The Project Gutenberg eBook of Der Berg der Läuterung This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Der Berg der Läuterung Author: Emil Ertl Release date: September 13, 2025 [eBook #76870] Language: German Original publication: Leipzig: L. Staackmann Verlag, 1922 Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BERG DER LÄUTERUNG *** ====================================================================== Anmerkungen zur Transkription. Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ ======================================================================= Emil Ertl Der Berg der Läuterung Der Berg der Läuterung von Emil Ertl [Illustration] L. Staackmann Verlag / Leipzig 1922 Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten +Für Amerika: Copyright 1922 by L. Staackmann, Leipzig+ Druck von Grimme & Trömel in Leipzig. Der Hölle Greu'l entflohn, will ich nun singen Vom steilen Berg, wo sich die Seelen läutern Und würdig werden, sich zum Licht zu schwingen.... ... Gebeugten Rückens sah ich sie da stehen, Erdrückt halb von der Last, unmenschlich schwer, Und der Geduldigste sogar -- zu flehen Schien weinend er: Ach Gott, ich kann nicht mehr! ~Dante~, Purgatorio. Inhalt Seite 1. Die Sofapuppe 9 2. Das Rotkehlchen 33 3. Die Sphinx 115 4. Der Mieter 187 5. Die Zobelkinder 255 Die Sofapuppe Die alte würdige Kammerfrau hatte eben die letzte Hand an die Abendtoilette ihrer jugendlichen Herrin gelegt, mit erfahrenen Fingern nestelte sie noch am kostbaren Pelzbesatz der Dekolletage und war gerade damit fertig geworden, als das Telephon klingelte. »Bitte, wollen Sie gefälligst nachsehen?« befahl die Dame. Während die treue Dienerin sich entfernte, kramte die schöne junge Frau in dem Schmuckkästchen, das auf dem Stellfach der Psyche stand, trat vor den Spiegel und legte sich eine prachtvolle Diamantenrivière um den schlanken Hals, indem sie die herrlich geformten Arme zurückbog und die Schließe einschnappen ließ. Die großen Solitärs des geschmackvollen Schmuckstückes blitzten wie lebendiges Feuer um ihren blendend weißen Hals und sprühten tausend farbige Funken bei jedem Atemzug der tadellosen Büste. Ein befriedigtes Lächeln spielte um ihre sonst ernst verschlossenen Lippen, erwartungsvoll wendete sie sich der wiedereintretenden Zofe entgegen. »Kommt mein Mann mich abholen?« »Der gnädige Herr läßt sich entschuldigen, er muß noch zu einer Sitzung fahren, die er gänzlich vergessen hatte, und hierauf noch einmal in sein Bureau zurückkehren, aber nur für ein paar Minuten. Er bittet die gnädige Frau, ihn dort abzuholen, in etwa einer halben Stunde wird er das Auto herschicken.« »Dann hätte ich mich nicht so zu beeilen brauchen,« sagte die Dame verstimmt. Mit einer müden Geste trat sie ans Sofa und ließ sich sichtlich übelgelaunt in die Kissen gleiten. »Nichts ist lästiger, als wenn man in großer Toilette so dasitzen und warten soll,« sagte sie, die Lippen aufwerfend. »Überhaupt die leidigen Gesellschaften, Abend für Abend! Sie sind im Dienste meiner verewigten Eltern grau geworden und kennen mich lange genug, um zu begreifen, wie lästig mir das ist! Am liebsten kleidete ich mich wieder um und bliebe daheim.« »Das würde der gnädige Herr sehr übel nehmen,« erlaubte sich die alte Zofe zu bemerken. »Gerade heute, am Verlobungstag ...« »Ja, eben, gerade heute!« flammte die junge Frau auf, während Röte in ihre Wangen stieg. »Wie gern hätte ich gerade diesen Abend zu Hause und mit ihm allein verbracht! Bekam ich in den bald vier Jahren, die wir verheiratet sind, ihn überhaupt zu sehen außer in Gesellschaft? Diesen einen Abend, am Jahrestag unserer Verlobung, hätte er mir wohl widmen können! Aber da ist wieder einmal so ein hohes Tier aufgetaucht, eine einflußreiche Persönlichkeit, der ich den Hof machen soll, damit er geschäftlichen Nutzen daraus zieht. Finden Sie das nicht unwürdig? Übrigens wird er mich mit solchen Zumutungen ein nächstes Mal voraussichtlich verschonen, ich hab' mir schon vorgenommen, so unliebenswürdig wie möglich zu sein.« »Das wird der gnädigen Frau schwerlich gelingen,« sagte die weißhaarige Dienerin mit einem nachsichtigen mütterlichen Lächeln. »Wenn man an Jugend, Schönheit und Glanz der Toilette alle anderen Damen überstrahlt, so wäre es eine wahre Kunst, nicht auch an Liebenswürdigkeit die Königin des Abends zu sein.« Da keine Antwort erfolgte, fragte sie nach einer kleinen Pause: »Befehlen gnädige Frau sonst etwas?« und verließ, als die Frage verneint wurde, fast unhörbar das Gemach. Allein geblieben und sich langweilend, verfiel die schöne junge Dame darauf, das Feuerwerk der glitzernden Diamanten zu beobachten, das der gegenüber befindliche Spiegel zurückwarf. Sie wiegte sich leise in den Hüften, die Facetten der Steine in allen Farben spielen zu lassen, hob die Hände hoch, scheinbar an der Coiffüre noch etwas zu ordnen, und ergötzte sich daran, wie die bunten Blitze, die an ihren schmalen Fingern und Handgelenken aufleuchteten, mit dem Flimmern des Brillantenkolliers wetteiferten, das ihren Hals schmückte und einen Sprühregen feuriger Funken auf die volle weiße Brust niedertropfen ließ. Aber schließlich wurde sie dieser nichtigen Beschäftigung überdrüssig und lehnte sich mit einem leisen Gähnen in die Sofaecke zurück. Ein Seufzer stahl sich über ihre Lippen ... Plötzlich fiel ihr Blick auf die Puppe, die in der anderen Sofaecke saß und sie unverwandt anglotzte. In welch wunderlicher Gesellschaft befand sie sich da! Was war das für ein gespenstisches Ding, dies snobistische Spielzeug für die müßigen Launen Erwachsener, mit dem ihr Mann sie beglückt hatte? Aus einem der feinsten Luxusgeschäfte in der Kärntnerstraße hatte er es heute morgen als Überraschung zum Verlobungstag an sie schicken lassen, er liebte es, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Zum erstenmal kam sie jetzt dazu, die Puppe etwas genauer ins Auge zu fassen. Sie konnte nicht umhin, den erlesenen Geschmack zu bewundern, mit dem sie gearbeitet war, die geistreiche Kunstfertigkeit, die dem kleinen Popanz etwas wie menschliche Eigenart, eine geheimnisvolle Absonderlichkeit einzuhauchen gewußt hatte. Es war eine Japanerin in silberdurchwirktem Seidenkimono, Saffianpantöffelchen an den Füßen, das pechschwarze Haar zu einem kunstvollen Bau getürmt und von silbernen Gestecken zusammengehalten. Dem Gesicht, das ursprünglich vielleicht nichts weiter als ein Polster aus gelblichem Filz gewesen war, hatte künstlerische Pinsel- und Nadelmalerei so eigenartig individuelle Züge verliehen, daß man die kleine Dame, wenn man sie nur einmal gesehen, schon persönlich zu kennen glaubte. Denn sie war ein Wesen für sich, kein gleichgültiger Abklatsch, etwas wie ein lebendiger Mensch und wie ein solcher nur ein einziges Mal auf der Welt vorhanden, mit keinem anderen zu verwechseln. Ganz besonders die Augen, aus denen ein Paar glänzend schwarzer Perlen ernst und fast zürnend herausstachen, schienen wie von einem Ausdruck menschlicher Leidenschaftlichkeit beseelt. Die schöne junge Frau, die diese Augen unverwandt und beharrlich auf sich gerichtet sah, fing an, sich einigermaßen zu beunruhigen. Es war, als kröche ihr irgend etwas Unheimliches den Nacken herauf. »Was siehst du mich so sonderbar an?« fragte sie plötzlich. Sie sagte es ganz laut und fuhr unwillkürlich zusammen, über den Ton ihrer eigenen Stimme erschreckend. Aber sogleich kehrte ihre Besonnenheit zurück, und indem sie sich nach der anderen Sofaecke hinüberneigte, in der die Puppe stumm und unbeweglich saß, mit Augen, in denen etwas wie ein feuchter Schimmer zu glänzen schien, sagte sie begütigend und beinahe zärtlich, wie man zu einem greinenden Kinde spricht: »Du füllst deinen Platz schlecht aus! Bist du nicht auf der Welt, um Vergnügen zu bereiten? Warum blickst du so trübselig drein? So lächle doch nur ein ganz klein wenig! Unterhalte mich! Vertreib' mir die Zeit!« Sie hatte sich so weit vorgebeugt, daß sie die Puppe ganz aus der Nähe sehen konnte. Jetzt schrak sie jäh empor und zog sich starr vor Entsetzen in ihre Sofaecke zurück, die Puppe hatte einen tiefen, herzbewegenden Seufzer ausgestoßen. »Mir ist das Weinen näher als das Lachen,« sagte die Puppe ganz deutlich. Betreten und scheu wagte die schöne junge Dame kaum mehr nach ihr hinüberzusehen, ihre Lippen bewegten sich und stammelten stumme Worte ... Endlich brachte sie wie einen Hauch die Frage hervor: »Weshalb? Erklär' es mir! Weshalb?« Aber die Puppe schwieg. Die junge Frau überlegte. Sie hatte sich wieder gefaßt und dachte nach. Da kam ihr ein Gedanke. »Wer hat dich in die Welt gesetzt?« fragte sie. Und da die Puppe noch immer keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Du siehst wie eine hochelegante kleine Dame aus, hast aber vielleicht nicht immer so gute und sorgenfreie Tage gesehen, wie ich sie dir in meinem Hause bieten kann. Ich weiß, der Krieg hat viel Elend und Kummer über die Menschen gebracht und der Friede noch nicht viel daran gebessert. Mancher, der stolz und reich war, ist arm und haltlos geworden, und es gibt Damen, die der besten Gesellschaft angehörten, in glänzenden Verhältnissen lebten wie ich, und nun, der Not ins Auge blickend, sich mit ihrer Hände Arbeit kümmerlich fortbringen. Der Geschmack, der deine äußere Erscheinung auszeichnet, läßt mich vermuten, daß auch du dein Dasein einer solchen Unglücklichen verdankst, die, in einem Milieu der Kultur und des Überflusses aufgewachsen, nun plötzlich +vis-à-vis de rien+ steht. Im ungeheizten Stübchen, frierend und zähneklappernd, beim Schein des Öllämpchens, das sie mit ihren Entbehrungen speist, kramt sie vielleicht die teuersten Andenken ihrer Jugend, die letzten Überbleibsel ihres Wohlstandes zusammen, um durch Herstellung solch überflüssiger Dinger, wie du eins bist, die Kauflust der Geldverdiener zu reizen und sich noch eine Zeitlang über Wasser zu halten. Und nun, da du mich so vor dir sahst, schön, glänzend, reich und glücklich, da kam dir wohl die Erinnerung an jene andere, aus deren Händen du hervorgegangen bist, und an die du noch immer eine gewisse Anhänglichkeit bewahrst, und die abgrundtiefen Gegensätze, die das heutige Leben zwischen den Menschen und ihren Schicksalen aufreißt, preßten dir das Herz zusammen und machten dich traurig. Ist es so, wie ich sage? Habe ich recht geraten? Gesteh's mir! Sprich!« Aber die Puppe rührte sich nicht. Stumm und steif saß sie da, die dunkel glänzenden Perlen der Augen in die gegenüberliegende Sofaecke gebohrt, und schwieg. Es war kein Ton mehr aus ihr herauszulocken. Die junge Frau hatte sich erhoben, unruhig hastete sie auf dem weichen Teppich auf und nieder und krampfte nachsinnend die Hände ineinander. Alles in ihr war aufgewühlt. Sie fühlte das Bedürfnis nach einer guten Tat, sie suchte nach einer Gelegenheit hierzu, sie wollte Not lindern helfen, heute, an ihrem Verlobungstag. Von der Straße herauf gab die Hupe des Chauffeurs das Zeichen, daß das Auto eingetroffen sei, sie abzuholen. Da trat sie entschlossen an die Toilette und drückte auf den Klingelknopf. Die Zofe erschien. Sie nannte ihr das Geschäft in der Kärntnerstraße, wo die Sofapuppe herstammte, und befahl: »Läuten Sie sofort an, möglich, daß schon geschlossen ist, vielleicht haben sie aber doch noch offen. Ich ließe fragen, wo die reizenden Puppen hergestellt werden, von denen mein Mann heute eine gekauft hat.« In Eile legte sie sich selbst den Pelzmantel um die Schultern und suchte mit zitternden Händen alles Geld zusammen, das sich in ihrem Schreibbureau finden ließ. Die alte Dienerin, die inzwischen die gewünschte Auskunft erhalten hatte, begleitete sie die teppichbelegte Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Noch einmal, zwischen Tür und Angel, ließ die Dame sich die Adresse wiederholen: »Frau Hauptmann Larisch, Rudolfgasse 36!« »Rudolfgasse 36!« rief sie dem Chauffeur zu, während er ihr in die Limousine half. Der Wagen sauste davon. Die Straßenlaternen flogen in langen Zeilen an den Fenstern vorüber. Ihr Mann würde wohl ungehalten sein, in die Gesellschaft kamen sie sicher zu spät. Aber was tat's? Mochte er sich in Geduld fassen! Wie oft hatte er schon auf sich warten lassen! Beruht nicht jede Ehe auf Gegenseitigkeit? ... Das Haus Rudolfgasse 36 war ein verlotterter alter Kasten mit stockdunklem Flur. Fast unter Lebensgefahr tastete sie sich eine finstere Kellertreppe hinunter, die Hausmeisterwohnung zu suchen. Ob Frau Hauptmann Larisch hier wohne? Jawohl, die wohnte hier, dritte Stiege, vierter Stock, Tür Nummer 42. Mit Müh' und Not erreichte sie über einen holperigen Hof hinweg endlich ihr Ziel und zog an einer Klingel. Eine Frau, von der sie im herrschenden Zwielicht nur die Umrisse wahrnehmen konnte, öffnete und fragte nach ihrem Begehr. »Ist Frau Hauptmann Larisch zu sprechen?« »Bitte einzutreten.« In einer niedrigen Stube, die anscheinend als Werkstatt diente, kochte eine Suppe oder dergleichen auf dem eisernen Öfchen. Auf dem Tische lagen unter einer dürftigen, trübe brennenden Hängelampe Farbentuben, Pinsel und allerhand Nähzugehör durcheinander, Puppenperücken, winzige Lederschühchen, ein ganzer Berg, und Stoffreste, teilweise bereits zugeschnitten. Auch von dem blauen silberdurchwirkten Seidenbrokat, aus dem der Kimono der Sofapuppe geschneidert war, stand ein Kleidchen schon fertig da, aber noch ohne Körper. »Womit kann ich dienen?« fragte die ebenfalls noch blutjunge, dürftig aber sauber gekleidete Frau, die die Eingangstür geöffnet hatte. »Ach so, Sie sind selbst --? Sie machen die reizenden Puppen, nicht wahr --?« In diesem Augenblick stockte sie und trat einen Schritt zurück. Sie hatte diese Frau Larisch erst jetzt schärfer ins Auge gefaßt und geriet außer Fassung. »Berta!« rief sie entsetzt. »Seh' ich recht? Oder täusche ich mich --?« »Nein, Aimée, du täuschest dich nicht,« sagte die andere ruhig. »Es ist lange her, daß wir uns zum letztenmal gesehen haben.« »Nur allzulange! Bald hätt' ich dich nicht wiedererkannt, du trägst einen Schüttelkopf --? Steht dir übrigens gut! Aber wo ist dein herrliches, langes schwarzes Haar hingekommen?« Frau Larisch lachte. »Ja, denke, das hab' ich auf Perücken für meine Puppen verarbeiten lassen. Hilf, was helfen kann! ... Die prahlen nun damit, und für mich ist's bequemer so.« Die elegante junge Frau schlug die Hände zusammen: »Nein! Wie man sich ~dazu~ entschließen kann --! Unser Haar, das gehört doch so zu uns, mir wär's, als würde ein Teil von mir gemordet!« »Nun, gerade zum Vergnügen tut man's auch nicht ... Wie hast du mich übrigens aufgefunden? Kann ich dir mit etwas dienen?« »Nein, nein, im Gegenteil, ich wollte ... es kam mir plötzlich so in den Sinn ...« Frau Aimée stockte und wurde verlegen. »Du hast es verstanden,« sagte sie mit leisem Vorwurf, »eine wahre Nebelschicht um dich zu verbreiten. Ich wußte ja nicht einmal, daß du verheiratet bist.« »Es war eine Kriegstrauung, wir machten nicht viel Aufhebens davon.« »Dein Mann ist -- Offizier?« »Er ist gefallen ... Willst du nicht Platz nehmen? Du entschuldigst, wenn ich weiter arbeite. Ich muß jede Minute ausnützen, bis in die Nacht hinein.« Die Puppenschneiderin paßte zwei zugeschnittene Zeugstücke aneinander und ließ die Nadel fliegen, indes Aimée sich am Arbeitstisch auf einen wackeligen Stuhl gesetzt hatte. Sie war verwirrt und betreten. Dieser tapferen Frau gegenüber, die im Institut ihre beste Freundin gewesen, ließ sich nicht leicht die Wohltäterin spielen, hier tat größtes Zartgefühl not, um so mehr, als sie später gewisser Umstände halber sich einander entfremdet hatten. »Ich muß dich schelten, Berta,« nahm sie mit etwas gepreßter Brust das Gespräch wieder auf. »Warum hast du all die Jahre her nichts mehr von dir hören lassen?« »Du lieber Himmel, wer hatte in der Zeit nicht mit sich selbst genug zu tun!« antwortete Frau Larisch, emsig arbeitend. Und aufrichtig setzte sie hinzu: »Übrigens bestand doch auch nicht mehr dasselbe herzliche Einvernehmen zwischen uns wie einst. Dein Mann hatte uns beiden in gleicher Weise den Hof gemacht, das fördert selten die Freundschaft zwischen jungen Mädchen.« Sie setzte einen Augenblick mit Nähen aus, hob den Kopf und lächelte. »Ich erinnere mich noch der großen Bälle, wo wir für Rivalinnen galten. Besonders an ein Kostümfest im Hotel Métropole -- du entsinnst dich wohl auch noch daran? Ich trug ein Kleid aus diesem herrlichen Silberbrokat,« sie strich mit der Hand über das fertige Gewändchen, das steif auf dem Tisch stand, und lachte jetzt aus vollem Herzen. »Das wird nun alles auf Kimonos verschneidert,« sagte sie, »so machen sich die Reliquien nützlich.« Und wieder ernster geworden und ihre Arbeit wieder aufnehmend, fuhr sie fort: »Wie gut, daß mein Vater damals in der Lage war, mir so kostbare Stoffe zu spendieren! Ja, an jenem Abend war ich fast etwas wie eine Art Ballkönigin. Dein Mann hatte mich in so auffallender Weise bevorzugt, daß alle Tanten bereits die Köpfe zusammensteckten.« »Bist du ihm noch böse?« fragte Aimée mit übertriebenem Mitgefühl, das eine gewisse Genugtuung nur schlecht verhüllte. »Was dir einfällt! Nein, böse war ich ihm niemals, bei Gott! Und später bin ich ihm sogar von Herzen dankbar gewesen.« Frau Aimée stutzte: »Dankbar? Wieso dankbar?« »Ganz einfach. Wäre seine Wahl damals auf mich gefallen, statt auf dich -- wer weiß, hätte ich schließlich nicht doch ja gesagt. Denn damals wußte ich noch nicht, was Liebe ist. Das wußte ich erst, als ich meinen verstorbenen Mann kennen lernte.« »Ihr habt euch sehr geliebt?« sagte Aimée oberflächlich teilnehmend. »Ich liebe ihn noch. Und daß er mich liebte, bewies er am deutlichsten dadurch, daß er mich zur Frau nahm, trotzdem mein armer Vater -- du weißt ja wohl?« »Nein, nein, ich weiß von nichts! Erzähle! Lebt dein Vater noch?« »Er ist einem Schlaganfall erlegen, bald nach dem großen Unglück. Durch eine Konjunktur, die der Krieg mit sich brachte, hatte er nämlich sein, wie du dich wohl erinnerst, ziemlich bedeutendes Vermögen verloren.« »Arme Berta!« rief Aimée, nun von aufrichtigem Mitleid überströmend. »Und so mußt du nun ganz allein ... und gänzlich verarmt, ohne Mittel ...« »O, es ist nicht so schlimm,« sagte Frau Larisch; »ich verdiene gut, wir kommen durch ... Und -- allein? O nein, ich bin nicht allein.« Abermals lächelnd, blickte sie auf und deutete nach der Stubentür knapp am Öfchen. »Da nebenan schläft ein herziger Junge, drei Jahre alt, ein süßer Bengel. Du hast wohl auch so was Kleines? Nein --? Wie schade! Das ist doch erst das Wahre, damit fängt für eine Frau das richtige Leben überhaupt erst an ... Der Junge ist meine ganze Freude, und so bin ich, siehst du, durchaus nicht allein. Auch weilen ja die lieben Verstorbenen noch immer um mich, der arme Vater, mein guter Mann. Ihn lernte ich gerade damals kennen, als die Firma zusammengebrochen war. Und darum weiß ich auch ganz bestimmt, daß er mich wirklich und wahrhaftig liebte, nur um meiner selbst willen. Denn ich hatte aufgehört, eine gute Partie zu sein, was ich ja in der Zeit, wo ich im Ballsaal umworben wurde, noch gewesen war. Und so eine richtige Liebe, noch übers Grab hinaus, ist doch kein leerer Wahn und ein wahrer Trost ... Dies alles, siehst du, verleiht mir die Kraft, die innere Sicherheit und Ruhe, die mir jetzt so nottut. Ich bin nicht so bedauernswert, wie es den Anschein hat, ich tausche mit niemand. Verstehst du mich, Aimée?« Frau Aimée schwieg und biß die Lippe. Sie wußte nicht mehr, wozu sie eigentlich gekommen sei. Um einer anderen zu helfen? War sie nicht hilfsbedürftiger als jene? Ein böser Argwohn, giftig wie eine Schlange und schon früher gelegentlich erwacht, aber immer wieder eingelullt, hatte sich heimlich an ihr Herz geschlichen, umschnürte es nun plötzlich und nagte daran. »Um welche Zeit war es doch,« fragte sie starr und gespannt, »daß deinen Vater das geschäftliche Unglück traf?« »Vor wenigen Tagen sind es gerade vier Jahre gewesen,« antwortete Frau Larisch unbefangen. Die elegante junge Frau erblaßte. Vier Jahre? Ausgerechnet vier Jahre, gerade vor wenigen Tagen? Und genau heute vor vier Jahren hatte Harry um sie angehalten! Sollte zwischen diesen beiden Tatsachen nicht ein gewisser Zusammenhang bestehen? War es denn nicht einigermaßen zweifelhaft, ob Harry heute vor vier Jahren gerade um sie, Aimée, angehalten haben würde, wenn Berta damals noch eine gute Partie gewesen wäre? Sprach nicht vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß in Harrys Schwanken zwischen ihr und Berta lediglich die großen Gewinne den Ausschlag zu ihren eigenen Gunsten gegeben hatten, die ihr Vater ebenso unerwartet aus dem Kriege gezogen, wie Bertas Vater durch den Krieg ruiniert worden war? Wieviel hatte sie sich damals darauf zugute getan, über Berta triumphiert zu haben! Und nun wurde sie sich zu ihrer tiefsten Beschämung und Empörung plötzlich dessen bewußt, daß sicherlich nicht ihre Schönheit und sonstigen Vorzüge allein es gewesen waren, die ihrer Wagschale das entscheidende Gewicht verliehen hatten. Sie richtete sich steil auf, erhob sich und schwankte, eine unbekannte Schwäche wandelte sie an, mechanisch griff sie nach der Lehne des Stuhles, sich festzuhalten ... Erschrocken war Frau Larisch aufgesprungen, sie zu stützen. »Aimée, was ist dir?« »Nichts, gar nichts! Nur etwas schwül -- hier in der Nähe des Ofens. Nun ist's wieder vorbei. Ich wollte meinen Pelz nicht ablegen, mein Aufzug paßt nicht in diese trauliche Umgebung der Arbeit. Muß auch gleich wieder fort. Darf ich deinen Jungen sehen?« Mit der Weisheit des Herzens, die der bittere Ernst des Lebens ausbildet, ahnte Berta, was in der Seele der Freundin vorging. Aber sie fühlte auch, daß Worte hier nichts bessern konnten. Sie begnügte sich deshalb damit, sie in die Arme zu schließen und wie in jungen Mädchenjahren zu liebkosen, indem sie sagte: »Du hast es ein wenig mit den Nerven, Kind! Vermutlich überanstrengst du dich mit gesellschaftlichen Verpflichtungen, die doch keine rechte Befriedigung gewähren. Solltest dir lieber auch so einen kleinen Jungen anschaffen -- ich will schnell einen Leuchter holen, ihn dir zu zeigen.« Sie ging in den winzigen Vorflur hinaus, da schoß Aimée der Gedanke durch den Kopf, ob sie der großmütigen Absicht, die sie hergeführt, nicht doch irgendwie entsprechen könne. War Berta auch zu stolz, einzugestehen, daß sie mit der Not kämpfte, so bewies die Umgebung, in der sie hauste, doch das Gegenteil. Und diesen albernen Stolz zu beugen, der die Vorteile und die vielfältige Überlegenheit des Reichtums glatt abzuleugnen versuchte, hätte Aimée eine gewisse Genugtuung gewährt. Aber Geld --? Das konnte mit Recht verletzen. Durch ein Andenken hingegen an die Freundin sich verletzt zu fühlen, das wäre nur wieder eine Regung jenes dummen Stolzes gewesen, mit dem die Mittellosen sich gern eitel überheben. Sie hörte Frau Larisch zurückkehren. Da überlegte sie nicht länger, nestelte ihre kostbare Diamantenrivière vom Halse und ließ sie in den auf dem Tische stehenden Nähkorb gleiten. Es war das Hochzeitsgeschenk Harrys, und Aimée empfand in dem Augenblick, wo sie die blitzenden Steine unter Seidensträhnen und Stoffresten verschwinden sah, ein boshaftes Gefühl der Erleichterung darüber, daß dieses Kollier nunmehr in den Besitz derjenigen überging, der es vielleicht nur ein unglücklicher Zufall vorenthalten hatte. Im nächsten Augenblick freilich kam ihr ihre Handlungsweise schon verrückt, taktlos, beleidigend vor, aber es war zu spät, sie rückgängig zu machen, Frau Berta trat mit der Kerze ins Zimmer. Auf den Zehenspitzen schlichen sie an das Bettchen des Kindes, das, ruhig atmend, ein Händchen auf der Brust, das andere seitlich ausgestreckt, einem schlummernden Engel glich. Aimée wurde weich und warm ums Herz. Sie schmeichelte sich nun doch wieder, etwas Gutes getan zu haben, der Erlös des kostbaren Schmuckes konnte diesem holden Geschöpfe eine gesunde und frohe Kindheit, eine gute Erziehung, eine aussichtsreiche Zukunft sichern. Nun hatte sie gewissermaßen Teil an Bertas Mutterschaft, da ihr die eigene bisher versagt geblieben ... Andächtig betrachtend, stand sie mit unwillkürlich gefalteten Händen, als plötzlich das Leid sie überwältigte. In bittere Tränen ausbrechend, faßte sie nach Bertas Hand, sie rasch zu drücken, dann stürzte sie hinaus. Sie war nicht mehr zu halten. Stumm eilte sie durchs Zimmer, flüchtete gleichsam gegen die Eingangstür. Und wie verfolgt lief sie den Gang entlang und die Treppe hinunter, immer heftiger schluchzend und sich so zwecklos und elend fühlend, wie sonst stolz und königlich. Während die Limousine gegen den Graben flog, wo Harrys Bureau sich befand, ließ sie ein Fenster herunter, schabte etwas Schnee von den Eisblumen und kühlte sich die Augen, damit ihr Mann nichts merken sollte. Übrigens kam sie gegen alle Voraussicht noch immer zu früh, er hatte noch einiges zu erledigen und ließ sie warten. Die Verstimmung hierüber half ihr das normale Aussehen wiedergewinnen. Endlich trat er ein, schon in Zylinder und Frackmantel, eleganter Diplomat von den Lackschuhen bis zum glatten Scheitel, überlegen, hochfahrend, kühl und etwas beißend wie immer. Mit einer unwillkürlichen Bewegung zog sie den Pelz über dem Halse zusammen, aber schon hatte sein scharfer Blick die Blöße erspäht. »Was fällt dir ein, Aimée! Wo hast du deine Diamantenrivière gelassen?« Nicht ohne Geschick spielte sie die Erstaunte. »Ach sieh! Das ist nun albern! Die hab' ich umzunehmen vergessen! Aber was tut's? Es kommt mir nicht darauf an.« »Mir aber wohl! Der nackte Hals sieht geradezu armselig aus!« »Man sagt, eine schöne Frau sei am schönsten ohne jeden Schmuck.« »Na, hör' mal, für so schön brauchst du dich gerade nicht zu halten!« sagte er brutal. Das Wort traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr Stolz bäumte sich. »Lassen wir's darauf ankommen, ob sich nicht trotzdem Herren genug ... Wenn ich nur wollte ...!« Ihre Augen blitzten. Er überhörte geflissentlich die versteckte, aber darum nicht minder infame Drohung. »Vorwärts, komm! Wir fahren nach Hause. Du nimmst den Schmuck um.« »Ich lasse mich nicht zwingen.« »So kannst du unmöglich in Gesellschaft gehen!« »Dann geh' allein!« »Das will ich tun.« Schweigend stiegen sie Seite an Seite die Treppe hinunter. Wortlos nebeneinander sitzend, fuhren sie durch die dunkle Nacht. Als die Limousine vor der Villa hielt, stieg er aus, schloß die Haustür auf, ließ sie eintreten und schloß wieder zu. Sie hörte, wie der Wagen davonrollte. Wie im Traume wankte sie die Stufen empor. »Ich bin nicht ganz wohl und wünsche vorderhand allein zu bleiben,« sagte sie zu der bestürzt dreinsehenden alten Kammerfrau und zog sich in ihr Zimmer zurück. In der Ecke des Sofas saß starr und unbeweglich die kleine Japanerin, in ihrem silberdurchwirkten Seidenkimono, das rabenschwarze Haar kunstvoll aufgesteckt, die Saffianpantöffelchen an den Füßen, und stierte nachdenklich und versunken in die gegenüberliegende Sofaecke. In einer Aufwallung von Entrüstung ging Aimée auf die Puppe los: »Was faselst du ins Blaue hinein? Jene andere braucht meine Hilfe nicht, und wenn eine von uns beiden unglücklich ist, so bin ich es!« Da wendete die Puppe plötzlich ganz unerwartet den Kopf herum und richtete die glänzenden schwarzen Perlen ihrer Augensterne auf sie, mit einem Ausdruck unsäglicher Traurigkeit: »Das war es doch, Madame, warum ich sagte, das Weinen sei mir näher als das Lachen.« Wie versteint starrte Aimée sie an. In demselben Augenblick pochte es an die Tür. Es war die Zofe. »Gnädige Frau entschuldigen, dies Päckchen wurde eben abgegeben: sofort und persönlich in Ihre Hände zu legen.« Gespannt riß Aimée die Umhüllung auf ... Diamanten funkelten ihr entgegen ... Das Rotkehlchen »Meine alten Tage die hab' ich mir auch anders vorgestellt!« pflegte Herr Ziervogel mit einem gutmütig-sauren Lächeln sich zu äußern. Und dann holte er gewöhnlich einen kleinen Seufzer aus der schon etwas kurzatmig gewordenen Brust hervor und fügte nicht ohne Laune hinzu: »Denn das Leben, das unsereiner jetzt führt, das ist wie eine Windbäckerei, in die man vergessen hat, die Schlagsahne einzufüllen!« Immerhin --! Wenn es wenigstens süß wie spanischer Wind geschmeckt hätte. Aber weit entfernt davon! ... Und gar Schlagsahne! Blieb die nicht seit Jahren für den bedauernswerten Mitteleuropäer ein ausschweifender Märchentraum? Stets hatte Herr Ziervogel ein bißchen das Gefühl, daß ihm Unrecht geschehe, daß er unverdientermaßen in die Klemme geraten sei, und daß man ihn schnöderweise im Stiche gelassen habe -- »man«, jener dickhäutige »man«, der an allem Schuld trägt und sich für nichts verantwortlich fühlt. Jenes schillernde Chamäleon von einem »man«, das sich bald hinter das Schicksal versteckt, bald hinter die gesellschaftlichen Einrichtungen, manchmal wohl auch bloß hinter die hohen Behörden, die (nach Joachim Ziervogels Meinung wenigstens) eigentlich dafür zu sorgen hätten, daß es halbwegs gerecht zugehe auf dieser Erde. Ach, du lieber Gott, darum kümmerten sich die hohen Behörden nun allerdings schon lange nicht mehr. Sie hatten aufgehört, Schutzmann zu spielen, und es vorgezogen, um nur halbwegs auf ihre Kosten zu kommen, selbst unter die Beutelschneider, Buschklepper und Manichäer zu gehen und dem zur Freiheit erwachten ehemaligen »Untertan« das Fell über die Ohren zu ziehen. Manchmal fehlte nicht viel, daß Herr Ziervogel an der Menschheit, ja an der göttlichen Weltordnung selbst irre geworden wäre. Sah es nicht fast wie ein schlechter Witz aus, daß gerade er, Zuckerbäcker seines Zeichens, noch am Rande des Lebens so viel Bitteres auskosten mußte? Hatte er etwa nicht redlich gearbeitet und sich geplagt, solange er in den Jahren stand? War er kein nützliches Glied der menschlichen Gemeinschaft gewesen? Gerne tat er sich etwas darauf zugute, daß seine Konditorei schier ein Menschenalter hindurch Kindern wie Erwachsenen ein Born der Freude und Erquickung gewesen sei. Wie viele Mühselige und Beladene hatten sich dort Magentrost und Herzstärkung geholt, als der Meister selbst noch ausübend war und unverdrossen seines Amtes waltete, bis ins geschäftig wackelnde Doppelkinn hinein von heiligem Eifer durchdrungen, die Kundschaft mit bekannter Zuvorkommenheit zu bedienen. Nicht etwa bloß aus der stillen Vorstadtgasse, in welcher der Geschäftsladen sich befand, nein, auch aus allen umliegenden Gassen und Straßen, manchmal gar aus den angrenzenden Vorstädten strömten die Leute herbei, angelockt durch den wohlverdienten Ruhm, dessen die Erzeugnisse Ziervogelscher Kunstfertigkeit sich erfreuten. Denn nirgends waren die kandierten Früchte so vollsaftig, die Tortengüsse so eisspiegelglatt, die Faschingskrapfen so flaumig, um nicht zu sagen ätherisch, und nirgends in der ganzen Stadt schmeckten die Mohn- und Nußbeugel köstlicher als in der Andreasgasse beim »süßen Joachim« -- wie der Volksmund ihn getauft hatte. Aber nein, ach nein, sie »schmeckten« ja leider durchaus nicht mehr, in dieser bösen Nachkriegszeit! Die Halbvergangenheit war längst zu einer ganzen, das Präteritum zu einem Plusquamperfektum geworden: denn so ausgesucht und köstlich ~hatten~ sie bloß geschmeckt, all die erwähnten ambrosischen Näschereien -- einst, vor Jahren, in besseren Zeiten, damals, als die Menschen noch keine Ahnung davon hatten, wie schlecht es einem ergehen könne auf dieser besten aller Welten, und der süße Joachim noch nicht so unvorsichtig gewesen war, sein Gewerbe zurückzulegen, um sich als Rentner aufzutun. Damals, ja, damals, in jener bereits geschichtlich gewordenen Epoche, als er noch seelenrein und schneeweiß wie ein Unschuldslamm in Pikeejacke und Tellermütze hinter dem Ladentisch stand, auf dem die geschliffenen Glasaufsätze funkelten. Hinter jener kühlen, appetitlichen Marmorplatte, auf der er mit zärtlichen Fingern all die leckeren Apfel- und Pflaumenkuchen, Kaffee- und Indianerkrapfen, Cremeschnitten und Nußschifferln, Schaumrollen und Vanillekipferln so frommsinnig zur öffentlichen Besichtigung auszubreiten wußte wie die Schaubrote auf Jahves Altar (nur weit mehr als bloß ihrer zwölfe waren es selbstverständlich), daß auch die verhärtetste Brust der eindringlichen Sprache des Gemüts nicht länger widerstehen konnte und sich beseligt hinschmelzend der süßen Weltfreude öffnete. Vorbei! ... Vorbei! ... Für immer vorbei! Herr Ziervogel hatte eine Tochter und ein Rotkehlchen, und beide konnten wunderschön singen. Das Rotkehlchen ließ mit Vorliebe eine ganz feine, behutsame, etwas schwermütige Weise vernehmen, während der Tochter -- Anna hieß sie -- immer nur ein munteres Liedchen auf den Lippen schwebte. Es waren oft die verschiedensten Weisen, die sie trällerte, vor sich hinsummte oder aus voller Brust heraussang, wie sie ihr gerade einfielen und in den Sinn kamen. Aber es kamen ihr ausschließlich nur fröhliche Weisen in den Sinn, und eine trübselige und kopfhängerische wäre ihr niemals auch nur im Schlafe eingefallen. Einmal, als es gerade wieder anfing Frühling zu werden, sagte das Mädchen zu seinem Vater: »Weißt du, was ich mir wünsche?« Und als Herr Ziervogel erschrocken und gespannt aufblickte, gestand sie: wenn sie dem Schnaberl (so hieß das Rotkehlchen) die Freiheit schenken dürfte, das wäre halt ihr aller-, aller-, allersehnlichster Wunsch! Ein erleichtertes Atemholen von seiten des also Angeredeten hätte einem unberufenen Zuhörer die Vermutung nahegelegt, Ziervogel sei auf einen weit kostspieligeren Wunsch gefaßt gewesen, wie etwa, um ein Beispiel zu nennen: ein neues Zahnbürstchen, einen Schuhdoppler, ein Henkeltöpfchen für die Küche -- die kleinste Selbstverständlichkeit erforderte heute schon einen abgrundtiefen Griff in die Hosentasche. Wie trostlos wäre er gewesen, dem herzlieben Töchterchen etwas abschlagen zu müssen! Dessen durfte er sich nun für überhoben halten. Denn ein billiges Vergnügen war es doch wenigstens, das Rotkehlchen freizulassen, das ließ sich nicht bestreiten. Und doch -- ein merkbarer Widerstand stemmte sich in seinem verborgensten Innern dagegen. Denn: ließe ein rechtschaffener Singvogel sich unter Umständen nicht ganz vorteilhaft verwerten? In bares Geld umsetzen? Gegen etwas Nützlicheres, als er selbst zu sein sich rühmen durfte, auszutauschen? Der Schnaberl mit seinem kleinen, behutsamen, etwas schwermütigen Liedchen konnte immerhin eine Semmel wert sein. Oder wenigstens eine jener Regiezigarren von der landesüblichen Sorte der Stinkadores, deren ein zur Ruhe gesetzter Gewerbsmann, für wie vermögend er sonst auch gegolten, sich kaum noch am Sonntag hie und da eine vergönnen durfte. Aber der häßliche Gedanke -- so rasch aufgeblitzt, war auch schon im selben Augenblick wieder schamhaft erloschen. Pfui, Joachim! Ein argloses Waldvögelein als Ware einschätzen? Handelsgeschäfte mit ihm treiben wollen? Einen sangesfrohen Hausgenossen, wie Schnaberl es war, schnöde verschachern? Meister Ziervogel errötete ein klein wenig und besann sich. Was hatten doch die unhaltbaren wirtschaftlichen Zustände allmählich aus ihm gemacht! Wie schofel war er geworden! Er, dem es sonst ein ganz besonderes Vergnügen gewährte, das »Radl laufen zu lassen«, wie man zu sagen pflegt. Er, zu dessen Lieblingsbeschäftigungen, seit er als Privatmann lebte, es gehört hatte, sich nobel, splendid, großartig aufzuspielen! Kein Mensch hätte ihm in den Jahren unmittelbar vor dem Kriege den ehemaligen Zuckerbäcker angemerkt, so kavaliermäßig leicht war seine Hand im Geldausgeben gewesen: sogar der wie ein ausländischer Diplomat aussehende Zahlmarkör im Kaffeehaus hatte ihn »Herr Baron« genannt und fast wie seinesgleichen behandelt; dazu mußte man von guten Eltern sein. Und nun --! Den Schnaberl verschachern? Woher kam ihm der unwürdige Einfall? Eine alte Erfahrung, daß die Not den Menschen nicht besser macht. Und daß man sich leicht selbst untreu wird, wenn man einmal die Nerven verloren hat. Aber ist es ein Wunder, wenn man sie verliert, bei dieser lawinenartig anschwellenden Teuerung, die einen nicht etwa bloß mit Knappheit, nein, mit dem baren Elend bedrohte? Die Jugend freilich, die nimmt das alles auf die leichte Achsel, aber wer einmal anfängt, die Last der Jahre zu spüren, dem sitzt die bittere Sorge im Nacken. Und dabei täte man besser, sich nichts davon merken zu lassen, sonst lachen einen noch die eigenen Kinder aus, oder -- in Anbetracht des schuldigen Respekts, wenn sie nämlich lieb und anhänglich sind, wie die gute Anna es war, bemitleiden sie einen wenigstens insgeheim ein bißchen als kümmerlichen Trübsalblaser und Angsthasen, der vor lauter Jammern übers Tauwetter den Sonnenschein gänzlich übersehe, welcher so linde wieder aus den Wolken hervorspitze. All dergleichen Besinnlichkeiten und selbstkritische Erwägungen verfehlten nicht eine gewisse heilsame Wirkung. Sonach reinigte Herr Ziervogel mit scharfer Bürste Herz und Nieren von allen Flecken knickerischer Anwandlungen, daß sie wieder blitzblank glänzten, wie das Kupfergeschirr einst geglänzt hatte in seiner Konditorsküche, und verbarg die an ihn herangetretene, aber siegreich abgewiesene Versuchung einer entgeltlichen Schnaberlverwertung hinter freiheitsfreundlichen Worten, die sich mit Wärme für des Vögleins Entkerkerung einsetzten. Warum sollte auch die gute Anna das Rotkehlchen nicht auslassen, wenn ihr nun einmal das Herz danach stand? Mochte es fliegen, wohin es wollte! War's kein zuwachsender Gewinn, so war's doch ein verminderter Verlust. Denn einen so starken Esser wie den Schnaberl gab's nicht bald, es fiel ihm gar nicht ein, sich einzuschränken, wie es die Menschen doch ausnahmslos tun mußten; und das Weichfutter wurde mit jedem Tag unerschwinglicher. Jubelnd fiel Anna dem glücklich herumgekriegten Vater um den Hals und machte Miene, ihn zu erwürgen: »Am ersten schönen Frühlingstag fliegt er! Dann gibt's ein glückliches Geschöpf mehr auf dieser wonnigen Erde!« Heute sah es freilich noch nicht danach aus, als ob der erste schöne Frühlingstag schon knapp vor der Tür stünde. Darum nahm sie, wie sie oft getan, den Schnaberlkäfig in den Arm und stieg damit in den Dachstock des Hauses hinauf, wo seit langer Zeit ein kleiner Junge krank lag, den sie kannte, das Söhnchen einer Lehrerswitwe. Er hieß Felix, und seine Mutter pflegte nicht ohne Bitterkeit zu sagen: »Jawohl, Felix, Felix heißt er; denn das bedeutet: der Glückliche ...« Andere kränkliche Kinder hatten zu ihrer Erholung und Kräftigung ins Ausland reisen dürfen, wo großmütige Wohltäter sich ihres Elends erbarmten; dieser Knabe aber war so schwer leidend, daß kein Kinderzug ihn mitnehmen konnte. Seit Jahr und Tag siechte er hoffnungslos dahin, oft stundenlang allein gelassen in der dürftigen Dachkammer, wo sein schmales Bett stand, denn die Mutter mußte tagsüber ins Verdienen gehen. Immer einmal, wenn sie Zeit dazu fand, machte Anna diesem Knaben (und wohl auch sich selbst) die Freude, das Bauer mit dem Schnaberl zu ihm heraufzubringen; das Rotkehlchen singen zu hören, so wehmütig dessen süßes kleines Lied auch klang, war seine ganze Seligkeit. Vorübergehend vergaß er dann, wie schlecht es ihm ging, und meinte für Augenblicke, gesund und froh zu sein wie andere Kinder und frei und ledig aller Gebresten im Walde dem Gesang der Vögel zu lauschen. Auch diesmal stellte Anna das Vogelbauer vor den Knaben auf die Bettdecke und erzählte ihm, noch voll der frischen Freude, daß der Vater ihr erlaubt habe, dem Schnaberl die Freiheit zu schenken, und daß sie ihn am ersten warmen Tage auslassen würde. Sie bedachte nicht, daß es dem armen Jungen vielleicht nicht ganz leicht fallen würde, sich von dem Vögelchen zu trennen, sie bemerkte auch nicht, wie er erschrak. Bleich war ja der arme Felix immer, er konnte nicht noch mehr erbleichen, und der Ernst und die Sorgen, die sich mit einem Ausdruck, welcher sonst nur Erwachsenen eigen ist, in seinem abgehärmten Kindergesichtchen aussprachen, konnten unmöglich noch ernster und sorgenvoller blicken. * * * * * Die Schleifmühlgasse im vierten Gemeindebezirk, in welcher die Ziervogels, Vater und Tochter, wohnten, schwamm am nächsten Tage in der Flut ausgiebiger Frühlingstränen, die der Himmel über den Jammer der einst so gut gelaunten Wienerstadt vergoß, als der süße Joachim und sein Freund Bock, der Tür an Tür mit ihm in demselben Hause eine ebenso armselige Zweizimmerwohnung innehatte wie er, den langen Weg nach dem städtischen Amtsgebäude antraten, wie sie fast jeden Morgen taten. Denn abgesehen von den häuslichen Besorgungen, die es täglich zu machen gab, um diese oder jene Bedarfsware einzukaufen, die man dort und dort, in dieser oder jener Gasse, am entgegengesetzten Ende der Stadt, angeblich um ein paar Kronen billiger bekommen sollte; ganz abgesehen hiervon -- waren auch auf dem Amte beinahe täglich eine Unzahl lästiger Geschäfte zu erledigen, und sie vermehrten sich noch von Woche zu Woche. Manchmal hatte es schier den Anschein, als gehörte es zu den vornehmsten Aufgaben einer Republik, zu den ohnedies schon reichlich vorhandenen Bürgerpflichten immer wieder neue hinzuzuerfinden. Fast regelmäßig unternahmen die beiden Freunde solche Wege gemeinsam, Schulter an Schulter, in nie wankender Nibelungentreue. Denn geteiltes Leid ist halbes Leid, und daß es jedesmal ein Leidensweg war, den sie antraten, das wußten sie im voraus. Ach ja, zum Henker, ein Dornen- und Leidensweg war es, ein scheußlicher, eine aufreibende Pilgerfahrt, treppauf, treppab, mit müden Beinen die nicht enden wollenden öden Korridore entlang. Ein demütigender Bußgang von Amtsstube zu Amtsstube, mit stundenlangem Warten und verzweifeltem Reihestehen, gepufft und gestoßen im Gedränge und fortwährend in der Angst, die Börse oder die Brieftasche könnte plötzlich verschwunden sein. Angeschnauzt von ungeduldigen Beamten, hin- und hergenarrt von einer Kanzlei in die andere, mit Rügen und Drohungen überhäuft, schwitzend, ächzend, zitternd, der Erschöpfung nahe und dabei unablässig die Hand in der Tasche: Blechen, blechen, blechen! Stempelvorschreibungen und fällige Gebühren, Zustellungsspesen und Vorladekosten, Kommissionsverpflichtungen, Drucksortenersatz, Straftaxen, Verzugszinsen, Voreinzahlungen und Nachzahlungen, gelegentlich wohl auch Nachzahlungen auf die schon geleisteten Voreinzahlungen oder Voreinzahlungen auf die noch zu leistenden Nachzahlungen -- und so weiter, und so fort, im abwechslungsreichen Trott des ewig unersättlichen und immer wütig schnaubenden Amtsschimmels. Herr Anselm Bock war sichtlich mißmutig. Allmählich fing die Sache doch an, ihm über die Hutschnur zu gehen. In seinen Adern rollte nicht die Milch der frommen Denkart, die seinen Freund Joachim zu einem sanften und umgänglichen Gesellschafter machte. Es kochte darin, wenn nicht gerade »gärend Drachengift«, so doch die Galle, von der ein Drechsler eine gewisse Dosis in sich haben muß, damit es an der Drehbank nicht zimper zugehe. Denn wenn nicht die Späne fliegen, leidenschaftlich wie sprühende Funken in einer Dorfschmiede, so kommt nichts Ordentliches dabei heraus, und es ist dann auch kein Drechsler, wie er sein soll, der an der Drehbank steht. Daß nun eine solche schon von Haus aus vorhandene und allmählich schier zur Berufskrankheit gesteigerte Anlage zur Vehemenz durch die obwaltenden Zeitumstände nicht zur Rückbildung gebracht werden konnte, leuchtet ein. In Herrn Bocks Stiefeln nistete die Karies. Durch einige Lückerln, die im Oberleder klafften und darum allgemein sichtbar waren, drang das Wasser dieses triefenden Regentages ungehemmt ein, und durch die Sohle aus Gründen, die unsichtbar blieben, nicht minder. Die quatschende Nässe, die infolgedessen bei jedem Schritt zu spüren war, und das damit in Verbindung stehende quatschende Geräusch, das die Schritte rhythmisch begleitete, weichte den ohnedies schon ziemlich zermürbten Rest von Herrn Bocks Widerstandskraft völlig auf und bewirkte, daß eine stillwachsende Wut in ihm sich ansammelte, die schließlich einen Höhenpunkt erreichen und einen Ausbruch erzwingen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lang, so blieb er plötzlich stehen, gerade in der Wiedner Hauptstraße, mitten im Gewühl der Menschen. Äußerlich ließ er sich nicht einmal besonders viel merken; eine um so gefährlichere Entschlossenheit dagegen kündigte sich in dem Beben an, mit dem er jetzt die folgenden, vorläufig nur zum Teil verständlichen Worte hervorstieß: »Ich hab's satt! Was meinst, Ziervogel? Steigen wir aus!« Notgedrungen hatte auch der süße Joachim Halt gemacht und beäugte verdutzt den rabiat gewordenen Gefährten, aus dessen flackerndem Auge bei aller Beherrschung und scheinbaren Ruhe ein fürchterlicher Abgrund drohte. Seine ausgemergelte Gestalt, die eingefallenen Wangen, die pergamentgelbe, sichtlich verärgerte Gesichtsfarbe ließen darauf schließen, daß die Leber über ihre Verhältnisse lebte, während der Magen darbte. »Aussteigen, Anselm?« wiederholte Ziervogel unsicher und nichts Gutes ahnend. »Wie meinst du das?« Es befand sich zufällig gerade da, wo sie stehengeblieben waren, eine Haltestelle der Straßenbahn, und auf die Fahrgäste weisend, die einen soeben anhaltenden Wagen verließen, um rasch im Gewühl der Leute zu verschwinden, sagte Bock: »Wie ich es meine? Daß ein jeder das Recht hat auszusteigen, mein' ich, der nicht mehr mitfahren will. Verstehst du mich, Joachim? Man ist am Ziel, oder wenigstens nicht mehr weit davon, das ewige Gedränge, das fortwährende Gepufft- und Gestoßenwerden hat man ohnedies schon dick satt -- nicht wahr? Nun, und so steigt man halt aus. Siehst du, so mein' ich's.« Schweigend und in grüblerischer Laune setzten sie ihren Weg fort. Die Worte des Freundes gingen Herrn Ziervogel im Kopfe herum. Sie veranlaßten ihn sogar ein paarmal, Zeige- und Mittelfinger in den Halsausschnitt zu stecken, um nachzuprüfen, ob er etwa einen zu engen Hemdkragen umgenommen hätte. Aber jedesmal erinnerte er sich dann: er trug ja längst keine Stärkwäsche mehr, sonst hätte er sein halbes Einkommen der Feinputzerei in den Rachen werfen müssen! Er trug doch immer nur ein und denselben Kautschukkragen, besaß überhaupt nur diesen einzigen! Und der war, aufrichtig gesagt, recht bequem. Als Gelegenheitskauf aus zweiter Hand sogar reichlich weit. Oder -- um lieber gleich die ganze Wahrheit zu gestehen: um zwei Nummern weiter war er, als es nötig gewesen wäre. Sonach schien's ausgeschlossen, daß das Würgen, das er im Hals spürte, von einem zu engen Hemdkragen sollte herrühren können. Und das Unheimliche an der Sache war für ihn nämlich dieses, daß er sein und Bocks Geschick für unlösbar miteinander verflochten hielt und meinte, was jener etwa zu beschließen für angezeigt fände, würde irgendwie auch für ihn Geltung gewinnen. Denn ihre Freundschaft wurzelte nicht so sehr in einer inneren Übereinstimmung der Gemüter, als eben in jener Verknüpfung durch ein Schicksal, das sie gewissermaßen wie ein Paar Pferde vor den Wagen ähnlicher Erlebnisse gespannt hatte -- denn aus Höflichkeit soll das im Grunde noch besser passende Gleichnis von zwei Ochsen, die das nämliche Joch zu tragen haben, lieber unterdrückt werden. Beide waren sie, früh verwitwet, mit je einem Kinde zurückgeblieben, das sie sorgsam betreut und liebevoll großgezogen hatten. Joachim mit der bereits genannten Rotkehlchengönnerin Anna, Anselm mit einem bisher noch unerwähnten blonden Ludwig, der gegenwärtig feuereifrigst auf die Bankprüfung büffelte, nachdem ihn vor wenigen Monaten erst Sibirien ausgespien hatte, wo als Frucht eines sechsjährigen Nachdenkens die Erkenntnis in ihm gereift war, daß mit seinem bisherigen Beruf eines aktiven Offiziers nichts mehr anzufangen sei. Aber des Gleichartigen gab es noch viel mehr. Beide hatten sie einst ihre Geschäftsläden knapp nebeneinander gehabt, Tür an Tür, genau so, wie sie jetzt wieder Tür an Tür nebeneinander wohnten. Auch dort waren sie stets gute Nachbarn gewesen, ihre Kinder, solange sie noch klein waren und die Kinderschuhe nicht ausgetreten hatten, spielten miteinander in der stillen Andreasgasse, im Winter mit einem Handschlitten im Schnee, im Sommer mit kleinen Steinkugeln, die sie an der Hausmauer herab- und übers Pflaster rollen ließen, ein Spiel, das man »Anmäuerln« nannte, und das unter Umständen zur Wegnahme und Enteignung des feindlichen Kügleins führte. Und sogar in ihrem Beruf gab es eine gewisse Ähnlichkeit insofern, als beide dem Gaumen ihrer Mitmenschen schmeichelten; allein: wenn Ziervogel ihn mit Süßigkeiten kitzelte, so wirkte Bock durch das schwerere Geschütz des Tabaks, obzwar nur mittelbar. Denn aus seiner Werkstatt gingen die schönen, glatten, englischen Pfeifen hervor, die trotzig-geraden oder anmutig-geschwungenen, die mit ihren braunpolierten Köpfen aus gemasertem Rosenwurzelholz und mit ihren sauber gearbeiteten Mundstücken aus silbergrauem oder marmorschwarzem Horn jeden Raucher entzückten. Die belangreichste Übereinstimmung ihrer Schicksale aber, die sie, Gott sei's geklagt, zu Leidensgefährten und Unglücksgenossen machte, war die, daß sie beide die Unvorsichtigkeit begangen hatten, sich einige Jahre vor Ausbruch des großen Krieges zur Ruhe zu setzen, weil sie mit den paar hunderttausend Kronen, die ein jeder von ihnen erwirtschaftet hatte, sich für wohlhabend hielten. Von den Zinsen der Wertpapiere, die im Bankfach lagen, glaubten sie gemächlich zehren und die Früchte ihrer Arbeit während eines möglichst langandauernden sorglosen Alters mit Heiterkeit genießen zu können. Verhängnisvoller Irrtum! Denn bei Anlage ihrer Ersparnisse waren sie leider nicht leichtsinnig und wie kühne Glücksritter ins Zeug gegangen, sondern hatten peinlichste Vorsicht walten lassen und die Auswahl unter den in Betracht kommenden Anlagewerten nur nach den Grundsätzen strengster Gediegenheit getroffen. Die Folge davon war, daß sie das Unsicherste, was es derzeit unter der Sonne gab, nämlich lauter mündelsichere Papiere besaßen, Staatsschuldverschreibungen und dergleichen, von denen es großenteils zweifelhaft blieb, ob sie jemals noch einen Zinsschein einlösen würden. Sofern jedoch diese famosen Gewährleister der Mündel- und Waisensicherheit ihre Abschnitte überhaupt noch flüssig machten, erfolgte die Zahlung natürlich auf Grund der einst für hocherwünscht gehaltenen festen Verzinslichkeit, die durch die Geldentwertung zur Posse wurde, unter Umständen wohl auch zum Trauerspiel führte. Um das Erträgnis, das ein auf diese Art angelegtes Vermögen von beispielsweise hunderttausend Kronen im Jahr abwarf, konnte man sich jetzt gerade anderthalb Kilo Schweinefett kaufen, oder zweieinhalb Dutzend Eier, oder ein Viertelpaar Stiefel, oder einen halben Filzhut, oder, wenn man einmal ein Festessen veranstalten wollte, zwei Drittel eines Feldhasen, wobei man allerdings mit dem beim Trödler verwerteten Fell fast das Viertel der zwei Drittel wieder hereinbrachte. Ein bares Nichts war also der durch Jahre mühsam erarbeitete Wohlstand über Nacht geworden. Und schier zu einem Nichts verschrumpft sah auch der von Haus aus schmächtige und untermittelgroße Drechslermeister aus, wie er nun mit gesenktem Haupt, triefend von Nässe -- denn einen Regenschirm besaß er längst nicht mehr -- neben dem breiteren und noch immer dicklichen Ziervogel die Straßen entlang trabte. Gegen den strömenden Regen war dieser etwas besser geschützt, hielt er doch (ein Vermächtnis üppigerer Tage) an einem hölzernen Stock ein Drahtgestell über sich ausgespannt, auf dem noch die Reste eines halbseidenen Überzuges flatterten. Und so beobachtete er aus seiner verhältnismäßigen Geborgenheit hervor mißtrauisch und besorgt den bockig verstummten Bock, der sich heute in den Kopf gesetzt zu haben schien, dem Freunde Rätsel aufzugeben. Mit schwerem und bangem Herzen verfolgte er jede seiner Bewegungen, spähte er nach jeder seiner Mienen, um zu erraten, was in ihm vorgehe. Denn das dunkle, beziehungsreich betonte und darum etwas unbehagliche Wort, wer nicht mehr mitfahren wolle, dem stünde es frei, auszusteigen, beunruhigte ihn unausgesetzt. Er verstand es nicht, nein, ganz und gar verstand er es nicht, wollte es nicht verstehen, sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, es zu verstehen ... Auf dem ~Hinweg~ ins Amtsgebäude nämlich. Und auf diesem ganzen langen Hinweg vermied er es mit Geschick, den verstummten Anselm noch einmal durch eine Frage zu reizen und zum Reden zu veranlassen, um ihm nur ja keine Gelegenheit zu bieten, sich deutlicher auszusprechen. Das war um acht oder neun Uhr am Morgen. Ganz anders vier oder fünf Stunden später, als sie das Amtshaus wieder verließen und im Begriffe standen, den Heimweg anzutreten. So lange hatten sie nämlich gebraucht, um: 1. die neuen Brotkarten zu beheben; 2. ihr Bezugsrecht auf Küchenbrandkohle geltend zu machen, das ihnen irrtümlich vorenthalten worden war; 3. den Nachweis zu erbringen, daß sie seit 1911 kein Gewerbe mehr ausübten, denn man hatte ihnen trotzdem die Erwerbssteuer für die letztabgelaufenen neun Jahre nachträglich samt Verzugszinsen vorgeschrieben; 4. die Tabakkarte umzutauschen, zu welchem Ende ein Meldeschein vorzulegen war, den sie sich nicht anders zu verschaffen wußten, als indem sie bei der polizeilichen Meldestelle um amtlich bestätigte Auskunft ansuchten, wo die Herren Bock und Ziervogel wohnten; 5. auf die längst beglichene Gasrechnung die für ein halbes Jahr rückwirkende Preiserhöhung nachzuzahlen; 6. eine empfindliche Gefällsstrafe zu erlegen, weil sie ein mit vorgeschrittenem Alter und Kränklichkeit begründetes Gesuch um Einkommensteuerermäßigung nicht hoch genug gestempelt hatten; 7. die vom Hauswirt bestätigte genaue Beschreibung ihrer Zweizimmerwohnungen vorzulegen, weil das Wohnungsamt behauptete, sie hätten jeder um drei Zimmer mehr, als erlaubt sei (was natürlich auf einer Verwechslung mit ihren früher innegehabten Wohnungen beruhte); 8. die Zuckerkarten gegen Empfangsbescheinigung zurückzugeben, weil die behördliche Zuckerbelieferung eingestellt werden sollte und der vom Ernährungsamt zugeteilte Zucker seit dreiviertel Jahren ohnedies nicht zugeteilt worden war; und endlich 9. die letzte Teilzahlung der Vermögensabgabe abzutragen, obgleich das Vermögen, von dem diese Abgabe zu leisten war, sich inzwischen bis auf unbedeutende Überreste verflüchtigt hatte. Die übrigen Gegenstände, die noch auf ihrer Liste standen, mußten sie auf den nächsten Tag verschieben; heute war es nicht mehr möglich, sie zu erledigen, die Kanzleien wurden um zwei Uhr geschlossen, und ohnedies krümmte sich, wie ein getretener Regenwurm, vor jeder Amtsstubentür noch eine verzweifelte Menschenschlange. Ein Wolf saß dem erschöpften, entmutigten, entnervten Ziervogel in den Eingeweiden, als die beiden Freunde und pflichtbewußten Bundesstaatsbürger nach diesen vier bis fünf Stunden Amtstätigkeit (leidender Form) wieder auf die Straße heraustraten. Ein lebendiger, riesiger, hungriger Wolf, und der heulte nach Fleisch. Ein Wolf, bei dem plötzlich die angestammte Wildheit ausbrach, weil die Kartoffeln und das Sauerkraut ihm eingefallen waren, womit er gefüttert zu werden pflegte, und weil er wußte, daß man ihm zur Stillung seines Wolfshungers auch heute wieder nichts anderes als Kartoffeln und Sauerkraut vorsetzen würde. Wie besessen kläffte, bellte, rumorte das ungeschlachte Scheusal in der dunkeln Bauchhöhle, in die es eingesperrt war, biß wütend um sich und kratzte mit den Krallen seiner Pfoten an den Wänden -- so höllsauer war es dem süßen Joachim lange nicht zumute gewesen, er fühlte sich glatt am Ende seiner Kräfte. Und in dem Augenblick beherrschte ihn nur mehr der einzige Gedanke: Schluß machen mit dieser ewigen Qual, diesen unausgesetzten Foltern und Martern! Schluß machen mit einem Leben, das sich aus nichts mehr als Schikanen und Drangsalierungen, Entbehrung und Bettelhaftigkeit zusammensetzte. Schluß mit einem Dasein, das längst jeder Freude und jedes Reizes entkleidet war! Aussteigen! Nicht länger mitfahren! Oh, Freund Anselm hatte recht, nun begriff er's ganz genau, wie der es meinte: wem das ewige Gedränge, das stete Gepufft- und Gestoßenwerden zu dick wurde, dem stand es frei, ein Ende zu machen! Bei der nächsten Haltestelle sprang man ganz einfach ab und verlor sich unauffällig im unendlichen Strom der gleitenden Erscheinungen ... Aber plötzlich -- Wunder über Wunder! -- was schwebte seinen abgespannten und zugleich aufgepeitschten Sinnen deutlich zum Greifen da plötzlich vor Augen? Ein Gulasch war es -- eine Luftspiegelung hatte es ihm vorgegaukelt -- ein Gulasch, das sich in einer appetitlichen braunen Tunke badete, und dem ein knuspriges Salzstangel Gesellschaft leistete und ein schäumendes Glas goldbraunen Schwechater Bieres. Vorkriegserinnerungen, die ihm das Herz im Leibe hüpfen machten! Wie köstlich war solch ein Gabelfrühstück gewesen, kurz vor Tisch, wenn man sich so recht gründlich den Appetit damit verdarb! Und das sollte nun für immer vorbei sein? Ewig unerreichbar? Ein nie mehr zu verwirklichender Sehnsuchtstraum? Niemehr, niemals wieder erschwingbar? Ein Leckerbissen, den sich ein in Dürftigkeit geratener Mittelständler nicht mehr vergönnen durfte, weil es seine Verhältnisse überstiegen hätte, einen unerlaubten Aufwand für ihn bedeutete? Die kargste Notwendigkeit höchstens billigte das Schicksal noch den Versklavten zu, alles Überflüssige blieb verpönt! Ein seinem Zuckerbäckerherzen bis dahin unbekanntes Bedürfnis nach irgend einer kleinen Ausschweifung brachte ihm unversehens das Lied ins Gedächtnis, das er einst in froher Tafelrunde hatte mitsingen helfen: Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ... Und -- hol's der Geier! -- einmal wollte er sich noch des Lebens freuen, eh' es zu Ende ging, geschehe auch, was da wolle! Einmal noch zum Gabelfrühstück ein Gulasch sich vergönnen mit einem Salzstangel und einem Glas Bier, solange er das Licht der Sonne noch schaute. Und wenn er dann vielleicht einen ganzen Monat dafür hätte fasten müssen -- einmal noch wollte er leichtsinnig sein, eh' es zu spät dazu war, nur dies eine Mal noch, gerade heute, ein bißchen Verschwendung treiben, ein wenig über die Schnur hauen, eben ein ganz klein wenig nur, einmal bloß, ein einziges Mal noch im Leben! »Was meinst du, Bock?« sagte er kühn entschlossen und machte Halt. »Zum Mittagessen kommen wir doch nicht mehr rechtzeitig nach Hause --« Er zog die Uhr, wollte sie ziehen -- und griff ins Leere! Unverrichteter Dinge kam die Hand wieder heraus, fuhr abermals hinein ... er knöpfte den Überrock auf -- um Gottes, Christi, Himmels willen! »Bock --! Die Uhr! ... Meine goldene Uhr! ... Beim Teufel ist sie! ... Die goldene Uhr! Meine schöne, wertvolle goldene Uhr --!« Wirklich! Fort war sie! Verschwunden! Die wertvolle goldene Uhr! Empfohlen hatte sie sich! Auf Nimmerwiedersehen! Und die Kette auch! Die wertvolle goldene Kette auch! Die sofort eingeleiteten Schritte eröffneten wenig Aussicht auf Wiedererlangung. Das sei schon einmal nicht anders im Amtsgebäude, meinte gähnend der Beamte, der die Anzeige zu den Akten nahm; wenigstens ein dutzendmal täglich komme es vor. »Machen Sie ruhig das Kreuz darüber,« fügte er gemütlich scherzend hinzu. »Steht denn nicht angeschrieben: Achtung vor Taschendieben? No also! Wenn man Achtung vor ihnen haben soll, dürfen wir sie doch nicht erwischen!« Weniges später standen die beiden Nibelungentreuen abermals auf der Straße und traten Schulter an Schulter zum zweitenmal den Heimweg an. Der Regen hatte aufgehört, aber von Ziervogels Wangen fiel jetzt ab und zu ein verstohlener Tropfen und benetzte den schäbig gewordenen Aufschlag seines Überziehers. Er fühlte sich so müde, so entkräftet, daß er sogar den Wunsch äußerte, die Straßenbahn zur Heimfahrt zu benutzen. Als sie aber ihr Geld zusammenzählten, verfügten sie alle beide miteinander kaum mehr über eine Barschaft von siebzig Kronen. Das langte nicht für zwei Trambahnfahrscheine. »Im Frieden wäre man darum im Auto auf den Semmering gefahren,« brummte Bock verdrossen. Aber das Brummen half zu nichts. So schwer der süße Joachim sich schleppte, es blieb nichts übrig, als zu Fuß zu gehen. Besorgt und hilfsbereit hielt Anselm, obwohl er der viel kleinere und dünnere war, ihn untergefaßt und stützte ihn nach Leibeskräften. Hinter der rauhen Außenseite barg er im Grund doch eine treue Seele, die auch das heftige und -- im Vergleich zum Beruf eines Zuckerbäckers -- etwas gewalttätige Drechslergewerbe nicht völlig hatte verhärten können ... Auf diesem langen, stöhnenden Heimweg war es, daß die beiden Freunde jene furchtbare, schwerwiegende, düster vorausgeahnte Tat wirklich auszuführen beschlossen, von der Anselm in seinem Tatendrang schon am Morgen wie von einer Erlösung gesprochen und jetzt im Feuereifer der Überzeugung behauptete, sie müsse mit aller Tatkraft tatsächlich zur Tatsache gemacht werden; während der nichts weniger als tatendurstige Joachim erst infolge der schlimmen Erfahrungen dieses Vormittags sich mehr und mehr mit dem Gedanken an sie vertraut gemacht hatte und nur Schritt für Schritt vor der stößigen Hartnäckigkeit der Bockschen Überredung zurückwich. Ebenso wie für jenen, stand es aber nun schließlich auch für diesen fest, daß es töricht sei, nur aus Gewohnheit oder purer Feigheit im Höllenpfuhl weiterzuschmachten, wenn es bloß eines herzhaften Augenblickes bedurfte, sich für immer daraus zu befreien. Ein Plan, an den sie sich bei Ausführung ihres schwarzen Entschlusses halten wollten, wurde entworfen und durchgesprochen, und als sie endlich die Schleifmühlgasse erreicht hatten, waren auch die sämtlichen damit zusammenhängenden Fragen genügend erörtert und geklärt, die vorgebrachten Einwände großenteils widerlegt, die aufgetauchten Zweifel und Bedenken so ziemlich überwunden. Noch einmal machten sie auf dem Treppenflur vor ihren beziehentlichen Wohnungen halt, blickten einander mannhaft in die Augen und besiegelten die getroffene Verabredung mit einem kräftigen Händedruck und einem feierlichen »Es bleibt dabei!« Hierauf schieden sie voneinander mit der geheimnisvoll-düsteren Miene von Verschwörern, die rätselhaftes Unheil brüten, und verschwanden ein jeder hinter der Tür, die auf einem noch aus besseren Zeiten stammenden Messingschild den Namen des Betreffenden trug und sich dadurch als Eingangspforte zu der ihm gebührenden Behausung zu erkennen gab. * * * * * Eine von Bocks Lebensregeln lautete: Verschieb nicht, was du heut' besorgen kannst, auf morgen; während sein Freund im Gegenteil dem Grundsatz huldigte: Wenn du vorhast ein wichtig' Sach', so sieh dich für und tu' gemach. Diesmal mußte ausnahmsweise der Drechslermeister nachgeben, vielleicht tat er's nicht einmal ungern, weil er wohl selbst einsehen mochte, daß eine Sache, die man nur ein einziges Mal und dann nie wieder im Leben besorgen kann, schließlich doch auch nicht gerade übereilt zu werden brauche. Jedenfalls war es Herrn Ziervogel gelungen, etwas wie eine Art Galgenfrist durchzusetzen. Erst wenn wieder schön Wetter eingetreten wäre und die Sonne vom klaren Frühlingshimmel schiene, sollte (um Bocks dreifach unterstrichene Ausdrucksweise zu wiederholen) die Tat tatsächlich zur Tatsache werden. Es war ein zu ungemütlicher Gedanke, in die Donau zu gehen, solange es wie mit Kübeln aus den Wolken goß und man auch so schon genügend naß wurde. Denn nachdem sie alle anderen Wege, die vom Diesseits ins Jenseits führen, durchberaten und einen jeden sorgfältig geprüft hatten, waren sie darüber einig geworden, daß der Wasserweg noch immer am meisten für sich habe. Nun, und daß für zwei Wiener vom guten alten Schlag unter allen Gewässern dieser Erde nur die schöne blaue Donau in Betracht kommen könne, das schien ihnen selbstverständlich. In der Ziervogelschen Wohnstube stand ein Fenster offen; trotz der wochenlangen Regenzeit, die man hinter sich hatte, war die Luft mild und weich. Der feuchte Frühlingswind, der über hohe Feuermauern hinstrich und über tiefe Hinterhöfe und sogar über ein kleines Hyazinthenbeet in einem winzigen Hausgärtlein, eh' daß er den Weg durch dieses Fenster fand, führte so liebliche Lenzdüfte mit sich, daß dem Rotkehlchen Schnaberl, das in der erwähnten Wohnstube in seinem Käfig an der Wand hing, ganz eigen zumute wurde, es wußte selbst nicht wie. Sehnsuchtsvoll spitzte es mit seinen lebendigen Äuglein, die gleich schwarzen Glasperlen glänzten, nach dem großen irdenen Mehlwurmhäfen hinüber, das wie gewöhnlich auf dem Ofen stand, und das winzige Herzlein beschleunigte unwillkürlich seinen Schlag. Als nun aber gar auf dem Fußboden überraschenderweise -- denn wie lange schon war kein Strahl Sonne zu sehen gewesen! -- urplötzlich eine grelle Lichttafel ausgebreitet lag, da vermochte Schnaberl nicht länger an sich zu halten. Jubelnd ließ er die gewohnte kleine, zierliche, behutsame Weise ertönen -- das heißt, er bemühte sich wenigstens, sie ~jubelnd~ ertönen zu lassen, und versuchte sie ebenso flott und fröhlich herauszubringen, wie Annas lustige Liedchen zu klingen pflegten. Vergeblich! Es schwebte trotzdem jener gewisse Hauch von Schwermut darüber, welcher der bescheidenen Rotkehlchenkantilene nun einmal eigen ist; denn die Liedweise, die einer von Natur aus in sich hat, läßt sich nicht verleugnen und bleibt immer dieselbe. Der guten Anna, die gerade das Zimmer betrat, war es gar nicht recht, daß dem Vater, an dem sie ohnedies seit längerer Zeit eine ungewöhnliche Gedrücktheit und Verstimmung wahrgenommen hatte, nun auch noch die Ohren mit trübsinnigem Getute gefüllt werden sollten. Das halbunterdrückte Lachen -- sie hatte Erbssuppe zum Kochen zugestellt und die Erbsen hineinzutun vergessen, das kam ihr, so beschämend es war, urkomisch vor --; dieses Lachen also, das halbunterdrückt noch um ihre Lippen schwebte, machte einer besorgten Miene Platz, als sie das etwas triste Flöten vernahm, das dem Käfig an der Wand entquoll. Aber im nämlichen Augenblick hatte sie auch schon einen Plan zur Abhilfe bereit und zielbewußt einen gemästeten Leckerbissen aus dem Mehlwurmhäfen gefischt, mit dem sie, den verunglückten und ins Gegenteil verkehrten Jubel aus der Welt zu schaffen, dem Schnaberl den Schnabel stopfte. Vater Ziervogel, der am Tisch saß und Patiencen legte, lehnte sich, einen Seufzer von sich gebend, in den Divan zurück und sagte mit kläglicher Stimme: »Ach bitte, Anna, laß den Vorhang herunter, die entsetzliche Sonne macht mich noch verrückt.« »Sei doch froh, lieber Vater, daß sie endlich wieder scheint,« sagte sie und zögerte; erfüllte aber, wenn auch kopfschüttelnd und widerstrebend, schließlich doch seinen Wunsch, während er sich erhoben hatte und mit wackligen Schritten in der Stube auf und nieder zu gehen anfing, die Hände auf dem Rücken. »Mein Kopf ist dumm geworden!« klagte er. »Die Studiata bring' ich überhaupt nicht mehr zuweg'! Rein vernagelt bin ich manchmal ...« »Muß es denn gerade die Studiata sein?« fragte Anna tröstend dagegen. »Leg' den Zopf, den triffst du sicherlich und unterhältst dich ebensogut dabei.« »Der Zopf hilft mir nichts, er ist zu einfach und geht immer aus, ganz wie von selbst. Da braucht man sich nicht zu plagen, kommt von seinen Gedanken nicht los und dreht sich immer im gleichen Kreis herum.« Bekümmert beobachtete die Tochter die sorgenvolle Miene, die gebrochene Haltung des rastlos Aufundabschreitenden. Seit Wochen schon zerbrach sie sich den Kopf, was so plötzlich in ihn gefahren sein mochte? Denn bis dahin hatte er das Unvermeidliche, das die Zeitumstände mit sich brachten, mit Fassung, wo nicht mit Laune hingenommen, und daß der Verlust der Uhr samt Kette ihn so aus der Bahn geworfen habe, wie er selbst es behauptete, das hielt sie nicht recht für glaubhaft; den hätte er doch wohl endlich können verschmerzt haben, meinte sie. Da er nun vor dem Wetterglas haltmachte, das neben dem Fenster hing, hoffte sie ihn zu ermuntern, indem sie sagte: »Ist kein Wunder, wenn einer miselsüchtig wird bei dem andauernden Regen und Nebel. Der Kummer um die gestohlene Uhr liegt dir auch noch immer im Magen. Gib acht, Vater, wie das jetzt alles von dir abfallen wird, wenn nur erst der Frühling seinen Einzug hält. Sieh, wie sich's aufklärt, wie auf einmal die Sonne vom Himmel lacht! Die schlimme Zeit ist überwunden und ...« Erschrocken hielt sie inne. »Nichts ist überwunden! Nichts lacht vom Himmel und nichts hält seinen Einzug!« schrie Meister Ziervogel bleich vor Erregung. »Willst du's besser wissen als mein Barometer? Es ist gefallen, was sag' ich? -- gestürzt ist es, die Regenperiode ist nicht zu Ende, im Gegenteil, sie fängt jetzt erst recht an, da hilft kein Unheilkrächzen, wir werden noch lange keinen Frühling zu sehen bekommen! Und die Sonne, die Sonne« -- er hatte rasch den Vorhang wieder zurückgezogen und schloß, auf den Fußboden weisend, von dem die grelle Lichttafel jetzt ebenso plötzlich verschwunden wie vorhin aufgetaucht war, mit einem Unterton frohlockender Genugtuung in der Stimme: »Wo ist die Sonne? Fort ist sie! Verkrochen hat sie sich, auf Nimmerwiedersehn!« Wer hätte sich nun einen Reim darauf machen können, was das alles bedeutete? Daß das Fortdauern des Trübsalwetters seinen Wünschen zu entsprechen schien? Daß er die Sonne nicht leiden mochte und es ein Unheilkrächzen nannte, wenn man den nahenden Frühling verkündete? Rätsel über Rätsel! Die gute Anna hatte Zeit genug, darüber nachzudenken, als sie wieder in ihrer Küche stand und die gargekochten Erbsen durchs Sieb trieb, mit Umsicht und Geschick die spärlichen Stellen benützend, wo es noch keine größeren Löcher hatte, als es der Natur und dem Zweck eines Siebes eben entspricht. Aber vorderhand zeitigte ihr Nachdenken kein Ergebnis. Gegen Mittag pochte es an Ziervogels Tür. Er schrak zusammen, wie das Klopfen einer knöchernen Hand klang es seinem überreizten Empfinden, und dem kleinen, gelblichen, hohläugigen Bock, der eintrat, schien zum Knochenmann nichts als die Sense zu fehlen. Einer stummen Mahnung gleich stand der entsetzlich tatentschlossene Freund vor ihm, eine Verkörperung des Schicksals, das man irgendwie zu versöhnen das unwillkürliche Bedürfnis fühlt. »Willst du nicht Platz nehmen, Anselm?« »Danke! Ich gehe gleich wieder. Es ist Zeit, Joachim! Der erste schöne Tag ruft uns zur Tat! Heut' um zwei, wenn es dir recht ist, hol' ich dich.« »Hol' dich selbst dieser und jener!« antwortete schnöde der Zuckerbäcker. »Das nenn' ich keinen schönen Tag, was man im amtlichen Wetterbericht höchstens mit dreiviertelbewölkt bezeichnen könnte. Alles was recht ist, aber zu mehr, als was abgemacht ist, fühl' ich mich nicht verpflichtet. Übrigens wollte ich ohnedies noch einmal mit dir sprechen ... Aber so nimm doch endlich Platz,« wiederholte er dringlicher, »und steh' nicht wie ein Gläubiger vor mir, der eine Schuld einfordern kommt!« Kaum hatte Bock der Aufforderung entsprochen und sich nun doch niedergesetzt, so war auch schon ein Meinungsaustausch im Gang, der Fragen, welche längst bereinigt schienen, abermals aufrollte. Noch einmal setzte Joachim sich gegen Anselms leidenschaftlich-verbittertem Willen zur Wehr, an dem er wie an einem Angelhaken zappelte und schnebbelte. Und eines der Hauptbedenken, das der am Leben hängende Zuckerbäcker dem Drängen des entschlossenen Drechslermeisters entgegensetzte, lautete: »Das können wir doch unseren Kindern nicht antun!« Worauf Bock die Gegenvorstellung erhob, die Jugend komme unglaublich rasch über so etwas hinweg. Nur die menschliche Eitelkeit sei es, behauptete er, die einem das Gegenteil einreden wolle. In Wahrheit könne man den Kindern gar nichts Besseres erweisen, als ihr Lebensschifflein flott zu machen, indem man Ballast auswerfe, worunter er in dieser scheußlichen Zeit, in der es auf jeden Esser ankomme, vor allem die alten Leute verstehe, die zu nichts Rechtem mehr zu gebrauchen seien und nur Geld kosteten. Aber die Menschen, die man zivilisiert nenne, er wisse eigentlich nicht, weshalb, die seien nicht so mildherzig wie die Indianer, daß sie ihren unnütz gewordenen Alten den Tomahawk vergönnen würden. Darum bliebe nichts übrig, als daß diese selbst so einsichtsvoll wären, sich rechtzeitig zu empfehlen. »Und haben wir zweibeide es uns nicht redlich verdient,« fragte er, »daß man uns endlich unsere Ruhe gönne? Sollen wir denn durchaus noch länger mit all dem Elend gestraft bleiben?« »Die Jungen müssen's noch viel länger aushalten,« wagte Ziervogel, schon wieder schüchterner geworden, dagegen einzuwenden. »Die Jugend ist eine ganz andere Rasse. Hör' ich deine Anna nicht lachen und singen, so oft ich in ihre Nähe komme? Und meinst du, mein Ludwig sei anders? Sechs Jahre seines Lebens hat er in Sibirien versumpert, dreißig ist er jetzt alt, sitzt noch auf der Schulbank und plagt sich mit der verteufelten Bankprüfung herum -- glaubst du, das störe seine Laune? Ich -- obgleich ich doch nicht er, sondern eben ich bin, könnt' mir die Haare einzeln ausrupfen, wenn ich daran denk', wieviel verlorene Zeit, wieviel verlorene Jugend und vergeudete Kraft --! Und er --? Voll Ulk steckt er! Wunderschön findet er die Welt, so wie sie ist, wünscht sie sich nicht einmal anders, und das Leben macht ihm direkt Spaß, er hat seine Freude dran -- kannst du das für möglich halten? -- Siehst du,« schloß er, »so ist die Jugend!« Er hatte sich ereifert und fast wie in Verärgerung gesprochen -- die Leber, die Leber, die bittere Leber! Der süße Joachim aber wußte nichts von einer Leber, er mußte lächeln, mitten im Kummer und Leid, er hatte die Gabe, sich in die Jugend hineinzudenken, und fand, daß es im Grunde doch sehr nett wäre, noch einmal in ihrer Haut zu stecken. »Die würden eigentlich gut zueinander passen, der Ludwig und die Anna,« sagte er mit nachsinnendem Wohlgefallen. »Um Gottes willen! Mal' den Teufel nicht an die Wand!« rief Anselm entsetzt. »Nicht einmal denken kann man heutzutag' an so etwas, so wird einem schwarz vor den Augen! Am Ende gar heiraten -- wie? Ein Verbrechen wär' es! Billionär allermindestens müßt' einer sein! ... Aber auch abgesehn vom Geld: Kinder in die Welt setzen? In dieses miserable Elendsnest hinein? Daß sie einen noch verfluchen für die Gefälligkeit, die man ihnen damit erwiesen hat? Ein Verbrechen,« wiederholte er mit Überzeugung, »direkt ein Verbrechen wär' es!« »No, no, no,« machte Ziervogel, den es ein wenig verschnupfte, daß der andere seine Anna als Schwiegertochter so unverholen ablehnte. »Ereifre dich nicht so!« sagte er. »Es besteht ja keine Gefahr! Die beiden können einander ohnedies nicht ausstehn, schaun sich nicht einmal an, behandeln sich gegenseitig als Luft. Eine unausrottbare Feindschaft ist zwischen ihnen, ich glaube, sie rührt noch von damals her, von der kleinen Marmorkugel ... aus der Zeit, wo sie noch Kinder waren.« »Von einer Marmorkugel weiß ich nichts,« stellte Bock fest. »Meines Wissens stammt die Feindschaft von einem Schneehaufen.« »Von einem Schneehaufen weiß wieder ich nichts,« versetzte Ziervogel trocken. »Sondern die Sache war so, daß der Ludwig, als sie einmal Anmäuerln miteinander spielten, ein herziges kleines Kugerl aus rotem Untersberger Marmor, das ich der Anna geschenkt hatte, ganz widerrechtlich ...« »Es war nicht widerrechtlich!« begehrte Anselm, der nun doch von der Kugel etwas zu wissen schien, in gereiztem Tone auf. »Sondern von jeher ist es beim Anmäuerln Gebrauch gewesen, daß man den Abstand vom kleinen Finger aus zum Daumen mißt und nicht ...« »Im Gegenteil!« unterbrach ihn Joachim; »seit jeher hat man vom kleinen Finger zum Zeigefinger gemessen, was man die kleine Spanne nennt! Das wird dir ein jeder bestätigen, der von der Sache etwas versteht. Und weil man nun also beim Anmäuerln eine gegnerische Kugel nur dann konfiszieren darf, wenn sie innerhalb der kleinen Spanne liegt, so war es nach den Spielregeln auch nicht möglich, der Anna ihr Kugerl ...« »Verfallen war der Anna ihr Kugerl!« schrie Bock. »Von Rechts wegen verfallen! Denn auf der ganzen Welt gibt's nur eine einzige Spanne, die vom kleinen Finger zum Daumen reicht, und wer das Gegenteil behauptet,« loderte er im Jähzorn auf, »der ist ... der ist ... mit dem will ich ... mit dem ...« Aber sich noch rechtzeitig erfangend, lenkte er in einen ruhigeren Ton wieder ein und fuhr fort: »Wozu soll ich mich ärgern? Es bleibt sich ja gleich. Der Grund, warum der Ludwig und die Anna nichts voneinander wissen wollen, ist ja gar nicht das Kugerl. Sondern soweit ich mich erinnern kann, hat die Feindschaft damit angefangen, daß die Anna einmal, wie er sie im Handschlitten in der Andreasgasse umherkutschierte, ihm von hinten einen Schupps versetzt hat. Nun, und da ist er natürlich auf einen Schneehaufen geplumpst und bis über die Ohren darein versunken. So etwas verzeiht ein Bub' einem Mädel halt nie ... Das heißt --« verbesserte er sich: »schließlich sind das alles nur Vermutungen von mir; gesagt hat mir der Ludwig nichts davon, seit er erwachsen war, und gesprochen hab' ich mit ihm natürlich auch nicht mehr darüber, seit er aus Sibirien wieder zurück ist.« »In Sibirien hätt' er allerdings Zeit gehabt, den Schneehaufen zu vergessen,« sagte Ziervogel mit leisem Spott. »Lang genug wär's her, sollte man meinen, seit er den Schupps bekommen hat.« »Auch nicht länger, als seit die Anna ihrem Marmorkugerl nachtrauert,« bockte Bock dagegen. Der süße Joachim aber empfand das Bedürfnis, mit seinem Freunde und Nachbar in Frieden zu leben, und schlug vor, es dabei bewenden zu lassen. Schließlich laufe es auf dasselbe hinaus, ob Schneehaufen oder Kugerl. Die Tatsache, daß die jungen Leute, von denen eins offenbar so nachtragend sei wie's andere, irgend etwas gegeneinander auf dem Herzen hätten, werde dadurch nicht geändert und bleibe auf alle Fälle recht bedauerlich. Damit hatte nun Bock, der immer recht behalten mußte, endlich das erwünschte Stichwort beim Schopf, das ihm die Rückkehr zum Ausgangspunkt gestattete; indem er nämlich wiederholte, es sei ihm durchaus nicht möglich, etwas Bedauerliches darin zu erblicken, wenn in einer Zeit, wo niemand der Menschheit eine Fortsetzung wünschen könne, die Geschlechter einander, mit instinktiver Abneigung gegenüberstünden. Im Gegenteil, daß dies auch bei Ludwig und Anna der Fall sei, erleichtere ihm erheblich den Abschied vom Leben. »Denn wären unsere Kinder einander gut,« sagte er, »so hätte ich ja keine ruhige Minute mehr, noch übers Grab hinaus. Ob lebend oder sterbend käm' ich aus der Angst nicht mehr heraus, daß sie am Ende Unsinn treiben und uns zu Schwieger- und schließlich wohl gar noch zu Großvätern machen könnten!« Hierauf versank Ziervogel für eine kleine Zeit in Schweigen, denn er hatte die Bemerkung auf den Lippen, wer nicht mehr am Leben wäre, dem könne es schließlich gleichgültig sein, ob er zum Großvater gemacht würde oder nicht, und im Grunde ginge es ihn auch gar nichts mehr an. Indessen zog er es vor, den Gedanken, der ihn gar zu traurig stimmte, lieber zu unterdrücken, um den Schlußpunkt, den Bock endlich unter den Meinungskampf gesetzt hatte, nicht ins Wanken zu bringen. Für solche Nachgiebigkeit erwies sich der Drechsler denn auch erkenntlich, indem er schließlich eine neuerliche Fristverlängerung zugestand, allerdings nur unter dem Druck unableugbarer Tatsachen. Denn die Sonne hatte sich nach und nach so dichte graue und schwarze Schleier übers Antlitz gezogen und der Himmel ein paarmal ein so unzeitgemäßes Grollen vernehmen lassen, daß auch der rosigste Wetterbericht die Dreiviertelbewölkung hätte streichen und ehrlicherweise ausgesprochenes Regenwetter mit Neigung zur Gewitterbildung hätte melden müssen. Sonach wurde die »Tat« abermals vertagt, was den Schnaberl an der Wand ziemlich gleichgültig ließ, während die Geschichte von der Feindschaft, die zwischen Ludwig und Anna angeblich herrschen sollte, ihm ein nachsichtiges Lächeln abgenötigt hätte, wäre Lächeln Vogelart. Denn er meinte Grund zu der Annahme zu haben, daß die beiden jungen Leute sich nur deshalb so anstellten, als stünde der Kleinkinderzank von einst noch heute trennend zwischen ihnen, weil sie ganz gut wußten, daß Vater Bock Zeter und Mordio geschrien hätte, wäre er dahinter gekommen, daß sie in Wahrheit längst ein Herz und eine Seele waren. Oft und oft, wenn die alten Herrn Schulter an Schulter miteinander auszogen, um in unerschütterlicher Nibelungentreue den Kampf mit den Widrigkeiten des Alltags aufzunehmen, waren dem Schnaberl aus der Gegend der ans Wohnzimmer stoßenden Küche verdächtige Geräusche zu Ohren gekommen, aus denen er schließen zu dürfen glaubte, daß über Kugerl und Schneehaufen hinweg Ludwigs und Annas Lippen sich gefunden hatten. Einigermaßen darüber betroffen, daß das Schnäbeln bei den Menschen nicht so lautlos vor sich gehe, wie beim Volk der Meisen, Drosseln und Spechte, war er doch ein zu diskreter Hausgenosse, um nicht verständnisvoll zu schweigen und die Gedanken, die er sich machte, zu tiefst im Busen zu verschließen. Indessen sollten seine stummen Vermutungen sich nur zu bald als zutreffend erweisen. Denn zehn oder zwölf Tage später, an einem Morgen, wo gleichsam über Nacht die Gewalt des Nachwinters gebrochen, das Gelichter der Nebel- und Regengeister mit einmal niedergerungen war und der lachende Frühling auf dem strahlendblauen Himmelszelte seinen Einzug gehalten hatte, da ereignete es sich, daß Herr Ludwig plötzlich in jenes Zimmer gestürzt kam, in dem sich außer dem Schnaberl nur noch die gute Anna befand, welche dessen Wassernäpfchen soeben mit frischem Hochquell gefüllt hatte. Der Bankprüfling, der in Wickelgamaschen und schäbigem Feldgrau seine militärische Vergangenheit nicht verleugnete, schien die Ziervogelsche Wohnstube mit einem feindlichen Schützengraben zu verwechseln -- mit solchem Ungestüm und so wildem Hurrageschrei drang er in sie ein, ein weißes Papier in der erhobenen Faust schwenkend. Soweit Schnaberl die Laute der Menschensprache zu deuten wußte, handelte es sich um einen errungenen Erfolg, um irgend ein gewichtiges Ereignis, das auch für Anna Bedeutung zu haben schien. Wenigstens gab sie ihrer Freude durch weit geöffnete Arme Ausdruck, in welche Ludwig alsbald hineinstürzte wie in einen angenehmen Abgrund, in dem man sich nicht übel bettet. Und nun begann ein so ungestümes Umhalsen, emsiges Küssen und unternehmungslustiges Kosen, wie es nur zu festlichen Gelegenheiten denkbar ist. Und das dauerte mit ungebrochener Heftigkeit so lange an, bis Anna endlich sagte: »Hör' mal, jetzt ist es aber genug! Bedenke, daß wir nicht allein sind. Der Schnaberl sieht uns zu, und ich glaube fast, der wäre längst bis über die Ohren rot geworden, wenn er nicht schon von Haus aus ein Rotkehlchen wäre.« Darauf nahm Ludwig wieder Gesittung an und schlug vor, Arm in Arm vor die erstaunten Väter zu treten und ihnen kurzerhand die vollzogene Verlobung mitzuteilen. Allerdings sei es ratsam, meinte er, raschest die nötigen Erklärungen hinzuzufügen, ehe sie Zeit fänden, vom Schlag gerührt zu werden. Denn tödlich erschrecken würden sie sicher im ersten Augenblick; im zweiten aber dann um so freudiger überrascht ihren Segen dazu geben, sobald sie die näheren Umstände zur Kenntnis genommen und insbesondere von der schönen, vielversprechenden Laufbahn gehört hätten, die der treue Kamerad -- ein Großindustrieller, der die Leidensjahre in Sibirien mit ihm geteilt -- nach erfolgreich abgelegter Bankprüfung einzuschlagen ihm ermöglicht hatte. Diese Mitteilung werde die beiden alten Herrn nicht nur über das Fortkommen ihrer Kinder und künftigen Enkel, sondern auch über ihre eigene Zukunft beruhigen, ihnen mit einem Schlage die schwere Sorgenlast von den Schultern nehmen und vor ihren freudig erstaunten Blicken die unerwartete Aussicht auf ein geruhsames Alter auftun, am behaglich durchwärmten Ofen des Familienglückes. Die beseligte Braut war's natürlich zufrieden, es stellte sich aber bald heraus, daß beide Väter ausgegangen waren, und merkwürdigerweise lag -- was noch niemals vorgekommen -- auf eines jeden Tisch ein Zettel, worauf übereinstimmend geschrieben stand: »Komme heute nicht zum Essen, habe auswärts zu tun!« Einen Augenblick stutzte Anna, der Trübsinn fiel ihr ein, dem ihr Vater während der letzten Wochen verfallen gewesen, und die rührselig-weiche Zärtlichkeit, mit der er sie diesen Morgen in die Arme schloß. Aber so ungewöhnlich es ihr schien, daß schriftliche Nachricht an die Stelle der zwei gesprochenen Worte trat, welche die Notwendigkeit des Ausbleibens über Mittag ungleich einfacher und zwangloser, wie sie meinte, mündlich mitgeteilt hätten, so war sie doch zu heiter und arglos, um die Erklärung Ludwigs nicht völlig ausreichend zu finden: die alten Herrn fröhnten in ihrer vorrepublikanischen Gewissenhaftigkeit dem Vergnügen, sich bei den Behörden einmal recht gründlich lieb Kind zu machen, und weihten ausnahmsweise mal zu diesem Ende den ganzen Tag von früh bis spät dem amtlichen Angeschnauztwerden. »Nun wollen wir uns aber für ihr Ausbleiben rächen,« schlug sie vor, »und sie mit einer Festjause empfangen, die sich sehen lassen kann: Kaffee mit Kuchen, wirklichen Kaffee aus Bohnen nämlich, mit wirklicher Sahne (diese notgedrungen freilich bloß Kondens). Dazu echten Friedensgugelhupf mit Mandeln und Rosinen, als hätten wir das große Los gezogen (was wir ja eigentlich auch haben, du mit mir und ich mit dir, aber nicht gerade aus dummem Glück). Eine Flasche Wein könntest du auch besorgen und etwas Leberpastete, Zervelat-, Hirn- und Mettwurst, ferner Rollmöpse oder sonst was Pikantes, frischen Pumpernickel und knuspriges Weißbrot nicht zu vergessen, damit ich leckere Brötchen streichen kann, in übermütigster Abwechslung. Denn daß der Friede, der bekanntlich nur aus Humanität geschlossen wurde, uns den weißen Wecken bis auf dreihundert Kronen verteuert hat, daran soll mir heute (oder eigentlich dir, denn du mußt alles bezahlen, ich habe nichts) weiß Gott, wenig gelegen sein! Wie sparsam ich wirtschaften kann und auch zu wirtschaften gewohnt bin, das wirst du später, bei gelegenerer Zeit noch zur Genüge erfahren. Für heute wäre sparen unangebracht, ich sage: alles an seinem Ort, wo Freude einkehrte, soll man sich's wohl sein lassen! Darum bestell' schließlich auch noch, lieber Ludwig,« fuhr sie fort, »aber bei einem ersten Konditor, wenn ich bitten darf, daß man meinen könnte, die Firma Ziervogel ›Zum süßen Joachim‹ bestünde noch heute, Faschingskrapfen zur Karnevalsnachfeier, eine gegupfte stattliche Schüssel voll. Diese fromme Fastenspeise auch noch selbst zu backen, bleibt mir leider keine Zeit mehr, für alles andere will ich sorgen. Denn heute muß der Tisch sich biegen, als wären wir nicht das gerade Gegenteil von Kriegsgewinnern, und das Väterpaar soll sich einmal ausgiebig gütlich tun, schon aus dem hinterlistigen Grunde, damit sie aus der Fassung kommen und das Brummen vergessen. Weil man nämlich einen Vater, der zu Vorwürfen ausholt und meint, man dürfe nicht heiraten, die Zeiten seien zu schlecht dafür, den Mund am besten damit schließt, indem man eine so hoffnungsfrohe Zuversicht und einen so himmlisch leichten Sinn (um nicht zu sagen, einen solchen Leichtsinn) an den Tag legt, daß es ihm die Rede verschlägt und er vor Staunen sprachlos wird. So, und jetzt geh',« schloß sie, »und tu' pünktlich, wie ich dich geheißen! Hier noch einen Kuß auf den Weg, damit bist du entlassen, ich habe alle Hände voll zu schaffen. Erfülle deine Pflicht wie ich die meine! Was ich zu des Werkes Vollendung benötige, trägst du mir zu wie Hermann der Rabe und reichst mir's stumm durch den Türspalt herein, zu sprechen bin ich bis auf weiteres nicht. Und damit Gott befohlen, gegen vier Uhr sehn wir uns wieder, bis dahin werden wohl auch die Väter, mit gesundem Appetit, hoff' ich, heimgekehrt sein.« Um sich als künftigen Mustergatten zu empfehlen, blieb Herrn Ludwig nichts übrig, als ihren Anordnungen ohne Widerrede zu gehorchen. Gerne hätte er, weil heut' schon solch ein Glücks- und Freudentag war, sich die sonderbare Erlaubnis erwirkt, ihr beim Kuchenbacken behilflich sein zu dürfen; aber die schüchternen Versuche in dieser Richtung scheiterten an Annas Entschlossenheit, tatsächlich einen Kuchen zur Welt zu bringen und keinen verunglückten Mehlbatzen, der den Spott der Mitwelt herausfordern hätte können. Darum blieb es dabei, er mußte sich auf den Weg machen, die befohlenen Einkäufe zu besorgen, sie hatte die Sperrkette vorgelegt und nahm die von ihm herbeigeschleppten Mundvorräte und Kochzutaten nur durch den Türspalt in Empfang, ohne seinen jedesmal wieder erneuten Bitten, doch nur wenigstens auf eine halbe Minute eingelassen zu werden, im geringsten Gehör zu schenken. Sondern in dem Augenblick, wo er seine Pakete durch den Spalt gesteckt und abgeliefert hatte, fiel die Tür wieder ins Schloß, und man hörte, wie innen der Schlüssel umgedreht wurde. Denn ein Gugelhupf, wie er sein soll, kommt nicht so obenhin in weltlicher Zerstreutheit zustande. Er ist ein Werk, das seinen Meister nur unter der Bedingung lobt, daß dieser mit tiefinnerlicher Sammlung und heiliger Versunkenheit sich an seine hehre Aufgabe hingibt. * * * * * Indessen ging der guten Anna die Arbeit so leicht von der Hand, daß sie rascher damit zustande kam, als sie gedacht hätte. Da sie an diesem Tage für sich selbst kein Mittagsbrot kochte, sondern mit Umsicht Appetit ansammelte, um für die Festjause ausgiebig damit versehen zu sein, so kam alles, was an Zeit, Stoff und Kraft zur Verfügung stand, ausschließlich dem Kuchen zugute, der denn auch in seiner goldigbraunen Herrlichkeit bereits in der ersten Nachmittagsstunde wie ein überzuckertes Wunder fertig dastand, Zeugnis davon ablegend, daß schöpferische Fähigkeiten sich vererben und der Weltkrieg dem Eindringen der Mandeln und Rosinen nach Mitteleuropa noch weitaus länger hätte einen Riegel vorschieben müssen, ehe eine richtige Wiener Zuckerbäckerstochter aus der Übung gekommen wäre, einen vorbildlichen Gugelhupf zu backen. Vater Ziervogel ließ sich noch immer nicht blicken, untätig bleiben war Annas Sache auch nicht, und da vor den Fenstern nach wie vor der gleiche gold- und blaustrahlende Frühlingstag stand, fiel ihr plötzlich der Schnaberl ein, dem sie an dem ersten solchen Tage die Freiheit zu schenken sich gelobt hatte. Wie gut traf es sich, daß diese Frage gerade heute brennend wurde, da ein überströmender Drang in ihr war, Freude zu spenden einer jeglichen Kreatur, ja, womöglich die ganze Welt zu beglücken. Reichlich blieb noch Zeit, das Rotkehlchen in den Stadtpark zu tragen, wo die Fesseln fallen sollten, so hatte sie sich's zurechtgelegt. Und sogleich beschloß sie, an die Ausführung zu schreiten. Bevor sie aber das Haus verließ, stieg sie noch, den Käfig in der Hand, den oft betretenen Weg zum Dachstock hinan, um ihren armen kranken Freund zu besuchen, den kleinen Felix, der unter seinen Leiden, in Einsamkeit erduldet, stets so unsäglich dankbar war, wenn sie ihn besuchen kam und gar den Schnaberl mit heraufbrachte. Abermals, wie es ihre Gewohnheit war, stellte sie den Vogel in seinem Bauer vor den Knaben auf die Bettdecke, in demselben Augenblick aber kam es ihr in den Sinn, und zwar zum erstenmal, woran sie bis dahin noch gar nicht gedacht hatte: daß es nämlich für den bedauernswerten Jungen aller Wahrscheinlichkeit nach ein bitteres Weh bedeuten würde, von dem Vogel Abschied zu nehmen, dessen süßes, trauriges Liedchen ihm Wald und Freiheit vorzutäuschen pflegte. Und sich beherrschend, sagte sie, unsicher geworden: »Eigentlich sollte er heute fliegen, aber nun will ich mir's doch noch einmal überlegen ... Was meinst du?« Sinnend nickte Felix mit dem Kopfe, er war ja längst darauf gefaßt, daß eines Tages Ernst gemacht werden würde. Wenn ihn etwas überraschte, so war es nicht ihre Mitteilung, sondern das Zögern, mit dem sie sie vorbrachte. Wohin sie wohl annehme, daß Schnaberl flöge, erkundigte er sich. »Ach, wohin es ihn eben ziehen wird. Fort, hinaus, ins Freie, ins Weite! Wie oft wohl sehnte er sich danach! Aber da war immer ein Gitter, immer ein Käfig ...« »Wie schön würde er es haben!« sagte der kranke Knabe und lächelte mit einem Blick in die Ferne. Anna wußte nichts von den Kämpfen, die sich in seiner Seele abgespielt, seit jenem Tage, wo sie ihm zum erstenmal ihren Plan eröffnet hatte, dem Vogel die Freiheit zu schenken. Und sie ahnte auch nichts davon, daß er gesiegt und sich zu jener Herzensreinheit durchgerungen hatte, die nichts mehr für sich selbst begehrt. Aber es fiel ihr auf, daß jetzt jener vergrämte Ausdruck in seinen Zügen fehlte, der an den Ernst und die Sorgen Erwachsener erinnert hatte; eine himmlische Heiterkeit sprach aus seinem Kinderblick, in welchem es wie von tiefinnerlicher Verklärung leuchtete. »In der Freiheit,« sagte er, »würde er seines Lebens erst recht froh werden ... Sich durch die Lüfte schwingen! ... Sich in den Wipfeln der höchsten Bäume wiegen! ... Wäre es nicht ganz etwas anderes, als auf den Sprösseln des Käfigs hin und her zu hüpfen? ... Laß ihn fliegen!« bat er. »Die Sehnsucht muß ihm ja das Herz abdrücken. Laß ihn fliegen!« »Ich könnte ihn dann nicht mehr zu dir heraufbringen,« antwortete Anna behutsam. »Du würdest ihn nie, niemals wieder singen hören.« »Ich will gerne darauf verzichten, ihn singen zu hören,« sagte Felix. »Laß ihn fliegen! Bitte, bitte, gute Anna, laß ihn fliegen!« Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Anna bereute, ihm damals von ihrer Absicht gesprochen, eine solche überhaupt je gehegt zu haben. Ihr deuchte jetzt, der Vogel sei gar nicht einmal so unglücklich in seinem Käfig. Längst mochte er sich mit der Gefangenschaft abgefunden haben, war vielleicht überhaupt nicht von den Naturen, die sich nach Freiheit sehnen ... Aber Felix gab jetzt nicht mehr nach. Er erlebte in sich die Wonnen, mit denen das Befreitwerden aus der Gefangenschaft ein sehnsüchtiges Herz erfüllt, er hätte dem Schnaberl schier sein Glück neiden mögen, hätt' er es ihm nicht aus ganzer Seele vergönnt. Es blieb mehr als fraglich, ob er an des Rotkehlchens Singen jemals wieder Freude finden konnte, wenn der Gedanke ihn quälte, daß er die Ursache sei, weshalb es noch immer im Käfig schmachtete. So blieb der guten Anna schließlich nichts übrig, als dem Drängen des armen kranken Knaben nachzugeben und ihm zu versprechen, daß sie ihr Vorhaben genau so, wie es geplant gewesen, zur Ausführung bringen würde. Und als sie endlich von ihm schied, um nun wirklich den Käfig in den Stadtpark zu tragen, hielt er sich aufrecht und freudig und sah ihr strahlenden Auges nach, solange er meinte, von ihr noch beobachtet werden zu können. Wie sie aber die Tür hinter sich zuzog, konnte sie mit dem letzten Blick durch den Spalt eben noch seinen ausbrechenden Schmerz auffangen, der ihn weinend in die Kissen zurückwarf. Immer hatte es ihr das bitterste Erdenweh geschienen, wenn sie sich der Unmöglichkeit gegenübersah, dem einen Liebe zu erweisen, ohne dem anderen Leid zuzufügen. Der Schnaberl war es, welcher sich diesmal in der angenehmen Lage befand, der vom Schicksal Begünstigte zu sein ... In derselben Stunde, in der das stille, friedliche Leben der Schleifmühlgasse durch die leiseren Wellen und Wellchen solcher Herzensnöte gekräuselt wurde, rollte die große Donau ihre breiten grauen Wogen an anderen Herzensnöten vorüber, die vielleicht noch bitterer waren und sich im Busen eines auf der steinernen Uferböschung sitzenden Zuckerbäckers zusammendrängten. Ein ahnungsvolles Gemurmel wie das Flüstern und Locken von Nixen und fischgeschwänzten Weibern entstieg dem gewaltig hinziehenden Strome, der hier wohl an die vierhundert Schritt breit war. Das Wasser rauschte, das Wasser schwoll, von Herrn Ziervogel aber hätte niemand behaupten können, daß er sich halb hingezogen, halb hinsinkend der kühlen Flut entgegensehne. Im Gegenteil, es war ihm ein grauenvoller Gedanke, in dieser noch recht herben Frühlingsluft, die die Sonne nur ganz oberflächlich mit dem goldenen Strahlenmantel wohltuender Wärme umhüllte, auch nur die große Zehe mit dem kalten Wasser in Berührung zu bringen, und er wäre am liebsten auf und davon gelaufen und landeinwärts entflohen, weit fort von dem nassen Element, hätte nicht mit strenger Miene der kleine Drechslermeister an seiner Seite gesessen, ihn mit hundertäugiger Wachsamkeit belauernd wie in der antiken Sage Argos die in eine Kuh verwandelte Jo. »Es nützt kein Zögern,« sagte Bock. »Je länger man wartet, desto schwerer fällt's. Hier heißt es wie an der Drehbank: resolut den Stahl ansetzen! Die Zähne zusammengebissen und die Augen zu -- in einer halben Minute ist alles vorbei. Ich will einmal bis drei zählen, auf drei springen wir auf und stürzen uns kopfüber in die Flut. Also aufgepaßt! Eins ... zwei ...« »Aushalten! Aushalten!« fiel Ziervogel ihm in den Arm. »Du stellst dir die Sache einfacher vor, als sie ist. Nahe dem Ufer scheint der Strom ganz seicht, man sieht es deutlich, so trüb und schmutzig das Wasser auch ist. Hier gibt es kein Sichhineinstürzen, lieber Freund, am allerwenigsten kopfüber, das Ergebnis wären Beulen und blaue Flecken. Höchstens hineinwaten könnte man, im Anfang bis über die Knöchel im Wasser, später vielleicht bis zu den Knien, aber auch dabei bleibt das Ersaufen noch immer ein Kunststück. Und wie lange es wohl so weitergeht? Niemand ahnt es. Vielleicht zehn Schritt, vielleicht zwanzig, vielleicht fängt gar erst bei fünfzig die Tiefe an. Bis dahin hat man sich zuverlässig einen Schnupfen zugezogen und wenn nicht, doch allerhand verdammtes Unbehagen ausgestanden. Wozu? Nicht einmal bei Schwerverbrechern gibt es eine Verschärfung der Todesstrafe. Warum soll gerade ich mir eine Verschärfung diktieren lassen? Fällt mir gar nicht ein! Wenn du willst, daß ich mittun soll, so mußt du dir schon was anderes ausdenken.« »Du stellst dich rein an,« gab Bock ärgerlich zur Antwort, »als ob du mir einen Gefallen damit erwiesest, wenn du dich den unleidlichen Zuständen unseres Zeitalters durch einen raschen Entschluß entziehst. Haben wir die Tat nicht reiflich erwogen und gemeinsam beschlossen? Zwinge ich dich dazu? Liegt es nicht in deinem eigenen Vorteil, ein Ende zu machen? Von mir aus bleib' am Leben, frette dich weiter, werde hundert Jahre und darüber und laß dich bis ins wacklige Greisenalter hinein drangsalieren und mit Schikanen füttern, in diesem Lande, wo statt Milch und Honig Tränen fließen und das Wiener Schnitzel längst zur Legende geworden ist. Feiere, mit einem Wort, wenn es dir behagt, noch deine goldene Hochzeit mit der notigen Bettelhaftigkeit, so wie einst der heilige Franziskus sich mit der Armut vermählte -- ich habe nichts dagegen, du bist dein eigener Herr. Das eine aber laß dir sagen. Seit Jahren haben wir jeden Schritt gemeinsam unternommen, Schulter an Schulter, in nie wankender Nibelungentreue, und mit kerndeutschem Handschlag auch diesmal das feierliche Gelöbnis besiegelt: Es bleibt dabei! Wenn du jetzt auskneifst, nenne ich dich nicht bloß einen Feigling, nein, einen Treulosen nenn' ich dich, denn im entscheidendsten Augenblicke unseres Lebens hast du die langbestandene Gemeinschaft gekündigt, das Tischtuch zwischen uns zerschnitten und mich schnöde im Stich gelassen! So, nun weißt du's wenigstens, wie ich über die Sache denke, und kennst meine Meinung. Und nun geh' heim und kehre zurück in die Knechtschaft der Entbehrungen und in die Tretmühle des Elends, wenn es dich danach gelüstet, oder tu' sonst, was dir gefällt, und was du nicht lassen kannst!« Also sprach Bock. Wie Schwerter fuhren die Worte aus seinem Munde. Ja, als Drechsler hatte er's leicht, resolut zu sein, während das Einfüllen von Obersschaum in Indianerkrapfen oder das Komponieren eines Tortengusses eine so sanfte und zartbesaitete Tätigkeit ist, daß sich unter ihrem Einfluß nur die liebenswürdigeren Eigenschaften des Gemütes ausbilden, der Heldengeist dagegen verkümmert. Überdies gehörte Anselm schon von Natur zu den Unentwegten, die in jedem Falle nicht nur eine bestimmte Meinung haben, sondern diese Meinung (wenigstens vorübergehend) auch für die einzig richtige halten. Unseliger Zwiespalt dagegen, der du Ziervogels Seele in zwei fast gleiche Teile zerlegst, von denen niemand wissen kann, ob einer und welcher auf der Goldwage der Entschließung schwerer oder leichter wiegt als der andere! Welcher Wagschale ist es bestimmt zu steigen, und welcher zu sinken? Wird die süße Gewohnheit des Daseins die Oberhand gewinnen, die den Zuckerbäcker trotz alledem mit hundert Ketten an diese schlechteste aller Welten schmiedet? Oder der Drang nach Freiheit die Fesseln sprengen und ihm Schulter an Schulter mit dem Freunde die Pforte in ein besseres Jenseits auftun? Ach, wie klar und lichtdurchflutet lachte der zartblaue Himmel, blankgescheuert von der langen Regenzeit, auf die frischbegrünten Überschwemmungsgebiete nieder, durch die der mächtige Strom rauschend seine Bahn hinzog. Wunderhold war solch ein Frühlingstag! Freudenau hieß dieses schier urländliche Auen- und Wiesenrevier des unteren Praters, in dem sie sich befanden, und wenn man die Lerchen trillern hörte, die wie glimmende Funken jenseits des Flusses, über dem »Schierlingsgrund« und den »Biberhaufen«, jenen Hutweiden und Erlenbüschen des geschichtlichen Schlachtfeldes von Aspern, hoch in den Lüften wirbelten, da fühlte man, man brauchte es nicht erst zu begreifen, daß Freude der Nerv und Herzschlag dieser Stadt und dieses Landes sei. Wie schwer fiel es doch, sich von all der trauten Schönheit loszureißen, trotz alledem und alledem! Aber andrerseits bedeutete die Nibelungentreue, die sie einander bis dahin gehalten, und auf die Anselm sich ausdrücklich berief, dem Biedersinn des süßen Joachim nicht bloß eine leere Redensart. In einer altertümlichen Tischgesellschaft, welcher er einst angehörte, hatte er den Kneipnamen »Armin, der Cherusker« geführt, und seine Kundschaft, solange er in der Konditorei tätig gewesen, rekrutierte sich großenteils aus jenen volksbewußten Kreisen, welche gegenüber der starken slavischen Strömung im alten Österreich ihr Deutschtum kräftig zu betonen liebten. So kam's, daß er auf negerfarbige Schokoladetorten, mulattenbraune Kaffee- und rosenrote Biskuittorten mit Punschgeschmack (die berühmte Ziervogelsche Spezialität) unzähligemal die Inschrift: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!« in weißem Zuckerguß kunstvoll verschnörkelt hingemalt hatte. Und es galt ihm für das oberste Gebot völkischer Gesinnung, daß eines deutschen Mannes Treue ebenso unerschütterlich und ohne Wanken fest müsse stehen wie jene vielbesungene Wacht am Rhein. Nein, wenn alle untreu wurden, Armin, der Cherusker, wurde es nie und nimmer! Ihm war es Ehrenpflicht, Schulter an Schulter mit dem Kameraden durch dick und dünn, wenn nötig sogar ins Wasser zu gehen. Nur ein wenig Zeit zu gewinnen, versuchte er noch. »Zähl' auf mich, Anselm,« sagte er; »ich lasse dich keinesfalls im Stich, wie du mir's zumutest, ich sperre mich auch nicht gegen die Tat, nur gegen die Art ihrer Ausführung. Wir müssen trachten, gleich ins volle zu kommen, ins tiefe Wasser nämlich, von Anfang an in die Mitte des Flusses. Darum schlage ich vor: gehn wir zur Rudolfsbrücke hinauf, die auf hohen Pfeilern über den Strom setzt. Von ihr bin ich bereit, einen Kopfsprung zu tun, wie ich in meinen jungen Jahren in der Schwimmschule keinen schöneren verübte.« Aber Bock durchschaute argwöhnisch die Absicht des Verzögerns und Hinausfristens, er gab zu bedenken, daß die Rudolfsbrücke eine gute Stunde entfernt und von Fuhrwerken und Fußgängern belebt sei, auch behauptete er, an Schwindel zu leiden und jede andere Todesart einem solchen Salto mortale aus der Höhe vorzuziehen. Damit hatte er sich erhoben und war die Futtermauer der Böschung hinuntergeklettert. Er stand jetzt knapp am Wasser und tauchte die Hand hinein, um zu prüfen, wie kalt es sei, zog sie aber rasch wieder zurück und verlor nun selbst ein wenig den Mut, weil er ebenfalls das Kalte nicht liebte und so wenig wie Ziervogel sich nach einer Verschärfung der Todesstrafe sehnte. Indessen wollte er sich von dem jähen Umschlagen seiner Stimmung nichts merken lassen und blieb bis auf weiteres in scheinbar düsterer Versunkenheit am Rande des Wassers stehen, was bewirkte, daß dem süßen Joachim das Herz bis zum Halse herauf zu pochen begann, denn er meinte jeden Augenblick, der andere würde ernst machen und ein heldisches Beispiel geben. In seiner Angst, die mit jeder Sekunde größer wurde, und während er krampfhaft sein Gehirn anstrengte, irgend ein Lockmittel ausfindig zu machen, womit der vermeintlich tatentschlossene Bock sich ins Leben zurückködern ließe, kam ihm plötzlich die Erinnerung, daß am Vorabend, als seine Tochter gerade eine Besorgung machte und er zufällig einen Augenblick allein in der Küche stand, etwas Papierenes durch den Briefspalt der Tür hereingesteckt worden war, und als er es auffing, so war's ein rosenrotes Briefchen gewesen, an Anna adressiert, und zwar von einer ihm wohlbekannten, nämlich von Ludwigs Hand. Das hätte zu denken geben müssen, an jenem Abend aber und dem folgenden Morgen war keine Zeit zum Denken gewesen, die »Tat« hing wie ein Schwert über seinem Haupt. Erst in diesem Augenblicke würdigte er die Bedeutung und den Wert seiner Entdeckung: ein Liebesbriefchen Ludwigs an Anna! Als ob ihm eine Rettungsleine zugeworfen worden wäre, so erlösend empfand er es, daß ein so kostbarer Umstand gerade in der höchsten Not ihm noch rechtzeitig eingefallen war. Und er sagte: »Ich habe mich eines besseren besonnen, lieber Bock, und will nicht länger wählerisch sein, schließlich bin ich mit jeder Todesart einverstanden. Darum leuchte mir nur rühmlich mit gutem Beispiel voran, bester Freund, ich folge dir standhaft nach, und ging's in die Hölle, darauf kannst du dich verlassen. Denn im Grunde sterbe ich ja gern,« sagte er mit einem scheinheiligen Seufzer; »weiß ich doch mein süßes Zuckerkindchen, meinen teuren Liebling, meinen Augapfel, mein Herzblatt, die liebe gute Anna, glücklich und gottlob fürs Leben versorgt.« Die Wirkung dieser Worte war, daß Bock sofort kehrtmachte und die Böschungsmauer wieder heraufkletterte. Der Verdacht, daß in der Schleifmühlgasse hinter seinem Rücken etwas ihm Unerwünschtes vorgehen mochte, weckte seinen Ärger, und leider knüpft Ärger die Menschen oft inniger ans Leben als Liebe. Außer der Leber regte sich aber auch noch die Neugier in ihm, denn wie alle Drechsler war er neu- und wißbegierig und hätte es nicht über sich gebracht, sich auszulöschen, solange der süße Joachim etwas wußte, das er selbst nicht wußte. Und schließlich war er im Grunde auch nicht böse darüber, daß er einen Anlaß fand, auf unauffällige Weise den Rückzug anzutreten. Denn seit dem Eintauchen der Hand ins kalte Wasser teilte er insgeheim Ziervogels ursprüngliche Meinung, daß in manchen Fällen ein bißchen Hinausschieben immer noch empfehlenswerter sei als ein vorschnelles Übereilen. Der süße Joachim hatte ein bißchen geschwindelt, als er von Annas Glück und Versorgtsein fürs Leben faselte. Es war eine Rückkehr zur Wahrheit, als er nun aus dem Elefanten wieder die Mücke machte und dem stürmischen Fragen und Drängen Bocks die Beteuerung entgegensetzte, nichts weiter zu wissen, als daß Anna ein Briefchen empfangen habe, allerdings ein rosenrotes, und zwar von der Hand Ludwigs. Aber eine Rückkehr zur Ehrlichkeit war es noch immer nicht, denn absichtlich und mit Vorbedacht begleitete er seine Versicherung mit einem zweideutigen Lächeln, das in Bocks ohnedies schon mißtrauischer Seele die Überzeugung festigen mußte, es werde ihm etwas verheimlicht, und der andere wisse mehr, als er eingestehen wolle. Sonach bot sich dem Drechslermeister die schönste Gelegenheit, sich als den Gewissenhaften aufzuspielen, der noch nicht daran denken könne, ein besseres Jenseits aufzusuchen, weil er vorerst auf dieser Erde noch nicht entbehrlich sei. »Es tut mir leid,« sagte er, »daß ich nun selbst derjenige sein muß, der eine Vertagung unsrer Tat beantragt. Aber es zieht mich jetzt nach Hause, nach dem Rechten zu sehn, ich kann nicht zugeben, daß der Ludwig eine Torheit begeht. An einem der nächsten Tage, sobald es mir gelungen sein wird, ihn zur Vernunft zu bringen, wollen wir dann um so entschlossener hierher zurückkehren und nachholen, was heute versäumt wurde. Für diesmal aber geh' ich heim, und zwar sofort und auf dem nächsten Wege. Denn mein Lebtag hab' ich mich an den Grundsatz gehalten: Erst die Pflicht, dann das Vergnügen.« Daß Ziervogel über eine solche Wendung der Dinge nicht gerade ungehalten war und den Entschlüssen des Freundes keine Hindernisse in den Weg legte, läßt sich denken. Während des ganzen Rückwegs über die Praterwiesen hüpfte ihm das Herz im Leibe, noch nie entzückte ihn in solchem Maße das junge Grün auf den Bäumen, das liebliche Gedränge von Schneeglöckchen und Veilchen im Grase, und am liebsten hätte er selbst von Zeit zu Zeit einen Luftsprung ausgeführt wie ein Osterböcklein, hätte er nicht gefürchtet, sich des alten Bocks Ungnade dadurch zuzuziehen. Als sie sich, von der Sophienbrücke kommend, der Gegend des Hauptzollamts näherten, hörte man wüsten Lärm von der Ringstraße her, alles war schwarz von Menschen, Geschrei und Gejohle stieg auf, böswillig zertrümmerte Schaufenster klirrten. Aufrührerische Arbeiter, die eine Kundgebung gegen die Teuerung veranstalteten und sinnlos Millionen von Werten vernichteten, weil die Not ihnen noch immer nicht groß genug war. So wenigstens meinte Bock, indem er wütend die Faust ballte. »Diese Falotten! Diese Tagediebe! Diese Patentrepublikaner! Löhne beziehn sie wie die Minister, versaufen sie und wundern sich dann, wenn das Brot teurer wird!« Der Zuckerbäcker war im Grunde derselben Ansicht, hatte es aber mit der Angst. Versprengte Trupps entschlossen aussehender junger Burschen zogen tatendurstig an ihnen vorüber! »Um Gottes willen, Anselm, schweig still! Du bringst uns noch an die Laterne!« Aber der Drechslermeister war nicht gewohnt, mit kandierten Meinungen aufzuwarten. Die Leber spielte ihm wieder einmal einen Streich, die bittere Leber. »Diese Falotten! Diese Falotten! So ein Mob soll reif für die Freiheit sein?« Da hatten ein paar von den Demonstranten die erhobene Faust wahrgenommen. Drohende Blicke und drohende Worte scheuchten die beiden Freunde zur Seite, sogar ein paar Püffe und Rippenstöße setzte es, die sie völlig von ihrer Richtung abdrängten. Ein wahres Glück, daß sich schon ganz in der Nähe der Stadtpark befand. So gelang es dem besonneneren Ziervogel, der den sinnlos wild gewordenen Drechsler untergefaßt hatte und mit Gewalt von der Straße fortzog, ihn und sich in die stillen und menschenleeren Anlagen zu flüchten, die wie eine grüne Schonung abseits von dem Lärm unter der milden Frühlingssonne träumten. Hier durften sie sich als gerettet betrachten, während außerhalb das Getriebe des Verkehrs und der Leidenschaften weitertobte. Als sie nun, der eine erlöst aufatmend, der andere beharrlich weiter grollend, die breiten Kieswege zwischen frischbegrünten Sträuchern und frühblütigen Blumenbeeten entlang schritten, stutzten sie plötzlich, beide zu gleicher Zeit, und blieben stehen, sahen sich an und staunten. Sie schüttelten den Kopf, wollten ihren Augen nicht trauen, mußten sich aber schließlich doch überzeugen, daß das junge Mädchen, welches ihnen soeben über den Weg gelaufen war und nun die gepflegte Rasenfläche durchquerte, um plötzlich im Gebüsch zu verschwinden, niemand anders war als Ziervogels Herzblatt Anna. Jawohl, das »süße Zuckerkindchen« war es, wie er sie in zärtlichen Wallungen seiner Konditorseele nannte, es blieb kein Zweifel übrig, daß sie es wirklich war. Denn gerade in diesem Augenblicke brach sie wieder aus dem Gebüsche vor, erblickte und erkannte das unerwartete Väterpaar und eilte jetzt schnurstracks ihnen entgegen. Mit fliegendem Atem begann sie zu erzählen, und es war höchste Zeit, daß sie es tat, bereits schwankten die beiden Alten, wen sie wohl für verrückt halten sollten, ob sich selbst, oder das Mädchen. Nun fand Annas auffallendes Tun seine Erklärung. Das Rotkehlchen hatte sie ausgelassen, den Schnaberl! Hatte ihm wollen die Freiheit schenken und gemeint, er würde sich jubilierend in die Lüfte schwingen und wie ein Pfeil davonsausen. Statt dessen flatterte das armselige Vögelchen ängstlich am Boden hin, hatte das Fliegen offenbar verlernt, oder es nie gekonnt, und wußte von der köstlichen Gabe der Freiheit keinen Gebrauch zu machen. Jämmerlich piepste es voll Sehnsucht nach seinem Käfig, war aber doch wieder zu geschreckt und unvernünftig, um sich haschen zu lassen, und huschte aufkreischend und flügelschlagend davon, wenn man die Hand nach ihm ausstreckte. Ein kläglicher Anblick und eine gefährliche Sache! Denn schon hatte eine pürschende Katze sich gezeigt, die lauernd das Einfassungsgitter entlangschlich. Solle der gute Schnaberl nicht das Opfer eines Abenteuers werden, so mußte man ihn möglichst rasch wieder einfangen, der Käfig war ihm unentbehrlich, er gewährte ihm Schutz gegen seine eigene Dummheit und Unfähigkeit. »Helft mir um Gottes willen seiner habhaft werden!« bat Anna. »Wenn wir ihn geschickt treiben, daß er das offenstehende Türchen nur überhaupt findet, so kehrt er mit Wonne von selbst in die gesicherte Hut zurück und dankt seinem Herrgott, daß er unbehelligt wieder auf den Sprösseln hin- und herhüpfen darf und sein Futter im Nürscherl hat.« Hilfsbereit stellten die beiden alten Herren sich zur Verfügung. Man entwarf einen Kriegsplan, postierte das Vogelbauer mit weitgeöffnetem Türchen einladend in die Mitte dichteren Buschwerks und versuchte nun den Schnaberl vorsichtig zu umzingeln und einzukreisen. Aber er mißverstand die wohlwollende Absicht, glaubte sich verfolgt und bedroht und flatterte in Todesangst vor den gutmeinenden Gönnern her, immer wieder ein Loch im Dreieck erspähend, durch das er entwischen konnte. Lange blieb das Kesseltreiben erfolglos, und so wenig der blinde Eifer der Verbündeten die Rasenflächen, die Fliederbosketts und selbst die Tulpen- und Hyazinthenbeete schonte, es schien doch eine Zeitlang alle Strategie zu versagen. Bis endlich durch einen Zufall der gehetzte Schnaberl, von einem vorüberlaufenden Kinde gerade in jenes Gebüsch gescheucht, wo der Käfig seiner wartete, diesen erblickte, Heimatserinnerungen in sich erwachen fühlte und, plötzlich wieder Vernunft annehmend, gemächlich hineinspazierte, um sich am Futternäpfchen für die ausgestandene Mühsal zu entschädigen. Dies gewahren, herzustürzen, das Türchen schließen und das Bauer mit Siegesfreude vom Boden heben und in ausgestreckter Hand hochhalten, war für Ziervogel das Werk eines Augenblicks. Fast gleichzeitig indessen erbebte er bis ins innerste Mark, wie aus dem Boden getaucht stand eine drohende Gestalt vor ihm, ein Schutzmann, der ihm und dem erschrocken herbeigeeilten Bock bekanntgab, daß sie wegen freventlicher Beschädigung der öffentlichen Anlagen strafbar seien und zur Verantwortung gezogen werden müßten. Er holte einen Schreibblock aus der Tasche hervor und erforschte, die Personaldaten aufnehmend, Herz und Nieren der Übeltäter: »Wie heißen Sie? -- Und Sie? -- Alter? Beruf? Wohnung? Ziervogel und Bock -- eine saubere Firma! Anlagenzertrampler, G. m. b. H.! Schön! Na, warten Sie, Ihnen vertreib' ich das Verwüsten von Rasen und Blumenbeeten! Den heutigen Tag werden Sie sich merken, Sie sollen mir nicht ohne eine gesalzene Strafe davonkommen!« Aufs tiefste gedemütigt und zerknirscht, erteilten die armen Sünder im Bewußtsein ihrer Schuld der Mensch gewordenen Gerechtigkeit bereitwillig die gewünschten Auskünfte, während das Bauer mit dem wieder fröhlich umherhüpfenden Schnaberl zwischen ihnen auf dem Kiesweg stand. Nach beendigtem Verhör sich umsehend, wo die Anna inzwischen geblieben sei, mußten sie feststellen, daß diese es vorgezogen hatte, unauffällig zu verschwinden, was man ihr eigentlich nicht übelnehmen konnte, da es gelungen und der Erfolg auf ihrer Seite war. In einigermaßen gedrückter Stimmung traten sie den Heimweg an, wobei die saure Arbeit, das Vogelbauer zu tragen, ausschließlich dem süßen Joachim zufiel. Denn Bock betrachtete den Schnaberl als interne Ziervogelsche Familienangelegenheit und ärgerte sich im stillen gelb und grün, daß er wegen des verflogenen Rotkehlchens zu einer empfindlichen Strafe verknurrt zu werden die schönste Aussicht habe, und zwar infolge süßlicher Auffassung der Pflichten gegen Singvögel seitens der Zuckerbäckerstochter, der er ohnedies schon grollte und den Kopf zurechtzusetzen sich geschworen hatte, falls sie seinem Ludwig diesen Körperteil mit der sogenannten Liebe wirklich sollte verdreht haben. Bockig, wie er bei solchen Gelegenheiten war, höhnte er, im Schleifmühlgassen-Hause angelangt, während sie die Treppe hinaufstiegen, ingrimmig schnödetuend zwischen den Zähnen: »Da wären wir ja alle drei wieder reumütig in unsern Käfig zurückgekehrt!« Und damit wollte er sich ungesäumt in seine muffige Höhle verkriechen, fand aber die Tür verschlossen, so daß ihm nichts übrig blieb, als Ziervogels Einladung anzunehmen und vorläufig bei diesem einzutreten. Kaum aber hatte er die Schwelle überschritten, so stutzte er und staunte, und der süße Joachim nicht minder. Das Wohnzimmer war mit Reisig festlich geschmückt (Ludwig hatte ein übriges getan), ein feingedeckter Tisch, mit Flaschen und leckeren Speisen besetzt, die ein Blumenstrauß überschattete, schien nur der fröhlichen Gäste zu harren. Inmitten der Stube aber standen Arm in Arm Ludwig und Anna in Feiertagskleidern und begrüßten die in der Türöffnung erscheinenden Heimkehrer mit einer ebenso anmutigen wie tadellosen Verbeugung, sich als Verlobte empfehlend und in kindlicher Ehrerbietung den väterlichen Segen erbittend. Der Ziervogelvater stellte den Schnaberl auf den Schubladkasten und bekam so die Hände frei, seine Tochter zu umarmen, nachdem er sich vorher noch umständlich geschneuzt hatte. Der alte Bock dagegen legte (bildlich gesprochen) die Hörner ein und versuchte den (nach seiner Meinung übergeschnappten) Sohn mit der Frage vor den Kopf zu stoßen, was dieser ganze Blödsinn eigentlich zu bedeuten habe? Worauf Ludwig den etwas derben, aber nicht ganz unerwarteten Ausfall überzeugt lächelnd mit dem Hervorziehen zweier Schriftstücke aus der Brusttasche parierte: das eine bescheinigte die erfolgreich abgelegte Bankprüfung, während das andere als der Bescheid eines namhaften und weitbekannten Fabrikunternehmens sich entpuppte, welches den Hauptmann Ludwig Bock unter seine Mitarbeiter aufzunehmen sich bereit erklärte und ihm dafür eine recht stattliche Entlohnung in Aussicht stellte. Während der alte Bock noch sprachlos staunte, nahm der junge mit heiterer Bescheidenheit das Wort und sagte: »Du mußt dir aber, lieber Vater, in deinem berechtigten Stolz auf deinen Einzigen nicht etwa einbilden, daß ich dieses seltene Glück, so rasch einen aussichtsreichen Wirkungskreis gefunden zu haben, meinen besonderen Verdiensten verdanke (von denen mir leider nichts bekannt ist). Ich verdanke es lediglich der treuen Freundschaft des Vorstands und Leiters jenes Industrieunternehmens, eines ehemaligen Kameraden, mit dem ich sechs lange Jahre hindurch in Sibirien Freud und Leid geteilt habe, vorwiegend natürlich das letztere neben vielem Elend und Ungemach. Bin ich berechtigt, seine Freundschaft zurückzustoßen, wenn er nun auch seine Hoffnungen, seine aufbauende Arbeit und so Gott will, seine Erfolge mit mir zu teilen bereit ist? Ich habe eingeschlagen in die dargebotene Hand und gedenke meinen Mann zu stehen. Aber noch besser als einsam, wird mir dies an der Seite eines wackeren Weibes gelingen. Die Zeiten sind hart, manchmal sehen sie schier trostlos aus, so daß die Begründung einer Familie fast als ein kühnes Wagnis erscheinen könnte. Wir aber sind jung und wären es nicht, wären wir nicht voll des Glaubens und der Hoffnung. Mit Leichtsinn sollt ihr aber deshalb, liebe Väter, unser Vorhaben nicht verwechseln! Das Gehalt, das mir in Aussicht gestellt ist, sichert uns bis auf weiteres vor Not, es wird bei der Sparsamkeit, an die Anna gewöhnt ist, auch noch dazu reichen, euer Alter freundlicher zu gestalten, als es in den letzten Jahren gewesen ist. Und daß das Erträgnis meiner Arbeit sich auch in Zukunft nicht vermindere, sondern mit der voraussichtlich noch anwachsenden Teuerung Schritt halte, dafür laßt mich nur sorgen. So bitten wir euch denn, verehrte Väter, alle ängstlichen Bedenken, die ihr etwa gegen unsere Verbindung hegen solltet, entschlossen über Bord zu werfen und unsere getreue Absicht, den Stamm der Ziervögel und der Böcke in einer neuen Generation zur Einheit zu verschmelzen, nicht aus Zaghaftigkeit und Mangel an Zuversicht zu durchkreuzen.« Nach dieser männlichen Rede, die den Zuckerbäcker in süße Zähren auflöste, während sie den Drechsler wenigstens mundtot machte, begab man sich zu Tische. Bei den belegten Brötchen blieb der bockende Anselm noch einsilbig und in sich gekehrt, als der Duft des Bohnenkaffees ihm aber in die Nase stieg und Anna durch Zusatz von etwas Sahne ihm den seit Jahren entbehrten »Kapuziner« mischte, da hob er drohend den Finger und schmunzelte dazu: »Mir scheint, ihr wollt uns darüber hinwegtäuschen, ihr Verschwender, daß diese Erde zur Hölle geworden ist?« »Wäre sie's denn wirklich?« sagte Anna, seine Hand ergreifend und sie warm drückend. »Vielleicht ist sie nur ein Fegefeuer, in welchem wir uns, wenn wir uns tapfer bewähren, mit der Zeit noch einmal den Himmel verdienen können?« Sie sah so anmutig dabei aus, daß sogar der alte Griesgram ein halb bewunderndes, halb ungläubiges Lächeln nicht unterdrücken konnte und kopfschüttelnd sagte: »Weiß Gott, fast scheint mir, die Menschheit ist tatsächlich nicht unterzukriegen!« Von da ab taute er mehr und mehr auf, und als er erst ein Gläschen Wein getrunken hatte, wurde er sogar heiter, und beim zweiten brachte er auf einmal, sich selbst überraschend, das Wohl des Brautpaares aus. Er freue sich, sagte er hieran anknüpfend, daß die Feindschaft, die doch lange zwischen Ludwig und Anna bestanden habe, so unerwartet begraben worden, doch nehme es ihn wunder, wie es bei der Überbrückung solch unvereinbarer Gegensätze wohl zugegangen sein möge? Worauf Ludwig, fast ein wenig ernst geworden, erwiderte, vielleicht sei die alte Feindschaft bloß in Vergessenheit geraten, daß sie regelrecht begraben wäre, davon wisse er eigentlich nichts; vielmehr hätte er im Schnee Sibiriens sich mehr als einmal schmerzlich daran erinnert, daß ihm für den Schupps, mit dem ein kleines Mädel ihn einst in den Schnee geschmissen, niemals eine richtige Genugtuung zuteil geworden. »Ich bin in diesem Punkte glücklicher daran als du,« wendete Anna, nun ebenfalls plötzlich ernst geworden, sich an ihn; »denn für mich besteht die Möglichkeit, meine Schuld zu sühnen, indem ich Abbitte leiste, was ich hiermit denn auch feierlichst verrichte. Du selbst, lieber Ludwig, befindest dich in weit schlimmerer Lage, denn du könntest die begangene Rechtsverletzung nur gut machen, indem du mir mein Lieblingskugerl, das du damals gegen alle Spielregel raubtest, wieder zurückstellst. Dies bleibt natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn mit einem Ersatz ist mir nicht gedient, es müßte genau dasselbe marmorne Kügelchen sein, weil sich nur an dieses die Erinnerungen knüpfen, die mir teuer sind. Sonach würdest du ewig in meiner Schuld verharren, wäre ich nicht entschlossen, dein Unrecht nachzusehen und dir die Gewissenslast von der Seele zu nehmen. Erkenne, daß ich dir eine milde Herrin bin,« schloß sie großartig und huldreich: »ich schenke dir das einst geraubte und für immer verschollene Marmorkugerl!« »Tausend Dank!« rief Ludwig, ihre Hand küssend, griff in die Westentasche und legte eine kleine Kugel aus rotem Untersberger Marmor vor sie auf das Tischtuch. »In allen Fährlichkeiten des Krieges und der Gefangenschaft war dies teure Andenken aus Kindertagen mein Talisman. Daß ich es nun entsühnt als mein rechtmäßiges Eigentum betrachten und behalten darf, das stärkt in mir die Hoffnung, daß der Stern, der mich unversehrt durch eine Hölle von Gefahren geleitet hat, mir nun auch durchs Fegefeuer und in den Himmel hinein glückbringend voranleuchten werde.« Damit steckte er die kleine Kugel wieder ein. Den glückbringenden Stern hatte er aber in Ton und Blick so beziehungsreich unterstrichen, daß niemand im Zweifel bleiben konnte, wer eigentlich damit gemeint sei, am wenigsten natürlich Anna selbst. Darum ergriff sie nun dankbar seine Hand und tat mit ihr dasselbe, was er vorhin mit der ihrigen getan. Inmitten solch innig gemütlicher Stimmungen, die Ziervogel empfindungsvoll mitmachte, hatte der alte Bock, dessen Leber sich jetzt durch Durst hervortat, dem ungewohnten Wein emsig zugesprochen, und als Schnaberl auf einmal an sein Vorhandensein zu erinnern das Bedürfnis fühlte und in die Festfreude hinein seine kleine, behutsame, etwas schwermütige Rotkehlchenkantilene vernehmen ließ, fing er plötzlich ganz erbost Händel mit ihm an und befahl ihm still zu sein und nicht zu mucken, er hätte hier nichts mitzureden und könne froh sein, wieder gesichert in seinem Käfig zu sitzen. »Was meinst du, Ziervogel,« sagte er; »sind wir nicht berechtigt, ein lustiges Lied von ihm zu fordern? Ist er nicht freiwillig und mit wahrem Vergnügen in seinen Käfig zurückgekehrt?« »Genau so wie ich,« antwortete Ziervogel mit einer nur dem Freunde verständlichen Anspielung und fing, da er gleichfalls den Wein nicht geschont hatte, etwas unvermittelt zu lachen an. »Ich gesteh' es ganz offen, hi, hi, hi, ich bin nicht reif für die Freiheit!« »Nein, das ist richtig, du bist nicht reif für die Freiheit!« bestätigte Bock, dem es Spaß machte, dem jungen Paar Rätsel aufzugeben. »Aber wenn ich ganz aufrichtig sein soll, und um die Wahrheit zu gestehn« -- er legte die Hand an den Mund, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »~Ich auch nicht!~« Und ebenfalls in unbändiges Lachen ausbrechend, konjugierte er: »Ich bin nicht reif, und du bist nicht reif, und der Schnaberl ist nicht reif für die Freiheit! Ha, ha, ha ...!« »Nein, der Schnaberl, hi, hi, hi, der ist erst recht nicht reif für die Freiheit!« gröhlte Ziervogel. »Wir sind alle nicht reif für die Freiheit!« schrie Bock, vor Lachen fast platzend. Und angesäuselt, wie er war, hob er das Glas: »Im Grunde ist das Leben doch ein recht fideler Käfig! Es lebe hoch, hoch, hoch!« Der süße Joachim setzte seine Baßstimme ein, und die beiden Alten begannen zu singen: »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ...« Während die Wogen der Feststimmung so fröhlich schäumten und brandeten, war der guten Anna, durch den Schnaberl daran erinnert, plötzlich der Felix eingefallen, jener bedauernswerte kleine Junge, der oben im Dachgeschoß krank lag. Wie würde der sich freuen, wenn er erfuhr, daß das Rotkehlchen wieder da war und auch in Zukunft freiwillig dableiben würde. In einem unbewachten Augenblicke stahl sie sich fort und eilte, den Schnaberlkäfig im Arm, die Treppe hinauf, pochte an die Tür und trat, als sich nichts rührte, behutsam ein. Still und unbewegt lag der kranke Knabe in seinem schmalen Bett, auf den Fußspitzen näherte sie sich und stellte, wie sie es sonst getan, das Bauer leise auf die Bettdecke. Es fiel ihr auf, daß er keine Freude äußerte, überhaupt kein Lebenszeichen von sich gab -- schlummerte er schon? Mit pochendem Herzen beugte sie sich über ihn, ergriff seine Hand, ließ sie aber erschrocken wieder los, denn es war die kalte, starre Hand eines Toten. Da hob sie den Käfig mit dem Vogel vorsichtig wieder von der Bettdecke, stellte ihn auf den Fußboden und stand mit gefalteten Händen an der Seite des Bettes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erinnerte sich, wie verständnisvoll und innerlich miterlebend der arme Junge sie in ihrem Vorhaben bestärkt hatte, dem Schnaberl die Freiheit zu schenken. Wie aus jedem seiner Worte seine eigene unbegrenzte Sehnsucht sich offenbarte: Hinaus! Ins Freie! Ins Weite und Unbegrenzte! ... Und dazwischen hörte sie die Mutter des Knaben in ihrem vergrämten und verbitterten Tone sagen: »Felix heißt er, jawohl, Felix. Denn das bedeutet: der Glückliche ...« Die Sphinx Es war noch in der Zeit vor dem Weltkrieg, daß ich hier und da einmal, wenn mein Weg mich durch die städtischen Anlagen führte, einem hageren alten Herrn begegnete, der sich, auf seinen Stock gestützt, mühsam vorwärtsbewegte. Infolge seiner Jahre oder durch irgend eine Nervenkrankheit gelähmt, konnte er beim Gehen die Füße nicht mehr heben, und es sah bejammernswert aus, wie er sie Schritt vor Schritt mit scharrendem Geräusch über den Kies der Parkwege hinschleifte und sich abplagte, vom Fleck zu kommen. Irgend jemand nannte mir gelegentlich seinen Namen, ich hatte ihn aber bald wieder vergessen. Er war General des Ruhestandes, und es gab eine ziemliche Anzahl pensionierter Generale in der mittelgroßen Provinzstadt, in der ich mich damals vorübergehend aufhielt: die liebliche Umgebung, die ausgedehnten Gärten und öffentlichen Anlagen, die sie auszeichnen, und die im Vergleich zur Hauptstadt einfacheren und wohlfeileren Lebensbedingungen, die sie zu jener Zeit noch gewährte, machten sie zu einem gesuchten Wohnort für Ruhebedürftige mit beschränktem Einkommen. Sooft mein Weg sich mit dem des gebrechlichen alten Herrn kreuzte, befand er sich in Gesellschaft einer zwar nicht mehr ganz jungen, aber doch nicht eigentlich frauenhaft aussehenden Erscheinung, die ich für seine Tochter hielt; eine Vermutung, die sich später als zutreffend erwiesen hat. Es war ein schlankes, blasses Mädchen von guter, fast möchte ich sagen: vornehmer Haltung, das einst sehr hübsch, vielleicht sogar auffallend schön gewesen sein mochte, jedoch die Blüte überschritten hatte. Jeder Kenner der Frauenschönheit weiß, daß es eine verräterische Schärfe der Linie gibt, die manchmal ganz unvermittelt und viel zu früh die jugendliche Rundung und Weichheit ablöst und gerade tadellosen Zügen verhängnisvoll werden kann, indem sie an Verfall und Zerstörung edler Bauwerke denken läßt. Kleine, im einzelnen kaum nachweisbare, in ihrer Gesamtheit aber doch entscheidende Veränderungen werden dann leicht zur Ursache jenes fatalen Abstandes, wie er zwischen den späteren, härter wirkenden Abzügen eines Porträtstiches und seinen frühen, noch unverstählten Remarquedrucken besteht. Hier fanden sie sich mit einem Anflug zarter Fältchen und bleichender Härchen an den Schläfen in dem melancholischen Ziele vereint, etwas wie Spätsommerstimmung über dies reine Antlitz zu hauchen, aus dem dennoch der gleichsam frühlinghafte Reiz der Jungfräulichkeit noch nicht geschwunden war, ohne daß sich eigentlich sagen ließ, weshalb es nicht ebensogut das Antlitz einer verheirateten Frau hätte sein können. Im übrigen hätte ich, vielbeschäftigt, wie ich war, das an sich nicht eben auffallende Paar wohl kaum besonders beachtet, hätte nicht, je öfter ich ihm begegnete, das Verhalten von Vater und Tochter gegeneinander mehr und mehr meine Aufmerksamkeit erregt. Denn niemals sah ich die beiden ein Wort miteinander wechseln; wie Fremde, um nicht zu sagen wie Feinde, die an die gleiche Galeere geschmiedet sind, schienen sie ihre gegenseitige Nähe eher zu erdulden als sich ihrer zu erfreuen, jedenfalls zogen sie keinen Vorteil daraus, keine Anregung, keine Erleichterung. Es mußte befremden, daß das stille, verblühte, aber noch immer schöne Mädchen sich keineswegs, wie man hätte erwarten sollen, an der Seite ihres Vaters hielt, sondern dem mühselig an seinem Stock hinschlürfenden Greise, der sich nur langsam weiterbewegte, in der Regel ein paar Schritte voraus war. Geradeso, als gehörte sie gar nicht zu ihm, ging sie oder schlich vielmehr, zögernd Schritt vor Schritt setzend, wie eine Nachtwandlerin vor ihm her, zumeist mit zu Boden gesenktem Blick, gleichsam wie beschämt oder benommen von Trübsal. Nur ab und zu einmal blieb sie stehen, sich nach ihm zurückzuwenden. Mit unbewegtem Gesicht, auf dem etwas wie ein Ausdruck von erstarrter Trauer stand, sah sie ihm zu, wie er mit seinen kurzen, zittrigen Schrittchen sich vorwärtsschob. Äußerlich zwar beherrscht, insgeheim aber, wie ich mir einbildete, mit zehrender Reizbarkeit schien sie ungeduldig darauf zu warten, daß er endlich vom Fleck käme. Und wenn er sie mit der Zeit dann wirklich eingeholt hatte, machte sie in jäher Bewegung kehrt und wendete sich wieder zum Gehen. Ohne ein Wort zu reden, setzte sie ihren Weg fort, sie schien sich um den gelähmten alten Herrn jetzt ebensowenig mehr zu kümmern wie vorhin, abermals sah es aus, als gehe er sie überhaupt nichts an, als gehörten sie gar nicht zueinander. So wiederholte sich immer auf dieselbe Weise der gleiche Vorgang des Erwartens und Sichentfernens, stumm, in völliger Schweigsamkeit, ohne daß die beiden einen Laut miteinander gesprochen, ein Lächeln oder auch nur einen freundlichen Blick miteinander getauscht hätten. Dieses ungewöhnliche Benehmen eines weiblichen Wesens, das einen Kranken begleitete, machte im Anfang, ich kann es nicht leugnen, auf mich den Eindruck der Härte und Lieblosigkeit. Nach meinem Gefühl hätte eine gute Tochter den gebrechlichen und hilflosen Vater führen und stützen, oder wenigstens an seiner Seite bleiben müssen, seiner Wünsche gewärtig, zu jeder Handreichung bereit. Es wäre ihre Pflicht gewesen, meinte ich, ihn zu betreuen, durch Zuspruch zu stärken, mit ihm zu plaudern, ihn über seinen Zustand hinwegzutäuschen. Oh, wir wissen ja immer so genau, was andere hätten tun sollen, und nehmen uns heraus, wo uns die Kenntnis der näheren Umstände mangelt, ein fertiges Urteil nach der Schablone aus allgemeinen Annahmen zurechtzubosseln. Bei mir wenigstens stand die einmal gewonnene Ansicht damals so fest, daß ich die alte Mahnung, wonach es ratsam sei, jedes Ding von zwei Seiten zu betrachten, gänzlich außer acht ließ und eine Regung überwallender Teilnahme mit dem alten General in mir aufstieg, sooft ich ihn sah, ja ein mit Entrüstung gemischtes Mitleid, weil ihn das Schicksal mit einer liebeleeren und herzenskalten Tochter gestraft hätte. Erst ein Gespräch, das unter Bekannten geführt wurde, machte mich stutzig. Es war von der Selbstsucht des Alters die Rede, und ein angesehener Arzt, den man als warmherzigen Menschenfreund kannte, erinnerte daran, wie es gelegentlich vorkomme, daß Eltern von der Jugend die widerspruchslose Hingabe des persönlichen Daseins, die völlige Aufopferung des eignen Lebensglückes als selbstverständliche Kindespflicht forderten. Ohne einen Namen zu nennen, spielte er so deutlich auf bestimmte Verhältnisse an, daß ich das Paar wiederzuerkennen glaubte, das mir aus den städtischen Anlagen bekannt war, und zum Widerspruch gereizt die Seite der Gegenpartei ergriff, indem ich die Ansprüche geltend machte, die ein alter, kränklicher Vater an die in seinem Haushalt lebende rüstige Tochter zu stellen meines Erachtens immerhin das Recht hätte. Worauf jener erwiderte, als sein Eigentum, seine Sache dürfe niemand, wer es auch sei, und unter keinen Umständen einen Nebenmenschen betrachten. In dem Fall, den er im Auge habe, stünde es aber womöglich noch schlimmer. Denn der hämische Greis, von dem er rede, habe seiner Tochter, um sie für sich allein zu behalten, nicht nur jede Verbindung hintertrieben und durch Ränke unmöglich gemacht, sondern mißbrauche die Abhängigkeit von ihm, in der er sie heimtückisch zu erhalten gewußt, noch außerdem dazu, die wohlfeile Krankenpflegerin, die er sich in ihr herangebildet, in einer Weise auszunützen und mit boshaften Launen zu quälen, daß keine bezahlte Krankenschwester unter ähnlichen Plackereien auch nur einen Tag bei ihm ausharren würde. Es war noch immer kein Name genannt, und das Gespräch wurde, nachdem ich so viel erfahren hatte, unterbrochen oder nahm eine andere Wendung. Da mir aber kein Zweifel blieb, von wem eigentlich die Rede gewesen, so sah ich mich natürlich genötigt, mein vorschnelles Urteil über das unglückliche schöne Mädchen zu überprüfen. Ich sagte mir, daß ihre vom Üblichen abweichende Art durch Umstände geboten sein könne, der alte Herr mochte die Marotte haben, seinen Spaziergang wenigstens zum Schein ohne Begleitung machen zu wollen, oder der Arzt hatte ihm während der Bewegung im Freien das Sprechen untersagt. Ich mußte mir auch eingestehen, daß es eine fast übermenschliche Forderung sei, von einem gesunden, hoffnungsvollen, lebensdurstigen, aber an der Seite eines zittrigen und noch dazu übellaunigen Greises mehr und mehr hinwelkenden Geschöpf ein stetes Gleichgewicht des Gemüts bei jahrelang andauernden Krankendiensten zu verlangen, und ich konnte nicht umhin, unter solchen Umständen ein allmähliches Versinken in Trostlosigkeit, ja ein gelegentliches Hervorbrechen vergeblich unterdrückter Regungen von Ungeduld bis zu einem gewissen Grade begreiflich zu finden. Und als ich bei einer nächsten Begegnung von meinem neu gewonnenen Standpunkt aus schärfere Beobachtungen anstellte, geriet meine ursprüngliche Anschauung doch einigermaßen ins Wanken. Das eigentümlich phosphoreszierende Auge, der bösartige, fast möchte ich sagen: gifthauchende Blick des alten Herrn fielen mir erst jetzt unliebsam auf, es war ihm sicher alle Hinterhältigkeit, alle ohnmächtige Geifersucht der Schwäche und Hinfälligkeit zuzutrauen. Kurz, ich fühlte mich mehr und mehr geneigt, meine mitleidige Teilnahme eher dem anderen Teile zuzuwenden, über den ich bis dahin abgesprochen hatte, und befand mich auf dem besten Wege, meine vorgefaßte Meinung richtigzustellen, als Umstände eintraten, infolge deren das in jedem Falle beklagenswerte Paar nicht nur meinem Auge, sondern auch meinen Gedanken so vollständig entschwand, als hätte es niemals existiert. Der Ausbruch des unseligen Völkerkampfes entfernte mich jäh aus jener stillen Stadt, die gegenwärtigen Forderungen, die Tag und Stunde an jeden einzelnen stellte, verdrängten mit gebieterischer Gewalt die Bilder der friedlichen Vergangenheit. Wenn die Verantwortungen sich häufen, so füllt sich das Bewußtsein mit einem neuen und so dicht gedrängten Inhalt, daß für nichts anderes mehr Raum bleibt. Und je atemloser die mannigfaltigsten Ereignisse einander jagen, um so ungestümer reißen sie auch die Zeit mit sich fort, daß sie einem wie im Fluge entgleitet. So läßt ein unendlich vermehrtes Erleben die Jahre merkwürdigerweise nicht länger, sondern kürzer erscheinen, und ich mußte die verflossenen immer wieder nachzählen, um daran zu glauben, daß ich um so viel älter geworden war, als in dem frühen Frühling, der dem entsetzlichen Niederbruch des Vaterlands folgte, ein bedeutungsloser Umstand, dem ich dennoch Folge zu geben nicht umhin konnte, mich für wenige Wochen in dieselbe Stadt der stillen Gärten und ruhebedürftigen Menschen zurückführte, die ich zu Beginn des Krieges mit völkischer Entschlossenheit und voll hoffnungsvoller Begeisterung verlassen hatte. Einen ganz merkwürdigen Eindruck machte es nun auf mich, als ich, zufällig wieder die jetzt von Flieder- und Jasmingerüchen erfüllten Parkanlagen durchquerend, dasselbe Paar, dem ich damals wiederholt begegnet, das mir aber, wie erwähnt, inzwischen völlig aus dem Gedächtnis entschwunden war, neuerdings vor mir auftauchen sah. Die Zeit schien spurlos an ihm vorübergegangen zu sein; es war, als seien die langen Jahre der Greuel aus der Weltgeschichte ausgestrichen, als hielten wir noch auf demselben Punkte, wo wir vor dem Spätsommer 1914 uns befunden hatten. Ebenso wie damals schleppte der alte General sich mühselig über die knirschenden Kieswege hin, ebenso wie damals ging die Tochter vor ihm her, blieb stehen und wendete sich nach ihm zurück, ihn zu erwarten. Und geradeso wie einst wechselten sie dabei kein Wort miteinander, zogen sie wie unter dem Zwang einer lästigen Pflicht ihre Bahn dahin, stumm und verdrossen wie blinde Pferde am Göpel. Nur viel gebrechlicher noch war, wie ich bei näherem Zusehen bemerken konnte, der bedauernswerte alte Herr inzwischen geworden. Es genügte ihm jetzt nicht mehr der Stock, auf den er sich sonst gestützt hatte, zwei Krücken, in denen er mit den Achseln hing, dienten ihm zum Halt. Er setzte sie mit den Kautschukzwingen vor sich in den Sand, neigte den Oberkörper vor und schwang die gänzlich leblos gewordenen Beine, die zurückgeblieben waren, wie ein Pendel hinter sich drein. Von Zeit zu Zeit machte er halt, um von dieser offenbar recht anstrengenden Turnübung auszurasten. Dann stand auch die Tochter still und beschäftigte sich damit, in einigem Abstand von ihm den Zweig eines Strauches herabzubeugen, um den Duft der Blüten einzuatmen, oder neigte sich nieder, ein Blümchen zu pflücken, einen Grashalm abzubrechen, aus dem sie dann zum Zeitvertreib einen Knoten zu flechten, eine Schleife zu schürzen sich bemühte. Etwas wie Empörung gegen das Schicksal, gegen die Weltordnung fing bei diesem Anblick sich in mir zu regen an. Hunderte von lebensfrischen und gesunden jungen Leuten hatte ich eines allzufrühen Todes sterben sehen, die Zahl der anderen, von deren entsetzlichem Ende ich nicht selbst Zeuge gewesen, meldete die Statistik, und sie ging in die Millionen. Hier aber schleppte ein lebender Leichnam, gemieden vom Tode, vergessen von der Parze, die so vielen Brauchbaren und Tüchtigen den Lebensfaden abgerissen hatte, hartnäckig sein wertloses Dasein weiter, sich selbst und anderen zur Qual. Es war mir in diesem Augenblicke, als stünde dieser unnütze alte Mann im Bunde mit den unheilvollen Mächten der Finsternis, die am Volkskörper zehrten, als hätte er sich mit ihnen verbündet, das Feld nicht zu räumen und sich unter keinen Umständen abberufen zu lassen, nur um die allgemeine Not noch zu steigern und die Schwierigkeiten der Ernährung durch einen überflüssigen Brotesser mehr noch schwieriger zu gestalten. Und als mich im Vorübergehen einer jener stechenden und giftigen Blicke aus dem Auge des Generals berührte, vor denen es mir schon damals gegraut hatte, da fühlte ich mich unwillkürlich geneigt, es als eine Art Bosheit von ihm auszulegen, daß er noch immer unter den Lebenden weilte und durchaus nicht sterben wollte. Aber auch an seiner Begleiterin war, das konnte ich rasch bemerken, die Zwischenzeit nicht ganz so spurlos vorübergegangen, wie es beim ersten Anblick scheinen mochte; jedoch im entgegengesetzten Sinne, darüber gab es keinen Zweifel, sobald man sie nur schärfer ins Auge faßte. Denn sie hatte keineswegs gealtert, wie sich hätte voraussetzen lassen, im Gegenteil, etwas wie ein neu erwachter Geist, einem Lichtstrahl vergleichbar aus dem Auge hervorbrechend, faßte die einstige Schönheit, von der ich früher nur Überreste hatte feststellen können, zu einer unerwarteten Spätblüte zusammen und ließ ihre Züge lieblicher, rosiger, bräutlicher erscheinen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Und nicht bloß jugendlicher als damals kam sie mir jetzt vor, auch selbstbewußter, zuversichtlicher, freier: nichts mehr von jener Trostlosigkeit, als deren Verkörperung sie mir sonst gegolten. Weit eher schien mir der Eindruck, den ich von ihr empfing, auf feste Ziele zu deuten, auf Entschlossenheit und beherrschten Gemütszustand. Und war dieser Eindruck auch flüchtig, und kehrte der Blick, den ich im Vorbeigehen auffing, rasch sich besinnend und in Demut sogleich wieder hinter gesenkte Lider zurück und in das Joch einer freiwillig erduldeten Dienstbarkeit -- es war doch einer jener großen, suchenden, von kühnen Antrieben durchzitterten Blicke gewesen, den nur eine Seele aussendet, die um die Freiheit weiß, ein Blick, der blitzartig die überraschende Wandlung enthüllte, die sich vollzogen haben mußte, wenn ich mich nicht gänzlich täuschte. Indessen war ich nicht abgeneigt, da meine Beobachtung sich naturgemäß auf den Bruchteil einer Minute beschränkte, eine solche Täuschung zunächst für das wahrscheinlichere zu halten, es hätte mir ja andernfalls auch jede Erklärung gefehlt. Dem Zufall blieb es vorbehalten, mich darüber zu belehren, daß unsere gefühlsmäßig aufleuchtenden Erkenntnisse durch das Fehlen einer ausreichenden Begründung nicht gegenstandslos werden können. Seinem Eingreifen hatte ich es zu danken, daß mir in der Folge ein Einblick zuteil wurde, wie die großen Zeitgedanken sich im Schicksal des einzelnen widerspiegeln, er war es, der mir einen Faden an die Hand gab, an dem ich mich weitertasten konnte. Eine Gelegenheit, die ich um so lebhafter ergriff, je mehr das junge alte Mädchen anfing, mir zum Problem zu werden. Eine öffentliche Anzeige, die ich an Mauerecken und Litfaßsäulen angeschlagen fand, machte mich auf eine Versammlung aufmerksam, in der eine entschlossene Wählergruppe offenbar Anhänger für ihre grundstürzenden Forderungen zu werben gedachte. Anscheinend handelte es sich dabei nicht so eigentlich um die Verbreitung politischer Schlagworte, wie deren jede Partei auf ihre Fahne geschrieben hat, sondern mehr um eine Vorarbeit hierzu, indem durch eine grundsätzliche Kritik der hergebrachten Sitten- und Pflichtenlehre die Gesinnungen beeinflußt, die Gemüter umgepflügt werden sollten, um für die Aufnahme der gefährlichen Saat bereitet zu sein. Von vornherein begierig, einen deutlicheren Begriff von den geheimen Unterströmungen und seltsamen Gärungen, die den Umsturz begleiteten, aus eigner Anschauung zu gewinnen, sah ich mich zum Besuch jener Versammlung noch ganz besonders durch frühe geistige Beziehungen zu einem alten Schulfreund aufgefordert, dessen Namen die erwähnten Maueranschläge in großen roten Buchstaben als Vortragenden nannten. Obgleich seit vielen Jahren außer jedem Zusammenhang mit ihm, erinnerte ich mich doch gerne der vielfachen Anregungen, die ich einst von ihm empfangen, des glühenden und leidenschaftlichen Gedankenaustausches, durch den wir uns gegenseitig gefördert hatten, in jenen längst verflossenen Tagen, wo wir als halbreife Jünglinge die Welt umzubauen uns stark genug dünkten und nach langen gefühlsreichen Wegen durch Wald und Flur oft mehr voneinander gelernt zu haben meinten als von dem besten unserer Lehrer. Zum Unterschied von allen übrigen Kollegen hatte Karl Schuda nach der Reifeprüfung keine Hochschule bezogen. Er war in die Welt hinausgewandert; es hieß, daß er sich auf einem Kohlenschiff der unteren Donau sein Brot verdiene. Später sollte er in Bukarest ein Handelsgeschäft eröffnet, noch später in Bulgarien Grundbesitz erworben haben. Blieb er dem Kontinent gleich treu, so schien er doch auf dem Balkan sein Amerika zu suchen. Gefunden hatte er's wohl kaum, oder höchstens insofern, als es auch in Ländern der unbegrenzten Möglichkeiten Schiffbrüchige gibt. Indessen wäre es Übelwollen gewesen, ihm nachzusagen, er habe seinen Beruf verfehlt, als er unversehens wieder in der Heimat, und zwar als Zeitungsschreiber auftauchte; denn er schrieb ein gutes Deutsch und führte eine vortreffliche Klinge. Als Aufwühler und Umsturzmann stellte er sich in den Dienst der Plötzlichkeit, verschmähte es aber, den Ton aus der Gosse zu holen, und blieb ungewöhnlich. Bei allem, was ich im Lauf der Jahre zwar selten, aber doch gelegentlich von ihm gelesen, hatte ich den Eindruck einer starken, ehrlichen, überzeugten Persönlichkeit gewonnen, der ich Achtung nicht versagen konnte, auch wo es mir widerstritt, die Gesinnung zu teilen. Und was mich an den Veröffentlichungen, die mir von ihm zu Gesicht gekommen, vorwiegend fesselte und wie aus alten Tagen unserer Freundschaft erwärmend ansprach, das war der heilige Eifer, mit dem er die Gefolgschaft, die er der hochroten Fahne leistete, an den tiefsten Forderungen der Ethik zu überprüfen nicht müde wurde. Die innere Erregtheit einer schwärmerischen Menschenliebe diente seiner Parteileidenschaft zur Rechtfertigung, und wenn er irrte, so war nicht Neid und wirtschaftliche Gehässigkeit die Quelle dieses Irrtums, sondern ein lebendiges Mitempfinden jeder sozialen Hilfsbedürftigkeit. Diese bejahende Note seines Wesens, die ihn von sonstigen Wüstenpredigern ähnlichen Schlages vorteilhaft unterschied, kam auch in dem angekündigten Vortrag, zu dem ich mich einzufinden nicht versäumt hatte, zu entscheidendem Durchbruch. Freudigkeit galt ihm als oberstes Ziel, und der Weg dahin konnte nur über die Freiheit führen. Darum verwarf er jeden Zwang, jede Bevormundung, sogar jede Obrigkeit, mit Ausnahme der vom Volk selbst eingesetzten, wobei es dahingestellt bleiben mochte, wer das Volk eigentlich sei. Darum verwarf er überhaupt alles »Sollen«, das sich nach einem Worte Kants aus dem »Sein« nicht »herausklauben« lasse, und anerkannte keine Macht des Gewissens neben dem freien Willen. Und darum wendete er sich wie gegen die »Herrenmoral«, so auch gleicherweise mit aller Schärfe gegen die Verweichlichung der Lebensinstinkte, wie sie durch das »Narkotikum der Evangelien« -- dies war der Ausdruck, den er gebrauchte -- hervorgerufen werde. Denn würdig der Erlösung von äußerem Zwang sei nur der, der sich selbst erlöst hätte von den inneren Fesseln, als welche er die vererbten Vorurteile bezeichnete, durch die wir uns Gewalt antäten, zu wollen, was wir im Grunde nicht wollen, und zu tun, was wir lieber unterlassen würden. Dies beuge, verkümmere, knicke die wahre Natur und das innerste Wesen der Menschen und sei die eigentliche Sünde wider den Geist, für die es keine Lossprechung gebe. Wie der Flachs von Grannen und Werg, so müsse das zur Freiheit erwachende Gemüt gereinigt werden von allen schwächlichen Gewohnheiten einer stillen Ergebung, einer demütigenden Anpassung und Selbstüberwindung, einer schmählichen Zwiespältigkeit zwischen wahrem Willen und aufgezwungener Pflicht. Starke, ganze, uneingeengte Seelen brauche die Menschheit, wahrhafte, aufrichtige, jeder Selbstentäußerung fremde Seelen, deren oberstes Sittengesetz darin bestehe, sich selbst zu erfüllen. So fordere es das lebendige Leben und der Aufstieg zu einer reineren und schöneren Zukunft. Er sprach frei, fließend und innerlich bewegt, sein Wort wußte zu zünden. Unzähligemal sah er sich durch brausenden Beifall unterbrochen, der Saal war dicht besetzt, und auch das gewähltere Publikum, das die vorderen Sitzreihen einnahm, kargte nicht mit den Äußerungen einer Anerkennung, die freilich mehr der rednerischen Leistung als dem Inhalt gelten mochte. Um dem andringenden Schwarm derer, die zuhören wollten, im Saale Raum zu schaffen, hatte man auch in den tiefen Nischen der Fenster, die mit Holzläden verschlossen waren, Bänke aufgestellt, und als mein Auge mitten im Vortrag zufällig eine dieser Bänke streifte, die die Sitzreihen flankierten, blieb es starr wie an einer Erscheinung dort hängen. Zu meiner größten Überraschung hatte ich die schöne Generalstochter, meine unbekannte Bekannte aus den städtischen Anlagen, erblickt, wie sie mit glühenden Wangen den Ausführungen des Redners lauschte. Weit vorgebeugt, gleichsam mit angehaltenem Atem saß sie da, kein Auge von der Vortragsbühne wendend, als fürchte sie, es könnte ihr eins dieser offenbarenden Worte, eine dieser ebenso ungezwungenen wie ausdrucksvollen Gebärden entgehen, die sie begleiteten. Kein Prophet konnte sich einen gläubigeren Anhänger, kein Apostel einen teilnehmenderen und verständnisvolleren Jünger wünschen. Ich sah, wie sie diese oder jene Äußerung, die sie besonders überzeugte, mit begeistertem Kopfnicken begleitete, wie ihr Antlitz dabei aufleuchtete, ihre Pulse stockten oder rascher flogen, und ich konnte beobachten, wie sie keine Gelegenheit versäumte, durch leidenschaftliches Händeklatschen in den allgemeinen Beifall mit einzustimmen, der der verführerischen Sophistik meines ehemaligen Schulfreundes gezollt wurde. Ich wüßte selbst nicht zu sagen, warum auch ich bei diesem Anblick auf einmal einer entschiedenen Neigung in mir gewahr wurde, manchem, was Karl Schuda vorbrachte, doch eine gewisse Berechtigung zuzugestehen. Vielleicht war die tiefere Ursache davon in einem halb unbewußt sich regenden Gefühl mitleidiger Teilnahme zu suchen, der Teilnahme für dieses bedauernswerte weibliche Wesen, dessen ungeheure innere Erregung verständlich wurde, wenn ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, was alles es unwiederbringlich dem dürren Begriff einer herkömmlichen Pflichterfüllung aufgeopfert hatte. So stark die Bindungen der Religion, der Kindesliebe, der weiblichen Hilfsbereitschaft immer sein mochten -- wäre es verwunderlich gewesen, wenn diesem Mädchen die entschwindende Jugend als zwecklos und unsinnig vergeudet erschienen und zu spät, ach viel zu spät die Erkenntnis aufgedämmert wäre, daß auch sie ein unverlierbares Recht darauf gehabt hätte, ihr eigenes Leben zu leben? Hätte nicht jeder es begreiflich finden müssen, wenn sie noch jetzt in aufwallendem Unmut die drückenden Fesseln abgeworfen und sich rücksichtslos zum neuen Evangelium der freien Persönlichkeit bekannt hätte, die an kein Gesetz als an das der eigenen Bestimmung gebunden ist? So wie es eine Linie gibt, über die hinaus auch der muskelkräftigste Nacken der ihm aufgebürdeten Last nicht mehr gewachsen ist, so gibt es auch für die moralische Leistungsfähigkeit eine Grenze, wo das Menschenmögliche endet -- tausendfach und eindringlicher als je hat es sich im Weltkrieg erwiesen. Alle Schranken und Mauern, mit denen die Notwendigkeiten menschlicher Gemeinschaft den Einzelwillen im Wege der Vererbung und Erziehung einengen, stürzen dann zusammen, um dem nackten Bedürfnis die Bahn freizugeben. So erinnere ich mich, in einer mittelalterlichen Chronik gelesen zu haben, wie die Bürger einer üppigen und fröhlichen Stadt, bekehrt durch einen flammenzüngigen Bußprediger, so lange in der Ausübung aller christlichen Tugenden, als da sind: Armut, Keuschheit, Demut und Selbstentäußerung, Enthaltsamkeit, Freigebigkeit, Nächstenliebe und Eifer im guten miteinander gewetteifert -- so lange in all solch frommem Abbruchtun und Verzichten sich gegenseitig gesteigert und überboten hätten, bis diese ganze Stadt schließlich vor die Hunde gekommen und eines Tages durch das plötzliche Hervorbrechen des künstlich zurückgestauten Kraftüberschusses in jähem Rückschlag zu einem wahren Sodom und Gomorra geworden sei, das sich in bis dahin unerhörten Ausschweifungen und Orgien austobte. Die Natur läßt sich eben auf die Dauer keine Gewalt antun, und die entsagende Heiligkeit, so lange sie auf Erden wandelt, läuft immer wieder aufs neue Gefahr, von den dammbrechenden Wogen der Weltlust verschlungen zu werden. Daß auch meine sonderbare Heilige aus den städtischen Parkanlagen der Weltlichkeit nicht unzugänglich geblieben war, darüber blieb mir bald kein Zweifel mehr. Denn als ich nach Schluß des Vortrags mich in das ans Podium stoßende Künstlerzimmerchen begab, um Karl Schuda zu begrüßen und ihm nach so langer Zeit die Hand zu drücken, fand ich zu meiner nicht geringen Überraschung dort meine schöne Unbekannte vor, wie sie ihm für das, was er ihr gegeben, ihren Dank auf eine recht eigene Weise aussprach, nämlich wortlos, indem sie die Arme um seinen Nacken geschlungen hatte und ihn küßte. Es war mir peinlich, sie durch mein Eindringen aus dieser zärtlichen Stellung aufgeschreckt, bestürzt und verlegen zur Seite treten zu sehen, Karl Schuda indessen überbrückte gelassen und unbefangen den fatalen Augenblick, indem er nach einigen schlichten Worten freudiger Genugtuung über meine Teilnahme an seinem Vortrag uns miteinander bekannt machte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß die Beziehungen der beiden nicht erst von heute stammten, denn während er mich als Jugendgenossen und alten Schulkameraden einführte, stellte er sie als seine werte Freundin und treue Mitarbeiterin vor, der er mehr zu danken habe, als sich in der Geschwindigkeit sagen lasse. Daß er dabei nach ihrer Hand faßte und sie mit Wärme schüttelte, trug dazu bei, sie rasch ihre Haltung wiederfinden zu lassen. Verständig beteiligte sie sich an einem leichten Gespräch, das bald in Gang kam, aber nur Äußerlichkeiten berührte und sich an der Oberfläche der Dinge hielt. Zum erstenmal hörte ich ihre Stimme, die eine angenehme Altfärbung hatte; alles, was sie äußerte, nahm mich mehr und mehr für sie ein, steigerte mein Interesse nicht nur für ihre Person, sondern auch für die Art ihrer Beziehungen zu meinem Freunde. Die Freiheit, mit der sie sprach, das Du, das sie einander gaben, mehr noch die unausgesprochenen Einverständnisse, die zwischen den Worten hervorschimmerten, ließen mich erkennen, daß sie auf vertrautem Fuße miteinander standen. Ja, es setzte sich, ohne daß ich eigentlich zu sagen wüßte warum -- denn das Unwägbare, das nur mit übersinnlichen Fühlern ertastet wird, läßt sich nicht in Begriffe fassen -- allmählich die Überzeugung in mir fest, daß sie seine Geliebte sei. Dieser Eindruck verstärkte sich noch beim nächsten Wiedersehen mit meinem Freunde, das tags darauf stattfand. Einige tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, gleich trennenden Abgründen ganz zufällig und unwillkürlich zwischen dem flüchtigen Geplauder im Künstlerzimmer aufklaffend, hatten in uns allen den Wunsch rege gemacht, uns eingehender miteinander auszusprechen. Es war für den nächsten Abend ein gemeinsamer Weg ins Freie verabredet worden, und ich fand mich nach des Tages Arbeit in Karl Schudas Wohnung, die er studentisch seine »Bude« nannte, pünktlich ein, um ihn abzuholen. Sein Arbeitszimmer trug in der Tat das Gepräge einer studentischen Behausung und ließ nicht nur jeden Geschmack, sondern auch jede Spur von Ordnung vermissen, so daß ich mich im stillen fragte, wie es möglich sei, sich unter diesen Bergen aufgestapelter Bücher, in diesem Wust umherliegender Schriften und Papiere zurechtzufinden. Den einzigen Schmuck bildeten ein paar frühe Rosen, die in einem Trinkglas auf dem Schreibtisch standen. Wer konnte sie ihm gebracht haben, diese duftenden Zeugen einer liebevollen Aufmerksamkeit, die ihn mit ihren Gedanken umschwebte? Denn daß er sich selbst aus eigenem Antrieb sollte Rosen eingeschafft haben, um sie auf seinen Schreibtisch zu stellen, das sah ihm gerade nicht ähnlich. Es ergab sich von selbst, daß wir unsere Anknüpfungen in der Vergangenheit suchten, und wir unterhielten uns eben von gemeinsam verlebten Jugendtagen, als er die Uhr zog und einen Blick darauf warf. Mit einem Anflug von Ungeduld sagte er: »Die Baronin pflegt sonst nicht auf sich warten zu lassen,« und steckte die Uhr wieder zu sich. Mir aber hatte es einen gewaltigen Ruck gegeben. Ich beachtete kaum, daß er entgegen der Zeitströmung und der eigenen Parteidoktrin die erfolgte Aberkennung des Adeltitels bei seiner Freundin absichtlich übersah, und wunderte mich auch nicht darüber in diesem Augenblick; etwas ganz anderes war es, was meine Aufmerksamkeit gefesselt hielt und meine Gedanken beschäftigte, ein Ding, dessen Anblick mir, so nichtssagend es an sich war, doch etwas wie ein leises Grauen einflößte und beinahe physischen Schmerz verursachte. Denn es sind oft die unscheinbarsten Gegenstände, die uns verborgene Zusammenhänge enthüllen, und nichts kann uns empfindlicher enttäuschen und tiefer erschüttern, als wenn wir da, wo wir rechtfertigen möchten, uns gezwungen sehen, anzuklagen. Es kommt manchmal vor, daß uns an Menschen, die wir flüchtig sehen, irgend eine nebensächliche Einzelheit der äußeren Erscheinung besonders auffällt, wie uns denn an einer Frau vielleicht die Brosche, die sie trägt, die Farbe der Hutschleife oder -feder Eindruck macht oder bei einem Manne die Perle der Busennadel, der elfenbeinerne Griff seines Spazierstocks im Gedächtnis haften bleibt. So kannte ich an dem alten General von meinem zufälligen Begegnen her die goldene Panzeruhrkette, die quer über seine Weste lief, und die Berlocke, die mittels eines Springringes daran befestigt war. Es war ein Petschaft aus schwarzem, goldmontiertem Basalt, die Gestalt einer niedlichen ägyptischen Sphinx, aus deren smaragdenen Augen, so winzig sie sein mochten, bei mancher Bewegung ein unheimlich grünlicher Schimmer hervorsprühte. Deutlich erinnerte ich mich, diese seltsame Berlocke wiederholt bei dem gebrechlichen alten Herrn gesehen zu haben; sein böser Blick, den ich in Gedanken gifthauchend genannt hatte, mochte in meinem Unterbewußtsein mit den ab und zu aufblitzenden grünen Augensternen der kleinen Sphinx irgendwie zusammengeflossen sein. Kurz, das aparte, fein gearbeitete Juwel war nicht zu verwechseln, und ich erkannte es sofort wieder, als ich es nun für einen Augenblick an Karl Schudas Uhrkette baumeln sah, einer sogenannten Sportkette, die er samt der Uhr aus der Tasche gezogen und ein paar Sekunden lang in der Hand gehalten hatte. Ein Gefühl wie bei der unbeabsichtigten Berührung einer Kröte bemächtigte sich meiner, als mir mit Blitzesschnelle klar wurde, daß es nur Umstände der bedenklichsten Art sein konnten, die diesen Gegenstand von höchstpersönlichem Wert in Karl Schudas Hände gespielt hatten. Welche Möglichkeiten! Eine Tochter, die es nicht erwarten konnte, den hinfälligen Vater zu beerben! Die seine Hilflosigkeit dazu mißbrauchte, ein durch Gewohnheit Liebgewordenes ihm irgendwie abzudringen, um es hinter seinem Rücken insgeheim dem Geliebten zu verehren. Und schlimmer noch vielleicht, weit schlimmer! Auf was für Abwege konnte dieses Mädchen sich verirrt haben, weil ihre knappen Mittel für ein auf einwandfreie Weise erworbenes Andenken nicht reichten! Oh, welcher Handlungsweise war ein Weib, das mit letzter Verzweiflung liebte, nicht etwa fähig! Ein schwaches Weib, zerrüttet durch die Überspannung ihrer moralischen Kräfte, betört von der Schalmei einer neuen persönlichen Freiheit, die alles Überkommene entwurzelte, alle Hemmungen zum alten Eisen warf und ein halbverlorenes Leben zurückzuschenken verhieß -- was war einer solchen Frau, die jeden inneren Halt und jeden Maßstab für das Erlaubte verloren haben mochte, nicht alles zuzutrauen! Ich wehrte mich gegen die andringenden Gedanken, ich strengte mich an sie abzuweisen, ich entsetzte mich davor, sie zu Ende zu denken. Um meine Bestürzung zu verbergen und nur überhaupt etwas zu sagen, verfiel ich darauf, mich nach dem Befinden des alten Generals zu erkundigen. Worauf Karl Schuda erwiderte, er sei nun auf dem besten Wege, auch noch schwachsinnig zu werden. »Ein boshafter Teufel,« sagte er voll Bitterkeit, »und obendrein schwachsinnig -- so was füttern wir!« Und als ich mit unverhüllter Mißbilligung bemerkte, erschlagen könne man ihn doch wohl nicht, wie die Indianer ihre Greise, da antwortete er mir mit der kühlen und zynischen Frage: »Warum nicht?« »Und wo bleibt die Menschenliebe, auf die doch auch du deine Forderungen gründest?« »Man schadet den Menschen, wenn man die Kadaver liebt.« Daraufhin ließ ich den Gegenstand auf sich beruhen und erkundigte mich nur, ob der General nicht mehr ausgehe, es falle mir auf, ihm in letzter Zeit nicht mehr begegnet zu sein. »Matratzengruft!« sagte Karl Schuda kurz und trocken. »Bedauernswert!« »Wenigstens haben die quälenden Promenaden ein Ende.« In diesem Augenblick trat die Baronin ein, lebhaft und aufgeräumt. »Entschuldige die Verspätung, er wollte mich durchaus nicht weggehen lassen.« Sie trug ein gefaltetes Papier in der Hand, und Karl Schuda fragte: »Was bringst du mir?« »Wir haben doch nach einem Zitat gesucht, das uns beiden irgendwie vorschwebte,« sagte sie Platz nehmend. »Ich habe es gefunden. Das heißt, ich weiß nicht bestimmt, ob es das gesuchte ist, aber es drückt ungefähr den Sinn aus, den wir vor Augen hatten. Ich denke, du wirst es brauchen können. Es ist von Lowell; Amerikaner zitiert man immer gern.« Und indem sie das Blatt entfaltete, las sie: +We quench our longing, that we may be still, Content with merely living, But would we learn our hearts full scope, Our lives must climb from hope to hope And realize our longing.+ »Das +would+ macht mir Schwierigkeiten,« sagte Karl Schuda nachdenklich; »heißt es ›würden wir‹, oder hat es die ursprüngliche Bedeutung von ›wollen‹? Überhaupt scheint mir in den Versen der Sinn doch nicht restlos enthalten, nach dem wir suchten: daß es nämlich das Wort ›Verzicht‹ in unserm Wörterbuch nicht geben dürfe, soll unsre wahre Natur sich frei entfalten.« »Doch, doch!« beharrte sie eifrig. »Ich denke, daß letzten Endes dasselbe gemeint ist, was auch wir meinten. Vielleicht ist es nur allzu schwebend ausgedrückt und absichtlich im leichten Schleier der Verssprache verhüllt. Eine Übersetzung könnte den Sinn deutlicher herausarbeiten.« »Hast du eine Übersetzung versucht?« »Versucht allerdings,« sagte sie leicht errötend; »ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht.« Und indem sie sich gleichsam entschuldigend an mich wendete, fuhr sie fort: »Ich habe mit Zeilen und Wörtern nicht so sparsam gewirtschaftet wie das Original. Vielleicht bin ich wirklich in den Fehler verfallen, mehr das, was wir hören wollten, herauszulesen, als was der Dichter eigentlich zu sagen die Absicht hatte. Entscheiden Sie selbst.« Damit reichte sie unserem Freunde das Blatt hin, und er las: Die Sehnsucht zwingen nieder wir und schweigen, Zufrieden, wenn wir nur das Leben haben, Entsagungsvoll beruhigt im Gemüte. Doch wollen wir des Herzens reichste Gaben Und ganze Kraft entfaltet sehn zur Blüte, Von Hoffnung gilt's zu Hoffnung aufzusteigen, Bis sich erfüllt der Sehnsucht letzte Ziele zeigen. »So kann ich es brauchen, besten Dank!« sagte Karl Schuda. »Entsagung und Verzicht sind Unsinn. Nur wenn zur Wirklichkeit wird, was wir ersehnten, haben wir das Leben nicht verspielt. -- Nun wollen wir aber auch danach handeln,« setzte er leichten Tones hinzu; »mir wenigstens fällt es nicht ein, auf den verabredeten Spaziergang zu verzichten.« Er erhob sich, und wir begaben uns ins Freie. Eine Zeitlang ergingen wir uns in den ausgedehnten Parkanlagen, und da der Aufbruch später als beabsichtigt erfolgt, das Zunehmen der Tage auch noch nicht ausgiebig genug zu merken war, so fing es bereits leise zu dämmern an, als wir den Fuß des bewaldeten Hügels erreichten, der in jener angenehmen Stadt mitten zwischen Häuserzeilen und Gassen aus dem Boden wächst und auf seinem Gipfel die Überreste eines alten Kastells trägt. Eben begann der Weg anzusteigen, da blieb die Baronin stehen und zögerte. »Nun muß ich unbedingt nach Hause. Es ist spät geworden, er wird ohnedies schon ungehalten sein.« Karl Schuda brauste auf: Die reine Sklaverei, in der sie lebe! Ein menschenunwürdiges Dasein führe sie! »Wenigstens eine Stunde an die Luft zu gehen, brauchst du dir doch nicht verbieten zu lassen!« rief er heftig. »Er war die letzten Tage ganz besonders elend,« sagte sie wie zu ihrer Entschuldigung. Trotzdem setzte sie, als er sich zum Weitergehen wendete, wie ein gehorsames Hündchen den Weg an seiner Seite fort. »Nazarenische Dekadenz!« grollte Karl Schuda vor sich hin. »Die ganze Welt nichts als ein einziges großes Barmherzigenspital! Zum Geier auch -- was sinkt, soll man stoßen!« Schweigend stiegen wir bergan. Das verletzend rohe Wort klang mir im Ohre nach; ich wartete, ob denn die Baronin nichts dagegen einwenden würde. Sie war auch die erste, die wieder das Wort nahm, schien sich aber inzwischen mit ihrem Gewissen abgefunden zu haben. Mit einer Art kindischem Trotz sagte sie: »Soll er zusehen, wie er mit sich selbst fertig wird, wenn er es durchaus nicht anders haben will. Warum läßt er auch keine Pflegerin zu? Allein kann ich, kann ich es nicht mehr leisten!« Unter dichten Laubkronen verfolgten wir unseren Weg weiter, immer bergaufwärts. Im Schatten der Bäume dunkelte stellenweise schon die Nacht, die balsamische Düfte aushauchte, daß man in fernen Märchengärten zu weilen glaubte, wären die Geräusche der Stadt nicht gewesen, die hier und da zu uns empordrangen, und die Lichter, die vereinzelt in den Gassen aufleuchteten und manchmal zwischen schwankendem Gezweig in der Tiefe sichtbar wurden ... Mir klang noch immer jenes vorhin gefallene grausame Nietzsche-Wort nach: Was sinkt, soll man stoßen. Ich wendete mich an Karl Schuda und sagte: »Du vertratst doch neulich die Meinung, daß es kein Sollen geben dürfe. Das kann nur die Bedeutung haben, daß es der Natur Gewalt antun heißt, wenn wir irgend etwas gegen unsre inneren Bedürfnisse unternehmen. Aber das Mitfühlen mit den Schwachen, das Erbarmen mit dem Elend, gehört es -- wenigstens für hochstehende Menschen -- nicht auch zu den unabweisbaren inneren Bedürfnissen? Und heißt es wirklich unsre wahre Natur verkümmern, wenn es uns gelingt, sie bis zu jener vornehmen Größe zu steigern, die die Voraussetzung der Selbstlosigkeit, der Selbstentäußerung ist? Der Christus der Evangelien erscheint dir als Verkörperung der Lebensschwäche, was immerhin stimmen mag, wenn man bloß den äußerlichen Verlauf seines Schicksals ins Auge faßt; so wie etwa die Friedensschlüsse, die uns entrechten, äußerlich genommen als Auswirkung einer glänzenden Kraftfülle gelten können. Aber sind nicht eben jene Evangelien, die das Unterliegen verherrlichen, Kraftquelle von Jahrtausenden geworden? Und verbirgt hinter der rohen Gewalt und den Ausschreitungen eines ungebändigten Siegerwillens nicht von jeher die menschliche Kleinheit und Schwäche ihr haßverzerrtes Antlitz? Wahre Größe ohne Güte und Barmherzigkeit gibt es nicht: Lionardo da Vinci, der die gefangenen Vögelchen aufkauft, um sie fliegen zu lassen -- ist der etwa ein empfindsamer Schwächling?« »Die Singvögel konnten ihm nichts zuleide tun,« entgegnete Karl Schuda trocken. »Hätte er Wölfe freigelassen, so wäre er ein Narr gewesen.« Die knappe, witzige Replik entwaffnete mich beinahe, sie ernüchterte auf alle Fälle meinen Eifer. Die Baronin kam mir zu Hilfe. »Es steckt Ernst in diesem scheinbaren Scherze,« sagte sie. »Die Drosseln, Finken und Lerchen, das sind unsre Wünsche und Sehnsüchte, die zum Himmel steigen. Lassen wir sie fliegen! Geben wir ihnen die Freiheit! Wo wir aber Gefahr laufen, zerrissen, aufgefressen zu werden, da bleibt uns nichts übrig, als hart und erbarmungslos zu sein. Denn beides liegt in unserm Wesen, die Güte und die Härte, und beides kann zur Pflicht werden.« »So gibt es doch noch eine Pflicht?« »Sogar Pflichten,« warf Karl Schuda dazwischen; »aber nicht im alten Sinne des kategorischen Sollens. Wir erfüllen sie, nicht indem wir uns bezwingen, sondern indem wir uns selbst erleben.« »Und wenn dieses Erleben mit den Ansprüchen unsrer Mitmenschen in Widerstreit gerät?« »Dann gilt es stark sein,« fiel die Baronin mit Lebhaftigkeit ein, »und sich darüber klar werden, daß wir alles verlieren können und dennoch nichts verloren haben, solange wir uns selbst besitzen.« Wir waren auf der Plattform des Hügels angelangt, wo zwischen altem Bastionsgemäuer eine bescheidene Gartenanlage sich hinbreitet. Der unendlich weite Himmel über und um uns flimmerte von unzähligen Sternen, und in der schwarzen Tiefe, aus der die Stadt wie in unruhigem Schlummer ab und zu ein gepreßtes Stöhnen vernehmen ließ, schienen Schwärme von Glühwürmchen sich niedergelassen zu haben, oder den Abgrund, der die Höhe umringte, hatten Wasserfluten verschlungen, in denen sich die Sterne spiegelten. Schweigend machten wir die Runde, immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrend und immer wieder eine neue Runde antretend, in unerschöpfter Lust, das wundersame Doppelspiel des himmlischen und irdischen Lichtgefunkels in uns aufzunehmen. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß nichts so lebhaft dazu anregt, an das Geheimnisvolle zu rühren oder die Tiefen des eigenen Innern zu durchforschen, als der Anblick des gestirnten Himmels. Auch die Baronin unterlag jetzt diesem Zauber, sie schien wie zu sich selbst oder doch unbeirrt durch die Anwesenheit eines fast Unbekannten zu sprechen, als sie nun in merkbarer Beklommenheit sagte: »Das Leben bleibt ein großes Rätsel, und die Wege, die wir wandeln, führen aufs Geratewohl durch weite, unbekannte dunkle Wälder. Welch ein Wunder, wenn wir das Ziel nicht gänzlich verfehlen! Ich habe eine strenge Erziehung genossen, ich wußte von nichts als von Pflicht. War ich glücklich? Innerlich beruhigt vielleicht -- die Ruhe des Friedhofs: Die Sehnsucht zwingen nieder wir und schweigen, zufrieden, wenn wir nur das Leben haben ...« »Jawohl! Diese Zufriedenheit, dieses Sichabfinden, dieses Entsagen! Eine der Hauptquellen der sozialen Rückständigkeit! Man frage nur einmal in Amerika an!« »Die Methodisten?« gab ich zu bedenken. »Sektierer, deren bloßes Vorhandensein schon beweist, daß die andern nichts davon wissen wollen.« »Wieviel Tränen habe ich darüber vergossen!« fuhr die Baronin mit einem Seufzer fort. »Denn solcherart war meine Zufriedenheit. Aber war das überhaupt ein Leben, was ich lebte? Und war ich es selbst, die es lebte? Wie die Maden gewisser Schlupfwespen in einem fremden Körper sich breitmachen, so schalteten in meinem Inneren überkommene Normen, eingeimpfte Regeln, Vorschriften von verschiedenster Herkunft in unumschränkter Selbstherrlichkeit. Ich wurde nicht gefragt, ich war tot, und hatte ich ja einmal etwas mitzureden, so war es höchstens, um mir Zwang und Gewalt anzutun und mich noch toter zu machen als tot. Da kamst du,« sagte sie, des Freundes Hand mit Wärme ergreifend, »da brach der Tag der Befreiung an.« Sie blieb stehen, ich sah in der Dunkelheit, wie sein Scheitel sich über ihre Hand beugte. Dann schnellte er empor, und gutmütig auflachend zog er sie mit sich fort. »Zum Erlöser hab' ich doch kaum das Zeug ... Nur freilich -- ein bißchen Schüren und Umwälzen tut immer gut. Das Volk erwacht, und ich habe meinen Teil daran. Aber wenn mich die Teufel in der Hölle einmal fragen sollten, ob ich auch etwas Gutes gestiftet hätte auf Erden, so könnte es sein, daß ich alles andre vergesse und als meine froheste Tat es rühme, dich, Teuerste, erweckt zu haben.« »Ja, das tatest du! Durch dich allein bin ich zu Freiheit und Freudigkeit erwacht, durch dich zum wahren Leben erweckt worden. Und gerade hier setzt nun das Rätsel ein ...« »Welches Rätsel?« »Das große Lebensrätsel, das Unerklärbare, der bleibende Widerspruch. Der Sünde wider den Geist, wie du es nennst, bin ich nun ledig. Ich erkenne kein Gesetz an außer dem in mir selbst. Das macht mich froh und stark und mutig, ich fühle die Wahrhaftigkeit mit mir im Bunde. Und dennoch weiß ich, daß ich schuldig geworden bin. Und weiß auch, daß jede Schuld ihre Sühne fordert, wie mit kosmischer Notwendigkeit.« Karl Schuda wurde ungeduldig. Schuld! Sühne! Eischalen, die dem eben erst ans Licht gedrungenen Küchlein noch anhafteten! Er suchte es ihr auszureden. Nachtgedanken! Nichts als Nachtgedanken, zur Selbstqual ersonnen! Aber in diesem Punkte versagte sein Einfluß, sie ließ sich nicht wankend machen. Sie blieb bei ihrer Überzeugung. Sie könne es nun einmal nicht anders empfinden. Auch hier sei sie außerstande, ihre eingeborene Natur zu verleugnen. »Oder möchtest du lieber,« fragte sie, »daß ich dir blindlings nachbete, auch gegen meine unbestreitbare innere Erfahrung? Das willst du gewiß nicht!« Nein, das wollte er freilich nicht. Die Freiheit der eigenen Meinung über alles! »Und du brauchst auch gar nicht zu befürchten,« sagte sie noch, »daß ich mich zwecklos quäle. Du irrst, wenn du annimmst, daß diese Gedanken etwas Quälendes für mich hätten. Im Gegenteil! Tröstlich und beruhigend sind sie mir, ich spüre Gesetz und Ordnung darin und das Gegenteil von Willkür. Und so deutlich ich voraussehe, was kommen wird und muß, so empfinde ich es doch zugleich wie eine Bestimmung: du sollst schuldig werden! Und bin doch froh und stark und mutig dabei und möchte nicht mehr zurück. Warum? Vielleicht weil ich spüre: dies ist das Leben, dies dein Schicksal und dein Beruf auf Erden? Ich weiß es nicht. Aber sind das nicht Rätsel? Sind das nicht Widersprüche?« Und während sie für einen Augenblick stehenblieb und das Antlitz zum Sternenhimmel erhob, entrang es sich ihr wie ein Seufzer: »Ist Leben und Schuldigwerden vielleicht ein und dasselbe?« Sie schwieg. Stumm und nachdenklich setzten wir, die kühle Nachtluft atmend, unseren Rundgang auf der Höhe fort, besinnlich geworden durch die von ihr aufgeworfenen Fragen, jedes im stillen für sich in seine Gedanken versunken. Bis plötzlich Karl Schuda haltmachte. Er steckte ein Zündholz an, um nach der Uhr zu sehen. Einen Augenblick baumelte die kleine schwarze Sphinx an der Uhrkette in der Luft, beleuchtet von der aufzischenden Flamme. Im grellen Schein sprühten ihre smaragdenen Augen und sandten grünliche Strahlen aus. Dann war das Zündholz erloschen ... Abermals kroch mir beim Anblick des funkelnden Juwels ein häßliches Gefühl über den Rücken, indem meine Gedanken verstohlen in die Krankenstube des hilflosen alten Mannes huschten, der irgendwo da unten im dunkeln Abgrund in seiner Matratzengruft stöhnte. Und aus der Finsternis, die uns umgab, wuchs plötzlich die kleine basaltschwarze grünäugige Sphinx zu Riesengröße auf und stand wie ein dräuendes Tier starr und regungslos am nächtlichen Horizont. Gibst du mir Rätsel zu raten, grausames Ungeheuer? Ist Leben und Schuldigwerden vielleicht wirklich dasselbe? Eine untrennbare Einheit wie die Prägung auf der Vorder- und Rückseite der nämlichen Münze? ... Nur ein paar Augenblicke -- und die schaurige Erscheinung war verschwunden. Ich mußte lächeln. Ein breiter, massiger Bergrücken reckte da drüben in der Ferne seine finsteren Umrisse zum Sternenhimmel ... Karl Schuda hatte zugesagt, noch an diesem selben Abend in einer Wählerversammlung für einen erkrankten Redner einzuspringen. Als wir wieder in die Stadt hinabgelangt waren, trennte er sich von uns an einer Straßenkreuzung, während ich die Baronin, die nun Eile zu haben schien und ihre Schritte beschleunigte, bis an das Haus begleitete, in dem sie wohnte. Es lag an einem langgestreckten, stillen und gänzlich verkehrsarmen Platze, wie es deren nur in verträumten Provinzstädten gibt. Schon hatte ich nach kurzer Verabschiedung das entgegengesetzte Ende dieses Platzes erreicht, als ich mich, durch irgendein Geräusch veranlaßt, noch einmal umwendete. Es fiel mir auf, daß an der Stirnseite des Hauses, die vorhin in völligem Dunkel gelegen hatte, jetzt eine Reihe von fünf oder sechs Fenstern hell erleuchtet war. Man sah Schatten an ihnen vorüberhuschen, wie wenn Leute in den Zimmern hin und her liefen. Aus einem der Fenster, das offenstand, glaubte ich auch Stimmengewirr zu vernehmen, als redeten mehrere Menschen zugleich erregt durcheinander. Bald darauf hörte ich, daß das Haustor aufgeschlossen und dumpf krachend wieder zugeschlagen wurde. Irgend eine dunkle Gestalt trabte eilfertig in schweren Stiefeln über das Pflaster davon und bog in eine Seitengasse ein, wo das Geräusch der Schritte nach und nach verhallte. Ich stand noch immer still, wie festgebannt, ich wartete, ohne zu wissen worauf. Nun wurden auch die übrigen Fenster weit aufgetan, eins nach dem anderen. Und dann wurde Zimmer für Zimmer das Licht abgedreht, während die Fenster offen stehenblieben. Man konnte jetzt nur noch in einem einzigen Zimmer einen schwachen Lichtschein wahrnehmen. Sonst alles dunkel, nachtschwarz gähnten die leeren Fensterhöhlen. Und alles wieder still, regungslos, totenstill ... Bangigkeit im Herzen, trat ich endlich den Heimweg an. Den anderen Tag las ich in den Ortsblättern, daß der General gestorben war. Er hatte eine zu große Dosis Veronal zu sich genommen -- aus Versehen natürlich, so stand es in den Zeitungen. Ein Selbstmord sei gänzlich ausgeschlossen, der alte Herr hätte zwar wie alle Angehörigen des Mittelstandes unter den Zeitverhältnissen zu leiden gehabt, immerhin aber in ausreichenden Umständen gelebt, an allen öffentlichen Ereignissen in ungebrochener Geistesfrische noch regen Anteil genommen und auch sein schweres körperliches Übel stets mit um so mehr Geduld und Langmut ertragen, als ihm seine Tochter seit vielen Jahren mit rührender Hingebung als liebevolle und aufopfernde Pflegerin zur Seite gestanden sei. Den Angaben, die die Blätter über seine Laufbahn enthielten, konnte ich entnehmen, daß er über achtzig Jahre alt geworden war und seit Königgrätz, wo er als junger Offizier sich ausgezeichnet hatte, seinen Heldentaten kein neues Lorbeerblatt hinzugefügt zu haben schien. Übrigens waren alle Nachrufe selbstverständlich in dem ortsüblich ehrenvollen, ja ruhmredigen Ton gehalten -- nur ein kleineres, durch seine unflätigen Angriffe bekanntes umstürzlerisches Organ äußerte seine Befriedigung darüber, daß wieder einer jener überzähligen Schädlinge vom Schauplatz verschwunden sei, die das alte Österreich ins Unglück gestürzt hätten und dem neuen wie zehrende Parasiten im Pelz säßen. Und ich konnte in dem Augenblick, wo ich dies las, mich eines gewissen reumütigen Unbehagens nicht erwehren, weil auch ich, als ich zum erstenmal nach dem mörderischen Kriege des hinfälligen alten Mannes wieder ansichtig geworden, ihm in meinen unwillkürlichen Gedanken gleichsam einen Vorwurf daraus gemacht hatte, daß er noch immer unter den Lebenden weilte. Der Tod mildert unser Urteil über die Menschen, verschiebt unsere Stellungnahme ihnen gegenüber ganz ohne unser Zutun; jedermann weiß es, es ist eine Binsenwahrheit. Aber obgleich wir es wissen, müssen wir es doch in jedem Falle wieder neu erfahren, und manchmal sind die Wandlungen, die sich in uns vollziehen, einschneidender, als wir je vorausgesehen hätten. Karl Schuda, als wir auf dem halb ländlichen Friedhof Seite an Seite uns dem Zug der Leidtragenden anschlossen, sagte: »Sie hatten schon auch ihre Qualitäten, diese altösterreichischen Militärs ...« Ich blickte ihn halb verwundert an und nickte zustimmend. Sonst wechselten wir kein Wort miteinander. Die Bestattung fand der Zeit entsprechend selbstverständlich ohne jedes militärische Gepränge von der Friedhofshalle aus statt. Die Feierlichkeit war so einfach wie möglich und beschränkte sich auf das Unerläßliche. Die Baronin, auf diesem letzten gemeinsamen Wege nicht wie sonst ihrem Vater voraus, schritt als erste hinter seinem Sarge her. Der dichte Schleier verbarg uns ihr Antlitz, als wir, Karl Schuda und ich, unter vielen anderen Freunden und Bekannten ihr die Hand drückten, während die Schollen in die Grube polterten. Ich scheute mich fast, diese Hand zu berühren. Ein fürchterlicher Verdacht, dessen ich mich selbst beinahe schämte, schnürte mir das Herz zusammen. Wie einem eine Melodie manchmal nicht aus dem Kopf will, so verfolgte mich unablässig das kulturniedrigste aller Worte, das die deutsche Sprache jemals geprägt: »Was sinkt, soll man stoßen.« Wie gern hätte ich der Baronin ins Auge geblickt, um davon befreit zu werden! Denn im Grunde war ich doch überzeugt, daß ein einziger Blick in dies Auge mir Beruhigung hätte verschaffen können. Aber sie blieb unsichtbar hinter dem schwarzen Krepp; auch wurde ich durch die übrigen Leidtragenden alsbald wieder von ihr abgedrängt. Am Friedhofstor verabschiedete ich mich auch von Karl Schuda. Meine Abreise war für den darauffolgenden Tag festgesetzt. »Auch ich verreise demnächst,« sagte er gepreßt. »Wohin?« »Bei unsereinem steht das nicht so fest,« antwortete er ausweichend. »Wo es eben gerade etwas zu tun gibt ... Leb' wohl!« Wir reichten einander die Hand, Auge in Auge gesenkt. Ein letzter Strahl der alten Jugendfreundschaft leuchtete darin auf und berührte uns gegenseitig mit wohltuender Wärme. Er hat inzwischen sein Schicksal vollendet, ich sollte ihn nie wiedersehen ... Schon früher, aus beiläufigen Bemerkungen, die er, trotz seiner offenbar absichtlichen Zurückhaltung in diesem Punkte, nicht immer hatte unterdrücken können, war es mir zur Gewißheit geworden, daß Karl Schuda große Hoffnungen auf Ungarn setzte. Dort hatte bereits Ende März eine Verschmelzung der sozialdemokratischen Partei mit der kommunistischen sich vollzogen und Bela Kun als Volkskommissar des Auswärtigen in einem Funkspruch »An Alle!« den Arbeitern der Welt kundgetan, daß nun der Wind aus einem andern Loch blasen würde. Auf die Arbeiter der Welt schien das zwar keinen besonderen Eindruck zu machen, wenigstens rührten sie sich nicht. Auch daß Lenin den neuen Bruderstaat mit begeistertem Bombast begrüßt hatte, brachte der gequälten Menschheit noch lange keine Erlösung. Und es gehörte schon ein recht gläubiges Gemüt dazu, um anzunehmen, daß durch die Erklärung des Standrechts die wahre Freiheit begründet oder durch die Abschaffung von Rang und Titeln den Übergriffen der Feinde Ungarns Einhalt getan werden könne, dem Vormarsch der »Bourgeoiseroberer«, wie jene Proklamation die Ententegünstlinge nannte, von denen jeder einen Fetzen ungarischen Territoriums an sich gerissen hatte. Auf die Zukunftshoffnungen einer entflammten Bekennernatur, wie mein Freund es war, mochte aber schon die in so naher Nachbarschaft erfolgte Schaffung der Proletarierdiktatur allein, die angeblich vollzogene Vereinigung der gesamten Arbeiter, Soldaten und Bauern unter der Fahne der sozialistischen Weltrevolution einen bestrickenden Zauber und eine gewaltige Anziehungskraft ausüben. Aus diesem Grunde vermutete ich in Budapest, dem Sitz der jüngsten Räterepublik, Karl Schudas geheim gehaltenes Reiseziel, und zwar mit stillem Bedauern und aufrichtiger Sorge. Denn schon damals sah es nicht danach aus, als ob Schillers Wort »Freiheit ist nur in dem Reich der Träume« durch Tibor Szamuely und ähnliche Gestalten bolschewistischen Gepräges widerlegt werden würde. Den Verlauf, den das gefährliche ungarische Experiment in der Folge genommen hat, ist bekannt. Bekannt, daß es trotz den zweifellos hochfliegenden Plänen und edeln Absichten Einzelner in blutige Gewaltherrschaft ausartete, das Land infolge kühnen volkswirtschaftlichen Dilettierens ungezählte Milliarden kostete und mit einem kläglichen Zusammenbruch endete. Vier Monate bolschewistischer Herrlichkeit hatten genügt, dem unglücklichen Staatswesen unendlich mehr Schaden zuzufügen als alle vorausgegangenen schweren Jahre des Krieges zusammengenommen. Die rumänische Armee stand, während die »Bourgeoiseroberer« wie immer von edler Grundsätzlichkeit troffen, plündernd und raubend vor den Toren von Budapest, und die Volkskommissare mit ihren Genossen, nachdem sie noch einmal, kindlich genug, das Proletariat der Welt um Hilfe angerufen hatten, beeilten sich, über die österreichischen Grenzen zu entkommen, soweit sie nicht unter irgend einem Titel dingfest gemacht worden waren. Ob Karl Schuda dies alles aus unmittelbarer Nähe miterlebt oder vielleicht sogar als tätiger Teilnehmer sich daran beteiligt habe, blieb mir unbekannt. Ich wußte ja nicht einmal sicher, wohin er sich damals gewendet hatte, hörte nichts mehr von ihm und war auch durch meine eigenen Angelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen, als daß meine Gedanken zu ihm oder in jene stille Stadt der blühenden Gärten, wo der Zufall uns zusammengeführt hatte, noch öfters zurückgekehrt wären. So war ein Jahr vergangen, seit wir nach dem Begräbnis des alten Generals am Friedhofstor voneinander Abschied genommen, als ich, in einem Wiener Kaffeehaus rasch eine Zeitung durchfliegend, auf eine telegraphische Nachricht aus Budapest stieß, wonach ein gewisser Nagyhegy, rekte Souda, wegen Teilnahme an den Greueln der einstigen Räteregierung verhaftet worden sei. Mit ihm sollte auch seine »Konkubine«, die Tochter eines ehemaligen österreichischen Generals, wegen Vorschubleistung zu den ihm zur Last gelegten strafwürdigen Handlungen in Untersuchung gezogen worden sein. Ich hatte mir für denselben Abend eine Karte in die Oper verschafft, die bei der entsetzlich anwachsenden Teuerung ein kleines Vermögen kostete. Ich wollte sie nicht verfallen lassen und begab mich, nachdem ich jene Notiz mehrmals hintereinander gelesen und, da sie von einem Korrespondenzbureau herrührte, in allen Zeitungen gleichlautend gefunden hatte, unmittelbar aus dem Kaffeehaus ins Theater, obgleich mir jede Lust vergangen war, die »Tote Stadt« zu hören. Aber schon nach dem ersten Aufzug verließ ich das Parkett. Es bohrte und nagte eine Unruhe in mir, die mich zu keinem reinen Genuß kommen ließ. Immer aufs neue wiederholte ich mir, was ich mir schon hundertmal wiederholt hatte: daß eine zufällige Ähnlichkeit der Umstände mich irreführen konnte und meine Besorgnis vielleicht gänzlich überflüssig sei; daß es viele österreichische Generale gegeben hätte und darum auch viele Generalstöchter geben müsse, und daß der slawische Name Souda vielleicht ganz anders ausgesprochen würde als der Karl Schudas. Aber dennoch verfiel ich immer wieder in Traurigkeit, wenn ich mir vorstellte, daß mein alter Schulfreund, für den ich noch immer Gefühle übrig hatte, wie sie eben nur aus Jugendbeziehungen nachhallten, samt seiner schönen Freundin ins Unglück geraten sein sollte. Eine Traurigkeit, die sich bei dem Gedanken noch steigerte, daß er, verführt durch die Glut seines gottverlassenen Erlöserwillens, vielleicht wirklich schwere Schuld im politischen Sinne auf sich geladen und sogar seine arme Gefährtin darein verstrickt haben könnte. Nur eine Tätigkeit, die mir Aufklärung verhieß, konnte meine überreizten Nerven entspannen. Ich setzte mich noch in der Nacht an den Schreibtisch, um jenem mir allerdings nur entfernt bekannten Arzt zu schreiben, der vor einer Reihe von Jahren, noch vor dem Kriege, in einem zufälligen Gespräch, an das ich mich noch gut erinnerte, das Recht der Jugend gegen die Selbstsucht des Alters in Schutz genommen und dabei, wie ich mir damals einbildete, auf das Verhalten des greisen Generals seiner bedauernswerten Tochter gegenüber angespielt hatte. Ich durfte annehmen, daß er mit der Familie befreundet gewesen, und fragte an, ob er mir von der Baronin und meinem Jugendfreunde, dem Publizisten Karl Schuda, in dessen Gesellschaft ich sie später einigemal getroffen hätte, Nachricht geben könne. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich an die richtige Adresse gewendet, denn jener Arzt und Menschenfreund, der, wie ich erst jetzt erfuhr, den alten General behandelt und seinen Tod festgestellt hatte, nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal der Baronin. Er wußte mir aber nichts zu berichten, als daß sie bald nach dem Selbstmord ihres Vaters zugleich mit dem »gefährlichen Rattenfänger«, wie er Schuda nannte, aus der Stadt verschwunden und seither nicht mehr dahin zurückgekehrt sei. Er fürchte, daß eine Zeitungsnachricht aus Budapest, die ihn jüngst erschreckt habe, und auf die er mich aufmerksam mache -- das mir wohlbekannte Telegramm war im Ausschnitt angeschlossen -- sich auf das verschollene Paar beziehe. So wenig aufklärend diese Zeilen auch waren, so kann ich doch nicht anders sagen, als daß ich aufatmete, während ich sie las. Wenn irgend wer, so mußte jener Arzt es wissen, auf welche Weise der General aus dem Leben geschieden war. Und daß er von einem Selbstmord wie von einer unbezweifelbaren Tatsache sprach, nahm mir eine schwere Last vom Herzen. Denn das von der Baronin geprägte Wort: »Wir müssen schuldig werden«, vielleicht im Zusammenhang mit Karl Schudas rohem Ausspruch »Was sinkt, soll man stoßen«, hatte Befürchtungen in mir erweckt, vor denen mir schauderte. Jetzt hielt ich die Gewißheit in Händen, daß wenigstens das Entehrende und Unsühnbare, das mich unüberbrückbar von meinen Freunden geschieden hätte, nicht im Bereich des Möglichen lag. Es gibt eine Schuld, die der Mensch verzeihen kann und darf, die zu verzeihen sogar ein Gebot der Nächstenliebe ist. Aber es gibt auch einen Punkt, wo Nachsicht und milde Beurteilung ein Ende haben müssen. Nun konnte ich wieder hoffen, daß dieser Punkt nie und nirgends überschritten worden sei. Der erwähnte Arzt ließ die Gelegenheit nicht ungenützt, dem knappen Tatsächlichen, das er mir übermitteln konnte, auch noch einige weitere Ausführungen beizufügen, zu welchen das Interesse ihn reizen mochte, das er als Seelenforscher an der Sache nahm. Der Baronin, schrieb er, traue er in ihrer Anhängerschaft an den politisch stark exponierten Freund ohne weiteres das Äußerste zu. Der Tod des Generals, eines von Haus aus unleidlich rücksichtslosen, mit sich und der Welt zerfallenen altösterreichischen Kommißoffiziers und Leuteschinders, sei viel zu spät erfolgt, um seiner Tochter noch rechtzeitig jene äußere und innere Freiheit zu schenken, die ihr ohne verzweifelte Entschlüsse einen Weg zu der jeder Menschenseele unentbehrlichen Freudigkeit eröffnet hätte. Zur Hörigkeit erzogen, durch militärisch-bourgeoise Vorurteile in jeder natürlichen Entwicklung gehemmt, hätte sie, im Begriffe, von der Jugend Abschied zu nehmen, unbedingt auch seelisch dem Einfluß eines jeden unterliegen müssen, der sie zum Weib machte, gleichgültig, ob es ein Jesuit oder ein Bolschewik war. Darum wundere er sich auch nicht darüber, wenn sie in Karl Schuda vielleicht etwas wie einen Erlöser und in seinen zersetzenden Hirngespinsten ein Allheilmittel der Menschheit erblickt hätte. Mannigfache Erfahrungen ähnlicher Art ließen ihm den Fall, so verhängnisvoll er für die Baronin verlaufen könne, als durchaus begreiflich erscheinen und böten die Erklärung für den damals von ihm vertretenen Standpunkt, den wohl nunmehr auch ich besser zu würdigen wissen werde: daß selbst liebevolle Absicht der Eltern ein engherzig gewaltsames Niederhalten jenes besonderen Eigenlebens nicht entschuldigen könne, auf das jede neue Generation wieder ihren besonderen Anspruch habe. Jedenfalls sei er in diesem Punkte gerade in seinen Kreisen so oft auf völlige Verständnislosigkeit gestoßen, daß er die großen Opfer, die unsere Zeit fordere, nicht für vergeblich dargebracht halten würde, wenn es ihr gelänge, die vielfach verknöcherten Anschauungen der bürgerlichen Gesellschaft wenigstens einigermaßen zu revolutionieren. An die scharfe und grausame ärztliche Diagnose, der ich nicht in jedem Punkte beizupflichten vermochte, schlossen sich noch ein paar Bemerkungen über die Vorgänge in Ungarn, die er als gebürtiger Siebenbürger Sachse mit besonderer Anteilnahme verfolgte. Die gesunde Reaktion, die die Ordnung halbwegs wiederhergestellt und die friedliche Regelung der Beziehungen zu den westlichen Gewalthabern in die Wege geleitet hatte, war durch die Notwendigkeit, allerorts immer wieder aufzüngelnde Flammen zu dämpfen, unausgesetzt in Atem gehalten. Es wurde gemunkelt, daß die neue Regierung sich dabei oft nicht minder harter Maßnahmen bediene als die alte; manche behaupteten schlankweg, an die Stelle des roten sei nun der weiße Terror getreten. Von diesseits der Grenzen war die Stichhaltigkeit der umgehenden Gerüchte um so schwerer zu überprüfen, als auch die ungarische Öffentlichkeit selbst vielfach im Dunkeln tappte. Ein dichter Schleier blieb besonders über jene Vorgänge gebreitet, die mit der Ausrottung letzter Überreste der verflossenen Räteregierung und mit der Verfolgung ihrer da und dort noch verborgenen Parteigänger zusammenhingen. Unter diesen Umständen, meinte der Briefschreiber, sei es bis auf weiteres wohl ausgeschlossen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, ob Karl Schuda und seine Freundin mit den in jenem Zeitungstelegramm erwähnten Personen identisch seien. Mir war es durch das gleichzeitige Verschwinden des abgängigen Paares aus jener Stadt fast zur Gewißheit geworden, daß der wegen revolutionärer Umtriebe verhaftete »Nagyhegy, rekte Souda« und seine »Konkubine« für mich nicht zu den gänzlich Gleichgültigen und Unbekannten zählten. Da aber selbst mein Gewährsmann, dem nähere Beziehungen zu Ungarn zur Verfügung standen als mir, an jeder Möglichkeit zweifelte, das Schicksal der beiden zu erforschen, so erlahmte allmählich auch bei mir die Neigung, mich länger mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen. Und als wieder einige Zeit verstrichen war und hundert andere, für mich wichtigere Dinge die verblassenden Gestalten ins Dunkel des Vergessens zurückgedrängt hatten, wurden sie mir allmählich zu Abgeschiedenen, an die zu denken man kaum noch Zeit findet, und denen jemals wieder zu begegnen man endgültig verzichtet hat. Aber die Welt ist nicht ganz so groß, wie sie uns manchmal scheinen will. Und wie wir von Menschen, die in derselben Stadt mit uns wohnen, und die unser Dasein, wären wir mit ihnen in Berührung gekommen, vielleicht unsäglich bereichert hätten, oft unser ganzes Leben lang wie durch einen Ozean getrennt bleiben, so kommt es anderseits auch vor, daß weit auseinanderführende Wege unversehens wieder in einem Punkt zusammenlaufen, sich kreuzen, sich schneiden, und daß gerade in dem Augenblick, wo wir diesen Kreuzungspunkt passieren, ein Mensch dort sitzt und von der Wanderschaft ausruht, der uns irgendwie einmal lieb gewesen ist, und den wir längst für hoffnungslos verschollen gehalten hatten. Solch eine außerhalb jeder Berechnung liegende Begegnung brachte auch mir um Weihnacht 1920, also reichlich anderthalb Jahre nach jenen Frühlingstagen, in denen ich durch Karl Schuda die persönliche Bekanntschaft der schönen Generalstochter gemacht hatte, unvorhergesehene Aufklärung darüber, was aus ihm und seiner Freundin geworden sei. Erwünscht und doch nicht wünschenswert, reifte mir aus diesem unselig abgeschlossenen Doppelleben die bittere Frucht der Erkenntnis entgegen, daß wir in eine Zeit hineingeboren zu sein das Unglück haben, deren überreizte Phantasie in der Erfindung beklagenswerter Schicksale sich nicht genugtun zu können glaubt. Eine Gesellschaft edler Frauen, an deren Spitze eine der opferwilligsten Wohltäterinnen Wiens stand, hatte schon vor mehreren Jahren aus privaten Mitteln eine Anstalt ins Leben gerufen, in der durch Höhenluft und -sonne der Todeskeim bekämpft werden sollte, den die Not des Krieges und mehr noch des Friedens in die Brust so vieler Darbenden gesenkt hatte. Die Heilstätte lag in den steirischen Bergen, hoch oben in der Nachbarschaft der Felsen, und war ausschließlich dem weiblichen Geschlecht, den Hilflosesten der Hilflosen, gewidmet, gewährte aber bisher, da man versuchsweise vorgehen und sich erst allmählich erweitern wollte, bloß einer Anzahl von gegen zwanzig Leidenden Aufnahme, ein Tropfen auf den brennend heißen Stein des allgemeinen Elends. Jetzt sollte das Unternehmen auf breitere Grundlage gestellt und die Anteilnahme der Öffentlichkeit dafür geweckt werden. Vor allem galt es, eine mit Lichtbildern ausgestattete Werbeschrift in die Hände jener Wohlhabenden und dabei opferbereiten Mitbürger gelangen zu lassen, deren es noch immer gab, und als gerade um jene Weihnachtszeit die Vorsteherin mit dem Ersuchen an mich herantrat, meine Feder in den Dienst der guten Sache zu stellen, zögerte ich keinen Augenblick mit meiner Zusage und machte mich trotz der strengen Kälte in Gesellschaft des Lichtbildners auf den Weg nach dem verschneiten steirischen Marktflecken, der den Ausgangspunkt für die Bergwanderung bildete. In Begleitung des jungen und rüstigen Bezirksarztes, der uns am Bahnhof erwartet hatte, traten wir bald nach unserer Ankunft durch glitzernden und knirschenden Schnee den Aufstieg zur Höhe an. Es war ein prachtvoller Wintertag, himmelblau und weiß, jedes Zweiglein des Waldes von Kristallen des Rauhfrostes flimmernd, jedes stürzende Wässerlein ein Wunderbau vereister Tropfsteingebilde. Und als wir nach zwei Stunden scharfen Steigens die mit weißen, flaumigen Kissen bedeckte Bergstufe erreichten, auf der die Heilstätte siedelte, machte sich die rätselhafte Erscheinung der Sonnenstrahlung so wohltuend fühlbar, daß wir die Röcke ablegen und auf dem Arme tragen mußten, um uns später beim Eintritt ins Haus nicht der Gefahr einer Erkältung auszusetzen. Der Bezirksarzt, der tagtäglich zu jeder Jahreszeit diesen Weg zurücklegte, war selbstverständlich für die unbeschreibliche Schönheit des Hochgebirgswinters nicht ganz so empfänglich mehr wie wir, billigte aber die Absicht des Lichtbildners, das Hauptgewicht auf Naturaufnahmen zu legen. Den Menschenfreunden, die man zur Zeichnung von Anteilen zu bestimmen hoffte, sollte doch eine rechte Augenlust geboten werden, um die Berg- und Sonnenfreude in ihnen zu wecken. Vom Hause selbst, indessen ich es besichtigte und mich über seine Verhältnisse eingehend unterrichtete, wurden deshalb nur die günstigsten Anblicke auf die Platte gebannt und insbesondere der Liegehalle nicht vergessen, wo eine Reihe schwerkranker Frauen, bis ans Kinn in Decken gehüllt, sich sonnte, die heilkräftige Alpenluft atmend. Während hierauf mein Arbeitsgenosse mit Kamera und Stativ sich aufmachte, die dankbarsten und bezeichnendsten Punkte der näheren Umgebung auszukundschaften und im Bilde festzuhalten, verweilte ich noch im Gespräch mit dem Arzte an der Sonnenseite des Hauses im Freien, mein Taschenbuch mit den für mich wissenswertesten Auskünften füllend, die der wohlbewanderte Fachmann mir bereitwillig gewährte, als eine Pflegerin mit der Bitte an mich herantrat, vor Verlassen der Anstalt die Stelle 9 aufzusuchen: die Kranke, die dort liege, wünsche mich zu sprechen. Nicht ohne Befremden, aber gespannt, wer hier etwas von mir wollen und worum es sich dabei handeln könne, beschloß ich, der Bitte unverzüglich zu willfahren, entschuldigte mich bei dem Arzt und folgte der Pflegerin, die mich den sich sonnenden Patientinnen entlang zu dem mit Nummer 9 bezeichneten Liegeplatz geleitete. Eine bleiche Frau mit großen, vergeistigten Augen erwartete mich sehnsüchtigen Blicks. Sie versuchte, als ich mich näherte, sich aufzurichten, was ihr nicht gelingen wollte, da sie wie ein Kind im Steckkissen eingepackt lag. Als aber die Pflegerin sie zurechtweisend ermahnte, ihre Stellung nicht zu verändern, gab sie sich schließlich darein, sich notgedrungen darauf beschränkend, mir mit dem Kopfe zuzunicken. Höflich grüßend, ohne sie zu kennen, trat ich an ihre Liegerstatt heran und fragte, womit ich ihr dienen könne. Ihre Stimme war tonlos und dünn wie ein Faden, ich beugte mich zu ihr nieder, da mir ihre mehr gehauchten als gesprochenen Worte unverständlich geblieben waren. Sie wiederholte, ob ich mich ihrer denn nicht mehr erinnere, und nannte ihren Namen ... Ich fuhr zurück, suchte mich aber rasch zu fassen. Die vor mir lag, war eine Schwerkranke auf der letzten Stufe der Auszehrung. Trotzdem zeigte der Schnitt des Gesichts, von der Seite gesehen, noch immer Spuren von Schönheit, die klare, nur etwas allzu strenge Linie einer antiken Gemme. Es mochte sich doch etwas wie Bestürzung in meinen Mienen gespiegelt haben. Tieftraurig stammelte sie: »Ich habe mich verändert -- nicht wahr?« Und während Tränen in ihre Augen traten, die neben den hageren, eingefallenen Wangen und Schläfen fast übergroß erschienen, sagte sie bewegt: »Das waren glückliche Tage damals ... Richtige Frühlingstage ... Als wir noch mit Karl Schuda ... Sie erinnern sich doch?« Die Tränen flossen über und kollerten in die ausgehöhlten Wangen nieder. Hilflos lag sie da wie eine Mumie. Ich blickte um mich, knapp hinter mir stand das nächste Bett. Keine Möglichkeit, an ihrem Lager Platz zu nehmen. Das Reden strengte sie an, so tief ich mich auch zu ihr herabneigte. Ich kniete nieder, auf die steinernen Fliesen, knapp an ihrer Seite, wie vor dem Unglück selbst demütig auf die Knie gezwungen. Wie vor dem Fluch und Jammer, wie vor dem bitteren Leidenskelch der ganzen Menschheit lag ich vor ihr auf den Knien. Zerknirscht, in Ehrfurcht, wie vor einem Bilde der schmerzhaften Mutter. So kniete ich überströmend von Mitleid zur Seite dieser weinenden Frau auf den steinernen Fliesen des Bodens, mich nahe über ihr Antlitz beugend. Und ich drückte mein Taschentuch gegen ihre Augen und trocknete ihre Tränen. Mein Kopf lag fast an ihrer Brust. »Nun können Sie ganz leise sprechen. Ich höre Sie.« »Ja -- was ich Ihnen sagen wollte ... Es waren Ideale, für die er kämpfte ... Für Menschheitsziele hat er sich geopfert ... Es ist eine Lüge, daß er ein Verbrecher war! ... Seine Gegner haben sie ausgesprengt, die Rückschrittsmänner! ... Diese Bluthunde! ... Nur um ihre Schandtat zu rechtfertigen!« Ihr Auge flammte in wildem Haß. »Himmelschreiend ist es,« fuhr sie leidenschaftlich fort, »was alles sie ihm nachsagen! Aber Sie glauben es doch nicht?« schloß sie. »Sie bewahren ihm doch ein treues Angedenken?« In banger Erwartung hob sie den Kopf vom Kissen und forschte gespannt in meinen Zügen. Ich nickte stumm, während ich ihr fest ins Auge blickte. Es war wie ein feierliches Gelöbnis, das ich ablegte, ich fand nicht die Kraft, es ihr zu versagen, obgleich ich nichts Näheres darüber wußte, ~was~ man unserem Freunde eigentlich zur Last lege, und noch weniger, wessen er sich in Wahrheit schuldig gemacht hatte. Indessen erreichte ich wenigstens mein Ziel. Der gepeinigten Frau fiel offenbar ein Stein vom Herzen, sie ließ den Kopf zurücksinken und atmete tief auf, ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. Abermals trocknete ich mit meinem Tuche ihre Tränen, die nun in sichtlicher Erleichterung reichlicher flossen. Ein roter Fleck beiderseits hatte sich über ihren Backenknochen festgesetzt. Der kurze Atem flog, das Fieber schüttelte sie. »Das war es ...« nur stoßweise brachte sie die Worte über die Lippen, »was ich Ihnen ... sagen wollte. Das war es ... was ich von Ihnen ... hören wollte ... Nun weiß ich doch ... daß wenigstens Sie ... an ihn glauben ... Er schätzte Sie sehr.« Hundert Fragen lagen mir auf der Zunge. Ich konnte, ich durfte nicht fragen. Der Anblick der Beklagenswerten zerriß mir das Herz. Ich empfand es als Pflicht der Nächstenliebe, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Ich pries die Großartigkeit dieser Berglandschaft, die Schönheit des Alpenwinters, die Heilkraft der Luft, den Segen der Sonne. Ich sprach die Hoffnung aus, daß sie genesen würde. Sie aber bewegte nur abweisend das Haupt. Es schien mir, daß sie mit dem Leben abgeschlossen habe, ja, daß sie es ehrlich bedauerte, überhaupt noch am Leben zu sein. Denn ich zweifelte keinen Augenblick, daß es ihr ernst damit war, als sie nun in einem Stoßseufzer, der zwar nicht geradezu, für mich aber verständlich genug, die drängendste meiner unausgesprochenen Fragen beantwortete, ihr innerstes Sehnen zusammenfaßte: »Hätte man doch auch mich gerichtet!« Welch schaurigen Abgrund rissen doch diese wenigen, knappen Worte vor mir auf! Welch schreckliche Einblicke gewährten sie! Was alles ließen sie mich ahnen, welch ein wildes, grausiges Erleben! Wieviel Entsetzen, Haß und Todesbangen, wieviel Beängstigung, Gram und Verzweiflung -- vergossenes Blut, vergossene Tränen! Nun blieb mir kein Zweifel mehr darüber, auf welche Weise Karl Schuda geendet hatte. Tief erschüttert verharrte ich in Schweigen. Die lange Kette der verschneiten, in der Sonne glänzenden Hochgipfel draußen in der Ferne verschwamm mir vor den Augen. Der Arzt ging an der Halle vorüber. Er mochte sich wundern, mich an der Seite einer Kranken auf dem Fußboden knien zu sehen. Es war mir, als hätte er mir einen mahnenden Blick zugeworfen, jede Erregung der Schwerleidenden zu vermeiden. Auf alle Fälle sah ich die Notwendigkeit ein, mich zusammenzunehmen. »Es war gewiß sein heißester Wunsch,« sagte ich, mich aufrichtend, »Sie dem Leben erhalten zu wissen.« »Oh, es kommt doch auf dasselbe hinaus ... An seiner Seite wär's mir leichter geworden ... Und auch rascher gegangen ... Der Keim, da in der Brust ... In der Untersuchungshaft ... in den feuchten, finsteren Löchern ... zusammengepfercht mit Gesindel ... da holte ich ihn mir ... Man hat uns auseinandergerissen!« klagte sie. »Mich sprachen sie frei ... Als ob mir das Leben noch etwas gelten könnte! ... Es sollte mir nicht vergönnt sein, gemeinsam mit ihm ...« Ein heißes, tränenloses Aufschluchzen, und plötzlich weiteten sich ihre Pupillen, als ob sie etwas Entsetzliches schaute. Mit einer gewaltsamen Bewegung entwand sie sich den umhüllenden Decken, rang die Arme frei und richtete sich auf, mit dem Ellenbogen gegen die Kissen gestützt. »Das ist die Sühne, verstehen Sie,« stieß sie hervor, den visionären Blick in weite Fernen gerichtet. »Mein Vater hat auch einsam sterben müssen ... Ich wußte es doch ... ich ahnte es wenigstens, daß es schlimm um ihn stünde ... daß er sich kränkte, weil seine Tochter ... Ach! ... Geschäftige Zungen hatten es ihm hinterbracht ... Und er kränkte sich darüber ... Man hätte ihn nicht allein lassen dürfen ... das wußte ich ... Und ließ ihn dennoch allein!« Mochte sie doch bekennen, wenn es sie nur erleichterte! Wie oft hatte ich gehört, daß Sterbende ganz ruhig und sogar heiter wurden, sobald sie gebeichtet und die Lossprechung empfangen hatten. Ach, loszusprechen war freilich meines Amtes nicht, aber diese Schuld wenigstens, so schwer sie war, konnte ich doch verstehen, und was ein Mensch am anderen versteht und begreift, das ist vielleicht auch vor einem höheren Richterstuhl verziehen. In meinen Augen reinigte ihr Bild sich schon durch das bloße Bekenntnis. Ihr sittliches Fühlen konnte seine Zartheit nicht eingebüßt haben, sonst hätte sie ihr Verfehlen nicht so bitter empfunden. Aber wie immer -- ich sah ein, daß es vor allem darauf ankam, ihrem leidenden Zustand Rechnung zu tragen. Entschlossen erhob ich mich, nahm sie in meine Arme, wie eine Pflegerin es tut, und suchte sie mit sanfter Gewalt in die Kissen zurückzuzwingen. Vergeblich! Denn sie widersetzte sich, überhörte meine Mahnung, sich nicht unnötig zu quälen, meine Drohung, daß ich es nicht verantworten könne, länger bei ihr zu verweilen, wenn sie nicht davon ablasse, gegen sich selbst zu wüten. Heftig faßte sie meinen Arm und rüttelte daran. »Sie glauben doch an eine Sühne, die der Schuld folgen muß?« flüsterte sie, Wahnsinn in den Augen. »Karl Schuda glaubte nicht daran ... Aber hierin irrte er ... Es ist so, ich weiß es ... Und es ist gut, daß es so ist, das ist ja unser Trost ... sonst müßten wir ja verzweifeln ... Und sehen sie nun ... das ist der Grund, warum ich einsam sterben muß ... so wie mein Vater einsam gestorben ist!« »Baronin, ich bitte Sie, wenn Sie so fortfahren ... Nein! Nun will ich gehen ... Leben Sie wohl!« »Nein, nein, bitte! ... Ich gehorche ... Was verlangen Sie von mir? Gott! Ja! Nun will ich ganz ruhig liegen!« Erschöpft ließ sie sich in die Kissen zurücksinken und lag nun wirklich still, mit geschlossenen Augen. Ihre Brust arbeitete schwer. Aber ein liebliches Lächeln, unerwartet erblüht, spielte jetzt um ihre Lippen. Und immer ruhiger wurde ihr Atem und immer lieblicher dieses Lächeln, das das ganze Antlitz verklärte. Nach einer Weile sagte sie völlig klar und beruhigt, noch immer mit geschlossenen Augen: »Sehen Sie, das ist das Rätsel ... für das ich sowenig kann wie irgend wer: daß ich trotz allem ... doch nichts daran ändern möchte ... Ich liebte ihn ... Ich wurde schuldig ... Und ich büße ... Es war das Leben!« Das sanfte, verklärte Lächeln blieb um ihre Mundwinkel schweben. Sie glich jetzt, wie sie regungslos dalag, einer Toten, die in Erwartung der ewigen Seligkeit entschlummert ist. Nur die Brust, die sich nunmehr ganz stetig auf und nieder bewegte, zeigte an, daß noch Leben in ihr sei. Ich hoffte, der Schlaf würde sie überwältigen. Und nachdem ich sie noch eine Zeitlang still für mich betrachtet und unter mannigfaltigen Gedanken im Geiste von ihr Abschied genommen hatte, erhob ich mich behutsam, legte die zurückgeschlagenen Decken vorsichtig wieder zurecht und war eben im Begriff, mich leise zu entfernen, als nach wenigen Schritten ein Anruf mich zurückhielt. »Nehmen Sie, bitte,« sagte sie, neuerdings auf ihrem Lager emporgerichtet, und streckte die Hand gegen mich aus. Ich fühlte einen kleinen, harten, kalten Gegenstand, den sie rasch von ihrer Armkette genestelt hatte, in meine Hand gleiten ... »Ein Andenken ... an mich ... an ihn ... das einzige, was mir von ihm geblieben ist ... Ich hätte mich nie davon trennen können, wüßte ich nicht ... Bitte, tun Sie mir den Gefallen!« In demselben Augenblick sank sie zurück, ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr. Kein Geräusch des Atmens. Ich griff nach der Hand, sie war noch warm, erwiderte aber nicht meinen Druck. Bestürzt winkte ich die Schwester herbei, die sich mit kühler Kennerschaft langsam über sie beugte. Als sie sich wieder aufrichtete, sagte sie mit dem unbewegten Gesicht der Pflegerinnen: »Es ist vorüber. Sieht sie nicht wie eine Schlafende aus?« In der Tat schwebte noch dasselbe liebliche, friedsame, verklärte Lächeln um ihre Lippen wie vorhin, da ich mir eingebildet hatte, sie schlafe. -- -- -- * * * * * Während ich diese Zeilen zu Papiere bringe, sieht mir ein stummer Gast aufmerksam dabei zu. Er wendet keinen Blick von mir, verfolgt jede meiner Bewegungen, beobachtet mich unausgesetzt mit seinen kalten, undurchdringlichen grünschillernden Augen. Es ist eine kleine Sphinx aus schwarzem Basalt, die auf dem Aufsatz meines Schreibtisches steht. Sie ist überaus fein gearbeitet, in Gold montiert, oben mit einem kleinen Ring versehen, so daß man sie auch als Anhänger tragen kann, und in den dunkeln Stein sind zwei winzige blitzende Smaragden eingesetzt, genau an der Stelle, wo die Menschen die beiden Fensterchen haben, durch die sie die Bilder dieser Welt in ihre Seele hineinlassen, um sich an ihnen zu erfreuen. Die kleine Sphinx besitzt aber leider keine Seele, wenigstens habe ich etwas dergleichen bei ihr noch nie bemerkt, und hat auch an nichts eine wahre Freude, höchstens am Bösen. Daher kommt es wohl auch, daß ihr Gesichtsausdruck eine gewisse Ähnlichkeit mit dem eines Menschen ohne Seele hat: er ist hart, verschlossen, grausam und mitleidlos. Schon manchmal wandelte mich deswegen die Versuchung an, den unheimlichen kleinen Popanz von seinem angestammten Platz über meinem Schreibtisch zu entthronen und in das Verlies irgend einer dunkeln Schublade zu verbannen. Aber dann denke ich wieder, daß es keinem Menschen schaden kann, wenn er dauernd ein Memento vor Augen hat. Und in dieser Hinsicht erfüllt die grünäugige Sphinx ihre Aufgabe. Erinnert sie mich doch an die arme Unglückliche, die sie mir sterbend einst als Andenken in die Hand gedrückt hat, hoch oben in den Bergen, als ich für immer von ihr Abschied nahm. Und erinnert mich zugleich an den verewigten Freund, an dessen Uhrkette ich sie eines Tags zu meiner peinlichen Überraschung hängen sah, und der sie vermutlich zum Siegeln benutzt hatte. Im Grunde genommen ist sie nämlich nichts weiter als ein Petschaft. Und vielleicht waren es nur meine eigenen unbeaufsichtigten Gefühle, die -- wenigstens zuzeiten und in gewissen Augenblicken -- die Vorstellung des Unheimlichen oder gar Übelwollenden in die stumme kleine Gestalt hineintrugen. Dann hätte ich ihr freilich bitter unrecht getan. Konnte sie denn etwas dafür, daß die Initialen +K+ und +S+, die in kunstvoller Verschlingung auf ihrer unteren Fläche in den Stein geschnitten sind, zufällig mit den Anfangsbuchstaben des Namens Karl Schudas, meines verstorbenen Freundes, übereinstimmten? Aber manchmal sind wir wie die Kinder, die die Tischecke für boshaft halten und nach ihr schlagen, weil sie sich daran gestoßen haben. Auf alle Fälle habe ich mich inzwischen an den Anblick der kleinen schwarzen Sphinx gewöhnt. Sie ist mir allmählich zum Sinnbild geworden, das mich stetig daran mahnt, wie leicht in Zeiten schwankender Begriffe selbst der Hochstehende und im Grunde Vornehmdenkende auf Abwege geraten kann. Darum soll sie auf meinem Schreibtisch stehenbleiben. Und soll mir, sooft ich sie erblicke, das Schicksal jener beiden Heimgegangenen ins Gedächtnis zurückrufen, deren Verlust ich, so wenig ich ihre Überzeugungen teilen und ihre Handlungen billigen konnte, aufs schmerzlichste beklage. Sie haben gebüßt und gesühnt, ich halte ihr Andenken in Ehren. Bei all ihren Verfehlungen waren sie doch Entschlossene, sie weigerten dem Leben nicht den harten Zoll, durch den wir uns die Freiheit erkaufen, uns selbst und die als eingeboren empfundene Sendung zu erfüllen. Und wenn ich an sie zurückdenke, den Blick von meiner Arbeit hebe und die kleine schwarze Sphinx aus Basalt vor mir über dem Schreibtisch erblicke, wie sie mich mit ihrem grünschillernden Augenpaar so kalt und starr, fast drohend anfunkelt, dann kommt es mir wohl einmal in den Sinn, ihr jene dunkle Schicksalsfrage vorzulegen, mit der sich einst, in einer dufterfüllten Frühlingsnacht, die unglückliche Frau, die durch die Schuld zum Leben erweckt wurde, an die tausend fühllosen Sterne wendete, die wie ebenso viele unergründliche Geheimnisse über uns am Himmel standen: »Ist Leben und Schuldigwerden vielleicht ein und dasselbe?« Aber ich weiß es im voraus: ich frage vergebens. Die kleine düstere Gestalt bleibt stumm und gibt keine Antwort ... Der Mieter Es wird behauptet, daß der stete Umgang mit Zahlen verknöchert, das ist aber gar nicht richtig. Wenigstens nicht immer. Es kommt dabei wie bei so vielem ganz auf den betreffenden Menschen an. Herr Pleß war eine so liebenswürdige Natur, daß er auch mit den Zahlen liebenswürdig umging. Und darum taten auch sie ihm nichts zuleide. Schon als Praktikant, später als Offizial und noch später als Oberoffizial trug er sie so reinlich, sorgfältig und behutsam in die riesigen Kassa- und Kontrollbücher ein, daß sie selbst ihre Freude daran hatten. Wie Soldaten, die voll Zutrauen zu ihrem Vorgesetzten aufblickten, standen sie stramm in Reih und Glied, und niemals kam es vor, daß sich eine in eine falsche Spalte verirrte. Sie nahmen sich ordentlich zusammen, ihm nur ja keine Ungelegenheiten zu bereiten. Und das taten sie alles nur ihm zuliebe. Weil sie nämlich wußten, daß er sie nicht geringschätzte wie mancher andere Beamte. Weil sie ein Gefühl dafür hatten, daß er sich nicht bloß aus dem schnöden Grunde mit ihnen beschäftigte, um sein Gehalt zu beziehen. Sie spürten es genau: er hatte Freude an seiner Tätigkeit, wenn es auch keine sehr geistreiche Tätigkeit war. Nein, eine geistreiche, irgendwie hervorragende Tätigkeit war es wirklich nicht, die Herrn Pleß oblag, aber bis zu einem gewissen Grade läßt sich beinahe jeder Arbeit Reiz abgewinnen, es kommt nur auf den Geist an, in dem man sie verrichtet. Herr Pleß hatte viele Amtsgenossen, und die meisten waren verdrossen. Über alles was sie zu tun hatten, schimpften sie und nannten ihren Beruf ein Saugeschäft. Rein verblöden müsse der Mensch dabei, wenn man sich nicht wenigstens soweit, als es ohne Gefahr einer Disziplinierung geschehen könne, um den Dienst herumzudrücken wisse. Das war so ungefähr die allgemeine Meinung. Wenn er dergleichen äußern hörte, dann sah der Herr Rechnungsrat -- denn das war Pleß nach und nach geworden -- den Betreffenden ganz erschrocken und bekümmert an und sagte voll Gutmütigkeit: »Aber lieber Herr Kollege! Verbittern Sie sich doch nicht das Dasein!« Es kam freilich vor, daß auch er bei der trockenen Arbeit schwitzte -- wie das öde Wandern durch eine endlose Wüste war es manches Mal! Aber nebenher bereitete es ihm doch immer ein gewisses Vergnügen, alles so schön und sauber in Ordnung zu halten. Man spürte dabei, daß man nicht ganz überflüssig war. Wenigstens für ein winziges Rädchen oder Schräubchen an der großen Maschine durfte man sich immerhin halten. Und das war schließlich doch auch etwas! Die Kollegen tuschelten untereinander: es könne nicht anders sein, der Pleß müsse irgend einer geheimen Leidenschaft fröhnen. Er rauchte nicht, er spielte nicht, er trank nicht, er saß nicht im Gast- oder Kaffeehaus, er ging in kein Theater, trieb keine Musik, machte nur selten einen Ausflug, verbrachte sogar seinen Urlaub in der Stadt -- du lieber Himmel, irgend etwas muß der Mensch doch haben, um sich von den Zahlen und der Familie zu erholen. Damit hatten sie wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Herr Oberrechnungsrat -- diese letzte Stufe seiner Leiter erklomm er kurz vor Ausbruch des Krieges -- sammelte insgeheim Bücher. Nicht etwa Vorzugsdrucke in kostbaren Einbänden -- beileibe! Dazu reichte es nicht. Er begnügte sich mit guten landläufigen Ausgaben: Klassiker, Romantiker und jüngere Schulen, Antike und Moderne, Inländer und Ausländer, vieles nur in Reclambändchen -- wie wohlfeil damals und dabei ganz nett! So hatte er im Verlauf einer bald fünfunddreißigjährigen Dienstzeit ein ganzes Zimmer seiner Wohnung mit Büchern austapeziert. In diesen Geistesschätzen steckten die Zigarren, die er nicht rauchte, das Kaffeehaus, das er nicht besuchte, die Sommerfrische, auf die er verzichtete. In ihnen fand er das Gegengewicht gegen die Zahlen. Er liebte sie, um die Wahrheit zu gestehen, doch noch mit einer ganz anderen Liebe als diese. Und wenn er ein Buch aus dem Regal nahm, oder wieder einstellte, dann tat er es noch um vieles behutsamer und sorgfältiger, als wenn er lange Kolonnen von Ziffern aneinanderreihte. Aber er verheimlichte seinen Besitz und die Neigung, die ihn veranlaßt hatte ihn aufzustapeln. Das war das einzige Geheimnis, das er hatte. Er kannte sich zur Genüge, um zu wissen, daß er nicht hätte nein sagen können und völlig wehrlos gewesen wäre, wenn jemand ihn um ein Buch angesprochen hätte. Nun, und was das Ende davon ist, wenn man ein Buch verleiht, das wußte er auch. Darum verriet er sich mit keinem Sterbenswörtchen und ließ es niemand merken, wie belesen er war. Manchmal fiel es ihm schwer genug, sich so geschickt zu verstellen, es gab Augenblicke, wo er sich fast wie ein Betrüger vorkam. Es war aber auch die einzige Hinterhältigkeit gegen Amtsgenossen und sonstige Mitmenschen, die in seinem wohlwollenden und grundgütigen Herzen einen Boden fand. Das Zimmer, in dem die Bücher standen, hieß das Bücherzimmer, und das war wie ein Heiligtum. Am Abend saß er dort mit seiner Frau und seinen beiden Kindern und las ihnen vor. Die großen Geister der ganzen Welt kamen dann in die bescheidene Beamtenwohnung zu Besuch. Wenn ja einmal etwas wie Verdrossenheit ihn anzuwandeln drohte, so fanden sie sich pünktlich ein, ihn aufzurichten. Sie trösteten ihn, wenn Sorgen ihn beunruhigten, und wenn die Zahlen einmal zudringlich wurden und ihn bis in seine Häuslichkeit verfolgen wollten, so machten sie husch! und scheuchten sie weit fort. Das Beste an der Sache aber war, daß sie ihm halfen, seine Kinder erziehen. Nein, sie halfen ihm nicht nur dabei, sie übernahmen sogar selbst das schwierige Amt der Erziehung. Er konnte völlig davon absehen, Predigten zu halten, oder überhaupt etwas zu sagen, und das paßte ihm gerade. Er zog es ohnedies vor zu schweigen, von Haus aus war er schwer von Ausdruck und redete nicht gerne, wenn es nicht unbedingt nötig war. Und hier war es wirklich nicht nötig, die Führer der Menschheit in eigner Person nahmen es ihm ab, sie sprangen für ihn ein, ergriffen an seiner Statt das Wort. Er brauchte weiter gar nichts tun als vorlesen, alles andere besorgten die hohen Seelen, die er in sein geheimes Bücherzimmer zu Gast lud. Und sie widmeten sich ihrer Aufgabe mit solcher Gewissenhaftigkeit und Hingebung, daß Herrn Plessens Kinder mit der Zeit zu prächtigen jungen Leuten heranwuchsen und aus dem Knaben, ehe der Vater sich dessen recht versah, ein gesunder, freudiger, herzensreiner Jüngling von seltener Tüchtigkeit, aus dem Mädel aber eine ebensolche Jungfrau geworden war. Eben in jenem Vorkriegswinter, wo Herr Pleß nach langem, beharrlichem Warten und wiederholten Enttäuschungen endlich zum Oberrechnungsrat vorgerückt war, trat leider auch ein sehr trauriges Ereignis ein, das ihm jede Freude an der wohlverdienten Beförderung zerstörte. Das Schicksal brach ein Blatt aus dem vierblättrigen Klee der wackeren, frohgemuten Familie, die Gattin und Mutter schied aus dem still verborgenen Abendkreise des Bücherzimmers. Gerade jetzt, wo sie eine Frau Oberrechnungsrat gewesen wäre und sich ein bißchen leichter hätte tun können! Denn das Gehalt war all die Jahre hindurch recht knapp gewesen, und es mußte doch auch noch immer etwas übrigbleiben für die Bücher. Das Vorlesen, als er es nach einiger Zeit wieder aufnahm, kam Herrn Pleß jetzt hart an. Die arbeitsamen Hände unter der Lampe fehlten, und wenn er vom Buch aufblickte, so vermißte er das zustimmende Lächeln, das aufleuchtende Auge, das ihn sonst ermuntert hatte, fortzufahren. Nun hieß es, sich ausschließlich an die Jugend halten. Dort gab es freilich auch noch bereitwilliges Verständnis genug -- aber es blieb eben die Jugend, die lebt wieder ihr eigenes Leben. So ganz das gleiche und restlose Übereinstimmen wie früher war es jetzt doch nicht mehr. Wie zufrieden indessen hätte er immerhin noch sein können -- erst nachträglich sah er es ein -- wäre wenigstens diesem Zustand Dauer beschieden gewesen! Aber nur allzubald, so stand es in Herrn Plessens Schicksalsbuch geschrieben, sollte das Vorlesen überhaupt ein Ende nehmen. Mit seiner blutigen Knochenhand griff der Krieg ins stille Bücherzimmer und riß die Jugend von der Seite des Vaters. Nun fehlten auch die frischen, aufmerksam lauschenden Gesichter unter der Lampe, und der Herr Oberrechnungsrat war stumm geworden und saß allein am vereinsamten Lesetisch. Verschlossen und gequält saß er da und las und las -- aber selten und immer seltener ein Buch. Dazu fehlte die Sammlung, die Tagesereignisse rissen an den Nerven, das Herz schnürte sich ihm zusammen. Die Seelennot war zu drängend, die Verirrung der Menschheit zu groß, als daß die führenden Geister ihr Antlitz nicht abgewendet hätten. Sie verstummten, ebenso wie Herr Pleß verstummt war, hüllten sich in Schweigen, weil auch sie nicht mehr zu raten und zu helfen wußten. So las er jetzt fast nur mehr Zeitungen, immer nur Berichte aus dem Feld, immer wieder nichts als Zeitungen. Die Tagesereignisse schrien so laut, daß sie alles andere übertönten, und so peinigend dieses Geschrei auch war, man legte die Hand ans Ohr und horchte, damit einem nur ja nichts entgehe, und lauschte voll Spannung, um auch den letzten, den fernsten, den dunkelsten Unterton noch mit zu erlauschen. Oh, wenn man den Tagesereignissen hätte entfliehen können! Denn hinter ihnen lag das Unheil auf der Lauer und das Entsetzen. Zweimal hintereinander, im kurzen Abstand von kaum zwei Jahren zuckte erbarmungslos der Blitzstrahl aus dem Zeitungsblatte und traf Herrn Pleß ins Vaterherz. Seit sein Sohn bei Limanowa gefallen war, schien der Oberrechnungsrat die Zahlen nur noch lieber gewonnen zu haben als sonst. Von früh bis spät brütete er über Aktenbündeln und Bureauscharteken, in manche rubrizierte Spalte trug er mit seiner zierlichsten Schrift ganze Heersäulen von Ziffern ein. Vom Essen und Schlafen abgesehen, saß er fast ununterbrochen im Amt. In dieses war kürzlich ein neuer Kollege eingetreten, ein Anfänger und Stellenanwärter, dem Pleß sich gefällig erwiesen hatte. Denn obgleich gewisse Bedenken gegen die Aufnahme vorlagen, so hatte seine Gutmütigkeit ihn veranlaßt, sich wohlwollend für den jungen Menschen einzusetzen und ihm den Weg zu ebnen. Dieser Herr Scheinemann stellte ihn einmal wegen seines Fleißes gewissermaßen zur Rede, indem er fragte: »Sie lassen sich doch Überstunden ersetzen, Herr Oberrechnungsrat?« Herr Pleß hob den Blick vom Schreibtisch und richtete ihn ganz verloren auf den Fragenden. Es waren Augen fast wie die eines Verrückten, mit denen er ihn anstierte. »Freilich! Natürlich! Überstunden!« sagte er höflich ... »Bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten ...« Und mit einer unzweideutigen Handbewegung wendete er sich wieder seiner Arbeit zu. Der ungeheuer gesteigerte Amtseifer war übrigens nicht von allzulanger Dauer. Er erlahmte, brach gleichsam in sich selbst zusammen unter dem Eindruck der Nachricht, daß auch das zweite Kind, die Tochter, dem Kriege zum Opfer gefallen war. Pflegeschwester auf einem galizianischen Samariterzug, hatte sie sich mit Typhus angesteckt und wochenlang nichts mehr von sich hören lassen. Bis schließlich die Todesnachricht eintraf. Kurze Zeit danach fand ein gebückter, zusammengeschrumpfter, weißhaariger alter Mann sich im Amte ein, der zuständigen Stelle ein sauber mundiertes Schriftstück zu überreichen. Es war Plessens letzte amtliche Eingabe, sein Gesuch um Übernahme in den dauernden Ruhestand. Er hatte sein Bett ins Bücherzimmer stellen lassen und lebte darin wie eine Raupe, die sich eingesponnen hat. Tag und Nacht blieb er mit seinen Erinnerungen allein und mit den erlauchten Gästen, die sich nun wieder häufig zum Besuch bei ihm einfanden, ohne daß doch jemals die Flurglocke gezogen worden wäre. Zeitungen las er jetzt überhaupt nicht mehr -- was frommte es ihm, sein eigenes Leid verhundert-, vertausendfältigt darin widergespiegelt zu sehen? Höchstens daß er ab und zu einmal im Vorbeigehen einen Blick auf die Blätter warf, die an der Glastür eines kleinen Tabakladens ausgehängt waren, an welchem sein Morgenspaziergang ihn vorüberzuführen pflegte. Denn täglich machte er nun, während das Bücherzimmer aufgeräumt wurde, einen kleinen Rundgang durch die nächstgelegenen städtischen Gassen und Straßen, um doch auch ein wenig an die Luft zu kommen. Die alte Resi, die Köchin, bestand darauf, weil sie es seiner Gesundheit für zuträglich hielt, und wenn er sich einmal um seinen Morgenweg herumdrücken wollte, so wußte sie ihm mit Besen und Staubtuch so lästig zu werden, daß er schließlich doch nach Hut und Stock griff. Die Möglichkeit, sich inzwischen in ein anderes Zimmer zurückzuziehen, hatte er sich selbst abgeschnitten. Die beiden Kammern, die von seinen Kindern bewohnt worden waren, hatte er abgesperrt, ebenso die größere Stube, die sein und seiner Gattin Schlafzimmer gewesen war. Alles sollte unberührt darin bleiben, wie es einst gewesen. Ihm selbst genügte das Bücherzimmer. Mehr benötigte er für sich allein nicht. Die alte Resi, die schon seiner Frau seit Jahren in Treue gedient hatte, führte ihm die bescheidene Wirtschaft, und er konnte von Glück sagen, daß die brave Person ihre Anhänglichkeit an die Verewigte nun auch auf ihn übertrug. Sie kannte seine Gewohnheiten, redete nicht viel und sparte in seine Tasche. Das war notwendig und wurde immer nötiger mit den zuwachsenden Jahren. Denn die Zahlen schienen es ihm nachzutragen, daß er sie im Stich gelassen hatte. Sie rächten sich, indem sie sich auf seinen Pensionsbezug warfen und es zu deichseln wußten, daß dieser auf einmal nur mehr die Hälfte von dem wert war, was er früher wert gewesen. Anfangs meinte er, es würde sich bald bessern, da er in den Zeitungen an der Tür des Tabakladens fettgedruckte Aufschriften gelesen hatte, aus denen er glaubte den Schluß ableiten zu dürfen, daß die Welt wieder friedlich geworden sei. Hier und da kaufte er sich jetzt sogar das eine oder andere von diesen Blättern. Aber was darin stand, erbaute ihn wenig, darum verzichtete er bald wieder auf das Vergnügen, nähere Bekanntschaft mit den Tagesereignissen zu machen. Bevor es keinen wirklichen Weltfrieden gäbe, beschloß er, so lange würde er nach wie vor keine Zeitung mehr lesen. Es kostete ja auch jede einzelne Nummer jetzt bald so viel wie früher ein ganzer Monatsbezug. Nein, den Rummel machte er nicht mit! Er konnte warten, bis die Tagesereignisse wieder Vernunft angenommen hätten. Damit machte er sich aber auch die Tagesereignisse zu Feinden. Sie verübelten es ihm, daß er sie mit Geringschätzung behandelte, und verbündeten sich mit den Zahlen, die ihm ebenfalls noch immer aufsässig waren, zu dem gemeinsamen Ziel, ihn ihre Macht fühlen zu lassen. Und da seine Behausung ihnen verschlossen blieb, so verfolgten sie ihn wenigstens mit ihren Nachwirkungen und Ausstrahlungen. Denn für diese gab es keine Hindernisse, durch jede Türritze und jedes Schlüsselloch wußten sie sich zu stehlen, unaufhaltsam sickerten sie durch die dicksten Mauern, Beunruhigung verbreitend bis in den letzten Winkel und jedermann die bittersten Entbehrungen auferlegend. So drangen sie allmählich sogar ins stille Heiligtum des Bücherzimmers ein und überreichten Herrn Pleß ihre Visitenkarte! Der setzte die Brille auf, las und schüttelte den Kopf. Denn es stand darauf geschrieben: Die Not und das Elend eines nicht eigentlich besiegten, aber um so schmählicher betrogenen Volkes. Herr Pleß wunderte sich. So ungefähr wußte er ja, wie schlimm es um die Allgemeinheit stand. Aber was konnte er, der alte, gebrochene Mann, noch tun, ihr zu helfen? Sein Teil Arbeit hatte er geleistet, die Opfer ohne Murren dargebracht, die Leben und Zeit ihm auferlegt. Nun verlangte es ihn nach Ruhe und Sammlung für den Abend. Darauf wenigstens meinte er Anspruch zu haben. Wem stünde das Recht zu, ihn in seiner freiwillig gewählten Einsamkeit zu behelligen? O du weltfremdes gläubiges Gemüt! ... Er ahnte noch nichts davon, daß es auch auf einer Robinsoninsel ungemütlich werden kann, wenn sie innerhalb der Grenzen eines geordneten Staatswesens liegt. Daß die Teuerung ins Märchenhafte wuchs und sein Ruhegenuß jetzt nur mehr ein Zehntel, vielleicht nur mehr ein Fünfzigstel wert war, das nahm er noch gelassen hin. Seine eigenen Bedürfnisse waren immer gering gewesen, schließlich konnte er den Riemen auch noch enger schnallen, es lag ihm für seine Person nicht eben viel daran. Aber der alten Resi, die sich den ganzen Tag mit der Wirtschaft abplagte, der hätte er eine bessere Ernährung vergönnt. Und einmal faßte er sich sogar ein Herz und redete ihr zu, doch etwas besser für sich selbst zu sorgen, er würde es schon zustande bringen, dem Wirtschaftsgeld noch eine Kleinigkeit zuzulegen. Damit kam er aber an die Unrechte, denn sie fuhr ihm sofort derb über den Mund: Ob er verrückt geworden sei, daß er sein Geld den Preistreibern in den Rachen werfen wolle? Nein, dafür müsse er sich eine andere suchen, dazu gebe sie sich nicht her, lieber gewöhne sie sich das Essen noch ganz ab; bei ihr sei es ohnedies mehr oder weniger nur eine schlechte Angewohnheit, ganz anders als bei ihm, der es nötig hätte, das viele Hirnschmalz wieder zu ersetzen, das er mit seiner übertriebenen Bücherleserei verbrauche. Darum möge er nur vor seiner eigenen Tür kehren, die paar Schüsserln, die sie ihm vorsetze, kämen jedesmal voller wieder heraus, als sie sie hineingetragen, das sei eine Beleidigung für eine Köchin! Und überhaupt -- um sie brauche er sich nicht zu scheren, sie wisse schon selbst, was sie zu tun hätte, und wie es der seligen Frau recht wäre, wenn sie noch das Leben hätte. Die würde sich auch zu gut dafür sein, um bei Wucherern und Schleichhändlern fechten zu gehen, anstatt sich mit dem zufrieden zu geben, was unser Herrgott eben beschert hätte. So lange hatte er sie noch nie in einem Zuge sprechen hören, und es war ehrenwert und gesinnungstüchtig gesprochen, zweifelsohne! Aber sie fiel vom Fleische, und wenn eine Köchin einmal aus der Form kommt, so gibt das immer zum Nachdenken Anlaß. Übrigens bekümmerte den Oberrechnungsrat vielleicht mehr noch als die Sorge, wie er seine Resi in Form halten könne, der Umstand, daß er keine Bücher mehr zu kaufen imstande war. Nein, dazu war er wirklich nicht mehr imstande, das konnte man einfach nicht mehr, Bücher zu kaufen war ein Ding der Unmöglichkeit geworden! Schade! Jammerschade um die liebe, heiße, harmlose kleine Leidenschaft! Das Leben wurde zusehends kahler. Ja, die Tagesereignisse, die sich mit den Zahlen verbündet hatten! Man spürte den sogenannten Frieden in allen Gliedern. Ach, die Bedauernswerten, die sich nicht rechtzeitig mit Büchern »eingedeckt« hatten! Die mochten nun darben. Und vor Sehnsucht vergehen. Und geistig verhungern. Für Herrn Pleß bestand diese Gefahr nicht. Auf Zuwachs freilich hieß es jetzt verzichten, auf das wonnige Herumschmökern in den Buchläden, auf das feierliche Einreihen eines neuen Bandes -- wieviel Farbe hatte das alles in sein Leben gebracht! Vorbei! Dahin wie so vieles andere! Aber da standen ja noch dicht gereiht bis zur Decke hinauf die wohlgefüllten Regale. Und es waren nur wenige Bände darunter, die man nicht gerne von vorne wieder anfing, wenn man am Ende angelangt war. An Lesestoff mangelte es noch lange nicht. Auch diese Entbehrung blieb also im Grunde erträglich. Herr Pleß hatte beschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Man mußte sich eben in die Verhältnisse schicken. Vor so nichtigen Feinden, wie es die Zahlen und die Tagesereignisse waren, kapitulierte er noch lange nicht. Er saß in seinem Bücherzimmer und las. Und dabei übersah er es gänzlich, daß noch düsterere Wolken sich über seinem Haupte zusammenzogen. Die bitterste aller Friedensnöte hatte er noch gar nicht kennengelernt, das stand ihm erst noch bevor. Bis jetzt wußte er nichts davon, daß es außer der mangelhaften Ernährung und der Unmöglichkeit, Bücher zu kaufen, auch noch etwas viel Schlimmeres gab, das einen ahnungslosen Staatsbürger heimsuchen konnte. Etwas ganz Unvorhergesehenes, das gerade ihm fast unerträglich erscheinen, ihn beinahe in Verzweiflung stürzen mußte. Mit allem anderen war es seiner Langmut gelungen, sich gutwillig abzufinden, gerade dieses Opfer aber, das ihm jetzt noch aufgebürdet werden sollte -- ein jeder, der Herrn Pleß kannte, hätte es voraussehen können -- das mußte gerade er als den schwersten Schlag empfinden, der ihn seit dem Heimgang seiner Lieben betroffen. Und dies war wohl auch der unbewußte Grund, weshalb er wie im geheimnisvollen Vorgefühl von etwas Bedrohlichem schreckhaft zusammenfuhr, als an jenem Morgen, da er gerade wieder lesend im Bücherzimmer saß, die Flurglocke läutete. Damit fing nämlich die Sache an. Wie selten kam es doch vor, daß die Klingel bei ihm gezogen wurde! Wer konnte es sein, der ihn aufsuchen kam? Was begehrte man von ihm? So fragte er sich ganz bestürzt. Denn gleich vom ersten Augenblick an war er über diesen herrischen, herausfordernden Klingelton zu Tode erschrocken, ohne eigentlich zu wissen weshalb. Es war wie eine unerklärbare Vorahnung der Dinge, die da kommen sollten. Und diese merkwürdige Beklemmung, die ihn plötzlich befallen hatte, erwies sich auch leider nicht als trügerisch. Denn nur zu bald sollte er erfahren -- aber damit beginnt nun ein ganz neuer Abschnitt in Herrn Plessens Leben. Eines Morgens also läutete es, und ein paar Herren ließen sich bei ihm melden, gleich ihrer drei oder vier oder gar fünf waren es. Ob sie sich die Freiheit nehmen dürften, die Wohnung zu besichtigen? Überaus höflich benahmen sie sich, verdächtig genug! »Ja, wieso denn? Die Wohnung --« »Bitte, hier die Legitimation.« Himmel! Die städtische Wohnungskommission! Dem Herrn Oberrechnungsrat fuhr nun erst recht der Schreck in alle Glieder. Er zitterte wie das Laub der Silberpappel im Sommerwind, während er die bedauerlicherweise unbewohnten Zimmer aufschloß und die Herren hindurchgeleitete. Diese schienen übrigens ihre Zeit für recht kostbar zu halten. Eilfertig trampelten sie, den Straßenkot auf acht oder zehn schmutzigen Stiefelsohlen hereintragend, durch die Zimmer und richteten im Vorbeigehen nur wenige knappe Fragen an den Hausherrn. Mit bangem Stottern erteilte Herr Pleß die geforderten Auskünfte. »Jawohl, dies ist das Schlaf -- das Schlaf --« »Sie sind Witwer?« »Leider, leider!« »Alleinbewohner?« »Allein. Das heißt, ich und die ... Resi ...« »Wer ist die Resi?« »Meine Köchin ... meine Köchin. Eine überaus brave ...« »Besten Dank! Hausgehilfinnen zählen nicht.« Sie setzten ihren Weg fort und trampelten weiter. »Und hier?« »Die Kammer meiner Tochter ... meiner ...« »Ihrer Tochter --?« »Jawohl, meiner Tochter ... meiner verstorbenen ...« »Also unbewohnt. Bitte zu notieren.« Einer von den Herren machte eifrig Notizen, die anderen waren bereits bis in den nächsten Raum vorgestoßen und nahmen ihn in Augenschein. »Scheint ebenfalls unbewohnt,« sagte einer. »Hat einen separaten Ausgang ins Vorzimmer,« bemerkte ein anderer. »Und dieses Zimmer?« wendete der Herr, der offenbar der Führer der Kommission war, sich an Pleß. »Hier wohnt mein Sohn ... das heißt wohnte, wohnte! ... Er ist nämlich ... er hatte das Unglück ... im Krieg ... leider! ... Bei Limanowa ...! anno ...« »Bitte wir wollen nicht länger aufhalten. Unsere Zeit ist knapp bemessen.« Er zog die Uhr. »Es handelt sich vorerst bloß um einen allgemeinen Überblick.« »Eins -- zwei -- drei!« zählte eines der Kommissionsmitglieder, und der Protokollführer schrieb auf. »Die Außenräume, wenn's erlaubt ist?« Und schon zogen sie weiter und kehrten ins Vorzimmer zurück. »Das ist die Magdkammer, nicht wahr?« »Jawohl, die Magd ... die Magd ... die vorhin erwähnte Köchin ... meine Hausgenossin ... Eine äußerst verläßliche, brave Person ... Möchte auch schon gern ihre Ruhe ... natürlich ... Wenn man alt wird! ...« »Dies die Küche?« Einer der Herren stieß die Tür auf. Die Resi hob den Blechdeckel von einem Reindl und stand in Dampf gehüllt. Mit einem ungeheuren Krach tschinellte sie hierauf den Deckel aufs Reindl zurück. Es klang wie ein Böllerschuß. Schleunigst zog der neugierige Herr die Küchentür wieder ins Schloß. »Und hier, die Tür nebenan?« »Eine Badegelegenheit ... bitte sich zu überzeugen ... Ein ganz kleines ... bescheidenes ...« »Badezimmer bleiben von der Anforderung unter allen Umständen ausgeschlossen,« sagte der Wortführer der Kommission mit einem beruhigenden Lächeln und machte zu Herrn Plessens freudiger Überraschung bereits Miene, sich wieder zu verabschieden. »Entschuldigen Sie die Störung, es war leider unsere Pflicht ... Sie wissen ja, ein amtlicher Auftrag ...« »O, bitte, bitte, gar nicht, nicht im geringsten! Im Gegenteil! Es war mir ein ganz besonderes ...« Nie hätte er zu hoffen gewagt, daß es so rasch und glatt ablaufen würde. Zuvorkommend begleitete er die Herren bis an die Wohnungstür. Erst im letzten Augenblick nahm er sich ein Herz und fragte schüchtern: »Ich darf wohl hoffen --? Ich weiß nicht, wie viele Zimmer man eigentlich --?« »Der Wohnungsausschuß wird darüber entscheiden,« sagte der Sprecher der im Abgehen begriffenen Versammlung ziemlich zugeknöpft. Und dann trappten sie auch schon wie ein halbdutzend Pferde die Treppe hinunter und waren fort. Die Resi stürzte aus ihrer Küche hervor. »So eine Frechheit! Was wollen denn die? Mir nichts, dir nichts in einer fremden Wohnung herumzuspazieren! Ist das eine Manier? Daß sie mir nicht in den Suppentopf geguckt haben -- sonst alles! Nein, da hört sich denn doch die Gemütlichkeit auf!« »Das Bücherzimmer haben sie ganz übersehen!« frohlockte der Oberrechnungsrat, sich die Hände reibend. Das Bücherzimmer lag zunächst dem Eingang. Wirklich war die Kommission, offenbar in dem Bestreben, möglichst in die Tiefe zu dringen, ahnungslos daran vorbeigegangen. Auf den ersten Blick in einer fremden Wohnung sich zurechtzufinden, ist nicht ganz leicht, vielleicht hatte auch jeder der Herren sich auf den anderen verlassen. Kurz, die Existenz des Bücherzimmers war ihnen in der Tat gänzlich entgangen. Und Herr Pleß selbst hatte in seiner Aufregung vergessen, sie eigens darauf aufmerksam zu machen. Das Bücherzimmer war sein Wohn-, Schlaf-, Empfangs-, Speise- und Studierzimmer, bezüglich dieses Zimmers fühlte er sein Gewissen rein. All seine Gedanken und Sorgen hatten gleichsam wie mit schützend ausgebreiteten Armen vor den unbewohnten Teilen der Wohnung, als der eigentlichen Zone der Gefahr, Aufstellung genommen. Nachträglich stiegen ihm Bedenken auf, ein Wurm nagte ihm am Herzen, er ängstigte sich. »Vielleicht hätte ich ihnen doch auch das Bücherzimmer --? Wer weiß, am Ende gibt es ein Gesetz, und ich wäre verpflichtet gewesen ...« »Ach was, verpflichtet! Diesen Schurln gegenüber gibt es keine Verpflichtung. Schaun Sie den Fußboden an! Die halbe Straßen haben sie hereingetragen mit ihren dreckigen Stiefeln. Liegt nicht eine Dacken vor der Tür? Hausfriedensbruch ist das!« »Wenn sie mich gefragt hätten,« meinte Herr Pleß nachdenklich -- »verheimlichen hätte ich's freilich nicht dürfen. Aber sie haben mich ja gar nicht gefragt! Ich bin nicht schuld daran, wenn sie unsere Wohnung für eine Dreizimmerwohnung halten, ich nicht! Sie hätten ja fragen können: Wie viele Zimmer haben Sie? Nicht wahr? Dann hätte ich natürlich geantwortet: Vier! Aber wenn sie nicht einmal fragen --!? No also! Da können sie mir doch auch nichts vorwerfen?« Da die Resi selbstverständlich der gleichen Meinung war, so beruhigte er sich nach und nach damit und freute sich im stillen, daß er nur mit drei Zimmern auf dem Papier stand, ohne daß man ihm doch einen Strick daraus würde drehen können. Jeden Morgen, wenn die Resi ihm das Frühstück brachte, sagte er jetzt: »Resi, ich glaube, wir sind aus dem Wasser!« Und er erging sich in Vermutungen, wie die Herren vom Wohnungsausschuß in einer ihrer Sitzungen seinen Fall besprechen, dieses und jenes zu seinen Gunsten ins Treffen führen und schließlich zu dem Ergebnis gelangen würden, daß man einem schwergeprüften vereinsamten alten Manne und verdienstvollen Beamten, wie er es war, drei Zimmer zum Bewohnen (denn das vierte hatten sie ja nicht entdeckt, hi, hi, hi!) immerhin zubilligen müsse. Sie hörte geduldig zu und schloß daraus mit dem Scharfblick einer Köchin, daß er schlaflose Nächte hatte und sich vor einer Anforderung fürchtete. Eines Morgens sagte er wieder: »Sieh, Resi, ich glaube, wir sind wirklich aus dem Wasser!« Da meinte sie: »Ich an Ihrer Stelle, Herr Oberrechnungsrat, wissen Sie, was ich tät'? Ich ging' aufs Wohnungsamt hinein und tät' den Schurln sagen: Die paar Zimmer, die so ausschauen, als ob sie unbewohnt wären, die sind gar nicht unbewohnt. Im Gegenteil! Denn da drin wohnen die Verstorbenen, die bleiben bei mir, solang' ich noch das Leben hab', und darum müssen auch die Zimmer bei mir bleiben. Verstanden? Und dann tät' ich ihnen auch noch sagen, daß Sie ein Büchernarr sind und eselsmäßig viel solche Staubfänger an allen Wänden herumstehen haben, bis zum Plafond hinauf. No, und daß Bücher einen Platz brauchen, wenn man sie aufstellen will, das werden sogar die Herren vom Wohnungsamt einsehen. Denn wenn sie keinen Platz mehr hätten, so müßt' man sie rein übereinander und hintereinander stellen, und dann hört sich ein Abstauben überhaupt auf. So -- das tät' ich ihnen ordentlich unter die Nasen reiben! -- Daß aber für die Bücher ohnedem das Bücherzimmer da ist,« fügte sie noch hinzu, »das tät' ich ihnen deswegen noch lang nicht verraten, das geht diese Gschwufen gar nix an! Augen haben sie -- wenn sie's nicht selber g'sehn haben, so ist das ihre eigene Schuld!« Diese entschlossene Rede leuchtete Herrn Pleß ganz außerordentlich ein. Seit dem Besuch der Kommission hatte er sich in einem Zustand ständiger Erregung befunden. Jeden Augenblick zitterte er, es könnte wieder läuten und irgend eine Amtsperson hereinspazieren, oder ein schnödes Schriftstück auf miserablem Papier abgegeben werden, das ihm im Handumdrehen ein paar Zimmer wegnahm, ihm seine Ruhe raubte, die gezählten Tage seines Alters vergällte. Die Furcht, die Ungewißheit, das bange Harren und Warten hatten ihn fast krank gemacht. Nur diesem Zustand der Benommenheit ist es zuzuschreiben, daß er sich beim Fortgehen eine Stilblüte leistete, wie sie seiner schlichten Ausdrucksweise sonst gänzlich ferngelegen hätte. Denn während er nach Hut und Stock langte, sagte er noch zur Resi: »Es bleibt wirklich nichts anderes übrig, ich muß dieses Damoklesschwert bei den Hörnern packen.« Der Beamte im Wohnungsamt beäugte ihn feindselig. »Ja, ja, ich weiß schon, da ist ja der Akt. Drei Zimmer! Nur gleich drei Zimmer für einen einzigen einschichtigen Witwer! -- Ja, haben Sie denn keinen Funken von sozialem Verständnis?« herrschte er ihn an. O du heiliger Sebastian, wenn der auch noch etwas vom vierten Zimmer geahnt hätte! Beschämt und betreten stammelte Herr Pleß etwas von Erinnerungen an seine Frau, seine Kinder und von den vielen Büchern, die er besäße, eine ganze Bibliothek ... »Stellen Sie Ihre Bücher ins Dienstbotenzimmer!« brummte der Beamte ungehalten. Und er fuhr fort, ihm die Hölle heiß zu machen, ihn als einen hartherzigen Selbstsüchtler hinzustellen, ihm das Elend der Unterstandslosen zu schildern und den Teufel einer besonders drangsalierenden Einquartierung an die Wand zu malen, wenn er sich einfallen ließe, an Rekurse oder Widerstände zu denken. Und dann plötzlich einlenkend, sagte er zum Schluß noch in milderem Ton: »Wollen Sie guten Rat annehmen --? Dann würde ich Ihnen empfehlen, suchen Sie sich irgend einen guten Bekannten, einen Freund, einen Verwandten, der ein möbliertes Zimmer braucht und nehmen ihn bei sich auf. Aber schleunigst, wenn ich bitten darf, sonst ist es zu spät, und es kann Ihnen noch passieren, daß Sie einen Eisenbahner mit fünf Kindern hineinbekommen!« Der Oberrechnungsrat war inzwischen so klein und so mürbe geworden, daß ihm bei diesem Vorschlag ordentlich ein Stein vom Herzen fiel. Ohnedies drückte ihn das Gewissen wegen des Bücherzimmers. Begründete es nicht vielleicht schon den Tatbestand einer strafbaren Handlung, daß er den Beamten, der fortwährend von den drei Zimmern sprach, nicht ausdrücklich auf das vierte aufmerksam machte? Da erinnerte er sich aber wieder seiner armen, armen Bücher, die so schön geordnet in den eingepaßten Regalen standen -- was wäre aus denen geworden, wenn es der hohen Behörde vielleicht beliebte, gerade das Bücherzimmer oder überdies auch noch das Bücherzimmer anzufordern? Und hatte die Resi nicht recht, wenn sie ihre Meinung über diese Seite der Angelegenheit in die Worte zusammenfaßte: Augen haben sie, wenn sie das Bücherzimmer nicht gesehen haben, so ist es ihre eigene Schuld --? Unsicher tastend wagte er die Frage: »Und wenn ich ein Zimmer freiwillig abgebe -- bleibe ich dann im übrigen ungestört?« »Das hoffe ich zuversichtlich, Herr Oberrechnungsrat,« sagte der Beamte nunmehr ganz umgänglich und fast liebenswürdig geworden. Unwillkürlich griff sich Herr Pleß ans Herz. Es klopfte heftig, aber in diesem Augenblicke -- beinahe vor Freude. Dieser Mann, vor dem er sich so gefürchtet hatte, war ja im Grunde genommen eigentlich sein Freund? Er gab ihm einen Wink, machte ihm gutmeinend einen Vorschlag, der schließlich nichts allzu Hartes von ihm forderte. Und dieser Vorschlag hatte einen Gedanken in ihm ausgelöst, der seine persönlichen Bedürfnisse mit seiner Staatsbürgerpflicht zu einer Einheit zu verschmelzen versprach. Denn irgend etwas mußte freilich ein jeder dazu beitragen, den bedrängten Mitmenschen zu Hilfe zu kommen. Das war doch eigentlich selbstverständlich! Wie kam es nur, daß er es nicht gleich begriffen hatte? Er war doch sonst kein Dickhäuter! Im Gegenteil! In diesem Augenblicke wenigstens fühlte er sich wirklich mit einem Tröpfchen sozialen Öles gesalbt. Entschlossen erhob er sich, ganz leicht und froh war ihm auf einmal zumute. Wenn man nicht mehr von ihm verlangte, als daß er einen Bekannten bei sich aufnahm -- dies kleine Opfer konnte er wirklich bringen! Es war ein Preis, der sich auszahlte, wenn man dafür den Ruf und das Bewußtsein eines Mannes von Gemeinschafts- und Bürgersinn zurückgewann. Wunderbar befreit bedankte er sich für den wohlwollenden Rat und empfahl sich in gehobener Stimmung unter wiederholten Versicherungen, daß er ihn womöglich befolgen und jedenfalls in reifliche Erwägung ziehen werde. Beflügelten Schrittes eilte er durch die Gassen, den Weg nach der Stätte seines verflossenen amtlichen Wirkens einschlagend. Es war ihm eingefallen, daß jener Herr Scheinemann, der junge Kollege, dem er damals zu einer Stellung verholfen, sich ihm gegenüber wiederholt darüber beklagt hatte, wie schwierig es bei der steigenden Teuerung für einen Junggesellen sei, ein passendes, angenehmes und nicht zu kostspieliges Quartier zu finden. Die Wahrscheinlichkeit, daß er die jetzigen Verhältnisse erträglicher finden würde als die von einst, war gering. Denn ein möbliertes Zimmer kostete heute leicht zweitausend Kronen und mehr -- welche Summe für einen Festbesoldeten auf einer der untersten Stufen! Nein, auf Rosen war Scheinemann sicher nicht gebettet, vermutlich gehörte er zu der Legion der insgeheim Darbenden. Darum war Herrn Plessens erster Gedanke, als der Herr im Wohnungsamt ihm die freiwillige Aufnahme eines Mieters empfahl, Scheinemann gewesen. Denn warum sollte er sich, wenn er schon ein Zimmer abgeben mußte, die bittere Pille nicht wenigstens durch das befriedigende Bewußtsein versüßen, einen strebsamen Beamten gefördert, einem jüngeren Kollegen sein Los erleichtert zu haben? Zu solch vornehmen und großzügigen Erwägungen gesellte sich auch noch der begreifliche Wunsch, einen Mieter zu finden, der ihm anhänglich und durch Gefühle der Dankbarkeit verbunden wäre. Denn in das Zimmer seines Sohnes, das sich infolge seiner Lage am besten zum Vermieten eignete, sollte nicht ein Nächstbester seinen Einzug halten. Wie wohltuend würde er es empfinden, wenn der künftige Bewohner dieses Raumes allmählich aufhören würde, bloß ein Bekannter zu sein! Wenn von dieser vereinsamten Stätte wieder die Wärme herzlicher persönlicher Beziehungen ausstrahlte, eine Spur wenigstens jener kindlichen Zuneigung und Ehrerbietung, die sein Vaterherz einst so innig beglückt hatte! Oh, welch schönes Verhältnis konnte sich ergeben, welche Bereicherung sein dürftiges Alter erfahren, wenn es ihm gelang, aus der Not einen Segen zu machen und sich einen Hausgenossen zu gewinnen, aus dem vielleicht, wenn das Glück es wollte, sogar noch einmal ein treuer Begleiter auf der letzten Wegstrecke des Lebens hätte werden können, der an Sohnes statt in der schwersten Stunde an der Seite seines Bettes stand! Herrn Scheinemann nun hatte er sich schon einmal gefällig erwiesen. Wer weiß, was aus dem geworden wäre, hätte gerade im kritischen Augenblick Pleß sich nicht für ihn eingesetzt. Bei seiner von Haus aus etwas oberflächlichen, wohl gar leichtfertigen Anlage, die gelegentlich in mancher unvorsichtigen Äußerung hervorgetreten war, hätte ein ungebundenes Leben ihm gefährlich werden können. Gerade für eine solche Natur war nach Herrn Plessens Überzeugung der erziehliche Einfluß, den eine zu Zucht und Ordnung nötigende Amtstätigkeit ausübt, von unübersehbarem Wert, darum meinte er sich mit einigem Recht sozusagen für den Retter dieses Menschen halten zu dürfen, war doch er es gewesen, der ihn in eine geregelte und streng vorgezeichnete Laufbahn gebracht hatte. Nun gedachte er sein Werk zu krönen und seinem Schützling auch noch ein geordnetes Heim aufzutun, das ihn keinen Heller kosten sollte. Ein solches Entgegenkommen, ein derartig verdoppeltes Schaffen und Aufbauen der ganzen Existenz -- mußte es auf der Seite des Geförderten nicht Gefühle unbegrenzter Anhänglichkeit wecken? Und war es nicht wie eine mit freigebigen Händen ausgestreute Saat, von der man hoffen durfte, daß sie zum Segen gedeihen und reiche Frucht tragen würde? Um die Jugend muß man werben, er wußte es. Und außerdem widerstrebte es ihm auch, für das Zimmer, das er abzugeben gesonnen, und das im Grunde seines Sohnes Zimmer war, Geld anzunehmen. Nach seiner Meinung hieß es Wucher treiben mit der Not seiner Mitmenschen, wenn man sich für eine Stube, die sonst unbenützt leer stand, von einem Bedrängten bezahlen ließ. Solche Gedanken still bei sich erwägend, stieg er eben die ihm wohlvertraute, obzwar lange nicht betretene Treppe des alten Amtsgebäudes hinan, als ihm raschen Schrittes, immer ein paar Stufen überhüpfend, von oben jemand entgegenkam. Und wie er den Kopf hob, stand wie gerufen der Gesuchte selbst vor ihm: Scheinemann! Freudig streckte Pleß ihm die Hand entgegen, es war ihm, als hätte durch diese zufällige Begegnung das Schicksal selbst die Billigung seiner Absichten, die Zustimmung zu seinen Plänen aussprechen wollen. »Darf ich mir erlauben, Sie um ein paar Worte ...? Sie haben einen Gang zu machen, wie ich sehe. Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie ein Stück Weges.« »Mit dem größten Vergnügen, Herr Oberrechnungsrat. Bitte!« »O -- bitte, bitte!« Pleß trat auf die linke Seite und ließ den jungen Mann, der auf so überlebte Formen nicht viel zu halten schien, zur Rechten gehen. Kaum auf die Straße gelangt, begann der Oberrechnungsrat etwas weitschweifig von seiner Wohnungsangelegenheit zu erzählen. Daß er eigentlich eine Wohnung von vier Zimmern hätte ... »Nun, das ist reichlich!« warf Scheinemann dazwischen. »Wenn man eine große Bibliothek besitzt ... Übrigens stehe ich nur mit drei Zimmern in den Akten. Das vierte hat die Kommission aus reinem Zufall übersehen ...« »Trotteln das!« bemerkte Scheinemann. »Für mich ganz angenehm,« meinte Herr Pleß, etwas unsicher geworden, und bereute in diesem Augenblick, den anderen auf den Irrtum der Behörde überflüssigerweise aufmerksam gemacht zu haben. Dennoch fuhr er fort, seine Verhältnisse darzulegen und schließlich seine Vorschläge vor ihm auszubreiten. Scheinemann blieb stehen und staunte ihn groß an. »Das trifft sich ja ausgezeichnet! Morgen muß ich aus meiner Bude heraus und habe noch keinen Ersatz. Unleidliche Menschen, mit denen ich da zusammengespannt war! Ich nehme Ihr Zimmer! Unbesehn! Gemacht! Gemacht! Das heißt -- was verlangen Sie dafür?« »Wenn Sie der Köchin eine Kleinigkeit geben wollen, fürs Aufräumen -- ich selbst beanspruche nichts. Das Zimmer steht ohnedies leer, Sie sind mein Gast. Ich möchte aus der allgemeinen Wohnungsnot keinen Gewinn ziehen.« Abermals blieb Scheinemann stehen. »Mit solchen Grundsätzen werden Sie nicht weit springen in unserer Zeit,« sagte er belustigt. »Sie denken vielleicht, ich müßte mich jetzt wenigstens ein bißchen zieren und blöde tun? Fällt mir gar nicht ein! Im Gegenteil, ich nehm' Sie beim Wort! Wenn mir wer was schenkt, so werd' ich's doch nicht ausschlagen? Ein Esel wär' ich! Jedem das Seine! Der eine hat Grundsätze, der andere den Vorteil.« Er lachte breit über den ganzen Mund und sagte noch: »Wann darf ich einziehen?« »Wann es Ihnen paßt.« »Also morgen früh. Gemacht! Gemacht! -- Pardon!« rief er plötzlich in Hast. »Ich werde erwartet. Es kann mich eine Viertelmillion kosten, wenn ich zu spät komme! Sie entschuldigen also! Und wie gesagt: Gemacht! Gemacht!« Damit stürzte er in den Straßentrubel und schwang sich auf einen vorbeifahrenden Trambahnwagen, der mit ihm davonsauste. Bedächtig und etwas betreten setzte der Oberrechnungsrat seinen Weg fort. Was war das? Es konnte ihn eine Viertelmillion kosten --? Gab es jetzt so verantwortungsvolle amtliche Aufträge? Ja, es hat sich halt alles verändert, man kennt sich in der Welt bald nicht mehr aus! ... Auf seinen Stock gestützt zog er langsam seine Bahn dahin, in der Richtung nach der Gegend, wo seine Wohnung sich befand. Ein unbestimmter Bodensatz von Unbehagen war von dem kurzen Zusammentreffen mit Scheinemann in ihm zurückgeblieben. Der junge Mann war doch eigentlich ganz anders, als er ihn in Erinnerung gehabt. So was eigen Smartes, Amerikanisches lag in seinem Gehaben, nur daß die richtigen Wilson-Leute den Zynismus der Tat hinter der Moral des Wortes zu verhüllen pflegen -- was immerhin versöhnend wirkt. Sollte er den Aktenstaub als Erzieher, die Wandlung, die eine geregelte Amtstätigkeit bewirken kann, überschätzt, oder sich überhaupt in diesem Menschen völlig getäuscht haben? Vielleicht war es doch etwas vorschnell gewesen, ihm gleich bindende Zusagen zu machen! ... Schließlich tröstete er sich mit dem Gedanken, daß man im äußersten Falle einen Gast nicht länger zu beherbergen brauche, als es einem passe. Als er müde und verstimmt zu Hause anlangte, sagte er zur Resi: »Richten Sie das Zimmer vom jungen Herrn. Wir bekommen einen Mieter. Morgen früh zieht er ein.« Sie mochte aus dem Ton erkennen, daß es sich um eine unabänderliche Sache handelte, und gab ihm keine Antwort. Aber die Art, wie sie in der Küche herumhantierte und die Suppenschüssel auf den Tisch setzte, verkündete nichts Gutes. Den anderen Morgen hielt Scheinemann wirklich seinen Einzug. Herr Pleß wies ihm sein Zimmer an und sagte: »Mein Sohn hat hier gewohnt. Möchten Sie sich ebenso gerne wie er mit dem wenigen, was ich bieten kann, bescheiden.« »Ein bißchen klein --!« sagte der Mieter und öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Aber hier steht ja noch ein Zimmer leer, wie ich sehe.« »Es ist das Zimmer meiner verstorbenen Tochter.« »Das macht mir gar nichts,« antwortete Scheinemann mit seinem breitesten Lachen, »ich fürchte mich nicht vor den Toten.« Rasch machte der Oberrechnungsrat kehrt und überließ ihn der Tätigkeit des Auspackens. Stumm und verschlossen zog er sich ins Bücherzimmer zurück, setzte sich an den Lesetisch und barg sein Gesicht in den über der Tischplatte gekreuzten Armen. Als einige Zeit darauf die Resi das Bücherzimmer betreten wollte und ihn schluchzen hörte, zog sie ganz leise die Tür wieder ins Schloß und verschwand unbemerkt, wie sie gekommen, in ihrer Küche. Scheu schlich sie darin umher und machte sich in aller Stille daran, das kärgliche Mittagsbrot zu bereiten. Heut' faßte sie die Töpfe und Reindln so behutsam an, als wären sie alle von Glas, und gelegentlich erwischte sie den Zipfel ihrer Schürze, um sich damit an die Augen zu fahren. Beim Essen, als Herr Pleß mit vorgebeugtem Kopf noch an der Suppe löffelte und die Resi schon die Erdäpfel hereinbrachte, fragte er, ohne aufzublicken, scheinbar wie nebenher: »Haben Sie den neuen Mieter schon zu Gesicht bekommen?« »Mit dem haben Sie uns was schönes eingebröckelt!« antwortete die Resi empört. Und sie erzählte, er hätte sie hineingerufen, und sie hätte ihm helfen müssen, das Bett des jungen Herrn in das Zimmer vom Fräulein schieben. Jetzt stünden die zwei Betten nebeneinander wie Ehebetten, eine wahre Schande! Das sei nun sein Schlafzimmer, hätte Herr Scheinemann gesagt, und das andere sein Bureau. »Heut' nachmittag soll schon die Tippmamsell kommen,« schloß sie. »Und ich soll sie nur gleich zu ihm hineinführen.« Nun hatte Herr Pleß aber doch das Gesicht vom Suppenteller gehoben und sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Tippmamsell --? Bureau --? Was bedeutet denn das? Da bleibt einem ja rein der Verstand stehn! Und Sie haben ihm wirklich geholfen, das Bett hineinschieben?« »Wenn er behauptet, daß Sie es so angeordnet haben!« »So --? Das behauptet er? Hätten Sie mich vorher gefragt!« »Natürlich jetzt bin ich wieder schuld!« murrte die Resi und verschwand mit dem Suppentopf. Das gewohnte Nachmittagsschläfchen war Herrn Pleß heute gründlich verleidet. Ruhelos ging er im Bücherzimmer hin und her, die Arme auf dem Rücken, unablässig, auf und nieder. Plötzlich schrak er zusammen -- die Glocke! Was wird es nun wieder geben? Er lauschte. Er hörte Schritte das Vorzimmer entlanggehen und langsam wieder in entgegengesetzter Richtung zurücktrappen, gegen die Eingangstür. Ungeduldig wartete er und stellte allerlei Vermutungen an. Er getraute sich nicht hinaus, er blieb im sicheren Schutze des Bücherzimmers. Endlich, als die Resi den Tee brachte, fragte er gespannt: »Wer ist denn gekommen?« »Eine dicke Rothaarige!« rief sie außer sich vor Wut und mit einer Stimme, in der sittliche Entrüstung bebte. »Aufgetakelt wie eine vom Variödee! Und einen Dienstmann mit ihrem Koffer hat sie auch gleich mitgebracht. Die Maschinfräul'n ist sie, sagt sie! Und bis in die Nacht hinein, sagt sie, sitzt sie oft an der Maschin', sagt sie! Und deswegen, sagt sie, wird sie auch bei uns schlafen, sagt sie! Meiner Treu', das hat sie g'sagt!« »Und Sie haben sie hereingelassen?« stöhnte Herr Pleß der Verzweiflung nahe. »Ja, was soll ich denn tun!« schrie die Resi auf und warf die Arme in die Luft. »Warum haben Sie den Hallodri da hereingenommen! Nein, so was! Zügelt uns der auch noch solche Frauenzimmer ins Haus! Eine Demi-Mondlerin, oder wie man das nennt, ist diese Person, da leg' ich meine Hand dafür ins Feuer! Zu allem Überfluß ist sie auch noch hoch in der Hoffnung!« Den Rest des Tages und die halbe Nacht verbrachte Herr Pleß damit, sich's zurechtzulegen, wie er Herrn Scheinemanns Übergriffen am wirksamsten entgegentreten sollte. Hundert verschiedene Pläne kreuzten sich in seinem Kopfe und machten ihn schließlich so wirr, daß er ohne Papier und Bleistift kein Auslangen mehr fand. Er schnitt sich eine Anzahl Zettel zurecht, schrieb auf den Kopf eines jeden eine Möglichkeit, die er etwa hätte wählen können, und darunter rechts die Gründe, die für, und links diejenigen, die gegen ein solches Vorgehen sprachen. Und nachdem er etwa ein halbes Spiel Karten von solchen Zetteln beisammen hatte, griff er mit geschlossenen Augen in das Päckchen. Auf dem gezogenen Zettel stand, und zwar zu oberst: Aufs Mietamt gehen und um Entfernung des lästigen Mieters ersuchen. Rechts darunter: Dafür spricht, daß es vielleicht gelingt. Links darunter aber stand: Dagegen spricht 1. daß Scheinemann dadurch, daß ich ihn aufgenommen habe, wahrscheinlich schon unter dem Schutze des Mieterschutzgesetzes steht. 2. Daß mir, auch wenn es mir gelingen sollte, ihn wieder loszuwerden, ein anderer, vielleicht ebenso lästiger Mieter hereingesetzt würde, möglicherweise sogar der angedrohte Eisenbahner mit fünf Kindern. 3. Daß es bei dieser Gelegenheit zutage käme, daß meine Wohnung nicht aus drei, sondern aus vier Zimmern besteht. 4. Daß, wenn dies wirklich zutage kommt, mir sicherlich zwei Mieter hereingesetzt werden, ganz abgesehen davon, daß ich wahrscheinlich auch noch strafbar wäre. Und endlich 5. daß diese Strafe vielleicht in der Beschlagnahme des Bücherzimmers bestehen würde. Das Orakel hatte sich sonach aufs entschiedenste gegen ein aktives Vorgehen ausgesprochen. Ein Glück, daß er Stenograph war, sonst hätte der Zettel all die Gegengründe gar nicht fassen können. Es blieb also vorderhand nichts anderes übrig, als die Hände untätig in den Schoß zu legen und abzuwarten, wie der Hase laufen würde. Bekümmert, im Gefühl völliger Wehrlosigkeit legte er sich schließlich zu Bett und träumte, daß die Flurglocke lang und fürchterlich schrillte und eine neue Kommission ihn heimsuchen kam. Sie bestand aber aus lauter schwarzgekleideten Leidtragenden. Unter Führung Scheinemanns, der ebenfalls schwarzen Schlußrock und Zylinderhut trug, bewegte sie sich in endlosem Zuge durch seine Wohnung. Und diese hatte sich plötzlich zu einer unabsehbaren Flucht von Zimmern geweitet! So ungefähr, wie es etwa im Schloß Schönbrunn zu sehen war, das er vor einer Reihe von Jahren einmal mit seinen Kindern besichtigt hatte ... Den anderen Morgen, kaum daß er gewaschen und rasiert war, rief er nach dem Frühstück, und als die Resi es brachte, fragte er: »Hat diese -- Dame, die rothaarige, wirklich bei uns übernachtet?« Freilich habe sie drüben geschlafen, berichtete die Resi dumpf und verdrossen. Im Zimmer vom Fräulein, wo jetzt das Ehebett stehe. Und schon in aller Früh' hätte sie nach warmem Wasser verlangt. Wie sie, die Resi, aber den Krug hineingebracht, da sei er ihr beinahe aus der Hand gefallen, vor lauter Scham. »Denn in so einem Aufzug,« rief sie, wieder in Hitze geratend, »hab' ich noch nie kein Frauenzimmer nicht g'sehn! Und er -- ist daneben im Bett gelegen und hat zug'schaut! Meiner Seel', ich sag's aufrichtig, wie es ist,« schloß sie die Hände zusammenschlagend, »eine solche Bagasch ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen!« An diesem Morgen ging der Oberrechnungsrat früher aus, als er es gewöhnlich zu tun pflegte, und blieb auch länger fort als sonst. Vielleicht, daß ihm bei der Bewegung in freier Luft eine Erleuchtung kam. Immer hoffte er darauf, während er seine bohrenden Gedanken in Straßen und Anlagen spazieren führte. Aber immer drehten diese Gedanken sich im gleichen Kreise herum. Und als er die Treppe seines Hauses wieder emporklomm, war er nicht um ein Haar klüger als zuvor. An der Wohnungstür fand er nun schon die Visitkarte seines Mieters angeheftet. Er las und wunderte sich. Es stand darauf gedruckt: »Scheinemann, Rechnungsrat a. D., Generaldirektor der Kondor-Ex- und Import-Handelsgesellschaft, G. m. b. H.« Kopfschüttelnd betrat er sein Bücherzimmer und fuhr erschrocken zurück, als wär' er auf eine Schlange getreten. Denn im Bücherzimmer saß -- Herr Scheinemann! Breit und behaglich saß er in Herrn Plessens Klubsessel, las in einem Buch, welches er offenbar mit einem Stoß anderer Bücher, die vor ihm auf dem Tische lagen, einem der Regale entnommen, und rauchte eine dicke, schwarze, feine Zigarre dazu, deren bläulicher Rauch wie brauender Gebirgsnebel über dem Lesetisch schwebte. »Entschuldigen Sie, Herr Oberrechnungsrat, wenn ich mich nicht stören lasse!« rief er ihm entgegen, ohne seine Stellung zu verändern. »Die Resi, die langweilige Person, wird ewig mit Aufräumen der paar Zimmerln nicht fertig, obwohl ihr meine Braut dabei hilft und ohnedies fast alles selber macht. So hab' ich mich halt einstweilen daherein geflüchtet. Teufel noch einmal, das ist ein schönes Zimmer! Und Bücher haben Sie -- mehr als gescheit. Aber lauter Schmarrn! Wer liest denn solches Zeug heut' überhaupt noch? Das einzige, was ich gefunden hab', sind die paar Memoirenbände, der Casanova. Sie haben ihn wahrscheinlich aus historischem Interesse angeschafft, mich interessiert er aber natürlich aus einem ganz anderen Grunde.« Er lachte vergnügt auf und fuhr eifrig in dem Bande zu blättern fort, während die Asche seiner Zigarre auf den Teppich fiel. Herr Pleß hatte sich stumm und wie benommen auf einem Stuhle niedergelassen und wartete beinahe gespannt, was nun weiter geschehen würde. Da aber der andere, der offenbar auf eine besonders reizvolle Stelle gestoßen war, nicht Miene machte, mit Lesen aufzuhören, so räusperte er sich schließlich und sagte: »Die Karte an der Wohnungstür gibt mir Rätsel auf. Sind Sie denn wirklich schon Rechnungsrat --? Und sogar schon a. D.? Wie ist denn das möglich? Ich habe seinerzeit wenigstens fünfundzwanzig Jahre gebraucht bis zu dieser Rangstufe.« »Ja, was glauben Sie denn?« sagte Herr Scheinemann, indem er als Lesezeichen ein Eselsohr ins Buch machte und dieses zuklappte. »Eine solche Schafsgeduld wie die Beamtenschaft von früher hat die heutige nicht mehr. Das geht jetzt alles durch die Organisation, und wenn die Regierung nicht pariert, so gibt's ganz einfach Streik. Verstanden? Übrigens hab' ich bloß den Titel und Charakter grad noch ergattert. Denn in dem Augenblick, wo ich pensionsfähig geworden war, hab' ich mich ohnedies empfohlen. Ist schon fast ein Jahr her; gestern, als wir uns begegneten, war ich nicht als Beamter im Amt, sondern als Querulant. Ich bin nämlich jetzt Partei und lasse mir von den Behörden nichts gefallen. Ein Trottel, wer es anders macht und auf die paar Netscherln aus dem Staatssäckel ansteht. Heutzutag' kann man doch von einem Beamtengehalt nicht leben! Ich bitte Sie! Manchen Tag verdien' ich mehr als wie ein Minister das ganze Jahr. Man muß es nur verstehn, den Leuten die Haut über die Ohren zu ziehen. Gehört halt auch Talent dazu.« »Hm, daran fehlt es Ihnen freilich nicht,« sagte Herr Pleß mit einem Anflug von Laune. »Womit handelt eigentlich diese G. m. b. H. und warum heißt sie Kondor?« fragte er. »Sie handelt mit allem, was man ex- oder importieren kann. Mit Hafer aus Jugoslavien, mit Antiquitäten nach Holland, mit Champagner aus Frankreich, mit Galanteriewaren nach Amerika usw. Hauptsächlich aber mit Mehl, Kohlen, Zigaretten, ausländischen Valuten -- kurz, mit allem, womit gerade ein Geschäft zu machen ist, gleichgültig welches. -- Gibt es hier keinen Aschenbecher?« unterbrach er sich. »Ach so, Nichtraucher ...« »Und warum wir gerade Kondor heißen?« fuhr er fort, die Asche seiner Zigarre mit dem Zeigefinger in der Luft abschnippend. »Du lieber Himmel, jedes Kind muß nun einmal seinen Namen haben, da ist mir halt einmal in einer lustigen Stunde diese symbolische Bezeichnung eingefallen. Weil nämlich der Kondor auch so ein Raubvogel ist wie meine Firma. Er hackt seinen Schnabel und seine Fänge überall hinein, wo etwas Saftiges ist, und reißt einem jeden, der sich nicht wehrt, einen Fetzen Fleisch aus dem Leibe.« »Und wo befinden sich eigentlich die Bureaus?« fragte Herr Pleß, seinerseits nun schon beinahe belustigt über die Dämonie dieser nicht eben vereinzelt dastehenden Zeitmoral. »Das Hauptbureau,« erklärte Scheinemann, »bin ich und mein Notizbüchel. Und die Filiale ist drüben, in dem Zimmerl neben unserm Schlafzimmer. Meine Braut -- wenn Sie uns einmal besuchen, stell' ich Sie vor -- bedient die Schreibmaschine. Aber lang wird's nicht mehr möglich sein, weil wir uns zu vermehren gedenken ... Ein paar größere Zimmer würden wir halt brauchen,« sagte er, sich aufmerksam nach allen Seiten umsehend. »Damit wir bald ein paar Tippfräuleins einstellen könnten. Das Geschäft ist mit Kundschaft vollgesaugt wie ein Schwamm mit Wasser. Man muß rein die Leut' manchmal vor den Kopf stoßen, damit sie einen in Ruh' lassen, sonst wär's ohne ein richtiges Bureau wirklich nicht mehr zu dermachen.« Die Wendung gegen die Wohnungsfrage, die das Gespräch genommen, hatte rasch die Spuren von Heiterkeit verscheucht, die sich bei Herrn Pleß regen wollten, und stürzte ihn in neue Sorgen. Er räusperte sich jetzt ein paarmal hintereinander, hustete ein wenig und rang nach Atem. Ein Stein lag ihm auf der Brust und machte seine Stimme trocken und heiser. »Ich wundre mich,« sagte er zaghaft und beklommen, »daß es in Ihrem Geschäft keinen Parteienverkehr gibt.« »Gibt es natürlich auch,« sagte Herr Scheinemann, ohne scheinbar zu ahnen, daß diese Eröffnung seinem Gastgeber nicht gerade angenehm sein konnte. »Nur ein bissel Geduld, von morgen an geht's los. Weil nämlich das Zirkular, das unsern Kunden meine neue Adresse bekannt gibt, erst heute versendet wird. Übrigens kaum der Rede wert -- dreißig, vierzig Leut' im Tag, wenn's hochkommt. Und ausschließlich gewähltes Publikum, Agenten, Kommissionäre, Schieber, lauter gute Bekannte von uns, zum Teil sogar persönliche Freunde. Übrigens -- Ihren Rock und Hut sollten Sie doch nicht im Vorzimmer hängen lassen, Herr Oberrechnungsrat. Befolgen Sie meinen Rat, man kann heute nicht vorsichtig genug sein.« In diesem Augenblick schrillte die Flurglocke, geradeso wie es im Traum gewesen war -- Herr Pleß, durch den angekündigten Parteienverkehr, der angeblich nicht der Rede wert war, ohnedies schon fast am Ende seiner Kräfte, zuckte nervös zusammen, als hätte man ihm einen Schlag ins Genick versetzt. »Jesses, das wird der Sizilianische Schwefel sein!« rief Scheinemann aufspringend. »Sie erlauben doch, daß ich die paar Fasseln einstweilen da im anstoßenden Zimmer aufstapeln lasse? Es wohnt ja niemand darin, so kann es auch niemand genieren, und ich hab' im Augenblick kein Magazin. Es handelt sich nur um einen ganz kleinen Posten, zwei-, dreitausend Kilo im ganzen -- spielt gar keine Rolle, was? Also gemacht, gemacht! Guten Morgen, Herr Oberrechnungsrat -- ja richtig, der Casanova!« Er kehrte noch einmal um, nahm den Stoß Bücher unter den Arm und entfernte sich eilfertig. Draußen hörte man ihn eine Weile mit Frachtknechten herumschreien, dann wurde im Nebenzimmer die Tür aufgeschlossen -- den Schlüssel, der von der anderen Seite steckte, hatte Pleß unglückseligerweise vergessen rechtzeitig abzuziehen. Jetzt konnte man das Abladen von Frachten im Schlafzimmer von Herrn Plessens verstorbener Frau vernehmen, schwere Kisten oder Fässer wurden auf den Fußboden gestellt. Jedesmal gab es ein Gepolter, als würden Felsblöcke gewälzt. Der Oberrechnungsrat saß still in sich zusammengesunken da und lauschte. Bei jedem erneutem Gepolter gab es ihm einen Stoß. Immer kleiner wurde er und gebückter und schließlich fast empfindungs- und teilnahmslos, als ginge ihn diese Sache, ja die ganze Welt nichts mehr an ... Erst als die Frächter wieder fort waren und es draußen auf dem Gang und im Nebenzimmer ruhig wurde, ermannte er sich. Er stand auf und öffnete das Fenster, damit wenigstens der Zigarrenrauch sich verziehen könne, der noch immer das Bücherzimmer erfüllte. Gegen Mitte der Woche kam wirklich der angekündigte Parteienverkehr allmählich in Gang und steigerte sich zusehends von Tag zu Tag, je mehr die neue Adresse der »Kondor G. m. b. H.« bekannt wurde. Von früh bis spät schrillte die Glocke, so daß die Resi vor lauter Türaufmachen fast keine Zeit zum Kochen mehr fand, und so oft man das Vorzimmer betrat, standen dort ein paar zweifelhafte Gestalten und warteten darauf, vom Herrn »Generaldirektor« empfangen zu werden. Aber auch die Abende und Nächte brachten nicht die ersehnte Ruhe. Da kamen mit Gelächter und Gekirre die Freunde und Freundinnen, Flaschenkörbe wurden ins »Bureau« geschleppt, es gab Spiel- und Zechgelage. Bis lange nach Mitternacht hörte man oft zur Gitarre singen, Bänkel- und Negerlieder, Gekreische und Getute störten den Frieden des Hauses. Ja, es kam vor, daß mitten in nachtschlafender Zeit die Fensterscheiben zu schüttern und zu klirren begannen, man hatte die Tische, Betten und Stühle übereinandergetürmt und vergnügte sich trotz der Beengtheit des Raumes wie rasend an den modernen Tänzen. Dabei hatten die oberflächlichen Instinkte, die achtlosen und schlampigen Gewohnheiten der lästigen Mieter auch noch jenes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit in kürzester Zeit gänzlich zerstört, das eine abgeschlossene Wohnung sonst gewährt und sie recht eigentlich erst zu einem Heim macht. Bald blieb, wenn sich die lärmenden Zechbrüder in vorgerückter Stunde verabschiedet hatten, die Eingangstür aus Versehen offenstehen, so daß jeder, dem es beliebte, sich einschleichen konnte; bald fand man am hellichten Morgen die Lichter im Vorzimmer noch brennen; bald kam man darauf, daß irgend ein fremder Kerl, dem in seiner Trunkenheit vermutlich der Heimweg zu mühsam gewesen war, irgendwo in einem verborgenen Winkel, vielleicht in der Badekammer, als blinder Passagier übernachtet hatte. Einige von den Intimsten der »Kondor G. m. b. H.« hatten sich gar eigene Wohnungsschlüssel anfertigen lassen und spazierten nun dreist, so oft es ihnen beliebte, zu jeder Tages- oder Nachtzeit zur Tür herein. Herr Pleß, schlaflos, übernächtig, zu Tode ermüdet, war in eine unerklärliche Stumpfheit verfallen, aus der er sich nicht aufzuraffen vermochte. Er fühlte sich außerstande, dem Unfug zu steuern oder überhaupt etwas zu unternehmen. Und allmählich lösten seine Gedanken und Gefühle sich von der umstrittenen Wohnung, von den Zimmern seiner Frau und seiner Kinder, an denen sonst sein Herz gehangen, von allem, was die Erinnerungen erdenschwer und unwiderbringlich machte, und suchten ein anderes Ziel. Ach, was klammert der Mensch sich an irdische Dinge und Gegenstände, um seiner Einsamkeit zu entrinnen! Ist es nicht eine Täuschung? Sind es nicht unverrückbare Grenzen, in die jeder für sich und alles, was im Raum steht, unerbittlich eingeschlossen bleibt? Wird nicht die Einsamkeit dadurch zum zwingenden Gesetz? Aus ihr gibt es keine Erlösung, solange wir im Greifbaren leben. Und keine wahre Gemeinschaft und Vereinigung ist uns erreichbar, eh' unsere sehnende Seele nicht zurückgeflossen ist ins All. In den Stuben seiner Kinder trieben nun die Scheinemanns ihr Unwesen, aus dem Schlafzimmer seiner Frau war ein Warenmagazin für Schiebergeschäfte geworden. Nein, die teuren Toten wohnten nicht mehr darin. Aber vielleicht war es gut so, daß er sich dessen bewußt geworden. Denn in den Zimmern der Wirklichkeit hätte er seinen Lieben doch nie begegnen können. Nur da, wo sie in Wahrheit weilten, bestand die Möglichkeit, sie wiederzufinden ... Neue Mißhelligkeiten gaben Anlaß zu neuen Entschlüssen und drängten endlich gebieterisch zu entscheidenden Schritten. Schon seit ein paar Tagen stand eine große, schwere Kiste, auf der mit roter Farbe die Warnung: »Vorsicht! Sprengstoff!« aufgemalt war, unbeachtet im Vorzimmer, und die angebrannten Zündhölzer, die Zigarren- und Zigarettenstummel, die sich auf dieser Kiste gefunden hatten, legten die Vermutung nahe, daß sie von scheidenden Gästen mit Vorliebe als Aschenbecher benutzt wurde. Dies hatte Herrn Pleß veranlaßt, einen Zettel zu Scheinemann hinüberzuschicken, mit dem Ersuchen, diese Kiste sofort zu entfernen; worauf die Antwort einlief, daß sie ganz bestimmt am Samstag würde abgeholt werden. Als nun aber die Resi am Sonntag morgen das Frühstück hereinbrachte und berichtete, die Kiste stehe noch immer auf demselben Fleck, da lehnte Herr Pleß sich in seinem Sessel zurück und sagte tief Atem schöpfend: »Es geht so nicht weiter! Es muß ein Ende gemacht werden!« Ein Schimmer von Hoffnung, den beispiellos starken Geduldsfaden des Oberrechnungsrates endlich reißen zu sehen, fiel bei diesen Worten in Resis umdüstertes Gemüt. Sie war in diesem Augenblicke beinahe geneigt, es für einen Glücksfall zu halten, daß die Scheinemanns in vergangener Nacht auch noch den Gashahn im Vorzimmer schlecht abgedreht und dadurch eine Gasausströmung verursacht hatten. So eindrucksvoll wie möglich schilderte sie, Herrn Plessens Entschlossenheit zu befeuern, die Folgen, die daraus hätten entstehen können, wenn sie nicht durch den Gestank gerade noch rechtzeitig genug, um dem Verderben Einhalt zu tun, aus dem Schlafe geweckt worden wäre. »Alle zwei hätten wir können tot sein,« beteuerte sie, »Sie und ich, wenn ich nicht gleich die Fenster aufg'rissen hätt'! Das ganze Vorzimmer war schon voll von dem Gift, und durch alle Klumsen hat es sich eingeschlichen!« Sie öffnete ein Fenster und fragte: »Mir scheint, Sie merken gar nichts davon, daß es hier nach Gas riecht?« Nein, er hatte es wirklich nicht gemerkt, erst jetzt, da die frische Luft einströmte, spürte er den Gasgeruch, der auch das Bücherzimmer erfüllte. »Sehn Sie, das ist das Gefährliche dabei,« sagte die Resi. »Man gewöhnt sich im Schlaf daran, und eh' daß man aufwacht, ist man tot.« »Eigentlich ein wünschenswertes Sterben!« sagte der Oberrechnungsrat vor sich hinsinnend. »Na, ich bedank' mich dafür! An einer Schlamperei von den Falotten da drüben möcht' ich nicht zugrund gehn!« »Hm! Ja, ja, freilich! ... Aber so, wie es jetzt ist,« wiederholte er, »kann es wirklich nicht länger bleiben ... Irgendwie muß ein Ende gemacht werden!« Auf seinem Morgenspaziergang legte er sich seinen Plan zurecht. Er wollte den Herrn »Generaldirektor« daran erinnern, daß er gar nicht sein Mieter, sondern eigentlich bloß Gast sei, und daß es jedem Gastgeber freistehe, die gewährte Gastfreundschaft zu kündigen. Von diesem Rechte Gebrauch machend, wollte er ihn ersuchen, die Wohnung ehestens zu räumen. Was konnte Scheinemann eigentlich dagegen einwenden? Es gab nach seiner Meinung keine andere mögliche Antwort darauf als die, sich zu empfehlen. Herr Pleß blieb stehen, nahm den Hut ab und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Schon die paar Schritte Bewegung im Freien hatten ihn erschöpft, so herabgekommen war er durch Kummer und schlaflose Nächte. Aber dieser Augenblick bedeutete eine Wendung. Er wunderte sich darüber, wie einfach die Sache eigentlich lag. Mußte dieser Weg nicht unbedingt zum Ziele führen? Für den äußersten Fall hatte er ihn sogar schon einmal in Aussicht genommen gehabt, damals, nach der ersten Begegnung mit Scheinemann. Schon längst hätte er ihn betreten sollen, anstatt sich zwecklos zu quälen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb er es nicht getan. Und er fand keine andere Erklärung dafür, als daß einem in Zuständen der Erregung gerade das Allernatürlichste und Nächstliegende manchmal zu allerletzt einfällt. Erleichtert kehrte er nach Hause zurück und hatte nur mehr die eine Sorge, wie er Scheinemanns heute, am Sonntag, habhaft werden sollte. Denn an geschäftslosen Tagen schien dieser, nach den bisherigen Erfahrungen zu schließen, offenbar die Gewohnheit zu haben, im Auto über Land zu fahren, oder Gäste bei sich zu sehen. Als er aber ins Bücherzimmer trat, saß wieder einmal -- und diesmal nicht ganz unwillkommen -- der Herr »Generaldirektor« in eigener Person im Klubsessel und schmauchte eine seiner dicken, schwarzen Zigarren. »Ich warte auf Sie, Herr Oberrechnungsrat,« begann er sofort und erhob sich. »Ich wollte mir erlauben, Sie um eine kurze Unterredung zu ersuchen.« »Ich hatte denselben Wunsch. Bitte, behalten Sie Platz. Womit kann ich dienen?« »Sie werden bemerkt haben, daß für meinen ausgebreiteten Geschäftsbetrieb die Räume, die Sie mir zugewiesen haben, nicht ausreichen. Überdies sind wir -- vom Geschäft ganz abgesehen -- unser zwei, nämlich meine Braut und ich; Sie dagegen nur ein einschichtiger alter Herr. Jeder Unparteiische muß einsehen, daß die Wohnung ungerecht verteilt ist. Das lasse ich mir nicht länger gefallen. Mit einem Wort, um es kurz zu machen: Ich ersuche Sie, mir dieses größte und schönste Zimmer, in dem wir uns jetzt befinden, und das ich für meine Firma dringend benötige, ferner das anstoßende größere Zimmer, endlich das kleinere, das einst Ihre Tochter bewohnte, und das jetzt unser Schlafzimmer ist, zur freien Verfügung zu stellen. Für Ihre Bedürfnisse reicht die Kammer vollkommen aus, in der einst Ihr Sohn wohnte, und mit der ich mich nach Ihrer liebenswürdigen Absicht hätte begnügen sollen. Bei dem zurückgezogenen Leben, das Sie führen, und das durch Ihr Alter und durch Ihre mißlichen Vermögensverhältnisse bedingt ist, dürften Sie mit diesem Zimmer, das immerhin Raum für alles Notwendige bietet, bei einigem guten Willen Ihr Auslangen finden können.« »Ja ... wie ... was ... Sie meinen ...« Herr Pleß rang nach Atem. »Und wo soll ich denn ... meine Bibliothek --?« stammelte er, außer sich vor Angst und Entrüstung. »Wo soll ich denn dann meine Bücher unterbringen?« »Die alten Schwarten -- wenn Sie sie nicht lieber verkaufen wollen, was bei Ihrem heruntergekommenen Ernährungszustand sicher das ratsamste wäre -- packt man ganz einfach in Kisten und verstaut sie auf dem Dachboden. Überbrauchte Kisten kann ich Ihnen zu dem Zweck gern zur Verfügung stellen.« Der Oberrechnungsrat hatte rasch seine Fassung wiedergewonnen. Daß Scheinemann seine Bücher beschimpft und alte Schwarten genannt hatte, das segnete ihn plötzlich mit der Leidenschaft und dem Mut der eigenen Meinung. »Sie undankbarer Mensch!« schrie er und hieb die Faust auf die Platte des Lesetisches. »Sie heimtückischer Lotterbube! Was nehmen Sie sich heraus? Mit welchem Recht spielen Sie hier den Herrn? Als Gast hatte ich Sie aufgenommen -- leider, leider! Und nun treten Sie mir als ein schamlos Fordernder entgegen? Ich kündige Ihnen hiermit die Gastfreundschaft! Jawohl! Ich setze Ihnen den Stuhl vor die Tür! Ich bin nicht verpflichtet, einen Gast bei mir zu beherbergen! Nein! Dazu bin ich nicht verpflichtet, merken Sie sich das! Und habe es auch satt, Ihre Übergriffe länger zu erdulden! Meine Langmut ist zu Ende! Ich delogiere Sie! Jawohl! Sie, samt Ihrer geschminkten Mätresse und der ganzen unsauberen Schiebergesellschaft! Gehn Sie! Ich weise Sie hinaus! Haben Sie verstanden? Machen Sie, daß Sie fortkommen! Treten Sie mir nicht mehr unter die Augen!« Er hielt keuchend inne und war etwas betreten, daß der Erfolg seiner geharnischten Worte einigermaßen zu wünschen übrig ließ. Der Herr Generaldirektor hatte ihm die ganze Zeit scheinbar ohne jede Bewegung gerade ins Gesicht gesehen und ruhig gewartet, bis er zu Ende wäre. Jetzt sagte er mit seinem breiten, herausfordernd frechen Lächeln um die Lippen: »Ihre unqualifizierbaren Invektiven einer Erwiderung zu würdigen, verbietet mir die Selbstachtung. Bezüglich der mir gewährten Gastfreundschaft und meines Verhältnisses zu Ihnen und Ihrer Wohnung dürften aber doch einige aufklärende Bemerkungen, die ich mir zu gestatten bitte, am Platze sein.« Damit zog er eine dicke Brieftasche hervor und zählte gelassen sechs nagelneue blaue Tausendkronenscheine auf das Fenstertischchen. »So --!« sagte er, »da ist die Vierteljahrsmiete für die zwei Zimmer, die ich bisher innehatte. Mehr können Sie für diese Lückerln wirklich nicht beanspruchen. Wenn Sie aber glauben, mit Ihrer scheinbaren Großmut das Gesetz umgehen zu können, so befinden Sie sich auf dem Holzweg. Bei mir wenigstens sind Sie mit solchen Kniffen an den Unrechten gekommen. Wir sind unser zwei Personen, ich habe nach dem Gesetz Anspruch auf drei Zimmer und bin nicht der Mann, der sich um sein gutes Recht betrügen läßt. Ich rate Ihnen gut: Überlegen Sie sich meinen Vorschlag. Und vergessen Sie dabei das eine nicht, daß ich Sie mit Haut und Haar in meiner Hand habe. Wenn Sie nicht Räson annehmen, so zeige ich Sie ganz einfach an. Denn ich weiß genau, daß Sie Ihr Bücherzimmer listig verheimlicht haben. Jawohl! Geschwindelt haben Sie! Hinterzogen haben Sie! Und welche Strafe auf Hinterziehung von Räumlichkeiten steht, das wird Ihnen vielleicht selbst bekannt sein.« Er stand auf und verließ ohne Gruß das Bücherzimmer. Die Resi hörte ihn mit herrischem Tritt an der Küche vorbeimarschieren. Voll Spannung wartete sie, ob der Herr Oberrechnungsrat vielleicht herauskommen und ihr wenigstens andeutungsweise verraten würde, wie er seinen Vorsatz, »ein Ende zu machen«, ins Werk gesetzt hätte. Nachdem aber eine geraume Zeit verstrichen war, ohne daß er sich gezeigt hätte, so hielt sie es schließlich nicht länger aus und beschloß, obgleich es noch etwas zu früh dafür war, den Tisch zu decken. Ins Bücherzimmer eingetreten, fand sie ihren Herrn, den Kopf in die Hand gestützt und anscheinend tief in Gedanken versunken, im Klubsessel sitzend, wagte es aber nicht, das Wort an ihn zu richten. Die ganze Zeit, während sie leise und behutsam am Tisch herum hantierte, bewegte er sich nicht ein einziges Mal, sondern verharrte regungslos, als wär' er zu Stein erstarrt, immer in der gleichen Stellung. Nichts Gutes ahnend, wollte sie eben das Zimmer wieder verlassen und in ihre Küche zurückschleichen, als er sie anrief. »Ach Resi,« sagte er mit einer gänzlich veränderten, merkwürdig gequälten Stimme, »seien Sie so gut -- ich fühle mich fast zu matt, um aufzustehn -- reichen Sie mir doch das rote Buch her, das dort in der dritten Reihe steht.« Dienstfertig suchte sie nach dem Gewünschten und griff nach einem großen roten Bande in der bezeichneten Reihe, um ihn herabzulangen. »Nein, das ist es nicht! Rechts davon!« rief er ungeduldig. »Noch weiter rechts, das kleine rote Bändchen, ›Marc Aurel, Selbstbetrachtungen‹ steht auf dem Rücken.« Endlich hatte sie's gefunden und brachte es ihm. »Sind der gnä' Herr am End' gar krank?« fragte sie voll Sorge. »Nein! Gar nicht, gar nicht! Besten Dank!« sagte er abweisend und begann in dem Bändchen zu blättern. Während sie ihn beim Mittagessen bediente, war er ununterbrochen in das kleine rote Buch vertieft, achtete ihrer nicht, sprach kein Wort, berührte die Speisen kaum, las nur immer und las ... »Jetzt hat er wieder einmal den Leserappel,« dachte die Resi und war nun schon fest überzeugt, daß der Versuch, die Scheinemanns abzuschütteln, mißlungen sein mußte. Am Nachmittag hätte sie, da Sonntag war, »Ausgang« gehabt, verzichtete aber darauf, um zur Stelle zu sein, falls ihr Herr, der ihr durchaus nicht geheuer vorkam, irgend etwas benötigen sollte. Er verlangte jedoch kein einziges Mal nach ihr, und als sie ihm den Tee brachte, sah sie ihn am Schreibtisch sitzen. Er schrieb emsig oder rechnete und hatte eine Menge Papiere, Briefschaften und Rechnungen um sich liegen. »Zum Abendbrot heute nichts als abermals eine Tasse Tee!« befahl er, flüchtig aufblickend. »Der Herr Oberrechnungsrat sind halt doch nicht ganz beisammen!« stellte sie mit Überzeugung fest. »Ein bißchen abgespannt -- nichts weiter. Vielleicht geh' ich etwas früher als sonst zu Bett ... Ja, was ich sagen wollte: Meinen schwarzen Anzug bürsten Sie mir aus, bitte, und hängen ihn herein. Morgen früh muß ich zu einem Leichenbegängnis.« »Eine Leich'?« fragte sie erstaunt. »In aller Früh'?« »Ja, ausnahmsweise am Morgen ... Ich habe jetzt noch ein paar Stunden zu arbeiten und möchte ungestört sein. So gegen acht vielleicht, wenn Sie so freundlich sein wollten ...« Sie verrichtete alles, wie er sie geheißen, klopfte gegen acht an die Tür, hängte den gesäuberten Anzug herein und räumte das Bett ab. Nachdem sie auch noch den gewünschten Abendtee gebracht, glaubte sie zu bemerken, daß er bereits Anstalten machte sich niederzulegen. Da fragte sie, ob er noch etwas benötige, und als er verneinte, empfahl sie sich und wünschte gute Nacht und baldige Besserung. »Leben Sie wohl, Resi!« rief er ihr in einem milden, herzlichen Tone nach. »Ein guter Herr,« dachte sie. »Wie anders könnt' alles sein, wenn's anders wär'!« ... Und Bangigkeit im Herzen legte sie sich, müde und bekümmert, wie auch sie war, ebenfalls vorzeitig zu Bett. Aber von Einschlafen war lang keine Rede. Heute ging's da drüben wieder toll zu. Sang und Lustbarkeit, Gejohle und Gekreisch. Das Knallen der Champagnerpfropfen hörte sie bis in ihr dunkles Stübchen herein, und wenn ein Vivat ausgebracht wurde, so klang's, als sei eine ganze Volksmenge in den zwei kleinen Zimmern versammelt. Wohl ein paar Stunden lauschte sie den ausgelassenen Geräuschen, bis doch die Müdigkeit ihr allmählich die Ohren verstopfte. Da seufzte sie auf und sagte zu der verstorbenen Frau Pleß -- denn immer redete sie, wenn sie in Gedanken sprach und ihre Ansichten äußerte, mit der seligen gnädigen Frau -- ... »Nein, wie's heutigentags in der Welt zugeht,« sagte sie -- »ich bin mir wirklich nicht mehr gescheit genug! Behörden haben wir in die Haut hinein, eher zu viel als zu wenig, und drangsalieren tun sie die anständigen Leut', daß ihnen das Blut unter den Nägeln herausspritzt. Aber die Schieber und Schleicher und Volksaussauger, die dürfen prassen, und das Geld, das sie den Ehrlichen abgeknöpft haben, zum Fenster hinausschmeißen -- da rührt sich keine Behörde, da schaun die Herrn Drangsalierer ruhig zu und stehn da wie die Waserln und schupfen die Achsel: Ja, da kann man nix machen!« Und die selige Frau Oberrechnungsrat, als die Resi ihr so ihr Herz ausschüttete, nickte mit dem Kopf und lächelte, wie nur die Seligen lächeln können, und sagte: »Lassen Sie sich deswegen kein graues Haar wachsen, Resi. Wenn die Welt anders wär', als sie ist, dann wär's ja keine Kunst, aus dem Leben als halbwegs so anständiger Mensch wieder herauszukommen, wie man einst als unschuldiges kleines Kind in sie hineingekommen ist!« Das leuchtete der Resi ein und beruhigte sie einigermaßen. Sie mußte selber lächeln und schwebte allmählich so federleicht, als ob sie ein Schmetterling und keine Köchin gewesen wäre, ins Blumenland des Traums hinüber, obgleich nur wenige Schritte von ihrer Zimmertür entfernt, drüben im Reich des »Kondors«, das Singen, Kreischen und Johlen noch lange bis nach Mitternacht weitertobte. Den nächsten Morgen, als die Resi aus ihrer Kammer trat und in die Küche gehen wollte, fand sie einen Zettel an die Tür geheftet, darauf stand mit Blaustift geschrieben: »Achtung! Der Gashahn ist geöffnet!« Von Schreck fast gelähmt, stieß sie die Tür auf, ein entsetzlicher, atemverlegender Geruch schlug ihr entgegen -- Jesus Maria! Da saß eine schwarzgekleidete Gestalt ... und rührte sich nicht ... Weit riß sie die Fenster auf. »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« In ihrer Not stürzte sie an die Tür des Mieters. »Wer klopft? Wer ist draußen? Was wollen Sie denn?« »Der gnädige Herr --! der Herr Oberrechnungsrat --!« »Also was ist denn eigentlich los?« »Tot ist er! Umgebracht hat er sich! Der Gashahn ist offen!« »So machen Sie den Gashahn wieder zu und die Fenster auf. Und dann holen Sie die Polizei. Was hab' denn ich dabei zu tun?« Wie im Wahnsinn rannte sie davon, die Treppe hinunter. Es regnete in Strömen, über ihren Füßen, die nur mit weichen Hausschuhen bekleidet waren, spritzte das Wasser der Pfützen zusammen. Da stand der Wachposten. Mit fliegendem Atem berichtete sie ... An der Wohnungstür, die offen stehen geblieben war, hatte sich inzwischen ein Trüppchen Neugieriger angesammelt. Leute aus dem Haus, aus den Keller- und Dachwohnungen, Dienstmädchen, Hausmeisterbuben. Scheu traten sie näher, stießen und schoben einander vorwärts, wagten sich nicht weiter und kamen doch allmählich vom Fleck. Bis einer auf die Schnalle der Küchentür drückte -- da fuhren sie aufkreischend zurück, flüsterten untereinander und spähten abermals durch die Türspalte ... Der Wachmann, mit dem die Resi zurückgekehrt war, wies die Unberufenen hinaus. Unten tönte eine Hupe. Der Wachmann hatte telephonisch die Meldung weitergegeben. »Da ist schon die amtliche Kommission,« sagte er. Im ersten Augenblick hatte die Resi an die Wohnungskommission gedacht. Aber freilich -- sie wußte es ja, es handelte sich um die Aufnahme des Augenscheins. Als sie die Herren in die Küche geleitete, prallte sie neuerdings entsetzt zurück. Da saß noch immer die schwarzgekleidete Gestalt, in derselben Stellung, regungslos. Krampfhaft hielt die herabgesunkene Hand den Schlauch des Gaskochers umklammert ... Der Polizeikommissar, während der Arzt sich um den Toten zu schaffen machte, ersuchte um Feder und Papier. Gerne ergriff die Resi den Anlaß, sich aus der Küche zu entfernen. Sie trat ins Bücherzimmer, das Gewünschte zu holen, und erstarrte -- Scheinemann und die Rothaarige waren mit einem Zollstab an der Arbeit, die Länge der Wände abzumessen. Den Blick voll unauslöschlichen Hasses auf das Paar gerichtet, sagte sie mit Betonung: »Hier ist das Zimmer vom gnädigen Herrn!« »Schweigen Sie!« herrschte der Generaldirektor sie an. »Noch heute verlassen Sie das Haus, Sie freche Person! Schauen Sie meine Frau an! In ein paar Tagen sind wir unser drei, dann haben wir Anspruch auf eine Vierzimmerwohnung!« Und die Rothaarige verzog die Mundwinkel, daß die dicken, gepuderten Wangen wie zwei weiße Äpfel hervorsprangen, und sagte mit ihrem stark slawischen Akzent: »Fir Dohde braucht das Wonnungsahmt nicht merr zu sohrgen!« In diesem Augenblick hatte Herr Scheinemann die sechs großen blauen Banknoten bemerkt, die er gestern dem Oberrechnungsrat ausbezahlt hatte. Unberührt lagen sie noch auf dem Fenstertischchen. Rasch trat er hinzu, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie mit seinem widerwärtigen breiten Lächeln in die dickgefüllte Brieftasche. Die Zobelkinder Aus den Aufzeichnungen eines geistigen Arbeiters Der Winter bei uns ist rauh, fast seit meiner Geburt trage ich mich mit dem Gedanken, mir einmal einen Stadtpelz anzuschaffen. Aber bis jetzt hab' ich es noch nie so weit bringen können. Darum getraue ich mich auch in keinen Kürschnerladen hinein und begnüge mich damit, die Schaufenster als Außenseiter zu betrachten. Nur das Geschäft Zum Zobel in der Krummen Gasse wage ich gelegentlich zu betreten und bewahre ihm sogar eine gewisse Anhänglichkeit, weil es nämlich früher einmal meinem Freunde, dem Kürschnermeister Wittig gehörte, mit dem ich in die Volksschule gegangen bin. Er war schon damals ungemein strebsam, was ich von mir leider nicht behaupten kann. Nach den untersten Schulklassen trat er bei einem Kürschner in die Lehre, während ich auf Karriere verzichtete und mich den Studien zuwendete. Die Kürschnerei Zum Zobel war und ist eine wahre Goldgrube, was mein Freund Wittig, solange er lebte, allerdings beharrlich leugnete. Daß er in diesem Punkte nicht ganz aufrichtig war, wußte in der Krummen Gasse jedes Kind, obgleich, oder vielleicht gerade deshalb, weil er beständig über schlechte Zeiten jammerte. Denn das ist immer das beste Zeichen, daß es einem Gewerbsmann gut geht. Wenn man ihn an das Sprichwort erinnerte: »Handwerk hat einen goldenen Boden,« so gab er seufzend zur Antwort: »Jawohl, das sagte der Weber, als ihm die Sonne in die leere Brotlade schien!« Offenbar gehört zum Gewerbe auch ein bißchen Verstellung, wie denn ein anderes landläufiges Sprichwort es ziemlich unverblümt ausspricht, daß ein Handwerksmann und ein Krämer, die nicht lügen, keine Losung hätten. Nun, ich muß gestehen, daß ich manche Tageslosung Wittigs mit Vergnügen gegen mein gesamtes Jahreseinkommen ausgetauscht hätte. Wieviel der Zobel nur allein an mir, der ich doch eine recht bescheidene Existenz bin, im Laufe der Jahre schon verdient hat, das läßt sich heute gar nicht mehr nachrechnen. Denn alljährlich gebe ich dort meine Pelzkappe und den Muff meiner Frau über den Sommer zur Aufbewahrung. Und wenn ich beides im Herbst wieder abhole, so erkundige ich mich jedesmal, wieviel jetzt ein Stadtpelz kostet. Aber der ist freilich auch jedesmal wieder um ein Ziemliches teurer geworden, sonst hätte ich mir vermutlich schon längst einen gekauft, was dem Zobel neuerdings ein schönes Stück Geld eingetragen haben würde. Der Kürschnermeister Wittig war natürlich nicht gleich vom Lehrjungen weg Meister geworden, sondern ursprünglich bloß Geselle gewesen. Als solcher vermählte er sich zum ersten Male, und zwar mit einer perfekten Köchin, die nicht nur sein Leibgericht, eine süße Mehlspeise, die man in Wien unter dem Namen »Topfenhaluschka« verehrt, ganz wunderbar zuzubereiten verstand, sondern ihm auch ein lediges Kind in die Ehe mitbrachte. Da er dasselbe tat, so glich sich die Sache aus. Der Köchin schlug das Verheiratetsein übrigens vortrefflich an, sie wurde mit jedem Tage dicker und gewann schließlich einen solchen Leibesumfang, daß man wie bei einer alten Eiche, sobald man sie nur erblickte, unwillkürlich darüber nachzusinnen begann, wie viele Männer wohl nötig wären, sie zu umspannen. Nach kurzer, aber um so glücklicherer Ehe starb sie denn auch an Fettsucht, woraus man wohl abermals mit einigem Recht den Schluß ziehen darf, daß das Kürschnergewerbe seine Leute nicht leicht an Unterernährung zugrunde gehen läßt. Da sie ihrem Gatten zwei Knaben geboren hatte und die beiden außerehelichen Kinder ebenfalls Knaben waren, so stand Wittig nach ihrem Tode mit vier männlichen Nachkommen hilflos und allein in der Welt. Nichts natürlicher, als daß in solcher Lage ein ehrlicher Kürschnergehilfe, der sein Hauswesen nicht vor die Hunde kommen lassen will, sich sofort nach einer neuen Lebensgefährtin umsieht. Das Glück wollte es nun, daß ungefähr um dieselbe Zeit die Kürschnermeisterin Zum Zobel in der Krummen Gasse das gleiche Unglück betroffen hatte. Nach kaum achtjähriger Musterehe war ihr nämlich ihr Mann durch den Tod abhanden gekommen und hatte ihr außer der Kürschnerei vier allerliebste kleine Mädchen und die Sehnsucht nach einem neuen Manne hinterlassen. Sie hielt deshalb Ausschau nach einem Gegenstande, der der dreifachen Aufgabe eines Zobelmeisters, -vaters und -gatten gewachsen wäre und hatte alsbald eine Auge auf den stattlichsten ihrer Gesellen geworfen, und das war selbstverständlich kein anderer als mein Schulfreund Wittig. Die Trauung, die in der Kirche des heiligen Laurentius stattfand, und bei der mir die Ehre widerfuhr, als Trauzeuge fungieren zu dürfen, war ein überaus lieblicher Anblick. Es standen nämlich zugleich mit den Brautleuten nicht weniger als acht herzige Kindchen vor dem Traualtar, die vier Knaben Wittigs rechter Hand an der Seite der Braut, die vier Mägdlein der Zobelwitwe links neben dem Bräutigam, alle noch ganz klein und in schneeweißen Festkleidchen, -röckchen oder -höschen und jedes ein Myrtensträußchen oder -kränzlein vor der Brust oder im zierlich gekräuselten Haar, rein als ob sie sich selbst schon als kleine Bräutchen oder Bräutigämchen aufspielen wollten. Wären die Gesichterchen nicht sämtlich nach einer etwas groben, handwerksmäßigen Schablone zugeschnitten gewesen, was ihnen trotz der verschiedenen Herkunft das Ansehen richtiger Geschwister verlieh; und wäre es nicht versäumt worden, ihnen vor Beginn der kirchlichen Handlung die Näschen etwas sorgfältiger zu putzen, so hätte man sich bei ihrem Anblick leicht an irgend ein schönes altmeisterliches Bild können erinnert fühlen, wo süße Putten in Unschuldsgewändern irgend einen heiligen Vorgang andächtig umringen. Man kannte und schätzte in der ganzen Vorstadtgegend den Kürschnergehilfen Wittig, der nun seine Meisterin ehelichte und damit selbst Meister des Zobels wurde, und gönnte ihm sein Glück. »Da kommen zwei Fleißige zusammen,« sagten die Leute; »fleißig in der Arbeit, fleißig im Kinderkriegen.« Und das Kürschnermeisterpaar enttäuschte die Leute nicht. Arbeitsam im Geschäft, umsichtig im Häuslichen, ließen sie sich doch nichts abgehen und führten ein vergnügliches Leben. Die Meisterin, die noch in den besten Jahren stand, war heiter, flott, unternehmungslustig, kurz, was man eine »fesche« Frau nennt, und die Kaiserstadt an der Donau damals noch ein lustiges Pflaster. So munter sie sich aber auch um und um bewegte, ihre Pflicht, für die Vermehrung der Menschheit im allgemeinen und der Zobelkinder im besonderen zu sorgen, vernachlässigte sie darüber keineswegs, sondern beschenkte ihren Mann, zwischen Praterwirt und Heurigenschenke gewissermaßen, alle zwölf bis vierzehn Monate mit einem gesunden Sprößling. Meister Wittig, der diesen Kindersegen wie die Zinsen eines gut angelegten Kapitals, die zu bestimmten Terminen fällig werden, mit stolzer Genugtuung einstrich, verjüngte sich zusehends unter ihrem fröhlichen Einfluß. »Tages Arbeit -- abends Gäste« reimte nun auch bei ihm wie bei seiner Gattin und bei Goethe auf »Frohe Feste«. Als ich wieder einmal meine Pelzkappe und den Muff meiner Frau, weil es plötzlich grimmig kalt geworden war, vom Zobel abholte, traf ich ihn selbst im Geschäft an und ergriff die Gelegenheit mich zu erkundigen, was wohl ein Stadtpelz jetzt koste? Daß mir der Schreck in die Glieder fuhr, als er den Preis nannte, suchte ich zwar nach Möglichkeit zu bemänteln, indem ich rasch entschlossen so tat, als hätte ich mich zufällig selbst aufs Hühnerauge getreten; er mochte es aber dennoch bemerkt haben. Wenigstens legte er sofort die Grammophonplatte mit der Jammerarie ein und behauptete, einen solchen Vorzugspreis könne er freilich keinem anderen machen außer mir, ich möge es nur um Gottes willen nicht weitersagen, er wisse ohnedies nicht mehr, wie er auf seine Kosten kommen solle in den schlechten Zeiten, wo die Felle und die Arbeitslöhne immer teurer, und die Pelzsachen -- im Verhältnis betrachtet, natürlich! -- immer wohlfeiler würden. Es gebe Kunden, die das nicht begreifen wollten, aber verschenken könne er seine Ware denn doch nicht, er habe mit seiner Hände Arbeit eine Familie zu ernähren, und was es heutzutage heiße, so viele hungrige Mäuler zu stopfen, davon könne niemand sich eine Vorstellung machen, der nicht selbst Kinder besitze. Ich mußte einsehen, daß dies in der Tat keine Kleinigkeit sei, und schwieg beschämt. Mein Pelzmantel würde mir doch natürlich auch keine Freude gemacht haben, wenn ich ihn immer mit dem Gefühl hätte tragen müssen, daß Wittigs Kinder seinethalben am Ende dem nagenden Hunger preisgegeben gewesen wären. Und leider wußte ich ja aus eigener Erfahrung, daß das tägliche Leben immer teurer wurde, kostete es mich doch Mühe genug, auch nur meinen kleinen frugalen Haushalt notdürftig über Wasser zu halten, obwohl ich gänzlich kinderlos bin. Meinem Freunde Wittig dagegen hatte gerade damals seine Meisterin nach kaum sechsjähriger Ehe das fünfte Kind geschenkt. Demnach waren es, da schon früher deren acht vorhanden gewesen, derzeit genau ihrer dreizehn, und die Zahl dreizehn gilt bekanntlich für eine Unglückszahl. Über solchen Aberglauben mag lächeln, wer will, ich kann nur feststellen, daß die alte Erfahrung sich leider auch in diesem Falle als zutreffend erwiesen hat. Die »fesche« Frau Wittig, die für ihr Leben gern tanzte, ließ es sich nicht nehmen, am Faschingssonntag, schon wenige Wochen nach der Geburt jenes dreizehnten Zobelkindes ein Kränzchen des Kürschner- und Pelzwarenhändler-Vergnügungsvereines mitzumachen, dessen Fahnenmutter sie war. Und da sie als Patronesse keinem Tänzer einen Korb geben durfte, so übernahm sie sich und verblich am Aschermittwoch als Opfer einer allzu strengen Auffassung ihrer kürschnerischen Ehrenpflichten. Meister Wittig, der den Tag über durch das Geschäft vollauf in Anspruch genommen wurde, konnte die zahlreichen Kinder, deren ältestes nicht viel über zwölf Jahre alt war, auf die Dauer nicht den Dienstboten überlassen. Es blieb ihm deshalb nichts übrig, als sich zu einer dritten Heirat zu entschließen. Kaum daß er diesen Entschluß gefaßt hatte, so faßte er noch den zweiten, sich diesmal eine ganz besonders ansehnliche Gattin zuzulegen. Bei den unausgesetzt schlechten Zeiten und dem immer miserableren Geschäftsgang hatte er sich nach und nach ein stattliches Vermögen erworben und konnte als wohlhabender Mann, der noch kaum vierzig Jahre zählte, unter den Töchtern der angesehensten Bürgerfamilien Umschau halten. Jung sollte die Erwählte sein, doch nicht flatterhaft, schön, aber nicht hoffärtig, liebenswürdig, aber nur gegen ihn, fröhlich, doch nicht allzu vergnügungssüchtig, reich, doch nicht anspruchsvoll, vornehm, dabei aber arbeitsam, kinderlieb gegen die früher angesammelten Dreizehn, aber doch vor Verlangen brennend, die Unglückszahl sobald wie möglich durch erneuten Zuwachs unschädlich zu machen. Billiger beschloß er, es auf keinen Fall zu geben. All die genannten süperben Eigenschaften im stillen rekapitulierend, um sie unauslöschlich seinem Gedächtnis einzuprägen, wanderte er wenige Wochen nach dem Heimgang seiner Therese den endlosen Weg zum Friedhof hinaus, um deren Grab zu besuchen und ihr an dieser geweihten Stätte feierlich zu geloben, daß nur die Würdigste ihre Nachfolgerin werden sollte. Zu seiner Überraschung fand er daselbst eine ihm unbekannte Frauensperson in Trauerkleidern und Kreppschleier vor, die damit beschäftigt war, den noch unbegrünten Grabhügel mit schmächtigen Pflänzchen Vergißmeinnicht zu bepflanzen, welche sie eins nach dem anderen aus einem schwarz gestrickten Beutel hervorholte, ein jedes mit Daumen und Zeigefinger behutsam anfassend und die übrigen drei Finger dabei zierlich von sich streckend. Die Rührung, die den Kürschnermeister bei diesem Anblick überfiel, erleichterte ihm die Anknüpfung eines Gesprächs. Er erfuhr, daß er es mit einer zwar nicht übermäßig wohlhabenden, aber um so ehrbareren Jungfrau zu tun habe, die sich ihres Lebens Unterhalt tapfer und redlich mit Anfertigung kunstvoll gestrickter Perlenbeutel verdiene und die Verewigte zwar nicht persönlich gekannt, aber aus der Ferne als das Muster einer Bürgerin, Gattin und Mutter seit langem mit solcher Inbrunst verehrt hätte, daß sie jetzt nicht umhin könne, täglich den weiten Weg auf den Friedhof zu unternehmen, um den ihr so teuren Grabhügel zu betreuen. Eine so selbstlose Gesinnung, eine so opferwillige Betätigung bewegten Meister Wittigs Herz aufs tiefste. Voll Bewunderung und Ergriffenheit betrachtete er die vor ihm stehende schwarz verhüllte Gestalt, die wie eine Odaliske hinter dem dichten Schleier hervor zu ihm gesprochen hatte, mit überströmenden Empfindungen faßte er nach ihrer Hand, sie unter warmen Dankesworten zu drücken. Aber sogleich zog er diese seine Hand erschrocken wieder zurück, als jene sich rasch darauf niedergebeugt hatte, sie zu küssen. »O verwehren Sie,« rief die Grabhügelbetreuerin aus, »diesen keuschen und demutsvollen Kuß nicht einer reinen Seele, welche die Gefühle der Hochachtung und Verehrung, die sie für die in die himmlischen Heerscharen Aufgenommene hegt, längst auch auf Sie, als auf die Zierde des Gewerbestandes, ja der gesamten bürgerlichen Mannheit ausgedehnt hat!« Und damit eroberte sie gewaltsam die bereits entzogene Hand wieder zurück und drückte ihr wirklich -- um in ihrem Geiste zu sprechen -- den Stempel ihrer keuschen Lippen auf. Der Kürschnermeister besaß nur eine dunkle und entfernte Vorstellung von dem, was die Leute »poetisch« nennen, aber so ungefähr, meinte er, wie diese schwarze Jungfrau in Wort und Tat sich gebärdete, müsse es wohl sein. Ein Hauch Maienluft umwehte ihn, und der Kitzel der Eitelkeit tat das übrige, ihn bis zur Wehrlosigkeit einzuschmelzen. Die umgelegte Schlinge, an der ihn der Satan zog, mit dem führenden Finger Gottes verwechselnd, zweifelte er nicht an einer weisen Vorsehung, die dieses scheinbar zufällige Zusammentreffen eingefädelt hätte, und als die Grabhügelbetreuerin um die Erlaubnis bat, hier und da auch nach den armen verwaisten Kindern sehen zu dürfen, gab er dankerfüllt und darüber staunend, wieviel Edelmut und Güte auf dieser sonst mit Recht verrufenen Welt doch noch in mancher versteckten und unbeachteten Gartenecke blühe, seine freudige Einwilligung hierzu. Da die hochgemute Jungfrau hierauf, indem sie ein verheißungsvolles »Auf Wiedersehen!« hauchte, so rasch wie die Fee im Märchen entschwinden wollte, stellte er sich ihr entschlossen in den Weg und bat, ihn nun auch ihre verhüllten Züge sehen zu lassen, damit er seine Wohltäterin ein nächstes Mal wiederzuerkennen in der Lage wäre. Er hatte gehofft, die Spuren eines so engelhaften Herzens in diesen Zügen getreulich widergespiegelt zu finden, und trat nun unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie nach einigem Zieren wirklich den Kreppschleier zurückschlug. Denn einigermaßen entsetzt starrte er in ein angeälteltes und aufgeschwemmtes Kartoffelgesicht von ausgesuchter Häßlichkeit, das auch durch ein verschämt herausforderndes Lächeln nur mäßig an Liebreiz gewann. Indes war er rücksichtsvoll genug, seine Enttäuschung nach Möglichkeit zu verbergen, und durch das Vorausgegangene bereits zu heillos verstrickt, als daß er nicht auch seinerseits ein, wenn auch etwas schwächliches »Auf Wiedersehen!« über die Lippen gebracht hätte. Auf dem Heimweg hatte er bereits seine Fassung soweit wiedererlangt, daß dürre Erwägungen des Verstandes, die sich als Weisheit aufspielten, den peinlichen, aber unbestochenen Eindruck der Entschleierung überwinden konnten. Einem reifen und umsichtigen Manne, sagte er sich, zieme es nicht, sich bei den Weibern vorwiegend ans Sichtbare zu halten, wie es die Gewohnheit oberflächlicher Springinsfelde sei. In seinen Jahren müsse die Vernunft den Ausschlag geben, die den Wert einer Frau an den unsichtbaren Schätzen der Seele messe, durch die hundertfältige Erfahrung belehrt, daß Schönheit mit Zucht selten auf einer Bank sitze, manchmal schon mit dem ersten Kindbett vergehe, auf alle Fälle aber nicht so langlebig sei wie die Tugend. Und als die Grabhügelbetreuerin einige Wochen hindurch täglich ins Haus gekommen war und sich auch als rastlose Kinderbetreuerin erwiesen hatte, gewann er die Überzeugung, daß sein Hauswesen in keinen anderen Händen besser aufgehoben sein würde als in den ihrigen. Er tröstete sich deshalb mit dem Gedanken, daß in der Nacht Schönheit und Häßlichkeit ohnedies nicht voneinander zu unterscheiden wären, und errichtete unter schnöder Mißachtung der anonymen Warnungsbriefe, die ihm ins Haus schneiten, den Tempel einer neuen Ehe auf der Grundlage gegenseitiger Hochachtung und Seelenverschwisterung. So hatte der Zobel wieder eine Meisterin, aber was für eine! Bald nach der Hochzeit, die diesmal in aller Stille und vollster Verborgenheit erledigt wurde, stellte sich heraus, daß die neue Frau Wittig nicht nur an drei verschiedenen Kostplätzen, sondern auch von drei verschiedenen Männern drei verschiedene Nachwüchslinge besaß, die das Mitleid der Welt schon durch den Umstand herausforderten, daß sie alle drei der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Meister Wittig, weitherzig, wie er war, erbarmte sich ihrer denn auch und nahm sie großmütig in sein Haus auf, da er sich sagte, auf ein paar mehr oder weniger komme es wirklich nicht an, und man könne es den armen Würmern doch nicht entgelten lassen, daß sie eine scheinheilige Mutter hätten. Viel peinlicher berührte ihn die nachträgliche Entdeckung, daß die Perlenstickerin bei der Ausübung ihres Kunsthandwerkes sich den Geruch einer geradezu exemplarischen Schlamperei zugezogen hatte, weshalb ihr nach und nach alle Kunden in Verlust geraten waren. Sie hatte nämlich die Perlen, welche ihre Auftraggeber für die anzufertigenden, antiken Mustern nachgeahmten Beutel ihr zur Verfügung stellten, aus Leichtsinn und Gedankenlosigkeit immer wieder in falscher Reihenfolge aufgefädelt, so daß hinterher beim Stricken statt der beabsichtigten Rosensträußchen oder sonstigen zierlichen Blumenmuster die vertraktesten Figuren und buntesten Verrücktheiten zum Vorschein kamen. Begreiflich, daß man sich bald für ihre Dienste bedankte, und daß sie aus diesem Grunde bis über die Ohren in Schulden steckte. Am entschiedensten aber fiel für Wittig ins Gewicht, daß sie sich nach und nach als böse Sieben entpuppte und ihn, die Kinder und das ganze Haus meistern wollte. Ein anderer als er hätte vielleicht angesichts eines solchen Kreuzes, das zu große Vertrauensseligkeit und mangelnde Vorsicht ihm aufgebürdet, ratlos die Hände in den Schoß gelegt und sich nicht zu helfen gewußt. In Wittig aber hatte das Handwerk eine beneidenswerte Entschiedenheit und Kaltblütigkeit ausgebildet. Denn als Kürschnermeister war er gewohnt, wenn er einen Kragen oder einen Mantel zuschnitt, mutig und entschlossen in das kostbarste Biberfell hineinzuschneiden, wenn er einmal erkannt hatte, daß dies nötig sei, und sich durch kein ängstliches Zagen, es könne schief gehen, darin wankend machen zu lassen. Mit derselben Unerschütterlichkeit ging er denn auch hier zu Werke. Die drei Kinder der Grabhügelbetreuerin behielt er zwar bei sich, da sie schon einmal da und unter der übrigen Kinderschar wegen ihrer Munterkeit recht beliebt waren; sie selbst aber setzte er, ohne einen Heller ihrer Schulden zu bezahlen, kurzerhand an die Luft und ließ sich scheiden. Das fehlgeschlagene Experiment hatte also den Kindersegen zwar vermehrt, aber keine brauchbare Mutter geliefert. Eine solche tat aber dringend not, es ging bereits alles drunter und drüber, der Meister konnte sich nicht mehr viel Zeit zum Überlegen gönnen. Einem psychischen Gesetze unbewußt gehorchend, fiel er jetzt ins entgegengesetzte Extrem. Mit einer Ältlichen war es schief gegangen, darum wählte er nunmehr eine Blutjunge, die fast noch im kindlichen Alter stand. Die Verflossene war ein Ausbund an Häßlichkeit gewesen, aber er hatte sie für ehrbar, innerlich wertvoll und häuslich tüchtig gehalten. Die Neuerwählte war hübsch wie ein frischer Apfel, in den hineinzubeißen man nicht widerstehen kann, von ihren inneren Eigenschaften dagegen wußte er nichts, als daß sie voll Übermut, Frohsinn und Ausgelassenheit steckte. Zu jener hatten kühle Erwägungen einer vermeintlichen Klugheit ihn bestimmt, in diese verliebte er sich mit der kopflosen Leidenschaftlichkeit eines Jünglings. Um es gleich im voraus zu sagen: Das Heiraten ist ein Lotteriespiel, und Meister Wittig hatte es niemals zu bereuen, daß er dieses siebzehnjährige Landmädel heimführte. Denn sie war keine Städterin, sondern eine arme Bauernmagd, die Butter und Eier ins Haus zu bringen pflegte. Niemand hätte es für möglich gehalten, daß sie sich in die Rolle einer Zobelmeisterin würde finden können, und doch gelang es ihr glänzend. Sie verstand sich nicht nur vorzüglich aufs Wirtschaften, konnte ebenso sparsam wie üppig sein, jedes zu seiner Zeit und am richtigen Orte, sondern schuftete auch selbst für drei Mägde und wußte dennoch am Sonntag, wenn sie mit dem Meister in die Laurentiuskirche zur Messe ging, die stattliche Bürgersfrau vorzustellen und ihren kostbaren Sealmantel mit dem Anstand einer vollendeten Dame zu tragen. Den siebzehn vorhandenen Zobelkindern gegenüber -- denn so viele waren es mit der Zeit geworden -- verhielt sie sich ungefähr wie eine gleichgestimmte Schwester, die selbst den Kinderschuhen kaum entwachsen und über Spiel und Spaß noch nicht erhaben ist. Die jungen Herzen flogen ihr zu, alle wetteiferten, ihr etwas zuliebe zu tun, jedes erfüllte mit Freudigkeit, was ihm oblag. Die Räume widerhallten von Singen und Lachen, und doch blieb nichts versäumt, und alles ging seinen geordneten Gang. Der Kürschnermeister konnte seinem Herrgott dafür danken, es so unerwartet glücklich getroffen zu haben. An der jungen Frau, die sich an seiner Seite eher wie eine blühende Tochter ausnahm, hätte sich in der Tat nichts, aber auch gar nichts, aussetzen lassen, wäre sie nicht mit einer Eigenschaft, oder vielmehr Anlage ausgestattet gewesen, aus der man ihr billigerweise keinen Vorwurf machen konnte, die aber in diesen inzwischen hereingebrochenen Kriegszeiten und Ernährungsnöten immerhin etwas Mißliches hatte. Sie war nämlich gewissermaßen eine Naturkraft und von so fabelhafter, geradezu agrarischer Fruchtbarkeit, daß man sie sich beinahe wie eine indische Göttin mit unheimlich multiplizierten und potenzierten Attributen der Weiblichkeit begabt hätte vorstellen mögen, wäre ihr Wuchs nicht vollständig normal, ja von einer reizenden üppigen Schlankheit gewesen. Jahraus, jahrein, ununterbrochen, zu jeder Jahreszeit, beschenkte sie ihren Gatten immer wieder mit neuen Leibeserben, und zwar grundsätzlich nur mit Zwillingen, Schlag auf Schlag, ohne auszusetzen, und in so kurzen Abständen hintereinander, daß es mit der Naturgeschichte schon fast nicht mehr vereinbar schien. Und wenige Tage nach jeder Geburt schuftete sie schon wieder trällernd und lachend im Hause umher, war rüstig bei ihrer Arbeit, wusch, kämmte, kleidete die Kleinen, Kleineren und Kleinsten, kochte und scheuerte, scherzte, plauderte und sprach jedermann gegenüber freimütig und mit liebenswürdiger Arglosigkeit die Hoffnung aus, recht bald wieder in diese zu kommen, denn etwas Schöneres, als Mutter sein und werden, gebe es nicht auf der Welt ... Mehrere Jahre hindurch hatte ich, um billiger auszukommen, den Versuch gewagt, meine Pelzmütze und den Muff meiner Frau selbst einzusommern. Wegen des Krieges bekam man längst keinen Kampfer mehr, Naphthalin war schwer und nur zu Liebhaberpreisen erhältlich, ich versuchte es deshalb, mich mit selbst gesammeltem und getrocknetem Thymian zu behelfen. Und siehe, auch das heimische Kräutlein tat seine Wirkung. Ich blieb also dabei, und auch als der Krieg schließlich doch ein Ende nahm, fand ich, weil das Naphthalin trotzdem immer unerschwinglicher wurde, zunächst keine Veranlassung, die Selbstbewirtschaftung meiner Pelzsachen einzustellen. Meine Gewissensbisse darüber, daß ich dem Kürschnergewerbe ins Handwerk pfuschte und meinem alten Schulfreunde Wittig in diesen teuren Zeiten nichts mehr zu verdienen gab, schlug ich mit dem Gedanken nieder, daß jetzt vielleicht doch endlich einmal der Zeitpunkt nahe wäre, wo eine allgemeine Verbilligung der Waren es mir erlauben würde, den lange gewünschten Pelzmantel anzuschaffen. Dann würde ich sofort meine Schritte in die Krumme Gasse lenken und mich für die Gewerbestörung, deren ich mich aus notgedrungener Sparsamkeit schuldig gemacht, glänzend revanchieren. Indessen schien, solcher Zukunftspläne ungeachtet, die waltende Gerechtigkeit meine Untreue gegen den Zobel dennoch übelgenommen zu haben. Denn als ich eines Tages wieder die beiden jetzt schon etwas schäbig gewordenen Pelzstücke, deren Wert sich aber trotzdem während dieser Zeit der Not erheblich gesteigert hatte, aus dem mit Umsicht ausgedachten System ihrer Umhüllungen schälte, mußte ich zu meiner Entrüstung gewisse Spuren von Gespinnsten darin bemerken, deren Vorhandensein ich lieber nicht zur Kenntnis genommen hätte. Ein größerer Schaden war zum Glück noch nicht angerichtet, das Schicksal hatte vorerst nur warnend seinen Finger erhoben, um mir Zeit zu lassen, mich eines besseren zu besinnen. Das tat ich denn auch und trug im nächsten Frühjahr meine Pelzsachen wieder zum Zobel. Fast hätte ich ihn nicht gefunden, das alte, niedrige, aber breite und trauliche Geschäfts- und Familienhaus war vom Erdboden verschwunden. An seiner Stelle erhob sich ein ansehnlicher, gediegener, vierstöckiger Bau mit einer nagelneuen eleganten Firmatafel an der Stirn und riesengroßen spiegelnden Schaufenstern im Untergeschoß, hinter denen ganze Berge des herrlichsten Pelzwerks ausgelegt waren. Alles hatte sich verändert, war unendlich stattlicher, glänzender, großstädtischer geworden, nur Wittig selbst, der hinter dem Ladentisch stand und ein Biberfell zuschnitt, schien derselbe geblieben. Kaum hatte er mich erblickt, so fing er über die schlechten Zeiten zu klagen an, über die fortschreitende Teuerung im Pelzhandel, die Uferlosigkeit der Lohnforderungen, die Unerschwinglichkeit der Steuern! Begütigend meinte ich: Wenn er in dieser Nachkriegszeit, wo ein Backstein auf zehn Kronen oder höher zu stehen komme, sich hätte aufs Bauen verlegen können, so könne es wohl gar so schlimm kaum stehen? Da fuhr er mir aber ärgerlich über den Mund: ich redete eben, wie ich's verstünde, und wüßte nichts davon, wie schwer es für einen Geschäftsmann sei, sein bißchen Erspartes in Sicherheit zu bringen. Gerade darin liege ja das Unglück, daß er seine paar sauer verdienten Heller in einen gänzlich unrentabeln Hausbau habe stecken müssen, nur um nicht zu riskieren, daß bei nächster Gelegenheit alles zum Teufel ginge, oder die Steuerbehörde ihm den kargen Lohn seiner Lebensarbeit forteskamotiere. »Ja, du hast es gut,« sagte er. »Du brauchst nicht zu sorgen, du bist kinderlos, du kannst lachen!« Und nun fing er wieder über die Kinder zu jammern an, und was es koste, bis sie alle satt und mit Kleidern und Schuhen und Schulrequisiten versorgt wären. Und die Größeren, die gingen dann nur noch desto mehr ins Geld, wenn sie einmal ihre Hopsereien und sonstigen Lustbarkeiten im Kopfe hätten! Wie viele Kinder im ganzen es jetzt eigentlich wären? erkundigte ich mich. Aber er wußte es selbst nicht mehr und behauptete, es sei auch ganz umsonst, sich die Zahl einzuprägen, unvermerkt wären es inzwischen doch schon wieder um ein paar mehr geworden. Denn immer kämen noch neue hinzu, immer wieder neuer Nachschub, unausgesetzt, wie bei den Kaninchen, die junge Frau täte es nun einmal nicht anders. »Ich kann's bald nicht mehr leisten!« stöhnte er. »Nein, ich kann's wirklich nicht mehr leisten!« Ich verstand nicht recht, wie er es meine -- ich selbst freilich geriet ja täglich in größere Enge und Bedrängnis, aber daß auch er bei dem offenbar glänzenden Geschäftsgang sollte Geldsorgen haben, kam mir nicht ganz wahrscheinlich vor. Erst jetzt bemerkte ich, daß er doch nicht ganz derselbe geblieben war, der er früher gewesen. Er sah entschieden angegriffen aus, erschöpft und aufgerieben, und war sichtlich vom Fleisch gefallen. Ablenkend fragte ich, was ein Stadtpelz jetzt wohl kosten würde, und als er den Preis nannte, empfahl ich mich rasch und suchte die Tür zu gewinnen. »Auf Wiedersehen!« rief er mir nach. »Du kommst wohl im Herbst wieder --?« »Jawohl, um meine Pelzmütze und den Muff ...« Damit schloß ich geschwind die Tür von außen und jagte atemlos die Krumme Gasse hinunter ... Aus dem Wiedersehen im Herbst sollte leider nichts mehr werden. Denn wenige Monate später erhielt ich die Todesanzeige Wittigs. Da und dort hörte ich die Meinung äußern, er sei halt doch schon ein bißchen zu alt gewesen für das Naturphänomen einer solchen Urkraft von Weib, wie die ländliche Gattin es war. Auf der Karte standen neben der trauernden Witwe die sämtlichen Sprößlinge unterschrieben. So viele Namen hab' ich außer in einem Adreßbuch wohl selten auf einem Fleck beieinander gesehen. Mehr als einmal setzte ich an, all diese Karl und Rudi und Hansl und Seppl und Franzl und Ferdl und Gustl und Pepi, diese Mini und Lini und Tini und Fini und Romi und Moni und Loni und Vroni zusammenzuzählen, aber ich bin nie damit fertig geworden, es kam immer etwas dazwischen. Ein gewisser Bruchteil dieser Kinder, die alle unter dem Namen Wittig verzeichnet standen, konnte freilich bloß als Stief- oder gar nur als Adoptivkinder gelten, mindestens fünf bis sechs verschiedene Mütter und Väter hatten beim Zustandekommen der ganzen Gesellschaft mitgewirkt. Aber der Löwenanteil dabei fiel zweifellos meinem Freunde Wittig zu, der weitaus überwiegenden Zahl der Nachwüchslinge gebührte der Name Wittig von Bluts wegen. Mit Recht durfte der Meister von jenseits des Grabes auf ein arbeitsames, gesegnetes Leben zurückblicken. Etwas mehr als ein Jahr nach seinem Heimgang kam mir eine fein ausgestattete Drucksorte mit der Nachricht zu, daß die Kürschnermeisterswitwe Wittig sich mit einem bewährten Mitarbeiter des Zobels, dem Kürschnergehilfen Soundso, vermählt habe. Ewige Wiederkehr des Gleichen! Die Meisterin gab bekannt, daß das Geschäft unter der früheren Firma weiterbestehen werde, und bat alle alten Kunden, ihr geschätztes Vertrauen auch dem neuen Inhaber zuzuwenden, der gewiß bestrebt sein werde, durch solide und unerreicht wohlfeile Bedienung usw. usw. ... Ich befand mich, als ich diese Mitteilung erhielt, gerade frierend auf einer Reise, die ich trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit notgedrungen hatte unternehmen müssen. Die »unerreicht wohlfeile Bedienung« ließ meine nicht auszurottende Hoffnungsfreudigkeit sofort wieder in die Halme schießen, ich telegraphierte stehenden Fußes mit bezahlter Rückantwort in die Krumme Gasse: Was ein Stadtpelz jetzt koste? Die eingelangte Antwortdepesche warf mich für mehrere Tage aufs Krankenlager. Als ich wieder genesen und heimgekehrt war, erzählte mir ein Bekannter, den ich zufällig traf, die Hochzeit der Zobelwitwe sei ein wahres Ereignis für die ganze Vorstadt gewesen. In ungezählten Fiakern, behauptete er, die man in ganz Wien habe zusammentrommeln müssen, hätte die Familie sich in die Laurentiuskirche begeben, in der fürs schaulustige Publikum kaum noch Raum übriggeblieben sei, weil die Wittigs allein sie beinahe schon gefüllt hätten. Die Prachtentfaltung, die dabei getrieben worden, könne niemand sich vorstellen, der es nicht mit angesehen. Das kostbare Pelzwerk allein, das die größeren oder ganz erwachsenen von den Zobelkindern an sich getragen, wäre nach Schätzung solcher, die etwas von der Sache verstünden, ausreichend gewesen, die gesamten Schulden des österreichischen Bundesstaates zu tilgen. +Relata refero.+ Mein Gewährsmann, der sich in Übertreibungen zu gefallen schien, wußte auch noch eine Menge Einzelheiten über den Aufwand beim Festessen und dergleichen mehr mitzuteilen, Dinge, die den Stempel des Klatsches an sich trugen, wie eben der Neid und die Scheelsucht ihn aushecken. Ich selbst kann dem gegenüber nur feststellen, daß alles, was ich später über Wittigs Nachkommen hörte oder selbst sah, mir einen durchweg günstigen Eindruck machte. Sie genossen den allerdings recht bedeutenden Wohlstand, den der Vater ihnen hinterlassen hatte, zwar ohne Kopfhängerei in Fröhlichkeit, aber auch ohne Prahlerei oder übermäßigen Aufwand, bescheiden und einträchtig miteinander hausend, in einem heiteren brüderlich-schwesterlichen Zusammenleben, das um so bemerkenswerter war, als manchmal sogar in ganz kleinen Familien Uneinigkeit herrscht und hier die verschiedene Herkunft einen mangelnden Zusammenhang oder etwa auftretende Reibungen bis zu einem gewissen Grade erklärlich gemacht hätte. Derlei kam aber in der freundlichen kleinen Geschwisterrepublik überhaupt nicht vor, und wußte auch keines recht, wer eigentlich sein Vater und seine Mutter gewesen -- denn es war schwierig, sich in dieser Familiengeschichte auszukennen -- so hingen sie doch in herzlicher Neigung aneinander und waren sich dessen bewußt, daß sie alle (außer dem Herrgott im Himmel) wenigstens einen, allerdings kaum minder abstrakten Vater miteinander gemein hätten, nämlich den »Zobel« selbst. Im ganzen Bezirk der Krummen Gasse nannte man sie deshalb die Zobelkinder, und darunter verstand man nicht bloß die wirklichen Kinder, deren auch unter dem jetzigen Firmeninhaber immer wieder neue zuwuchsen, sondern begriff auch die halb- und ganzerwachsenen mit ein, ja die Eltern selbst, die beide noch jung und ohnedies von den älteren Kindern äußerlich nicht leicht zu unterscheiden waren. Als ich einmal an einem Sonntag im Frühling einen Spaziergang in den Wienerwald unternahm, hörte ich in der Gegend von Weidlingau durch die reine Abendluft vielfältiges Singen und Lachen frischer Stimmen im neubegrünten Buchenforst erklingen und gewahrte einen langen Zug von Kindern und jungen Leuten, der jubilierend den einsamen Waldweg dahinzog und sich der Stelle näherte, wo ich im Grase lag. Erst hielt ich die Erscheinung für den Sonntagsausflug irgend einer Wandervogelvereinigung, doch klärten die Ganzkleinen, die Huckepack geschleppt, und die Kinderwägelchen, in denen die Allerkleinsten mitgeschoben wurden, mich bald darüber auf, daß dies doch nicht zutreffen könne. Was aber der stattliche Aufzug sonst bedeute, darüber ging mir erst in dem Augenblick ein Licht auf, als ich plötzlich mitten darunter die noch immer jugendlich aussehende Zobelmeisterin erblickte, die mir von früher bekannt war. Von einem Schwarm scherzender junger Leute und singender Mädchen umringt, die sie liebevoll geleiteten und beim Bergabsteigen sorgsam stützten, glich sie, da sie unverkennbar guter Hoffnung war, einem Sinnbild sommerlicher Fruchtbarkeit inmitten lockerer Frühlingsgenien, und ich war froh, daß die freundliche Karawane der Zobelkinder eine gute Weile brauchte, um plaudernd, lachend und trällernd, unter fröhlichem Saitenklang, mit buntflatternden Wimpeln der Lautenbänder an mir vorüberzuziehen, und ich auf diese Weise den Anblick in aller Gemächlichkeit genießen konnte. Noch lange blickte ich sinnend hinter den Entschwindenden drein, bis die letzten Nachzügler sich in den grünen Waldgängen verloren hatten. Ein friedliches Gefühl innerer Beruhigung war in mir zurückgeblieben. Ich sagte mir, daß es trotz der fürchterlichen Nachwirkungen des Weltkrieges mit dem Aussterben unseres Volksstammes denn doch noch seine guten Wege haben dürfte ... Seither habe ich als alter Freund Wittigs wiederholt Geburtsanzeigen neuer oder Verlobungs- und Trauungsanzeigen heiratsfähig gewordener Zobelkinder, oder endlich Geburtsanzeigen der immer häufiger auftauchenden Zobelenkelchen zugesendet erhalten und meine damals aufgekeimte Hoffnung dadurch aufs erfreulichste bekräftigt gefunden. Dem jungen Bundesstaate allerdings erwuchsen aus Wittigs Kindersegen nach und nach nicht unbeträchtliche Ungelegenheiten. Denn je mehr von den Kindern und Enkeln des Zobelhauses in die Schulen eintraten oder sie wieder verließen, heranwachsend verschiedenerlei Berufe ergriffen oder Tätigkeiten anmeldeten und, reif geworden, Ehen schlossen oder selbst wieder Kinder bekamen, kurz, Handlungen begingen, bei denen man irgendwie mit den öffentlichen Stellen in Berührung kommt und gewisse Ausweispapiere benötigt, desto öfter tauchte die Frage auf, welcher Mutter oder welches Vaters Sohn oder Tochter, und welcher Großeltern Enkelkind dieser oder jener Zobelnachwüchsling eigentlich sei, und um so mehr trat die heillose Verwicklung zutage, die Meister Wittig durch seine viermalige Vermählung und die wiederholte Aufnahme eigener und fremder außerehelicher Kinder in sein Haus hervorgerufen hatte. Infolge gesteigerter Vorladungen und Einvernehmungen, widersprechender Aussagen und irrtümlicher Eintragungen kam es schließlich so weit, daß überhaupt kein Mensch sich mehr auskannte und die Behörden an der Möglichkeit verzweifelten, diesen Weichselzopf ohne Vermehrung des Beamtenpersonals auszukämmen. Es wurde deshalb ein eigenes Ressort »Zobel« geschaffen und ein Beamter mit Titel und Charakter eines Regierungsrates ernannt, dessen Lebensaufgabe darin besteht, aus der quellenmäßigen Erforschung von Wittigs Familienverhältnissen eine Wissenschaft zu machen und die Zobelkinder in Evidenz zu halten. Da ich inzwischen zu der Einsicht gelangt war, daß ich als freier geistiger Arbeiter mein Leben nicht länger würde fristen können, so habe ich mich um diesen Beamtenposten beworben, wurde aber leider abschlägig beschieden, da ich die Altersgrenze für den Eintritt in den öffentlichen Dienst bereits überschritten habe. Ich will nicht klagen und jammern, wie mein Freund Wittig es so gerne tat, ich schweige und versuche durchzuhalten. Das eine aber habe ich mir geschworen, und das halt' ich auch: Wenn ich wieder mal auf die Welt komme, so laufe ich beizeiten aus der Schule und trete bei einem Kürschner in die Lehre! [Illustration] Im gleichen Verlage erschien von Emil Ertl: Liebesmärchen Einbandzeichnung von Friedrich Felger 5. Tausend »Ein kleines, feines Buch, das der Dichter in seiner frühen Jugend geschrieben hat. Märchen und Sagen, denen er neuen Inhalt gegeben hat; alle seine Erzählungen läßt er überfließen von der großen Liebe zweier Menschen zueinander. So entstand ~ein rechtes Märchenbuch~, das jung und alt hineinführt in zauberstille, lauwarme Sonnwendnächte, in denen der Mond seine zarten Lichtschleier über Wald und Wiese breitet.« (+Dr.+ Wendriner in Reclams »Universum«.) Im gleichen Verlage erschienen von Emil Ertl: Die Leute vom blauen Guguckshaus Roman · 19. Tausend Einbandzeichnung von Prof. ~Alfred v. Schrötter~ Freiheit, die ich meine Roman aus dem Sturmjahr · 16. Tausend Auf der Wegwacht Roman · 16. Tausend Vorstehende drei Romane sind unter dem Titel »=Ein Volk an der Arbeit=« ~einheitlich gebunden~ zu einem Gesamtwerk vereinigt. Das Lächeln Ginevras Roman · 7. Tausend Der Antlaßstein Roman · 8. Tausend Einbandzeichnung von ~R. Teschner~ Der Neuhäuselhof Roman · 11. Tausend Einbandzeichnung von ~F. Felger~ Nachdenkliches Bilderbuch Ernste und heitere Geschichten Einbandzeichnung und Buchschmuck von ~Alfred Keller~ 5. Tausend Nachdenkliches Bilderbuch Zweite Folge · 4. Tausend Einbandzeichnung von ~Alfred Keller~ Buchschmuck von Prof. ~Alfred v. Schrötter~ *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BERG DER LÄUTERUNG *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. 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