten zu bereiten. Und
das taten sie alles nur ihm zuliebe.

Weil sie nämlich wußten, daß er sie nicht geringschätzte wie mancher
andere Beamte. Weil sie ein Gefühl dafür hatten, daß er sich nicht
bloß aus dem schnöden Grunde mit ihnen beschäftigte, um sein Gehalt zu
beziehen. Sie spürten es genau: er hatte Freude an seiner Tätigkeit,
wenn es auch keine sehr geistreiche Tätigkeit war. Nein, eine
geistreiche, irgendwie hervorragende Tätigkeit war es wirklich nicht,
die Herrn Pleß oblag, aber bis zu einem gewissen Grade läßt sich
beinahe jeder Arbeit Reiz abgewinnen, es kommt nur auf den Geist an, in
dem man sie verrichtet.

Herr Pleß hatte viele Amtsgenossen, und die meisten waren verdrossen.
Über alles was sie zu tun hatten, schimpften sie und nannten ihren
Beruf ein Saugeschäft. Rein verblöden müsse der Mensch dabei, wenn man
sich nicht wenigstens soweit, als es ohne Gefahr einer Disziplinierung
geschehen könne, um den Dienst herumzudrücken wisse. Das war so
ungefähr die allgemeine Meinung.

Wenn er dergleichen äußern hörte, dann sah der Herr Rechnungsrat --
denn das war Pleß nach und nach geworden -- den Betreffenden ganz
erschrocken und bekümmert an und sagte voll Gutmütigkeit: »Aber lieber
Herr Kollege! Verbittern Sie sich doch nicht das Dasein!«

Es kam freilich vor, daß auch er bei der trockenen Arbeit schwitzte --
wie das öde Wandern durch eine endlose Wüste war es manches Mal! Aber
nebenher bereitete es ihm doch immer ein gewisses Vergnügen, alles
so schön und sauber in Ordnung zu halten. Man spürte dabei, daß man
nicht ganz überflüssig war. Wenigstens für ein winziges Rädchen oder
Schräubchen an der großen Maschine durfte man sich immerhin halten. Und
das war schließlich doch auch etwas!

Die Kollegen tuschelten untereinander: es könne nicht anders sein,
der Pleß müsse irgend einer geheimen Leidenschaft fröhnen. Er rauchte
nicht, er spielte nicht, er trank nicht, er saß nicht im Gast- oder
Kaffeehaus, er ging in kein Theater, trieb keine Musik, machte nur
selten einen Ausflug, verbrachte sogar seinen Urlaub in der Stadt -- du
lieber Himmel, irgend etwas muß der Mensch doch haben, um sich von den
Zahlen und der Familie zu erholen.

Damit hatten sie wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen.

Der Herr Oberrechnungsrat -- diese letzte Stufe seiner Leiter erklomm
er kurz vor Ausbruch des Krieges -- sammelte insgeheim Bücher.
Nicht etwa Vorzugsdrucke in kostbaren Einbänden -- beileibe! Dazu
reichte es nicht. Er begnügte sich mit guten landläufigen Ausgaben:
Klassiker, Romantiker und jüngere Schulen, Antike und Moderne,
Inländer und Ausländer, vieles nur in Reclambändchen -- wie wohlfeil
damals und dabei ganz nett! So hatte er im Verlauf einer bald
fünfunddreißigjährigen Dienstzeit ein ganzes Zimmer seiner Wohnung mit
Büchern austapeziert.

In diesen Geistesschätzen steckten die Zigarren, die er nicht rauchte,
das Kaffeehaus, das er nicht besuchte, die Sommerfrische, auf die er
verzichtete.

In ihnen fand er das Gegengewicht gegen die Zahlen. Er liebte sie, um
die Wahrheit zu gestehen, doch noch mit einer ganz anderen Liebe als
diese. Und wenn er ein Buch aus dem Regal nahm, oder wieder einstellte,
dann tat er es noch um vieles behutsamer und sorgfältiger, als wenn er
lange Kolonnen von Ziffern aneinanderreihte.

Aber er verheimlichte seinen Besitz und die Neigung, die ihn veranlaßt
hatte ihn aufzustapeln. Das war das einzige Geheimnis, das er hatte.

Er kannte sich zur Genüge, um zu wissen, daß er nicht hätte nein sagen
können und völlig wehrlos gewesen wäre, wenn jemand ihn um ein Buch
angesprochen hätte. Nun, und was das Ende davon ist, wenn man ein
Buch verleiht, das wußte er auch. Darum verriet er sich mit keinem
Sterbenswörtchen und ließ es niemand merken, wie belesen er war.
Manchmal fiel es ihm schwer genug, sich so geschickt zu verstellen,
es gab Augenblicke, wo er sich fast wie ein Betrüger vorkam. Es war
aber auch die einzige Hinterhältigkeit gegen Amtsgenossen und sonstige
Mitmenschen, die in seinem wohlwollenden und grundgütigen Herzen einen
Boden fand.

Das Zimmer, in dem die Bücher standen, hieß das Bücherzimmer, und das
war wie ein Heiligtum. Am Abend saß er dort mit seiner Frau und seinen
beiden Kindern und las ihnen vor. Die großen Geister der ganzen Welt
kamen dann in die bescheidene Beamtenwohnung zu Besuch. Wenn ja einmal
etwas wie Verdrossenheit ihn anzuwandeln drohte, so fanden sie sich
pünktlich ein, ihn aufzurichten. Sie trösteten ihn, wenn Sorgen ihn
beunruhigten, und wenn die Zahlen einmal zudringlich wurden und ihn
bis in seine Häuslichkeit verfolgen wollten, so machten sie husch! und
scheuchten sie weit fort.

Das Beste an der Sache aber war, daß sie ihm halfen, seine Kinder
erziehen. Nein, sie halfen ihm nicht nur dabei, sie übernahmen sogar
selbst das schwierige Amt der Erziehung. Er konnte völlig davon
absehen, Predigten zu halten, oder überhaupt etwas zu sagen, und das
paßte ihm gerade. Er zog es ohnedies vor zu schweigen, von Haus aus war
er schwer von Ausdruck und redete nicht gerne, wenn es nicht unbedingt
nötig war. Und hier war es wirklich nicht nötig, die Führer der
Menschheit in eigner Person nahmen es ihm ab, sie sprangen für ihn ein,
ergriffen an seiner Statt das Wort. Er brauchte weiter gar nichts tun
als vorlesen, alles andere besorgten die hohen Seelen, die er in sein
geheimes Bücherzimmer zu Gast lud. Und sie widmeten sich ihrer Aufgabe
mit solcher Gewissenhaftigkeit und Hingebung, daß Herrn Plessens
Kinder mit der Zeit zu prächtigen jungen Leuten heranwuchsen und aus
dem Knaben, ehe der Vater sich dessen recht versah, ein gesunder,
freudiger, herzensreiner Jüngling von seltener Tüchtigkeit, aus dem
Mädel aber eine ebensolche Jungfrau geworden war.

Eben in jenem Vorkriegswinter, wo Herr Pleß nach langem, beharrlichem
Warten und wiederholten Enttäuschungen endlich zum Oberrechnungsrat
vorgerückt war, trat leider auch ein sehr trauriges Ereignis ein,
das ihm jede Freude an der wohlverdienten Beförderung zerstörte. Das
Schicksal brach ein Blatt aus dem vierblättrigen Klee der wackeren,
frohgemuten Familie, die Gattin und Mutter schied aus dem still
verborgenen Abendkreise des Bücherzimmers. Gerade jetzt, wo sie eine
Frau Oberrechnungsrat gewesen wäre und sich ein bißchen leichter hätte
tun können! Denn das Gehalt war all die Jahre hindurch recht knapp
gewesen, und es mußte doch auch noch immer etwas übrigbleiben für die
Bücher.

Das Vorlesen, als er es nach einiger Zeit wieder aufnahm, kam Herrn
Pleß jetzt hart an. Die arbeitsamen Hände unter der Lampe fehlten, und
wenn er vom Buch aufblickte, so vermißte er das zustimmende Lächeln,
das aufleuchtende Auge, das ihn sonst ermuntert hatte, fortzufahren.
Nun hieß es, sich ausschließlich an die Jugend halten. Dort gab es
freilich auch noch bereitwilliges Verständnis genug -- aber es blieb
eben die Jugend, die lebt wieder ihr eigenes Leben. So ganz das gleiche
und restlose Übereinstimmen wie früher war es jetzt doch nicht mehr.

Wie zufrieden indessen hätte er immerhin noch sein können -- erst
nachträglich sah er es ein -- wäre wenigstens diesem Zustand Dauer
beschieden gewesen! Aber nur allzubald, so stand es in Herrn Plessens
Schicksalsbuch geschrieben, sollte das Vorlesen überhaupt ein Ende
nehmen.

Mit seiner blutigen Knochenhand griff der Krieg ins stille Bücherzimmer
und riß die Jugend von der Seite des Vaters. Nun fehlten auch die
frischen, aufmerksam lauschenden Gesichter unter der Lampe, und der
Herr Oberrechnungsrat war stumm geworden und saß allein am vereinsamten
Lesetisch.

Verschlossen und gequält saß er da und las und las -- aber selten und
immer seltener ein Buch. Dazu fehlte die Sammlung, die Tagesereignisse
rissen an den Nerven, das Herz schnürte sich ihm zusammen. Die
Seelennot war zu drängend, die Verirrung der Menschheit zu groß, als
daß die führenden Geister ihr Antlitz nicht abgewendet hätten. Sie
verstummten, ebenso wie Herr Pleß verstummt war, hüllten sich in
Schweigen, weil auch sie nicht mehr zu raten und zu helfen wußten.

So las er jetzt fast nur mehr Zeitungen, immer nur Berichte aus dem
Feld, immer wieder nichts als Zeitungen. Die Tagesereignisse schrien so
laut, daß sie alles andere übertönten, und so peinigend dieses Geschrei
auch war, man legte die Hand ans Ohr und horchte, damit einem nur ja
nichts entgehe, und lauschte voll Spannung, um auch den letzten, den
fernsten, den dunkelsten Unterton noch mit zu erlauschen. Oh, wenn man
den Tagesereignissen hätte entfliehen können! Denn hinter ihnen lag das
Unheil auf der Lauer und das Entsetzen.

Zweimal hintereinander, im kurzen Abstand von kaum zwei Jahren zuckte
erbarmungslos der Blitzstrahl aus dem Zeitungsblatte und traf Herrn
Pleß ins Vaterherz.

Seit sein Sohn bei Limanowa gefallen war, schien der Oberrechnungsrat
die Zahlen nur noch lieber gewonnen zu haben als sonst. Von früh bis
spät brütete er über Aktenbündeln und Bureauscharteken, in manche
rubrizierte Spalte trug er mit seiner zierlichsten Schrift ganze
Heersäulen von Ziffern ein. Vom Essen und Schlafen abgesehen, saß er
fast ununterbrochen im Amt.

In dieses war kürzlich ein neuer Kollege eingetreten, ein Anfänger
und Stellenanwärter, dem Pleß sich gefällig erwiesen hatte. Denn
obgleich gewisse Bedenken gegen die Aufnahme vorlagen, so hatte seine
Gutmütigkeit ihn veranlaßt, sich wohlwollend für den jungen Menschen
einzusetzen und ihm den Weg zu ebnen.

Dieser Herr Scheinemann stellte ihn einmal wegen seines Fleißes
gewissermaßen zur Rede, indem er fragte: »Sie lassen sich doch
Überstunden ersetzen, Herr Oberrechnungsrat?«

Herr Pleß hob den Blick vom Schreibtisch und richtete ihn ganz verloren
auf den Fragenden. Es waren Augen fast wie die eines Verrückten, mit
denen er ihn anstierte.

»Freilich! Natürlich! Überstunden!« sagte er höflich ... »Bitte, lassen
Sie sich nicht aufhalten ...«

Und mit einer unzweideutigen Handbewegung wendete er sich wieder seiner
Arbeit zu.

Der ungeheuer gesteigerte Amtseifer war übrigens nicht von allzulanger
Dauer. Er erlahmte, brach gleichsam in sich selbst zusammen unter dem
Eindruck der Nachricht, daß auch das zweite Kind, die Tochter, dem
Kriege zum Opfer gefallen war. Pflegeschwester auf einem galizianischen
Samariterzug, hatte sie sich mit Typhus angesteckt und wochenlang
nichts mehr von sich hören lassen. Bis schließlich die Todesnachricht
eintraf.

Kurze Zeit danach fand ein gebückter, zusammengeschrumpfter,
weißhaariger alter Mann sich im Amte ein, der zuständigen Stelle ein
sauber mundiertes Schriftstück zu überreichen. Es war Plessens letzte
amtliche Eingabe, sein Gesuch um Übernahme in den dauernden Ruhestand.

Er hatte sein Bett ins Bücherzimmer stellen lassen und lebte darin wie
eine Raupe, die sich eingesponnen hat.

Tag und Nacht blieb er mit seinen Erinnerungen allein und mit den
erlauchten Gästen, die sich nun wieder häufig zum Besuch bei ihm
einfanden, ohne daß doch jemals die Flurglocke gezogen worden wäre.
Zeitungen las er jetzt überhaupt nicht mehr -- was frommte es ihm, sein
eigenes Leid verhundert-, vertausendfältigt darin widergespiegelt zu
sehen? Höchstens daß er ab und zu einmal im Vorbeigehen einen Blick
auf die Blätter warf, die an der Glastür eines kleinen Tabakladens
ausgehängt waren, an welchem sein Morgenspaziergang ihn vorüberzuführen
pflegte.

Denn täglich machte er nun, während das Bücherzimmer aufgeräumt
wurde, einen kleinen Rundgang durch die nächstgelegenen städtischen
Gassen und Straßen, um doch auch ein wenig an die Luft zu kommen. Die
alte Resi, die Köchin, bestand darauf, weil sie es seiner Gesundheit
für zuträglich hielt, und wenn er sich einmal um seinen Morgenweg
herumdrücken wollte, so wußte sie ihm mit Besen und Staubtuch so
lästig zu werden, daß er schließlich doch nach Hut und Stock griff.
Die Möglichkeit, sich inzwischen in ein anderes Zimmer zurückzuziehen,
hatte er sich selbst abgeschnitten. Die beiden Kammern, die von seinen
Kindern bewohnt worden waren, hatte er abgesperrt, ebenso die größere
Stube, die sein und seiner Gattin Schlafzimmer gewesen war.

Alles sollte unberührt darin bleiben, wie es einst gewesen. Ihm selbst
genügte das Bücherzimmer. Mehr benötigte er für sich allein nicht.

Die alte Resi, die schon seiner Frau seit Jahren in Treue gedient
hatte, führte ihm die bescheidene Wirtschaft, und er konnte von Glück
sagen, daß die brave Person ihre Anhänglichkeit an die Verewigte nun
auch auf ihn übertrug. Sie kannte seine Gewohnheiten, redete nicht
viel und sparte in seine Tasche. Das war notwendig und wurde immer
nötiger mit den zuwachsenden Jahren. Denn die Zahlen schienen es ihm
nachzutragen, daß er sie im Stich gelassen hatte. Sie rächten sich,
indem sie sich auf seinen Pensionsbezug warfen und es zu deichseln
wußten, daß dieser auf einmal nur mehr die Hälfte von dem wert war, was
er früher wert gewesen.

Anfangs meinte er, es würde sich bald bessern, da er in den Zeitungen
an der Tür des Tabakladens fettgedruckte Aufschriften gelesen hatte,
aus denen er glaubte den Schluß ableiten zu dürfen, daß die Welt
wieder friedlich geworden sei. Hier und da kaufte er sich jetzt sogar
das eine oder andere von diesen Blättern. Aber was darin stand, erbaute
ihn wenig, darum verzichtete er bald wieder auf das Vergnügen, nähere
Bekanntschaft mit den Tagesereignissen zu machen. Bevor es keinen
wirklichen Weltfrieden gäbe, beschloß er, so lange würde er nach wie
vor keine Zeitung mehr lesen. Es kostete ja auch jede einzelne Nummer
jetzt bald so viel wie früher ein ganzer Monatsbezug. Nein, den Rummel
machte er nicht mit! Er konnte warten, bis die Tagesereignisse wieder
Vernunft angenommen hätten.

Damit machte er sich aber auch die Tagesereignisse zu Feinden. Sie
verübelten es ihm, daß er sie mit Geringschätzung behandelte, und
verbündeten sich mit den Zahlen, die ihm ebenfalls noch immer aufsässig
waren, zu dem gemeinsamen Ziel, ihn ihre Macht fühlen zu lassen. Und
da seine Behausung ihnen verschlossen blieb, so verfolgten sie ihn
wenigstens mit ihren Nachwirkungen und Ausstrahlungen. Denn für diese
gab es keine Hindernisse, durch jede Türritze und jedes Schlüsselloch
wußten sie sich zu stehlen, unaufhaltsam sickerten sie durch die
dicksten Mauern, Beunruhigung verbreitend bis in den letzten Winkel
und jedermann die bittersten Entbehrungen auferlegend. So drangen
sie allmählich sogar ins stille Heiligtum des Bücherzimmers ein und
überreichten Herrn Pleß ihre Visitenkarte! Der setzte die Brille auf,
las und schüttelte den Kopf. Denn es stand darauf geschrieben: Die Not
und das Elend eines nicht eigentlich besiegten, aber um so schmählicher
betrogenen Volkes.

Herr Pleß wunderte sich. So ungefähr wußte er ja, wie schlimm es um
die Allgemeinheit stand. Aber was konnte er, der alte, gebrochene
Mann, noch tun, ihr zu helfen? Sein Teil Arbeit hatte er geleistet,
die Opfer ohne Murren dargebracht, die Leben und Zeit ihm auferlegt.
Nun verlangte es ihn nach Ruhe und Sammlung für den Abend. Darauf
wenigstens meinte er Anspruch zu haben. Wem stünde das Recht zu, ihn in
seiner freiwillig gewählten Einsamkeit zu behelligen?

O du weltfremdes gläubiges Gemüt! ... Er ahnte noch nichts davon, daß
es auch auf einer Robinsoninsel ungemütlich werden kann, wenn sie
innerhalb der Grenzen eines geordneten Staatswesens liegt.

Daß die Teuerung ins Märchenhafte wuchs und sein Ruhegenuß jetzt nur
mehr ein Zehntel, vielleicht nur mehr ein Fünfzigstel wert war, das
nahm er noch gelassen hin. Seine eigenen Bedürfnisse waren immer gering
gewesen, schließlich konnte er den Riemen auch noch enger schnallen, es
lag ihm für seine Person nicht eben viel daran. Aber der alten Resi,
die sich den ganzen Tag mit der Wirtschaft abplagte, der hätte er eine
bessere Ernährung vergönnt. Und einmal faßte er sich sogar ein Herz und
redete ihr zu, doch etwas besser für sich selbst zu sorgen, er würde
es schon zustande bringen, dem Wirtschaftsgeld noch eine Kleinigkeit
zuzulegen.

Damit kam er aber an die Unrechte, denn sie fuhr ihm sofort derb
über den Mund: Ob er verrückt geworden sei, daß er sein Geld den
Preistreibern in den Rachen werfen wolle? Nein, dafür müsse er sich
eine andere suchen, dazu gebe sie sich nicht her, lieber gewöhne sie
sich das Essen noch ganz ab; bei ihr sei es ohnedies mehr oder weniger
nur eine schlechte Angewohnheit, ganz anders als bei ihm, der es nötig
hätte, das viele Hirnschmalz wieder zu ersetzen, das er mit seiner
übertriebenen Bücherleserei verbrauche. Darum möge er nur vor seiner
eigenen Tür kehren, die paar Schüsserln, die sie ihm vorsetze, kämen
jedesmal voller wieder heraus, als sie sie hineingetragen, das sei
eine Beleidigung für eine Köchin! Und überhaupt -- um sie brauche er
sich nicht zu scheren, sie wisse schon selbst, was sie zu tun hätte,
und wie es der seligen Frau recht wäre, wenn sie noch das Leben
hätte. Die würde sich auch zu gut dafür sein, um bei Wucherern und
Schleichhändlern fechten zu gehen, anstatt sich mit dem zufrieden zu
geben, was unser Herrgott eben beschert hätte.

So lange hatte er sie noch nie in einem Zuge sprechen hören, und es war
ehrenwert und gesinnungstüchtig gesprochen, zweifelsohne! Aber sie fiel
vom Fleische, und wenn eine Köchin einmal aus der Form kommt, so gibt
das immer zum Nachdenken Anlaß.

Übrigens bekümmerte den Oberrechnungsrat vielleicht mehr noch als die
Sorge, wie er seine Resi in Form halten könne, der Umstand, daß er
keine Bücher mehr zu kaufen imstande war. Nein, dazu war er wirklich
nicht mehr imstande, das konnte man einfach nicht mehr, Bücher zu
kaufen war ein Ding der Unmöglichkeit geworden! Schade! Jammerschade
um die liebe, heiße, harmlose kleine Leidenschaft! Das Leben wurde
zusehends kahler. Ja, die Tagesereignisse, die sich mit den Zahlen
verbündet hatten! Man spürte den sogenannten Frieden in allen
Gliedern. Ach, die Bedauernswerten, die sich nicht rechtzeitig mit
Büchern »eingedeckt« hatten! Die mochten nun darben. Und vor Sehnsucht
vergehen. Und geistig verhungern. Für Herrn Pleß bestand diese Gefahr
nicht. Auf Zuwachs freilich hieß es jetzt verzichten, auf das wonnige
Herumschmökern in den Buchläden, auf das feierliche Einreihen eines
neuen Bandes -- wieviel Farbe hatte das alles in sein Leben gebracht!
Vorbei! Dahin wie so vieles andere! Aber da standen ja noch dicht
gereiht bis zur Decke hinauf die wohlgefüllten Regale. Und es waren nur
wenige Bände darunter, die man nicht gerne von vorne wieder anfing,
wenn man am Ende angelangt war. An Lesestoff mangelte es noch lange
nicht. Auch diese Entbehrung blieb also im Grunde erträglich.

Herr Pleß hatte beschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Man
mußte sich eben in die Verhältnisse schicken. Vor so nichtigen Feinden,
wie es die Zahlen und die Tagesereignisse waren, kapitulierte er noch
lange nicht. Er saß in seinem Bücherzimmer und las.

Und dabei übersah er es gänzlich, daß noch düsterere Wolken sich über
seinem Haupte zusammenzogen. Die bitterste aller Friedensnöte hatte er
noch gar nicht kennengelernt, das stand ihm erst noch bevor. Bis jetzt
wußte er nichts davon, daß es außer der mangelhaften Ernährung und
der Unmöglichkeit, Bücher zu kaufen, auch noch etwas viel Schlimmeres
gab, das einen ahnungslosen Staatsbürger heimsuchen konnte. Etwas
ganz Unvorhergesehenes, das gerade ihm fast unerträglich erscheinen,
ihn beinahe in Verzweiflung stürzen mußte. Mit allem anderen war es
seiner Langmut gelungen, sich gutwillig abzufinden, gerade dieses Opfer
aber, das ihm jetzt noch aufgebürdet werden sollte -- ein jeder, der
Herrn Pleß kannte, hätte es voraussehen können -- das mußte gerade er
als den schwersten Schlag empfinden, der ihn seit dem Heimgang seiner
Lieben betroffen. Und dies war wohl auch der unbewußte Grund, weshalb
er wie im geheimnisvollen Vorgefühl von etwas Bedrohlichem schreckhaft
zusammenfuhr, als an jenem Morgen, da er gerade wieder lesend im
Bücherzimmer saß, die Flurglocke läutete. Damit fing nämlich die Sache
an.

Wie selten kam es doch vor, daß die Klingel bei ihm gezogen wurde!
Wer konnte es sein, der ihn aufsuchen kam? Was begehrte man von ihm?
So fragte er sich ganz bestürzt. Denn gleich vom ersten Augenblick
an war er über diesen herrischen, herausfordernden Klingelton zu
Tode erschrocken, ohne eigentlich zu wissen weshalb. Es war wie eine
unerklärbare Vorahnung der Dinge, die da kommen sollten. Und diese
merkwürdige Beklemmung, die ihn plötzlich befallen hatte, erwies sich
auch leider nicht als trügerisch. Denn nur zu bald sollte er erfahren
-- aber damit beginnt nun ein ganz neuer Abschnitt in Herrn Plessens
Leben.

Eines Morgens also läutete es, und ein paar Herren ließen sich bei ihm
melden, gleich ihrer drei oder vier oder gar fünf waren es. Ob sie
sich die Freiheit nehmen dürften, die Wohnung zu besichtigen? Überaus
höflich benahmen sie sich, verdächtig genug!

»Ja, wieso denn? Die Wohnung --«

»Bitte, hier die Legitimation.«

Himmel! Die städtische Wohnungskommission!

Dem Herrn Oberrechnungsrat fuhr nun erst recht der Schreck in alle
Glieder. Er zitterte wie das Laub der Silberpappel im Sommerwind,
während er die bedauerlicherweise unbewohnten Zimmer aufschloß und die
Herren hindurchgeleitete.

Diese schienen übrigens ihre Zeit für recht kostbar zu halten.
Eilfertig trampelten sie, den Straßenkot auf acht oder zehn schmutzigen
Stiefelsohlen hereintragend, durch die Zimmer und richteten im
Vorbeigehen nur wenige knappe Fragen an den Hausherrn. Mit bangem
Stottern erteilte Herr Pleß die geforderten Auskünfte.

»Jawohl, dies ist das Schlaf -- das Schlaf --«

»Sie sind Witwer?«

»Leider, leider!«

»Alleinbewohner?«

»Allein. Das heißt, ich und die ... Resi ...«

»Wer ist die Resi?«

»Meine Köchin ... meine Köchin. Eine überaus brave ...«

»Besten Dank! Hausgehilfinnen zählen nicht.«

Sie setzten ihren Weg fort und trampelten weiter.

»Und hier?«

»Die Kammer meiner Tochter ... meiner ...«

»Ihrer Tochter --?«

»Jawohl, meiner Tochter ... meiner verstorbenen ...«

»Also unbewohnt. Bitte zu notieren.«

Einer von den Herren machte eifrig Notizen, die anderen waren bereits
bis in den nächsten Raum vorgestoßen und nahmen ihn in Augenschein.

»Scheint ebenfalls unbewohnt,« sagte einer.

»Hat einen separaten Ausgang ins Vorzimmer,« bemerkte ein anderer.

»Und dieses Zimmer?« wendete der Herr, der offenbar der Führer der
Kommission war, sich an Pleß.

»Hier wohnt mein Sohn ... das heißt wohnte, wohnte! ... Er ist nämlich
... er hatte das Unglück ... im Krieg ... leider! ... Bei Limanowa ...!
anno ...«

»Bitte wir wollen nicht länger aufhalten. Unsere Zeit ist knapp
bemessen.« Er zog die Uhr. »Es handelt sich vorerst bloß um einen
allgemeinen Überblick.«

»Eins -- zwei -- drei!« zählte eines der Kommissionsmitglieder, und der
Protokollführer schrieb auf.

»Die Außenräume, wenn's erlaubt ist?«

Und schon zogen sie weiter und kehrten ins Vorzimmer zurück.

»Das ist die Magdkammer, nicht wahr?«

»Jawohl, die Magd ... die Magd ... die vorhin erwähnte Köchin ... meine
Hausgenossin ... Eine äußerst verläßliche, brave Person ... Möchte auch
schon gern ihre Ruhe ... natürlich ... Wenn man alt wird! ...«

»Dies die Küche?«

Einer der Herren stieß die Tür auf. Die Resi hob den Blechdeckel von
einem Reindl und stand in Dampf gehüllt. Mit einem ungeheuren Krach
tschinellte sie hierauf den Deckel aufs Reindl zurück. Es klang wie ein
Böllerschuß. Schleunigst zog der neugierige Herr die Küchentür wieder
ins Schloß.

»Und hier, die Tür nebenan?«

»Eine Badegelegenheit ... bitte sich zu überzeugen ... Ein ganz kleines
... bescheidenes ...«

»Badezimmer bleiben von der Anforderung unter allen Umständen
ausgeschlossen,« sagte der Wortführer der Kommission mit einem
beruhigenden Lächeln und machte zu Herrn Plessens freudiger
Überraschung bereits Miene, sich wieder zu verabschieden.

»Entschuldigen Sie die Störung, es war leider unsere Pflicht ... Sie
wissen ja, ein amtlicher Auftrag ...«

»O, bitte, bitte, gar nicht, nicht im geringsten! Im Gegenteil! Es war
mir ein ganz besonderes ...«

Nie hätte er zu hoffen gewagt, daß es so rasch und glatt ablaufen
würde.

Zuvorkommend begleitete er die Herren bis an die Wohnungstür. Erst im
letzten Augenblick nahm er sich ein Herz und fragte schüchtern: »Ich
darf wohl hoffen --? Ich weiß nicht, wie viele Zimmer man eigentlich
--?«

»Der Wohnungsausschuß wird darüber entscheiden,« sagte der Sprecher der
im Abgehen begriffenen Versammlung ziemlich zugeknöpft.

Und dann trappten sie auch schon wie ein halbdutzend Pferde die Treppe
hinunter und waren fort.

Die Resi stürzte aus ihrer Küche hervor.

»So eine Frechheit! Was wollen denn die? Mir nichts, dir nichts in
einer fremden Wohnung herumzuspazieren! Ist das eine Manier? Daß sie
mir nicht in den Suppentopf geguckt haben -- sonst alles! Nein, da hört
sich denn doch die Gemütlichkeit auf!«

»Das Bücherzimmer haben sie ganz übersehen!« frohlockte der
Oberrechnungsrat, sich die Hände reibend.

Das Bücherzimmer lag zunächst dem Eingang. Wirklich war die Kommission,
offenbar in dem Bestreben, möglichst in die Tiefe zu dringen,
ahnungslos daran vorbeigegangen. Auf den ersten Blick in einer fremden
Wohnung sich zurechtzufinden, ist nicht ganz leicht, vielleicht hatte
auch jeder der Herren sich auf den anderen verlassen. Kurz, die
Existenz des Bücherzimmers war ihnen in der Tat gänzlich entgangen.
Und Herr Pleß selbst hatte in seiner Aufregung vergessen, sie eigens
darauf aufmerksam zu machen. Das Bücherzimmer war sein Wohn-, Schlaf-,
Empfangs-, Speise- und Studierzimmer, bezüglich dieses Zimmers fühlte
er sein Gewissen rein. All seine Gedanken und Sorgen hatten gleichsam
wie mit schützend ausgebreiteten Armen vor den unbewohnten Teilen der
Wohnung, als der eigentlichen Zone der Gefahr, Aufstellung genommen.

Nachträglich stiegen ihm Bedenken auf, ein Wurm nagte ihm am Herzen, er
ängstigte sich.

»Vielleicht hätte ich ihnen doch auch das Bücherzimmer --? Wer weiß, am
Ende gibt es ein Gesetz, und ich wäre verpflichtet gewesen ...«

»Ach was, verpflichtet! Diesen Schurln gegenüber gibt es keine
Verpflichtung. Schaun Sie den Fußboden an! Die halbe Straßen haben sie
hereingetragen mit ihren dreckigen Stiefeln. Liegt nicht eine Dacken
vor der Tür? Hausfriedensbruch ist das!«

»Wenn sie mich gefragt hätten,« meinte Herr Pleß nachdenklich --
»verheimlichen hätte ich's freilich nicht dürfen. Aber sie haben mich
ja gar nicht gefragt! Ich bin nicht schuld daran, wenn sie unsere
Wohnung für eine Dreizimmerwohnung halten, ich nicht! Sie hätten ja
fragen können: Wie viele Zimmer haben Sie? Nicht wahr? Dann hätte ich
natürlich geantwortet: Vier! Aber wenn sie nicht einmal fragen --!? No
also! Da können sie mir doch auch nichts vorwerfen?«

Da die Resi selbstverständlich der gleichen Meinung war, so beruhigte
er sich nach und nach damit und freute sich im stillen, daß er nur mit
drei Zimmern auf dem Papier stand, ohne daß man ihm doch einen Strick
daraus würde drehen können.

Jeden Morgen, wenn die Resi ihm das Frühstück brachte, sagte er jetzt:
»Resi, ich glaube, wir sind aus dem Wasser!«

Und er erging sich in Vermutungen, wie die Herren vom Wohnungsausschuß
in einer ihrer Sitzungen seinen Fall besprechen, dieses und jenes zu
seinen Gunsten ins Treffen führen und schließlich zu dem Ergebnis
gelangen würden, daß man einem schwergeprüften vereinsamten alten Manne
und verdienstvollen Beamten, wie er es war, drei Zimmer zum Bewohnen
(denn das vierte hatten sie ja nicht entdeckt, hi, hi, hi!) immerhin
zubilligen müsse.

Sie hörte geduldig zu und schloß daraus mit dem Scharfblick einer
Köchin, daß er schlaflose Nächte hatte und sich vor einer Anforderung
fürchtete.

Eines Morgens sagte er wieder: »Sieh, Resi, ich glaube, wir sind
wirklich aus dem Wasser!«

Da meinte sie: »Ich an Ihrer Stelle, Herr Oberrechnungsrat, wissen Sie,
was ich tät'? Ich ging' aufs Wohnungsamt hinein und tät' den Schurln
sagen: Die paar Zimmer, die so ausschauen, als ob sie unbewohnt wären,
die sind gar nicht unbewohnt. Im Gegenteil! Denn da drin wohnen die
Verstorbenen, die bleiben bei mir, solang' ich noch das Leben hab',
und darum müssen auch die Zimmer bei mir bleiben. Verstanden? Und
dann tät' ich ihnen auch noch sagen, daß Sie ein Büchernarr sind und
eselsmäßig viel solche Staubfänger an allen Wänden herumstehen haben,
bis zum Plafond hinauf. No, und daß Bücher einen Platz brauchen, wenn
man sie aufstellen will, das werden sogar die Herren vom Wohnungsamt
einsehen. Denn wenn sie keinen Platz mehr hätten, so müßt' man sie
rein übereinander und hintereinander stellen, und dann hört sich ein
Abstauben überhaupt auf. So -- das tät' ich ihnen ordentlich unter
die Nasen reiben! -- Daß aber für die Bücher ohnedem das Bücherzimmer
da ist,« fügte sie noch hinzu, »das tät' ich ihnen deswegen noch lang
nicht verraten, das geht diese Gschwufen gar nix an! Augen haben sie --
wenn sie's nicht selber g'sehn haben, so ist das ihre eigene Schuld!«

Diese entschlossene Rede leuchtete Herrn Pleß ganz außerordentlich
ein. Seit dem Besuch der Kommission hatte er sich in einem Zustand
ständiger Erregung befunden. Jeden Augenblick zitterte er, es könnte
wieder läuten und irgend eine Amtsperson hereinspazieren, oder ein
schnödes Schriftstück auf miserablem Papier abgegeben werden, das ihm
im Handumdrehen ein paar Zimmer wegnahm, ihm seine Ruhe raubte, die
gezählten Tage seines Alters vergällte. Die Furcht, die Ungewißheit,
das bange Harren und Warten hatten ihn fast krank gemacht.

Nur diesem Zustand der Benommenheit ist es zuzuschreiben, daß er sich
beim Fortgehen eine Stilblüte leistete, wie sie seiner schlichten
Ausdrucksweise sonst gänzlich ferngelegen hätte. Denn während er nach
Hut und Stock langte, sagte er noch zur Resi: »Es bleibt wirklich
nichts anderes übrig, ich muß dieses Damoklesschwert bei den Hörnern
packen.«

Der Beamte im Wohnungsamt beäugte ihn feindselig.

»Ja, ja, ich weiß schon, da ist ja der Akt. Drei Zimmer! Nur gleich
drei Zimmer für einen einzigen einschichtigen Witwer! -- Ja, haben Sie
denn keinen Funken von sozialem Verständnis?« herrschte er ihn an.

O du heiliger Sebastian, wenn der auch noch etwas vom vierten Zimmer
geahnt hätte! Beschämt und betreten stammelte Herr Pleß etwas von
Erinnerungen an seine Frau, seine Kinder und von den vielen Büchern,
die er besäße, eine ganze Bibliothek ...

»Stellen Sie Ihre Bücher ins Dienstbotenzimmer!« brummte der Beamte
ungehalten.

Und er fuhr fort, ihm die Hölle heiß zu machen, ihn als einen
hartherzigen Selbstsüchtler hinzustellen, ihm das Elend der
Unterstandslosen zu schildern und den Teufel einer besonders
drangsalierenden Einquartierung an die Wand zu malen, wenn er sich
einfallen ließe, an Rekurse oder Widerstände zu denken.

Und dann plötzlich einlenkend, sagte er zum Schluß noch in milderem
Ton: »Wollen Sie guten Rat annehmen --? Dann würde ich Ihnen empfehlen,
suchen Sie sich irgend einen guten Bekannten, einen Freund, einen
Verwandten, der ein möbliertes Zimmer braucht und nehmen ihn bei sich
auf. Aber schleunigst, wenn ich bitten darf, sonst ist es zu spät,
und es kann Ihnen noch passieren, daß Sie einen Eisenbahner mit fünf
Kindern hineinbekommen!«

Der Oberrechnungsrat war inzwischen so klein und so mürbe geworden,
daß ihm bei diesem Vorschlag ordentlich ein Stein vom Herzen fiel.
Ohnedies drückte ihn das Gewissen wegen des Bücherzimmers. Begründete
es nicht vielleicht schon den Tatbestand einer strafbaren Handlung,
daß er den Beamten, der fortwährend von den drei Zimmern sprach, nicht
ausdrücklich auf das vierte aufmerksam machte? Da erinnerte er sich
aber wieder seiner armen, armen Bücher, die so schön geordnet in den
eingepaßten Regalen standen -- was wäre aus denen geworden, wenn es
der hohen Behörde vielleicht beliebte, gerade das Bücherzimmer oder
überdies auch noch das Bücherzimmer anzufordern? Und hatte die Resi
nicht recht, wenn sie ihre Meinung über diese Seite der Angelegenheit
in die Worte zusammenfaßte: Augen haben sie, wenn sie das Bücherzimmer
nicht gesehen haben, so ist es ihre eigene Schuld --?

Unsicher tastend wagte er die Frage: »Und wenn ich ein Zimmer
freiwillig abgebe -- bleibe ich dann im übrigen ungestört?«

»Das hoffe ich zuversichtlich, Herr Oberrechnungsrat,« sagte der Beamte
nunmehr ganz umgänglich und fast liebenswürdig geworden.

Unwillkürlich griff sich Herr Pleß ans Herz. Es klopfte heftig, aber
in diesem Augenblicke -- beinahe vor Freude. Dieser Mann, vor dem er
sich so gefürchtet hatte, war ja im Grunde genommen eigentlich sein
Freund? Er gab ihm einen Wink, machte ihm gutmeinend einen Vorschlag,
der schließlich nichts allzu Hartes von ihm forderte. Und dieser
Vorschlag hatte einen Gedanken in ihm ausgelöst, der seine persönlichen
Bedürfnisse mit seiner Staatsbürgerpflicht zu einer Einheit zu
verschmelzen versprach.

Denn irgend etwas mußte freilich ein jeder dazu beitragen, den
bedrängten Mitmenschen zu Hilfe zu kommen. Das war doch eigentlich
selbstverständlich! Wie kam es nur, daß er es nicht gleich begriffen
hatte? Er war doch sonst kein Dickhäuter! Im Gegenteil! In diesem
Augenblicke wenigstens fühlte er sich wirklich mit einem Tröpfchen
sozialen Öles gesalbt.

Entschlossen erhob er sich, ganz leicht und froh war ihm auf einmal
zumute. Wenn man nicht mehr von ihm verlangte, als daß er einen
Bekannten bei sich aufnahm -- dies kleine Opfer konnte er wirklich
bringen! Es war ein Preis, der sich auszahlte, wenn man dafür den Ruf
und das Bewußtsein eines Mannes von Gemeinschafts- und Bürgersinn
zurückgewann. Wunderbar befreit bedankte er sich für den wohlwollenden
Rat und empfahl sich in gehobener Stimmung unter wiederholten
Versicherungen, daß er ihn womöglich befolgen und jedenfalls in
reifliche Erwägung ziehen werde.

Beflügelten Schrittes eilte er durch die Gassen, den Weg nach der
Stätte seines verflossenen amtlichen Wirkens einschlagend.

Es war ihm eingefallen, daß jener Herr Scheinemann, der junge Kollege,
dem er damals zu einer Stellung verholfen, sich ihm gegenüber
wiederholt darüber beklagt hatte, wie schwierig es bei der steigenden
Teuerung für einen Junggesellen sei, ein passendes, angenehmes und
nicht zu kostspieliges Quartier zu finden. Die Wahrscheinlichkeit, daß
er die jetzigen Verhältnisse erträglicher finden würde als die von
einst, war gering. Denn ein möbliertes Zimmer kostete heute leicht
zweitausend Kronen und mehr -- welche Summe für einen Festbesoldeten
auf einer der untersten Stufen! Nein, auf Rosen war Scheinemann sicher
nicht gebettet, vermutlich gehörte er zu der Legion der insgeheim
Darbenden. Darum war Herrn Plessens erster Gedanke, als der Herr
im Wohnungsamt ihm die freiwillige Aufnahme eines Mieters empfahl,
Scheinemann gewesen. Denn warum sollte er sich, wenn er schon ein
Zimmer abgeben mußte, die bittere Pille nicht wenigstens durch das
befriedigende Bewußtsein versüßen, einen strebsamen Beamten gefördert,
einem jüngeren Kollegen sein Los erleichtert zu haben?

Zu solch vornehmen und großzügigen Erwägungen gesellte sich auch noch
der begreifliche Wunsch, einen Mieter zu finden, der ihm anhänglich und
durch Gefühle der Dankbarkeit verbunden wäre.

Denn in das Zimmer seines Sohnes, das sich infolge seiner Lage am
besten zum Vermieten eignete, sollte nicht ein Nächstbester seinen
Einzug halten. Wie wohltuend würde er es empfinden, wenn der künftige
Bewohner dieses Raumes allmählich aufhören würde, bloß ein Bekannter
zu sein! Wenn von dieser vereinsamten Stätte wieder die Wärme
herzlicher persönlicher Beziehungen ausstrahlte, eine Spur wenigstens
jener kindlichen Zuneigung und Ehrerbietung, die sein Vaterherz einst
so innig beglückt hatte! Oh, welch schönes Verhältnis konnte sich
ergeben, welche Bereicherung sein dürftiges Alter erfahren, wenn es ihm
gelang, aus der Not einen Segen zu machen und sich einen Hausgenossen
zu gewinnen, aus dem vielleicht, wenn das Glück es wollte, sogar noch
einmal ein treuer Begleiter auf der letzten Wegstrecke des Lebens hätte
werden können, der an Sohnes statt in der schwersten Stunde an der
Seite seines Bettes stand!

Herrn Scheinemann nun hatte er sich schon einmal gefällig erwiesen.
Wer weiß, was aus dem geworden wäre, hätte gerade im kritischen
Augenblick Pleß sich nicht für ihn eingesetzt. Bei seiner von Haus
aus etwas oberflächlichen, wohl gar leichtfertigen Anlage, die
gelegentlich in mancher unvorsichtigen Äußerung hervorgetreten war,
hätte ein ungebundenes Leben ihm gefährlich werden können. Gerade für
eine solche Natur war nach Herrn Plessens Überzeugung der erziehliche
Einfluß, den eine zu Zucht und Ordnung nötigende Amtstätigkeit ausübt,
von unübersehbarem Wert, darum meinte er sich mit einigem Recht
sozusagen für den Retter dieses Menschen halten zu dürfen, war doch
er es gewesen, der ihn in eine geregelte und streng vorgezeichnete
Laufbahn gebracht hatte. Nun gedachte er sein Werk zu krönen und
seinem Schützling auch noch ein geordnetes Heim aufzutun, das ihn
keinen Heller kosten sollte. Ein solches Entgegenkommen, ein derartig
verdoppeltes Schaffen und Aufbauen der ganzen Existenz -- mußte es auf
der Seite des Geförderten nicht Gefühle unbegrenzter Anhänglichkeit
wecken? Und war es nicht wie eine mit freigebigen Händen ausgestreute
Saat, von der man hoffen durfte, daß sie zum Segen gedeihen und reiche
Frucht tragen würde?

Um die Jugend muß man werben, er wußte es. Und außerdem widerstrebte es
ihm auch, für das Zimmer, das er abzugeben gesonnen, und das im Grunde
seines Sohnes Zimmer war, Geld anzunehmen. Nach seiner Meinung hieß es
Wucher treiben mit der Not seiner Mitmenschen, wenn man sich für eine
Stube, die sonst unbenützt leer stand, von einem Bedrängten bezahlen
ließ.

Solche Gedanken still bei sich erwägend, stieg er eben die ihm
wohlvertraute, obzwar lange nicht betretene Treppe des alten
Amtsgebäudes hinan, als ihm raschen Schrittes, immer ein paar Stufen
überhüpfend, von oben jemand entgegenkam. Und wie er den Kopf hob,
stand wie gerufen der Gesuchte selbst vor ihm: Scheinemann! Freudig
streckte Pleß ihm die Hand entgegen, es war ihm, als hätte durch
diese zufällige Begegnung das Schicksal selbst die Billigung seiner
Absichten, die Zustimmung zu seinen Plänen aussprechen wollen.

»Darf ich mir erlauben, Sie um ein paar Worte ...? Sie haben einen Gang
zu machen, wie ich sehe. Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie ein Stück
Weges.«

»Mit dem größten Vergnügen, Herr Oberrechnungsrat. Bitte!«

»O -- bitte, bitte!«

Pleß trat auf die linke Seite und ließ den jungen Mann, der auf so
überlebte Formen nicht viel zu halten schien, zur Rechten gehen. Kaum
auf die Straße gelangt, begann der Oberrechnungsrat etwas weitschweifig
von seiner Wohnungsangelegenheit zu erzählen. Daß er eigentlich eine
Wohnung von vier Zimmern hätte ...

»Nun, das ist reichlich!« warf Scheinemann dazwischen.

»Wenn man eine große Bibliothek besitzt ... Übrigens stehe ich nur mit
drei Zimmern in den Akten. Das vierte hat die Kommission aus reinem
Zufall übersehen ...«

»Trotteln das!« bemerkte Scheinemann.

»Für mich ganz angenehm,« meinte Herr Pleß, etwas unsicher geworden,
und bereute in diesem Augenblick, den anderen auf den Irrtum der
Behörde überflüssigerweise aufmerksam gemacht zu haben.

Dennoch fuhr er fort, seine Verhältnisse darzulegen und schließlich
seine Vorschläge vor ihm auszubreiten. Scheinemann blieb stehen und
staunte ihn groß an.

»Das trifft sich ja ausgezeichnet! Morgen muß ich aus meiner Bude
heraus und habe noch keinen Ersatz. Unleidliche Menschen, mit denen
ich da zusammengespannt war! Ich nehme Ihr Zimmer! Unbesehn! Gemacht!
Gemacht! Das heißt -- was verlangen Sie dafür?«

»Wenn Sie der Köchin eine Kleinigkeit geben wollen, fürs Aufräumen --
ich selbst beanspruche nichts. Das Zimmer steht ohnedies leer, Sie sind
mein Gast. Ich möchte aus der allgemeinen Wohnungsnot keinen Gewinn
ziehen.«

Abermals blieb Scheinemann stehen.

»Mit solchen Grundsätzen werden Sie nicht weit springen in unserer
Zeit,« sagte er belustigt. »Sie denken vielleicht, ich müßte mich jetzt
wenigstens ein bißchen zieren und blöde tun? Fällt mir gar nicht ein!
Im Gegenteil, ich nehm' Sie beim Wort! Wenn mir wer was schenkt, so
werd' ich's doch nicht ausschlagen? Ein Esel wär' ich! Jedem das Seine!
Der eine hat Grundsätze, der andere den Vorteil.«

Er lachte breit über den ganzen Mund und sagte noch: »Wann darf ich
einziehen?«

»Wann es Ihnen paßt.«

»Also morgen früh. Gemacht! Gemacht! -- Pardon!« rief er plötzlich in
Hast. »Ich werde erwartet. Es kann mich eine Viertelmillion kosten,
wenn ich zu spät komme! Sie entschuldigen also! Und wie gesagt:
Gemacht! Gemacht!«

Damit stürzte er in den Straßentrubel und schwang sich auf einen
vorbeifahrenden Trambahnwagen, der mit ihm davonsauste.

Bedächtig und etwas betreten setzte der Oberrechnungsrat seinen Weg
fort. Was war das? Es konnte ihn eine Viertelmillion kosten --? Gab es
jetzt so verantwortungsvolle amtliche Aufträge? Ja, es hat sich halt
alles verändert, man kennt sich in der Welt bald nicht mehr aus! ...

Auf seinen Stock gestützt zog er langsam seine Bahn dahin, in
der Richtung nach der Gegend, wo seine Wohnung sich befand. Ein
unbestimmter Bodensatz von Unbehagen war von dem kurzen Zusammentreffen
mit Scheinemann in ihm zurückgeblieben. Der junge Mann war doch
eigentlich ganz anders, als er ihn in Erinnerung gehabt. So was eigen
Smartes, Amerikanisches lag in seinem Gehaben, nur daß die richtigen
Wilson-Leute den Zynismus der Tat hinter der Moral des Wortes zu
verhüllen pflegen -- was immerhin versöhnend wirkt. Sollte er den
Aktenstaub als Erzieher, die Wandlung, die eine geregelte Amtstätigkeit
bewirken kann, überschätzt, oder sich überhaupt in diesem Menschen
völlig getäuscht haben? Vielleicht war es doch etwas vorschnell
gewesen, ihm gleich bindende Zusagen zu machen! ...

Schließlich tröstete er sich mit dem Gedanken, daß man im äußersten
Falle einen Gast nicht länger zu beherbergen brauche, als es einem
passe.

Als er müde und verstimmt zu Hause anlangte, sagte er zur Resi:
»Richten Sie das Zimmer vom jungen Herrn. Wir bekommen einen Mieter.
Morgen früh zieht er ein.«

Sie mochte aus dem Ton erkennen, daß es sich um eine unabänderliche
Sache handelte, und gab ihm keine Antwort. Aber die Art, wie sie in
der Küche herumhantierte und die Suppenschüssel auf den Tisch setzte,
verkündete nichts Gutes.

Den anderen Morgen hielt Scheinemann wirklich seinen Einzug. Herr Pleß
wies ihm sein Zimmer an und sagte: »Mein Sohn hat hier gewohnt. Möchten
Sie sich ebenso gerne wie er mit dem wenigen, was ich bieten kann,
bescheiden.«

»Ein bißchen klein --!« sagte der Mieter und öffnete die Tür zum
Nebenzimmer. »Aber hier steht ja noch ein Zimmer leer, wie ich sehe.«

»Es ist das Zimmer meiner verstorbenen Tochter.«

»Das macht mir gar nichts,« antwortete Scheinemann mit seinem
breitesten Lachen, »ich fürchte mich nicht vor den Toten.«

Rasch machte der Oberrechnungsrat kehrt und überließ ihn der Tätigkeit
des Auspackens. Stumm und verschlossen zog er sich ins Bücherzimmer
zurück, setzte sich an den Lesetisch und barg sein Gesicht in den über
der Tischplatte gekreuzten Armen. Als einige Zeit darauf die Resi das
Bücherzimmer betreten wollte und ihn schluchzen hörte, zog sie ganz
leise die Tür wieder ins Schloß und verschwand unbemerkt, wie sie
gekommen, in ihrer Küche.

Scheu schlich sie darin umher und machte sich in aller Stille daran,
das kärgliche Mittagsbrot zu bereiten. Heut' faßte sie die Töpfe und
Reindln so behutsam an, als wären sie alle von Glas, und gelegentlich
erwischte sie den Zipfel ihrer Schürze, um sich damit an die Augen zu
fahren.

Beim Essen, als Herr Pleß mit vorgebeugtem Kopf noch an der Suppe
löffelte und die Resi schon die Erdäpfel hereinbrachte, fragte er, ohne
aufzublicken, scheinbar wie nebenher: »Haben Sie den neuen Mieter schon
zu Gesicht bekommen?«

»Mit dem haben Sie uns was schönes eingebröckelt!« antwortete die Resi
empört.

Und sie erzählte, er hätte sie hineingerufen, und sie hätte ihm helfen
müssen, das Bett des jungen Herrn in das Zimmer vom Fräulein schieben.
Jetzt stünden die zwei Betten nebeneinander wie Ehebetten, eine wahre
Schande! Das sei nun sein Schlafzimmer, hätte Herr Scheinemann gesagt,
und das andere sein Bureau.

»Heut' nachmittag soll schon die Tippmamsell kommen,« schloß sie. »Und
ich soll sie nur gleich zu ihm hineinführen.«

Nun hatte Herr Pleß aber doch das Gesicht vom Suppenteller gehoben und
sah sie mit aufgerissenen Augen an.

»Tippmamsell --? Bureau --? Was bedeutet denn das? Da bleibt einem ja
rein der Verstand stehn! Und Sie haben ihm wirklich geholfen, das Bett
hineinschieben?«

»Wenn er behauptet, daß Sie es so angeordnet haben!«

»So --? Das behauptet er? Hätten Sie mich vorher gefragt!«

»Natürlich jetzt bin ich wieder schuld!« murrte die Resi und verschwand
mit dem Suppentopf.

Das gewohnte Nachmittagsschläfchen war Herrn Pleß heute gründlich
verleidet. Ruhelos ging er im Bücherzimmer hin und her, die Arme
auf dem Rücken, unablässig, auf und nieder. Plötzlich schrak er
zusammen -- die Glocke! Was wird es nun wieder geben? Er lauschte.
Er hörte Schritte das Vorzimmer entlanggehen und langsam wieder in
entgegengesetzter Richtung zurücktrappen, gegen die Eingangstür.
Ungeduldig wartete er und stellte allerlei Vermutungen an. Er getraute
sich nicht hinaus, er blieb im sicheren Schutze des Bücherzimmers.

Endlich, als die Resi den Tee brachte, fragte er gespannt: »Wer ist
denn gekommen?«

»Eine dicke Rothaarige!« rief sie außer sich vor Wut und mit einer
Stimme, in der sittliche Entrüstung bebte. »Aufgetakelt wie eine vom
Variödee! Und einen Dienstmann mit ihrem Koffer hat sie auch gleich
mitgebracht. Die Maschinfräul'n ist sie, sagt sie! Und bis in die
Nacht hinein, sagt sie, sitzt sie oft an der Maschin', sagt sie! Und
deswegen, sagt sie, wird sie auch bei uns schlafen, sagt sie! Meiner
Treu', das hat sie g'sagt!«

»Und Sie haben sie hereingelassen?« stöhnte Herr Pleß der Verzweiflung
nahe.

»Ja, was soll ich denn tun!« schrie die Resi auf und warf die Arme
in die Luft. »Warum haben Sie den Hallodri da hereingenommen! Nein,
so was! Zügelt uns der auch noch solche Frauenzimmer ins Haus! Eine
Demi-Mondlerin, oder wie man das nennt, ist diese Person, da leg' ich
meine Hand dafür ins Feuer! Zu allem Überfluß ist sie auch noch hoch in
der Hoffnung!«

Den Rest des Tages und die halbe Nacht verbrachte Herr Pleß damit,
sich's zurechtzulegen, wie er Herrn Scheinemanns Übergriffen am
wirksamsten entgegentreten sollte. Hundert verschiedene Pläne kreuzten
sich in seinem Kopfe und machten ihn schließlich so wirr, daß er
ohne Papier und Bleistift kein Auslangen mehr fand. Er schnitt sich
eine Anzahl Zettel zurecht, schrieb auf den Kopf eines jeden eine
Möglichkeit, die er etwa hätte wählen können, und darunter rechts die
Gründe, die für, und links diejenigen, die gegen ein solches Vorgehen
sprachen. Und nachdem er etwa ein halbes Spiel Karten von solchen
Zetteln beisammen hatte, griff er mit geschlossenen Augen in das
Päckchen.

Auf dem gezogenen Zettel stand, und zwar zu oberst: Aufs Mietamt gehen
und um Entfernung des lästigen Mieters ersuchen.

Rechts darunter: Dafür spricht, daß es vielleicht gelingt.

Links darunter aber stand: Dagegen spricht 1. daß Scheinemann dadurch,
daß ich ihn aufgenommen habe, wahrscheinlich schon unter dem Schutze
des Mieterschutzgesetzes steht. 2. Daß mir, auch wenn es mir gelingen
sollte, ihn wieder loszuwerden, ein anderer, vielleicht ebenso lästiger
Mieter hereingesetzt würde, möglicherweise sogar der angedrohte
Eisenbahner mit fünf Kindern. 3. Daß es bei dieser Gelegenheit zutage
käme, daß meine Wohnung nicht aus drei, sondern aus vier Zimmern
besteht. 4. Daß, wenn dies wirklich zutage kommt, mir sicherlich
zwei Mieter hereingesetzt werden, ganz abgesehen davon, daß ich
wahrscheinlich auch noch strafbar wäre. Und endlich 5. daß diese Strafe
vielleicht in der Beschlagnahme des Bücherzimmers bestehen würde.

Das Orakel hatte sich sonach aufs entschiedenste gegen ein aktives
Vorgehen ausgesprochen. Ein Glück, daß er Stenograph war, sonst hätte
der Zettel all die Gegengründe gar nicht fassen können. Es blieb
also vorderhand nichts anderes übrig, als die Hände untätig in den
Schoß zu legen und abzuwarten, wie der Hase laufen würde. Bekümmert,
im Gefühl völliger Wehrlosigkeit legte er sich schließlich zu Bett
und träumte, daß die Flurglocke lang und fürchterlich schrillte und
eine neue Kommission ihn heimsuchen kam. Sie bestand aber aus lauter
schwarzgekleideten Leidtragenden. Unter Führung Scheinemanns, der
ebenfalls schwarzen Schlußrock und Zylinderhut trug, bewegte sie sich
in endlosem Zuge durch seine Wohnung. Und diese hatte sich plötzlich
zu einer unabsehbaren Flucht von Zimmern geweitet! So ungefähr, wie es
etwa im Schloß Schönbrunn zu sehen war, das er vor einer Reihe von
Jahren einmal mit seinen Kindern besichtigt hatte ...

Den anderen Morgen, kaum daß er gewaschen und rasiert war, rief er nach
dem Frühstück, und als die Resi es brachte, fragte er: »Hat diese --
Dame, die rothaarige, wirklich bei uns übernachtet?«

Freilich habe sie drüben geschlafen, berichtete die Resi dumpf und
verdrossen. Im Zimmer vom Fräulein, wo jetzt das Ehebett stehe. Und
schon in aller Früh' hätte sie nach warmem Wasser verlangt. Wie sie,
die Resi, aber den Krug hineingebracht, da sei er ihr beinahe aus der
Hand gefallen, vor lauter Scham.

»Denn in so einem Aufzug,« rief sie, wieder in Hitze geratend, »hab'
ich noch nie kein Frauenzimmer nicht g'sehn! Und er -- ist daneben im
Bett gelegen und hat zug'schaut! Meiner Seel', ich sag's aufrichtig,
wie es ist,« schloß sie die Hände zusammenschlagend, »eine solche
Bagasch ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen!«

An diesem Morgen ging der Oberrechnungsrat früher aus, als er es
gewöhnlich zu tun pflegte, und blieb auch länger fort als sonst.
Vielleicht, daß ihm bei der Bewegung in freier Luft eine Erleuchtung
kam. Immer hoffte er darauf, während er seine bohrenden Gedanken
in Straßen und Anlagen spazieren führte. Aber immer drehten diese
Gedanken sich im gleichen Kreise herum. Und als er die Treppe seines
Hauses wieder emporklomm, war er nicht um ein Haar klüger als zuvor.

An der Wohnungstür fand er nun schon die Visitkarte seines Mieters
angeheftet. Er las und wunderte sich. Es stand darauf gedruckt:
»Scheinemann, Rechnungsrat a. D., Generaldirektor der Kondor-Ex- und
Import-Handelsgesellschaft, G. m. b. H.« Kopfschüttelnd betrat er sein
Bücherzimmer und fuhr erschrocken zurück, als wär' er auf eine Schlange
getreten. Denn im Bücherzimmer saß -- Herr Scheinemann!

Breit und behaglich saß er in Herrn Plessens Klubsessel, las in einem
Buch, welches er offenbar mit einem Stoß anderer Bücher, die vor
ihm auf dem Tische lagen, einem der Regale entnommen, und rauchte
eine dicke, schwarze, feine Zigarre dazu, deren bläulicher Rauch wie
brauender Gebirgsnebel über dem Lesetisch schwebte.

»Entschuldigen Sie, Herr Oberrechnungsrat, wenn ich mich nicht stören
lasse!« rief er ihm entgegen, ohne seine Stellung zu verändern.
»Die Resi, die langweilige Person, wird ewig mit Aufräumen der paar
Zimmerln nicht fertig, obwohl ihr meine Braut dabei hilft und ohnedies
fast alles selber macht. So hab' ich mich halt einstweilen daherein
geflüchtet. Teufel noch einmal, das ist ein schönes Zimmer! Und Bücher
haben Sie -- mehr als gescheit. Aber lauter Schmarrn! Wer liest denn
solches Zeug heut' überhaupt noch? Das einzige, was ich gefunden hab',
sind die paar Memoirenbände, der Casanova. Sie haben ihn wahrscheinlich
aus historischem Interesse angeschafft, mich interessiert er aber
natürlich aus einem ganz anderen Grunde.«

Er lachte vergnügt auf und fuhr eifrig in dem Bande zu blättern fort,
während die Asche seiner Zigarre auf den Teppich fiel. Herr Pleß hatte
sich stumm und wie benommen auf einem Stuhle niedergelassen und wartete
beinahe gespannt, was nun weiter geschehen würde. Da aber der andere,
der offenbar auf eine besonders reizvolle Stelle gestoßen war, nicht
Miene machte, mit Lesen aufzuhören, so räusperte er sich schließlich
und sagte: »Die Karte an der Wohnungstür gibt mir Rätsel auf. Sind Sie
denn wirklich schon Rechnungsrat --? Und sogar schon a. D.? Wie ist
denn das möglich? Ich habe seinerzeit wenigstens fünfundzwanzig Jahre
gebraucht bis zu dieser Rangstufe.«

»Ja, was glauben Sie denn?« sagte Herr Scheinemann, indem er als
Lesezeichen ein Eselsohr ins Buch machte und dieses zuklappte. »Eine
solche Schafsgeduld wie die Beamtenschaft von früher hat die heutige
nicht mehr. Das geht jetzt alles durch die Organisation, und wenn die
Regierung nicht pariert, so gibt's ganz einfach Streik. Verstanden?
Übrigens hab' ich bloß den Titel und Charakter grad noch ergattert.
Denn in dem Augenblick, wo ich pensionsfähig geworden war, hab' ich
mich ohnedies empfohlen. Ist schon fast ein Jahr her; gestern, als
wir uns begegneten, war ich nicht als Beamter im Amt, sondern als
Querulant. Ich bin nämlich jetzt Partei und lasse mir von den Behörden
nichts gefallen. Ein Trottel, wer es anders macht und auf die paar
Netscherln aus dem Staatssäckel ansteht. Heutzutag' kann man doch von
einem Beamtengehalt nicht leben! Ich bitte Sie! Manchen Tag verdien'
ich mehr als wie ein Minister das ganze Jahr. Man muß es nur verstehn,
den Leuten die Haut über die Ohren zu ziehen. Gehört halt auch Talent
dazu.«

»Hm, daran fehlt es Ihnen freilich nicht,« sagte Herr Pleß mit einem
Anflug von Laune. »Womit handelt eigentlich diese G. m. b. H. und warum
heißt sie Kondor?« fragte er.

»Sie handelt mit allem, was man ex- oder importieren kann. Mit Hafer
aus Jugoslavien, mit Antiquitäten nach Holland, mit Champagner aus
Frankreich, mit Galanteriewaren nach Amerika usw. Hauptsächlich aber
mit Mehl, Kohlen, Zigaretten, ausländischen Valuten -- kurz, mit allem,
womit gerade ein Geschäft zu machen ist, gleichgültig welches. -- Gibt
es hier keinen Aschenbecher?« unterbrach er sich. »Ach so, Nichtraucher
...«

»Und warum wir gerade Kondor heißen?« fuhr er fort, die Asche seiner
Zigarre mit dem Zeigefinger in der Luft abschnippend. »Du lieber
Himmel, jedes Kind muß nun einmal seinen Namen haben, da ist mir
halt einmal in einer lustigen Stunde diese symbolische Bezeichnung
eingefallen. Weil nämlich der Kondor auch so ein Raubvogel ist wie
meine Firma. Er hackt seinen Schnabel und seine Fänge überall hinein,
wo etwas Saftiges ist, und reißt einem jeden, der sich nicht wehrt,
einen Fetzen Fleisch aus dem Leibe.«

»Und wo befinden sich eigentlich die Bureaus?« fragte Herr Pleß,
seinerseits nun schon beinahe belustigt über die Dämonie dieser nicht
eben vereinzelt dastehenden Zeitmoral.

»Das Hauptbureau,« erklärte Scheinemann, »bin ich und mein Notizbüchel.
Und die Filiale ist drüben, in dem Zimmerl neben unserm Schlafzimmer.
Meine Braut -- wenn Sie uns einmal besuchen, stell' ich Sie vor --
bedient die Schreibmaschine. Aber lang wird's nicht mehr möglich
sein, weil wir uns zu vermehren gedenken ... Ein paar größere Zimmer
würden wir halt brauchen,« sagte er, sich aufmerksam nach allen Seiten
umsehend. »Damit wir bald ein paar Tippfräuleins einstellen könnten.
Das Geschäft ist mit Kundschaft vollgesaugt wie ein Schwamm mit Wasser.
Man muß rein die Leut' manchmal vor den Kopf stoßen, damit sie einen in
Ruh' lassen, sonst wär's ohne ein richtiges Bureau wirklich nicht mehr
zu dermachen.«

Die Wendung gegen die Wohnungsfrage, die das Gespräch genommen, hatte
rasch die Spuren von Heiterkeit verscheucht, die sich bei Herrn Pleß
regen wollten, und stürzte ihn in neue Sorgen. Er räusperte sich jetzt
ein paarmal hintereinander, hustete ein wenig und rang nach Atem. Ein
Stein lag ihm auf der Brust und machte seine Stimme trocken und heiser.

»Ich wundre mich,« sagte er zaghaft und beklommen, »daß es in Ihrem
Geschäft keinen Parteienverkehr gibt.«

»Gibt es natürlich auch,« sagte Herr Scheinemann, ohne scheinbar zu
ahnen, daß diese Eröffnung seinem Gastgeber nicht gerade angenehm sein
konnte. »Nur ein bissel Geduld, von morgen an geht's los. Weil nämlich
das Zirkular, das unsern Kunden meine neue Adresse bekannt gibt, erst
heute versendet wird. Übrigens kaum der Rede wert -- dreißig, vierzig
Leut' im Tag, wenn's hochkommt. Und ausschließlich gewähltes Publikum,
Agenten, Kommissionäre, Schieber, lauter gute Bekannte von uns, zum
Teil sogar persönliche Freunde. Übrigens -- Ihren Rock und Hut sollten
Sie doch nicht im Vorzimmer hängen lassen, Herr Oberrechnungsrat.
Befolgen Sie meinen Rat, man kann heute nicht vorsichtig genug sein.«

In diesem Augenblick schrillte die Flurglocke, geradeso wie es im Traum
gewesen war -- Herr Pleß, durch den angekündigten Parteienverkehr, der
angeblich nicht der Rede wert war, ohnedies schon fast am Ende seiner
Kräfte, zuckte nervös zusammen, als hätte man ihm einen Schlag ins
Genick versetzt.

»Jesses, das wird der Sizilianische Schwefel sein!« rief Scheinemann
aufspringend. »Sie erlauben doch, daß ich die paar Fasseln einstweilen
da im anstoßenden Zimmer aufstapeln lasse? Es wohnt ja niemand darin,
so kann es auch niemand genieren, und ich hab' im Augenblick kein
Magazin. Es handelt sich nur um einen ganz kleinen Posten, zwei-,
dreitausend Kilo im ganzen -- spielt gar keine Rolle, was? Also
gemacht, gemacht! Guten Morgen, Herr Oberrechnungsrat -- ja richtig,
der Casanova!«

Er kehrte noch einmal um, nahm den Stoß Bücher unter den Arm und
entfernte sich eilfertig. Draußen hörte man ihn eine Weile mit
Frachtknechten herumschreien, dann wurde im Nebenzimmer die Tür
aufgeschlossen -- den Schlüssel, der von der anderen Seite steckte,
hatte Pleß unglückseligerweise vergessen rechtzeitig abzuziehen. Jetzt
konnte man das Abladen von Frachten im Schlafzimmer von Herrn Plessens
verstorbener Frau vernehmen, schwere Kisten oder Fässer wurden auf den
Fußboden gestellt. Jedesmal gab es ein Gepolter, als würden Felsblöcke
gewälzt.

Der Oberrechnungsrat saß still in sich zusammengesunken da und
lauschte. Bei jedem erneutem Gepolter gab es ihm einen Stoß. Immer
kleiner wurde er und gebückter und schließlich fast empfindungs- und
teilnahmslos, als ginge ihn diese Sache, ja die ganze Welt nichts mehr
an ...

Erst als die Frächter wieder fort waren und es draußen auf dem Gang und
im Nebenzimmer ruhig wurde, ermannte er sich. Er stand auf und öffnete
das Fenster, damit wenigstens der Zigarrenrauch sich verziehen könne,
der noch immer das Bücherzimmer erfüllte.

Gegen Mitte der Woche kam wirklich der angekündigte Parteienverkehr
allmählich in Gang und steigerte sich zusehends von Tag zu Tag, je mehr
die neue Adresse der »Kondor G. m. b. H.« bekannt wurde. Von früh bis
spät schrillte die Glocke, so daß die Resi vor lauter Türaufmachen fast
keine Zeit zum Kochen mehr fand, und so oft man das Vorzimmer betrat,
standen dort ein paar zweifelhafte Gestalten und warteten darauf, vom
Herrn »Generaldirektor« empfangen zu werden.

Aber auch die Abende und Nächte brachten nicht die ersehnte Ruhe.
Da kamen mit Gelächter und Gekirre die Freunde und Freundinnen,
Flaschenkörbe wurden ins »Bureau« geschleppt, es gab Spiel- und
Zechgelage. Bis lange nach Mitternacht hörte man oft zur Gitarre
singen, Bänkel- und Negerlieder, Gekreische und Getute störten den
Frieden des Hauses. Ja, es kam vor, daß mitten in nachtschlafender Zeit
die Fensterscheiben zu schüttern und zu klirren begannen, man hatte die
Tische, Betten und Stühle übereinandergetürmt und vergnügte sich trotz
der Beengtheit des Raumes wie rasend an den modernen Tänzen.

Dabei hatten die oberflächlichen Instinkte, die achtlosen und
schlampigen Gewohnheiten der lästigen Mieter auch noch jenes Gefühl der
Sicherheit und Geborgenheit in kürzester Zeit gänzlich zerstört, das
eine abgeschlossene Wohnung sonst gewährt und sie recht eigentlich erst
zu einem Heim macht. Bald blieb, wenn sich die lärmenden Zechbrüder
in vorgerückter Stunde verabschiedet hatten, die Eingangstür aus
Versehen offenstehen, so daß jeder, dem es beliebte, sich einschleichen
konnte; bald fand man am hellichten Morgen die Lichter im Vorzimmer
noch brennen; bald kam man darauf, daß irgend ein fremder Kerl, dem
in seiner Trunkenheit vermutlich der Heimweg zu mühsam gewesen war,
irgendwo in einem verborgenen Winkel, vielleicht in der Badekammer,
als blinder Passagier übernachtet hatte. Einige von den Intimsten
der »Kondor G. m. b. H.« hatten sich gar eigene Wohnungsschlüssel
anfertigen lassen und spazierten nun dreist, so oft es ihnen beliebte,
zu jeder Tages- oder Nachtzeit zur Tür herein.

Herr Pleß, schlaflos, übernächtig, zu Tode ermüdet, war in eine
unerklärliche Stumpfheit verfallen, aus der er sich nicht aufzuraffen
vermochte. Er fühlte sich außerstande, dem Unfug zu steuern oder
überhaupt etwas zu unternehmen. Und allmählich lösten seine Gedanken
und Gefühle sich von der umstrittenen Wohnung, von den Zimmern seiner
Frau und seiner Kinder, an denen sonst sein Herz gehangen, von allem,
was die Erinnerungen erdenschwer und unwiderbringlich machte, und
suchten ein anderes Ziel.

Ach, was klammert der Mensch sich an irdische Dinge und Gegenstände,
um seiner Einsamkeit zu entrinnen! Ist es nicht eine Täuschung? Sind
es nicht unverrückbare Grenzen, in die jeder für sich und alles,
was im Raum steht, unerbittlich eingeschlossen bleibt? Wird nicht
die Einsamkeit dadurch zum zwingenden Gesetz? Aus ihr gibt es keine
Erlösung, solange wir im Greifbaren leben. Und keine wahre Gemeinschaft
und Vereinigung ist uns erreichbar, eh' unsere sehnende Seele nicht
zurückgeflossen ist ins All.

In den Stuben seiner Kinder trieben nun die Scheinemanns ihr
Unwesen, aus dem Schlafzimmer seiner Frau war ein Warenmagazin für
Schiebergeschäfte geworden. Nein, die teuren Toten wohnten nicht
mehr darin. Aber vielleicht war es gut so, daß er sich dessen bewußt
geworden. Denn in den Zimmern der Wirklichkeit hätte er seinen Lieben
doch nie begegnen können. Nur da, wo sie in Wahrheit weilten, bestand
die Möglichkeit, sie wiederzufinden ...

Neue Mißhelligkeiten gaben Anlaß zu neuen Entschlüssen und drängten
endlich gebieterisch zu entscheidenden Schritten.

Schon seit ein paar Tagen stand eine große, schwere Kiste, auf der
mit roter Farbe die Warnung: »Vorsicht! Sprengstoff!« aufgemalt war,
unbeachtet im Vorzimmer, und die angebrannten Zündhölzer, die Zigarren-
und Zigarettenstummel, die sich auf dieser Kiste gefunden hatten,
legten die Vermutung nahe, daß sie von scheidenden Gästen mit Vorliebe
als Aschenbecher benutzt wurde. Dies hatte Herrn Pleß veranlaßt, einen
Zettel zu Scheinemann hinüberzuschicken, mit dem Ersuchen, diese Kiste
sofort zu entfernen; worauf die Antwort einlief, daß sie ganz bestimmt
am Samstag würde abgeholt werden.

Als nun aber die Resi am Sonntag morgen das Frühstück hereinbrachte und
berichtete, die Kiste stehe noch immer auf demselben Fleck, da lehnte
Herr Pleß sich in seinem Sessel zurück und sagte tief Atem schöpfend:
»Es geht so nicht weiter! Es muß ein Ende gemacht werden!«

Ein Schimmer von Hoffnung, den beispiellos starken Geduldsfaden des
Oberrechnungsrates endlich reißen zu sehen, fiel bei diesen Worten in
Resis umdüstertes Gemüt. Sie war in diesem Augenblicke beinahe geneigt,
es für einen Glücksfall zu halten, daß die Scheinemanns in vergangener
Nacht auch noch den Gashahn im Vorzimmer schlecht abgedreht und dadurch
eine Gasausströmung verursacht hatten.

So eindrucksvoll wie möglich schilderte sie, Herrn Plessens
Entschlossenheit zu befeuern, die Folgen, die daraus hätten entstehen
können, wenn sie nicht durch den Gestank gerade noch rechtzeitig genug,
um dem Verderben Einhalt zu tun, aus dem Schlafe geweckt worden wäre.

»Alle zwei hätten wir können tot sein,« beteuerte sie, »Sie und
ich, wenn ich nicht gleich die Fenster aufg'rissen hätt'! Das ganze
Vorzimmer war schon voll von dem Gift, und durch alle Klumsen hat es
sich eingeschlichen!«

Sie öffnete ein Fenster und fragte: »Mir scheint, Sie merken gar
nichts davon, daß es hier nach Gas riecht?«

Nein, er hatte es wirklich nicht gemerkt, erst jetzt, da die frische
Luft einströmte, spürte er den Gasgeruch, der auch das Bücherzimmer
erfüllte.

»Sehn Sie, das ist das Gefährliche dabei,« sagte die Resi. »Man gewöhnt
sich im Schlaf daran, und eh' daß man aufwacht, ist man tot.«

»Eigentlich ein wünschenswertes Sterben!« sagte der Oberrechnungsrat
vor sich hinsinnend.

»Na, ich bedank' mich dafür! An einer Schlamperei von den Falotten da
drüben möcht' ich nicht zugrund gehn!«

»Hm! Ja, ja, freilich! ... Aber so, wie es jetzt ist,« wiederholte
er, »kann es wirklich nicht länger bleiben ... Irgendwie muß ein Ende
gemacht werden!«

Auf seinem Morgenspaziergang legte er sich seinen Plan zurecht. Er
wollte den Herrn »Generaldirektor« daran erinnern, daß er gar nicht
sein Mieter, sondern eigentlich bloß Gast sei, und daß es jedem
Gastgeber freistehe, die gewährte Gastfreundschaft zu kündigen. Von
diesem Rechte Gebrauch machend, wollte er ihn ersuchen, die Wohnung
ehestens zu räumen.

Was konnte Scheinemann eigentlich dagegen einwenden? Es gab nach
seiner Meinung keine andere mögliche Antwort darauf als die, sich zu
empfehlen.

Herr Pleß blieb stehen, nahm den Hut ab und trocknete sich den Schweiß
von der Stirn. Schon die paar Schritte Bewegung im Freien hatten
ihn erschöpft, so herabgekommen war er durch Kummer und schlaflose
Nächte. Aber dieser Augenblick bedeutete eine Wendung. Er wunderte
sich darüber, wie einfach die Sache eigentlich lag. Mußte dieser Weg
nicht unbedingt zum Ziele führen? Für den äußersten Fall hatte er ihn
sogar schon einmal in Aussicht genommen gehabt, damals, nach der ersten
Begegnung mit Scheinemann. Schon längst hätte er ihn betreten sollen,
anstatt sich zwecklos zu quälen. Er zerbrach sich den Kopf darüber,
weshalb er es nicht getan. Und er fand keine andere Erklärung dafür,
als daß einem in Zuständen der Erregung gerade das Allernatürlichste
und Nächstliegende manchmal zu allerletzt einfällt.

Erleichtert kehrte er nach Hause zurück und hatte nur mehr die eine
Sorge, wie er Scheinemanns heute, am Sonntag, habhaft werden sollte.
Denn an geschäftslosen Tagen schien dieser, nach den bisherigen
Erfahrungen zu schließen, offenbar die Gewohnheit zu haben, im Auto
über Land zu fahren, oder Gäste bei sich zu sehen. Als er aber ins
Bücherzimmer trat, saß wieder einmal -- und diesmal nicht ganz
unwillkommen -- der Herr »Generaldirektor« in eigener Person im
Klubsessel und schmauchte eine seiner dicken, schwarzen Zigarren.

»Ich warte auf Sie, Herr Oberrechnungsrat,« begann er sofort und erhob
sich. »Ich wollte mir erlauben, Sie um eine kurze Unterredung zu
ersuchen.«

»Ich hatte denselben Wunsch. Bitte, behalten Sie Platz. Womit kann ich
dienen?«

»Sie werden bemerkt haben, daß für meinen ausgebreiteten
Geschäftsbetrieb die Räume, die Sie mir zugewiesen haben, nicht
ausreichen. Überdies sind wir -- vom Geschäft ganz abgesehen -- unser
zwei, nämlich meine Braut und ich; Sie dagegen nur ein einschichtiger
alter Herr. Jeder Unparteiische muß einsehen, daß die Wohnung ungerecht
verteilt ist. Das lasse ich mir nicht länger gefallen. Mit einem Wort,
um es kurz zu machen: Ich ersuche Sie, mir dieses größte und schönste
Zimmer, in dem wir uns jetzt befinden, und das ich für meine Firma
dringend benötige, ferner das anstoßende größere Zimmer, endlich
das kleinere, das einst Ihre Tochter bewohnte, und das jetzt unser
Schlafzimmer ist, zur freien Verfügung zu stellen. Für Ihre Bedürfnisse
reicht die Kammer vollkommen aus, in der einst Ihr Sohn wohnte, und mit
der ich mich nach Ihrer liebenswürdigen Absicht hätte begnügen sollen.
Bei dem zurückgezogenen Leben, das Sie führen, und das durch Ihr Alter
und durch Ihre mißlichen Vermögensverhältnisse bedingt ist, dürften Sie
mit diesem Zimmer, das immerhin Raum für alles Notwendige bietet, bei
einigem guten Willen Ihr Auslangen finden können.«

»Ja ... wie ... was ... Sie meinen ...« Herr Pleß rang nach Atem. »Und
wo soll ich denn ... meine Bibliothek --?« stammelte er, außer sich vor
Angst und Entrüstung. »Wo soll ich denn dann meine Bücher
unterbringen?«

»Die alten Schwarten -- wenn Sie sie nicht lieber verkaufen wollen, was
bei Ihrem heruntergekommenen Ernährungszustand sicher das ratsamste
wäre -- packt man ganz einfach in Kisten und verstaut sie auf dem
Dachboden. Überbrauchte Kisten kann ich Ihnen zu dem Zweck gern zur
Verfügung stellen.«

Der Oberrechnungsrat hatte rasch seine Fassung wiedergewonnen. Daß
Scheinemann seine Bücher beschimpft und alte Schwarten genannt hatte,
das segnete ihn plötzlich mit der Leidenschaft und dem Mut der eigenen
Meinung.

»Sie undankbarer Mensch!« schrie er und hieb die Faust auf die Platte
des Lesetisches. »Sie heimtückischer Lotterbube! Was nehmen Sie
sich heraus? Mit welchem Recht spielen Sie hier den Herrn? Als Gast
hatte ich Sie aufgenommen -- leider, leider! Und nun treten Sie mir
als ein schamlos Fordernder entgegen? Ich kündige Ihnen hiermit die
Gastfreundschaft! Jawohl! Ich setze Ihnen den Stuhl vor die Tür! Ich
bin nicht verpflichtet, einen Gast bei mir zu beherbergen! Nein! Dazu
bin ich nicht verpflichtet, merken Sie sich das! Und habe es auch satt,
Ihre Übergriffe länger zu erdulden! Meine Langmut ist zu Ende! Ich
delogiere Sie! Jawohl! Sie, samt Ihrer geschminkten Mätresse und der
ganzen unsauberen Schiebergesellschaft! Gehn Sie! Ich weise Sie hinaus!
Haben Sie verstanden? Machen Sie, daß Sie fortkommen! Treten Sie mir
nicht mehr unter die Augen!«

Er hielt keuchend inne und war etwas betreten, daß der Erfolg seiner
geharnischten Worte einigermaßen zu wünschen übrig ließ. Der Herr
Generaldirektor hatte ihm die ganze Zeit scheinbar ohne jede Bewegung
gerade ins Gesicht gesehen und ruhig gewartet, bis er zu Ende wäre.
Jetzt sagte er mit seinem breiten, herausfordernd frechen Lächeln um
die Lippen: »Ihre unqualifizierbaren Invektiven einer Erwiderung zu
würdigen, verbietet mir die Selbstachtung. Bezüglich der mir gewährten
Gastfreundschaft und meines Verhältnisses zu Ihnen und Ihrer Wohnung
dürften aber doch einige aufklärende Bemerkungen, die ich mir zu
gestatten bitte, am Platze sein.«

Damit zog er eine dicke Brieftasche hervor und zählte gelassen sechs
nagelneue blaue Tausendkronenscheine auf das Fenstertischchen.

»So --!« sagte er, »da ist die Vierteljahrsmiete für die zwei Zimmer,
die ich bisher innehatte. Mehr können Sie für diese Lückerln wirklich
nicht beanspruchen. Wenn Sie aber glauben, mit Ihrer scheinbaren
Großmut das Gesetz umgehen zu können, so befinden Sie sich auf dem
Holzweg. Bei mir wenigstens sind Sie mit solchen Kniffen an den
Unrechten gekommen. Wir sind unser zwei Personen, ich habe nach dem
Gesetz Anspruch auf drei Zimmer und bin nicht der Mann, der sich um
sein gutes Recht betrügen läßt. Ich rate Ihnen gut: Überlegen Sie sich
meinen Vorschlag. Und vergessen Sie dabei das eine nicht, daß ich Sie
mit Haut und Haar in meiner Hand habe. Wenn Sie nicht Räson annehmen,
so zeige ich Sie ganz einfach an. Denn ich weiß genau, daß Sie Ihr
Bücherzimmer listig verheimlicht haben. Jawohl! Geschwindelt haben
Sie! Hinterzogen haben Sie! Und welche Strafe auf Hinterziehung von
Räumlichkeiten steht, das wird Ihnen vielleicht selbst bekannt sein.«

Er stand auf und verließ ohne Gruß das Bücherzimmer. Die Resi hörte
ihn mit herrischem Tritt an der Küche vorbeimarschieren. Voll Spannung
wartete sie, ob der Herr Oberrechnungsrat vielleicht herauskommen und
ihr wenigstens andeutungsweise verraten würde, wie er seinen Vorsatz,
»ein Ende zu machen«, ins Werk gesetzt hätte. Nachdem aber eine geraume
Zeit verstrichen war, ohne daß er sich gezeigt hätte, so hielt sie es
schließlich nicht länger aus und beschloß, obgleich es noch etwas zu
früh dafür war, den Tisch zu decken.

Ins Bücherzimmer eingetreten, fand sie ihren Herrn, den Kopf in die
Hand gestützt und anscheinend tief in Gedanken versunken, im Klubsessel
sitzend, wagte es aber nicht, das Wort an ihn zu richten. Die ganze
Zeit, während sie leise und behutsam am Tisch herum hantierte, bewegte
er sich nicht ein einziges Mal, sondern verharrte regungslos, als wär'
er zu Stein erstarrt, immer in der gleichen Stellung. Nichts Gutes
ahnend, wollte sie eben das Zimmer wieder verlassen und in ihre Küche
zurückschleichen, als er sie anrief.

»Ach Resi,« sagte er mit einer gänzlich veränderten, merkwürdig
gequälten Stimme, »seien Sie so gut -- ich fühle mich fast zu matt, um
aufzustehn -- reichen Sie mir doch das rote Buch her, das dort in der
dritten Reihe steht.«

Dienstfertig suchte sie nach dem Gewünschten und griff nach einem
großen roten Bande in der bezeichneten Reihe, um ihn herabzulangen.

»Nein, das ist es nicht! Rechts davon!« rief er ungeduldig.
»Noch weiter rechts, das kleine rote Bändchen, ›Marc Aurel,
Selbstbetrachtungen‹ steht auf dem Rücken.«

Endlich hatte sie's gefunden und brachte es ihm.

»Sind der gnä' Herr am End' gar krank?« fragte sie voll Sorge.

»Nein! Gar nicht, gar nicht! Besten Dank!« sagte er abweisend und
begann in dem Bändchen zu blättern.

Während sie ihn beim Mittagessen bediente, war er ununterbrochen in
das kleine rote Buch vertieft, achtete ihrer nicht, sprach kein Wort,
berührte die Speisen kaum, las nur immer und las ...

»Jetzt hat er wieder einmal den Leserappel,« dachte die Resi und
war nun schon fest überzeugt, daß der Versuch, die Scheinemanns
abzuschütteln, mißlungen sein mußte.

Am Nachmittag hätte sie, da Sonntag war, »Ausgang« gehabt, verzichtete
aber darauf, um zur Stelle zu sein, falls ihr Herr, der ihr durchaus
nicht geheuer vorkam, irgend etwas benötigen sollte. Er verlangte
jedoch kein einziges Mal nach ihr, und als sie ihm den Tee brachte,
sah sie ihn am Schreibtisch sitzen. Er schrieb emsig oder rechnete und
hatte eine Menge Papiere, Briefschaften und Rechnungen um sich liegen.

»Zum Abendbrot heute nichts als abermals eine Tasse Tee!« befahl er,
flüchtig aufblickend.

»Der Herr Oberrechnungsrat sind halt doch nicht ganz beisammen!«
stellte sie mit Überzeugung fest.

»Ein bißchen abgespannt -- nichts weiter. Vielleicht geh' ich etwas
früher als sonst zu Bett ... Ja, was ich sagen wollte: Meinen schwarzen
Anzug bürsten Sie mir aus, bitte, und hängen ihn herein. Morgen früh
muß ich zu einem Leichenbegängnis.«

»Eine Leich'?« fragte sie erstaunt. »In aller Früh'?«

»Ja, ausnahmsweise am Morgen ... Ich habe jetzt noch ein paar Stunden
zu arbeiten und möchte ungestört sein. So gegen acht vielleicht, wenn
Sie so freundlich sein wollten ...«

Sie verrichtete alles, wie er sie geheißen, klopfte gegen acht an
die Tür, hängte den gesäuberten Anzug herein und räumte das Bett ab.
Nachdem sie auch noch den gewünschten Abendtee gebracht, glaubte sie zu
bemerken, daß er bereits Anstalten machte sich niederzulegen. Da fragte
sie, ob er noch etwas benötige, und als er verneinte, empfahl sie sich
und wünschte gute Nacht und baldige Besserung.

»Leben Sie wohl, Resi!« rief er ihr in einem milden, herzlichen Tone
nach.

»Ein guter Herr,« dachte sie. »Wie anders könnt' alles sein, wenn's
anders wär'!« ...

Und Bangigkeit im Herzen legte sie sich, müde und bekümmert, wie
auch sie war, ebenfalls vorzeitig zu Bett. Aber von Einschlafen war
lang keine Rede. Heute ging's da drüben wieder toll zu. Sang und
Lustbarkeit, Gejohle und Gekreisch. Das Knallen der Champagnerpfropfen
hörte sie bis in ihr dunkles Stübchen herein, und wenn ein Vivat
ausgebracht wurde, so klang's, als sei eine ganze Volksmenge in den
zwei kleinen Zimmern versammelt. Wohl ein paar Stunden lauschte sie den
ausgelassenen Geräuschen, bis doch die Müdigkeit ihr allmählich die
Ohren verstopfte.

Da seufzte sie auf und sagte zu der verstorbenen Frau Pleß -- denn
immer redete sie, wenn sie in Gedanken sprach und ihre Ansichten
äußerte, mit der seligen gnädigen Frau -- ...

»Nein, wie's heutigentags in der Welt zugeht,« sagte sie -- »ich bin
mir wirklich nicht mehr gescheit genug! Behörden haben wir in die
Haut hinein, eher zu viel als zu wenig, und drangsalieren tun sie die
anständigen Leut', daß ihnen das Blut unter den Nägeln herausspritzt.
Aber die Schieber und Schleicher und Volksaussauger, die dürfen
prassen, und das Geld, das sie den Ehrlichen abgeknöpft haben, zum
Fenster hinausschmeißen -- da rührt sich keine Behörde, da schaun die
Herrn Drangsalierer ruhig zu und stehn da wie die Waserln und schupfen
die Achsel: Ja, da kann man nix machen!«

Und die selige Frau Oberrechnungsrat, als die Resi ihr so ihr Herz
ausschüttete, nickte mit dem Kopf und lächelte, wie nur die Seligen
lächeln können, und sagte: »Lassen Sie sich deswegen kein graues Haar
wachsen, Resi. Wenn die Welt anders wär', als sie ist, dann wär's ja
keine Kunst, aus dem Leben als halbwegs so anständiger Mensch wieder
herauszukommen, wie man einst als unschuldiges kleines Kind in sie
hineingekommen ist!«

Das leuchtete der Resi ein und beruhigte sie einigermaßen. Sie mußte
selber lächeln und schwebte allmählich so federleicht, als ob sie ein
Schmetterling und keine Köchin gewesen wäre, ins Blumenland des Traums
hinüber, obgleich nur wenige Schritte von ihrer Zimmertür entfernt,
drüben im Reich des »Kondors«, das Singen, Kreischen und Johlen noch
lange bis nach Mitternacht weitertobte.

Den nächsten Morgen, als die Resi aus ihrer Kammer trat und in die
Küche gehen wollte, fand sie einen Zettel an die Tür geheftet, darauf
stand mit Blaustift geschrieben: »Achtung! Der Gashahn ist geöffnet!«

Von Schreck fast gelähmt, stieß sie die Tür auf, ein entsetzlicher,
atemverlegender Geruch schlug ihr entgegen -- Jesus Maria! Da saß eine
schwarzgekleidete Gestalt ... und rührte sich nicht ...

Weit riß sie die Fenster auf.

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

In ihrer Not stürzte sie an die Tür des Mieters.

»Wer klopft? Wer ist draußen? Was wollen Sie denn?«

»Der gnädige Herr --! der Herr Oberrechnungsrat --!«

»Also was ist denn eigentlich los?«

»Tot ist er! Umgebracht hat er sich! Der Gashahn ist offen!«

»So machen Sie den Gashahn wieder zu und die Fenster auf. Und dann
holen Sie die Polizei. Was hab' denn ich dabei zu tun?«

Wie im Wahnsinn rannte sie davon, die Treppe hinunter. Es regnete in
Strömen, über ihren Füßen, die nur mit weichen Hausschuhen bekleidet
waren, spritzte das Wasser der Pfützen zusammen. Da stand der
Wachposten. Mit fliegendem Atem berichtete sie ...

An der Wohnungstür, die offen stehen geblieben war, hatte sich
inzwischen ein Trüppchen Neugieriger angesammelt. Leute aus dem Haus,
aus den Keller- und Dachwohnungen, Dienstmädchen, Hausmeisterbuben.
Scheu traten sie näher, stießen und schoben einander vorwärts, wagten
sich nicht weiter und kamen doch allmählich vom Fleck. Bis einer auf
die Schnalle der Küchentür drückte -- da fuhren sie aufkreischend
zurück, flüsterten untereinander und spähten abermals durch die
Türspalte ...

Der Wachmann, mit dem die Resi zurückgekehrt war, wies die Unberufenen
hinaus. Unten tönte eine Hupe.

Der Wachmann hatte telephonisch die Meldung weitergegeben. »Da ist
schon die amtliche Kommission,« sagte er.

Im ersten Augenblick hatte die Resi an die Wohnungskommission gedacht.
Aber freilich -- sie wußte es ja, es handelte sich um die Aufnahme des
Augenscheins.

Als sie die Herren in die Küche geleitete, prallte sie neuerdings
entsetzt zurück. Da saß noch immer die schwarzgekleidete Gestalt, in
derselben Stellung, regungslos. Krampfhaft hielt die herabgesunkene
Hand den Schlauch des Gaskochers umklammert ...

Der Polizeikommissar, während der Arzt sich um den Toten zu schaffen
machte, ersuchte um Feder und Papier. Gerne ergriff die Resi den
Anlaß, sich aus der Küche zu entfernen. Sie trat ins Bücherzimmer, das
Gewünschte zu holen, und erstarrte -- Scheinemann und die Rothaarige
waren mit einem Zollstab an der Arbeit, die Länge der Wände abzumessen.

Den Blick voll unauslöschlichen Hasses auf das Paar gerichtet, sagte
sie mit Betonung: »Hier ist das Zimmer vom gnädigen Herrn!«

»Schweigen Sie!« herrschte der Generaldirektor sie an. »Noch heute
verlassen Sie das Haus, Sie freche Person! Schauen Sie meine Frau an!
In ein paar Tagen sind wir unser drei, dann haben wir Anspruch auf eine
Vierzimmerwohnung!«

Und die Rothaarige verzog die Mundwinkel, daß die dicken, gepuderten
Wangen wie zwei weiße Äpfel hervorsprangen, und sagte mit ihrem stark
slawischen Akzent: »Fir Dohde braucht das Wonnungsahmt nicht merr zu
sohrgen!«

In diesem Augenblick hatte Herr Scheinemann die sechs großen blauen
Banknoten bemerkt, die er gestern dem Oberrechnungsrat ausbezahlt
hatte. Unberührt lagen sie noch auf dem Fenstertischchen. Rasch trat
er hinzu, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie mit seinem
widerwärtigen breiten Lächeln in die dickgefüllte Brieftasche.




                            Die Zobelkinder

           Aus den Aufzeichnungen eines geistigen Arbeiters


Der Winter bei uns ist rauh, fast seit meiner Geburt trage ich mich
mit dem Gedanken, mir einmal einen Stadtpelz anzuschaffen. Aber bis
jetzt hab' ich es noch nie so weit bringen können. Darum getraue ich
mich auch in keinen Kürschnerladen hinein und begnüge mich damit, die
Schaufenster als Außenseiter zu betrachten. Nur das Geschäft Zum Zobel
in der Krummen Gasse wage ich gelegentlich zu betreten und bewahre
ihm sogar eine gewisse Anhänglichkeit, weil es nämlich früher einmal
meinem Freunde, dem Kürschnermeister Wittig gehörte, mit dem ich in
die Volksschule gegangen bin. Er war schon damals ungemein strebsam,
was ich von mir leider nicht behaupten kann. Nach den untersten
Schulklassen trat er bei einem Kürschner in die Lehre, während ich auf
Karriere verzichtete und mich den Studien zuwendete.

Die Kürschnerei Zum Zobel war und ist eine wahre Goldgrube, was mein
Freund Wittig, solange er lebte, allerdings beharrlich leugnete. Daß er
in diesem Punkte nicht ganz aufrichtig war, wußte in der Krummen Gasse
jedes Kind, obgleich, oder vielleicht gerade deshalb, weil er beständig
über schlechte Zeiten jammerte. Denn das ist immer das beste Zeichen,
daß es einem Gewerbsmann gut geht. Wenn man ihn an das Sprichwort
erinnerte: »Handwerk hat einen goldenen Boden,« so gab er seufzend
zur Antwort: »Jawohl, das sagte der Weber, als ihm die Sonne in die
leere Brotlade schien!« Offenbar gehört zum Gewerbe auch ein bißchen
Verstellung, wie denn ein anderes landläufiges Sprichwort es ziemlich
unverblümt ausspricht, daß ein Handwerksmann und ein Krämer, die nicht
lügen, keine Losung hätten. Nun, ich muß gestehen, daß ich manche
Tageslosung Wittigs mit Vergnügen gegen mein gesamtes Jahreseinkommen
ausgetauscht hätte. Wieviel der Zobel nur allein an mir, der ich doch
eine recht bescheidene Existenz bin, im Laufe der Jahre schon verdient
hat, das läßt sich heute gar nicht mehr nachrechnen. Denn alljährlich
gebe ich dort meine Pelzkappe und den Muff meiner Frau über den
Sommer zur Aufbewahrung. Und wenn ich beides im Herbst wieder abhole,
so erkundige ich mich jedesmal, wieviel jetzt ein Stadtpelz kostet.
Aber der ist freilich auch jedesmal wieder um ein Ziemliches teurer
geworden, sonst hätte ich mir vermutlich schon längst einen gekauft,
was dem Zobel neuerdings ein schönes Stück Geld eingetragen haben
würde.

Der Kürschnermeister Wittig war natürlich nicht gleich vom Lehrjungen
weg Meister geworden, sondern ursprünglich bloß Geselle gewesen. Als
solcher vermählte er sich zum ersten Male, und zwar mit einer perfekten
Köchin, die nicht nur sein Leibgericht, eine süße Mehlspeise, die
man in Wien unter dem Namen »Topfenhaluschka« verehrt, ganz wunderbar
zuzubereiten verstand, sondern ihm auch ein lediges Kind in die Ehe
mitbrachte. Da er dasselbe tat, so glich sich die Sache aus. Der Köchin
schlug das Verheiratetsein übrigens vortrefflich an, sie wurde mit
jedem Tage dicker und gewann schließlich einen solchen Leibesumfang,
daß man wie bei einer alten Eiche, sobald man sie nur erblickte,
unwillkürlich darüber nachzusinnen begann, wie viele Männer wohl nötig
wären, sie zu umspannen. Nach kurzer, aber um so glücklicherer Ehe
starb sie denn auch an Fettsucht, woraus man wohl abermals mit einigem
Recht den Schluß ziehen darf, daß das Kürschnergewerbe seine Leute
nicht leicht an Unterernährung zugrunde gehen läßt.

Da sie ihrem Gatten zwei Knaben geboren hatte und die beiden
außerehelichen Kinder ebenfalls Knaben waren, so stand Wittig nach
ihrem Tode mit vier männlichen Nachkommen hilflos und allein in der
Welt. Nichts natürlicher, als daß in solcher Lage ein ehrlicher
Kürschnergehilfe, der sein Hauswesen nicht vor die Hunde kommen lassen
will, sich sofort nach einer neuen Lebensgefährtin umsieht. Das Glück
wollte es nun, daß ungefähr um dieselbe Zeit die Kürschnermeisterin Zum
Zobel in der Krummen Gasse das gleiche Unglück betroffen hatte. Nach
kaum achtjähriger Musterehe war ihr nämlich ihr Mann durch den Tod
abhanden gekommen und hatte ihr außer der Kürschnerei vier allerliebste
kleine Mädchen und die Sehnsucht nach einem neuen Manne hinterlassen.
Sie hielt deshalb Ausschau nach einem Gegenstande, der der dreifachen
Aufgabe eines Zobelmeisters, -vaters und -gatten gewachsen wäre und
hatte alsbald eine Auge auf den stattlichsten ihrer Gesellen geworfen,
und das war selbstverständlich kein anderer als mein Schulfreund
Wittig.

Die Trauung, die in der Kirche des heiligen Laurentius stattfand, und
bei der mir die Ehre widerfuhr, als Trauzeuge fungieren zu dürfen, war
ein überaus lieblicher Anblick. Es standen nämlich zugleich mit den
Brautleuten nicht weniger als acht herzige Kindchen vor dem Traualtar,
die vier Knaben Wittigs rechter Hand an der Seite der Braut, die vier
Mägdlein der Zobelwitwe links neben dem Bräutigam, alle noch ganz
klein und in schneeweißen Festkleidchen, -röckchen oder -höschen und
jedes ein Myrtensträußchen oder -kränzlein vor der Brust oder im
zierlich gekräuselten Haar, rein als ob sie sich selbst schon als
kleine Bräutchen oder Bräutigämchen aufspielen wollten. Wären die
Gesichterchen nicht sämtlich nach einer etwas groben, handwerksmäßigen
Schablone zugeschnitten gewesen, was ihnen trotz der verschiedenen
Herkunft das Ansehen richtiger Geschwister verlieh; und wäre es nicht
versäumt worden, ihnen vor Beginn der kirchlichen Handlung die Näschen
etwas sorgfältiger zu putzen, so hätte man sich bei ihrem Anblick
leicht an irgend ein schönes altmeisterliches Bild können erinnert
fühlen, wo süße Putten in Unschuldsgewändern irgend einen heiligen
Vorgang andächtig umringen.

Man kannte und schätzte in der ganzen Vorstadtgegend den
Kürschnergehilfen Wittig, der nun seine Meisterin ehelichte und damit
selbst Meister des Zobels wurde, und gönnte ihm sein Glück. »Da kommen
zwei Fleißige zusammen,« sagten die Leute; »fleißig in der Arbeit,
fleißig im Kinderkriegen.« Und das Kürschnermeisterpaar enttäuschte die
Leute nicht. Arbeitsam im Geschäft, umsichtig im Häuslichen, ließen
sie sich doch nichts abgehen und führten ein vergnügliches Leben. Die
Meisterin, die noch in den besten Jahren stand, war heiter, flott,
unternehmungslustig, kurz, was man eine »fesche« Frau nennt, und die
Kaiserstadt an der Donau damals noch ein lustiges Pflaster. So munter
sie sich aber auch um und um bewegte, ihre Pflicht, für die Vermehrung
der Menschheit im allgemeinen und der Zobelkinder im besonderen zu
sorgen, vernachlässigte sie darüber keineswegs, sondern beschenkte
ihren Mann, zwischen Praterwirt und Heurigenschenke gewissermaßen,
alle zwölf bis vierzehn Monate mit einem gesunden Sprößling. Meister
Wittig, der diesen Kindersegen wie die Zinsen eines gut angelegten
Kapitals, die zu bestimmten Terminen fällig werden, mit stolzer
Genugtuung einstrich, verjüngte sich zusehends unter ihrem fröhlichen
Einfluß. »Tages Arbeit -- abends Gäste« reimte nun auch bei ihm wie bei
seiner Gattin und bei Goethe auf »Frohe Feste«.

Als ich wieder einmal meine Pelzkappe und den Muff meiner Frau, weil es
plötzlich grimmig kalt geworden war, vom Zobel abholte, traf ich ihn
selbst im Geschäft an und ergriff die Gelegenheit mich zu erkundigen,
was wohl ein Stadtpelz jetzt koste? Daß mir der Schreck in die Glieder
fuhr, als er den Preis nannte, suchte ich zwar nach Möglichkeit zu
bemänteln, indem ich rasch entschlossen so tat, als hätte ich mich
zufällig selbst aufs Hühnerauge getreten; er mochte es aber dennoch
bemerkt haben. Wenigstens legte er sofort die Grammophonplatte mit der
Jammerarie ein und behauptete, einen solchen Vorzugspreis könne er
freilich keinem anderen machen außer mir, ich möge es nur um Gottes
willen nicht weitersagen, er wisse ohnedies nicht mehr, wie er auf
seine Kosten kommen solle in den schlechten Zeiten, wo die Felle und
die Arbeitslöhne immer teurer, und die Pelzsachen -- im Verhältnis
betrachtet, natürlich! -- immer wohlfeiler würden. Es gebe Kunden, die
das nicht begreifen wollten, aber verschenken könne er seine Ware denn
doch nicht, er habe mit seiner Hände Arbeit eine Familie zu ernähren,
und was es heutzutage heiße, so viele hungrige Mäuler zu stopfen, davon
könne niemand sich eine Vorstellung machen, der nicht selbst Kinder
besitze.

Ich mußte einsehen, daß dies in der Tat keine Kleinigkeit sei, und
schwieg beschämt. Mein Pelzmantel würde mir doch natürlich auch keine
Freude gemacht haben, wenn ich ihn immer mit dem Gefühl hätte tragen
müssen, daß Wittigs Kinder seinethalben am Ende dem nagenden Hunger
preisgegeben gewesen wären. Und leider wußte ich ja aus eigener
Erfahrung, daß das tägliche Leben immer teurer wurde, kostete es mich
doch Mühe genug, auch nur meinen kleinen frugalen Haushalt notdürftig
über Wasser zu halten, obwohl ich gänzlich kinderlos bin. Meinem
Freunde Wittig dagegen hatte gerade damals seine Meisterin nach kaum
sechsjähriger Ehe das fünfte Kind geschenkt. Demnach waren es, da schon
früher deren acht vorhanden gewesen, derzeit genau ihrer dreizehn, und
die Zahl dreizehn gilt bekanntlich für eine Unglückszahl. Über solchen
Aberglauben mag lächeln, wer will, ich kann nur feststellen, daß die
alte Erfahrung sich leider auch in diesem Falle als zutreffend erwiesen
hat.

Die »fesche« Frau Wittig, die für ihr Leben gern tanzte, ließ es
sich nicht nehmen, am Faschingssonntag, schon wenige Wochen nach der
Geburt jenes dreizehnten Zobelkindes ein Kränzchen des Kürschner- und
Pelzwarenhändler-Vergnügungsvereines mitzumachen, dessen Fahnenmutter
sie war. Und da sie als Patronesse keinem Tänzer einen Korb geben
durfte, so übernahm sie sich und verblich am Aschermittwoch als Opfer
einer allzu strengen Auffassung ihrer kürschnerischen Ehrenpflichten.

Meister Wittig, der den Tag über durch das Geschäft vollauf in Anspruch
genommen wurde, konnte die zahlreichen Kinder, deren ältestes nicht
viel über zwölf Jahre alt war, auf die Dauer nicht den Dienstboten
überlassen. Es blieb ihm deshalb nichts übrig, als sich zu einer
dritten Heirat zu entschließen. Kaum daß er diesen Entschluß gefaßt
hatte, so faßte er noch den zweiten, sich diesmal eine ganz besonders
ansehnliche Gattin zuzulegen. Bei den unausgesetzt schlechten Zeiten
und dem immer miserableren Geschäftsgang hatte er sich nach und nach
ein stattliches Vermögen erworben und konnte als wohlhabender Mann, der
noch kaum vierzig Jahre zählte, unter den Töchtern der angesehensten
Bürgerfamilien Umschau halten. Jung sollte die Erwählte sein, doch
nicht flatterhaft, schön, aber nicht hoffärtig, liebenswürdig, aber nur
gegen ihn, fröhlich, doch nicht allzu vergnügungssüchtig, reich, doch
nicht anspruchsvoll, vornehm, dabei aber arbeitsam, kinderlieb gegen
die früher angesammelten Dreizehn, aber doch vor Verlangen brennend,
die Unglückszahl sobald wie möglich durch erneuten Zuwachs unschädlich
zu machen. Billiger beschloß er, es auf keinen Fall zu geben.

All die genannten süperben Eigenschaften im stillen rekapitulierend,
um sie unauslöschlich seinem Gedächtnis einzuprägen, wanderte er
wenige Wochen nach dem Heimgang seiner Therese den endlosen Weg
zum Friedhof hinaus, um deren Grab zu besuchen und ihr an dieser
geweihten Stätte feierlich zu geloben, daß nur die Würdigste ihre
Nachfolgerin werden sollte. Zu seiner Überraschung fand er daselbst
eine ihm unbekannte Frauensperson in Trauerkleidern und Kreppschleier
vor, die damit beschäftigt war, den noch unbegrünten Grabhügel mit
schmächtigen Pflänzchen Vergißmeinnicht zu bepflanzen, welche sie eins
nach dem anderen aus einem schwarz gestrickten Beutel hervorholte, ein
jedes mit Daumen und Zeigefinger behutsam anfassend und die übrigen
drei Finger dabei zierlich von sich streckend. Die Rührung, die den
Kürschnermeister bei diesem Anblick überfiel, erleichterte ihm die
Anknüpfung eines Gesprächs. Er erfuhr, daß er es mit einer zwar nicht
übermäßig wohlhabenden, aber um so ehrbareren Jungfrau zu tun habe,
die sich ihres Lebens Unterhalt tapfer und redlich mit Anfertigung
kunstvoll gestrickter Perlenbeutel verdiene und die Verewigte zwar
nicht persönlich gekannt, aber aus der Ferne als das Muster einer
Bürgerin, Gattin und Mutter seit langem mit solcher Inbrunst verehrt
hätte, daß sie jetzt nicht umhin könne, täglich den weiten Weg auf den
Friedhof zu unternehmen, um den ihr so teuren Grabhügel zu betreuen.

Eine so selbstlose Gesinnung, eine so opferwillige Betätigung bewegten
Meister Wittigs Herz aufs tiefste. Voll Bewunderung und Ergriffenheit
betrachtete er die vor ihm stehende schwarz verhüllte Gestalt, die wie
eine Odaliske hinter dem dichten Schleier hervor zu ihm gesprochen
hatte, mit überströmenden Empfindungen faßte er nach ihrer Hand, sie
unter warmen Dankesworten zu drücken. Aber sogleich zog er diese
seine Hand erschrocken wieder zurück, als jene sich rasch darauf
niedergebeugt hatte, sie zu küssen.

»O verwehren Sie,« rief die Grabhügelbetreuerin aus, »diesen keuschen
und demutsvollen Kuß nicht einer reinen Seele, welche die Gefühle
der Hochachtung und Verehrung, die sie für die in die himmlischen
Heerscharen Aufgenommene hegt, längst auch auf Sie, als auf die Zierde
des Gewerbestandes, ja der gesamten bürgerlichen Mannheit ausgedehnt
hat!« Und damit eroberte sie gewaltsam die bereits entzogene Hand
wieder zurück und drückte ihr wirklich -- um in ihrem Geiste zu
sprechen -- den Stempel ihrer keuschen Lippen auf.

Der Kürschnermeister besaß nur eine dunkle und entfernte Vorstellung
von dem, was die Leute »poetisch« nennen, aber so ungefähr, meinte
er, wie diese schwarze Jungfrau in Wort und Tat sich gebärdete, müsse
es wohl sein. Ein Hauch Maienluft umwehte ihn, und der Kitzel der
Eitelkeit tat das übrige, ihn bis zur Wehrlosigkeit einzuschmelzen. Die
umgelegte Schlinge, an der ihn der Satan zog, mit dem führenden Finger
Gottes verwechselnd, zweifelte er nicht an einer weisen Vorsehung, die
dieses scheinbar zufällige Zusammentreffen eingefädelt hätte, und als
die Grabhügelbetreuerin um die Erlaubnis bat, hier und da auch nach
den armen verwaisten Kindern sehen zu dürfen, gab er dankerfüllt und
darüber staunend, wieviel Edelmut und Güte auf dieser sonst mit Recht
verrufenen Welt doch noch in mancher versteckten und unbeachteten
Gartenecke blühe, seine freudige Einwilligung hierzu.

Da die hochgemute Jungfrau hierauf, indem sie ein verheißungsvolles
»Auf Wiedersehen!« hauchte, so rasch wie die Fee im Märchen
entschwinden wollte, stellte er sich ihr entschlossen in den Weg und
bat, ihn nun auch ihre verhüllten Züge sehen zu lassen, damit er seine
Wohltäterin ein nächstes Mal wiederzuerkennen in der Lage wäre. Er
hatte gehofft, die Spuren eines so engelhaften Herzens in diesen Zügen
getreulich widergespiegelt zu finden, und trat nun unwillkürlich einen
Schritt zurück, als sie nach einigem Zieren wirklich den Kreppschleier
zurückschlug. Denn einigermaßen entsetzt starrte er in ein angeälteltes
und aufgeschwemmtes Kartoffelgesicht von ausgesuchter Häßlichkeit, das
auch durch ein verschämt herausforderndes Lächeln nur mäßig an Liebreiz
gewann. Indes war er rücksichtsvoll genug, seine Enttäuschung nach
Möglichkeit zu verbergen, und durch das Vorausgegangene bereits zu
heillos verstrickt, als daß er nicht auch seinerseits ein, wenn auch
etwas schwächliches »Auf Wiedersehen!« über die Lippen gebracht hätte.

Auf dem Heimweg hatte er bereits seine Fassung soweit wiedererlangt,
daß dürre Erwägungen des Verstandes, die sich als Weisheit aufspielten,
den peinlichen, aber unbestochenen Eindruck der Entschleierung
überwinden konnten. Einem reifen und umsichtigen Manne, sagte er
sich, zieme es nicht, sich bei den Weibern vorwiegend ans Sichtbare
zu halten, wie es die Gewohnheit oberflächlicher Springinsfelde sei.
In seinen Jahren müsse die Vernunft den Ausschlag geben, die den Wert
einer Frau an den unsichtbaren Schätzen der Seele messe, durch die
hundertfältige Erfahrung belehrt, daß Schönheit mit Zucht selten auf
einer Bank sitze, manchmal schon mit dem ersten Kindbett vergehe, auf
alle Fälle aber nicht so langlebig sei wie die Tugend. Und als die
Grabhügelbetreuerin einige Wochen hindurch täglich ins Haus gekommen
war und sich auch als rastlose Kinderbetreuerin erwiesen hatte, gewann
er die Überzeugung, daß sein Hauswesen in keinen anderen Händen besser
aufgehoben sein würde als in den ihrigen. Er tröstete sich deshalb
mit dem Gedanken, daß in der Nacht Schönheit und Häßlichkeit ohnedies
nicht voneinander zu unterscheiden wären, und errichtete unter schnöder
Mißachtung der anonymen Warnungsbriefe, die ihm ins Haus schneiten, den
Tempel einer neuen Ehe auf der Grundlage gegenseitiger Hochachtung und
Seelenverschwisterung.

So hatte der Zobel wieder eine Meisterin, aber was für eine! Bald nach
der Hochzeit, die diesmal in aller Stille und vollster Verborgenheit
erledigt wurde, stellte sich heraus, daß die neue Frau Wittig nicht nur
an drei verschiedenen Kostplätzen, sondern auch von drei verschiedenen
Männern drei verschiedene Nachwüchslinge besaß, die das Mitleid der
Welt schon durch den Umstand herausforderten, daß sie alle drei
der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Meister Wittig,
weitherzig, wie er war, erbarmte sich ihrer denn auch und nahm sie
großmütig in sein Haus auf, da er sich sagte, auf ein paar mehr oder
weniger komme es wirklich nicht an, und man könne es den armen Würmern
doch nicht entgelten lassen, daß sie eine scheinheilige Mutter hätten.
Viel peinlicher berührte ihn die nachträgliche Entdeckung, daß die
Perlenstickerin bei der Ausübung ihres Kunsthandwerkes sich den Geruch
einer geradezu exemplarischen Schlamperei zugezogen hatte, weshalb ihr
nach und nach alle Kunden in Verlust geraten waren. Sie hatte nämlich
die Perlen, welche ihre Auftraggeber für die anzufertigenden, antiken
Mustern nachgeahmten Beutel ihr zur Verfügung stellten, aus Leichtsinn
und Gedankenlosigkeit immer wieder in falscher Reihenfolge aufgefädelt,
so daß hinterher beim Stricken statt der beabsichtigten Rosensträußchen
oder sonstigen zierlichen Blumenmuster die vertraktesten Figuren und
buntesten Verrücktheiten zum Vorschein kamen. Begreiflich, daß man sich
bald für ihre Dienste bedankte, und daß sie aus diesem Grunde bis über
die Ohren in Schulden steckte. Am entschiedensten aber fiel für Wittig
ins Gewicht, daß sie sich nach und nach als böse Sieben entpuppte und
ihn, die Kinder und das ganze Haus meistern wollte.

Ein anderer als er hätte vielleicht angesichts eines solchen
Kreuzes, das zu große Vertrauensseligkeit und mangelnde Vorsicht
ihm aufgebürdet, ratlos die Hände in den Schoß gelegt und sich
nicht zu helfen gewußt. In Wittig aber hatte das Handwerk eine
beneidenswerte Entschiedenheit und Kaltblütigkeit ausgebildet. Denn
als Kürschnermeister war er gewohnt, wenn er einen Kragen oder einen
Mantel zuschnitt, mutig und entschlossen in das kostbarste Biberfell
hineinzuschneiden, wenn er einmal erkannt hatte, daß dies nötig sei,
und sich durch kein ängstliches Zagen, es könne schief gehen, darin
wankend machen zu lassen. Mit derselben Unerschütterlichkeit ging
er denn auch hier zu Werke. Die drei Kinder der Grabhügelbetreuerin
behielt er zwar bei sich, da sie schon einmal da und unter der übrigen
Kinderschar wegen ihrer Munterkeit recht beliebt waren; sie selbst aber
setzte er, ohne einen Heller ihrer Schulden zu bezahlen, kurzerhand an
die Luft und ließ sich scheiden.

Das fehlgeschlagene Experiment hatte also den Kindersegen zwar
vermehrt, aber keine brauchbare Mutter geliefert. Eine solche tat
aber dringend not, es ging bereits alles drunter und drüber, der
Meister konnte sich nicht mehr viel Zeit zum Überlegen gönnen.
Einem psychischen Gesetze unbewußt gehorchend, fiel er jetzt ins
entgegengesetzte Extrem. Mit einer Ältlichen war es schief gegangen,
darum wählte er nunmehr eine Blutjunge, die fast noch im kindlichen
Alter stand. Die Verflossene war ein Ausbund an Häßlichkeit gewesen,
aber er hatte sie für ehrbar, innerlich wertvoll und häuslich tüchtig
gehalten. Die Neuerwählte war hübsch wie ein frischer Apfel, in
den hineinzubeißen man nicht widerstehen kann, von ihren inneren
Eigenschaften dagegen wußte er nichts, als daß sie voll Übermut,
Frohsinn und Ausgelassenheit steckte. Zu jener hatten kühle Erwägungen
einer vermeintlichen Klugheit ihn bestimmt, in diese verliebte er sich
mit der kopflosen Leidenschaftlichkeit eines Jünglings.

Um es gleich im voraus zu sagen: Das Heiraten ist ein Lotteriespiel,
und Meister Wittig hatte es niemals zu bereuen, daß er dieses
siebzehnjährige Landmädel heimführte. Denn sie war keine Städterin,
sondern eine arme Bauernmagd, die Butter und Eier ins Haus zu bringen
pflegte. Niemand hätte es für möglich gehalten, daß sie sich in die
Rolle einer Zobelmeisterin würde finden können, und doch gelang es ihr
glänzend. Sie verstand sich nicht nur vorzüglich aufs Wirtschaften,
konnte ebenso sparsam wie üppig sein, jedes zu seiner Zeit und am
richtigen Orte, sondern schuftete auch selbst für drei Mägde und wußte
dennoch am Sonntag, wenn sie mit dem Meister in die Laurentiuskirche
zur Messe ging, die stattliche Bürgersfrau vorzustellen und ihren
kostbaren Sealmantel mit dem Anstand einer vollendeten Dame zu
tragen. Den siebzehn vorhandenen Zobelkindern gegenüber -- denn so
viele waren es mit der Zeit geworden -- verhielt sie sich ungefähr
wie eine gleichgestimmte Schwester, die selbst den Kinderschuhen kaum
entwachsen und über Spiel und Spaß noch nicht erhaben ist. Die jungen
Herzen flogen ihr zu, alle wetteiferten, ihr etwas zuliebe zu tun,
jedes erfüllte mit Freudigkeit, was ihm oblag. Die Räume widerhallten
von Singen und Lachen, und doch blieb nichts versäumt, und alles ging
seinen geordneten Gang. Der Kürschnermeister konnte seinem Herrgott
dafür danken, es so unerwartet glücklich getroffen zu haben. An der
jungen Frau, die sich an seiner Seite eher wie eine blühende Tochter
ausnahm, hätte sich in der Tat nichts, aber auch gar nichts, aussetzen
lassen, wäre sie nicht mit einer Eigenschaft, oder vielmehr Anlage
ausgestattet gewesen, aus der man ihr billigerweise keinen Vorwurf
machen konnte, die aber in diesen inzwischen hereingebrochenen
Kriegszeiten und Ernährungsnöten immerhin etwas Mißliches hatte.

Sie war nämlich gewissermaßen eine Naturkraft und von so fabelhafter,
geradezu agrarischer Fruchtbarkeit, daß man sie sich beinahe wie
eine indische Göttin mit unheimlich multiplizierten und potenzierten
Attributen der Weiblichkeit begabt hätte vorstellen mögen, wäre ihr
Wuchs nicht vollständig normal, ja von einer reizenden üppigen
Schlankheit gewesen. Jahraus, jahrein, ununterbrochen, zu jeder
Jahreszeit, beschenkte sie ihren Gatten immer wieder mit neuen
Leibeserben, und zwar grundsätzlich nur mit Zwillingen, Schlag auf
Schlag, ohne auszusetzen, und in so kurzen Abständen hintereinander,
daß es mit der Naturgeschichte schon fast nicht mehr vereinbar schien.
Und wenige Tage nach jeder Geburt schuftete sie schon wieder trällernd
und lachend im Hause umher, war rüstig bei ihrer Arbeit, wusch, kämmte,
kleidete die Kleinen, Kleineren und Kleinsten, kochte und scheuerte,
scherzte, plauderte und sprach jedermann gegenüber freimütig und mit
liebenswürdiger Arglosigkeit die Hoffnung aus, recht bald wieder in
diese zu kommen, denn etwas Schöneres, als Mutter sein und werden, gebe
es nicht auf der Welt ...

Mehrere Jahre hindurch hatte ich, um billiger auszukommen, den Versuch
gewagt, meine Pelzmütze und den Muff meiner Frau selbst einzusommern.
Wegen des Krieges bekam man längst keinen Kampfer mehr, Naphthalin
war schwer und nur zu Liebhaberpreisen erhältlich, ich versuchte es
deshalb, mich mit selbst gesammeltem und getrocknetem Thymian zu
behelfen. Und siehe, auch das heimische Kräutlein tat seine Wirkung.
Ich blieb also dabei, und auch als der Krieg schließlich doch ein Ende
nahm, fand ich, weil das Naphthalin trotzdem immer unerschwinglicher
wurde, zunächst keine Veranlassung, die Selbstbewirtschaftung meiner
Pelzsachen einzustellen. Meine Gewissensbisse darüber, daß ich dem
Kürschnergewerbe ins Handwerk pfuschte und meinem alten Schulfreunde
Wittig in diesen teuren Zeiten nichts mehr zu verdienen gab, schlug ich
mit dem Gedanken nieder, daß jetzt vielleicht doch endlich einmal der
Zeitpunkt nahe wäre, wo eine allgemeine Verbilligung der Waren es mir
erlauben würde, den lange gewünschten Pelzmantel anzuschaffen. Dann
würde ich sofort meine Schritte in die Krumme Gasse lenken und mich
für die Gewerbestörung, deren ich mich aus notgedrungener Sparsamkeit
schuldig gemacht, glänzend revanchieren. Indessen schien, solcher
Zukunftspläne ungeachtet, die waltende Gerechtigkeit meine Untreue
gegen den Zobel dennoch übelgenommen zu haben. Denn als ich eines Tages
wieder die beiden jetzt schon etwas schäbig gewordenen Pelzstücke,
deren Wert sich aber trotzdem während dieser Zeit der Not erheblich
gesteigert hatte, aus dem mit Umsicht ausgedachten System ihrer
Umhüllungen schälte, mußte ich zu meiner Entrüstung gewisse Spuren von
Gespinnsten darin bemerken, deren Vorhandensein ich lieber nicht zur
Kenntnis genommen hätte. Ein größerer Schaden war zum Glück noch nicht
angerichtet, das Schicksal hatte vorerst nur warnend seinen Finger
erhoben, um mir Zeit zu lassen, mich eines besseren zu besinnen.

Das tat ich denn auch und trug im nächsten Frühjahr meine Pelzsachen
wieder zum Zobel. Fast hätte ich ihn nicht gefunden, das alte,
niedrige, aber breite und trauliche Geschäfts- und Familienhaus war vom
Erdboden verschwunden. An seiner Stelle erhob sich ein ansehnlicher,
gediegener, vierstöckiger Bau mit einer nagelneuen eleganten
Firmatafel an der Stirn und riesengroßen spiegelnden Schaufenstern
im Untergeschoß, hinter denen ganze Berge des herrlichsten Pelzwerks
ausgelegt waren. Alles hatte sich verändert, war unendlich stattlicher,
glänzender, großstädtischer geworden, nur Wittig selbst, der hinter
dem Ladentisch stand und ein Biberfell zuschnitt, schien derselbe
geblieben. Kaum hatte er mich erblickt, so fing er über die schlechten
Zeiten zu klagen an, über die fortschreitende Teuerung im Pelzhandel,
die Uferlosigkeit der Lohnforderungen, die Unerschwinglichkeit der
Steuern! Begütigend meinte ich: Wenn er in dieser Nachkriegszeit, wo
ein Backstein auf zehn Kronen oder höher zu stehen komme, sich hätte
aufs Bauen verlegen können, so könne es wohl gar so schlimm kaum
stehen?

Da fuhr er mir aber ärgerlich über den Mund: ich redete eben, wie
ich's verstünde, und wüßte nichts davon, wie schwer es für einen
Geschäftsmann sei, sein bißchen Erspartes in Sicherheit zu bringen.
Gerade darin liege ja das Unglück, daß er seine paar sauer verdienten
Heller in einen gänzlich unrentabeln Hausbau habe stecken müssen, nur
um nicht zu riskieren, daß bei nächster Gelegenheit alles zum Teufel
ginge, oder die Steuerbehörde ihm den kargen Lohn seiner Lebensarbeit
forteskamotiere.

»Ja, du hast es gut,« sagte er. »Du brauchst nicht zu sorgen, du bist
kinderlos, du kannst lachen!«

Und nun fing er wieder über die Kinder zu jammern an, und was es koste,
bis sie alle satt und mit Kleidern und Schuhen und Schulrequisiten
versorgt wären. Und die Größeren, die gingen dann nur noch desto mehr
ins Geld, wenn sie einmal ihre Hopsereien und sonstigen Lustbarkeiten
im Kopfe hätten!

Wie viele Kinder im ganzen es jetzt eigentlich wären? erkundigte ich
mich. Aber er wußte es selbst nicht mehr und behauptete, es sei auch
ganz umsonst, sich die Zahl einzuprägen, unvermerkt wären es inzwischen
doch schon wieder um ein paar mehr geworden. Denn immer kämen noch
neue hinzu, immer wieder neuer Nachschub, unausgesetzt, wie bei den
Kaninchen, die junge Frau täte es nun einmal nicht anders.

»Ich kann's bald nicht mehr leisten!« stöhnte er. »Nein, ich kann's
wirklich nicht mehr leisten!«

Ich verstand nicht recht, wie er es meine -- ich selbst freilich
geriet ja täglich in größere Enge und Bedrängnis, aber daß auch er
bei dem offenbar glänzenden Geschäftsgang sollte Geldsorgen haben,
kam mir nicht ganz wahrscheinlich vor. Erst jetzt bemerkte ich, daß
er doch nicht ganz derselbe geblieben war, der er früher gewesen. Er
sah entschieden angegriffen aus, erschöpft und aufgerieben, und war
sichtlich vom Fleisch gefallen. Ablenkend fragte ich, was ein Stadtpelz
jetzt wohl kosten würde, und als er den Preis nannte, empfahl ich mich
rasch und suchte die Tür zu gewinnen.

»Auf Wiedersehen!« rief er mir nach. »Du kommst wohl im Herbst wieder
--?«

»Jawohl, um meine Pelzmütze und den Muff ...« Damit schloß ich
geschwind die Tür von außen und jagte atemlos die Krumme Gasse hinunter
...

Aus dem Wiedersehen im Herbst sollte leider nichts mehr werden. Denn
wenige Monate später erhielt ich die Todesanzeige Wittigs. Da und dort
hörte ich die Meinung äußern, er sei halt doch schon ein bißchen zu alt
gewesen für das Naturphänomen einer solchen Urkraft von Weib, wie die
ländliche Gattin es war.

Auf der Karte standen neben der trauernden Witwe die sämtlichen
Sprößlinge unterschrieben. So viele Namen hab' ich außer in einem
Adreßbuch wohl selten auf einem Fleck beieinander gesehen. Mehr als
einmal setzte ich an, all diese Karl und Rudi und Hansl und Seppl und
Franzl und Ferdl und Gustl und Pepi, diese Mini und Lini und Tini und
Fini und Romi und Moni und Loni und Vroni zusammenzuzählen, aber ich
bin nie damit fertig geworden, es kam immer etwas dazwischen. Ein
gewisser Bruchteil dieser Kinder, die alle unter dem Namen Wittig
verzeichnet standen, konnte freilich bloß als Stief- oder gar nur als
Adoptivkinder gelten, mindestens fünf bis sechs verschiedene Mütter und
Väter hatten beim Zustandekommen der ganzen Gesellschaft mitgewirkt.
Aber der Löwenanteil dabei fiel zweifellos meinem Freunde Wittig zu,
der weitaus überwiegenden Zahl der Nachwüchslinge gebührte der Name
Wittig von Bluts wegen. Mit Recht durfte der Meister von jenseits des
Grabes auf ein arbeitsames, gesegnetes Leben zurückblicken.

Etwas mehr als ein Jahr nach seinem Heimgang kam mir eine
fein ausgestattete Drucksorte mit der Nachricht zu, daß die
Kürschnermeisterswitwe Wittig sich mit einem bewährten Mitarbeiter des
Zobels, dem Kürschnergehilfen Soundso, vermählt habe. Ewige Wiederkehr
des Gleichen!

Die Meisterin gab bekannt, daß das Geschäft unter der früheren Firma
weiterbestehen werde, und bat alle alten Kunden, ihr geschätztes
Vertrauen auch dem neuen Inhaber zuzuwenden, der gewiß bestrebt sein
werde, durch solide und unerreicht wohlfeile Bedienung usw. usw. ...
Ich befand mich, als ich diese Mitteilung erhielt, gerade frierend
auf einer Reise, die ich trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit
notgedrungen hatte unternehmen müssen. Die »unerreicht wohlfeile
Bedienung« ließ meine nicht auszurottende Hoffnungsfreudigkeit sofort
wieder in die Halme schießen, ich telegraphierte stehenden Fußes mit
bezahlter Rückantwort in die Krumme Gasse: Was ein Stadtpelz jetzt
koste? Die eingelangte Antwortdepesche warf mich für mehrere Tage aufs
Krankenlager. Als ich wieder genesen und heimgekehrt war, erzählte mir
ein Bekannter, den ich zufällig traf, die Hochzeit der Zobelwitwe sei
ein wahres Ereignis für die ganze Vorstadt gewesen. In ungezählten
Fiakern, behauptete er, die man in ganz Wien habe zusammentrommeln
müssen, hätte die Familie sich in die Laurentiuskirche begeben, in der
fürs schaulustige Publikum kaum noch Raum übriggeblieben sei, weil die
Wittigs allein sie beinahe schon gefüllt hätten. Die Prachtentfaltung,
die dabei getrieben worden, könne niemand sich vorstellen, der es
nicht mit angesehen. Das kostbare Pelzwerk allein, das die größeren
oder ganz erwachsenen von den Zobelkindern an sich getragen,
wäre nach Schätzung solcher, die etwas von der Sache verstünden,
ausreichend gewesen, die gesamten Schulden des österreichischen
Bundesstaates zu tilgen. +Relata refero.+ Mein Gewährsmann, der
sich in Übertreibungen zu gefallen schien, wußte auch noch eine Menge
Einzelheiten über den Aufwand beim Festessen und dergleichen mehr
mitzuteilen, Dinge, die den Stempel des Klatsches an sich trugen, wie
eben der Neid und die Scheelsucht ihn aushecken.

Ich selbst kann dem gegenüber nur feststellen, daß alles, was ich
später über Wittigs Nachkommen hörte oder selbst sah, mir einen
durchweg günstigen Eindruck machte. Sie genossen den allerdings
recht bedeutenden Wohlstand, den der Vater ihnen hinterlassen hatte,
zwar ohne Kopfhängerei in Fröhlichkeit, aber auch ohne Prahlerei
oder übermäßigen Aufwand, bescheiden und einträchtig miteinander
hausend, in einem heiteren brüderlich-schwesterlichen Zusammenleben,
das um so bemerkenswerter war, als manchmal sogar in ganz kleinen
Familien Uneinigkeit herrscht und hier die verschiedene Herkunft
einen mangelnden Zusammenhang oder etwa auftretende Reibungen bis zu
einem gewissen Grade erklärlich gemacht hätte. Derlei kam aber in der
freundlichen kleinen Geschwisterrepublik überhaupt nicht vor, und
wußte auch keines recht, wer eigentlich sein Vater und seine Mutter
gewesen -- denn es war schwierig, sich in dieser Familiengeschichte
auszukennen -- so hingen sie doch in herzlicher Neigung aneinander und
waren sich dessen bewußt, daß sie alle (außer dem Herrgott im Himmel)
wenigstens einen, allerdings kaum minder abstrakten Vater miteinander
gemein hätten, nämlich den »Zobel« selbst. Im ganzen Bezirk der Krummen
Gasse nannte man sie deshalb die Zobelkinder, und darunter verstand
man nicht bloß die wirklichen Kinder, deren auch unter dem jetzigen
Firmeninhaber immer wieder neue zuwuchsen, sondern begriff auch die
halb- und ganzerwachsenen mit ein, ja die Eltern selbst, die beide noch
jung und ohnedies von den älteren Kindern äußerlich nicht leicht zu
unterscheiden waren.

Als ich einmal an einem Sonntag im Frühling einen Spaziergang in den
Wienerwald unternahm, hörte ich in der Gegend von Weidlingau durch
die reine Abendluft vielfältiges Singen und Lachen frischer Stimmen
im neubegrünten Buchenforst erklingen und gewahrte einen langen
Zug von Kindern und jungen Leuten, der jubilierend den einsamen
Waldweg dahinzog und sich der Stelle näherte, wo ich im Grase lag.
Erst hielt ich die Erscheinung für den Sonntagsausflug irgend einer
Wandervogelvereinigung, doch klärten die Ganzkleinen, die Huckepack
geschleppt, und die Kinderwägelchen, in denen die Allerkleinsten
mitgeschoben wurden, mich bald darüber auf, daß dies doch nicht
zutreffen könne. Was aber der stattliche Aufzug sonst bedeute, darüber
ging mir erst in dem Augenblick ein Licht auf, als ich plötzlich mitten
darunter die noch immer jugendlich aussehende Zobelmeisterin erblickte,
die mir von früher bekannt war. Von einem Schwarm scherzender
junger Leute und singender Mädchen umringt, die sie liebevoll
geleiteten und beim Bergabsteigen sorgsam stützten, glich sie, da
sie unverkennbar guter Hoffnung war, einem Sinnbild sommerlicher
Fruchtbarkeit inmitten lockerer Frühlingsgenien, und ich war froh, daß
die freundliche Karawane der Zobelkinder eine gute Weile brauchte,
um plaudernd, lachend und trällernd, unter fröhlichem Saitenklang,
mit buntflatternden Wimpeln der Lautenbänder an mir vorüberzuziehen,
und ich auf diese Weise den Anblick in aller Gemächlichkeit genießen
konnte. Noch lange blickte ich sinnend hinter den Entschwindenden
drein, bis die letzten Nachzügler sich in den grünen Waldgängen
verloren hatten. Ein friedliches Gefühl innerer Beruhigung war in
mir zurückgeblieben. Ich sagte mir, daß es trotz der fürchterlichen
Nachwirkungen des Weltkrieges mit dem Aussterben unseres Volksstammes
denn doch noch seine guten Wege haben dürfte ...

Seither habe ich als alter Freund Wittigs wiederholt Geburtsanzeigen
neuer oder Verlobungs- und Trauungsanzeigen heiratsfähig gewordener
Zobelkinder, oder endlich Geburtsanzeigen der immer häufiger
auftauchenden Zobelenkelchen zugesendet erhalten und meine damals
aufgekeimte Hoffnung dadurch aufs erfreulichste bekräftigt gefunden.
Dem jungen Bundesstaate allerdings erwuchsen aus Wittigs Kindersegen
nach und nach nicht unbeträchtliche Ungelegenheiten. Denn je mehr von
den Kindern und Enkeln des Zobelhauses in die Schulen eintraten oder
sie wieder verließen, heranwachsend verschiedenerlei Berufe ergriffen
oder Tätigkeiten anmeldeten und, reif geworden, Ehen schlossen oder
selbst wieder Kinder bekamen, kurz, Handlungen begingen, bei denen man
irgendwie mit den öffentlichen Stellen in Berührung kommt und gewisse
Ausweispapiere benötigt, desto öfter tauchte die Frage auf, welcher
Mutter oder welches Vaters Sohn oder Tochter, und welcher Großeltern
Enkelkind dieser oder jener Zobelnachwüchsling eigentlich sei, und
um so mehr trat die heillose Verwicklung zutage, die Meister Wittig
durch seine viermalige Vermählung und die wiederholte Aufnahme eigener
und fremder außerehelicher Kinder in sein Haus hervorgerufen hatte.
Infolge gesteigerter Vorladungen und Einvernehmungen, widersprechender
Aussagen und irrtümlicher Eintragungen kam es schließlich so weit,
daß überhaupt kein Mensch sich mehr auskannte und die Behörden an der
Möglichkeit verzweifelten, diesen Weichselzopf ohne Vermehrung des
Beamtenpersonals auszukämmen. Es wurde deshalb ein eigenes Ressort
»Zobel« geschaffen und ein Beamter mit Titel und Charakter eines
Regierungsrates ernannt, dessen Lebensaufgabe darin besteht, aus der
quellenmäßigen Erforschung von Wittigs Familienverhältnissen eine
Wissenschaft zu machen und die Zobelkinder in Evidenz zu halten.

Da ich inzwischen zu der Einsicht gelangt war, daß ich als freier
geistiger Arbeiter mein Leben nicht länger würde fristen können, so
habe ich mich um diesen Beamtenposten beworben, wurde aber leider
abschlägig beschieden, da ich die Altersgrenze für den Eintritt in den
öffentlichen Dienst bereits überschritten habe.

Ich will nicht klagen und jammern, wie mein Freund Wittig es so gerne
tat, ich schweige und versuche durchzuhalten. Das eine aber habe ich
mir geschworen, und das halt' ich auch: Wenn ich wieder mal auf die
Welt komme, so laufe ich beizeiten aus der Schule und trete bei einem
Kürschner in die Lehre!

                            [Illustration]




                     Im gleichen Verlage erschien

                                  von

                              Emil Ertl:


                             Liebesmärchen

                           Einbandzeichnung

                                  von

                           Friedrich Felger


                              5. Tausend


»Ein kleines, feines Buch, das der Dichter in seiner frühen Jugend
geschrieben hat. Märchen und Sagen, denen er neuen Inhalt gegeben hat;
alle seine Erzählungen läßt er überfließen von der großen Liebe zweier
Menschen zueinander. So entstand ~ein rechtes Märchenbuch~, das
jung und alt hineinführt in zauberstille, lauwarme Sonnwendnächte, in
denen der Mond seine zarten Lichtschleier über Wald und Wiese breitet.«

  (+Dr.+ Wendriner in Reclams »Universum«.)


                  Im gleichen Verlage erschienen von

                              Emil Ertl:


                   Die Leute vom blauen Guguckshaus

                          Roman · 19. Tausend

           Einbandzeichnung von Prof. ~Alfred v. Schrötter~


                        Freiheit, die ich meine

                 Roman aus dem Sturmjahr · 16. Tausend


                           Auf der Wegwacht

                          Roman · 16. Tausend

    Vorstehende drei Romane sind unter dem Titel »=Ein Volk an der
    Arbeit=« ~einheitlich gebunden~ zu einem Gesamtwerk vereinigt.


                         Das Lächeln Ginevras

                          Roman · 7. Tausend


                            Der Antlaßstein

                          Roman · 8. Tausend

                  Einbandzeichnung von ~R. Teschner~


                           Der Neuhäuselhof

                          Roman · 11. Tausend

                   Einbandzeichnung von ~F. Felger~


                       Nachdenkliches Bilderbuch

                    Ernste und heitere Geschichten

         Einbandzeichnung und Buchschmuck von ~Alfred Keller~

                              5. Tausend


                       Nachdenkliches Bilderbuch

                       Zweite Folge · 4. Tausend

                 Einbandzeichnung von ~Alfred Keller~

              Buchschmuck von Prof. ~Alfred v. Schrötter~





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BERG DER LÄUTERUNG ***


    

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