Der Hafen

By Else Rabe

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Title: Der Hafen

Author: Else Rabe

Release date: February 17, 2025 [eBook #75396]

Language: German

Original publication: Berlin: Volksverband der Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H, 1927

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HAFEN ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
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Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.

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                         Else Rabe / Der Hafen




  Dieses Buch ist als erster Band der neunten Jahresreihe für die
  Mitglieder des Volksverbandes der Bücherfreunde hergestellt worden
  und wird nur an diese abgegeben. Der Druck ist in Walbaum-Fraktur
  durch die Spamersche Buchdruckerei in Leipzig erfolgt. Der Entwurf
  des Einbandes stammt von Walter Schulze-Keller. Das echte Ziegenleder
  lieferte die Lederfabrik Carl Simon Söhne in Kirn (Nahe). Gebunden
  wurde das Buch von der Buchbinderei-Abteilung des Volksverbandes der
  Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag G. m. b. H.


                          Nachdruck verboten
          +Copyright 1927, by Volksverband der Bücherfreunde
                 Wegweiser-Verlag G. m. b. H., Berlin+




                               Der Hafen


                                 Roman

                                  von

                               Else Rabe

                                   *

                            [Illustration]

                                 1927

                    Volksverband der Bücherfreunde
                     Wegweiser-Verlag G. m. b. H.
                                Berlin




                                Inhalt


                     Der erste Spatenstich       5

                    Der Feind                   21

                    Die Katastrophe             40

                    +Vita somnium breve+        55

                    Der Aufsichtsrat            62

                    Die Mutter                  82

                    In Erwartung               101

                    Der Kapitän                128

                    Die Verhaftung             149

                    Der Mann in der Mitte      178

                    Die Vergangenheit          200

                    Der Sohn                   219

                    Das Brot                   239

                    Die Scheidung              259

                    Der Streik                 276

                    Die Begegnung              289

                    Der Kran                   315

                    Das Fieber                 328

                    Der Abschied               343

                    Die Einweihung             370




                         Der erste Spatenstich


»Ich habe keinen Augenblick Zeit und bin für niemand mehr zu sprechen!«
sagt Joachim Becker abwehrend, noch ehe er ein Wort gehört hat.

»Es ist die Frau Gemahlin«, stammelt der Mann an der Tür verwirrt.

Das macht auf den jungen Direktor Becker durchaus keinen Eindruck. Er
sagt nur in gedämpfterem Tone: »Dann lasse ich bitten,« und wühlt in
seinen Papieren, so daß er verhindert ist, seiner Frau entgegenzugehen.
Sie bleibt mit erwartungsvollem Lächeln im Hintergrund stehen.

»Du hast es sehr gut gemeint,« sagt er nachsichtig, wie er die Spannung
in ihrem jungen blassen Gesicht sieht, »doch du solltest wissen, was
dieser Tag für mich bedeutet, und daß ich keine Zeit habe, mich dir zu
widmen.«

›Weil ich das weiß, bin ich hierhergekommen, denn gerade heute müßte
mein Platz an deiner Seite sein‹, hätte sie darauf erwidern sollen.
Aber Adelheid ist nicht der Mensch, der aussprechen kann, was er denkt.
Zu ihrem Unglück jedoch sagen ihre runden braunen Augen alles, was ihr
Mann nicht hören will.

»Ich habe mit Herrn Gregor noch auf dem Wege Wichtiges zu besprechen
und muß dort die offiziellen Empfänge leiten. Ich will deinen Vater
fragen, ob du dich ihm anschließen kannst.«

Er ruft den Kommerzienrat an und sagt, ohne seinen Namen zu nennen:
»Adelheid ist in meinem Zimmer.« Da wird er schon unterbrochen und
schweigt, denn sein Schwiegervater ist der einzige Mensch, der ihm das
Wort abschneiden darf.

Wenige Augenblicke später wird die Verbindungstür zum Nebenzimmer,
dem kleinen Konferenzraum, aufgerissen, und die runde Gestalt des
Kommerzienrats kugelt herein.

Sein breites bartloses Gesicht mit der vom Haarausfall erhöhten Stirn
leuchtet in der angenehmen Überraschung, die nur seine Familie ihm
bereiten kann.

»Das ist mir eine Freude, Adelheid, dich hier zu sehen!« Er schließt
sie in seine Arme, und die junge Frau liegt ohne Rücksicht auf ihren
Hut, der sehr verbogen wird, einen Augenblick ganz still.

Joachim Becker schreitet nervös sein Zimmer ab. Er hat im Gang das
verhaltene Vibrieren eines Rennpferdes. Aber dem strengen Gesicht
mit der hohen Stirnwölbung über den grauen Augen ist keine Regung zu
entnehmen.

Wie er nun stehenbleibt und mit den nervösen langen Fingern über seine
aschblonde Haarmähne streicht, während das schmale gespaltene Kinn sich
wie zum Sprechen bewegt, scheint er seinem Schwiegervater fremd und
bedrückend im auffallenden Gegensatz zu ihm und seiner Tochter.

Der Kommerzienrat rückt Adelheid den Hut zurecht und zupft an ihrem
seidenen Mantel.

»Schön hast du dich gemacht, da wird die Mama ihre Freude an dir haben.
Ist das der Mantel, den ihr gestern gekauft habt?«

»Ja,« sagt sie glücklich, »daß du dich dafür interessierst!«

»Das wäre ja noch schöner. Mir haben die Kleider der Mama immer Freude
gemacht.« Bei diesen Worten kann Kommerzienrat Friemann einen kleinen
Seitenblick zum Schwiegersohn nicht vermeiden. Aber herzlich fügt er
hinzu: »Der Hut steht dir übrigens auch ausgezeichnet.«

Jetzt hat die junge Frau den Mut, ihren Mann mit einem Lächeln
anzublicken. Zu ihrem Unglück erscheint Herr Gregor in der Tür. Er will
sofort wieder verschwinden, da er die Familienszene sieht, Joachim
Becker hält ihn mit lautem Zuruf zurück, so daß der Kommerzienrat sich
kurz verabschiedet und seine Tochter zum Wagen begleitet.

Sie fahren zu jenem freien Platz abseits der Stadt, wo zwischen
alten Bäumen und abgerissenen Mauern der Fluß und zwei Kanäle fast
zusammenstoßen. Eine Gruppe von Männern und Frauen ist an diesem milden
Frühlingstage hierher geladen worden, um sich einige Reden anzuhören.

Zuerst spricht der Oberbürgermeister persönlich zur Ehre des Tages.

Es sei die wichtigste Aufgabe der Städte, führt er unter anderem
aus, für den Ausbau der Wasserwege zu sorgen. Die Bedeutung der
Binnenschiffahrt sei von den großen Städten im Lande noch nicht
richtig eingeschätzt, doch diese Stadt, die er zu vertreten die Ehre
habe, wisse, was nun zu tun sei. Wenn das Stadtparlament beschlossen
habe, den Ausbau und die Verwaltung ihres Hafens einem Konsortium zu
überlassen, so sei dies vom wirtschaftlichen Standpunkt notwendig
geworden. Die Privatwirtschaft könne mit freieren Händen arbeiten als
die Bureaukratie.

Hier wird unter den geladenen Gästen und einem Teil der Presse eine
kleine katarrhalische Verstimmung fühlbar, aber das Oberhaupt der Stadt
fährt mit erhobener Stimme fort:

»Die Verpachtung unserer Ladestraßen an das von Herrn Kommerzienrat
Friemann geführte Konsortium unter Beteiligung der Stadt wird uns zu
einem Hafen verhelfen, den wir uns mit kommunalen Mitteln nicht leisten
können. Im Interesse unserer Bürgerschaft und in der Erkenntnis, daß
der Riesenbedarf unserer Stadt durch das zwar weitverzweigte, doch für
die fernere Zukunft unzulängliche Eisenbahnnetz nicht zu bewältigen
sei, ist dem Angebot mit großer Majorität zugestimmt worden. Noch
haben wir keinen Hafen, noch sind wir eingeengt durch Schleusen und
schmale Kanäle, aber diese Schranken werden fallen, -- die Leistungen
der technisch-wissenschaftlichen Wasserwirtschaft im Verein mit
kaufmännischem Fernblick und Unternehmungsgeist werden unsere Stadt
in kurzem zu einem der bedeutendsten Binnenhafenplätze des Kontinents
erheben.«

Lebhafter Beifall stimmt diesen Schlußworten zu.

Justizrat Bernhard, der Syndikus der Stadt, nimmt seinen Neffen,
Rechtsanwalt Bernhard jr., zur Seite und meint: »Es ist allerhand
Vorsicht außer acht gelassen -- vom juristischen Standpunkt allerhand
Vorsicht! Man mußte hier vor der Presse nochmals betonen, daß es
sich nur um eine Pacht für neunzig Jahre handelt. Man durfte den
Kommerzienrat Friemann nicht allein erwähnen. Er vertritt die Majorität
-- gut! Aber ›er‹ -- das ist der Handel, sagen wir getrost, der
Getreidehandel. Was meinen nun die Banken dazu? Sie haben ebenso
gutes Geld gegeben, ja, sie werden für die Kredite sorgen, -- die
Banken durften nicht ausgeschaltet werden. Und die Industrie, die
Eisenindustrie, die sich nach schweren Kämpfen auch beteiligt hat?
Die Reedereien -- ich meine die Flußschiffahrt, denn die anderen
haben sie nicht bekommen -- wo bleiben diese Interessen? Siehst du,
mein Junge, das sind die taktischen Fehler, die bei uns immer wieder
gemacht werden. Man hätte ~mir~ die Rede vorlegen sollen, der
~Jurist~ muß sie vorher bearbeiten --«

»Ja, gewiß, aber wollen wir nicht die anderen Reden hören?«

»Die wirst du heute abend in der Zeitung lesen. Wir wollen uns ein
wenig umsehen, ehe die offizielle Führung beginnt.«

Und der Justizrat zieht seinen Neffen mit dem Recht des Protektors, der
dem Anfänger mit seinen Beziehungen die Wege ebnet, zum Kanal hinüber.

Einige Schleppkähne, die zur Feier des Tages bewimpelt sind, liegen
an der Kaimauer und strecken ihren berußten langen Leib den milden
Mittagsstrahlen hin. Vor den Kajüten haben die Frauen ihre Blumentöpfe
zum Luftholen ausgesetzt.

Ein Säugling, auf einem hellen Tuch über den Planken ausgestreckt,
kräht einem Pudel entgegen; die Frau eines Schiffseigners sitzt
kartoffelschälend vor der Tür.

Die Schiffer, in ihren besten blauen Jacken, mit Hochglanz über der
braunen geschabten Haut, stehen in der Nähe der Versammelten und fangen
ehrfürchtig ein paar vom Wind verwehte Worte auf.

»Und die Eisenbahn?« fragt der Justizrat. »Das waren doch wohl Angriffe
auf die Eisenbahn. Man hat noch keine Verträge mit ihr geschlossen, man
wird sie brauchen, aber man stößt sie vor den Kopf.«

Der junge Rechtsanwalt sieht dem Spiel des Säuglings zu, seine braunen
Augen über den gerundeten roten Wangen sind blank und von innen
erwärmt.

»Ich dachte,« bringt er leise und stockend hervor, »daß es schöner
wäre, auf solchem Kahn lautlos durch die deutsche Landschaft zu fahren,
als hier Prozesse zu führen und Reden zu hören.«

»Diese Leute«, gibt der Justizrat rasch zurück, »sind ein kleines Rad
im großen Werk, du bist ein größeres. Warum willst du geringer werden?«

Er hat den Hut abgenommen und den breiten gelichteten Graukopf der
linden Luft preisgegeben. Darum sind seine Worte milde und fast ohne
Zurechtweisung.

Plötzlich kommt Bewegung in seine kleine gedrungene Gestalt. Er rückt
den Kneifer zurecht und ist von der angespanntesten Aufmerksamkeit
ergriffen.

»Das ist sehr interessant, das ist außerordentlich interessant«,
murmelt er hingerissen. Alfred Bernhard kann nicht umhin, der
Blickrichtung seines Onkels zu folgen.

Er sieht nichts weiter als einen Wagen vor dem Wohnhaus der Mühle, die
mit ihren Mehl- und Getreidespeichern direkt in den Kanal hineinblickt.
Das Haus ist einstöckig, mit einem kleinen Vorgarten und bunten
Blumenkästen vor den Fenstern. Es steht etwas abseits auf dem großen
Platze, der den Winkel zwischen beiden Kanälen bildet.

»Du hast nicht gesehen, wer ausgestiegen ist?« fragt der Justizrat.

»Nein.«

»Aber du weißt, welche Bedeutung der Mühlenbesitzer dort drüben für
den Hafen hat? Er ist dein erster Prozeßgegner. An diesem Dickschädel
sollst du dir sozusagen deine Sporen verdienen.«

»Er ist der einzige der Privatbesitzer, der sein Terrain nicht
verkaufen wollte?«

»Richtig! Die Akten will dir Direktor Becker morgen selbst übergeben.
Es ist eine persönliche, eine Vertrauensangelegenheit. Und wenn ich
dir jetzt sage, wer soeben dort hineingegangen ist, wirst du ermessen,
was für eine heikle Aufgabe dir bevorsteht. Also die Person war eine
Frau, eine Frau mit einer großen Tasche.«

Rechtsanwalt Bernhards verständnisloses Gesicht beweist dem Justizrat,
daß seine feinen Anspielungen durchaus nicht verstanden werden.

»Du weißt also nicht, daß dieser Becker im Hause des Müllers gern
gesehen war, als er noch der Tochter den Hof machte, während er dem
Vater Friemanns Getreide verkaufte. Hier war er zu seinen großen
Hafenplänen angeregt worden. Er ist ein Kerl, das kann man nicht anders
sagen, wie man auch sonst über ihn denken mag. In seinem Kopfe ist das
ganze Projekt entstanden, das heute so durchführbar erscheint, während
man anfangs darüber gelacht hat. Wie aus dem Erdboden geschossen war
er plötzlich da, dieser Prokurist im Hause Friemann. Er legte seine
Pläne vor, löste die Verlobung mit Fräulein Pohl, heiratete die Tochter
seines Chefs und brachte die maßgebenden Geldkreise zusammen. Heute
nun wird der erste Spatenstich vorgenommen. Das ist alles in kaum neun
Monaten geschehen, du kannst es dir ausrechnen, denn eben ist drüben
die Frau mit der großen Tasche ausgestiegen. Das ist wieder so ein Witz
des Schicksals, daß hier und dort seine Werke an einem Tage zu leben
beginnen.« Der Justizrat lacht kichernd und verstohlen, als habe er
selbst diesen Witz erfunden.

Alfred Bernhard ist noch etwas benommen. Es wird ihm nicht recht klar,
ob er die Anspielungen richtig aufgefaßt hat.

»Also dort drüben ist auch eine Tochter und -- und die Feindseligkeit
des Müllers ist persönlicher Natur?«

»Allerdings. Damit mußt du rechnen. Da wirst du deinen Hebel ansetzen.«

»Das wird die Arbeit sehr erschweren. Unter diesen Verhältnissen ist
wohl mit einem endlosen Prozeß zu rechnen. Meines Erachtens wird man
den Mann nicht zwingen können, zu verkaufen. Und wenn er hartnäckig
bleibt --«

»Er wird, mein Lieber, er wird. So etwas vergißt ein Vater nicht. Es
sind ehrenhafte, gutsituierte Leute, die Tochter von ausgezeichnetem
Charakter, wie man sagt. Aber so etwas kommt in den besten Familien
vor.«

»Ich denke an Adelheid Friemann. Wir sind doch zusammen in die
Tanzstunde gegangen --«

»Ja, ja,« meint der Justizrat, »aber ich glaube, der Becker spricht.«

Joachim Becker ist bereits bei den Schlußworten. Sein schmales Gesicht
ist sehr blaß und sehr belebt. Die Stimme, durchdringend, mit vollem
Klang, hat einen Stich ins Kommandohafte.

»Es soll sich nicht darum handeln, die Güter nach Hamburg oder Stettin
zu verladen, sondern direkt nach Südamerika oder China. Nicht einen
Umschlagshafen wollen wir schaffen, sondern eine Zentrale für den
deutschen Weltverkehr, nicht einen Hafen, der dem eigenen Bedarf
genügt, sondern einen Stapelplatz für den Transithandel, der einfach
nicht mehr auszuschalten ist. Unsere Speicher und Lagerhallen, die
in allerkürzester Zeit auf diesem kahlen Boden aufwachsen werden,
sollen alle Waren und jede Menge aufnehmen, die überhaupt eingelagert
werden können. Unsere Getreidespeicher werden die vollkommensten
auf dem Kontinent sein, mit allen technischen Errungenschaften der
Neuzeit. Tankanlagen und eigene Tankschiffe stehen bald zur Verfügung.
Eilverkehre, die uns dauernd in schnellster Verbindung mit den großen
Seehäfen halten, verschaffen uns Unabhängigkeit, größte Leistungskraft.
Die Weltmeere stehen uns offen, durch unseren Hafen stellen wir uns auf
den großen wirtschaftlichen Kampfplatz der Welt, den wir mit Ausdauer
und Mut behaupten werden.«

Direktor Becker verneigt sich unter dem üblichen Beifall, der jeder
Rede folgte, und führt nun den symbolischen ersten Spatenstich aus, das
heißt, er legt die Hand auf einen Hebel des großen Löffelbaggers, der
mit dem ersten Stich gleich zwei Kubikmeter Boden aushebt und in die
bereitstehende Kipplori schüttet.

Ja, das ist tüchtige und schnelle Arbeit! Die Gäste sehen staunend
und bewundernd zu. Joachim Beckers lange sehnige Gestalt ist über die
Grube geneigt. Er läßt den gefüllten Wagen gleich davonrollen, und
wie er jetzt aufblickt, direkt in die erwartungsvollen Gesichter der
Zuschauer, sind seine grauen Augen strahlend, knabenhaft jung.

Frau Adelheid drückt heftig den Arm ihrer Mutter. Und die
Kommerzienrätin, der das Stehen etwas schwer fällt -- sie hat
denselben ein wenig breiten Unterkörper wie ihre Tochter --, führt das
Taschentuch an die Augen.

Der Vertreter einiger ausländischer Zeitungen, der gleich mehrere
Länder bedient, schreitet mit Redakteur Undlet das abgesteckte Gelände
für das erste Hafenbecken ab und meint mißbilligend: »Ein tüchtiger
Mann, aber zuviel Worte. Zu ausholend! Diese Deutschen haben immer
gleich das Wort ›Welt‹ und ›Kampf‹ im Munde. Sehr falsch, taktisch sehr
falsch. Ich habe es Ihnen von jeher gesagt: keine Diplomaten.«

»Übersehen Sie nicht den Unternehmungsgeist, den verblüffenden,
den gefährlichen Unternehmungsgeist! Das ist hier eine Stadt ohne
Industrie, mitten im Lande, abseits von den großen Schiffahrtswegen,
doch sie wagen es, solche Pläne nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu
finanzieren. Und was sagen Sie zu den Behörden? Sie öffnen der freien
Privatwirtschaft die Wege. Das ist Großzügigkeit, Weitblick, Freiheit!
Das ist einfach nicht zu übersehen. Man kann die Augen nicht offen
genug halten.«

Joachim Becker erklärt der Gruppe mit den Damen das Gelände; Herr
Gregor, seine rechte Hand, führt die Herren von der Presse.

»Drei Hafenbecken sind zunächst geplant, für das vierte, das
wichtigste, zwischen beiden Kanälen, ist das Terrain noch nicht frei.
Man wird es in kürzester Zeit auch in Angriff nehmen können«, meint
Herr Gregor zuversichtlich.

Kommerzienrat Friemann, der es immer verstanden hat, mit seinen beiden
Ohren nach zwei Richtungen zu hören, wirft mit seiner ruhigen, betont
gemessenen Stimme, die ihm nur für geschäftliche Zwecke zur Verfügung
steht, ein, daß dieses Becken noch nicht benötigt werde und für die
fernere Zukunft vorbestimmt sei. Drei Hafenbecken im Anfang genügen.
Man wolle rentabel wirtschaften vom ersten Tage an. Schon jetzt werde
gearbeitet. Die Ladestraßen sind sofort übernommen worden, neue Kunden
bereits geworben.

Dann geht er still und unauffällig zu den Herren von den Banken und der
Flußschiffahrt hinüber, um auch hier das Seine zu tun.

Der Bagger ist nicht abgestellt worden. Es macht einen guten und
betriebsamen Eindruck, daß in diesem abseitigen Winkel, der einem Hafen
von Weltbedeutung Platz machen soll, schon ein wenig Lärm zu hören ist.
Eine Menge Arbeiter taucht plötzlich auf, die Loris rollen hin und her,
und die ausgebaggerte Grube wird rapide tiefer und breiter. Braun und
fett ist jetzt die herausgehobene Erde, und es riecht nach Mutterboden,
dem trächtigen Stoff für Reife und Ernte.

Die Gäste werden nun ein wenig müde vom Zuhören und Schauen, obgleich
außer einem alten Lagerschuppen, den Überresten einer Kirche und
einigen halb abgerissenen Wohnhäusern -- nicht zu vergessen: ein
paar alten Linden -- wenig zu sehen ist. Besonders die Damen bekommen
abgespannte Züge, und Kommerzienrat Friemann ergreift die Gelegenheit,
alle Versammelten zu einem kleinen Imbiß zu laden.

Herr Gregor eilt voraus, um die langen Tafeln unter den Linden zu
überprüfen. Vor jedem Stuhl ist ein Teller mit belegten Broten
aufgestellt, und einige Männer stehen bereit, um das Bier
einzuschenken.

Junge Mädchen vom Personal des Kommerzienrats sind mit einer kleinen
Festschrift und gedruckten Informationen für die Presse postiert.

Die Gesellschaft naht plaudernd, in kleine Gruppen aufgelöst; die
ernsten, bedeutungsvollen Mienen sind zu konziliantem Lächeln, bei
diesem und jenem auch zu einem recht privaten, mittäglich hungrigen
Ausdruck übergegangen.

Frau Adelheid hüpft ungeniert an mehreren laut sprechenden Herren von
der Stadt vorbei, um wieder in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Er
war vom Oberbürgermeister in ein Gespräch gezogen worden und hält nun
nach den wichtigsten Persönlichkeiten Ausschau.

Sie ist erst zwei Monate verheiratet und hat zuweilen noch recht
mädchenhafte Bewegungen. Die Stadträtin Meerboom wird dabei ein wenig
unsanft gestreift und sagt mit ihrer harten, im Stadthaus erprobten
Stimme: »Nein, meine Tochter nehme ich zu solchen Anlässen nicht mit.«

»Ach, gnädige Frau«, ruft Justizrat Bernhard aus, bei dem Adelheid nun
angelangt ist, und er freut sich mit vielen überschwenglichen Worten
der Begegnung.

Sein Neffe ist sehr rot geworden, als die junge Frau ihm die Hand
reicht, und Adelheid sagt wie zur Entschuldigung: »Ja, wir haben in der
Tanzstunde miteinander getanzt.«

Dann wird sie traurig, denn ihr Mann und die Eltern scheinen spurlos
verschwunden. Sie hat das unendlich schmerzliche Gefühl eines Kindes,
das sich verlaufen hat und der tiefen Vereinsamung urplötzlich
schreckhaft gewahr wird.

Das im Verhältnis zur kleinen Figur etwas zu große, jugendlich
gerundete Gesicht mit den weichen dunklen Haaren wird in solchen
Stimmungen immer ganz und gar von den großen sprechenden Augen
beherrscht. Rechtsanwalt Bernhard hat das Empfinden, daß er ihre Hand
ergreifen und sie zu den Eltern zurückführen müsse.

Da hellt sich ihr Gesicht auf, es ist ihr wie im Traum, daß Joachim
Becker, ihr Mann, mit seinen langen festen Schritten auf sie zukommt,
ihre zitternde Hand küßt und nach der Begrüßung der beiden Herren
besorgt sagt: »Habe ich dich endlich gefunden!«

Er führt sie zu einer der langen Tafeln, wo der Kommerzienrat und seine
Frau ihr herzlich entgegenlächeln, auch der Oberbürgermeister ist da
und die Stadträtin Meerboom, aber sie sind lange nicht mehr so streng,
und Adelheid beißt mutig in die belegten Brote, die man in die Hand
nehmen muß, weil es nur ein ganz zwangloser Imbiß sein soll.

Man plaudert sehr lebhaft, die Herren rufen laut und lustig nach
Bier, schieben ihre leeren Teller beiseite und bekommen reichliche
Nachfüllung. Direktor Becker lächelt befriedigt, er hängt immer mit
einem Blicke an Herrn Gregor, der das Ganze überwacht; doch es ist
nichts auszusetzen.

»Oh, dafür war auch gesorgt,« antwortet er auf eine Frage der
Stadträtin, »bei Regenwetter hätten wir drüben in der kleinen
Lagerhalle gedeckt.«

Da wagt auch Adelheid eine Bemerkung: »Aber die Waren,« sagt sie,
»wohin hättet ihr dann die Waren geschafft?«

»Beiseite geschoben,« meint er mit leisem Lächeln, »wie man es beim
Tanzvergnügen mit den Tischen und Stühlen macht.«

»Es ist also noch nicht der Rede wert, was augenblicklich lagert?«
fragt Herr Undlet, der durch ein Versehen an diese Tafel geraten ist.

»Nein,« sagt Joachim Becker kurz, »wir haben erst heute mit dem Betrieb
begonnen.«

Und Adelheid hat das beklommene Gefühl, daß sie doch wieder etwas
gesagt hat, was nicht in der Ordnung war. Sie kann ihre Brötchen beim
besten Willen nicht aufessen, obgleich andere schon beim dritten Teller
angelangt sind und das Bier anfängt, knapp zu werden, weil man mit
diesem Durst trotz aller Voraussicht nicht gerechnet hat.

Die Herren von der Presse ziehen sich zurück, auch einige Wagen fahren
vor, und die Tischreihen lichten sich allmählich.

Auf den Schleppkähnen sitzen die Schiffer mit ihren Pfeifen vor der
Kajüte. Mühlenbesitzer Pohl geleitet die Frau mit der großen Tasche vor
die Tür. Er bleibt einen Augenblick im Vorgarten stehen, seine grauen
Haare werden von einer leichten Brise zerzaust. Dann geht er mit festen
Schritten, ohne sich umzusehen, zurück.




                               Der Feind


Irmgard Pohl hat sich mit einem Buch ans Fenster gesetzt und ein wenig
zu lesen versucht. Aber es ist eigenartig: wenn sie untätig dasitzt
und ihre Gedanken spielen lassen will, dann wird es leer in ihrem Kopf
und traurig im Herzen, oder ein Karussell dreht sich so lange, bis sie
zu verzweifeln beginnt. Doch wenn sie ein paar Zeilen über eine fremde
Welt gelesen hat, dann findet sie wieder in geordneter Weise zu sich
selbst zurück. Sie legt das Buch bald in den Schoß, blickt gedankenvoll
zum Fenster hinaus und fühlt, daß in ihr etwas vorgeht, das nur geweckt
zu werden brauchte.

Nicht die gewünschte Frühlingssonne liegt vor dem Fenster: das Gras
ist naß und blank, auf den Kanal spritzt der Regen, daß die langweilig
glatte Fläche in Blasen und Kreisen bewegt wird, und der bemehlte
Getreidespeicher erscheint noch stumpfer und farbloser vor dem
schmutzigweißen Himmel als sonst.

Es ist nicht wegzuleugnen, daß ihr Leben nun eine ganz andere Richtung
nehmen muß. Sie hat ihr Krankenlager nach langen trüben Wochen zum
erstenmal verlassen, als ein Mensch, der bald wieder mitzählen wird.

Die junge blonde Säuglingsschwester steckt ihren kleinen Wuschelkopf
zur Tür herein und fragt hell und freundlich wie alle Tage:

»Nun, geht es uns gut? Das ist reizend!«

Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Irmgard lächelt zaghaft; sie hat
es fast verlernt. Ihre Züge sind scharf und spitz geworden, und erst
jetzt, da sie lächelt und die leicht irisierenden Augen in die Tiefe
des Zimmers richtet, ist wieder etwas von dem weichen Charme früherer
Tage spürbar geworden.

»Sie haben mir die Haare so straff hinter die Ohren gestrichen, ich
glaube, ich sehe scheußlich aus. Könnten Sie mir nicht endlich einen
Spiegel geben?«

»Gott sei Dank, sie fängt an, eitel zu werden. Das ist ein herrliches
Zeichen der Genesung«, ruft Schwester Emmi erfreut aus. »Aber mit dem
Spiegel hat es noch Zeit. Ziehen wir diese Haare ein wenig hervor,
so -- ach, es ist ja eine reizende braune Welle. Gleich sieht unsere
Patientin gesünder aus.«

Sie freut sich und hüpft vergnügt um die Kranke herum.

»Sie sind wirklich ein Labsal für verzweifelte Menschen«, sagt Irmgard
herzlich.

»Ja, wenn man nur seinen Platz ausfüllt und seiner Pflicht nachkommt.
Mehr hat noch kein Mensch von mir verlangt.« Sie zieht den Mund halb
lächelnd, halb schmerzlich herab. Auch ihre Nase ist dabei ein wenig
schief gezogen, und sie ist trotz den aufgebauschten gelbblonden
Haaren gar nicht mehr quicklebendig, sondern grau wie ein Regentag.

Aber da reckt sich die kleine schmale Person gleich wieder, sie hebt
die Lackspitze ihres zierlichen Schuhs und sagt: »Damit bin ich nun
unten gewesen. Sie gehen mir jetzt bestimmt aus dem Leim.« Und dabei
lacht sie, als sei es ein Vergnügen, seine Schuhe zu verderben.

»Ja, daran sind nur unsere aufgeweichten Wege schuld«, meint Irmgard,
in dem Gefühl, auch ihrerseits etwas sagen zu müssen. »Aber was hatten
Sie denn unten zu tun?«

»Ach, offengestanden, ich bekam nur Lust, die Nase in den Regen zu
stecken.«

»Vielleicht ist zufällig jemand vorbeigegangen, der auch seine Nase
spazierenführen mußte?« fragt Irmgard lächelnd, ihre Züge sind nun sehr
erschlafft.

»Ach ja, da werden viele gewesen sein. Doch unsere Patientin wollen wir
nun wieder in die Federbetten stecken.«

Irmgard hat nichts dagegen einzuwenden. Sie läßt sich von den festen
kleinen Händen der Schwester hochheben und stützen. Dann liegt sie
wieder im Bett und denkt, daß sie für den neuen Flug in das Leben
noch nicht tauglich sei. Auch der Blick aus dem Fenster hat ihr
noch nicht den Weg in die Zukunft eröffnet, der durch einen neuen
kleinen Erdenbürger bestimmt wird. Sie hebt sich alle Fragen und
Auseinandersetzungen für einen späteren Tag auf. Nur den Knaben wünscht
sie noch einmal zu sehen.

»Ist es nicht, als könnte er schon hören?« fragt sie, »wenn ich ihn
anriefe, so würde er sich vielleicht rühren.«

»Nein, so weit ist es noch nicht. Außerdem -- er hat doch noch keinen
Namen, wie soll er Sie denn verstehen?« Und Schwester Emmi lacht
herzlich über ihren eigenen Witz.

In Irmgard aber weckt das wieder nur traurige Erinnerungen. Sie blickt
den Säugling lange an und fragt dann leise:

»Hat mein Vater sich noch immer nicht geäußert?«

»Nein. Er meinte, ich solle Sie nach dem Namen fragen, wenn Sie sich
etwas wohler fühlen.«

»Und hat mein Vater auch Interesse für das Kind gezeigt?«

»O ja. Wenn er zufällig vorbeigekommen ist, hat er es betrachtet und
gesagt, was die Ansicht sämtlicher Männer ist: daß in diesem Alter die
Menschen alle gleich aussehen.«

»Aber das kann man doch nicht mehr sagen, nicht wahr? Hat es nicht die
unverkennbaren Pohlschen Züge: die starken Backenknochen und Vaters
tiefliegende Augen?«

»Mit einiger Phantasie kann man es so sehen.«

»Ach, ich spreche gewiß wieder wie alle Mütter«, meint Irmgard traurig
lächelnd.

»Gott sei Dank ja! Sie unterscheiden sich darin nicht eine Spur von
ihnen. Und das ist herrlich. Das ist doch wirklich ganz prächtig.«

Sie nimmt den blassen schönen Kopf zwischen beide Hände und legt ihn
in die Kissen zurück. Dabei sind ihre Finger von zärtlichem Druck,
und plötzlich hat sie für eine Sekunde ihr kleines Gesicht an Irmgards
Wange gelehnt.

»Weil Sie so tapfer und geduldig sind«, sagt sie gleichsam zur
Entschuldigung, als sie das Kind aufnimmt und hinausbringt. --

Einige Tage später ist Irmgard schon richtig aufgestanden. Sie konnte
sich selbst ankleiden, ist im Zimmer umhergegangen und hat sich wieder
an das Fenster gesetzt, das auf den Kanal hinausgeht.

An diesem Tage liegt wirklich Sonne auf allen Dingen, und Irmgard
denkt, daß nun das neue Leben beginne, für das sie die richtige gesunde
Einstellung braucht.

Sie ruft Schwester Emmi und sagt kurz entschlossen:

»Sie müssen sich hierher setzen und mir einige Fragen beantworten. Ich
hasse das Halbe und Kranke und muß es vollkommen abstreifen, wenn ich
wieder mit beiden Beinen im Leben stehen soll.«

Sie freut sich über ihre eigene Kraft, und Schwester Emmi sagt ein
wenig gekränkt: »Ja, jetzt werden Sie wohl wieder alles in die Hand
nehmen wollen.«

Sie empfindet eine Abneigung gegen die Frauen, die immer fest und
unbeirrt handeln und ihre Ziele und Wege deutlich vor sich sehen. Sie
hat ihre kleine Person immer vom Schicksal vorwärtsstoßen lassen, wie
es gerade sein mußte.

Irmgard ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie das
verschlossene Gesicht der anderen bemerken könnte.

»Es gibt soviel Unausgesprochenes in diesem Haus. Dann scheint
etwas in mir schief gerückt, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis
es geradesteht. Da ist zum Beispiel der Vater. Er spricht gut und
freundlich mit mir, aber ich sehe ihn selten, und er ist jetzt noch
verschlossener als früher. Wir hatten uns bisher immer ohne Worte
verstanden, aber seitdem uns beiden das angetan wurde, dieser --
Vertrauensbruch, weiß ich nicht, wie er es trägt. Sie aber haben ihn
alle Tage gesehen, besonders in der ersten Zeit, und können mir einen
Fingerzeig geben.«

»Leider kann ich Ihnen wenig sagen. Er war fast immer in seinem Kontor
oder in der Mühle. Nur zu den Mahlzeiten ist er hier gewesen, hat sich
sehr ruhig nach allem erkundigt und sonst kaum ein Wort gesprochen.«

»Aber wenn er drüben im Hafen die Tätigkeit sah -- die vielen
Menschen, die jetzt dort arbeiten, und die lauten Maschinen, die ganze
geräuschvolle Geschäftigkeit, die ihn tagaus, tagein an seinen Ärger
erinnern muß --«

Sie spricht nicht zu Ende und sieht die Schwester erwartungsvoll an.

»Ach, er ist doch den Lärm von seiner Mühle her gewöhnt. Auf einen Mann
hat das sicher eine andere Wirkung.« Schwester Emmi beginnt, sich bei
diesen Erörterungen zu langweilen. Das scheint ihr alles nicht so des
Nachdenkens wert.

»Sehen Sie,« sagt Irmgard wieder, »ich habe mir damals, nachdem ich
den ersten Schmerz über diese große Demütigung und Untreue überwunden
hatte, immer wieder vorgehalten, daß ich keinen Haß in mir aufkommen
lassen darf. Denn wie soll ich einmal sein Kind lieben, wenn ich ihn
selbst nur hassen kann? Es bleibt doch ein Teil von ihm, so sehr man
sich auch einzureden sucht, daß es nur von der eigenen Artung ist.
Man möchte feige sein und seinen Namen für immer aus dem Gedächtnis
streichen, aber wie können wir Joachim Becker jemals vergessen, der uns
so viel gegeben und so viel genommen hat? Und nun baut er uns seine
großen Projekte, für die wir uns damals so sehr interessiert haben,
direkt vor den Augen auf, und es ist nichts wegzuleugnen. Können Sie
das verstehen?«

»Ja, das kann ich verstehen: daß es schwer ist, und daß Sie sehr mutig
sind.«

»Es ist nur der Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht gehöre ich zu den
Frauen, die sich nur einmal ganz erschließen können, denn sonst hätte
ich das wohl nicht getan. Oder glauben Sie, daß ich leichtfertig oder
im wahren Sinne unmoralisch bin, weil ich ihm in meiner Liebe nichts
versagen konnte?«

»Nein, beileibe nicht. Wie die Menschen auch darüber denken mögen, wer
Sie kennt --«

»Ja, wissen Sie, ich habe schon manchmal gedacht, daß es gut sei, wie
es sich letzten Endes zugetragen hat. Denn nun habe ich doch ein klein
wenig Anteil an ihm, den ich nur noch in seinem Kinde lieben werde.
Darin will ich die Kraft finden, um ihn selbst ganz aus meinem Herzen
auszustreichen.«

»Wenn Sie das können! Ich würde ihn, offengestanden, grenzenlos hassen
und mich an ihm rächen -- bei der ersten Gelegenheit.« Sie sagt es
triumphierend, herausfordernd, denn sie ist stolz auf ihr lebhaftes
Temperament.

»Und nun müssen Sie mir noch berichten, wie es der Mutter geht«,
sagt Irmgard ablenkend, denn sie erkennt wieder, daß sie von ihren
Mitschwestern nur verstanden wird, wenn sie selbst schwach und beirrbar
ist. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie es oben aussieht.«

»Oben« ist das Zimmer von Frau Pohl, die seit fünf Jahren gelähmt und
mit verwirrtem Geist ein verdämmerndes Dasein führt. Von der späten
Geburt des lange ersehnten Stammhalters geschwächt, hatte sie der nach
wenigen Wochen erfolgte Tod des Knaben so getroffen, daß sie nicht
wieder aufstehen konnte. In ihrem Geiste aber hat sie den Knaben zu
neuem Leben geweckt. Wenn sie in ihrer Einsamkeit zu dem Kinde spricht,
scheint sie mit ihrem Schicksal zufrieden und der Gegenwart in einer
anderen Weise nahegerückt.

»Haben Sie ihr gesagt, daß ich krank sei? Und wie hat sie es
aufgenommen?«

»Zuerst wollte sie an Ihre Krankheit nicht glauben. Sie wurde sehr böse
und meinte: die Arbeit ist ihr zuviel geworden, auf der Stelle soll sie
herkommen und mir Antwort stehen.«

»Ja, sie kann sehr böse werden.«

»Als ich ihr dann aber klarmachte, daß ich zu Ihrer Pflege geholt
sei, und sie fragte, ob sie denn nicht feststellen könne, daß ich nach
Medizin rieche, erwiderte sie, nun wolle sie aufstehen und ihre Tochter
pflegen.«

»Sie wollte mich pflegen?« Irmgard ist ganz glücklich darüber.

»Das sagte sie. Natürlich konnte sie sich nicht rühren, und dann sprach
sie nicht mehr darüber. Einmal erzählte ich ihr, daß Sie bald aufstehen
würden, aber sie gab mir keine Antwort. Doch etwas anderes hatte mich
beängstigt, und ich sprach mit Herrn Pohl darüber.«

»Was war es?« fragt Irmgard ungeduldig. »Hat sie das Kind gehört? Sie
haben doch nicht davon gesprochen?«

»Nein, es war ja verabredet, daß sie davon nichts erfährt. Aber sie
sagte: ›Hört Ihr denn nicht, wie mein Michael schreit? Ihr laßt ihn
liegen und kümmert Euch nicht um ihn.‹ Und das hat sie immer wieder
geklagt, dabei zuckte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich, als wollte
sie aufspringen und nach dem Rechten sehen. Schließlich wurde sie sehr
erregt, hat mich ausgescholten und gedroht, mich zu entlassen, wenn ich
nicht besser für ihr Kind sorge.«

»Mein Gott,« flüstert Irmgard, »hat sie nicht danach verlangt, es zu
sehen?«

»Das hat sie nicht. Aber ich dachte schon -- ich weiß nicht, was Sie
davon halten -- ich dachte, solche Kranken sind durch Täuschungen
manchmal zu heilen. Wenn man ihr z. B. das Kind wirklich --«

»Nein, nein, wollen Sie ihr mein Kind geben, dieser Kranken? Nein, das
ist heller Wahnsinn!«

»Ich meinte es nur gut, denn es ist doch schließlich Ihre Mutter. Herr
Pohl sagte, wenn Sie einverstanden wären, könnte man immer noch mit dem
Arzt darüber sprechen«, gibt die Schwester verstimmt zurück.

»Ist das seine Ansicht gewesen?« Irmgard schließt die Augen und lehnt
müde im Sessel. »Darüber muß ich erst nachdenken. Ich will die Mutter
selbst gesehen und gesprochen haben«, flüstert sie.

»Gewiß, es war ja auch nur ein Vorschlag für später. Aber ich werde Sie
jetzt verlassen, da kommt ein junger Mann durch den Garten, und das
Mädchen ist ausgegangen.«

Irmgard glaubt, nur eine Sekunde allein gewesen zu sein, als die
Schwester schon wieder zurückkommt und sagt: »Es war ein Rechtsanwalt
Bernhard von der Hafengesellschaft, er wollte Herrn Pohl sprechen. Ich
habe ihn ins Kontor hinübergeschickt.«

»Von der Hafengesellschaft --«, stammelt Irmgard, und sie sieht dem
jungen Rechtsanwalt nach, wie er mit seiner Aktentasche durch den
Garten geht und zur Mühle hinübersteuert.

Die Schwester hat das Zimmer wieder verlassen, und Irmgard verfolgt den
Rechtsanwalt so lange, bis er in der Tür des Kontors verschwindet. Da
wirft sie die Hände vor das Gesicht und schluchzt verzweifelt auf.

Sie hatte sich mit ihrem klaren Verstand einen so schönen Plan
zurechtgelegt und kluge, vernünftige Worte gesprochen, aber beim ersten
unmittelbaren Anstoß von außen her fällt ihr ganzes Kartengebäude
zusammen, und sie ist nicht beherrschter und reifer als Schwester Emmi
mit ihrem Temperament.

Hier über diesen Weg ist auch er gegangen, und sie hat ihm von dem
gleichen Platz aus nachgesehen, wie er mit seinen langen Schritten
fest und federnd über den knirschenden Kies marschierte und an der
Gartenpforte zu ihr hinaufwinkte. Oder war es wegzuleugnen, daß sie
wie zwei übermütige Kinder hier um diesen runden Tisch jagten, bis sie
atemlos stehenblieb und ausrief: »Nein, du hast ja doch die längeren
Beine.« Dann ließ sie sich rückwärts fallen und wurde aufgefangen.
Er aber sagte mit seiner weichen Stimme, die sie einmal zu ihrem
Erschrecken, als er beim Ausladen des Getreides seine Befehle gab, kaum
erkannte: »Warum versuchst du nur immer wieder, mir davonzulaufen, da
du mir doch nicht entgehen kannst?«

Nein, sie konnte ihm nicht entgehen, und hier denkt sie nun an ihn und
findet keinen Weg, der von ihm fortführen könnte. --

Rechtsanwalt Bernhard hat sich im Bureau nach Herrn Pohl erkundigt.
Man sagt ihm, daß er im Betrieb gesucht werden müsse, und läßt ihn im
Privatkontor warten.

Dort zieht er seine Akten hervor und überlegt noch einmal die ganze
aussichtslose Angelegenheit.

Seitdem Direktor Becker ihm seine persönlichen Erklärungen gegeben hat,
sieht er erst ein, auf welcher lächerlichen Begründung dieser Prozeß
aufgebaut werden soll.

Wie hier, so hatte er auch bei der Hafengesellschaft lange warten
müssen, bis er von Joachim Becker empfangen wurde. Oh, er ist noch
nicht der begehrte Mann, den man in seinem Anwaltsbureau aufsucht
und unter großen Versprechungen bittet, sich mit dem berühmten
Scharfblick eines Streitfalls anzunehmen. Sein junges Schreibfräulein
wartet auf Arbeit, liest Romane und stichelt an einer Handarbeit
in einer ganz impertinenten Weise. Er hat die sämtlichen Akten des
Falles Hafengesellschaft kontra Pohl abschreiben lassen, aber die
Schreibmaschine ist doch wieder zur Ruhe gekommen, und er muß das
ersehnte Klappern vermissen.

Da ist es etwas anderes im Hause Friemann, wo Joachim Becker die
Geschäfte der Hafengesellschaft besorgt. Auf den langen Korridoren ist
ein Gehen und Kommen, und die jungen Damen mit ihren Schreibblocks und
gespitzten Bleistiften jagen nur so zu den Türen hinein und heraus.

Er wird von betreßten Dienern in ein großes Wartezimmer geleitet, wo
schon etwa ein Dutzend Männer sitzen, die den Hafendirektor sprechen
wollen. Herr Gregor kommt herein, lässig und elegant, und sagt in
seiner gedehnten Art, wobei er immer den Rücken ein wenig beugt:

»Guten Tag, Herr Doktor. Ja, Sie sind vorgemerkt, ich habe die Akten
schon weitergegeben. Aber augenblicklich ist noch eine Konferenz.«

»So, haben ~Sie~ die Akten gehabt?« entfährt es dem Rechtsanwalt,
der glaubte, mit einer ganz persönlichen und diskreten Angelegenheit
betraut zu werden.

»Ja, das liegt alles bei mir«, bemerkt Herr Gregor nicht ohne Betonung,
und er begrüßt einen neu hinzugekommenen Herrn.

»Sie dürften kein Glück haben,« sagt er zu ihm, »denn heute werden
nur die Vorgemerkten empfangen. Der Kalender ist bis unten hin
vollgeschrieben, und Sie stehen nicht mit darauf. Aber Sie können mit
mir sprechen, ich will sehen, was sich machen läßt.«

Dann sucht er sich einen Herrn ganz außer der Reihe heraus und
verschwindet mit ihm in seinem Zimmer.

Dieser Gregor ist dem Rechtsanwalt im höchsten Grade unsympathisch.
Er gebärdet sich vor den Lieferanten, die sich um die Aufträge für
den Hafen bemühen, als wäre er der Direktor selber, und man kann sich
ausrechnen, welche Prozente dabei für ihn abfallen.

Da ist Joachim Becker doch ein anderer Mann, obgleich der Rechtsanwalt
sich auch hier seine eigenen Gedanken macht. Aber wenn man ihm
gegenübertritt, so muß man schließlich doch seiner ganzen Art und
Erscheinung zustimmen.

Nachdem +Dr.+ Bernhard etwa eine Stunde auf den Hafendirektor
gewartet hatte, ist die Reihe auch an ihn gekommen. Herr Gregor
erscheint so eilig, wie es sein Temperament erlaubt, und sagt: »Bitte,
Herr Doktor, nehmen wir gleich diesen Eingang. Der Herr Direktor ist
schon sehr ungeduldig.«

Joachim Becker sitzt an seinem Schreibtisch und telephoniert.

»Bestellen Sie meiner Frau,« hört der Rechtsanwalt, »daß ich heute
nicht zu Tisch kommen kann, und besorgen Sie mir ein paar Brötchen.«

Dann wirft er den Bleistift, mit dem er nervös auf die Platte geklopft
hat, hin und sagt zum Rechtsanwalt: »Bitte. Ja, also hier sind die
Akten. Dieser Prozeß ist für uns von großer Wichtigkeit und muß bald
ausgetragen werden. Die Kosten spielen keine Rolle, aber es ist
nötig, daß die Sache richtig angefaßt wird. Sind Sie über den Gegner
informiert?«

»Nein,« erwidert der Rechtsanwalt, »ich weiß nur so viel, daß es sich
um das Terrain am Verbindungskanal handelt.«

»Ja, dieser Platz war eigentlich für unseren Getreidehafen gedacht. Das
unter uns -- die ganze Angelegenheit ist überhaupt streng diskreter
Natur.« Dabei sieht er den Rechtsanwalt durchdringend an, und auch im
weiteren Verlauf der Unterredung fliegen seine kalten klaren Blicke
blitzschnell auf sein Gegenüber, wenn dieser es am wenigsten erwartet.

Dann führt der Direktor in stichwortartiger Kürze das Weitere aus.
Einmal sagt er: »Ein persönlicher Konflikt, der in keinem Fall in
die Angelegenheit hineingehört, entstand dadurch, daß ich meine
inoffizielle Verlobung mit Fräulein Pohl löste.«

Damit hat er ein für allemal seinen Standpunkt in dieser Hinsicht
klargelegt.

»Und hier ist die Vollmacht, die uns eine Angriffsmöglichkeit bietet.«

Der Rechtsanwalt liest: »Ich erkläre mich bereit, mein Grundstück
zwischen der Föhrbrücke und dem Verbindungskanal für die
Zwecke eines Hafenbaus zur Verfügung zu stellen, wenn mir im
Falle einer privatwirtschaftlichen Verwaltung eine angemessene
Beteiligungsmöglichkeit geboten wird. Für die Vorverhandlungen in
meinem Auftrage bevollmächtige ich Herrn Joachim Becker --«

Noch ehe er zu Ende lesen konnte, erklärt der Direktor weiter: »Dies
Dokument war als Vollmacht gedacht und ist später zurückgezogen worden.
Die vorangehende Erklärung war mitbestimmend für die Bildung des
Konsortiums und hat auch den Magistrat zur Entscheidung veranlaßt. Eine
Beteiligung wurde angeboten, zu Konzessionen sind wir noch bereit. Also
muß die jetzige Weigerung unbedingt angefochten werden.«

»Sollten vielleicht die Voraussetzungen für die Beteiligung inzwischen
--«

»Das ist gleichgültig, das geht uns nichts an.«

»Vom juristischen Standpunkt --«

»Kommen Sie mir nicht mit Formelkram. Beweisen Sie Ihre Tüchtigkeit,
indem Sie im Notfalle eine Ausnahme konstruieren, einen Präzedenzfall
schaffen. Bitte, hier sind die Akten. Herr Gregor steht Ihnen wegen
Ihrer Bevollmächtigung und anderer Einzelheiten jederzeit zur
Verfügung.«

Er klingelt nach dem nächsten Besucher, nicht ohne den Rechtsanwalt
noch mit einem gewinnenden Lächeln einige Schritte geleitet zu haben.

Man war trotz allem in dem Gefühl fortgegangen, einer zwar strengen,
aber im Grunde liebenswürdigen Persönlichkeit begegnet zu sein ...

Nun sitzt der Rechtsanwalt im Bureau des Gegners und erkennt als
einzige aussichtsvolle Möglichkeit einen Vergleich mit den bewilligten
größeren Konzessionen. Er ist keine Kampfnatur und hat wenig Lust, sich
hier hinter Paragraphen und versteckten Fallen zu verschanzen, um mit
List und krummen Wegen zu siegen.

Aber vielleicht wird jetzt ein Angestellter hereinkommen und sagen, daß
Herr Pohl keine Zeit habe oder ihn nicht zu empfangen beabsichtige.

Er sieht in seiner Beklommenheit ein wenig im Raume mit den gelben
Möbeln und den alten Stichen an den Wänden umher.

Das Bild eines Mannes mit tiefliegenden Augen, starken Backenknochen
und einem vollen weichen Kinn über dem Vatermörder ist ohne Zweifel
der Begründer der Mühle; eine auf Holz gemalte Windmühle zeigt den
anfänglichen Besitz. Stahlstiche stellen kleinere Speicher und
Mühlenbetriebe dar, und auf einer Zeichnung, offenbar ein Entwurf des
Bauherrn, sieht man die beiden zweistöckigen Gebäude in ihrer heutigen
Gestalt.

Er bleibt vor einer Photographie stehen, die das Hafenterrain mit der
Kirche, dem Fräuleinstift und einigen kleinen Häusern neben den alten
Linden zeigt, so wie es noch vor einem halben Jahr ausgesehen hat, ehe
das Konsortium kam und alles niederreißen ließ. Nun dringt das Geräusch
der großen Bagger und der Lärm der Arbeiter bis in diesen einsamen
Raum.

Dem Rechtsanwalt erscheint die Wartezeit endlos, er ist sehr nervös,
als der Mühlenbesitzer, in einer grauen Joppe und hohen Stiefeln,
endlich eintritt, die Mütze auf einen Haken neben der Tür hängt und ihn
zum Schreibtisch bittet.

Er läßt sich im runden Sessel nieder und ersucht ihn nur mit einem
Blick aus seinen ruhigen hellen Augen zum Sprechen.

Der Rechtsanwalt redet hastig und viel. Er erkennt, daß es schwerer
ist, vor diesem schweigsamen, reifen Mann zu sprechen, der jeder Pause
mit stummer Aufmerksamkeit begegnet, als vor dem jungen Hafendirektor
das Wenige zu sagen, das dieser in seiner Ungeduld zuläßt.

Als er endlich glaubt, nichts mehr hinzufügen zu können, hat er das
verzweifelte Gefühl, alles verdorben zu haben. Er blickt verlegen auf
die vollen grauen Haare des Mannes, die sich in einer breiten Welle von
der gebräunten Haut abheben, und wartet nun endlich auf eine Antwort.

»Das ist alles recht, was Sie hier sagen. Aber Sie sind nicht ganz im
Bilde. Nehmen Sie an, daß jemand zu Ihnen spricht: ›Sie haben da eine
schöne Tasche, die ich gern kaufen möchte.‹ Und Sie antworten: ›Nein,
verkaufen will ich sie nicht, weil für mich wertvolle persönliche
Erinnerungen damit verknüpft sind; aber weil ich Vertrauen zu Ihnen
habe, können Sie die Tasche gern in Gebrauch nehmen und gleichsam
als Ihr Eigentum betrachten, ebenso wie es das meine bleibt.‹ Der
andere nimmt die Tasche mit und schickt Ihnen am nächsten Tage das
Geld dafür, gut den doppelten Wert. Schließlich läßt er sich sogar
auf Verhandlungen ein und sagt: ›Ein wenig darfst du an der Tasche
teilhaben, wenn du dich diesen und jenen Bedingungen unterwirfst.‹
Sagen Sie einmal, wie würde Ihnen das gefallen?«

Er sieht den Rechtsanwalt lange an. Dieser hat die Absicht, nun
gleichfalls zu schweigen, bis der andere genügend gesprochen hat. Aber
er fühlt sich sehr unbehaglich dabei.

Nach einer endlos scheinenden Pause setzt der Mühlenbesitzer langsam
fort:

»Auf diese einfache Weise nur kann ich das verstehen. Wenn Herr Becker
damals gesagt hätte: Herr Pohl, mit unserem Plan ›klein anfangen und
groß aufhören‹ geht es heutzutage doch nicht. Die schnelle Entwicklung
unseres technischen Zeitalters verlangt imponierende Projekte,
die sofort auszuführen sind. Dazu brauchen wir andere Gelder, die
Beteiligung der Spitzen aller Kreise. Wollen wir es nicht so und
so versuchen? Aber er geht mit meiner Vollmacht umher, verschafft
sich Einfluß durch Einheirat in die Geldkreise, stellt sein Projekt
auf eine andere Basis und läßt dann anfragen: wieviel ist dir mein
Vertrauensbruch wert? Wissen Sie, wie ich darüber denke?«

Der Rechtsanwalt sieht ihn erwartungsvoll, mit einer zagen Hoffnung,
an.

»Schaffen Sie mir erst einen anständigen Menschen zurück. Dann können
wir verhandeln. -- Und nun strengen Sie Ihren Prozeß an.«




                            Die Katastrophe


Das erste, was im Hafengelände fertiggestellt wird, ist eine Mauer um
das ganze Terrain -- bis auf die Seite, die der Pohlschen Mühle am
anderen Ufer zugewandt ist. Hier muß man den Zugang zum Kanal offen
halten, und der Feind behält einen Überblick auf die Fortschritte im
Baugelände.

Gleichzeitig wird ein schöner Backsteinbau mit Giebeln und einer
verdeckten Veranda für die Hafenwirtschaft errichtet, und zwar direkt
am großen Hauptportal. Mehrere hundert Arbeiter kommen und gehen
täglich durch dieses Tor, und sie müssen auch essen und trinken.

Nachdem der Kantinenwirt eingezogen war, ist auch für Herrn Gregor,
den Vertrauensmann der Hafengesellschaft, im Wirtschaftsgebäude ein
Schlafzimmer eingerichtet worden.

Wer zum Tor hinein will, muß sich ausweisen, das Wächterhaus ist Tag
und Nacht besetzt.

Es ergibt sich nun, daß Schwester Emmi eines Abends zufällig vor dem
Tore steht, als Herr Gregor heimkehrt.

»Wollten Sie vielleicht hier hinein?« fragt Herr Gregor, nachdem er sie
längere Zeit betrachtet hat.

»Ach nein«, gibt sie schüchtern und sehr verlegen zurück. »Ich
wollte nur Frau Reiche rufen und bitten, mir eine Flasche Selter
herauszubringen. Es ist für eine Kranke, und die Läden sind schon
geschlossen.«

»Aber bitte, dann kommen Sie nur mit hinein«, sagt Herr Gregor galant
und führt sie am wachsamen Auge des Torwarts ungehindert vorbei.

Nein, Herr Gregor hat es nicht nötig, sich selbst und seine Begleitung
auszuweisen. Er ist eine Respektsperson, die hier gleich nach dem
Hafendirektor eingeschätzt wird.

Seine Liebenswürdigkeit geht so weit, daß er Schwester Emmi bis in den
Kantinenraum begleitet, der um diese späte Abendstunde nur von einigen
Herren des Tiefbauamts besucht ist, und er ruft gut gelaunt: »Hier,
Frau Reiche, bringe ich Ihnen Besuch.«

Schwester Emmi sagt tief errötend: »Nein, ich weiß wirklich nicht, wie
ich dem Herrn dafür danken soll.« Damit ist zart angedeutet, daß Herr
Gregor sich ihr noch nicht vorgestellt hat.

Leider wird der gewünschte Erfolg nicht erreicht, denn der elegante
junge Mann läßt sich in einer Ecke nieder und bestellt sein Abendbrot.
Frau Reiche erscheint mit der Selterflasche, und Schwester Emmis
Mission wäre beendet.

»Vielen, vielen Dank,« flüstert die hübsche kleine Krankenschwester,
»könnten Sie mir wohl noch -- ach, mein Gott«, unterbricht sie sich mit
einem Griff nach dem Kopf, und sie muß sich auf einen Stuhl fallen
lassen, »-- um ein Glas Wasser wollte ich bitten.« Sie ist wirklich
einer Ohnmacht nahe.

»Lieber Gott«, ruft die junge Wirtin mit den feuchten dunklen Augen.
»Das macht die schwere Arbeit, die so eine Krankenpflegerin zu leisten
hat.«

Herr Gregor begnügt sich damit, die Szene aus einiger Entfernung zu
beobachten. Er kennt die Frauen und darf von seiner Unwiderstehlichkeit
überzeugt sein. Es ist ihm ein behagliches Gefühl, Anlaß dieser kleinen
Szene zu sein, denn darüber braucht nach seiner Ansicht kein Zweifel zu
bestehen.

Schwester Emmi ist durch den Trank offensichtlich gestärkt. Sie erhebt
sich schwankend und sagt mit einem kleinen Rundblick: »Ja, es war heute
ein besonders schwerer Tag.«

Frau Reiche hat allzulange den Wunsch gehabt, über die Ereignisse
in der Mühle unterrichtet zu werden; darum kann sie es auf keinen
Fall zulassen, daß dieses arme schwache Geschöpf sich schon allein
auf den Weg begibt. Sie gießt ihr eine Limonade ein und setzt sich
mit an den Tisch. Ihr volles blasses Gesicht ist von angespanntester
Aufmerksamkeit erfüllt.

Schwester Emmi muß sich schließlich zu kleinen Konzessionen
herbeilassen, aber sie äußert sich so vorsichtig wie nur möglich. Als
Herr Gregor ein paarmal den Namen Pohl gehört hat, beendet er seine
Mahlzeit. Wie es dem kleinen Fräulein nun gehe, fragt er, während er
Frau Reiche das Abendbrot bezahlt. Dabei neigt er den schmalen Rücken,
daß seine schwarzen Augen verwirrend nahe über Schwester Emmi leuchten.

»O danke, es ist bedeutend besser.« Sie behauptet, nun gehen zu müssen.
»Aber wird man mich auch herauslassen?« fragt sie schelmisch lächelnd.

»Ohne meine Begleitung sicher nicht«, meint Herr Gregor. Und sie machen
sich auf den Weg.

»Kommen Sie nur herüber, wenn Sie sich einsam fühlen«, sagt Frau Reiche
zum Abschied. »Der Herr Gregor wird es schon erlauben.«

Weil die Luft sehr mild und anregend wirkt, gehen die beiden noch
einige Minuten am Kanal spazieren.

Als Schwester Emmi in ihrem Zimmer angelangt ist und die Selterflasche
weggestellt hat, denkt sie, daß sie zwar noch nicht viel erreicht habe,
aber es beständen doch allerhand Aussichten durch die neue Verbindung.

Nun ist ihre Arbeit in diesem Hause bald beendet, und das Wanderleben
beginnt von neuem. Welche reizbare Dame und welcher krebsrote Säugling
mochte nun auf sie warten? Nein, dann wäre es doch besser, wenn bei so
einer großen und mächtigen Firma irgendein Posten für sie geschaffen
würde und ihr Freiheit und Beständigkeit gäbe. Es geht nicht mehr an,
daß man in den Tag hineinlebt, ohne ein wenig an die Zukunft zu denken.
--

Herr Gregor ist von dem Abend wenig befriedigt. Es langweilt ihn doch
allmählich, seine Tage in Frau Reiches Gesellschaft zu beschließen,
während draußen das Leben auf ihn wartet. Frau Reiche ist ohne
Zweifel eine sehr adrette Frau, und ihre feuchten Augen sind nicht zu
verschmähen, aber wenn man von der Kultur des Zeitalters bis in die
Fingerspitzen erfüllt ist, bleiben eine Kantinenwirtin oder eine kleine
wasserstoffblonde Säuglingsschwester nichts weiter als Surrogate.

So geht er denn mit trüben Gedanken noch ein wenig im umfriedeten
Hafengelände spazieren. Die Erdwälle um die aufgerissenen drei
Baugruben mit den gerüstartigen Armen der hohen mechanischen Greifer
bereiten ihm in ihrer dunklen Schwere Unbehagen. Er blickt in eines der
Becken hinab, in dem man schon mit der Grundwasserabsenkung beschäftigt
ist, und sieht das Licht des Mondes im lehmigen Naß sich spiegeln.
Nein, das sind keine Bilder für seine empfindsamen Nerven.

Er geht wieder zu Frau Reiche und hört sich ihre Lamentationen an.

»Keinen Tropfen Alkohol! Auf die Dauer -- das habe ich meinem Mann
gleich gesagt -- kann das nicht rentabel sein. Die Arbeiter haben
zuerst über die Limonaden und die Milch ihre Witze gemacht und es mit
dem Malzbier versucht, aber jetzt schimpfen sie, und einer nach dem
anderen geht über die Straße in die Wirtschaft und trägt dem Manne das
Geld hin«, klagt sie verzweifelt.

»Aber sie dürfen doch das Gelände während der Arbeitszeit nicht
verlassen. Ich werde mit den Wächtern sprechen.«

»Ach, das hat ja gar keinen Zweck. Sie gehen in der Freizeit und nach
Arbeitsschluß doch hin, und neulich habe ich sogar beobachtet, wie
einer ein Bierfaß auf einem Wagen mitgebracht und im Schuppen abgeladen
hat. Das war bestimmt kein Lagergut, aber uns wird auf die Finger
gesehen.«

Herr Gregor lächelt. »Da sieht man, wie der Durst erfinderisch macht.
Der Durst und die Liebe, Frau Reiche, daran ist nicht zu zweifeln. Ich
will versuchen, ob sich bei Gelegenheit wenigstens die Erlaubnis für
den Bierausschank durchdrücken läßt. Doch nun werde ich müde, man geht
hier eben mit den Hühnern zu Bett. Wo ist denn Ihr Mann, wieder in
einer Versammlung?«

»Ach der, wissen Sie, seitdem wir die Bäckerei aufgegeben haben, ist
er kein richtiger Mensch mehr. Er könnte hier ein so schönes Leben
führen, aber nun hat er sich auch aufs Trinken verlegt, und weil er zu
Hause nichts hat, muß er eben zu anderen gehn. -- Also ich bringe Ihnen
nachher noch frisches Wasser hinauf, die Herren Bauräte wollen schon
zahlen«, flüstert sie, während sie die prallen weißen Arme über der
Brust verschränkt. --

Herr Gregor hat lange keine Gelegenheit, das Alkoholverbot bei Joachim
Becker zur Sprache zu bringen. Zuviel wichtige Dinge liegen vor, die
den jungen Direktor bis in den späten Abend beschäftigen und sein
ungeduldiges Wesen allmählich schwer erträglich machen.

Sein Sekretär ist längst nicht mehr über alle Vorgänge unterrichtet.
Es werden neue Ressorts besetzt, andere verantwortliche Kräfte
herangezogen, die Aussicht haben, aufzusteigen, während der junge Herr
Gregor nur ein Handlanger bleibt. Seine Einkünfte sind nicht geringer,
seine Machtstellung nach außen bleibt unbeschränkt -- man bemüht sich
um seine Gunst --, aber er ist nicht zufrieden.

Eines kleinen Triumphes konnte er sich heute unvermutet erfreuen, er
vermochte seine Genugtuung darüber schwer zu unterdrücken. Da hatte man
nun wochenlang Konferenzen mit den Bauräten und fremden Kommissionen
im engen Kreise abgehalten: geheimnisvolle Pakete wurden von den
Herren persönlich gebracht und wieder mitgenommen, auf dem langen
Konferenztisch waren Brocken von Erde und Steinen zurückgeblieben. Sie
glaubten, ihr Geheimnis gut bewahrt zu haben, und heute stand es in der
Zeitung.

Herr Gregor strich den Artikel rot an und legte ihn Joachim Becker
wortlos auf den Tisch. So, nun sollte man sehen, daß ihm nichts
entgehen konnte.

Er wurde nicht gerufen, aber Kommerzienrat Friemann war von seiner
Rumänienreise zurückgekehrt und sofort in das Zimmer des Hafendirektors
gegangen.

»Von der Reise zurück?« ruft sein Schwiegersohn überrascht.

»Ja«, sagt der Kommerzienrat und wirft einen prüfenden Blick umher.
»Man hat auch gleich etwas Neues erfahren. Da habe ich mir zum
Beispiel unterwegs eine Zeitung gekauft --«

»Ach, meinst du dieses Gefasel hier?« Joachim Becker stößt mit dem
Finger verächtlich auf den angestrichenen Artikel.

»Allerdings. Was sind das für Erzfunde, und warum hat man mir nichts
mitgeteilt?«

»Weil es unwesentlich ist. Sie sind nur im Südbecken bemerkt worden,
während wir im ersten Becken sogar auf Moorboden stoßen und im zweiten
bereits mit Schwimmbaggern arbeiten. Das Südbecken, das eine Breite von
sechzig Metern bekommt, enthält die Vorkommen am Ende der südlichen
Breitseite, außerdem sind es unreine Erze, die erst aufbereitet werden
müssen. Die Hauptader zieht sich in das dahinterliegende Gelände. Was
in unserem Becken gefunden wird, ist nicht der Rede wert. Wenn die
Zeitung fordert, wir sollen die Arbeit einstellen und die Erze fördern,
so ist das heller Wahnsinn.«

»Wem gehört das dahinterliegende Gelände?«

»Es sind Felder, die augenblicklich noch bestellt werden. Sie sind
mir vor einigen Wochen bis zum anstoßenden fiskalischen Grund für die
spätere Erweiterung der Hafenanlagen billig angeboten worden, und ich
habe sie während deiner Abwesenheit mit Einwilligung unseres Vorstandes
gekauft, um sie im nächsten Frühjahr als Fußballplätze für die Arbeiter
einrichten zu lassen.«

»So, du kaufst Fußballplätze für die Arbeiter! Die Herren vom
Aufsichtsrat aber fragen an, warum wir nicht die Erze fördern, um
Geld hereinzubekommen«, sagt der Kommerzienrat nicht ohne Schärfe.
Er ist im Grunde sehr zufrieden mit der Auskunft, denn so viel hätte
er nicht einmal erwartet: daß man sich das wertvolle Gelände gleich
sichern würde. Aber was ist das für ein Gerede von den Fußballplätzen?
Diese Art Menschen muß ihre raffinierten Geschäftszüge immer mit einem
idealistischen Mantel bekleiden. Er selbst hätte mit Stolz darauf
gepocht, wenn ihm der schnelle Kauf noch vor Bekanntwerden der Erzfunde
gelungen wäre.

Joachim Becker ist sehr blaß geworden. »Wir wollen einen Hafen
verwalten und keine Erze fördern«, sagt er ruhig.

»Deswegen kann man das neue Gelände richtig ausnutzen«, gibt der
Kommerzienrat zurück.

»Wenn der Aufsichtsrat es durchaus verschachern will, so steht es ihm
frei.«

Über das gelbe fette Gesicht des Kommerzienrats zieht eine flüchtige
Röte. Seine runden Augen, die denen seiner Tochter so verblüffend
gleichen, werden in der Erregung ebenso starr und ausdruckslos, wie sie
bei Adelheid beweglich und sprechend sind, woraus man schließen kann,
daß sie auch vom Verstand zu lenken sind, denn sie verbergen alle seine
Gefühle.

»Du benutzt das Geld nur zum Ausgeben. Aber das Konsortium muß es
heranschaffen. Wir wollen auch einnehmen.«

»Der Hafenbetrieb wird es bringen.«

»Das ist Zukunftsmusik. Wir müssen die Tatsachen nutzen. So kommen
wir nicht weiter. Die Verträge mit der Eisenbahn sind auch noch nicht
abgeschlossen. Wir können ohne den Gleisanschluß nicht arbeiten, wenn
die Speicher fertig sind.«

»Wir werden schon rechtzeitig einig werden. Ich arbeite mit Hochdruck,
aber man macht mir Schwierigkeiten wegen Lappalien und kommt mit
bureaukratischem Formelkram dazwischen.«

»Eins der Aufsichtsratsmitglieder von den Banken wird demnächst eine
Gesellschaft geben und einige Herren von der Bahn einladen.«

»Ich dachte, daß es bei ~uns~ auch auf dem geraden Wege gehen
kann«, gibt Joachim Becker erregt zurück.

»Mit diesem Draufgängertum kommst du nicht weiter! Das ist der legale
Weg, die Verhandlungen ein wenig zu glätten. Du erkundigst dich wohl
nach den maßgebenden Herren und legst mir die Liste vor.«

Der andere gibt keine Antwort, aber er macht sich eine Notiz.

An der Tür wendet sich der Kommerzienrat noch einmal um.

»Übrigens,« meint er nun jovial und nicht mehr kühl geschäftlich wie
während der ganzen Unterredung, »wir sind heute abend allein, ihr kommt
wohl ein wenig herüber?«

»Ich habe sehr viel zu tun«, sagt sein Schwiegersohn mit einem Blick
auf den Notizblock; aber wie er dann in das breite Gesicht mit den
warmen Augen des Familienvaters sieht, fügt er entgegenkommender hinzu:
»Doch ich will sehen, wie ich es einrichten kann.«

Er hat das Verlangen, sich Bewegung zu machen und frische Luft zu
atmen. Darum bestellt er seinen Wagen und fährt in den Hafen. Herr
Gregor begleitet ihn.

Nun schreitet die Arbeit in der Höhe und in der Tiefe fort, daß es eine
Freude ist, seine Augen überallhin schweifen zu lassen. Das werktätige
Spektakeln der Arbeiter und das Rattern der Maschinen wirken beruhigend
auf seine Nerven.

»Was wird hier ausgeladen?« fragt er am Kanal den Aufseher.

»Es sind die Dynamitladungen für die Sprengungen im Südbecken«, gibt
der Mann zurück.

»Wo sollen sie gelagert werden?«

»Ja -- hier im Schuppen, da wir noch nichts anderes haben.«

»Wollt ihr die Sprengstoffe in den Holzschuppen geben? Die Keller
im Getreidespeicher sind fertig. Wir haben sie feuersicher ausbauen
lassen. Warum wird daran nicht gedacht?«

Herr Gregor stellt fest, daß dieser Mensch alles sieht und immer
den richtigen Ausweg weiß. Er muß ihn gegen sein inneres Sträuben
imponierend finden.

Dann sucht der Direktor den Oberbaurat Steffens auf, der die Hochbauten
leitet.

»Wir müssen mit dem Getreidespeicher schneller weiterkommen. Ich sehe,
Sie sind noch beim zweiten Stock. Die Firma Friemann hat zehntausend
Tonnen Getreide von der neuen Ernte in Rumänien zu erwarten. Sie
muß wissen, daß sie es hier lagern kann, ehe sie die Ladungen auf
den Weg bringt. Zum Herbst also soll der Getreidespeicher mit allen
Inneneinrichtungen in Betrieb genommen werden. Wir werden die
Doppelschichten verstärken müssen. Was meinen Sie?«

Direktor Becker hat es sich angewöhnt, nach Erteilung seiner knappen
Befehle die maßgebenden Herren in dieser Weise um ihre Meinung zu
bitten. Daß sie stets übereinstimmend lautet, ist selbstverständlich,
und er hat die wegen seiner Jugend entstandenen Feindseligkeiten,
besonders von seiten der städtischen höheren Beamten, einfach im Keime
erstickt.

Nein, es scheint dem jungen Unternehmungsgeist wahrhaftig nicht schwer,
mit den Menschen fertig zu werden, wenn man nur die Augen offenhielt
und -- die nötige Macht in die Hände bekam. Ob diese Rechnung auch
immer richtig aufgehen würde?

Für jeden Fall hat Joachim Becker sich hier, wo ihm das letzte Wort
zu sagen bleibt, wieder Kraft geholt. Nun kann er in sein Bureau
zurückfahren und weiterarbeiten.

Irmgard Pohl sieht ihn, wie er in seinen Wagen steigt. Sie ist zum
ersten Male vor das Haus gegangen und betrachtet es als eine Probe auf
ihre inneren und äußeren Kräfte, daß sie zuerst dem Menschen begegnet,
der ihr Gleichgewicht am meisten erschüttern kann.

Aber nun will sie mit den Leistungen ihrer Energie noch weiterkommen:
sie geht zu ihrer Mutter hinauf, um den alten Kampf mit der
fürchterlichen Krankheit aufzunehmen, die geheimnisvoll und ohne
Angriffsmöglichkeiten ist.

»Guten Tag, Mutter«, sagt sie mit ihrer hellen festen Stimme. »Nun bin
ich wieder gesund.«

»Ja,« erwidert Frau Pohl weinerlich gedehnt, »bist du krank gewesen?«

»Hat die Schwester es dir denn nicht gesagt?«

»Vielleicht hat sie es auch gesagt. Sie kann nur immer schwatzen und
hier herumstehen. Aber auf mein Kind gebt ihr nicht acht.« Ihr Gesicht
ist hart und unduldsam. »Wirst du dir jetzt mehr Mühe geben und
arbeiten, wie es sich gehört?«

»Aber gewiß, Mutter, das will ich tun. Wir arbeiten alle, soviel es
geht. Hörst du die Maschinen und die Arbeiter? Da ist keiner träge.«

»Ich kann es ja nicht kontrollieren. Der Vater und du, ihr könnt es mir
wohl sagen, aber ich denke mir mein Teil. Ihr habt immer Ruhe, hier zu
stehen und eure Zeit totzuschlagen.«

»Aber wir müssen doch nach dir sehen und uns um dich kümmern. Ich will
dir dein Bett richten.«

»Mich laßt nur in Frieden, um mich ist es nicht schade«, gibt die
Gelähmte zurück. Aber sie läßt es schweigend geschehen, daß die Tochter
ihren elenden steifen Körper aufrichtet und die Kissen glättet. Dann
verfällt sie wieder in die alte Apathie und gibt keine Antwort mehr.

Irmgard geht müde die Treppen hinab. Immer ist sie, von Mitleid und
Liebe erfüllt, mit einem Herzen, das sich restlos verschenken will,
hinaufgegangen und entmutigt zurückgekommen. Fünf Jahre lang, und nun
ist sie einundzwanzig Jahre alt.

Im Kopfe dieser Frau hatten auch in gesunden Tagen nur zwei Gedanken
Platz: die Arbeit und der Sohn. Sie hat ihrem Mann und der Tochter das
Leben damit verdunkelt und sich selbst zur Sklavin gemacht, und als der
Sohn endlich kam und ihr wieder genommen wurde, sind sie zur fixen Idee
geworden: die Arbeit und der Sohn ...

Wie Irmgard in die Küche gehen will, um auch hier nach dem Rechten zu
sehen, wird ihr plötzlich die Tür aus der Hand gerissen.

Ein furchtbares Getöse fliegt durch das Haus, die Luft dröhnt gegen
die Fensterscheiben, daß sie klirrend zerspringen; ein neuer, noch
stärkerer Knall droht Irmgard den Kopf zu sprengen. Halb irrsinnig
rennt sie gegen den Hintereingang. Die offene Tür ist aus den Angeln
gerissen, Geröll liegt auf dem Wege, und als Irmgard aufblickt, sieht
sie an der Stelle, wo der halbfertige Getreidespeicher stand, eine
Rauchsäule, die aus Schutthaufen und leeren Eisengerüsten weht.

Schwester Emmi kommt auf ihren hochhackigen Schuhen stolpernd gerannt.

»Eine Explosion«, schreit sie mit schriller Stimme. »Ich will
Verbandzeug holen und helfen --« fügt sie atemlos hinzu.

Irmgard, die ihr entgegengeht, fällt die Mutter ein.

»Und das Kind«, ruft sie entsetzt. Sie stürzt in ihr Schlafzimmer,
reißt den Säugling aus den Betten. Er schläft und stemmt sich mit
erwachender Kraft gegen ihren Arm.

Sie möchte laut lachen und weinen zugleich. Da sieht sie eine Gestalt
neben dem Kinderbett liegen.

»Frau Pohl« -- stammelt die Schwester, die in ihrer Verwirrung Irmgard
gefolgt war. Sie werden beide von einem mystischen Schauer erfaßt.




                         +Vita somnium breve+


Die Frauen heben die Ohnmächtige auf und legen sie über das Bett. Und
siehe: die Glieder sind leicht und gelöst, sie lassen sich biegen und
bewegen. Der Schrecken hat die Gelähmte von ihrem Bann befreit. Sie,
die seit fünf Jahren das Bett nicht verlassen hat, konnte die Treppen
hinabgehen, und erst hier, neben dem Kinde, das sie für ihren Sohn
hielt, brach sie zusammen.

Sie massieren den kalten Körper, packen ihn in angewärmte Decken. Das
Blut beginnt zu kreisen, leise rührt sich die Kranke, sie hebt einen
Arm, sie öffnet die Augen. Ihr Blick aber ist nicht ausdruckslos und
ohne Richtung. Er umfaßt die Tochter, und leise, zärtlich fragt sie:

»Bist du es, Irmgard?«

»Ja, Mutter.« Es ist seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie aus diesem
Munde ihren Namen hört.

»Wie geht es unserem Michael?«

»Er ist gesund, Mutter.«

»Willst du ihn mir einmal geben, meinen kleinen Sohn?« Und es ist
wiederum seit fünf Jahren zum erstenmal, daß sie nach dem Kinde
verlangt. Ihre Stimme klingt sanft, erfüllt vom bangen Gefühl für das
mütterlich verschenkte Leben.

Irmgard Pohl nimmt zitternd den Knaben, Joachim Beckers Sohn, aus den
Kissen und legt ihn der Mutter in den Arm.

»Er schläft, immer schläft er,« flüstert die Kranke, »er wird stark und
gesund werden, ich habe es gewußt.«

Sie lehnt ihr mageres Gesicht hingegeben an den warmen kleinen Leib.

»Und nun leg' ihn wieder hierher, daß er in meiner Nähe bleibt, dann
will ich schlafen. Ich bin noch sehr müde und schwach. Er hat mir so
viel Kräfte genommen, unser Stammhalter« fügt sie schmerzlich lächelnd
hinzu.

Fünf Jahre sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht, hier liegt ihr Sohn
voll Leben und Wärme, und sie wendet sich auf die Seite zu dem langen,
erquickenden Schlaf, der die jungen Mütter nach ihrer großen Stunde
umfängt.

»Ich habe es geahnt, daß sie damit zu heilen ist«, flüstert Schwester
Emmi, als sie die Tür hinter sich schließen, Irmgard und sie, die sich
nun zur Wirklichkeit zurückfinden.

Sie suchen Verbandzeug und Tücher, soviel die Schwester tragen kann,
und dann geht sie hinüber zur Unfallstätte, während Irmgard hier Wache
hält und auf den Vater wartet.

Der Mühlenbesitzer ist in der Stadt gewesen, während das Unglück
geschah. Auf dem Heimwege, in der Bahn, wird bereits davon gesprochen.
Und er eilt mit schwachen Füßen über die Föhrbrücke, er, der so kräftig
in seinen hohen Stiefeln zu stapfen gewohnt ist. Aber sein Haus steht
da, hell und mit bunten Fensterrahmen, auch sein Speicher steht und
seine Mühle.

Nun erst blickt er auf die Verwüstungen im Nachbargelände. Ist es
nicht, als hätte Gottes Hand diesen Bau von Stein und Eisen umgelegt,
der wie ein Denkmal für verlorenes Menschentum vor seinen Augen
aufgewachsen war? Gleich einer großen mahnenden Faust ragen die
verbogenen Eisensparren über dem verfallenen Gestein. Und Michael Pohl
streicht allen Haß aus seinem Herzen.

Irmgard geht ihrem Vater entgegen und berichtet flüsternd von dem
Vorfall im eigenen Hause.

»Nun können wir ihm seinen Namen geben«, sagt sie zum Schluß. »Er heißt
Michael.«

Als die Schwester endlich bei der Unglücksstätte anlangt, sind schon
Ärzte und freiwillige Helfer da. Sie reißen ihr die Tücher aus den
Händen und geben ihr Arbeit, soviel sie nur schaffen kann.

Auch die Neugierigen fehlen nicht und die Reporter, die bei solchen
Ereignissen immer zufällig in der Nähe sind. Sie haben den Schaden
bereits gezählt und stürzen an das Telephon der Hafenwirtschaft. Frau
Reiche richtet die Zimmer und Betten für die Verwundeten.

»Großes Explosionsunglück beim Hafenbau!« melden die Extrablätter in
der Stadt, und die Maschinen stampfen es schon in die Abendausgaben.
»15 Tote! 46 Verwundete. Der halbfertige Getreidespeicher zerstört!
Das Nordbecken von den Trümmern verschüttet! Millionenschaden!
Untersuchungen über die Ursache sind im Gange.«

Joachim Becker war kaum vom Hafen zurückgekehrt, als ihm das Unglück
gemeldet wurde.

Nun steht er wieder an der Stelle, wo er vor einer Stunde seine
Befehle gab, und spürt zum ersten Male in seinem jungen, von Arbeit
und Erfolgen prall erfüllten Leben den Hammer eines unerbittlichen
Geschickes.

Und zum ersten Male ist ein Stillstand in ihm eingetreten. Er findet
sich im alten Schuppen, der mit seinen Holzwänden noch unbeschädigt an
die Vergangenheit gemahnt, und sieht der flinken blonden Schwester zu,
die lautlos an den Opfern vorbeihuscht und ihre Zahl auf einem Zettel
notiert.

»Es sind bis jetzt 28 Tote«, haucht sie beklommen an der Tür. Joachim
Becker nimmt es unbewußt auf und richtet seine entspannten Augen, die
in dem hellen offenen Gesicht sich dunkelnd vertiefen, über das Gelände
mit den Trümmerhaufen, dem zerwühlten Becken, das wie ein Krater
schwarz und naß die Arbeitenden verschluckt hat; er sieht die aufgeregt
hastenden Menschen, die Krankenwagen, die Verwundeten und die Toten.

Und er sieht noch einmal das fertige Werk seiner wirklichkeitsnahen
Träume: eine Reihe von langen und breiten Hafenbecken mit
Tausend-Tonnen-Schiffen in vier Reihen, Speicher und Verladebrücken,
die schwarz aufragenden Arme der Krane, das Turmhaus der Verwaltung,
den Freihafen mit seinen direkten Ladungen aus aller Welt. Daneben
aber die Siedlungen für die dem Teufel Alkohol entronnenen
Arbeiter, helle Häuser mit Blumen in den Gärten, die Badehallen und
Schwimmanstalten, die Spielplätze für die Kinder und die Sportwiesen
für die menschgewordenen Sklaven der Arbeit. Nein, nicht mehr Sklaven
sieht er: freie Menschen, dem Lichte zurückgegeben, den uralten Straßen
-- den Wasserwegen mit der staubfreien Luft und den grünen Ufern --
wiedergeschenkt.

Hier aber liegen seine ersten Helfer: in die Erde gewühlt, unter
Trümmern begraben, verstümmelt für die letzte kurze Strecke ihres
Lebens; von Schmerzen verzerrt.

Er folgt ohne Bewußtheit der Krankenschwester, die hier eine
schluchzende Frau in den Arm nimmt und tröstet, dort einem Verwundeten
den Verband anlegt. Er findet sich in der Hafenwirtschaft, im großen
Raum mit eilig gerichteten Krankenlagern und sieht, wie seine »freien
Menschen« auf Bahren gepackt und zu den Krankenwagen davongetragen
werden. Er sitzt auf einer Kiste und betrachtet die leichten Bewegungen
der Schwester, die das Verbandzeug zurechtlegt und auf weitere
Verwundete wartet. Er hört seine eigene Stimme wie die eines Fremden,
als er fragt:

»Sind Sie von der Rettungsstation?«

»Nein,« gibt Schwester Emmi leise zur Antwort, »ich war in der Nähe,
als das Unglück geschah.«

»Wir werden wohl noch oft solche Hilfe brauchen«, sagt er müde. »Wenn
Sie wollen, können Sie zu uns kommen -- für unsere Fürsorgestelle«,
fügt er, nach dem ersten aufbauenden Gedanken, hinzu.

Schwester Emmi neigt sich über ihre Verbandrollen. Man gibt ihr ein
Amt, eine große und verantwortungsvolle Aufgabe, und man fragt nicht:
wer bist du, woher kommst du, was hast du gelernt und -- wie steht es
mit den moralischen Qualitäten für den Posten? Man sagt: wenn ~du
willst~ -- Und sie blickt mit ihren tränenüberströmten Augen zu
Joachim Becker empor. Da steht er rasch auf und verläßt wortlos den
Raum.

Wie sie später, nachdem alle Verwundeten in die Krankenhäuser geschafft
und die Toten aufgebahrt sind, am Hafendirektor vorbeikommt, wagt sie
nicht mehr, ihm zu danken.

Er diktiert einem Manne: »38 Tote, 75 Verwundete. Erste Explosion beim
Ausladen im Tor des Getreidespeichers. Ursache nicht aufgeklärt. Durch
Entzündung der auf dem Wagen befindlichen restlichen Sprengstoffe
ein Teil des Nordbeckens verschüttet. Die feuersicheren fertigen
Kelleranlagen des Speichers fast unversehrt. Materialschaden nicht
bedeutend.«

Schwester Emmi schlüpft scheu vorbei.

Aber vor Irmgard Pohl ist sie in ihrer Erregung ungehemmt. Sie
berichtet unter Tränen -- nicht mehr von dem, das die vielen betraf.
Sie hatte ihnen geholfen, wortlos, selbstverständlich. Nun aber steht
ihr eigenes Schicksal im Vordergrund.

»Als er sich umdrehte,« sagt sie, »so plötzlich, daß sein Gesicht nicht
mehr zu sehen war, da wußte ich, daß ich diesen Menschen doch niemals
hassen könnte.«

Und mit den Gefühlen der Angestellten vor dem höchsten Vorgesetzten
fügt sie hinzu: »Ich glaube, daß er weinen kann wie wir.«

Irmgard Pohl streicht mit ihrer ruhigen Hand über die Haare der
Schwester. »Ich wußte es, daß er kein schlechter Mensch ist«, sagt sie
leise. »Wenn ihm doch Gott alles zum Guten führen wollte!«




                           Der Aufsichtsrat


»Das ist ausgezeichnet«, sagt Kommerzienrat Friemann zu Bankdirektor
Ellgers, indem er ihn mit einer Handbewegung in sein Zimmer ladet.

»Wir haben zwei Minuten Zeit zum Plaudern«, meint der Finanzmatador mit
seiner brüchigen Stimme, als seien zwei Minuten das größte Zeitopfer,
das er zu vergeben habe. »Wir fangen doch pünktlich an?«

»Gewiß, allerdings«, versichert der Kommerzienrat. Er weiß, daß die
Konferenzen mit Direktor Ellgers auf die Sekunde zu beginnen haben.

Das fleckige Greisengesicht des Bankdirektors mit dem gefärbten
schwarzen Bart erwartet unbewegt die zwanglosen Erklärungen des andern.
Der Vorsitzende des Aufsichtsrats hat es nicht nötig, Fragen zu
stellen, die ihm vor der Sitzung zu beantworten sind.

Der Kommerzienrat beeilt sich, im gewünschten Plauderton das Nötige zu
sagen.

»Also dieser Becker,« beginnt er, »es ist doch ein Teufelskerl! Da hat
er nun in aller Stille, als die ersten Erzfunde geheimgehalten wurden,
das ganze private Gelände aufgekauft.«

»Für die Hafengesellschaft!« wirft Ellgers kurz und mit dem Ton der
Selbstverständlichkeit ein.

»Natürlich, natürlich, für die Hafengesellschaft. Die Sache hat einen
Pappenstiel gekostet, so daß der Vorstand es in der Eile unter sich
abmachen konnte. Nun bietet man den vierzigfachen Betrag. Und warum?«

Direktor Ellgers sieht ihn ungerührt an.

»Weil die Presse zuviel Geschrei darum macht«, beantwortet der
Kommerzienrat die Frage selbst. »Sie sehen einen neuen riesenhaften
Industriebezirk und behandeln die Sache mit einer geradezu
ausschweifenden Phantasie.«

»Hm, ausschweifende Phantasie«, wiederholt Ellgers. »Da wollen wir uns
jetzt in das Sitzungszimmer begeben.«

Kommerzienrat Friemann zieht höflich seine Taschenuhr.

»Richtig. -- Rauchen Sie eine von diesen Zigarren?«

»Danke.« Ellgers bedient sich und steckt die Zigarre in sein Etui.

Im Sitzungszimmer sind bis auf Stadtrat Richter, der abgerufen wurde,
sämtliche Herren versammelt.

Direktor Ellgers ist nicht dafür, Zeit zu verlieren. Er begibt sich auf
seinen Platz am Kopf des Tisches und eröffnet die Sitzung:

»Obgleich der zweite stellvertretende Vorsitzende, Herr Stadtrat
Richter, erst einige Minuten später erscheint, eröffne ich die Sitzung.
Herr Kommerzienrat Friemann, der stellvertretende Vorsitzende, hat
uns in einer wichtigen Angelegenheit zusammengerufen und gibt seine
Erklärungen durch Hafendirektor Becker ab.«

Joachim Becker bittet zunächst die Anwesenden, in stummer Würdigung
der bei dem Hafenbau verunglückten Helfer und Mitarbeiter sich von den
Plätzen zu erheben.

Kommerzienrat Friemann blickt seinen Schwiegersohn hilflos warnend an.
Seine Ansicht ist, daß dieser junge Dachs nicht nachholen dürfte, was
der erste Vorsitzende unterließ. Wieviel Mühe muß er wieder aufwenden,
um diesen Fehler gutzumachen!

Die Herren erheben sich in ungeordneter Reihe, die einen zögernd, die
anderen ruckartig, Direktor Ellgers mit einem kurzen scharfen Blick auf
den Hafendirektor.

Joachim Becker läßt seine Augen mit überlegener Ruhe die Reihen
entlangschweifen. Er hat seinen Platz neben dem leeren Stuhl des
Stadtvertreters, gegenüber +Dr.+ Immermann, dem Mitinhaber der
Privatbank, und Kommerzienrat Friemann. Er stellt fest, daß die meisten
Herren es vorziehen, ihre Blicke während seiner Rede der Tischplatte
anzuvertrauen.

Er spricht zunächst von dem Unglück und gibt Aufschluß über die genaue
Zahl der Opfer. Entschädigungen an Verletzte und Hinterbliebene
seien nicht zu zahlen, da alles ordnungsgemäß durch Versicherungen
gedeckt war. Nur dem Nachbarn, Mühlenbesitzer Pohl, seien zersprungene
Fensterscheiben und Beschädigungen am Hause zu ersetzen. Dann erörtert
er eingehend die Ursache. Er selbst habe die Anordnung gegeben, die
Sprengstoffe im fertigen feuersicheren Keller des Getreidespeichers zu
lagern. Die Explosion sei im Haupteingang, wahrscheinlich durch eine
Unvorsichtigkeit während des Ausladens, entstanden.

»Wir sehen daran, wie wenig der Mensch seinem Schicksal entrinnen kann.
Hätten wir den falschen Weg gewählt und die Ladung im alten, abseits
gelegenen Holzschuppen untergebracht, so wäre das fahrlässig gehandelt
gewesen, doch wir hätten Menschenleben geschont und großen Schaden
verhütet«, sagt er weiter mit bewegter Stimme. Aber er fühlt wieder die
starren, warnenden Blicke des Kommerzienrats und sieht, wie +Dr+.
Immermann mit dem Bleistift auf seinem Papier immer das gleiche Wort
malt.

»Erze« entziffert er. Fünfmal, sechsmal das Wort »Erze«. Und es trifft
ihn wie ein Peitschenhieb.

Dann spricht er vom zerstörten Getreidespeicher, vom Nordbecken.
Daran sei zuerst und mit nicht zu überbietender Leistungsfähigkeit
gearbeitet worden. Beide sollten bereits im Herbst in Betrieb genommen
werden, während man an den übrigen Hoch- und Tiefbauten in Ruhe
weitergearbeitet hätte.

Kommerzienrat Friemann, der nun auch auf seinem Notizblock zu malen
begonnen hat, räuspert sich und schreibt mit dicken Buchstaben seinen
Namen auf das Papier.

»Friemann -- Getreide en gros« liest Joachim Becker, unwillkürlich
darauf hingelenkt, und er fährt fort:

»Die größten Verluste erleidet dadurch der Getreidehandel.« Der
Kommerzienrat legt seinen Bleistift hin.

»Die Aufräumungsarbeiten werden zuviel Zeit erfordern, wir müssen daher
unseren Plan, zuerst den Getreidehafen fertigzustellen, aufgeben. Durch
die von der Firma Friemann zufallenden bedeutenden Getreideladungen
wären unsere Einrichtungen gleich zu Anfang vollkommen ausgenutzt
worden. Der Schaden trifft nun noch empfindlicher die Firma Friemann
als uns. Wir werden uns zunächst dem Bau des Mittelbeckens mit
den Lagerhallen und Zollspeichern zuwenden. Da der Winter hemmend
dazwischentritt, ist mit der Eröffnung erst im nächsten Frühjahr zu
rechnen.«

Der erste Vorsitzende sieht mit unverkennbarer Ungeduld auf, und
Kommerzienrat Friemann gibt seinem Schwiegersohn ein Zeichen, daß er zu
sprechen wünsche.

Nach den lauten, klingenden Worten Joachim Beckers wirkt seine
gedämpfte Stimme besonders tonlos, aber gereift und zuverlässig.

»Der entstandene Schaden,« führt er aus, »die verhinderte ersprießliche
Lagertätigkeit, die geeignet gewesen wäre, selbst im Winter bereits die
Unterhaltskosten zu decken, sind zwar sehr bedauerlich, ein glücklicher
Ausgleich aber wird sie uns verschmerzen lassen. Wir haben nicht nur
die Möglichkeit, die durch das Unglück ausfallende Summe zu decken,
sondern sogar einen ganz erheblichen Überschuß zu erzielen. Und das,
meine Herren, das durch die Erzvorkommen und durch das geschickte
Eingreifen der Hafendirektion, die sich das wertvolle Gelände, soweit
es sich in Privatbesitz befand, für einen geradezu lächerlichen
Kaufpreis sicherte. Man bietet uns dafür den vierzigfachen Betrag. Herr
Direktor Becker wird Ihnen darüber berichten.«

Ein befreiendes Aufatmen ist allgemein spürbar.

Und Joachim Becker beginnt damit, daß die Förderung im Becken selbst
gering sei.

»Warum wurden dann die großen Mengen Dynamit benötigt?« wirft Direktor
Othwig -- der Vertreter der Spedition -- ein.

Joachim Becker war im ersten Augenblick bereit zu fragen, ob man seinen
Worten mißtraue, aber er sieht in das Gesicht seines Schwiegervaters
und antwortet:

»Geringfügig ist die Ausbeute, weil es sich um Pocherze handelt, die
nur in einem schmalen Streifen, aber in der ganzen Beckenlänge von
fünfhundert Metern auftreten. Das Vorkommen fällt schräg ab und wird
nach den bisherigen Untersuchungen auf dem benachbarten Gelände in
einer Tiefe erscheinen, die vielleicht eine rentable Ausbeute möglich
erscheinen läßt.«

Joachim Becker verliest die Protokolle der Untersuchungskommission
und geht nach Erörterung des Geländekaufs auf die günstigen Angebote
über. Bis auf die Verhüttungs-Aktiengesellschaft, die allerdings
erst kürzlich durch eine Fehlspekulation eine Einbuße erlitten habe,
handle es sich nur um neue und zum Teil zweifelhafte Unternehmen. Er
gibt die Namen bekannt und vertritt die Ansicht, daß man die Angebote
der seriösen Firmen abwarten müsse, die sich erst nach eingehenden
Untersuchungen äußern wollen.

Direktor Gidli von der Flußschiffahrt meint, daß der Kurzentschlossene
vorzuziehen sei, und beantragt eine Debatte über die Angebote.

Joachim Becker fragt Direktor Haarland von der Eisenindustrie, ob er
sich als Mitglied des Konsortiums zunächst ein Vorrecht sichern wolle.

Direktor Haarland, der einzige, der in seinem Stuhl, anscheinend
gelangweilt, zurückgelehnt liegt und die langen Beine ausstreckt, winkt
mit einem Augenzwinkern und einer kaum spürbaren Bewegung seines großen
Kopfes ab.

Stadtrat Richter ist jetzt hinzugekommen, und die Beratung über die
Angebote wird eröffnet. Bankdirektor Ellgers bricht sie kurz ab mit dem
Antrag, sofort eine Ausschreibung vorzunehmen und in jedem Fall der
Verhüttungs-Aktiengesellschaft den Zuschlag zu geben, bei sofortiger
Barzahlung.

Joachim Becker erhebt impulsiv die Hand, und Kommerzienrat Friemann
beeilt sich, den Antrag zu unterstützen. Er wird ohne Zwischenfall
einstimmig angenommen.

Stadtrat Richter bittet, im Interesse der Stadt, die wegen der
Verpachtung der Ladestraßen ohnehin schon genug angegriffen werde,
dafür Sorge zu tragen, daß die Mitteilungen über das Unglück gemildert
würden. Man habe eine Sensation daraus gemacht, und nicht nur das
Ansehen der Stadt, die doch an der Hafengesellschaft beteiligt sei,
sondern auch die Idee von der Notwendigkeit des Hafens leide darunter.

Direktor Kohan meinte, daß die Presse eine selbständige Macht sei, die
sich nicht gebrauchen lasse, wie man Lust habe, aber Kommerzienrat
Friemann findet auch hier einen glücklichen Ausgleich.

»Gewisse Angriffe sind uns eine Zeitlang sogar nützlich gewesen,«
sagt er zur allgemeinen Überraschung, »ja, ich betone: nützlich,
und zwar aus folgendem Grunde: die Eisenbahn hat noch immer nicht
ihre Zustimmung zu den vorgeschlagenen Verträgen gegeben. Sie macht
Schwierigkeiten, weil sie uns fürchtet. Gewiß, unsere Frachten sind
billiger, und über die Leistungsfähigkeit gegenüber der Bahn wollen
wir heute noch nicht zuviel sagen, aber wir brauchen den Bahnanschluß.
Nun wird gegen uns Stimmung gemacht, man bekommt den Eindruck, daß es
mit uns doch nicht so zu gehen scheine, wie man nach den Projekten
erwartet hatte, und -- die Eisenbahn gibt es langsam auf, in uns eine
gefährliche Konkurrenz zu sehen. Sie wird gefügiger. Wir stehen kurz
vor dem Vertragsabschluß. Wenn diese Frage geklärt ist, wird sich das
Weitere schon finden.«

Dieser Friemann, dieser mit allen Wassern gewaschene Getreidehändler,
er weiß doch wahrhaftig auch das Negative so zu nutzen, daß es zum
Vorteil gereicht. Man kann sich ihm anvertrauen und erwarten, daß
er den in der Diplomatie allzu unerfahrenen Schwiegersohn noch
erziehen werde. Jedenfalls ist man geneigt, die Verdienste um
die Hafengesellschaft ihm allein zuzuschreiben -- seinem wachen
Geschäftsgeist, seiner unübertrefflichen Geschicklichkeit.

Man geht vollkommen beruhigt zum nächsten Punkt der Tagesordnung
über, und Joachim Becker spricht von dem Beteiligungsangebot der
Seehafenreedereien. Die Bedingungen sind unannehmbar, die Leute in den
Seehäfen nutzen ihre Macht.

»Sie müssen ihre Überlegenheit verlieren,« sagt er mit erhobener
Stimme, »das aber ist nur möglich, wenn sie eine Gegenmacht spüren,
wenn sie wissen, daß wir nicht auf Tod und Leben von ihnen abhängig
sind. Darum brauchen wir unsere Stützpunkte. An der Nord- und Ostsee
sind noch andere Häfen, kleine Küstenstädte, deren Lage sich ausnutzen
läßt. Zum Teil haben sie noch nicht einmal einen Freihafen. Sie werden
von den Kommunen verwaltet, erfordern Zuschüsse und sind ihren Bürgern
sogar eine Last. Wenn wir aber unsere Hand darauflegen und die zum Teil
schon recht leistungsfähig ausgebauten, aber kaufmännisch schlecht
verwalteten Häfen zu unseren Stützpunkten machen, so erlangen wir
unsere Unabhängigkeit. Ebenso wie die weitsichtige und gutberatene
hiesige Stadtvertretung den Ausbau ihres Hafens der Privatwirtschaft
überließ, so werden auch diese Städte dem Gedanken nicht unzugänglich
sein. Ich bitte Sie daher, sich schon heute darüber schlüssig zu
werden, ob wir diesen Weg beschreiten wollen, und mir die nötigen
Mittel zu bewilligen.«

Er nennt die betreffenden Hafenplätze und erwartet die Meinungen.

+Dr.+ Immermann, der bei den Sitzungen stets den Eindruck
hervorruft, als ob er im Schlafe unter hypnotischem Zwang den Bleistift
führe, meint, ohne seine Kritzeleien zu unterlassen:

»Ich halte den Zeitpunkt für verfrüht. Erst müssen wir selbst
verdienen.«

Joachim Becker fährt im alten Fluß seiner Rede fort: »Ganz abgesehen
davon, daß wir durch einen ersten Schritt auf diesem Wege schon jetzt
den großen Seehäfen unsere Taktik verraten müssen, damit sie ihre
Bedingungen ändern, ist es notwendig, zu handeln, ehe unsere hiesigen
Erfolge sichtbar werden. Wenn wir erst gezeigt haben, wie es gemacht
wird, und daß wir gut auf unsere Rechnung kommen, werden sich andere
Geldleute finden, die ihre Hand auf die übrigen Häfen legen oder
mindestens die Forderungen der Kommunen in die Höhe schrauben.«

»Oder die Kommunen machen es selbst nach unserem Rezept«, wirft Herr
Kohan ein. Über die starren Gesichter der Tafelrunde zieht der Schimmer
eines Lächelns.

»Ich verlange nicht schon heute die Bereitstellung der Summe, ich
will nur wissen, ob ich damit rechnen kann, um rechtzeitig mit der
Bearbeitung zu beginnen. Ich würde sofort zuverlässige Mitarbeiter
an den betreffenden Plätzen damit beauftragen, zunächst die
Unzufriedenheit mit dem jetzigen Zustand in der Öffentlichkeit und der
Stadtvertretung zu schüren und dann das Wort ›Privatwirtschaft‹ in
die Debatte zu werfen. Dann brauchen wir noch geraume Zeit, bis alle
maßgebenden Kreise die richtige Meinung davon erhalten haben, und wenn
das Feld dann so weit bereitet ist, können wir auf eine Aufforderung
hin unsere niedrigsten Gebote machen.«

Der Hafendirektor, der damals vor dem gleichen Auditorium das Projekt
für den Hafen dieser Stadt auseinandersetzte, blickt sich ein wenig um,
wie man die Erweiterung seines eigenen Planes aufnehme und ob er diesen
Zahlenmaschinen endlich einmal imponiere.

Aber nur Herr Kohan starrt ihn durch seine dicken Brillengläser an. Der
halbgeöffnete Mund, im gepflegten rosigen Gesicht mit dem weißen Haar
und Bart, verrät ebenso Verständnislosigkeit wie Bewunderung. Sonst
sieht er ringsum undurchdringliche Masken.

»Dazu kommen«, setzt er fort, »noch drei Binnenplätze mit fertig
ausgebauten Häfen, die wir für den Umschlag benötigen.«

»Welche sind das?« fragt Herr Gidli mit großem Eifer.

Joachim Becker nennt sie und fügt lächelnd hinzu: »Ihre Strecken kommen
für uns nicht in Frage.«

»Die halten wir auch besetzt«, beeilt sich Herr Gidli, der Vertreter
der Flußschiffahrt, zu bemerken.

»Welche Höchstsumme wird erforderlich?« fragt Bankdirektor Ellgers.

»Zehn Millionen. Die Abnahme kann sich auf vier Jahre, also bis zur
vollkommenen Fertigstellung unseres Hafens, erstrecken.«

»Ich bin für den Antrag und bitte um Abstimmung.«

Der Antrag wird angenommen.

Kommerzienrat Prüfer vom Importhandel hält es für angezeigt, trotz den
Unfallrenten etwas für die Hinterbliebenen zu tun, und schlägt eine
Sammlung vor. Die Hafengesellschaft solle als erste zehntausend Mark
zeichnen, für seine Firma stelle er tausend Mark zur Verfügung.

Joachim Becker sieht überrascht auf. Ein menschliches Gefühl? Aber das
kleine spitzbärtige Gesicht Prüfers ist nicht zu enträtseln.

Der allgemeinen stummen Zurückhaltung schließt sich nur Direktor Gidli
nicht an. Er meint: »Ist denn das nötig?«

Kommerzienrat Prüfer sagt, als wäre die Frage nicht gestellt worden:
»Im Interesse der öffentlichen Meinung sollte die Sammlung durch die
Zeitung vor sich gehen.«

Bankdirektor Ellgers klopft nervös mit dem Bleistift auf die
Tischplatte.

»Wir sollten uns mit diesen Lappalien nicht aufhalten,« sagt er
ungeduldig, »ich bin für Annahme und zeichne für meine Bank tausend
Mark.«

Sämtliche Herren folgen, bis auf Direktor Gidli, der erst seine
Gesellschaft fragen muß.

Damit ist die Sitzung beendet.

Bankdirektor Ellgers verabschiedet sich sofort. Friemann begleitet ihn
zur Tür. Auch Generaldirektor Jäckel, der noch den Zug für eine andere
Sitzung erreichen will, ist in Eile. Er hat sich an den Debatten nicht
mit einem einzigen Wort beteiligt, behauptet aber, einen Mordsdurst
bekommen zu haben.

»Wir sehen Sie doch am nächsten Donnerstag?« fragt ihn der
Kommerzienrat unter Händedrücken. Auch +Dr.+ Immermann wird noch
einmal erinnert.

»Wissen Sie,« sagt der Kommerzienrat, während er sich im Hinausgehen
in Immermanns kraftlosen Arm hängt, »meine Frau kann ohne die kleinen
Gesellschaften im Hause nicht mehr leben. Sie behauptet, sie bekäme
sonst keine Menschen zu sehen. Wir vom Alltag zählen nicht zu den
Menschen.«

»Ja, die Frauen sind verwöhnt«, sagt +Dr.+ Immermann mit seiner
dünnen Stimme.

Auch am anderen Ende des Konferenztisches beginnen die Herren sich zu
regen. Direktor Haarland richtet sich aus seiner bequemen Lage auf und
reckt den breiten Oberkörper, die Hände in den Hosentaschen.

»Ja, wissen Sie,« ruft er zu Direktor Othwig hinüber, der mit
Kommerzialrat Mödl vom Boxsport spricht, »in England ist das doch etwas
anderes. Da spielt der Amateur eine viel wichtigere Rolle, und ein
Berufsboxer wird zu den vornehmsten Herrengesellschaften geladen. Hier
aber bringt man ihn mit seinen Damen zusammen.«

Er zieht seine Amateurboxerfäuste aus der Tasche und verabschiedet sich
von einigen Herren.

»Sagen Sie mir nur,« fragt ihn Direktor Gidli, »wie halten Sie sich so
in Form? Sind Sie für Massage?«

»Dampfbäder«, sagt Haarland lächelnd. »Dampfbäder! Zweimal in der
Woche!«

»Ja, sehen Sie, das kann ich doch wieder mit meinem Herzen nicht.«

»Da bleibt nichts als Hunger«, meint der Kommerzialrat mit dröhnendem
Gelächter.

»Also neulich haben wir ein paar hohe Herren mit ihren Damen laden
müssen,« sagt Direktor Koch zu einer anderen Gruppe, »aber meine Frau
hat acht Tage nicht schlafen können. Sie behauptet, die steifen Damen
hätten ihren eleganten Gästen moralische Ohrfeigen erteilt.«

»Aber die Damen von heute,« sagt Kommerzienrat Prüfer achselzuckend,
»manchmal weiß man wirklich nicht, ob sie zur Gesellschaft --«

Direktor Haarland stößt ihn sanft ins Kreuz, weil Herr Kohan
hinzukommt, der sich wegen seiner modernen jungen Frau immer Angriffen
ausgesetzt fühlt.

»-- der Herren oder der Damen gehören. Die heutige Vermännlichung --«

Kommerzialrat Mödl zieht ihn mit lautem Gelächter fort. »Also, da habe
ich neulich einen Fall erlebt --« und sie verschwinden schmunzelnd auf
dem Korridor.

Haarland verabschiedet sich von Joachim Becker.

»Man muß nur den Nacken steif halten«, sagt er, als habe er es nötig,
aufmunternd zu sprechen. »Ich habe es mit Boxen erreicht.«

Dabei zeigt er seine Fäuste und die gesunden weißen Zähne im braunen
Gesicht.

Joachim Becker geht in sein Arbeitszimmer.

Die Stimmen der Aufsichtsratsmitglieder verlieren sich vor seiner Tür.
Es ist später Nachmittag, die Dämmerung legt sich ganz plötzlich über
den großen Raum.

Einen Augenblick sitzt er ausruhend in seinem Sessel, dann dreht er das
Licht an und klingelt seiner Sekretärin.

Mechanisch beginnt er, von dem großen Stoß der Papiere auf seinem
Tische das Wichtigste herunterzunehmen und zu diktieren.

Gegen seine Gewohnheit hebt er plötzlich den Blick. Er sieht, über
die Finger der Schreibenden, in das schmale erschlaffte Gesicht der
Sekretärin.

Es kommt ihm auf einmal mahnend zum Bewußtsein, daß dieses langsam
welkende Wesen ihm gegenüber in den letzten Monaten täglich bis in
die späten Abendstunden zu seiner Verfügung stand -- daß sie auch
ein Anrecht auf das Leben habe. Er selbst hat, seitdem er von seinem
Projekt besessen ist, nur Arbeit gekannt und rücksichtslos Arbeit
gefordert. Nun empfindet er dumpf, daß es für andere Menschen noch
irgendwelche Freuden geben mag, die nicht in diesem Hause zu finden
sind.

Er bricht das Diktat plötzlich ab.

»Wir wollen für heute Schluß machen. Gehen Sie auch nach Haus.«

»Ich habe noch das Protokoll --«

»Lassen Sie Protokolle und Briefe. Schließen Sie alles ab, und denken
Sie nicht daran.«

Sie sieht überrascht auf. »Dann: guten Abend«, sagt sie leise lächelnd.

Wie sie zur Tür geht, mit leichten Schritten, während das Kleid um ihre
Beine schwingt, sieht er in ihr zum erstenmal nicht nur die fleißige
Mitarbeiterin. Und er hat ein eigenes Gefühl dabei.

Sie ist auch eine Frau, sagt er sich, als er ihren Duft noch leise
verspürt. Es gibt also noch lebendige Wesen, die ihren Körper wie eine
Kostbarkeit auf zierlichen Füßen tragen, die mit weichen Händen nach
den Dingen greifen und sanfte Worte sprechen --

Adelheid fällt ihm nicht nur ein, sie ist ihm greifbar nahe. Ihre
ängstlichen runden Augen sehen ihn an. Er springt auf, ungeduldig,
freudig, und beschließt, auszugleichen -- zu verschenken, was so
dankbar hingenommen wird.

Der Kommerzienrat kommt herein, um sich zu verabschieden und Grüße für
Adelheid aufzutragen.

»Hat die Katastrophe sie auch nicht zu sehr aufgeregt? Du weißt, bei
jungen Frauen in diesem Zustand -- Ist der Arzt heute dagewesen?«

Sein Schwiegersohn kann diese Fragen nicht beantworten. Er hat bisher
keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen. Aber nun will er alles
nachholen.

Lag nicht immer schon etwas mütterlich Schweres und Sanftes in
Adelheids Wesen? Er hat das Verlangen, den Kopf an ihre Knie zu
schmiegen und sich trösten zu lassen wie von einer Mutter. ›Das Kind im
Manne?‹ fragt er sich in leisem Selbstspott. Vor wenigen Stunden noch
wäre ihm die Situation lächerlich erschienen.

Er schickt Herrn Gregor nach Hause und fragt ihn, ob er ins Theater
gehen wolle. Hier seien zwei Eintrittskarten. Gesellschaft würde er
wohl finden? Nein, deswegen würde Herr Gregor nicht in Verlegenheit
kommen. Er dankt mit indiskretem Lächeln.

Joachim Becker hatte sich zum erstenmal seit Wochen dazu entschlossen,
heute mit Adelheid in die Oper zu gehen. Aber nun will er sie nicht
unter fremde Menschen führen.

Er hatte noch nie Zeit, sich für Kunst zu interessieren, er versteht
nichts davon. Wenn er sich ablenken wollte, sah er sich ein Lustspiel
oder eine Operette an, aber er verspürte stets einen schalen Geschmack
danach, es reute ihn der Zeitverlust. Nun will er Adelheid die Freude
bereiten, mit ihr allein zu Haus zu bleiben, einen ganzen Abend nur ihr
zu widmen; gut und milde zu sein.

Er hatte noch niemals daran gedacht, seiner Frau ohne äußeren Anlaß
Blumen oder andere Aufmerksamkeiten mitzubringen, auch heute hält er
sich nicht damit auf. Aber er kommt mit einem vollen Herzen. Und das
scheint ihm so ungeheuer viel, daß der Gedanke an materielle Geschenke
ihm absonderlich vorgekommen wäre.

Während er im Wagen seinem Hause entgegenrollt, dünkt ihn die familiäre
Sorgfalt und Rücksichtnahme des Kommerzienrats längst nicht mehr
lächerlich wie sonst. Auch er freut sich auf sein Familienleben.

Adelheid erwartet ihn bereits im fertigen Staat für den Theaterbesuch.
Ihre Mutter sitzt in ihrem Zimmer und erzählt vom letzten Opernabend.

»Selbst Frau Bankdirektor Ellgers war da, die doch aus hygienischen
Gründen nur selten ihr bazillenfreies Haus verläßt«, sagt sie, als ihr
Schwiegersohn eintritt.

»Ich freue mich so sehr, daß ihr endlich einmal miteinander ausgeht«,
ruft sie nach der Begrüßung aus. »Adelheid hat sonst so gar nichts
von ihrem Leben. Und bald wird sie sich nicht mehr öffentlich zeigen
wollen.«

»Ja«, sagt Joachim Becker beklommen bei dem Gedanken an die
verschenkten Theaterkarten. »Ich hatte aber gerade heute den Vorschlag
machen wollen, zu Haus zu bleiben. Wir beide ganz allein, Adelheid und
ich. Die Sitzung hat mich sehr angestrengt, und ich bin so lange nicht
mit Adelheid allein gewesen.«

»Ich wollte euch ohnehin bald verlassen, denn Papa wird wohl jetzt auch
zu Hause sein. Aber meine Ansicht ist, daß Adelheid die Ablenkung gut
tun würde«, sagt die Kommerzienrätin mit abgewandtem Gesicht. Sie sucht
ihren Mantel und rüstet sich, um dieses Haus rasch zu verlassen, in dem
ihr so deutlich gesagt wird, daß man allein sein will.

»Was meinst du, Adelheid?« fragt Joachim Becker leise, indem er seine
Hand auf ihre Schulter legt.

Sie blickt hilflos auf, und weil die Mutter ihr den Rücken wendet und
sie ihr Gesicht nicht sieht, wird sie ängstlich. Sie erhebt sich, so
daß die Hand ihres Mannes herabfällt, und geht zu ihrer Mutter hinüber.

»Nein, Mutter,« sagt sie, »so darfst du nicht weggehen.« Die
Kommerzienrätin schließt den Arm um ihre Tochter, und beide Frauen
gehen wortlos hinaus.

Da fühlt Joachim Becker, wieviel Leid er hier schon unbewußt veranlaßt
hat, und daß keine Brücke hinüberführt. Heute nicht -- vielleicht in
der Zukunft?

Er geht in sein Zimmer hinüber und denkt lange, verworren über
seine Handlungen nach, er, der immer so klar und folgerichtig,
so gut organisiert zu denken vermochte. Er glaubt, hier und da in
schwachen Umrissen Fehler zu erkennen. Seine große Sicherheit, seine
Zielbewußtheit fällt von ihm ab, er ist trostbedürftig wie ein Kind.

Und fühlt zum erstenmal in seinem Leben die große quälende Einsamkeit
...




                              Die Mutter


Irmgard Pohl geht vor das Haus. Die Luft in den Zimmern ist stickig.
Ohne Abkühlung selbst in der Nacht. Dazu der Geruch von Medizin und
Krankheit, der in alle Zimmer dringt, seitdem Frau Pohl in die unteren
Räume übergesiedelt ist.

Jetzt, gegen Abend, weht ein Luftzug vom Wasser herüber. Die Mühle und
die Speicher wirken noch bestaubter als sonst, und auch die Pflanzen im
kleinen Vorgarten des Wohnhauses werden trocken und stumpf.

Die Geräusche vom Hafen sind nun ferner gerückt. Einige Arbeiter
werkeln am zerstörten Getreidespeicher, dessen verstümmelter Bau wieder
abgetragen werden muß. Die neue Arbeit aber wird am südlicher gelegenen
Mittelbecken geleistet. Die wimmelnden Massen der Arbeitenden, die
kleinen Kippwagen und die Arbeitsautos wirken von der Mühle aus
spielerisch klein. Silhouettenhaft gezeichnet sieht Irmgard die
Vorgänge durch die verdickte, vom letzten Sonnenleuchten glitzernde
Luft.

Sie setzt sich auf die Bank vor dem Haus, müde und des vielen Lärmens
überdrüssig. Auch an der Mühle wird nun gebaut. Herr Pohl läßt den
Speicher aufstocken und einen Flügel am Müllereigebäude anbauen. Die
Arbeiter sind gegangen, doch die Steine und Bottiche stehen umher,
die Gerüstbalken liegen vor dem Speicher und zerstören den ruhigen
Eindruck, der auf diesem Gelände bisher bewahrt geblieben war.

Es ist kaum vorstellbar, daß noch vor einem Jahr die Vögel in Scharen
auf den Feldern drüben niedergingen und sich holten, was von der Ernte
zurückgeblieben war. Daß die alten Linden ihren weichen Duft mit den
warmen Südwinden über den Kanal hinweg zur Mühle sandten. Daß Kinder
auf den Wiesen spielten, und daß zwischen ihnen ein paar weiße Ziegen
mit gesenkten Köpfen dahintrotteten. Dort, wo jetzt die tiefen Gruben
sind und neue Speicher aus der Erde wachsen.

Wenn man des Abends vor das Haus trat und über den Kanal hinwegblickte,
war eine ebene Fläche, soweit das Auge reichte. Nur zur Linken
dunkelten die breiten Wipfel der Linden und verdeckten das
Fräuleinstift, dessen Pensionäre man niemals zu Gesicht bekam. Die Rufe
heller Kinderstimmen wehten zuweilen herüber, und dann konnte man ganz
gedämpft irgendwelche dunklen, schweren Kirchenglocken aus dem Innern
der Stadt vernehmen. So still war es in diesem Winkel, wo nun der neue
Hafen entsteht.

Aber hatte Irmgard sich damals dieser Stille vollkommen bewußt gefreut?

Sie bückt sich und fegt mit der Hand über das blaue Blumenbeet,
aus dessen dichten kleinen Blüten dabei ein heller Hauch von Staub
auffliegt. Sie sucht immer eine Beschäftigung, wenn peinliche Gedanken
sie bedrängen, trotzdem sie längst weiß, daß sie sich zu anderer Zeit
doch wieder melden und auf die Dauer nicht abzuwenden sind.

Nein, sie hatte die Ruhe als einen hinterwäldlerischen Zustand
hingenommen und mit Joachim Becker von dem großen Hafen geträumt.

Einige Rosen am hohen Stock in der Mitte des runden Beetes hängen
welk herab. Irmgard nimmt einen der sammetweichen kühlen Köpfe sachte
mit der Handfläche auf. Sie kann nicht übersehen, daß der Rosenstock
an einen runden Stab gebunden ist, einen grünen Stab mit weißer
Spitze, den Joachim Becker im vorigen Jahr mit seinem Taschenmesser
zurechtschnitt und in knabenhaftem Eifer farbig überpinselte.

Sie zieht die Hand von der Rose fort. Schwer sinkt sie vornüber, und
dann segeln die hellen Blätter nach allen Seiten in die blauen Blumen
hinein.

Irmgard wendet sich brüsk ab. Vor der Tür stockt sie einen Augenblick.
Sie will das Haus meiden, um von der Mutter nicht gehört und gerufen zu
werden. Mit kleinen Schritten schleppt sie sich um das Gebäude herum
und geht durch den Gemüsegarten zum Mittelweg.

Hier und im Hof sind noch Kalkspritzer von den Ausbesserungsarbeiten
am Hintereingang zu sehen. Michael Pohl hatte alles sofort auf
eigene Kosten wiederherstellen lassen und sich auch wegen der
zersprungenen Fensterscheiben nicht mit Ersatzansprüchen gemeldet.
Eines Tages war jedoch Rechtsanwalt Bernhard erschienen und hatte um
die Rechnungen gebeten, da die Hafengesellschaft selbstverständlich
alles ersetzen werde. Er konnte es sich nicht nehmen lassen, persönlich
vorzusprechen, weil er immer noch auf einen gütlichen Ausgleich in der
Prozeßangelegenheit hoffte. Michael Pohl sprach mit keinem Wort davon.

Das Mädchen in der Küche hört die Schritte auf dem Kies. Sie setzt
einen Teller klappernd nieder und steckt den Kopf aus dem Fenster.

»Sie schlafen beide«, flüstert sie. Sie gönnt Irmgard die kurze
Ruhepause.

Irmgard nickt ihr zu und geht durch die kleine Pforte zu den Wiesen
hinaus, die sich bis zum Verbindungskanal erstrecken. Dort, in der Nähe
des Wassers, setzt sie sich, mit dem Rücken gegen das Hafengelände, auf
den Rasen, den sie kühl und frisch auf der Handfläche fühlt.

Sie kann hier noch vom Mädchen gesehen und im Notfall gerufen werden,
wenn einer von den »beiden« erwachen und sie brauchen sollte. Diese
beiden, die jetzt ihr ganzes Leben ausfüllen sollten: die Mutter und
das Kind.

Der Knabe ist gesund und gedeiht, obgleich er mit der Flasche
großgezogen werden muß, und die Mutter erholt sich mit fast
beängstigender Eile. Sie kann es nicht erwarten, wieder überall selbst
zur Stelle zu sein und die Zügel fester in die Hand zu nehmen.

Ihre abgezehrten Glieder werden elektrisiert und massiert, und wenn sie
nicht zuweilen bei heimlichen Versuchen erfahren hätte, daß Energie
und Unrast allein ihr die alte Kraft nicht wiedergeben, so würde sie
wohl noch heftiger über all diese »teuren und überflüssigen Prozeduren
an einem alten Weibe« schelten. So aber begnügt sie sich mit einem
gutmütig-ungeduldigen Protest, soweit es sich um ihre eigene Person
handelt.

Streng jedoch und ohne Duldung jeglichen Widerspruchs ist sie wieder in
ihrem Kommando über den Haushalt und die Wartung des Sohns.

Irmgard hat es sich in den langen einsamen Monaten vor der Geburt des
Knaben angewöhnt, oft mit den Händen im Schoß untätig dazusitzen und in
sich hineinzulauschen. Erst waren es die Erinnerungen, von denen sie
willenlos aus der traurigen Gegenwart fortgetragen wurde. Dann spürte
sie das mählich pochende Leben, und sie malte sich die Zukunft als
Mutter dieses neuen Menschen aus.

Schließlich mußte sie es ertragen, daß sie ihren Vater und sich
selbst vor seinen Leuten und vor den wenigen Menschen, mit denen sie
gelegentlich zusammenkamen, dadurch in Unehre bringen würde. Sie hatte
nie viel von der Meinung derjenigen gehalten, die nach den allgemeinen
Gesetzen urteilen. Und nun begann sie, in ihrer Mutterschaft eine große
und mutige Mission zu sehen. Erst als sie so weit in ihren inneren
Kämpfen gekommen war, beschloß sie, sich dem Vater zu offenbaren.

Sie kannte ihn von jeher als einen Eigenbrötler, der sich auch nicht
viel um die herkömmlichen Ansichten kümmerte, aber sie wußte, wie tief
er durch den Abfall Joachim Beckers verletzt wurde. Trotzdem hatte sie
diese Aussprache als eine Befreiung von der Bitternis und dem stummen
Nebeneinander mit dem Vater erhofft.

Sie vergaß, daß sie selbst sich nach quälendsten Wirrnissen zu der
neuen Anschauung durchringen mußte, und daß sie den Vater vor eine ganz
unerwartete Tatsache stellte. Und vollkommen hatte sie, in ihre Liebe
zu Joachim Becker verstrickt, übersehen, welchen großen Vertrauensbruch
der Vater nun auch auf ihrer Seite darin erblicken mußte.

Wie sie nun, bleich und schon ein wenig entstellt, dem Vater am Tisch
gegenübersaß und fast ohne Stocken davon zu sprechen begann, war ihr
allmählich, über der fürchterlichen Veränderung in seinem Gesicht, die
ganze Tragweite zum Bewußtsein gekommen.

Sie konnte plötzlich alle zurechtgelegten großen und kühnen Worte nicht
finden, ihre Mundhöhle zog sich bitter zusammen, und die Magenkrämpfe,
an denen sie in letzter Zeit so viel gelitten hatte, setzten wieder
ein. So saß sie vor ihm, stumm, mit schmerzverzerrten Zügen. Ihre Hände
tasteten krampfhaft über die Decke. Da verschwammen die Umrisse seines
Kopfes vor ihren Augen. Sie ahnte nur seinen erstarrten Blick.

Erst war es, als ob er ihr Gesicht damit gläsern machte, sie spürte
kein Leben mehr darin, und dann fühlte sie ihn auf den Händen. Sie
hielt sie plötzlich ganz still, aber sein Blick lag immer noch darauf.
Und da schämte sie sich unwillkürlich ihrer Hände, die gelb und mager
geworden waren. Sie zog sie vom Tisch herab und wußte keinen Grund
dafür. Sie hörte eine Tür fallen und war allein im Raum ...

Später hatte er ihr den Arzt geschickt, der über ihren Zustand
unterrichtet war. Er untersuchte sie und verschrieb ihr
Stärkungsmittel. Aber der Vater und sie haben bis zu ihrer Niederkunft
niemals »davon« gesprochen. Noch jetzt muß Irmgard die Augen schließen,
wenn sie daran denkt, wie sie sich schämte, wenn der Blick des Vaters
unversehens auf ihre veränderte Gestalt fiel.

Die erste stumme Annäherung glaubte sie zu fühlen, als sie ihm nach der
Katastrophe im Hafengelände entgegenging und sagte, welchen Namen man
dem Knaben geben müsse. Da hatte sie noch nicht gewußt, was sie damit
unternahm. Die große Erregung an jenem Tag und die Freude über die
Erlösung der Mutter veranlaßten sie ohne Überlegung zum Verzicht ihrer
Rechte.

Als es dem Vater nicht mehr entgehen konnte, wie schwer es ihr fiel,
den Knaben als unbestrittenen Besitz der Mutter zu betrachten und ihr
in allen kategorischen Weisungen willenlos zu folgen, hatte er endlich
offen mit ihr darüber geredet. In seiner knappen und schweren Art
begann er zunächst mit großen Pausen und dann ohne falsche Scheu über
alles zu sprechen, was seit Joachim Beckers Zeit zwischen ihnen lag. So
lange hatte er gebraucht, um es zu verarbeiten.

Zum Schluß nahm er sie in seine Arme und sprach beruhigend auf sie ein.
Er sagte im Grunde nicht mehr als der Arzt, Schwester Emmi und gewiß
manche anderen, die ein Urteil darüber hatten: daß es so am besten für
sie alle sei, und daß ihr der Knabe innerlich nicht weniger gehöre,
wenn sie ihn nach außen als Bruder anerkennen müsse.

Aber sie empfand den Druck seiner breiten warmen Hand auf ihrer
Schulter, sie durfte ihren Kopf wieder an seine Wange lehnen, und dann
hatte er wie in den Kindertagen mit seinem großen weißen Taschentuch
die Tränen von ihrem zuckenden Gesicht gewischt. --

Die kleinen stehenden Wolken verlieren allmählich ihr rotes Leuchten,
das vom Westen her über den Himmel gezogen ist. Irmgard gibt sich noch
eine kurze Frist, indem sie das Schwinden des gelben Scheins hinter
einer dunklen Wolkengruppe abwartet, dann steht sie auf, um zu ihren
»beiden« zu gehen.

Das Mädchen flüstert ihr an der Küchentür zu: »Sie ist schon lange
wach. Ich habe ihr gesagt, daß Sie Besorgungen machen.«

Irmgard will etwas erwidern, aber sie sieht schließlich selbst ein,
daß man der Mutter keine anderen Erklärungen geben kann, denn sie
wird niemals die Menschen verstehen, denen zuweilen die Hände im Schoß
liegen bleiben.

Sie hört ihre Stimme im Schlafzimmer und weiß, daß sie sich das
Kind ins Bett reichen ließ. Und wieder verliert sich ihre brennende
Sehnsucht nach dem Knaben, weil sie ihn in den Händen der Mutter weiß.
Nur in den wenigen Minuten, da sie unbeobachtet ganz allein mit ihm
sein kann, wird er zu ihrem Besitz.

Entschlossen würgt sie alle Bitterkeit hinab und geht mit
beschleunigten, festeren Schritten ins Zimmer, als ein Mensch, der
unter Zwang eine schlechte Rolle spielt.

Hier wartet so viel Arbeit auf sie, daß sie sich schnell wieder
zurechtfindet. Schwester Emmi hatte die Hafengesellschaft nicht auf
ihre Dienste warten lassen, und nun fehlt sie ihr sowohl bei der Arbeit
wie mit ihrem heiteren Wesen.

»Meine Zukunft«, sagte sie immer, wenn sie von ihrem neuen Posten
sprach. Sie war klug genug, Joachim Becker nicht zu verraten, daß ihre
jüngste Vergangenheit bei Irmgard Pohl und seinem Sohne war. Irmgard
hatte sie aber außerdem gebeten, über diese Tätigkeit zu schweigen.

»Denn vielleicht weiß er gar nichts davon«, fügte sie mit einem Blick
auf den kleinen Michael errötend hinzu.

Frau Pohl war es recht, daß die kleine blonde Schwester bald das Haus
verließ, denn erstens hält sie eine Pflegerin für überflüssig, wenn
eine erwachsene Tochter im Hause weilt, und zweitens kann sie keine
Sympathien für Schwester Emmi gewinnen. Sie ist mit ihrer stillen und
zielbewußten Tochter zufriedener, vermeidet es aber streng, sich davon
etwas anmerken zu lassen.

Irmgard kann ihr eine gute Nachricht bringen: die Masseuse ist am
Nachmittag dagewesen, um zu sagen, daß der Arzt für den nächsten Morgen
die ersten Gehversuche erlaubt habe.

Während die Mutter in ihrer Freude weinend und lachend das Kind an
ihr hageres Gesicht preßt und in sein erschrecktes Schreien mit
überschwenglichen Koseworten hineinredet, wird sie wieder die hilflose
und schwergeprüfte Kranke, der Irmgard sich von neuem verbunden fühlt.
--

Als sich Frau Pohl -- mehrere Wochen später -- schon an Stöcken in der
Wohnung bewegen kann, öffnet sie eines Abends die Tür zum Zimmer ihrer
Tochter, um ihr einen Auftrag zu geben. Sie glaubt erst, daß sie nicht
im halbdämmrigen Raume sei. Doch da richtet sich Irmgard erschreckt vom
zerwühlten Bett auf und starrt ihr blaß und verweint entgegen.

Es ist, als käme Frau Pohl in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß es
noch etwas anderes als ihre Krankheit und die Pflege des Knaben in der
Welt gibt. Sie läßt sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Einer ihrer
Stöcke fällt polternd zur Erde.

Unwillkürlich erwartet sie, daß er ihr von der Tochter heraufgereicht
wird. Irmgard ist aber vorher hinausgerannt und hat das Haus verlassen.
Ohne Überlegung ergriff sie im Korridor Mantel und Hut. Sie eilt durch
den Vorgarten, über den Mühlenplatz und die Föhrbrücke zu den belebten
Straßen.

Die Menschen gleiten wie Schatten an ihr vorbei. Sie erkennt ihre
Umrisse kaum. Aber sie schämt sich vor ihnen.

Sie verachtet sich selbst, ihre Schwäche und innere Zerrissenheit. Aber
sie geht, wie oft in den letzten Tagen, den gleichen Weg. Den falschen
Weg zu Joachim Becker, anstatt von ihm fortzustreben.

Der herbstliche, feuchte Wind kühlt ihre brennenden Augen. Die ersten
Nebel verdicken am Abend die Luft, die grau und schwer um die Häuser
schleicht.

Irmgard steigt in eine Straßenbahn und fährt in die Vorstadt, zu
Joachim Beckers Haus. Wie vieles andere über ihren Chef, so hat
Schwester Emmi ihr auch seine Wohnung verraten. Und Irmgard Pohl, die
in ihrer Zurückhaltung alle kleinlichen Berichte über die Nebenmenschen
bisher von sich fernhielt, verstrickte sich immer tiefer. Sie
verschlang jeden Klatsch über den Hafendirektor, der von Herrn Gregor
über Frau Reiche zu Schwester Emmi gelangte.

Und dann begann sie mit diesen abendlichen Fahrten.

Sie steigt an der Endstation der Bahn aus und geht durch die
dunklen, breiten Straßen des Villenviertels. Es ist zur Zeit des
Geschäftsschlusses. Die Stille wird in kurzen Abständen von den
lichtschießenden Autos zerschnitten, durch deren Luftdruck das verwehte
braune Laub nach den Seiten flieht wie Hühner auf der Dorfstraße.
Modriger Geruch steigt zuweilen aus den Gärten auf.

Irmgard lehnt gegen rauhes Eisengitter und blickt zu dem Grundstück
hinüber: ein niedriges Landhaus ist tief in den Garten hineingebaut und
wird von alten Bäumen fast verdeckt.

Sie wartet auf den Wagen. Joachim Becker wird aussteigen. Sie darf,
im Dunkel verborgen, die Umrisse seiner Gestalt, seine flinken,
elastischen Bewegungen erkennen und dann -- unglücklicher als zuvor --
in die Trostlosigkeit ihres zerstörten Lebens zurückkehren.

Sie unternahm diesen erniedrigenden Weg zum erstenmal, als sie sich
endlich entschlossen hatte, ihren Sohn nicht mehr zu lieben, sondern
als Eigentum der Mutter zu betrachten. Frau Pohl sollte nicht mehr
darüber schelten, daß sie die Pflege des Knaben der häuslichen Arbeit
vorzog, sie sollte ihr nicht mehr mit eifersüchtigen Blicken folgen,
wenn sie das Kind in den Armen hielt.

Aber als die Arbeit sie gegen Abend entließ, überfielen sie die alten
Erinnerungen noch drängender, lebendiger. In Gedanken ging sie ihm
entgegen, stand wie heute vor seinem Haus, um ihm körperlich näher zu
sein.

Der herbstliche Sturm, der ihr den Hut fast von den Haaren zieht,
erinnert sie wieder an ihre Spaziergänge mit Joachim Becker. Sie waren
damals barhäuptig am Abend bis zum alten Kanal gelaufen. Über die
feuchten Wiesen, am Wasser entlang, das an die Kaimauern klatschend
schwankte. Ganz oben, am Verbindungskanal, standen noch Bäume, die sich
im Sturm bogen und rauschten wie Meereswellen.

In dieses Brausen und Feilen des Windes waren sie übermütig
hineingestapft. Sie lachten, riefen. Sie freuten sich, daß ihre Stimmen
ohne Kraft schienen, sosehr sie sich auch bemühten. Sie wateten mit
schleudernden Bewegungen im dickgeschichteten raschelnden Laub und
suchten herabgefallene Kastanien. Sie freuten sich an der glatten
sattbraunen Frucht im weißen Bett ihrer grüngehäuteten Hülle.

Er warf die Kastanien in hohem Bogen zum Wasser hinüber. Sie stand
mit mütterlich mildem Lächeln daneben und freute sich seiner
weitausholenden, federnden Schwungkraft.

Einmal hatte sie gesagt: »Es ist unbeschreiblich schön, dich nur in
meiner Nähe so gelöst und knabenhaft zu wissen. Wenn ich mir deine
strenge und energische Haltung im Bureau oder vor den Arbeitern
vorstelle, dann bin ich sehr stolz darüber, daß ich dich so verwandeln
kann.«

»Aber ich habe es doch nicht verstanden,« sagt sie sich nun, »denn
sonst hätte er mich nicht verlassen können. Oder er müßte leiden wie
ich.« Da sie jetzt nichts mehr mit ihm gemeinsam hat, möchte sie durch
Qual und Einsamkeit mit ihm verbunden sein.

Sie beginnt zu frösteln. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Während des
Wartens verliert sie vollkommen das Bewußtsein davon, wie gedemütigt
und erbärmlich sie hier steht. Wenn sie ihn gesehen hatte, zuweilen
nur seinen Schatten -- einmal trug der Wind den Klang seiner Stimme
herüber --, hatte sie sich leer und erniedrigt gefühlt.

Ein schaler Geschmack bleibt von der erregenden Sehnsucht zurück. Sie
will umkehren, weil die Automobile immer wieder vorbeifahren, weil sie
keine Hoffnung mehr hat, ihn zu sehen. Und bleibt doch, bis endlich
das Verhalten eines Motors als vertrautes Geräusch herüberdringt. Sie
kann in schräger Linie hinüberblicken und verfolgen, wie Joachim Becker
aussteigt.

Er trägt einen Koffer in der Hand -- der Chauffeur holt einen größeren
und schweren von seinem Sitz herab -- und dann beugt Joachim Becker
sich noch einmal zum Wagenschlag, und seine Frau steigt aus.

Sie geht langsam, schwerfällig. Ihre kleine Gestalt ist ungefüge, und
er stützt sie mit der Behutsamkeit, die man an Kranke und Gebrechliche
wendet.

Irmgard Pohl schließt die Augen und lehnt sich fast taumelnd gegen das
Gitter. Ihre Nerven sind so überreizt, daß sie lautlos mit verzerrtem
Gesicht vor sich hinlacht. Ja, wie konnte sie so vernarrt sein und noch
eine innere Gemeinschaft mit ihm suchen, der nun mit einer anderen Frau
glücklich ist. Mit dieser Frau, die ihm Kinder schenken wird, die seine
und ihre Züge tragen. Er wird diese Kinder lieben, in denen er sich
selbst wiederfindet, und er wird eine Episode vergessen, die auf dem
Wege zu seinem Aufstieg lag.

Ist sie endlich aus ihrer Verwirrung erwacht? Sie entfernt sich rasch
von dieser Straße, mit dem Bewußtsein, sie nie wieder zu betreten.

Sie legt den weiten Weg zu Fuß zurück und kommt müde, zerschlagen zu
Haus an. Ihre Augen brennen in den Höhlen und sind wie leer. Sie geht
sofort in ihr Zimmer. Und zum erstenmal seit Monaten fällt sie in einen
tiefen traumlosen Schlaf. --

Frau Pohl liegt wach in den Kissen und lauscht. Sie ist wieder in ihrem
alten Eheschlafzimmer gebettet und legt sich schon am frühen Abend
nieder, weil die ungewohnte Bewegung sie noch allzusehr ermüdet. Aber
erst, wenn ihr Mann neben ihr liegt, wird sie ruhig und kann schlafen.

Nun lauscht sie seinen gleichmäßigen Atemzügen, sie glaubt, selbst
den zarten Hauch aus dem Kinderbett zu vernehmen, und sie könnte
einschlafen, weil ihr Haus wohlbestellt ist, denn auch Irmgards
Heimkehr war ihr nicht entgangen.

Aber da ist etwas, das sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie hat nach der
stummen Begegnung mit ihrer Tochter angefangen, in ihrem Gedächtnis zu
suchen.

Man hat ihr gesagt, daß sie lange krank war und daß Lücken in ihre
Erinnerung gerissen sind. Sie kann ausrechnen, daß ihre Krankheit nur
wenige Monate währte, denn der Knabe ist nun ein halbes Jahr alt.

Aber ihren verwirrten Gedanken drängen sich Bilder und Geräusche auf,
die unendlich lange zurückliegen, während die jüngste Vergangenheit
spurlos verwischt ist. Immer wieder dröhnen in ihren Ohren die dunklen
Schläge jener Uhr, die ihr Vater zu Hause in unheimlichem Eifer
stimmte, damit sie dem reinen Klang der Kirchenglocken gleichen. Er
hatte sich in den Wahn verstiegen, daß seine Sünden erst dann von
ihm genommen würden, wenn auch der letzte unreine Ton aus der alten
Uhr verschwunden wäre. Sie hört sein halblautes Beten und seine
Selbstgespräche. Sie geht durch die Zimmer der alten Wohnung, sie
spricht mit dem Vater und bittet ihn, endlich aufzuhören, denn keine
Glocke könne heller schlagen als seine Uhr. Und kein Mensch könne das
länger mit anhören.

Sie sieht seine glänzenden Fanatikeraugen so deutlich und irisierend,
als müßte er jetzt in das Zimmer treten und ächzend auf den Stuhl
steigen, um wiederum an der Uhr zu drehen und sie schlagen zu lassen.
Sie selbst aber ist nicht älter als Irmgard und geht zuweilen in ein
dunkles Zimmer, um aus ihrer Einsamkeit heraus zu weinen.

Mächtiger und quälender schlagen die Töne in das Brausen ihrer Ohren.
Das Blut schießt brennend in ihren Kopf, und ihre Glieder erstarren
unter den dicken Federbetten.

Endlich erträgt sie es nicht länger. Sie weckt ihren Mann. Verstört
wacht Michael Pohl auf. Er verdrängt alle Besorgnis aus seinem Blick,
während er sich zu ihr hinüberneigt und sie behutsam fragt.

»Willst du Vaters Uhr forttragen, damit sie mich nicht länger quält?«
bittet sie ihn.

Michael Pohl weiß nicht, welche Antwort er ihr geben soll, denn die Uhr
ist niemals in seinem Hause gewesen.

»Die Uhr ist nicht hier«, sagt er schließlich. »Deine erregten Nerven
täuschen sie dir vor. Du bist noch zu anfällig nach der langen
Krankheit und wirst dich künftig nicht so überanstrengen.«

»Ja, das sind die fixen Ideen, an denen der Vater zugrunde gegangen ist
und die ich dir nun als Erbe ins Haus gebracht habe. Jetzt hat es schon
unsere Tochter angesteckt. Sie sitzt im dunklen Zimmer und weint.«

»Irmgard hat einen ganz gewöhnlichen Liebeskummer wie viele junge
Mädchen. Sie ist gesund und vernünftig und wird es überwinden. Aber
sieh: bei dir ist es anders. Du hast so viel Schweres erlebt, daß es
dich wieder überfallen muß, wenn du krank und schwach bist.«

Sie ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich nach dem
Kummer der Tochter näher zu erkundigen.

»Aber in meiner Erinnerung ist ein Abgrund«, flüstert sie und versucht
sich aufzurichten. Er ist ihr behilflich und stützt sie durch
Kissenberge im Rücken.

»Du kannst nur allmählich zurückfinden.« Er hält ihre Hände fest, die
unter seiner Wärme wieder ruhig werden. »Vor allen Dingen darfst du es
nicht erzwingen wollen, du mußt geduldig warten, bis alles von selbst
wiederkehrt.«

»Ja«, erwidert sie gehorsam. »Nur das eine mußt du mir sagen: der Vater
ist tot?«

»Seit fünfundzwanzig Jahren!« bestätigt er.

»Und daß mein Bruder bei seiner Bank die große Summe unterschlagen hat
und daß du alles bezahltest, das ist kein Traum?«

Michael Pohl überlegt einen Augenblick und sagt schließlich lachend:

»Was sind das für alte Sachen! Auch das ist fünfundzwanzig Jahre her.«

»Siehst du, das habe ich gewußt. Das ist kein Traum gewesen. Ich habe
so viel Unglück über dich gebracht. Und nun bin ich krank und kann
nicht sparen und arbeiten, um dir alles wieder einzubringen.«

Sie hat ihm damit zum erstenmal nach so viel Jahren eine Erklärung für
ihren Arbeitsfanatismus gegeben, der ihm so oft zur Last geworden war.

Er setzt ihr auseinander, daß sie reich seien, sehr reich. Er zählt ihr
die Werte seiner Mühle und des Grundstücks auf. Ja, sie hätten mehr
Geld, als sie verbrauchen könnten. Und wenn sie wolle, so würde er hier
sofort alles verkaufen und sie in ein herrliches Schloß setzen, wie sie
es sich damals träumte, als sie beide noch jung waren.

»Gott hat mich für meinen Hochmut bitter gestraft«, sagt sie abwehrend.
»Ich bin schuld daran, daß mein Bruder das getan hat. Ich habe ihn zu
sehr geliebt und verwöhnt und mit meinen Plänen vergiftet.«

»Du warst nur wenige Jahre älter als er, und man konnte von dir noch
nicht verlangen, daß du ihn allein erziehst, zumal du auch ohne Mutter
aufgewachsen warst. Er war nicht schlecht und hat seine leichtsinnige
Handlung bereut. Ich bin fest davon überzeugt, daß er drüben ein neues
Leben angefangen hat. Wir haben nur nichts mehr von ihm gehört, weil du
nicht wolltest, daß er uns schreibt.«

»Nein,« sagt sie, »dein Leben sollte nicht noch einmal das eines
Verbrechers kreuzen.«

Er fühlt wieder ihre unbeugsame Strenge und versucht, ihre Gedanken von
diesen Erinnerungen abzulenken.

Allmählich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Er hält ihre Hand fest und
erkennt an dem sachte nachlassenden Druck ihr Versinken in den Schlaf.




                             In Erwartung


Als im nächsten Frühjahr das erste Hafenbecken mit den langgestreckten,
niedrigen Lagerhallen fertiggestellt war und Waren aus aller Herren
Ländern eintrafen, um ausgeladen oder umgeladen zu werden, konnte man
wohl von der eigentlichen Eröffnung des Hafenbetriebs reden. Aber man
machte nicht viel Wesens davon.

Joachim Becker fährt nach wie vor an jedem Morgen in den Hafen und
sieht nach dem Rechten, nicht nur bei den Bauten, sondern auch bei den
neuen Aufgaben des Hafens, bei der positiven Arbeit, auf die er lange
genug gewartet hat.

Er stellt sich neben den Lademeister und sieht ihm schweigend eine
Weile zu, bis der Mann irre wird und einen Fehler begeht; dann hat
der Direktor Gelegenheit, zu zeigen, was er alles sieht und was er
versteht. Ja, man hat Respekt vor ihm, das muß man sagen, man läßt sich
durch seine Gegenwart unsicher machen. Und Joachim Becker findet, daß
so alles in Ordnung ist.

Er geht auch zum Kontoristen in das kleine Bureau der Lagerhalle und
sagt gutgelaunt:

»Na, bald werden Sie es nicht mehr allein schaffen, was? Wenn im
Verwaltungsgebäude die ersten beiden Stockwerke fertig sind, ziehen wir
dort ein. Dann können sie an den weiteren Etagen über unseren Köpfen
fortbauen.«

»Ach,« meint der Beamte ehrfürchtig, »zieht dann die Direktion hier
ein?«

»Die Direktion?« Joachim Becker lacht. »Nein, die Direktion bleibt, wo
sie ist. Aber hier werden wir eine Verwaltung einrichten müssen.«

»Ja«, sagt Herr Karcher verständnisvoll, und es liegt ihm fern, zu
denken, daß er dann einen besseren Posten einnehmen könnte. Er hat
zwanzig Jahre die Papiere und Bücher in Lagergeschäften ordnungsgemäß
geführt, und er trägt ein Verzeichnis aller Waren und ihrer
unmöglichsten dialektischen und fremdländischen Bezeichnungen im Kopf.
Er kannte sich immer in seinen Dokumenten aus, und darauf ist er stolz.
Mehr verlangt er von seinem bescheidenen Leben nicht.

Aber nun sieht er manchmal zum Gerüst des Verwaltungsgebäudes hinüber
und denkt mit Bestürzung: es wächst und wächst. Er ist mit dem jetzigen
Zustand so zufrieden und hätte bei Gott keine Veränderung gewünscht.

Wenn er morgens mit seinem Handbuch zum Hafenbecken kommt, um die
Eingänge zu notieren, liegen die Kähne mit den dunklen schweren Leibern
in der Sonne. Kinder und Hunde laufen auf dem Deck umher, und die
Schiffer ziehen ihre Mützen.

»Guten Morgen, Herr Karcher,« sagen sie freundlich und zutraulich und
»Ja, das ist ein Frühlingstag«. Das sagen sie an jedem Frühlingstage.

Und Herr Karcher meint, während er die schmalen Schultern wohlig
hochzieht und die Hände reibt: »Ja, das laß ich mir gefallen,« und »Ist
dort, wo Ihr gestern wart, auch schon der Frühling eingezogen?«

Dann erzählen sie, wie der Frühling zehn oder zwanzig Meilen weiter
aussieht, und Herr Karcher hört andächtig zu, bis er plötzlich seiner
Kladde gedenkt und einzutragen beginnt.

Dort drüben aber wächst das Verwaltungsgebäude mit jedem Tag, und dann
wird die Verwaltung einziehen und ein anderes Regiment führen. Herr
Karcher beginnt unter den Strahlen der Frühlingssonne zu frösteln,
und wenn die Fürsorgeschwester nicht im Hafen wäre, so könnte er der
Melancholie verfallen.

Aber Schwester Emmi kommt in ihrem blaugestreiften Kleid auf zierlichen
Füßen daher wie ein Morgengruß und sagt in ihrer stets prächtigen
Laune:

»Uff! Das hätten wir getan!«

»Guten Morgen«, pflegt Herr Karcher dann erst ermahnend zu sprechen.
»Was hätten wir getan?«

»Guten Morgen«, ruft sie nachträglich, während sie sich auf seine
Tischkante setzt. »Eben so unsere ersten Pflichten: eine Suppe auf
einen Kahn getragen und ein Kind angezogen und -- na so weiter. Einen
Finger habe ich heute noch nicht verbunden.«

»Aber hier ist eine Wunde zu heilen«, sagt Herr Gregor, der nun auch
auf der Bildfläche erscheint. Er hält ihr seine Wange hin, die einen
schmalen Riß sehen läßt.

»Nein, Rasierschnitte unterliegen nicht der Fürsorge«, wendet sie ein,
und dabei gibt sie ihm einen kleinen Klaps auf die Schramme.

»Finden Sie,« fragt sie Herrn Karcher, »daß es schön ist, wenn ein
Mann sein Gesicht pudert? Und wann, glauben Sie wohl, ist dieser
leichtsinnige junge Herr heute nacht heimgekommen?«

»Sind Sie so gut unterrichtet?« fragt Herr Karcher, während Herr Gregor
geschmeichelt an seinen Nägeln putzt.

»Jawohl,« erwidert sie, »denn ich kann es in meinem Zimmer deutlich
hören. Und auch Frau Reiche hat ihn kontrolliert. Er ist nämlich heute
nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Der Morgenwächter hat ihn
erst eingelassen.«

»Aha! Daher die Informationen!« stellt Herr Gregor fest.

»Und dieser Mann ist so naiv, Herrn Gregor für den tüchtigsten Beamten
des Hafens zu halten.«

Herr Gregor räuspert sich respektfordernd.

»Er sagte nämlich: ›Herr Gregor hat heute um fünf Uhr schon den Hafen
inspiziert.‹«

»Dieses Rhinozeros!« entfährt es dem jungen Mann, den man für würdig
hält, so lange Objekt der Unterhaltung zu sein.

Aber da wird Herr Karcher plötzlich ernst und sagt: »Übrigens hat schon
jemand von der Direktion nach Ihnen gefragt.«

»So -- die haben auch nichts Wichtigeres zu tun!«

Schwester Emmi macht ein sehr bestürztes Gesicht.

»Wer hat nach ihm gefragt? War es der Direktor selbst?«

»Nein, der Direktor ist seit gestern verreist. Er ist ins Ausland
gefahren«, sagt Herr Gregor.

»Seine Sekretärin könnte es gewesen sein«, meint Herr Karcher.

»So, diese Pute geht das gar nichts an, wann ich komme.«

»Also eine Frauenstimme. Das ist nur gut«, sagt Schwester Emmi. Ihr
Gesicht hellt sich wieder auf. »Aber jetzt gehen Sie wohl,
Herr Gregor?«

»Wenn ich hier im Hafen mit meinen Arbeiten fertig bin, werde ich
gehen. Diese Herrschaften bilden sich wohl ein, daß ich nur der
Pünktlichkeitskontrolle wegen erst ins Stadtbureau fahre und dann für
die Hafenarbeiten extra wieder herkomme. Diese Bureaukraten --«

Er vollendet den Satz nicht, sondern steht an der Tür, um draußen
weiterzusprechen, in der Erwartung, daß Schwester Emmi ihm folgt. Aber
sie bleibt auf der Tischkante sitzen und blickt ihm bekümmert nach.

»Ich dachte, Sie wollten auch an die Arbeit --« sagt er enttäuscht.
Sein langes Gesicht ist grau und übernächtig.

»Oh, ich habe heute schon mancherlei getan, aber nun muß ich hier wegen
der Unterstützung der kranken Schifferfrau mit der Kasse telephonieren.
Sie soll nämlich in ein Krankenhaus.«

»Ich glaubte, bei Frau Reiche wäre dafür auch ein Telephon.«

»Ach ja, aber jetzt bin ich hier.«

»Na, dann viel Vergnügen!« Herr Gregor schmettert wütend die Tür ins
Schloß und trottet allein am Kai entlang der Hafenwirtschaft zu. Dieser
Schürzenjäger kann keine zehn Schritte mehr ohne weibliche Begleitung
gehn, und er ist unzufrieden mit allem, was Röcke trägt.

Schwester Emmi springt vom Schreibtisch herunter und lauscht angespannt
auf seine Schritte.

»Warum sind Sie denn nicht mitgegangen?« fragt Herr Karcher, während er
sich wieder mit seinen Eintragungen in den Büchern beschäftigt.

»Ach, weil ich nicht wollte.«

Dann schlüpft sie zum Fenster und drückt sich die Nase an den Scheiben
platt, um bis ans Ende des Hafenbeckens und bis zur Kantine zu sehen.

»Und dann«, sagt sie nach einer ganzen Weile, nachdem Herr Gregor
endlich durch das Hauptportal verschwunden ist, »und dann will er immer
noch dieses und jenes erzählen und hält sich auf, und im Bureau warten
sie auf ihn. Meinen Sie wirklich, daß es nur die Sekretärin war? Wollte
sie etwas Bestimmtes von ihm?«

»Es kann auch jemand von der Personalabteilung gewesen sein. Aber das
war sicher nur wegen der üblichen Kontrolle. Vielleicht wollte man auch
hören, ob ich auf meinem Posten sei.«

»Nein, das wollte man sicher nicht. Sind Sie in Ihrem Leben schon
einmal zu spät gekommen, Herr Karcher?«

»Ja, einmal in zwanzig Jahren.«

»Aber da hat sicherlich ein schwerer Grund vorgelegen?«

»Es war an dem Tage, da meine Frau starb.«

»Ach. Und da sind Sie noch ins Bureau gegangen?«

Herr Karcher sieht auf seinen Federhalter und sagt langsam: »Als ich
das Haus verließ, hat sie noch gelebt. Aber ich war sehr unruhig und
kam zurück und ging zur Nachbarin und dachte auf der Straße daran, daß
ich wieder etwas vergessen hatte, und da bin ich fünf Minuten zu spät
gekommen.«

»Fünf Minuten? Ach, da hat sich doch niemand darüber aufgehalten?«

»Doch. Der Vorsteher wurde wütend und brummte: ›Da fängt der auch schon
an.‹ Er war knurrig und mochte mich gar nicht sehen, bis dann die
Nachbarin kam und sagte, daß meine Frau gestorben sei.«

»Da hat er wohl eine Erklärung gehabt?«

»Jedenfalls.«

»Wie lange liegt das zurück, Herr Karcher?«

»Zehn Jahre.«

»Zehn Jahre. Und seitdem sind Sie immer allein? Ach, du lieber Gott, es
ist doch wirklich wahr, da fehlt wieder ein Knopf!«

»Ja, ich habe ihn eingesteckt.«

»Dann geben Sie ihn nur her, man wird sich doch so eines armen
Junggesellen annehmen müssen.« Sie zieht schon einen schwarzen Faden
und eine Nadel aus ihrer Schürzentasche.

»Nein, so etwas! Was sind Sie für ein hilfreiches und praktisches
Menschenkind! Haben Sie das immer so zur Hand?«

»Aber gewiß! Bei meinen Kindern auf den Kähnen und bei den vielen
Leuten hier im Hafen gibt es stets allerhand zu nähen. So, nun ist
der Schaden bald repariert. Und diese kleine Stelle wollen wir auch
gleich etwas zusammenziehen. -- Wissen Sie, das ist das Herrliche an
meiner Arbeit hier, daß ich sie mir suchen darf. Nachdem der Direktor
mich damals engagiert hatte, bin ich zu ihm hingefahren und habe ihn
gefragt, was ich denn nun zu tun hätte. ›Ja,‹ sagte er, ›das weiß
~ich~ doch nicht, das werden ~Sie~ finden müssen. Im Hafen
sind viele Menschen bei der Arbeit, denen etwas passieren kann. Sie
können den Finger quetschen oder krank werden, und wenn einer besonders
schlecht aussieht, dann könnte so eine Frau wie Sie ihn vielleicht
fragen, was ihm fehlt.‹ Das hat er wirklich gesagt. Und dann meinte er
noch: ›Vergessen Sie nicht die Leute auf den Kähnen. Die Schiffer mit
ihren Familien sollen sich bei uns wohlfühlen. Sie müssen sich eben
immer vor Augen halten, daß Sie die Fürsorgestelle sind.‹ Und dabei
betonte er das Wort ›Fürsorge‹ so besonders. Unterwegs, in der Bahn,
mußte ich immerfort darüber nachdenken. Schließlich habe ich mir das
Wort in zwei Teile zerlegt, und da kam ich dahinter. ›Für Sorge‹ soll
ich da sein, für alle Sorgen, um sie zu vertreiben. Und daran will ich
mich eben immer halten.«

»Vielleicht hat das Wort aber die Bedeutung von Vorsorge; also
vorsorgen, vorbeugen gewissermaßen sollen Sie«, meint Herr Karcher,
während er auf ihre flinken Finger sieht.

Sie läßt die Nadel im Stoff stecken und macht ein sehr nachdenkliches
Gesicht.

»Nun haben Sie mir alles umgeworfen, und ich kann wieder von neuem
anfangen, darüber zu grübeln. Sie mögen auch recht haben. Vorbeugen,
sehen Sie, das kann auch in seiner Absicht gewesen sein. Denn wie
der Direktor mich draußen einmal traf, sagte er: ›Die Kinder der
Schiffer laufen hier zwischen den Bauten herum, es könnte ihnen etwas
passieren. Vielleicht haben Sie eine Beschäftigung für sie, Spiele oder
Handarbeiten, damit sie auf einem Platz gesammelt sind.‹ Ja, an was er
alles denkt. Damit also haben wir dem Unglück vorgebeugt.«

Jetzt reißt sie den Faden ab und ist mit ihrer Arbeit fertig.

»War das auch eine dienstliche Verrichtung?« fragt Herr Karcher
lächelnd.

»Da müßte ich erst bei der Direktion anfragen.« Sie lacht schelmisch
und steckt das Nähzeug wieder in die Tasche. »Ja, nun will ich gehn.«
Sie nickt ihm kameradschaftlich zu und verschwindet hinter der Tür.
Das beabsichtigte Telephongespräch wird sie wohl doch bei Frau Reiche
führen.

Herr Karcher ist wieder mit seinen Büchern allein und betrachtet den
festgenähten Knopf. Aber vor dem Fenster sieht er etwas Helles, und das
ist Schwester Emmis blaugestreiftes Kleid. Ihr wasserstoffblondes Haar
hat dunkle Flecken, weil sie es in seiner natürlichen Farbe nachwachsen
läßt. Herr Karcher findet das sehr schön. Plötzlich springt er hoch,
reißt beide Fensterflügel auf, daß die neue Ölfarbe kracht, und ruft
hinaus:

»Ich habe ja den Dank vergessen!«

Dann schlägt er das Fenster wieder zu und hat den Dank durchaus noch
nicht nachgeholt.

Schwester Emmi lacht und wehrt mit großen Armbewegungen ab. Dann geht
sie wieder ihres Weges, und Herr Karcher beugt sich über seine Bücher.

So schön könnte es also auch weiterhin in seinem kleinen Kontor sein,
wenn nicht plötzlich eine neue Nachricht bombenartig hereingeplatzt
wäre.

Wer es zuerst erzählt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, jedenfalls
ist ein jeder mit dem Gerücht beschäftigt, daß ein neuer Hafendirektor
einziehen soll.

Und Joachim Becker? Er ist für die höhere Politik vorgesehen,
als Außenminister des Hafens gewissermaßen. Er übernimmt die
Generaldirektion in der Stadt und hat im Hafen seinen Direktor.
Ja, diese Hafengesellschaft, sie hat erst ~ein~ Becken,
aber ~zwei~ Direktoren, und davon ist der eine sogar ein
Generaldirektor und der andere ein richtiger Kapitän.

»Ein Kap'tein?« fragt Schiffer Martens ungläubig.

»Ja,« sagt Lagerverwalter Scholz, »das habe ich gehört, und aus einem
großen Seehafen soll er kommen.«

»Düwel! Dann ist er auf den Riesenschiffens über den Großen Teich
gefahren. Dat is mien Mann!«

Und er freut sich ordentlich auf seinen großen Kollegen.

Auch der Bodenmeister Ulrich erwartet gern den neuen Mann. Nun würde
doch einer kommen, der seiner würdig wäre, einer, der auch die Welt
gesehen hat und nicht wie dieser hier immer mit der Nase in der Heimat
geblieben ist und dabei doch klugschnacken will. Ja, Ulrich ist ein
weitgereister Mann. Er war für einen großen Spediteur in Saloniki
tätig, und in Rustschuk hat er einen Getreidespeicher mit Elevatoren
und allem modernen Kram bedient. Ach, sogar in Konstantinopel ist er
gewesen, und wenn er von den Harems erzählt, die er in seinem Leben
schon gesehen hat, dann sperren die anderen die Mäuler nur so auf.

Aber daran liegt ihm wenig. Nun würde doch einer kommen, mit dem er
auch ein Wort in einer anderen Sprache reden könnte, denn so ein
Kapitän versteht natürlich alle Sprachen, zum Beispiel Französisch.
Und über das Technische könnte man sich mit ihm richtig fachmännisch
unterhalten, über Schiffsbecherwerke und Saugförderanlagen und Krane,
über die ganze Ausrüstung, die ein moderner Getreidespeicher heutzutage
braucht. Ulrich zweifelt keinen Augenblick daran, daß ein Mann, der in
der Welt herumgekommen ist, davon etwas versteht.

Er sieht im Geiste den halbfertigen Getreidespeicher in seiner
vollkommenen Größe und mit allen maschinellen Anlagen ausgestattet.
Dann ist seine Zeit angebrochen, denn dafür ist er bestimmt, und
er wartet nur darauf. Nun aber kommt der Kapitän, der dafür sorgen
muß, daß der Bau beschleunigt wird, und daß es ein richtiger und
sehenswerter Hafen wird.

So freut sich auch der Bodenmeister Ulrich auf den Kapitän.

Aber da sind einige im Hafen, die ihm mit großer Sorge entgegensehen.

»Brauchen wir schon einen Aufpasser hier im Hafen?« fragt Frau Reiche
ihren Mann. »Ich meine, es ist doch bisher ganz gut so gegangen.«

»Wenn die Direktion es für richtig hält, so mag es schon stimmen«,
meint der ehemalige Bäckermeister und jetzige Kantinenwirt. Sein
blasses, aufgeschwemmtes Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen
und dem roten Schnurrbart ist in letzter Zeit etwas eingefallen, denn
er hat es nun mit Selterwasser und Milch versucht, und das ist nicht
das richtige Getränk für einen Mann, der zu vergessen hat, daß er das
beste Brot im ganzen Stadtviertel backen konnte, und der nun hinter dem
Schanktisch stehen muß, weil es die Frau so will.

»Mag es schon stimmen,« macht sie ihm mit verzogenem Mund nach, »mag es
schon stimmen! Du bist auch so einer, der alles für richtig findet, was
die Obrigkeit anordnet, ohne einmal selber darüber nachzudenken. Ich
bin der Ansicht, wir brauchen noch keinen Kapitän. Dazu sind wir hier
noch viel zu klein. Aber der Direktor Becker weiß nicht mehr, wo er
hinaus soll mit seinen hohen Plänen, und wenn man ihn sprechen will, so
hat er keine Zeit.«

»Das ist auch richtig so. Unsereins hat in seinem Bureau nichts zu
suchen. Was er uns zu sagen hat, läßt er uns schon durch Herrn Gregor
bestellen.«

»Na, und ist es nicht immer sehr gut gegangen mit Herrn Gregor?« fragt
sie triumphierend. »Brauchen wir einen neuen Mann? Warum können sie
denn dem Herrn Gregor nicht den Posten geben?«

»Dafür werden sie schon ihre Gründe haben«, sagt ihr Mann und verläßt
den Raum.

»Esel«, ruft sie ihm wütend nach. Nein, sie ist gar nicht zufrieden mit
dem angekündigten neuen Mann.

Und darin stimmt ihr selbst Herr Gregor zu, der in den letzten Monaten
nicht immer ihre Ansichten teilte, und der recht schwer zu lenken war.

»Das wird hier ja recht gemütlich werden«, sagt er zu Herrn Karcher,
der über seinen Büchern sitzt und alle Prophezeiungen vom neuen Mann
über sich ergehen läßt.

»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragt Herr Karcher.

»Nein, den hat noch niemand gesehen. Der Becker hat ihn auf seiner
Reise getroffen, er soll von den Reedereien empfohlen sein.«

»Von den Seehafenreedereien?« fragt Herr Karcher, als wüßte er, daß
diese Empfehlung dann etwas zu bedeuten habe.

»Jedenfalls von den Seehafenreedereien, denn der Kommerzienrat und der
Becker haben dauernd in den Seehäfen Besprechungen gehabt.«

›Was bist du doch für ein kurzsichtiger Mann‹, apostrophiert Herr
Karcher sich selbst mit Beschämung. ›Da denkst du, es könnte alles
so bleiben, wie es ist: mit einem halbstündigen Morgenbesuch des
Direktors, mit Herrn Gregor und Schwester Emmi. Doch mit dem Kapitän
und den Reedereien wird es schon seine besondere Bewandtnis haben. In
~die~ Pläne siehst du nicht hinein, aber für die Weiterentwicklung
des Hafens und für dieses ganze Riesenprojekt werden sie schon
ungeheuer viel bedeuten. Wenn es nach dir ginge, könnte man die ganzen
in den Hafen gesteckten Millionen in den Schornstein schreiben‹. Er ist
bereit, sich den Beschlüssen der obersten Leitung ohne Kritik zu fügen.

»Der wird schon der rechte schneidige Mann sein«, setzt Herr Gregor
seinen Gedankengang fort. »Da der Becker ihn ausgesucht hat, ist er
sicher einer von seinem Kaliber: hochmütig, scharf und kurz
angebunden.«

Herr Karcher schweigt.

»Aber es mag auch sein,« überlegt Herr Gregor weiter, »daß er das
Gegenteil davon ist: ein Duckmäuser. Denn man kann vermuten, daß der
Becker nicht einen von seiner Art neben sich duldet, das gäbe ja eine
unliebsame Konkurrenz. Und wenn man der Schwiegersohn ist, darf man
sich schon einen persönlichen Geschmack leisten.«

»Ja, Herr Gregor,« meint der andere, während er, über den eigenen
Mut errötend, auf seinen Federhalter starrt, »Sie sind wie der
Kammerdiener, der seinen Herrn in Unterhosen sieht. Sie wollen
nicht die Größe an ihm erkennen, weil Sie ihn zu sehr aus der Nähe
betrachten.«

Herr Gregor starrt den kleinen Mann verblüfft an. Er begreift den
Sinn seiner Worte erst allmählich, sie waren aus diesem Munde gar zu
überraschend gekommen. Nun möchte er sich am liebsten in Positur setzen
und solche Bemerkungen aufs strengste untersagen, aber er überlegt, daß
er jetzt einige Freunde im Hafen sehr nötig gebrauchen wird, da der
Feind im Anrücken ist. Denn nur so und nicht anders kann er den Kapitän
betrachten.

»Auf jeden Fall,« schließt er seine Erwägungen, ohne der unpassenden
Äußerung Beachtung zu schenken, »auf jeden Fall haben wir dann einen
Schnüffler mehr.«

Auch Schwester Emmi fürchtet sich ein wenig vor dem neuen Mann.
Zuallererst denkt sie daran, wie dann dem armen Herrn Gregor zugesetzt
würde, der nun, nach der Rückkehr Joachim Beckers, zwar pünktlicher
geworden ist, aber doch jede Kontrolle haßt. Ja, er ist ein freier
Mann, ein Herrenmensch, aber man erkennt nicht seine besondere Art an,
und darum grollt die kleine Schwester dem Direktor, so sehr sie ihn
auch sonst zu schätzen gezwungen ist.

Und wie würde es bei dem neuen Kapitän um ihre eigene Tätigkeit
bestellt sein? Ob es dann auch heißen würde: die Arbeit müssen Sie
selbst finden? Ach, sie hat soviel gefunden, und bis zum späten Abend
ist sie auf den Beinen.

Im Winter hat sie ganz allein dafür gesorgt, daß die Schifferkinder vom
Winterlager auch die Schule besuchten und für das im Sommer versäumte
Pensum Nachhilfen erhielten. Ihr ist es zu verdanken, daß vom entfernt
gelegenen Südbecken, in dem wegen der Sprengungen die meisten Gefahren
für die Arbeiter lauern, eine direkte Telephonleitung in ihre kleine
Wohnung gelegt wurde, damit sie bei Unfällen sofort gerufen werden
kann. Sie ist immer schnell zur Hand gewesen und hat manchem die erste
Hilfe geleistet. Selbst auf das Gelände der Verhüttungsgesellschaft,
die im kleinen mit der Förderung der Erze begonnen hat, war sie schon
geholt worden, und sie ist eher erschienen als der Arzt von der
Rettungsstation, der ihren fachmännischen Verband rühmte.

Jetzt hat sie den Bauarbeitern sagen lassen, wer schwächliche Kinder
habe, solle es melden, sie werde für eine Unterbringung in den
Ferienkolonien sorgen, denn sie hat die Unterstützung der Stadt. Für
einige Kinder des Hafenpersonals aber, das immer eine bevorzugte
Stellung einnimmt, weil es doch die eigentlichen Angehörigen des Hafens
sind, hat sie bei einem Dorfschullehrer in ihrer Heimat einen schönen
Ferienaufenthalt gesichert. Joachim Becker setzte ihr einen bestimmten
Betrag dafür aus, als sie ihm zaghaft den Vorschlag machte, und sie hat
lange gerechnet und überlegt und das Geld gut verteilt. Das Lob des
Direktors, der mit seinen kühlen grauen Augen immer kurz in ihr Gesicht
blickt, wenn sie von ihren Plänen spricht, ließ sie erröten. Sehr
aufgeregt und ängstlich ist sie stets in das Stadtbureau gefahren,
wenn sie ein besonderes Anliegen hatte, aber auf dem Heimweg war sie
immer von großem Stolz und Glück erfüllt.

Wenn sie sich um Herrn Gregors leibliches und seelisches Wohl ein wenig
besorgt zeigt und ihm zuweilen abends noch einige Blumen ins Zimmer
trägt, auch wenn er nicht zu Hause ist -- und er ist abends oft nicht
da --, so erfüllt sie doch menschliche Pflichten an ihrem nächsten
Nachbarn, denn sie wohnen im Gebäude der Hafenwirtschaft Tür an Tür.
Sie sucht ihn auf diese Weise ans Haus zu fesseln, damit er am nächsten
Tage seinen Aufgaben für die Hafengesellschaft um so besser nachkomme,
und wenn sie ihn auch einmal begleitet, so geschieht das nur, weil
sie ihn vor schlechter Gesellschaft bewahren will. Ist das nicht eine
Motivierung, die sich auch vor dem neuen Kapitän sehen lassen kann?

Und daß Frau Reiche, die Kantinenwirtin, die in der ersten Zeit ihre
Freundin war, sich nun als Feindin entpuppte, verdankt sie nur ihren
Bemühungen, Herrn Gregor dem verderblichen Einfluß zu entziehen! Doch
das ist ein Kapitel für sich.

Sie ist nicht im reinen darüber, ob der neue Mann etwas Gutes oder
Böses in ihr Leben hineinbringen werde, und weil sie weder mit Herrn
Gregor noch mit Frau Reiche, die ihn beide als den Feind betrachten,
in Ruhe darüber sprechen kann, und weil auch Herr Karcher nur von
Respektsgefühlen erfüllt ist, ohne sich eine eigene Meinung zu
erlauben, hat sie das Bedürfnis, zur Mühle hinüberzugehen, um mit
Irmgard Pohl zu plaudern oder gar einige Worte von Herrn Pohl selbst zu
hören.

Seitdem sie in den Hafen übergesiedelt ist, hat es sie oft zur Mühle
hingezogen, und sie ist das verbindende Element zwischen Hafen und
Mühle, obgleich Rechtsanwalt Bernhard seinen Prozeß in der ersten
Instanz verloren hat und an die Einsicht eines höheren Gerichtshofes
appelliert.

Irmgard sitzt auf der Bank vor dem Hause und zeigt dem kleinen Michael
die Blumenpracht des Gartens. Sie spricht mit dem Knaben, der eben
ein Jahr alt geworden ist, wie mit einem Erwachsenen und bekommt ein
lustiges Krähen und Jauchzen zur Antwort.

›Wie langsam entwickelt sich so ein Menschenleben,‹ denkt sie, während
sie das Kind im Arm hält, ›und wie schnell wachsen die menschlichen
Werke!‹ Sie blickt zum Hafen hinüber: dort hat der Getreidespeicher
sein drittes Stockwerk wieder erreicht, im Hafenbecken liegen die
Flußschiffe in zwei Reihen, und die Kräne recken vor den Lagerhallen
ihre schwarzen Arme in die Höhe.

Das ist etwas Fertiges in sich, etwas Hochgewachsenes und vollkommen
Ausgestattetes, an dem nichts mehr zu verbessern scheint, aber ein
Mensch ist in der gleichen Zeit nur einige Zentimeter gewachsen, er hat
kaum sprechen und gehen gelernt, und wenn er schließlich zweiundzwanzig
Jahre alt ist wie Irmgard Pohl, dann glaubt er wieder am Anfang zu
stehen und beginnt erst an seiner Inneneinrichtung zu bauen.

Sie wird in ihren Gedankengängen von Schwester Emmi unterbrochen, die
den Knaben mit entzückten Lauten begrüßt.

»Nein, wie er wieder gewachsen ist!« ruft sie einmal über das andere,
»und was für ein reizender und gesunder Kerl!«

Sie setzt sich auf den schöngepflegten Rasen und nimmt das Kind in
ihren Schoß. Während sie mit dem Kleinen spielt, erzählt sie vom
erwarteten neuen Mann im Hafen. Dabei lacht sie und neckt den Knaben.
So einen lustigen Kameraden hat er nicht alle Tage, und er weiß die
Minuten mit genießerischer Freude auszukosten.

Frau Pohl tritt, von dem Lärm angezogen, vor die Tür und sieht
mißbilligend auf die Zerstörung ihres Gartens, denn nach ihrer
Auffassung ist die grüne Rasenfläche nur für den Anblick bestimmt. Sie
kann sich seit einigen Wochen schon ohne Stock bewegen.

Schwester Emmi will aufstehen, um sie zu begrüßen, denn sie hat sehr
viel Respekt vor der hochgewachsenen Frau mit den harten Gesichtszügen,
die ihr immer noch als Wesen einer anderen Welt erscheint. Ihre
unbewußte Abneigung gegen die Wiederauferstandene sucht sie durch eine
besonders erzwungene Freundlichkeit und Aufgeräumtheit zu verbergen.
Aber nun kann sie ihr nicht einmal entgegengehen, denn der kleine
Tyrann will seinen Platz nicht aufgeben und beginnt zu schreien, sobald
sie sich erheben will.

So ruft sie einen lauten Gruß hinüber und lacht. Frau Pohl nickt kaum
merklich und sagt zu ihrer Tochter:

»Ich wollte dich zum Kaffee rufen, du benachrichtigst wohl den Vater?«
Sie hat keine Einladung für den Gast.

»Ja, gern«, sagt Irmgard freundlich. »Schwester Emmi wird uns
Gesellschaft leisten. Wir wollen doch noch ein wenig plaudern.«

»Soll ich zu Herrn Pohl hinüberspringen?« fragt die Schwester, die gern
aus dem Gesichtskreis der unfreundlichen Frau verschwinden möchte.

»Ach ja,« sagt Irmgard, »das ist lieb von Ihnen«, und sie nimmt ihr
den Knaben ab, der sich über die Folgen der Veränderung noch nicht
schlüssig ist und schweigt.

»Gib mir den Jungen«, sagt Frau Pohl rasch, und sie geht mit dem
schreienden Kind ins Haus.

»Aber kommen Sie auch zurück!« ruft Irmgard der Schwester nach. Sie
kennt den ersten Eindruck, den Fremde von der Mutter gern schnell
wieder davontragen.

Schwester Emmi winkt ihr beruhigend zu und verschwindet im Kontor der
Mühle.

»Ei sieh da!« ruft der Mühlenbesitzer aus, als sie nach zaghaftem
Klopfen in sein Zimmer tritt. »Kehrt unsere Schwester reumütig zurück?«

»Ach ja,« sagt sie, auf den Scherz eingehend, »und nun will ich Sie zum
Kaffee abholen.«

Er erhebt sich und geht ihr entgegen.

»Da soll ich wohl gleich mitkommen?«

»Sofort, wie ein Verhafteter!«

Er nimmt seine Mütze vom Haken und öffnet der Schwester die Tür.

Schwester Emmi will den kurzen Weg rasch für eine Aussprache nutzen und
beginnt zu plaudern.

»Wissen Sie, Herr Pohl, Ihr Vorschlag neulich mit der kleinen
Apotheke im Schuppen am Südbecken war wirklich sehr gut. Die
Verhüttungsgesellschaft hat sich daran beteiligt, weil sie es doch so
weit bis zur nächsten Hilfsstelle hat und noch gar keine richtigen
Gebäude besitzt. Nun ist das für alle eine sehr große Erleichterung,
denn gerade dort passiert doch mal dieses und jenes.«

»So. Findet denn die Verhüttungsgesellschaft da drüben schon Erze?«

»Ja, das muß man annehmen. Aber was meinen Sie, Herr Pohl,« schießt sie
nun auf ihr Ziel zu, »was wird das wohl für ein Mensch sein, dieser
neue Kapitän, den wir jetzt bekommen sollen?«

»Bekommt ihr einen Kapitän?«

»Ja, einen neuen Hafendirektor, der bei uns wohnen soll und auch sein
Bureau im Hafen haben wird. Das Erdgeschoß im Verwaltungsgebäude haben
sie schon dafür eingerichtet, jetzt arbeiten sie an der Wohnung im
ersten Stock.«

»So. Was soll denn nun der andere Direktor?«

»Der wird Generaldirektor im Stadtbureau. Aber was meinen Sie, wie kann
das werden mit so einem Kapitän im Hafen?«

»Hm, da müßte man den Mann schon gesehen haben.«

Ach ja, da hatte er recht, was sollte man jetzt schon sagen können?
Sie stellt auch gar zu törichte Fragen an diesen reifen und erfahrenen
Mann. Aber er hört sie geduldig an und gibt sogar eine Antwort darauf.

Sie sind im Haus angelangt, und Schwester Emmi hätte sich auf den
Kaffee am schönen runden Tisch sicherlich sehr gefreut, wenn noch alles
so wie damals gewesen wäre, als Frau Pohl »oben« lag und am Leben der
Gegenwart keinen Anteil nahm.

Nun sind über das Sofa und den Lehnstuhl am Fenster die alten
Häkeldecken gebreitet, die Irmgard damals entfernt hatte, Nippes,
Tischchen und anderer kleiner Hausrat hat das Zimmer so gefüllt, daß
man sich nicht zu rühren wagt.

Schwester Emmi fühlt sich sehr unbehaglich. Sie beobachtet verstohlen
die beiden Frauen und stellt fest, daß Irmgard die Züge und die hohe
schmale Figur der Mutter hat. Aber was bei der alten Frau, die eine
Greisin scheint, obgleich sie noch nicht fünfzig Jahre zählt, hart und
streng gebildet ist, wirkt bei Irmgard weich und ausgeglichen.

›Was hat sie doch jetzt für ein liebes freundliches Gesicht‹, denkt
die Schwester, wenn sie Irmgard Pohl betrachtet, die nun wieder ganz
verjüngt wirkt. Sie empfindet den Kontrast neben der schweigsamen
Frau wohltuend und erwärmend. Die schönen goldbraunen Augen Irmgards
streifen besorgt ihre Mutter und bleiben mit großer Zärtlichkeit am
Gesicht des Vaters haften.

Die Unterhaltung bewegt sich fast nur zwischen Irmgard und der
Schwester. Sie sprechen von den Eigenheiten und drolligen Bemerkungen
des kleinen Michael. Während der Mahlzeiten muß er im Schlafzimmer
bleiben, denn Frau Pohl ist nicht für Unruhe und Unregelmäßigkeiten bei
Tisch.

Dann unterhalten sie sich von den Aufgaben der Fürsorgestelle. Herr
Pohl erkundigt sich nach den Ferienkindern und lobt Schwester Emmis
Eifer und Erfolge. Sie ist sehr stolz darüber.

Frau Pohl vertritt die Ansicht, daß solche Fürsorge für die
verwahrlosten Kinder der Arbeiter, die es gar nicht besser haben
wollen, übertrieben sei, und sieht Schwester Emmi mißbilligend an.

Die Schwester blickt auf Vater und Tochter, aber weil beide
rücksichtsvoll schweigen, entgegnet sie nur, daß »ihre« Leute Ausnahmen
seien. Dann verabschiedet sie sich bald, weil ihre Pflichten warten.

Irmgard nimmt ihr das Versprechen ab, wiederzukommen, aber Frau Pohl
sagt zu ihrer Tochter, als Schwester Emmi gegangen ist:

»Diese Person scheint nicht der geeignete Umgang für dich. Sie
macht einen leichtsinnigen Eindruck und kann dich nicht zum Guten
beeinflussen.«

»Ach, Mutter,« sagt Irmgard, »hast du so wenig Vertrauen zu mir? Aber
wenn du wegen meines Umganges besorgt bist, will ich mich am besten an
den Vater halten. -- Nimmst du mich mit?« fragt sie den Mühlenbesitzer,
der sich erhoben hat, um wieder in sein Kontor zu gehen.

»Ich dachte, du deckst hier den Tisch ab«, sagt Frau Pohl.

»Sie kann mir im Kontor bei den schriftlichen Arbeiten helfen«, meint
Herr Pohl einlenkend.

Irmgard ist ihm so dankbar für diese Worte, daß sie um seinetwillen
rasch in die Küche läuft und das Hausmädchen holt, damit es der Mutter
bei der Arbeit hilft.

Im Vorgarten hat sie den Vater bereits wieder eingeholt. Sie hängt sich
in seinen Arm und fragt ihn:

»Könntest du mich nicht in deinem Bureau einstellen? Ich will auch gern
noch einen Handelskursus mitmachen.«

Da bleibt er stehen und sieht ihr in das erwartungsvolle Gesicht:

»Siehst du, das habe ich auch gedacht!«

Und wie zwei gute Kameraden gehen sie Arm in Arm weiter.

Irmgard läßt sich in seinem Privatkontor auf das alte schwarze
Ledersofa fallen, das sie schon als Kind zu stillen Träumereien
aufgenommen hatte, während der Vater an seinem Schreibtisch arbeitete
oder die Zeitung las.

In diesem Raum hat sich der Mühlenbesitzer von jeher am wohlsten
gefühlt, denn drüben im Wohnhaus fand er keine Harmonie. Dort wird
wieder von morgens bis abends nach einem unerschütterlichen, strengen
Arbeitsplan gefegt, gewaschen, genäht, und keine Hand darf ruhn. Wie
soll da die Seele Einkehr halten und ein Herz das andere finden? Aber
er hat es aufgegeben, ein Prediger in der Wüste zu sein.

Michael Pohl dreht sich auf seinem Arbeitssessel um und blickt zu
seiner Tochter hinüber, die mit verschränkten Armen lächelnd vor sich
hinträumt.

»Was meinst du,« fragt er, »wie sollte man sich in einem solchen Fall
verhalten?« Und er liest ihr einen Geschäftsbrief vor.

Es ist nicht das erstemal, daß er sie um einen Rat fragt, und seht an:
so eine Frau findet manchmal den besseren Weg und scheint klüger als
zwei Männer zusammen.

»Ja, so könnte man es machen«, sagt er befriedigt. Er dreht sich wieder
um und überläßt sie weiter ihren Grübeleien.

Sie denkt, wie es wohl mit einem Generaldirektor und einem Kapitän im
unfertigen Hafen gehen würde, und sie versucht, sich ein Bild von
diesem Kapitän zu machen, der Joachim Becker zur Seite gestellt wird.

Darin aber stimmt sie mit allen überein, die den neuen Mann als Freund
oder Feind erwarten: Ein richtiger Kapitän muß es sein, groß, mit
wiegendem Gang und breiten Schultern, mit hellen blauen Augen und in
einem dunkelblauen Anzug.




                              Der Kapitän


Am Nachmittag vor dem 1. August, dem Tage, der für den Einzug
des Kapitäns bestimmt ist, werden einige Möbel und Kisten am
Verwaltungsgebäude abgeladen. Wer gerade vorbeikommt, wirft einen Blick
darauf, und es sind nicht wenige, die zufällig diesen Weg nehmen.

Der größere Teil dieses Hauses ist noch von Gerüsten umgeben, aber
der linke Seitenflügel wird bereits überdacht, während der turmartige
Mittelbau und der rechte Flügel noch nicht die vierte Etage erreichen.

Der fast fertige linke Teil hat einen besonderen Eingang an der Seite
erhalten, direkt gegenüber der Hafenwirtschaft. Hier steht der Wagen,
und Frau Reiche kann von ihrem Fenster aus jedes einzelne Stück
betrachten.

»Es sind alles sehr einfache und alte Sachen«, sagt sie zu ihrem
Küchenmädchen. Sie beobachtet den kleinen dunklen Herrn, der mit
einem Verzeichnis in der Hand das Ausladen der Möbel verfolgt und mit
gespreizten Schritten hinaufrennt, um die Aufstellung zu überwachen.

Der leere Möbelwagen fährt davon; der kleine Herr schließt die Wohnung
ab und geht auch hinaus, ohne in der Hafenwirtschaft eingekehrt zu
sein, Frau Reiche ist sehr enttäuscht; sie hätte durch ihn gern einiges
über den Kapitän erfahren.

Nach der Ablösung bestellt der Tageswächter eine Flasche Malzbier bei
Frau Reiche.

Ehe er die Flasche ansetzt, um sie in einem Zuge auszutrinken, sagt er:

»Na, Frau Reiche, haben Sie den Kapitän gesehen?«

»Den Kapitän?« fragt sie erstaunt. »Nein, ist er hier gewesen?« Sie
kann es gar nicht erwarten, daß die Flasche leer wird und der Mann
weiterberichtet.

»Er hat doch hier vor der Tür gestanden beim Ausladen der Möbel.«

»Der Möbel?« fragt sie ungläubig. »Sie meinen doch nicht den kleinen
Mann mit der Liste?«

»Ob er eine Liste hatte, weiß ich nicht. Aber so ein kleiner dunkler
Herr ist es gewesen.«

»Nein, mein Lieber«, sagt sie entschieden. »Ein Kapitän ist das nicht
gewesen.«

»Aber er hat sich ausgewiesen. ›Kapitän v. Hollmann‹ hat auf der Karte
gestanden, vom Direktor Becker unterschrieben.«

»Dann war es eben ein Beauftragter von ihm«, stellt sie fest, nun ganz
sicher geworden.

»Na, das mag ja sein, aber wenn's richtig wäre, dürfte nur der Kapitän
selber die Karte haben.«

Wie leicht läßt sich der Mann von der Ansicht einer Frau, die etwas mit
Bestimmtheit zu sagen versteht, überzeugen! Der Wächter geht nun mit
der sicheren Meinung nach Haus, daß der Kapitän doch blaue Augen und
einen blauen Anzug hat.

Aber Herr Gregor muß am Abend bestätigen, daß der Kapitän ein kleiner
Herr mit steifen Beinen in einem grauen Anzug ist. Ja, ein schmales
brünettes Gesicht hat er und dunkle Haare auch, darin stimmt er in der
Beschreibung mit Frau Reiche überein, denn Herr Gregor sah ihn heute
früh im Stadtbureau.

»Das will ein Kapitän sein«, ruft Frau Reiche ein paarmal aus, und sie
holt sogar ihren Mann herbei, um ihm zu berichten, daß sie als erste
den Kapitän gesehen hat. So aufgeräumt und lustig ist sie lange nicht
gewesen wie an diesem Abend. Immer wieder deckt sie komische Seiten
dieses Mannes auf, der mit einer Liste in der Hand hinter seinen Möbeln
hergerannt war, und der ein Kapitän sein soll.

Sie wird vor Freude darüber so unvorsichtig, daß sie in Gegenwart ihres
Mannes Herrn Gregor auf die Schulter schlägt und mit einem zärtlichen
Blick ihrer feuchten Augen versichert:

»Na, dann habe ich keine Sorge mehr!« Mit dem Kapitän wollte sie fertig
werden!

Herr Gregor hat einen Zettel mitgebracht, der am Wächterhaus befestigt
wird. Darauf steht zu lesen, daß alle abkömmlichen Hafenbeamten
und -arbeiter sowie die Herren Bauleiter zu einer Besprechung am 1.
August um 11 Uhr vormittags von Generaldirektor Becker in den großen
Kantinenraum gebeten werden.

Wer seinen Platz verlassen kann, erscheint am nächsten Tage pünktlich
und guckt sich den neuen Hafendirektor an. Der junge Generaldirektor
stellt ihn mit einer kurzen Rede vor.

»Jeder, der Wünsche und Beschwerden hat, wird gebeten, sich an die
Hafendirektion zu wenden. Die oberste Leitung bleibt nach wie vor bei
der Generaldirektion in der Stadt.« Das sind seine letzten Worte.

Auch der Kapitän spricht -- mit einer zerbrochenen Stimme, als kämpfe
er gegen einen heftigen Sturm -- einiges zur eigenen Einführung. Er
hoffe und wolle und so weiter. Es ist nichts von Belang; die schweigend
abziehende Versammlung hat jedenfalls Neues daraus nicht entnommen.

Vor der Tür verweilen sie noch einen Augenblick und sehen einander an.

»Tja«, sagt wohl der eine oder andere.

»Nun, wir wollen erst einmal abwarten!« Damit scheint zunächst die Ruhe
und Ordnung im Hafen wiederhergestellt.

Joachim Becker ist dann mit dem Kapitän ins Verwaltungsgebäude
hinübergegangen, sie sind durch die leeren Bureauräume des
Erdgeschosses gewandert, die der Kapitän nun allmählich mit seinem
Personal beleben soll. An der Treppe zum oberen Stockwerk sagt der
Generaldirektor:

»Meine Frau kommt also heute nachmittag, um Ihnen in der Einrichtungs-
und Bedienungsfrage ein wenig zu raten. Sie wollte es sich nicht nehmen
lassen.«

»Das ist sehr liebenswürdig,« sagt der Kapitän, »das ist ganz reizend«,
und er reibt seine trocknen Hände, daß es raschelt.

»Ich habe Rechtsanwalt Bernhard gebeten, meine Frau zu begleiten.
Er ist ein Freund der Familie Friemann und kann Sie als unser
Rechtsbeistand gleichzeitig über einige juristische Fragen flüchtig
unterrichten.«

»Rechtsanwalt Bernhard«, wiederholt der Kapitän, um sich den Namen
einzuprägen. »Sehr schön, sehr schön!«

Sie gehen um die Schmalseite des fertigen Hafenbeckens herum, das
gerade vor dem Verwaltungsgebäude endet, und spazieren am Kai entlang.

Generaldirektor Becker, der soeben von einer Reise aus England
zurückgekehrt ist, zieht eine Pfeife aus der Tasche, stopft sie
geschickt mit einer Hand, während er die Linke in der Hosentasche
hält, und steckt sie in den Mundwinkel. Er sieht dabei fast wie ein
leibhaftiger Engländer aus.

»Ja«, sagt er, »die englischen Häfen. Davon können wir noch viel
lernen.«

Vor der Lagerhalle I bleiben sie stehen, um dem Lagerkontoristen einen
Besuch zu machen.

Herr Karcher springt beim Eintritt der beiden Herren von seinem Stuhl
auf, und siehe da: er ist nicht viel kleiner als der Kapitän.

Sie beratschlagen kurz, ob es besser sei, Herrn Karcher hierzulassen
oder in das Verwaltungsgebäude hinüberzunehmen, doch der Kapitän ist
dafür, daß alles beim alten bleibt.

Der Generaldirektor muß sich nun verabschieden und empfiehlt dem
Kapitän Herrn Karcher zur weiteren Führung. Aber der Kapitän will sich
selbst orientieren.

Er begleitet Joachim Becker vor die Tür und beginnt seinen Rundgang
beim Bodenmeister Ulrich in der Lagerhalle II.

Nun ist der große Augenblick für den weltgereisten Herrscher des
künftigen Getreidespeichers gekommen.

»Also Sie sind der Getreidefachmann«, sagt der Kapitän auf eine
diesbezügliche Bemerkung hin.

»Ja,« erwidert der Bodenmeister mit strammer Haltung, »im Hafen von
Rustschuk bin ich zehn Jahre tätig gewesen.«

»Ei sieh da, Rustschuk!« ruft der Kapitän gutgelaunt aus. »Da ist ein
hübsches Schloß. Und an neunundzwanzig Moscheen kann man sich mehrere
Tage lang nicht sattsehen. -- Rustschuk«, wiederholt er in freundlicher
Erinnerung, während er vorangeht und die Lagerwaren betrachtet.

Bodenmeister Ulrich folgt ihm stumm, betroffen. Vom großen Donauhafen
wollte er sprechen, von seinem technischen Wissen, aber die Moscheen
hat er nicht gezählt. Einsilbig erklärt er die Art der eingelagerten
Waren, und als der Kapitän die Halle verläßt, sieht er ihm
kopfschüttelnd nach.

Nun kommt die Lagerhalle mit den Ölen und Fetten an die Reihe, auch
das große Freilager an Kohlen und Schrott wird besichtigt, der Kapitän
sieht sich alles eingehend an und sagt:

»Sehr schön, sehr schön.«

Dann bleibt er noch eine Weile beim Lademeister stehen und unterhält
sich mit ihm. Zum Schluß sagt er:

»Ja, da will ich Sie also nicht länger von der Arbeit abhalten«, und
geht weiter.

Er stellt sich nicht hin und sieht den Leuten zu, bis sie unsichere
Hände bekommen. Er spricht sie an und plaudert mit ihnen.

Selbst mit dem kleinen flachsblonden Tom vom Schiffer Jensen will er
sich unterhalten. Der verschmitzte Bengel ist gerade der Schwester Emmi
davongelaufen, um zu seinem Pudel auf des Vaters Kahn zu flüchten.

»Na, was machst du denn hier?« fragt der Kapitän mit seiner heiseren
Stimme, lächelnd.

Das ist wohl nicht der richtige Verkehrston für Tom, denn er rennt
brüllend weiter. Es gelingt Schwester Emmi, ihn vor der Flucht auf
den Kahn zu erreichen, denn hier wird ausgeladen, und da hat ein
vierjähriger Bengel nichts zu schaffen.

»Warum ist er denn fortgelaufen?« fragt der Kapitän die Schwester.

»Er ist heute noch nicht gewaschen, denn seine Mutter liegt im
Krankenhaus. Wie ich mich umdrehte, um den Schwamm zu nehmen, rannte er
davon.«

Diese wilde Wasserratte, der Tom, auf dem Wasser geboren und immer dem
Wasser nahe, vor einem nassen Schwamm hat er Angst. Der Kapitän lacht.

»Sie gehören auch zum Hafen?« fragt er.

»Ja,« sagt Schwester Emmi, »ich bin die Fürsorgeschwester.«

»So, so, da haben Sie ja eine schöne Aufgabe. Vielleicht besuchen Sie
mich einmal heute nachmittag, damit wir uns darüber unterhalten
können.«

Schwester Emmi bekommt Herzklopfen. Natürlich kann man sich darüber
unterhalten, da gibt es viel zu berichten, aber warum nicht gleich,
warum erst nachmittags, so daß sie bis dahin vor Angst vergeht?

»Um welche Zeit, bitte?« fragt sie.

»Nun, so gegen sieben.«

Der Lademeister sieht einen Augenblick auf. Es geht ihn ja nichts an,
aber er denkt: bisher war hier im allgemeinen um vier Uhr Schluß für
diejenigen, die frühmorgens angetreten sind, und Schwester Emmi ist
immer mit den ersten auf den Beinen. Jedenfalls wollte er einmal mit
seiner Frau darüber sprechen, was das für eine Art sei, ein junges
Mädchen um sieben Uhr in die Wohnung zu bestellen, denn ein Bureau ist
noch nicht vorhanden.

Zwei Stunden später bereits hat der Kapitän mit der Generaldirektion
telephoniert und Möbel für zwei Bureaus angefordert, dazu eine
Sekretärin. Denn nun weiß er, was er im Hafen zu tun hat.

Als nachmittags um fünf Uhr Frau Generaldirektor Adelheid Becker mit
Rechtsanwalt Bernhard im Hafen vorfährt, wird sie bereits im neuen
Privatkontor des Hafendirektors empfangen. Ja, das ist schnelle Arbeit!

Frau Adelheid kann sich gar nicht fassen, so erstaunt ist sie über die
vielen Fortschritte im Hafen. Sie hat ihn seit der Geburt ihrer Tochter
nicht gesehen.

»So, ein Töchterchen?« fragt der Kapitän, mit einem Blick auf ihr
kindliches rundes Gesicht.

Sie errötet. »Ja,« sagt sie, »ich bin sehr glücklich darüber. Aber mein
Mann wollte eigentlich einen Sohn.«

»Es ist ein reizendes Kind«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Es hat ganz
und gar die Augen der Mutter.«

»Das sind die Friemannschen Augen,« sagt Frau Adelheid, »sie sehen bei
dem Kinde so traurig aus. Aber das verliert sich wohl.«

Rechtsanwalt Bernhard findet, daß Frau Adelheids Augen auch nicht
lustiger sind, ja sie dünken ihn sogar sehr traurig, und es wird
immer schlimmer damit. Als er die junge Frau abholte, waren die Lider
verdächtig gerötet, und Rechtsanwalt Bernhard gäbe viel darum, wenn er
das strahlende Lächeln der Adelheid Friemann aus der Tanzstundenzeit
nur ein einziges Mal wiedersehen könnte.

»Wissen Sie noch,« fragt er, um sie abzulenken, »als wir zum ersten
Spatenstich hier waren?«

»Ach ja«, ruft sie begeistert aus. »Das war hier alles ebene Erde mit
ein paar Bäumen. Und -- ach, was meinen Sie wohl, Herr Doktor, wo mag
das gewesen sein -- der Platz mit den Linden und den langen Tafeln, wo
wir nach der Feier gefrühstückt haben?«

Ihr Gesicht ist selig verklärt, während sie zum Fenster hinausspäht und
den Platz sucht, zu dem ihr Mann sie damals geführt hatte, als sie sich
so glücklich geborgen fühlte, nachdem sie vorher wie ein verirrtes Kind
war.

Rechtsanwalt Bernhard überlegt. Plötzlich sagt er sehr laut und selbst
überrascht:

»Ja, denken Sie, das war hier, genau hier, wo wir jetzt stehen. Man hat
das Verwaltungsgebäude auf diesen Platz gebaut. Ich weiß es bestimmt,
denn wir hatten den Blick auf den Kanal und die --«

Er stockt, denn er wollte sagen »die Mühle«, aber gerade in diesem
Augenblick will er Frau Adelheid nicht an die Nachbarn erinnern, über
deren Bedeutung sie sicher unterrichtet ist.

Darum sagt er weiter: »Und die lange Tafel, an der wir die belegten
Brote aßen, hat vielleicht gerade hier gestanden, einen Meter unter uns
auf der weichen Erde. Ich weiß noch, wie Sie mit Ihrem schmalen Absatz
fast eingesunken waren, so locker war die Erde.«

»Ja, wissen Sie das?« fragt sie gedankenlos. Es fällt ihr nicht einmal
auf, daß Rechtsanwalt Bernhard damals anscheinend gar zu genau ihre
Füße betrachtet hat, so erfüllt ist sie von dem beseligenden Gefühl,
auf diesem Platz zu stehen.

»Und später,« sagt sie dann, um sich endlich von der Erinnerung
loszureißen, »später war ich einmal hier, da habe ich nur Löcher
gesehen. Überall wurde die Erde aufgerissen, aber es war noch kein
Wasser im Hafenbecken, und noch nicht ~ein~ Gebäude wuchs heraus.
Seitdem bin ich, offen gestanden, nicht hier gewesen.«

Sie sprach die letzten Worte etwas leiser, als sei es ihr peinlich, das
eingestehen zu müssen.

»Dann darf ich hoffen,« sagt der Kapitän verbindlich, »daß Sie durch
mich heute einen willkommenen Anlaß zum Besuch fanden?«

»Ach ja«, erwidert sie, von neuem errötend. Sie fühlt sich so erkannt.

Der Kapitän bietet ihr eine Führung durch den Hafen an. Sie wehrt ab.

»Nein,« sagt sie, »dann wird man von den Menschen so angestarrt. Ich
kann es auch von hier sehen.«

Das Klingeln des Telephons befreit sie in diesem Augenblick aus
ihrer Verlegenheit, denn nun wird der Kapitän von ihr abgelenkt, und
Rechtsanwalt Bernhard ist ihr schon etwas vertrauter. Sie stellen sich
ans Fenster, während der Kapitän in den Apparat spricht.

Plötzlich hört Frau Adelheid ihn sagen: »Gewiß, Herr Kommerzienrat,
also morgen früh.«

»Ach -- Papa,« ruft sie aus und macht unwillkürlich mit erhobenem Arm
einen Schritt zum Telephon.

Der Kapitän hat sie verstanden und bittet den Kommerzienrat, einen
Augenblick zu warten.

Sie nimmt den Hörer.

»Ja, ich bin hier -- Papa -- Adelheid.« Sie sagt diese Worte mit
ganz kleiner schüchterner Stimme, wie ein Kind, das zum erstenmal
telephoniert.

Die beiden Herren sind höflich zur Seite getreten. Der Kapitän
erkundigt sich nach den Prozessen, der Rechtsanwalt ist jedoch dafür,
in dieser Angelegenheit an einem anderen Tage vorzusprechen.

»Ja -- ja,« sagt Frau Adelheid nun mit fast ersticktem Ton.
Rechtsanwalt Bernhard sieht plötzlich das vermißte reizende Lächeln auf
ihrem heißen Gesicht. Es hält noch an, als sie den Hörer hinlegt und
sagt: »Papa kommt sofort hierher.«

Dann setzt sie eine ernste hausfrauliche Miene auf und erwähnt den
eigentlichen Zweck ihres Besuches: dem Kapitän behilflich zu sein. Sie
fragt, ob er schon einen Tapezierer für seine Wohnung habe, und wie es
mit der Reinigung stehe.

Er dankt ihr sehr herzlich, die Vorhänge und Gardinen habe heute
nachmittag -- soeben, ehe sie erschien -- der Dekorateur befestigt, der
mit den Geschäftsmöbeln kam. Die Reinigung könne die Frau übernehmen,
die drüben im Lager das Kontor versehe.

»Ich dachte an eine Wirtschafterin, die man Ihnen besorgen könnte, des
Essens wegen«, sagt sie hilfsbereit.

Nein, das sei nicht nötig. Er würde in der Kantine essen.

»Ach, Sie sind ja ein sehr anspruchsloser und praktischer Junggeselle.«

»Ja, das wird man mit der Zeit«, sagt er; aber weil sie sehr enttäuscht
scheint, und damit sie den Zweck ihres Besuches nicht verfehlt habe,
meint er, daß er in anderen Fragen gern ihren Rat erbeten hätte, in
Geschmacksfragen bezüglich der Einrichtung. Ob er ihr die Wohnung
zeigen dürfe.

»Ach ja.« Sie ist sehr erleichtert, und nun gehen sie zu dritt in die
erste Etage.

Frau Adelheid gefällt alles sehr gut. Sie haben das Eßzimmer und das
Arbeitszimmer besichtigt. In den Schlafraum hat sie nur durch die
offene Tür einen scheuen Blick geworfen.

»Diese schönen alten Möbel,« sagt sie vor dem breiten
Mahagoni-Schreibtisch, »sie haben sicherlich einen großen Wert.«

»Das kann sein. Für mich sind es jedenfalls kostbare Erinnerungen. Sie
stammen noch von meiner Mutter.«

»Sie sind musikalisch?« fragt Rechtsanwalt Bernhard, mit einem Blick
auf den Geigenkasten.

»Ein wenig. Nur für den Hausgebrauch«, meint der Kapitän. Er geht sehr
schnell über das Thema hinweg und fragt Frau Adelheid, ob nach ihrer
Ansicht dieses Bild richtig hänge.

»Das Bild hängt sehr schön so, es wirkt sogar ganz ausgezeichnet an
dieser Stelle.« Nein, hier kann Frau Adelheid nichts verbessern. Sie
merkt, daß der Kapitän ihr nur gefällig sein wollte.

Zum Glück fährt in diesem Augenblick der Wagen des Kommerzienrats vor.
Sie entschuldigt sich bei dem Kapitän und eilt die Treppen hinab, um
ihren Vater zu begrüßen. Die beiden Herren folgen langsam. Rechtsanwalt
Bernhard möchte sich gern über die moderne Musik mit dem Kapitän
unterhalten; er sei sehr musikalisch. Aber der Kapitän spricht lieber
von etwas anderem.

Der Kommerzienrat ist ausgezeichneter Laune. Er hat sich in den Arm
seiner Tochter gehakt und schlägt eine gemeinsame Besichtigung des
Hafens vor. Nun hat Frau Adelheid keine Angst mehr, sie läßt sich
alles eingehend erklären, obgleich sie immer wieder eingestehen muß,
daß sie nicht viel davon begreift. Aber das Ganze macht auf sie einen
gewaltigen Eindruck.

Selbst dem Kommerzienrat imponieren die Fortschritte. Er spricht sich
lobend dem Kapitän gegenüber aus, der doch daran noch gar keinen Anteil
hat.

»Ja, und wenn mein Sohn seinen Doktor gemacht hat,« sagt er mit
väterlichem Stolz, »dann kann er bei Ihnen als Volontär eintreten, Herr
Kapitän.«

»Papa, er hat ihn noch nicht gemacht«, warnt Adelheid mit
abergläubischer Ängstlichkeit.

»Er ~wird~ ihn machen, mein Kind,« meint er lächelnd, »in zwei
Monaten haben wir ein Telegramm.«

Wenn er jetzt seine kleinen dicken Hände frei hätte, so würde er sie
vor Vergnügen ineinander legen, wie es zu Hause, im Familienkreis,
seine Art ist. Aber da er seine Tochter eingehakt hat, begnügt er sich
damit, ihren Arm ein wenig zu drücken. Er ist, weiß Gott, der beste und
dankbarste Vater, den man sich denken kann.

»Ihr Sohn ist Nationalökonom?« fragt der Kapitän, um auch etwas zu
sagen.

»Ja, erst hatte er sich zwar allzusehr für die schönen Künste
interessiert, wie das so in diesem Alter üblich ist, aber schließlich
wandte er sich doch einer gesünderen Kunst zu.«

Der Kommerzienrat lacht, und der Kapitän stimmt höflich ein.

»Heutzutage werden die jungen Leute mit den tiefgründigen
Kunstgesprächen geradezu aufgepäppelt, dafür haben sie es aber auch
schneller überwunden«, fügt der Kommerzienrat hinzu.

»Ja, das mag sein«, meint der Kapitän, er macht nicht den Eindruck, als
ob er in solchen Fragen kompetent sei.

Schließlich fährt der Kommerzienrat mit seiner Tochter nach Hause, und
Rechtsanwalt Bernhard, der dem Wagen lange nachblickt, kann nun dem
Kapitän über die juristischen Angelegenheiten berichten.

Pünktlich um sieben Uhr findet sich Schwester Emmi im Bureau des
Kapitäns ein.

»Also, bitte, setzen Sie sich, Fräulein -- wie war doch Ihr Name?«

»Schwester Emmi.«

»Also -- Schwester Emmi -- und erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten. Wo
sind Sie ausgebildet worden?«

Schwester Emmi wird ganz zaghaft. Mein Gott, wann soll sie beginnen?
Bei ihrer Geburt? Wo sie ausgebildet wurde? Sie ist doch eigentlich
Säuglingsschwester. Aber das wird sie ihm nicht sagen. Sie wird seine
Frage einfach überhören. Über ihre Vergangenheit spricht sie nicht
gern. Von ihren Arbeiten im Hafen jedoch will sie erzählen. Natürlich
wird sie an einer ganz falschen Stelle anfangen, sie weiß es genau.
Doch da sie etwas sagen muß, so redet sie darauf los, kunterbunt
durcheinander. Sie zählt alles auf, was sie bisher getan hat; dabei
merkt sie erst, daß es, so einfach summiert, gar nicht bedeutend wirkt.
Im Gegenteil, es ist sogar sehr wenig. Sie versucht, die gequetschten
Finger und verstauchten Füße zu zählen, die herausgezogenen Holz-
und Eisensplitter werden nicht vergessen, und die verwundete Hand
des Maurers Johannes rechnet sie als fünf kranke Finger. Aber dann
ist sie am Ende, und sie hat das Gefühl, daß nun alles verloren
sei. In Gottes Namen! Und wenn sie wieder zurückgehen muß zu den
egoistisch-glücklichen jungen Müttern und den hungrigen Ehemännern, so
soll es ihr auch gleich sein. Diese Qual hält sie nicht länger aus.

Aber der Kapitän sagt: »Sehr schön, sehr schön.«

Und dann läuft er im Zimmer umher, immer auf und ab, mit seinen
gespreizten steifen Beinen und erzählt auch etwas -- von einem
Professor und einem wissenschaftlichen Institut, von klinischen
Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen, von Lehrschwestern und
so weiter. Die Schwester versteht nur die Hälfte davon, und sie weiß
nicht, wohin das alles führen soll.

Schließlich hört sie überhaupt nicht mehr hin. Sie sieht den Kapitän
scheinbar andächtig und aufmerksam an und hat dabei ihre eigenen
Gedanken. Ob dieser Mann, der hier so ledern und langweilig etwas von
Gott und der Welt erzählt, ob er wohl schon einmal verheiratet war?

Sie hat so ein Gefühl dafür, sie kann es nicht erklären, ihr Instinkt
sagt ihr, daß dieser Kapitän mit den schmalen steifen Gliedern und
den langen dunkelbehaarten Händen kein echter Junggeselle sei. Nun --
wenn ihm eine Frau etwa davongelaufen sein sollte, so kann sie das
vollkommen verstehen. Während sie seine glatt und glänzend gebürsteten
dünnen Haare betrachtet, muß sie an Herrn Gregors vollen schwarzen
Schopf denken, und der Vergleich fällt nicht zu des Kapitäns Gunsten
aus. Da ist ihr doch ein weiches gepudertes Gesicht noch lieber als
dieser kantige Kopf mit der gebräunten trockenen Haut.

Endlich scheint der Kapitän mit seiner Rede fertig zu sein. Schwester
Emmi warf einige Male ein »Ja« und »Gewiß« dazwischen, aber sie hat
sich dabei nur nach dem Tonfall seiner Stimme gerichtet. Jetzt kann sie
endlich wieder einen Satz dem Sinne nach erfassen, es ist, als wäre der
Kapitän damit zu ihrer Muttersprache zurückgekehrt. Er sagt:

»Der Herr Generaldirektor erzählt mir, daß Sie Ihre Sache bisher sehr
gut gemacht haben. Also lassen wir zunächst alles beim alten.«

Großer Gott, dann ist es ja überstanden! Schwester Emmi atmet
erleichtert auf und erhebt sich. Sie hat in ihrer Freude das Wörtchen
»zunächst« ganz überhört.

Der Kapitän drückt ihr fast schmerzhaft die Hand und begleitet sie zur
Tür. Er selbst geht in seine Wohnung hinauf.

Schwester Emmi blickt geblendet in die Helle des milden Sommerabends.

Schiffer Jensen und Karle Töndern sitzen vor ihren Selterflaschen neben
der Veranda. Sie grüßen die Schwester mit einem Griff an die Mützen und
mit einem recht vertraulichen Zwinkern. Ja, ja, blitzen die listigen
Augen, die jungen Mädchen werden nach sieben Uhr empfangen.

Schwester Emmi sieht an der Hafenuhr, daß sie länger als eine halbe
Stunde beim Kapitän war. Ihr Herz ist so angefüllt, daß sie es
irgendwo ausschütten muß. Für dieses Geschenk ist am besten Irmgard
Pohl geeignet; die hört sich alles schweigend an, ohne gleich von sich
selbst zu sprechen -- wie Frau Reiche oder Herr Gregor --, und dann
findet sie sogar noch einige ruhige Worte, die man mit nach Hause
nehmen kann. So geht sie wieder zum »feindlichen« Nachbarn hinüber.

Schiffer Jensen und Karle Töndern starren zu den Fenstern der
Kapitänswohnung hinauf, denn ihre Köpfe sind mit diesem Problem noch
nicht fertig geworden. Sie stammen beide von der Wasserkante, und da
dauert es immer eine Weile, bis sie etwas zu Ende gedacht haben.

Plötzlich senken sie ihre Blicke sehr interessiert auf ihre
Selterflaschen, denn oben -- an einem Fenster -- ist der Kapitän
erschienen.

Er hat nur das Fenster geschlossen. Das an diesem milden und schönen
Sommerabend!

Die beiden haben ihrer neugierigen Blicke wegen kein ganz reines
Gewissen, aber sie denken: Wir werden wohl hier sitzen dürfen!
Schließlich ist die Kantine doch für uns da!

Wie sie sich noch damit beschäftigen, vernehmen sie etwas Merkwürdiges:
langgezogene Töne, wie ferne Musik.

»Hörst du das auch?« fragt Karle Töndern.

»Ja, freilich hör' ich das«, sagt Schiffer Jensen etwas ungeduldig. Er
muß plötzlich an seine Frau denken, die immer noch im Krankenhaus liegt
und die nächste Fahrt wieder nicht mitmachen kann.

»Es ist eine Violine, mein' ich«, sagt Karle Töndern.

»Ja, das mag sein«, erwidert Schiffer Jensen. Ihm wird immer wehmütiger
ums Herz. Daran ist nur die verdammte traurige Musik schuld. Nun
liegt der Tom wieder allein in der Kabuse. Aber weggeben? Da soll die
Schwester sich nur ja keine Mühe machen. Diese blauen Augen, die in
Toms Gesicht stecken, gibt es nur noch einmal in der Welt, und die hat
Toms Mutter. Und wenn Schiffer Jensens Frau im Krankenhaus liegt, dann
muß Schiffer Jensens Tom immer auf dem Kahn bleiben, denn ohne diesen
blonden Schopf läßt sich der Kahn von keinem Schlepper ziehen. Das ist
so gewiß, wie Schiffer Jensen jetzt hier sitzt und mit dem Ärmel über
die Augen wischt.

»Und es kommt aus der Wohnung vom Kapitän«, sagt Karle Töndern.

»Hm«, macht Schiffer Jensen, denn nun bringt er keinen Ton mehr heraus.

Aber da sagt auch Karle Töndern nichts mehr, und sie sitzen und horchen
und sind ganz still.

Bis wieder ein Fenster geöffnet wird und der Kapitän nach einiger Zeit
unten in der Tür erscheint. Da stehen sie auf und ziehen ihre Mützen.

Der Kapitän nickt ihnen zu und geht mit seinem gespreizten steifen Gang
zum Hafenbecken und immer weiter bis zum Kanal hinunter.




                            Die Verhaftung


Bei der Familie Friemann ist wirklich das Telegramm eingegangen:
»Doktor bestanden. Gratuliere. Felix.«

Das sieht diesem Bengel, diesem Erzschelm ähnlich, daß er dazu seinen
Eltern gratuliert, anstatt seinerseits die Gratulation abzuwarten.

Der Kommerzienrat war sich zwar längst über die angemessene Belohnung
dieses tüchtigen Jungen einig, aber er beruft dennoch Frau und Tochter
zusammen, um sich mit ihnen zu beraten. Joachim Becker ist zu sehr mit
seinen wichtigen Aufgaben für den Hafen beschäftigt, als daß er an
solchem Familienrat teilnehmen könnte.

Die vom Kommerzienrat vorgeschlagene Nordlandreise findet auch den
Beifall der Frauen, aber die Mutter des tüchtigen Kandidaten will
deswegen nicht auf eine kleine Festlichkeit verzichten, ganz im
engsten Kreise der Familie. Weil die allernächste Verwandtschaft recht
ausgedehnt ist, kommt man immerhin auf dreißig Personen.

Wann aber durfte man den Jungen zu Haus erwarten? Natürlich sollte
er den Feiern seiner Studienkollegen nicht entzogen werden, doch
konnte er nicht Nachricht geben, dieser unverbesserliche Schlingel,
dieser Tausendkerl und Hallodri? Der Kommerzienrat findet immer mehr
freundliche Schimpfnamen für seinen ungeratenen Sohn.

Währenddessen hebt draußen im Park der Villa ein großer Spektakel an.
Die Kommerzienrätin müßte nicht die Mutter ihres Sohnes sein, wenn sie
diese Stimme nicht erkennen sollte. Mit einem Aufschrei stürzt sie zur
Tür, sie rennt so schnell die Treppen hinab, als es ihre geschwollenen
Beine gestatten.

Rasch ist die ganze Familie im Vestibül. Hier steht ein baumlanger Kerl
und sagt begütigend: »Aber, aber, meine Herrschaften!« Dabei kollern
ihm die Tränen über die weichen Backen, und er muß sich dauernd bücken,
um jemand zu umarmen. Das ist der junge +Dr.+ Felix Friemann.

»F. F.« fügt er gern nach der Vorstellung seinem Namen hinzu, denn
er ist, wie sein Vater, ein Freund von Witzen. Die Studiengenossen
nannten ihn die »Gaslaterne«. Sein weißes kugelrundes Gesicht mit den
Friemannschen Augen hinter den blitzenden Brillengläsern, meinten sie,
sei die Milchglaskugel, die lange dünne Figur der Laternenpfahl. Die
Jugend ist grausam und spottet gern über die Kuriositäten der Mutter
Natur.

Wer jedoch damit Felix Friemann ärgern will, kommt nicht an den
rechten Mann! Er lacht wie über einen guten Witz und sagt in seiner
überhasteten Sprache: »Gewiß, ich will mich bessern, gewiß.«

Er hat die Eigenart, daß er in der Eile des Sprechens einige Silben
verschluckt. Weil er aber seinen Zuhörern diese schlechte Verständigung
nicht zumuten will, hat er sich daran gewöhnt, ein paar Worte, die
vielleicht verlorengegangen sein könnten, nachträglich zu wiederholen.

Wer Geduld mit ihm hat oder ihn gar liebt, findet sich in dem
Kauderwelsch ganz gut zurecht. Doch es ist merkwürdig: vor solchen
Naturen befleißigt er sich einer ganz ausgezeichneten und normalen
Sprechweise.

Und die drei glücklichen Menschen, die ihn nun mit Begeisterung und
Rührung begrüßen, brauchen sich weder über Wortverluste noch über
Wiederholungen zu beklagen.

Der junge Doktor ist mit allem einverstanden, mit dem Familienfest und
mit der Nordlandreise. Wann hätte er die Vorschläge seines prächtigen
Vaters nicht großartig gefunden?

Die bevorstehende Arbeit im Hafen kann er kaum erwarten.

»Denke dir, meine Kommilitonen lachten, als ich ihnen erzählte, was
wir hier für einen Hafen bauen. Aber neulich hat mein Professor
doch wahrhaftig einmal im Kolleg das Projekt erwähnt. Na, ich habe
euch ja gleich darüber telegraphiert. Er fand es phänomenal und --
durchführbar!«

»Wenn so ein Theoretiker das schon durchführbar findet, nicht wahr?«
fragt der Kommerzienrat lachend. »Nun will ich dir auch gleich
verraten, daß ich dem Professor durch die Hafengesellschaft ein
ausgezeichnetes Exposé einschicken ließ.«

»Also, das ist die Veranlassung gewesen?« fragt der Sohn ehrfurchtsvoll
und erstaunt.

»Ja,« sagt die Kommerzienrätin stolz, »was unser Papa alles zustande
bringt! Er belehrt sogar die Professoren.«

Hier sind vier Menschen, die mit allem einverstanden und zufrieden
sind, die sich nichts Besseres mehr wünschen.

Was ist so ein unschlüssiger Schürzenjäger wie Herr Gregor dagegen
für ein unglücklicher Mensch! Nun treibt er die Tyrannei im Hause
Reiche tatsächlich doch auf die äußerste Spitze, und man kann nicht
voraussagen, wie lange die verliebte Kantinenwirtin sich das noch
gefallen läßt.

Er findet ihr Essen miserabel, aber sie sagt nicht: »Sie haben ja schon
seit mehreren Monaten nichts mehr dafür bezahlt.« Sie flüstert: »Wenn
es angebrannt ist, so wirst du wohl am besten wissen, woran das liegt.«

Was erwidert darauf Herr Gregor? Er schlägt mit der flachen Hand auf
den Tisch und steht auf. An der Tür sagt er verächtlich: »Was haben Sie
wieder für eine schmutzige Schürze umgebunden?«

Es hilft Frau Reiche nichts, daß sie sofort eine schneeweiße breite
Schürze holt, und daß sie sich abends in ihrem besten Kleid auf die
Veranda setzt. Da muß sie zuweilen den Kopf auf die Arme werfen und
heftig schluchzen. Und sie beruhigt sich erst, wenn sie endlich den
festen Entschluß gefaßt hat, Schwester Emmi Salzsäure ins Gesicht zu
gießen.

Ihr Mann muß immer öfter hinter dem Schanktisch stehen und in seiner
schwerfälligen Art Selterwasser und Milch verkaufen. Früher hat Frau
Reiche in der Küche das beste Essen zustande gebracht und dabei immer
noch Zeit gefunden, mit den Gästen ein freundliches Wort zu wechseln.

Jetzt hat nicht nur die Güte des Essens nachgelassen, die
Kantinenbesucher finden auch die Bedienung nicht flink und freundlich
genug. Der ehemalige Bäckermeister ist kein redseliger Mann, und mit
den guten Eigenschaften seiner Frau kann er sich freilich nicht messen.
Deswegen ist er auch schon sehr bescheiden geworden.

Seine Frau versteht es, gut einzukaufen und mit den Lieferanten fertig
zu werden, sie eignet sich prächtig dafür, solchem großen Betrieb
vorzustehen, ohne es jemals geübt zu haben; er aber kann nur das, was
er in seinen Jugendjahren gelernt hat: Brot und Semmeln backen. Schon
mit dem Kuchen hat es immer etwas gehapert, der war den Leuten nicht
fein genug.

So begnügt er sich nun damit, das zu tun, was seine Frau ihm befiehlt,
und er hat keinen Funken Ehrgefühl mehr im Leibe, denn sonst würde er
sich dagegen sträuben, zur Bewachung der Wirtschaftsräume in einer
Kammer hinter der Kantine zu schlafen, während seine Frau das schöne
große Schlafzimmer im ersten Stock allein gar nicht ausnutzen kann.

Seitdem die Küchenmädchen in der Hafenwirtschaft mit Frau Reiche nicht
mehr zurechtkommen und alle acht Tage wechseln, hat Fräulein Spandau,
die neue Sekretärin des Hafendirektors, sich daran gewöhnt, das
Mittagessen für den Kapitän selbst abzuholen. Dabei hat sie auch immer
noch ein freundliches Wort für den Kantinenwirt, ja manchmal kann sie
ein paar Minuten bei ihm stehen, während das Essen eingefüllt wird,
und sich dafür interessieren, wie es in einer mustergültigen Bäckerei
zugehen muß. Sie ist nicht die Spur eingebildet auf ihren Posten, denn
sonst würde sie nicht freiwillig mit einem Tablett in der Hand über den
Platz gehen, was einer Sekretärin wirklich nicht zukommt.

Der Kapitän weiß solchen Liebesdienst auch nach Gebühr zu schätzen.

Er spricht den »besten Dank« immer doppelt aus, und obgleich er im
Laufe der Monate sich schon daran gewöhnt haben sollte, so steckt immer
auch etwas Verlegenheit hinter seinem Ton.

Ja, Fräulein Spandau ist nun schon einige Monate im Hafen. Die Zeit
verfliegt so rasch, daß man es selbst kaum merkt. Man geht durch das
Tor des Hafens an einem Wächter vorbei und neben dem Gesicht eines
anderen Mannes hinter dem Guckloch wieder hinaus, und siehe da: ein
Tag ist um. Wenn man jedoch am nächsten Abend einmal um sich schaut,
so hat der Turm des Verwaltungsgebäudes plötzlich sein siebentes
Stockwerk aufgesetzt, das zweite Hafenbecken ist von fertigen Kaimauern
eingefaßt, und der Getreidespeicher -- ja, der Getreidespeicher sieht
aus, als stände er fix und fertig da.

Aber wer das glaubt, der versteht nichts von einem modernen richtigen
Getreidespeicher, der ist ein Laie, eins der verächtlichsten Geschöpfe,
die für den Bodenmeister Ulrich existieren. Denn nun sind erst
die wahren Künstler an der Arbeit, die Ingenieure, die den ganzen
technischen Apparat einbauen.

Dem Bodenmeister Ulrich lacht das Herz im Leibe, wenn er das mit
ansieht. Auch mit dem neuen Hafendirektor hat er sich wieder
ausgesöhnt, denn er ist inzwischen dahintergekommen, daß der Kapitän
nicht nur Moscheen im Kopf hat, er versteht auch sonst etwas von den
Angelegenheiten eines Hafens.

Nun gibt es Menschen mit einem geweiteten Horizont, die sehen sich
nicht nur innerhalb der Mauern des Hafens um, die blicken darüber
hinaus zu den Nachbarn links und rechts. Und man muß staunen, was da
alles vor sich geht.

Der Müller hat zwar schon immer einen Getreidespeicher, eine Mühle
und ein schmuckes kleines Wohnhaus jenseits des Kanals gehabt, doch
ist der Speicher nicht um zwei Stockwerke höher geworden? Und wenn
der Bodenmeister Ulrich sich so sehr viel auf das kommende Becherwerk
und die Getreideheber einbildet, so soll er nur schweigen: der
Mühlenbesitzer Pohl hat das alles längst. Er holt sich sein Getreide,
das direkt aus Rumänien und Rußland kommt, damit selbst aus den
Kähnen, und wenn es gebraucht wird, geht es ebenso maschinell in die
Mühle hinüber. Da gibt es keine gebückten Menschen, die schwere Säcke
hin- und herschleppen. Ein fleißiger Kran holt auch die Mehlsäcke aus
der Etage heraus, in der sie gerade liegen, und führt sie zu einem
Schiff hinüber, wenn sie dafür bestimmt sind, auf dem Wasserwege
weiterzureisen. Was jedoch auf den Bahnhof oder in die Stadt befördert
werden soll, wird auf Wagen geladen, denn Eisenbahnwaggons fahren an
der Mühle noch nicht vor. Nein, über einen Gleisanschluß verfügt der
Müller nicht. So weit hat er es nicht gebracht.

Gleisanschlüsse sind nur im Hafen. Da stehen sogar eigene Lokomotiven
in einer Halle, die laut zischen und pfeifen, wenn sie angeheizt
werden, und die vielen Gleise geben dem Hafen ein recht industrielles
Aussehen. Natürlich sind auch schon ein paar Kräne da, und wenn die
Freilagerplätze mit Kohle oder verrostetem alten Eisen in hohen Bergen
geradezu überschüttet sind, so kann sich ein einzelner Müller mit
seinem Betrieb nicht allzu stolz daneben sehen lassen.

Trotzdem schöpft er seinen Vorteil aus der Nachbarschaft des Hafens,
und er hätte weder einen Anbau an seine Mühle gebraucht noch soviel
Lagergetreide in seinen Räumen, wenn der erste Getreidespeicher des
Hafens nicht in die Luft geflogen, sondern rechtzeitig fertiggestellt
worden wäre.

So aber mußte man erst die anderen langgestreckten und flachen
Lagerhallen bauen, und die Firma Friemann, Getreide +en gros+,
lagert ihre Riesensendungen für Übersee so lange in den Seehäfen.

Wer etwa die Ansicht vertritt, daß dieser Verlust ein Unglück für
den Binnenhafen sei, hat nicht den raffinierten Scharfsinn des
Kommerzienrats erkannt, denn nun besitzt man gute Freunde am offenen
Meer und die besten Verträge in der Tasche.

Ja, auch Generaldirektor Becker hat fleißig gearbeitet. Er ist auf
mehreren Auslandsreisen gewesen, aber er hat es auch nicht verschmäht,
einige kleine unbedeutende Häfen an der Wasserkante und im Binnenlande
zu besuchen, und wenn man hin und wieder in die Zeitung sieht, so
kann man lesen, daß die Hafengesellschaft auch anderwärts tüchtig ist
und den Kommunen ihre Lasten abnimmt. Joachim Becker hat mit einigen
strategischen Stützpunkten seine Stellung befestigt.

Nun ist auch sein Schwager im Hafen, der sich in das große und
weitverzweigte Gebiet einer Hafenbewirtschaftung einzuarbeiten
versucht und dabei ebensoviel Lust wie Unfähigkeit beweist. Aber der
Generaldirektor ist weder ärgerlich noch traurig darüber, es kann nicht
allein tüchtige Menschen in der Welt geben. Nur, daß der Kerl noch
nicht richtig zu sprechen vermag, macht ihn nervös, denn man hat nicht
Zeit, nach jedem Satz zweimal zu fragen.

Die englische Shagpfeife hat er im übrigen inzwischen über Bord
geworfen, denn sie ist ihm bei der Arbeit hinderlich. Dazu gehört
die gleichmütige Ruhe der Engländer, und die ist ihm nicht gegeben.
Außerdem fand er in der Zusammenarbeit mit seinen technischen und
wissenschaftlichen Beratern an den Einrichtungen der Engländer dieses
und jenes auszusetzen und zu verbessern.

Inzwischen ist er auch in den Vereinigten Staaten gewesen, und nun
imponieren ihm neben der gewaltigen Organisation die großartigen
sozialen Einrichtungen der Amerikaner. Sie haben ihn seinem
Steckenpferd, der Fürsorge, wieder mit vollen Segeln zugeführt.

Die Fußballplätze und Schwimmanlagen schweben ihm wieder vor, doch
wenn er zum Nachbar im südlichen Gelände hinüberblickt, so beschleicht
ihn ein scheußliches Unbehagen. Da, wo seine freien Menschen ihre
Siedlungen errichten und den Körper in sportlicher Übung kräftigen
sollten, werden nun von der Verhüttungsgesellschaft Erze gefördert.

Ja, werden denn wirklich Erze zutage gebracht? Man sollte es wohl
annehmen, denn sie geben die Versuche nicht auf. Zwar herrschte
zuweilen wochenlang, ja einmal sogar monatelang peinliche Arbeitsruhe,
aber dann hatte sich anscheinend doch wieder ein Gesellschafter
gefunden, der sein Geld in dieser aussichtsreichen Sache anlegen
wollte, und die Sachverständigen rückten wieder an.

Joachim Becker ist zum zweitenmal in seinem Leben feige und geht nicht
hin, um sich nach den Resultaten zu erkundigen. Es scheint nicht
immer leicht, seine privaten Gefühle mit beruflichen Interessen in
Einklang zu bringen, selbst wenn man sonst ohne Furcht und Falsch ist.
Die persönliche und sehr peinliche Angelegenheit, in der er sich zum
erstenmal nach einer unredlichen Tat feige verbarg, glaubt der junge
Generaldirektor zwar vollkommen aus seiner Erinnerung ausgestrichen zu
haben.

Nur einige Konsequenzen wollen ihn noch dafür strafen, denn nun
fordert das Schicksal zur Vergeltung weitere Unaufrichtigkeit und
Heuchelei. Und weil er diesen beiden Götzen gerade in seinem engsten
Familienkreise dienen soll, so ist es am besten, wiederum zu flüchten
und in der Arbeit unterzutauchen. Das besorgt er nun bis zur letzten
Möglichkeit.

Herr Gregor muß noch mehr als früher unter seiner Unduldsamkeit leiden,
denn jetzt fängt Joachim Becker an, unzufrieden mit ihm zu werden.
Dieser junge Sekretär treibt Luxus in Anzügen, Krawatten und seidenen
Strümpfen, sieht übernächtig aus und dünkt sich für jede Arbeit zu gut.

Dabei hat er ein Tätigkeitsfeld, das jedem alten Beamten schmeicheln
würde. Seine Hauptbeschäftigung ist immer noch die Bearbeitung der
Lieferverträge für den Hafenbau. Mit seinem flinken, merkantilen
Verständnis für die Ausnutzung der Konjunktur und die Finanzlage der
Bewerber hat er besonders im Anfang gute Resultate erzielt.

Nun aber wird er unvorsichtig und nachlässig, und auf seinem
Schreibtisch liegen die Papiere wüst durcheinander, so daß sich
bestimmt kein Mensch mehr herausfinden kann.

Der Generaldirektor stellt sich ärgerlich neben den Tisch und sagt:
»Wer diese Unordnung auf dem Schreibtisch einreißen läßt, der hat sie
auch im Kopf.« Dann geht er in das Kalkulationsbüro und erkundigt sich
nach diesem und jenem.

Herr Gregor hat zufällig auf einem der langen breiten Korridore zu tun
und sieht Joachim Becker auch in die Hauptbuchhaltung hineingehen.

Ein Kollege fragt Herrn Gregor, ob er etwas verloren habe.

»Nein,« gibt er zur Antwort, »aber mir fällt eben ein, daß ich etwas
vergaß.« Damit geht er wieder zurück.

Vor dem Zimmer der Sekretärin bleibt er noch einmal mit zerfurchter
Stirn stehen. Er hat Schweres zu denken, man sieht es ihm an, und seine
Hände sind ganz feucht. Dann geht er hinein.

»Sie haben wohl nicht die gestrigen Zahlungsanweisungen noch hier? Ich
sehe eben, daß ich mich verrechnet haben muß«, sagt er mit belegter
Stimme.

»Nein,« erwidert die Sekretärin, »ich habe sie heute morgen
weitergegeben. Vielleicht liegen sie noch in der Kasse.«

»Ja, danke, ich will sehen, daß ich sie dort vergleichen kann.« Er
bleibt unschlüssig stehen.

»Sie werden sich aber beeilen müssen, denn es ist gleich
Geschäftsschluß, und die Kasse öffnet ihre Schränke nicht noch einmal.«

»Richtig,« sagt er, »dann will ich es noch rasch versuchen.«

Er schießt nicht gleich auf den Kassenschalter zu, sondern geht mit
schleppenden Schritten bis an das Ende des langen Korridors. Wie er um
die Ecke biegen will, bemerkt er mit halbem Blick den Generaldirektor
und den Hauptbuchhalter vor der Tür des Kassenraumes. Er schnellt
sofort zurück; man sah ihn nicht, denn die beiden sind in eine leise
und angeregte Unterhaltung allzusehr vertieft.

Herr Gregor will nun mit seinen Anweisungen nichts mehr zu tun haben.
Er holt Mantel und Hut und verläßt das Haus.

Drei Stunden später trifft er vor dem Hauptportal des Hafens Schwester
Emmi, die wieder einmal einen Besuch in der Mühle gemacht hat. Sie kann
jetzt nicht zu jeder Stunde hinüberlaufen, denn Irmgard Pohl ist eine
Angestellte, an Zeit und Ort gebunden. Wenn sie auch im Kontor ihres
Vaters arbeitet, so hat sie doch keine andere Vergünstigung, als daß
sie zu den Mahlzeiten ins Wohnhaus gehen darf, denn ihr Gehalt muß sie
sich ehrlich und redlich verdienen.

So benutzt Schwester Emmi die Abendstunden, um sich Rat und Teilnahme
zu holen. Sie ist sehr angeregter Stimmung, denn nun hat Irmgard Pohl
ihr endlich versprochen, den ersten Besuch im Hafen zu machen, um sich
die kleine Wohnung der Fürsorgeschwester anzusehen.

»Wenn Sie glauben, daß ich gegen fünf Uhr niemand treffen kann,« sagte
sie, »so will ich auf eine Viertelstunde kommen.«

Schwester Emmi wird ihr alle ihre hübschen Kleinigkeiten zeigen: den
selbstgefertigten Frisiertisch mit Mullvorhängen und Fläschchen und
Büchsen, die hübschen Kissen aus Seidenresten, Stickereien und andere
Handarbeiten, denn ihre flinken Hände sind zu allem geschickt, sie
können niemals ruhen.

Selbst in Herrn Gregors Gesellschaft bleibt sie nicht untätig, denn an
seiner Kleidung ist immer etwas zu verbessern. Frau Reiche, die sich
gegen Bezahlung für diese Arbeiten verpflichtete, ist längst nicht mehr
zuverlässig genug; sie hat es sogar fertig gebracht, ein Paar seidene
Strümpfe, die Schwester Emmi ihm zum Geburtstag schenkte, vollständig
zu zerschneiden.

Wenn aber die praktische Arbeit geleistet ist, so folgt die viel
schwerere Aufgabe: Herrn Gregor zu trösten und zu zerstreuen; er wird
immer nervöser von dem schweren und aufreibenden Dienst und kann oft
sehr mißgestimmt oder mutlos sein.

Sie sieht es ihm heute sofort an, daß es schlimm um ihn steht, darum
zwitschert sie von allen lustigen Dingen, die ihr einfallen; sie macht
Witze und lacht selbst darüber. Sobald der schwache Schimmer eines
Lächelns über sein blasses leidendes Gesicht huscht, ist sie sehr
glücklich. Sie wirft nicht sobald die Flinte ins Korn, und ihre Geduld
rührt selbst Herrn Gregor.

Er hat schon gegessen und fragt, ob er bei Schwester Emmi eine Tasse
heißen Tee trinken dürfe. Es ist mitten im Winter, und ein mitfühlender
Mensch kann wohl verstehen, daß man auf einer Straßenbahnfahrt
durchfriert und Verlangen nach einem freundlichen warmen Zimmer hat.
Die großen Herren haben ihre bequemen Wagen, die andern aber, denen
jede Möglichkeit zum Aufstieg abgeschnitten wird, obgleich sie auch
nicht weniger verstehen, sie müssen sehen, wo sie bleiben.

Ach, sie ist durch Herrn Gregors scharfe Augen über die
Ungerechtigkeiten in dieser Welt aufgeklärt worden und kann manchmal
recht erbittert und unzufrieden sein. Doch sie hütet sich wohl,
solche Gefühle zu offenbaren, denn wer erst einmal als sonnige Natur
verschrien ist, hat nicht mehr das Recht, sich anders zu zeigen.

So bewirtet sie Herrn Gregor mit heißem Tee und freundlichen Worten.
Sie rauchen auch eine Zigarette miteinander, und als endlich eine
richtige Unterhaltung in Gang kommt, hat sie sogar ihre Angst vor Frau
Reiche vergessen, die angedroht hat, den Kapitän zu holen, wenn die
Fürsorgeschwester noch einmal Herrenbesuch in ihrem Zimmer empfängt.

»Es sind nicht nur die Kopfschmerzen, die mich ganz zermürben,« sagt
Herr Gregor, »Sorgen mögen auch daran schuld sein.«

»Aber was sollten Sie denn für Sorgen haben? Da ist doch kein Mensch,
der Ihnen etwas zuleide tut, und Angehörige haben Sie auch nicht. Ja,
wenn ich an Schiffer Jensen denke, dem im Herbst die Frau gestorben
ist. Jetzt lebt er ganz allein mit dem kleinen Tom, und das Schlimmste
ist, daß er nun, während er im Winterlager liegt, nicht durch Arbeit
und Abwechslung abgelenkt wird und immerfort daran denken muß. Sie
haben doch Ihre Arbeit und ein schönes Einkommen dazu.«

Das mit dem Einkommen hat sie nicht ohne einen Zweck gesagt, sie
erwähnt es in letzter Zeit öfter. Ist es nötig, daß ein einzelner
Mensch ganz allein davon lebt und sich einen Anzug nach dem anderen
kauft? Nicht genug damit, er trägt sein Geld auch noch in die Bars
und Tanzlokale, und es kommt vor, daß er sich kleine Summen von
Schwester Emmi oder Frau Reiche leihen muß, wenn er in augenblicklicher
Verlegenheit ist.

Wäre es für so einen Menschen nicht besser, eine solide und praktische
Frau zu heiraten, die ihn ans Haus fesselt und sein Heim gut
verwaltet? Sie hätte nichts dagegen, Frau Gregor zu werden, und aus
keinem andern Grunde behandelt sie ihn zuweilen schlecht, wenn er mehr
Entgegenkommen erwartet. Sie weiß, was man tun muß, um von einem Mann
geachtet oder gar geheiratet zu werden, und sie ist, seitdem sie die
Fürsorgestelle im Hafen hat, ihren Vorsätzen treu geblieben.

Fand sie nicht erst kurz zuvor eine Bestätigung für die Richtigkeit
ihrer Erkenntnis, da selbst bei einer Irmgard Pohl keine Ausnahme
gemacht wurde? Sie hat ein weites Herz, doch jetzt ist sie
fünfundzwanzig Jahre alt, und da muß eine Frau mindestens wissen, was
sie will.

»Nein,« sagt Herr Gregor mit schwachem Lächeln, »solche Sorgen habe
ich nicht. Sie sind ja auch immer gut zu mir, darüber kann ich nicht
klagen.«

Das klingt fast wie eine Werbung. Schwester Emmi rückt auch nicht ab,
während seine kalte Hand nach ihr tastet.

»Aber ich hatte sehr schwere Geldverluste. Ein Rechenfehler, den ich
nicht rechtzeitig bemerkt habe. Später fehlte mir der Mut, es zu
melden, und nun muß ich den Verlust tragen.«

»Das ist ja empörend«, ruft sie geradezu erregt aus. »Verlangt man auch
noch von Ihnen, daß Sie Geld zusetzen? Nein, das dürfen Sie sich nicht
gefallen lassen!«

»Ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst daran schuld sei, weil ich es nicht
rechtzeitig meldete. Jetzt würde man es mir einfach nicht glauben.«

»Das verstehe ich nicht. Jedenfalls ist das eine bodenlose
Ungerechtigkeit.«

»Ja, das glaube ich, daß Sie das nicht verstehen. Es ist auch zu
kompliziert, als daß ich es Ihnen auseinandersetzen könnte. Es muß sich
in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen entscheiden, was daraus
wird. Dann darf ich wohl alles erwarten, wenn ich es nicht vorher
gutmachen kann. Doch das Schlimmste wird sein, daß ich mir dann eine
Kugel durch den Kopf schießen muß.«

»Großer Gott, was sagen Sie da?« Sie ist aufgesprungen und läuft ganz
entsetzt in ihrem kleinen Zimmer umher.

»Ist es denn so schlimm?« flüstert sie, während sie vor ihm
stehenbleibt und die Hand auf seine Schulter legt.

Da wirft er den Kopf nach vorn und stöhnt laut und gurgelnd auf. Die
Spannung der entsetzlichen letzten Wochen mit den fortdauernden kleinen
Unterschlagungen, von denen eine immer die andere nach sich zog, die
Erregung des heutigen Tages, da er sich entdeckt glaubt, das alles löst
sich in einem Schluchzen auf.

Die Tränen fließen an seinen schmalen blassen Fingern vorbei auf den
empfindlichen Anzug. Aber er nimmt keine Rücksicht darauf, er ist nun
am Ende seiner Kraft. Auch die betäubenden Vergnügungen in den lauten
Lokalen, die ihn seine verzweifelte Lage doch nicht vergessen ließen,
der übermäßige Genuß von Alkohol und Zigaretten, der versäumte Schlaf,
das alles rächt sich nun, so daß er nicht mehr Herr über sich selbst
werden kann.

Schwester Emmi versucht es immer wieder mit freundlichen und tröstenden
Worten, sie streichelt seinen Rücken, die vollen schwarzen Haare, und
sie ist selbst ganz verzweifelt, weil sie ihm damit nicht helfen kann.

Endlich stützt sie die Arme auf den Tisch, gräbt die Finger in ihren
blonden Haarschopf und beginnt krampfhaft nach einem Ausweg zu suchen.
Sie überlegt so angestrengt, daß ihr Gesicht ganz zerknittert ist.

Mein Gott, es müßte ihm doch irgendwie zu helfen sein. Gibt es nicht
unzählige reiche Leute, die einem tüchtigen Menschen mit ein paar
Brocken ihres großen Vermögens das Leben retten könnten? Sie wollte
den sehen, der es fertigbrächte, ihn durch seine Weigerung einfach zu
töten, wenn sie ihm die Lage schilderte, wie sie wirklich ist.

Bei diesem Gedanken kommt ihr der großartige Einfall. Sie schreit
geradezu auf vor Freude. Ja, das war ein Ausweg, sie wollte es tun!

Sie packt Herrn Gregor bei den Schultern.

»Hören Sie doch, ich kann Ihnen helfen! Sagen Sie mir, wieviel es ist.«

Herr Gregor schüttelt sie ab und flüchtet in eine Ecke des Zimmers. Er
dreht ihr den Rücken und trocknet mit einem seidenen Taschentuch seine
Tränen.

»Was werden Sie nur von mir denken, daß Sie mich in diesem Zustande
sehen? Sie müssen mich verachten«, stammelt er.

»Nein,« sagt sie, »ich verachte Sie nicht. Ich habe sogar den
Generaldirektor weinen sehen, damals bei der großen Katastrophe. Er
drehte sich um, wie Sie eben, aber an seinen Schultern habe ich es
erkannt, daß er weinte. Nun müssen Sie mir wieder Ihr Gesicht zeigen,
hier ist ein Schwamm, und dann sagen Sie mir, wie hoch die Summe ist,
damit ich Ihnen helfen kann.«

Und weil er sich so ungeschickt mit ihrem Schwamm anstellt, wäscht sie
ihm das Gesicht wie dem kleinen Tom und trocknet es mit ihrem Handtuch.
Als er sie nun mit einem zagen Lächeln im rotgeriebenen Gesicht
ansieht, erinnert er gar nicht mehr an den gepuderten und blasierten
jungen Mann von einst, er ist ein großer hilfsbedürftiger Junge, und
sie gibt ihm plötzlich einen schallenden Kuß auf die kühlen Lippen. Da
packt er sie und will sie nicht wieder loslassen.

»Sie müssen vernünftig werden,« mahnt sie, »Sie sollen mir die Summe
nennen, damit ich Ihnen helfen kann.«

»Du kannst mir doch nicht mehr helfen. Es ist jetzt zu spät. Aber
allein lassen darfst du mich heute nicht, denn sonst bringe ich mich
um.«

Schwester Emmi läßt keinen Menschen sehenden Auges in den Tod gehen. --
--

Am nächsten Vormittag kommt sie mit sehr blassem Gesicht zu Herrn
Karcher ins Bureau.

»Darf ich hier telephonieren?« fragt sie.

»Ja«, erwidert er. »Aber sind Sie krank?«

»Ach nein«, wehrt sie ab. »Ich habe nur ein sehr wichtiges
Telephongespräch, dann bin ich immer vor Aufregung ganz blaß.«

Herr Karcher schweigt, er beobachtet sie über seinen Federhalter
hinweg, während sie im Telephonbuch blättert.

Nachdem sich der Teilnehmer gemeldet hat, bittet sie, mit Herrn Stein
persönlich zu verbinden. Herr Karcher will nicht indiskret sein, doch
es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte anzuhören, denn sie
steht direkt neben seinem Tisch.

»Verreist?« stammelt sie fast tonlos. »Ja -- aber -- ja, wann kommt
er zurück? Heute abend? Ach danke, nein.« Sie scheint zum Schluß noch
etwas erleichtert.

»Das ist doch Pech, nicht wahr?« sagt sie erklärend zu Herrn Karcher,
»wenn man einen Menschen in so wichtiger Angelegenheit sprechen will,
und er ist verreist.«

»Ja, das ist unangenehm. Dann kommen Sie heute abend noch einmal?«

»Ach ja. Aber ich habe gar nicht gefragt, um welche Zeit er zurückkommt
und ob ich ihn noch im Bureau antreffe. Das war nämlich in seinem
Geschäft. Mein Gott, wie dumm ich bin. Das kommt alles davon, daß ich
mich immer so aufrege, wenn ich telephoniere. Was mache ich denn
jetzt? Können Sie mir einen Rat geben?«

»Vielleicht rufen Sie da noch einmal an?« schlägt Herr Karcher
schüchtern vor.

»Nein, nein. Dann will ich lieber heute nachmittag wiederkommen. --
Wenn es Ihnen recht ist.«

»Mir ist es immer recht, Schwester Emmi. Sehr recht ist es mir. Aber
Sie haben einen Kummer, Schwester Emmi. Kann ich Ihnen nicht irgendwie
beistehen?«

»Was Sie denken! Es ist wirklich nichts«, meint sie mit erzwungenem
Lächeln.

»Sie haben mir die Knöpfe angenäht und mir manchmal warmes Essen
gebracht, Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Warum kann ich Ihnen
nicht etwas davon vergelten?«

»Ach, das können Sie doch nicht«, ruft sie ganz verzweifelt aus, so daß
sich ihre Stimme überschlägt.

Dann rennt sie ohne Gruß davon. Herr Karcher sieht sie am Fenster
vorbeiflüchten. Der kalte Nordwind zerrt an ihren blonden Haaren, daß
sie ganz zottelig um ihr kleines Gesicht wehen.

Am Nachmittag kommt sie wieder. Sie ist jetzt viel gefaßter, nur ihre
Hand zittert, wie sie nach dem Hörer greift.

Herr Stein ist noch nicht zurück. Er wird um sechs Uhr erwartet.

Da läßt sie sich mit der Generaldirektion verbinden. Sie will Herrn
Gregor sprechen. Herr Gregor sei nicht da, wird ihr geantwortet.

»Er ist nur nicht in seinem Zimmer, meinen Sie?« gibt sie gereizt
zurück.

»Nein, er ist heute überhaupt nicht gekommen.«

»Das ist doch nicht möglich,« sagt sie empört, »er ist doch heute
morgen ins Bureau gegangen --«

Aber da wirft sie den Hörer hin, als ob er ihr die Finger verbrenne.
Was hat sie denn da für eine Dummheit gemacht? Wenn er nicht ins Bureau
gegangen ist, so hatte er wohl seine Gründe dafür, und es wäre keinem
Menschen etwas Besonderes aufgefallen, wenn sie nicht jetzt darauf
aufmerksam gemacht hätte. Ihr blieb es vorbehalten, ihn zu verraten.

Sie rennt in dem kleinen Kontor zwischen Tür und Schreibtisch umher und
ringt die Hände.

Herr Karcher hat das Telephon in Ordnung gebracht und sieht stumm und
hilflos in sein Kontobuch. Es ist fünf Uhr und seine Arbeitszeit war
vor einer Stunde beendet. Er mußte länger bleiben, weil Schwester Emmi
telephonieren wollte. Was hätte sie denn sonst anfangen sollen? --

Vor dem Hafentor steht Irmgard Pohl, die um fünf Uhr eingeladen war.
Sie denkt keinen Augenblick daran, daß Schwester Emmi sie vergessen
haben könnte; es werden wichtige Arbeiten genug vorliegen, die sie
verhindern, ihr entgegenzugehen.

Das Warten in der schönen klaren Winterluft wäre auch nicht so
unangenehm, wenn sie nicht fürchten müßte, Joachim Becker zu begegnen
und wenn nicht ein breiter untersetzter Herr mit einem kräftigen
Schnurrbart gleichfalls in der Nähe des Wächterhauses spazierenginge.
Sie weicht zwar seinen Blicken aus, aber sie fühlt, daß sie von Kopf
bis Fuß gemustert wird.

Hinter dem Tor, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, erscheint immer
wieder ein kleiner Herr mit gespreiztem Gang, der gleichfalls jemand
erwartet. Wenn er auf seinem merkwürdigen Spaziergang in die Nähe
des Tores kommt, kann er sie sehen, obgleich sie sich Mühe gibt, ihm
auszuweichen. Irmgard weiß nach Schwester Emmis Beschreibungen, daß es
der Kapitän ist, sie hat ihn auch oft genug vom Mühlenplatz, jenseits
des Kanals, bemerkt, ebenso wie er bei gelegentlichen Blicken zum
Nachbarn die Mühle und ihre Angehörigen wohl beobachten kann.

Als er wieder in die Nähe des Tores kommt, gibt sie endlich das Spiel
auf. Sie geht zum Wächter und fragt nach der Fürsorgeschwester, so daß
der Kapitän es hören kann.

»Wollen Sie hier hinein?« fragt der Kapitän.

Ja, wenn es erlaubt sei und sie Schwester Emmi sprechen könne. Und weil
sie glaubt, daß man sich hier als Besucher ausweisen muß, fügt sie
hinzu: »Ich bin Ihre Nachbarin, Irmgard Pohl.«

»Ah so,« sagt der Kapitän verbindlich, »das ist sehr interessant.« Und
dann stellt er sich vor. Sie wird hier ganz und gar als Dame behandelt,
obgleich sie nur die Fürsorgeschwester besuchen will.

Er bittet sie in sein Bureau und sendet jemand aus, der Schwester Emmi
an ihre vernachlässigten Pflichten als Gastgeberin erinnern soll.

Inzwischen plaudert er mit Irmgard Pohl, als wäre ihm nicht bekannt,
daß sie zum Feinde gehöre. Er habe schon lange die Absicht gehabt,
ihrem Vater einen Besuch zu machen, und er werde, wenn es erlaubt sei,
in den nächsten Tagen vorsprechen.

Irmgard kennt nicht die Absichten der Hafengesellschaft -- man hatte
bisher nur Rechtsanwalt Bernhard gesandt --, aber sie verspricht, ihren
Vater auf den Besuch des Kapitäns vorzubereiten.

Sie ist erleichtert, als endlich Schwester Emmi erscheint, die nicht
zu versichern braucht, daß sie über der vielen Arbeit die Einladung
vergessen habe -- man sieht es ihr an, wie sehr sie überanstrengt und
durch den Schrecken über ihre Nachlässigkeit verstört ist.

Irmgard dankt dem Kapitän und will die Teestunde bei Schwester Emmi auf
einen anderen Tag verlegen. Doch sie wird mit vielen Worten überredet,
zu bleiben. Die Schwester plaudert unaufhörlich, sie kann gar kein
Ende damit finden, sich zu entschuldigen und Erklärungen über ihre
Vergeßlichkeit abzugeben.

Was hatte sie ihr alles zeigen wollen! Aber nun ist nicht einmal Gebäck
im Haus, und Irmgard muß selbst dafür sorgen, daß sie eine Tasse Tee
erhält, denn Schwester Emmi ist sehr zerstreut und läuft wie ein
Irrwisch umher, ohne etwas fertigzubringen. Auf dem Tisch liegen noch
Zigarettenreste, und das Zimmer ist nicht aufgeräumt. So empfängt man
einen Besuch, auf den man sich lange gefreut hat.

Irmgard Pohl hat wohl gemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, es
liegt jedoch nicht in ihrer Art, zu fragen. Sie erzählt von dem kleinen
Michael und stellt fest, daß der Kapitän ein sehr liebenswürdiger Herr
sei. Es war kaum ihre Absicht, sich im Hafen offiziell empfangen zu
lassen, aber sie darf mit der freundlichen Aufnahme zufrieden sein.

Schwester Emmi hat sich inzwischen etwas erholt. Sie kann sogar darüber
scherzen, was sie für eine schlechte Hausfrau sei.

Als sie sich zum Tee niedergelassen haben, wird die Tür aufgerissen,
und Herr Gregor stürzt herein.

»Kannst du mir eine Reisetasche leihen?« fragt er Schwester Emmi
hastig, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, »ich muß sofort
geschäftlich verreisen.«

Seine Augen sind starr geradeaus gerichtet, und er sieht nicht, daß
noch jemand im Zimmer ist. Irmgard Pohl blickt peinlich berührt in ihre
Teetasse.

Schwester Emmi geht schweigend zum Schrank und reicht ihm einen kleinen
Koffer. Er reißt ihn ihr aus der Hand und läuft wortlos davon.

Die Schwester bringt auch jetzt noch keinen Ton hervor. Aber in ihrem
Gesicht zuckt und kämpft es, daß Irmgard Pohl es kaum mit ansehen kann.

Dann hört man draußen Schritte. Schwester Emmi läuft zur Tür und horcht
angespannt. Plötzlich reißt sie die Tür auf.

In diesem Augenblick geht der Kapitän mit zwei Herren vorbei. Der eine
ist breit und untersetzt, mit einem kräftigen Schnurrbart. Sie öffnen,
ohne anzuklopfen, Herrn Gregors Tür und verschwinden.

Irmgard Pohl versucht, Schwester Emmi, die am Türpfosten lehnt, in das
Zimmer zu ziehen. Doch sie ist wie taub, sie stemmt sich gegen alle
milden Versuche und bleibt so lange im Korridor, bis einer der beiden
Herren mit Herrn Gregor vorbeikommt. Der andere folgt an der Seite des
Kapitäns.

Schwester Emmi starrt auf die Handschellen, die man Herrn Gregor
angelegt hat. Der Kapitän bleibt vor ihr stehen.

»Der Herr Kommissar will nur die Personalien aufnehmen,« sagt er
höflich, »weil Sie die Nachbarin sind. Dürfen wir nähertreten?«

In diesem Augenblick bemerkt er Irmgard Pohl. Er bittet, die Störung zu
entschuldigen.

Irmgard, die mit Herzklopfen den Vorgang verfolgt hat und den Herrn
wiedererkennt, der sie vor dem Hafeneingang beobachtet hat, steht auf
und sagt:

»Bitte. Ich wollte ohnehin gehen.«

»Darf ich vorher auch Ihre Personalien feststellen?« fragt der Beamte.

Sie fährt erschreckt zusammen.

»Ich habe doch mit der Angelegenheit nichts zu tun«, stammelt sie. »Ich
bin heute zum erstenmal hier.«

Bei dem Gedanken, daß ihre Personalien in das Protokoll aufgenommen
und Joachim Becker vorgelegt werden könnten, packt sie der Mut der
Verzweiflung. Sie will ihren Namen auf keinen Fall preisgeben und sieht
den Kapitän hilfeflehend an.

Er aber meint: »Es ist lediglich eine Formsache. Die Akten sind
vollkommen diskret.«

»Nein, nein«, ruft sie aus. »Ich lasse meinen Namen nicht mit
hineinziehen!«

Da erwacht endlich Schwester Emmi aus ihrer Erstarrung.

»Ich kann es beschwören, daß die Dame Herrn Gregor nicht gekannt
hat und daß sie heute zum erstenmal hier ist. Sie ist eine frühere
Patientin von mir. Ich bin die Fürsorgeschwester vom Hafen.«

Das sind die ersten Worte, die sie seit Herrn Gregors plötzlichem
Auftreten und seiner Verhaftung spricht, und sie gelten wieder einer
hilfreichen Tat.

Die beiden Herren schweigen.

»Im übrigen«, fügt sie mutig hinzu, »weiß der Herr Kapitän den Namen,
und er wird sich denken können, daß die Dame mit der Sache nichts zu
schaffen hat.«

Der Kommissar sieht ihn fragend an.

»Wenn Sie auf die Personalien verzichten wollen?« fragt er den Kapitän,
als dieser sich nicht äußert.

»Da Sie es selbst vorschlagen -- ja.«

Irmgard Pohl darf den Schauplatz verlassen. Sie blickt Schwester Emmi
dankerfüllt an. Dann eilt sie mit kurzem Gruß davon.




                         Der Mann in der Mitte


Auf der Föhrbrücke kehrt sie wieder um. Sie kann in dieser Erregung
unmöglich ihren Eltern begegnen.

Ihr Gesicht brennt, und sie ist von heftigem Groll gegen den Kapitän
erfüllt. Während sie abenddunkle Straßen aufsucht, um ihre Gedanken
zu ordnen, wird ihre Abneigung gegen ihn immer stärker. Wohl hat er
sie sehr liebenswürdig empfangen, obgleich sie kein Verlangen danach
hatte, seine Bekanntschaft zu machen, aber als es darauf ankam, ihr
beizustehen, versagte er.

Wie hätte Joachim Becker sich in dieser Situation benommen? Oh, er wäre
der Zumutung des Kommissars sofort ganz energisch begegnet. Er hätte
sie wie ein Ritter geschützt. Der Kapitän jedoch stand zwischen beiden
Parteien und wollte niemand zu nahe treten.

Sie haßt diese lauen Menschen, sie haßt den Kapitän. Nur der Gedanke an
Schwester Emmis treue Bereitschaft söhnt sie wieder aus.

Sie beginnt, sich von ihrem Groll gegen den Kapitän abzuwenden und über
Schwester Emmis Schicksal nachzudenken. Das ist ein armer schwacher
Mensch, der in seiner Liebe zu den anderen wirklich sehr weit geht.
Hat sie sich nicht zuviel mit diesem eleganten, blassen Herrn Gregor
abgegeben, der nun verhaftet werden mußte?

Irmgard Pohl weiß nicht, welches Vergehen dem Herrn Gregor vorgeworfen
wird, aber so viel stand fest, daß er von Schwester Emmi eine
Reisetasche forderte und flüchten wollte. Er kam einfach in ihr Zimmer
und sagte »Du« zu ihr.

Frau Pohl hatte wohl recht damit, daß die blonde Fürsorgeschwester
leichtsinnig sei und keinen moralischen Halt habe. Doch warum sollte
sie diesen Menschen nicht auf ihre Art lieben?

Da steht sie nun mutig vor den beiden Herren, läßt sich ausfragen und
gibt klare Antworten, ihr Freund aber ist mit Handschellen abgeführt
worden, und wenn sie am Morgen aus ihrem Zimmer geht, so begegnet sie
ihm weder auf dem Korridor noch unten im Hafen. Sie wird ihn nirgends
mehr treffen, denn er sitzt hinter dicken Mauern und hat viel Zeit,
über seine Vergehen und über Schwester Emmis Liebe nachzusinnen.

Während Irmgard Pohl ihren Beruhigungsspaziergang fortsetzt und an das
Protokoll denkt, in dem nun ihr Name nicht verzeichnet ist, fällt ihr
ein, daß auch eine Reisetasche für das Verfahren von Bedeutung sein
kann. Hat der Verhaftete sie nicht für die Flucht benutzen wollen? Sie
gehört ihm nicht, und wer sie ihm gegeben hat, macht sich der Beihilfe
schuldig. Oh, das kluge Fräulein Pohl, das eine Handelsschule besucht
hat und jetzt Sekretärin in der Mühle ihres Vaters ist, vermag sehr
logisch zu denken, was sonst nicht Frauenart ist.

Sie verfügt nun wieder über ihren klaren Verstand und hat alle Folgen
eines Strafverfahrens vor Augen. Man liest nicht ohne Gewinst die
Zeitungen und vernimmt von Indizienbeweisen und Zeugenaussagen. Wer
weiß außer ihr, daß Herr Gregor den Koffer für eine Geschäftsreise
forderte und sonst kein Wort darüber verlor?

Schwester Emmi hatte ihren Besuch mutig vor dem Protokoll gerettet. Was
aber tat Irmgard Pohl? Sie dachte nur an die Rettung ihres Namens und
rannte davon.

Wie lächerlich erscheint ihr jetzt ihre Furcht vor Joachim Becker. Hat
er damals daran gedacht, daß sie ihren guten Ruf verlieren könnte?
Nein, er ließ sie im Stich und sorgte für sich selbst. Warum sollte
ihr Name nicht im Protokoll stehen? Weil es der Name ihres Vaters ist?
Michael Pohl ist es gleichgültig, was mit seinem Namen geschieht, wenn
man nur vor sich selber ein anständiger Mensch bleibt und die eigene
Achtung behält.

Und darum muß sie nun zurückgehen und sich als Entlastungszeugin für
Schwester Emmi melden.

Sie wird am Hafentor ohne weiteres eingelassen, denn der Kapitän selbst
hatte es ja erlaubt. Obgleich sie daran zweifelt, die Herren noch in
Schwester Emmis Zimmer zu treffen, nimmt sie doch ihren Weg zunächst
in das Gebäude der Hafenwirtschaft.

Auf der Treppe begegnet ihr Frau Reiche. Irmgard hat zwar noch nicht
die Bekanntschaft mit der Kantinenwirtin gemacht, aber nach Schwester
Emmis lebhaften Erzählungen ist ihr keine wichtige Person des Hafens
fremd.

Frau Reiche hat rote geschwollene Augen.

»Zu wem wollen Sie?« fragt sie mit harter Stimme.

»Zur Fürsorgeschwester.«

»Da brauchen Sie gar nicht weiterzugehen, die ist fortgegangen«, gibt
die Kantinenwirtin zurück.

»Und der Kapitän ist auch nicht oben?« fragt Irmgard. Das ist eine
gar zu dumme Frage. Was sollte der Kapitän allein in Schwester Emmis
Wohnung? Sie hat durch das verstörte Gesicht und die rauhe Stimme der
Frau ihre Fassung wieder etwas verloren.

»Das Bureau ist drüben. Hier hat der Kapitän noch nie gewohnt.«

Wie Irmgard schon an der Haustür ist, ruft die Frau ihr keifend nach:
»Wird denn gar keine Ruhe im Haus? Kommen schon fremde Weiber hierher
und schnüffeln in den Korridoren?«

Irmgard läßt die Tür entsetzt zufallen und eilt zum Verwaltungsgebäude
hinüber. Die Bureauräume im Erdgeschoß sind schon verdunkelt, nur aus
der Wohnung des Kapitäns dringt Licht. Sie geht kurz entschlossen
hinauf und klingelt an seiner Tür.

Der Kapitän öffnet selbst und ist gar nicht erstaunt, sie
wiederzusehen. An diesem ereignisreichen Tag ist man auf alles gefaßt.

Er fragt, ob sie mit in das Bureau hinuntergehen oder nähertreten
wolle.

Nein, sie möchte ihn nur einen Augenblick sprechen. Er führt sie in
sein Arbeitszimmer.

Da ist der große alte Mahagonischreibtisch, beleuchtet vom runden
Schein einer grünbeschirmten Lampe. Auf einem Stuhl daneben steht der
geöffnete Geigenkasten.

»Ich habe Sie gestört«, sagt Irmgard entschuldigend. »Ich wollte Ihnen
nur einige Worte sagen. Es betrifft Schwester Emmi.«

»Aber wollen Sie nicht ablegen?« sagt er. »Gestört haben Sie mich
nicht. Sehen Sie, ich bin immer allein. Ich wollte mir eben meinen Tee
bereiten. Ich glaube, ich muß mir doch noch eine Wirtschafterin
nehmen.«

Indem er über seine Angelegenheiten plaudert, läßt er ihr Zeit, sich
zu sammeln. Sie kann ihm plötzlich doch nicht mehr grollen, diesem
einsamen Mann mit dem Geigenkasten.

Während sie sich umwendet, um ihr Taschentuch aus dem Mantel zu
nehmen, den er auf den Diwan gelegt hat, schließt er rasch den Kasten
und stellt ihn hinter den Schreibtisch. Dann bietet er ihr den frei
gewordenen Stuhl an.

So, nun wird er wieder kühl, fast geschäftsmäßig. Es scheint
wahrhaftig, als wäre es in seinen Augen eine Schande, wenn ein
Hafendirektor Geige spielt. Er schließt seine Gefühle fest ein und geht
im Zimmer umher, als sei nun alles in Ordnung.

Irmgard bringt ihr Anliegen vor und berichtet von dem Koffer.

»So,« sagt der Kapitän, »der Koffer gehört der Fürsorgeschwester? Das
ist sicherlich noch nicht bekannt. Ich werde es jedenfalls melden. Und
ob wir Sie brauchen, das steht noch nicht fest. Für alle Fälle danke
ich Ihnen.«

Nun wäre Irmgards Mission beendet, aber sie steht nicht auf, um ihn zu
verlassen.

»Wenn der Koffer bis jetzt keine Rolle gespielt hat,« meint sie
unschlüssig, »so brauchen wir das Verfahren damit vielleicht nicht
zu komplizieren. Schwester Emmi hat also anscheinend bisher mit der
Angelegenheit nichts zu tun. Könnte man denn nicht alles beim alten
lassen? Warum sollen wir sie unnötig hineinziehen?«

Sie redet sehr vertraut mit ihm. Sie sagt »wir« und schließt ihn in
eine Partei ein, in die er als Direktor des Hafens wohl nicht gehört.
Das empfindet sie im Augenblick, da sie zu Ende gesprochen hat.

Der Kapitän nimmt auch gleich die richtige Stellung ein.

»Was Sie mir gemeldet haben,« sagt er, »muß ich weitergeben. Das übrige
wollen wir den Gerichten überlassen.«

»Ja,« erwidert sie nicht ohne Vorwurf, aber mit schwachem Lächeln, »Sie
müssen sich schon als neutrale Person in die Mitte stellen. Aber der
Schwester habe ich vielleicht mit meiner nachträglichen Meldung keinen
guten Dienst geleistet.«

»Das können wir nicht wissen. Und warum soll sie ihre Tasche nicht
zurückerhalten? Es ist nur schade, daß Sie vorhin fortgegangen waren,
denn dann hätten wir Widersprüche vermieden.«

»Widersprüche?« fragt Irmgard ängstlich. Sie weiß, daß Frauen in der
Notlage immer zuerst zu einer Lüge greifen. Was mochte also Schwester
Emmi ausgesagt haben?

»Sie meinten vorhin, daß ich mich in die Mitte stelle. Damit haben
Sie recht. In diesem Fall gehöre ich dahin, und ich kann Ihnen nicht
die Erklärungen geben, die Sie vielleicht wünschen. Ihren Besuch
darf ich nicht ungeschehen machen, wenn Sie mir deswegen vielleicht
auch grollen. Sie sehen, wie unrecht es war, vorhin von der Mitte
abzuweichen und Ihnen die Vernehmung zu ersparen.«

»Ach, sind Sie da schon von der Mitte abgewichen?«

Er überhört durchaus nicht die Ironie in ihrer Frage. Sein Gesicht
scheint, soweit es überhaupt Gefühlsregungen verraten kann, traurig und
verfallen.

»Ja,« sagt er, »wir Menschen in der Mitte werden verachtet, weil wir
es keinem recht machen -- weder dem einen noch dem anderen. Wir haben
keine Feinde, aber wir verschaffen uns auch keine Freunde.«

Er erhebt sich und tritt damit aus dem Lichtkreis der Lampe. Dann nimmt
er seine Wanderung im Zimmer wieder auf und spricht weiter:

»Wer fragt danach, ~warum~ es ein Mensch für richtig hält, immer
in der Mitte zu stehen und damit niemand unrecht zu tun? Wir würden
einander viel Ärger und Leiden ersparen, wenn wir uns alle daran halten
wollten.«

Irmgard muß an Joachim Becker denken, der niemals in der Mitte steht,
sondern immer auf der einen Seite, während er der anderen Unrecht
zufügt. Und sie selbst gehört zu der leidenden Partei. Hätte er aber
sonst diesen Hafen gegründet?

»Wohin sollte das führen?« fragt sie den Kapitän. »Wäre dann ein Cäsar
oder ein Napoleon möglich? Und wo blieben ihre ungeheuren Taten?
Ich denke mir, daß jedes große Werk ein Opfer auf der anderen Seite
fordert.«

»Es gibt robuste Naturen, denen es möglich ist, die Konsequenzen
ihrer einseitigen Handlungen zu tragen. Es steht mir fern, sie
zu verurteilen, denn ich sehe ihren Standpunkt ebenso wie den der
Schwachen.«

»Richtig,« sagt Irmgard bitter, die jedes Wort als einen Hieb auf
Joachim Becker empfindet, »Sie dürfen ja nicht nur die Mittelmäßigkeit
verteidigen, Sie haben sich die Aufgabe gestellt, zwischen allen
Parteien zu stehen.«

Sie wird ungerecht, ja, ihre Worte sind fast beleidigend, aber sie
spricht zu einem Mann, der auch ihre Ansicht verstehen muß. Was darf
sie ihm nicht alles sagen! Wird er nicht letzten Endes jedes Wort ruhig
hinnehmen müssen und verständnisvoll verzeihen? Die harten Worte kommen
aus einem schwachen oder starken Gefühl; er aber steht über allen
Schwankungen des Herzens und hat seinen Standpunkt in der Mitte.

»Ach, wie schwer muß es sein, diesem Vorsatz treu zu bleiben!« fügt sie
seufzend hinzu, während sie aufsteht und sich verabschieden will.

Sie hat kein Erbarmen mit diesem einsamen Menschen, der gehetzt im
Zimmer umherrennt und durchaus nicht den Eindruck hervorruft, als seien
seine Empfindungen klar und geebnet.

»Bitte, bleiben Sie noch«, sagt er, ohne seine Wanderung zu
unterbrechen. »Sie wollen mich kränken. Sie sind grausam, und ich
weiß nicht, womit ich mir das verdiente. Haben Sie nicht darüber
nachgedacht, daß das, was Sie die Mittelmäßigkeit nennen, nach schweren
Kämpfen aus Stärke und Schwäche erwachsen kann? Wie viele Ursachen
dürften dafür vorhanden sein! Es gibt Erlebnisse, die das Wesen eines
Menschen von Grund auf verändern. Ich will nicht von mir sprechen, es
liegt mir fern, Sie damit zu langweilen. Aber nehmen wir ein Beispiel
an. Ich will es so wählen, daß auch Sie als Frau es verstehen können:

Ein Mann glaubt, sehr geliebt zu werden. Er selbst -- nun lassen wir
das. Er vertraut ihr und begibt sich auf eine weite Reise. Er fährt
in fremde Erdteile, vielleicht, weil es sein Beruf erfordert oder
weil es ihm Spaß macht. Jedenfalls bleibt er sehr lange fort, und er
hat keinen Grund, seiner Frau zu mißtrauen. Er zweifelt niemals an
ihrer Treue, darum trifft es ihn so unvermittelt, als sie ihm selbst
gesteht, ihn betrogen zu haben. Sie hat keine äußere Ursache, es ihm
zu sagen, ihr Gewissen treibt sie dazu, weil sie innerlich wieder zu
ihm zurückgefunden hat. Der Mann gehört aber nicht zu den Neutralen,
die auch die Schwächen der anderen verstehen. Nein, er sieht nur seine
Seite, das an ihm begangene Unrecht, das getäuschte Vertrauen. Mit
dem Recht des Starken verurteilt er, ja, er ist ohne Gnade, und die
Frau geht ganz verzweifelt fort. Vielleicht wissen Sie, wie grausam
ein Mensch sein kann, wenn er nur sein eigenes Herz schlagen fühlt und
nicht auch das Herz des anderen. Aber dann kommt die Stunde, da sich
plötzlich alles ins Gegenteil verkehrt.«

Der Kapitän bleibt stehen und blickt Irmgard Pohl mit verlorenen
Blicken an. Nein, er sieht nicht das fremde junge Mädchen, das zu ihm
gekommen ist, um ihm seine Geheimnisse zu entlocken, er arbeitet an
seinem »Beispiel«. Und er geht wieder mit gespreiztem Gang im Zimmer
umher, während er die Hände auf dem Rücken fest ineinanderlegt.

»Kaum ist sie fortgegangen, so daß er die Einsamkeit spürt, da sieht
er auch die andere Seite. Er stellt sich wieder nicht in die Mitte,
er springt zum anderen Extrem hinüber. Da beginnt er nun mit der
Verteidigung der jungen Frau, die er selbst dem vielfältigen Leben
schutzlos gegenübergestellt hat. Sie war jung und hat gefehlt, aber
sie macht kein Hehl daraus, sie bekennt offen ihr Unrecht. Wie muß sie
dem Manne vertraut haben, und welche Größe hat sie von ihm erwartet,
da sie seiner Verzeihung so gewiß war. Er aber jagt sie davon. So sind
die Menschen: wie man soeben den anderen verurteilt hat, so richtet
man nun sich selbst. Wir finden keinen guten Weg dazwischen. Er will
sie zurückholen, doch er weiß nicht, wo er sie suchen soll. Und er
irrt eine ganze Nacht am Hafen, an den Fleeten, an jedem Wasser und
auf allen Brücken umher und weiß sich keinen Rat. Am Morgen treibt ihn
seine Verzweiflung in irgendeine Kirche, ihn, der keine Konfessionen
kannte und kein Gebet, nur sein Vertrauen auf die eigene Kraft. Er
bittet irgendeinen Gott, ihm zu helfen. Er legt ein Gelübde ab, eine
Beichte, er faltet die Hände, er kniet, er will allen Religionen
gerecht werden, um den wahren Gott zu finden, der ihm helfen kann.
Aber wie er nach Hause kommt, hat die Frau das Leben weggeworfen, das
sie neu beginnen wollte und das er ihr zerstört hat -- --«

Der Kapitän bricht plötzlich ab, ohne seine Stimme zu senken, als
wollte er etwas hinzufügen. Doch er schweigt. Er rückt ein Bild an der
Wand zurecht, eine afrikanische Landschaft, die mit seiner Erzählung
nichts zu schaffen hat. Man sieht, daß ihn selbst sein Beispiel nichts
angeht, es berührt ihn nicht, er kann sich sogar wieder mit einer
afrikanischen Landschaft beschäftigen, er ist ja der Mann in der Mitte.
Nur, daß er die Schlußfolgerung aus seiner Erzählung nicht mehr gezogen
hat, war ihm dabei entgangen.

Aber das ist nicht nötig. Seine Zuhörerin hat ihn auch so verstanden.
Sie erhebt sich und sagt: »Ja, da will ich jetzt gehen. Verzeihen Sie
mir.«

»Ach, wollen Sie gehen?« fragt er lächelnd. »Nein, ich habe nichts zu
verzeihen. Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater, und wenn es
recht ist, so will ich ihm demnächst meine Aufwartung machen.«

Er begleitet sie bis zur Haustür und dankt ihr für den Besuch.

Irmgard Pohl geht langsam zum Hafentor. Wieviel stürmt auf einen jungen
Menschen ein, der mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird! Soll man
sich nun noch mit den fremden Schicksalen beschäftigen? Sie ist fast
erdrückt unter der Last ihrer Gedanken und Gefühle.

Wie schön war es sonst, in solchen Stunden Schwester Emmi zu begegnen,
die plaudert und mit ihrem erheiternden Lachen alle schweren Gedanken
davonjagt. Eine leichte und sonnige Natur ist viel wert, aber nun kommt
Schwester Emmi kurz vor der Föhrbrücke Irmgard Pohl entgegen, und ihr
Gesicht scheint grau und alt.

»Haben Sie mich gesucht?« fragt sie, während sie bei der Anstrengung zu
einem Lächeln den rechten Mundwinkel herabzieht.

»Ja«, sagt Irmgard, obgleich es nicht ganz den Tatsachen entspricht.
»Wo sind Sie gewesen? Sie sehen elend aus. Warum bleiben Sie nicht zu
Hause?«

»Ach, ich mußte einen wichtigen Besuch machen. Bei einem Herrn Stein
war ich, dem Mann einer früheren Patientin. Aber er hatte heute keine
Zeit für mich, er war eben von der Reise gekommen. Das hätte ich
mir denken können, nicht wahr? Ich weiß nicht, wo ich heute meine
Überlegung habe, ich mache alles verkehrt.«

Irmgard sieht ihr prüfend in die starren Augen. ›Warum erzählt sie mir
das alles mit diesem unheimlichen Gesicht?‹ denkt sie. Nun forscht sie
weiter, um Schwester Emmi Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen und
aus ihrer Erstarrung herauszufinden.

»Was wollten Sie von diesem Herrn Stein? Mußten Sie ihn noch heute
sprechen?«

»Ja«, antwortet die Schwester. »Es mußte sofort sein, obgleich es
schon zu spät ist. Aber vielleicht kann ich ihn doch noch retten.«

»Meinen Sie Herrn Gregor?«

»Ja.«

»Was kann dieser Herr Stein für ihn tun? Handelt es sich um Geld?«

»Ja.«

»Und Sie glauben, daß Sie es von dem Herrn bekommen, wenn Sie abends in
sein Bureau gehen?«

»Er hat es mir nicht direkt abgeschlagen, er meinte, falls ich morgen
abend käme, wenn er Zeit hätte, dann könnten wir in Ruhe darüber
sprechen.«

»Wollen Sie nicht zu mir hinüberkommen? Wir gehen gleich in mein
Zimmer, damit uns niemand stört. Hier können wir nicht stehenbleiben«,
sagt Irmgard Pohl.

Sie nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Schwester beim Arm und
führt sie über die Föhrbrücke zur Mühle.

Unterwegs sagt die Schwester, die vor Kälte zittert: »Es ist so
furchtbar, daß ich morgen noch zu diesem Menschen gehen muß. Aber das
ist die einzige Rettung.«

Im warmen Zimmer bettet Irmgard sie auf den Diwan, und dann beginnt
sie, mit milden und zärtlichen Worten auf sie einzureden. Wenn sie doch
weinen könnte, denkt sie, das wäre gut.

Als das alles nicht hilft, versucht sie es auf eine andere Weise.

»Was haben Sie sich denn gedacht?« sagt sie streng. »Wollen Sie sich an
diesen Herrn Stein verkaufen, um einen Menschen zu retten, der nicht
das geringste Opfer wert ist?«

Die Schwester springt erregt auf. Es ist, als wollte sie davonstürzen,
aber dann wirft sie sich auf die Erde und weint, laut und
leidenschaftlich. Alle Demütigungen, die Angst, die zurückgedrängten
Tränen lösen sich auf in diesem befreienden Schluchzen.

Als sie sich müde geweint hat, bettet Irmgard sie wieder auf den Diwan,
dann geht sie hinunter zu den Eltern.

»Kommst du endlich?« sagt Frau Pohl vorwurfsvoll. Sie ist mit einer
Häkelei beschäftigt, während der Mühlenbesitzer seine Zeitung liest.

Hier sitzen zwei Menschen wie in friedlichem Kreis um einen runden
Tisch und sind nur vom Schicksal ihrer eigenen kleinen Familie
umschlossen.

»Ich habe Schwester Emmi mitgebracht«, sagt Irmgard, während sie ihren
Vater bittend ansieht. »Drüben ist in ihrer Gegenwart ein Angestellter
verhaftet worden. Sie wurde dadurch so erregt, daß ich sie nicht allein
lassen wollte.«

Frau Pohl steht auf.

»Dann will ich euch etwas Abendbrot besorgen«, sagt sie.

Seitdem ihre Tochter in der Mühle eine geregelte Tätigkeit hat, wird
sie von Frau Pohl als selbständiger Mensch behandelt, der sich seine
Gäste mitbringen darf, und der sein Essen zu fordern hat, wenn er das
Haus betritt. Frau Pohl versäumt niemals ihre Pflichten.

Irmgard geht zu ihrem Vater. Sie setzt sich neben ihn auf das Sofa und
lehnt stumm den Kopf an seine Schulter. Der Mühlenbesitzer legt die
Zeitung hin und schließt den Arm um seine Tochter.

So sitzen sie, bis Irmgard die Schritte der Mutter hört. Sollte man
es wohl für möglich halten, daß eine Mutter auf ihre eigene Tochter
eifersüchtig ist?

Wie Irmgard dem mißtrauischen Blick Frau Pohls begegnet, denkt sie, wie
schön es wäre, wenn noch einige Menschen so in der Mitte ständen wie
der Kapitän.

Aber sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie es in vielen Fällen
gutheißen würde.

Als sie in ihr Zimmer hinaufkommt, ist Schwester Emmi nach ganz kurzer
Ruhe erwacht und von neuen Sorgen erfüllt.

»Nun wird man mich entlassen«, sagt sie verzweifelt. »Ich habe zwar
gesagt, daß ich Herrn Gregor heute überhaupt nicht gesehen hätte, aber
Frau Reiche wird dafür sorgen, daß man mich davonjagt.« Die ganze
Trostlosigkeit ihres Wanderlebens liegt wieder vor ihr.

»Nein,« sagt Irmgard, »der Kapitän wird niemals zugeben, daß man Sie
entläßt. Davon dürfen Sie fest überzeugt sein.«

»Haben Sie ihn gesprochen?«

»Ja.«

»Und er hat es Ihnen gesagt?«

»Es war so gut, als hätte er genau das gesagt.«

Und wiederum ist sie froh, daß sie sich auf den Mann in der Mitte
verlassen kann.

Wer könnte dem Kapitän vorwerfen, daß er jemals von diesem Platz
gewichen wäre?

Wenn die Kantinenwirtin bei ihm erscheint und mit sittlicher Entrüstung
meldet, daß sie am frühen Morgen einen Herrn aus dem Zimmer der
Fürsorgeschwester kommen sah, so sagt er nicht: »Dieser Skandal! Ich
werde die Schwester verwarnen oder entlassen.« Aber er fragt auch
nicht: »Warum werden Sie durch diesen Vorgang so erregt? Hätten Sie es
lieber gesehen, wenn der Herr aus einer anderen Tür gegangen wäre?«

Nein, er sagt: »So. Ich werde es in Ordnung bringen.« Dann geht alles
seinen alten Gang, und durch eine Verhaftung ist jede Wiederholung des
beanstandeten Besuches unmöglich geworden, so daß sich das Weitere
erübrigt.

Er macht auch dem Mühlenbesitzer Pohl den versprochenen Besuch, als
habe er keine Ahnung davon, daß die Hafengesellschaft mit ihm einen
Prozeß führe.

»Ich komme mit einer Bitte«, sagt der Kapitän, ohne Herrn Pohl Zeit zu
anderen Erörterungen zu lassen. »Sie haben hier einen großen schönen
Speicher, und wir wissen nicht, wo wir unsere Getreideladungen lassen
sollen. Könnten Sie uns nicht vorübergehend aushelfen?«

»Der Speicher war ursprünglich nur für meinen eigenen Bedarf bestimmt,
aber nun habe ich seit Bestehen des Hafens schon oft ausgeholfen. Es
ist für manchen sehr günstig, sein Getreide bei mir zu lassen.«

»Sie werden doch keinen Unterschied machen?«

»Nein,« sagt Herr Pohl lächelnd, »warum sollte ich meine Prozeßgegner
schlechter behandeln?«

Die Zeit geht über so vieles heilend hinweg, man muß nun über eine
erbitterte Feindschaft lächeln.

»Also können wir einen Vertrag abschließen?« fragt der Kapitän.

»Nein, um Gottes willen keine Verträge. Kommen Sie, wenn Sie meinen
Speicher brauchen, und ich will zusehen, wie ich einem so großen
Unternehmen helfen kann.«

Die beiden Männer verabschieden sich mit einem Händedruck. Während die
Prozeßgegner vor den Gerichten ihre Sache weiter verfechten, schließen
sie daheim friedlich ihre Geschäfte ab. Und das ist keinem anderen zu
verdanken als dem Kapitän, dem Mann in der Mitte.

Oder der Bäckermeister Reiche, Kantinenwirt im Hafen, spricht bei ihm
vor und dreht lange verlegen an seiner Mütze, bis er endlich mit der
Sprache herausrückt.

Also: er halte dieses Leben nicht länger aus, er sei Handwerker und
nicht Schankwirt. Und wenn das nicht bald ein Ende nähme, so wüßte
er nicht, was noch geschehen könnte. Er bittet um die Erlaubnis, das
Recht für die Bewirtschaftung der Kantine mit seinem eigenen geringen
Inventar verkaufen zu dürfen, damit er wieder imstande sei, sich eine
Bäckerei anzuschaffen.

»Was sagt Ihre Frau dazu?« fragt der Kapitän.

»Meine Frau?« wiederholt Herr Reiche, »sie trägt die Zigaretten und das
Essen aus der Kantine in das Untersuchungsgefängnis und verschenkt mein
Geld an fremde Menschen.«

»Sie ist in der Wirtschaft sehr tüchtig, und man scheint allgemein
zufrieden mit ihrer Küche zu sein«, sagt der Kapitän. »Wollen Sie
es nicht auf eine andere Art mit ihr versuchen? Was Ihre Bäckerei
betrifft, so will ich Ihnen natürlich nichts in den Weg stellen.«

Wie Herr Reiche im Vorzimmer an Fräulein Spandau, der stillen
Sekretärin, vorbeikommt, sieht er sehr zufrieden aus, als habe der
Kapitän ihm geholfen. Fräulein Spandau nickt ihm lächelnd zu, sie wird
es zwar sehr bedauern, wenn sie mit ihm nicht mehr jeden Tag um ein Uhr
ein paar Worte wechseln kann, doch sie freut sich in seinem Interesse,
daß er zu seinem Beruf zurückkehren darf.

Fräulein Spandau hat ein blasses flaches Gesicht und dünne aschblonde
Haare, sie ist nicht hübsch, nein, das ist sie nicht. Aber sie
konnte noch nie einem Menschen ihr Mitgefühl versagen. Sie hat sechs
Geschwister und eine kranke Mutter. Wenn sie heimkommt, beginnt sie zu
kochen, zu waschen und zu nähen, und sie ist immer froh, wenn ihr nicht
weniger als fünf Stunden Schlaf verbleiben. Eine geordnete Bäckerei
mit weißgestrichenen Regalen und frischen Broten scheint ihr wie das
Paradies, der zufriedene Bäckermeister mit der großen, weißen Schürze
wie der gute Petrus, auch wenn er Sommersprossen und rote Haare hat.

Wird Reiche nun in das Paradies einziehen? Ach -- an Fräulein Spandau
vorbei geht auch die Kantinenwirtin zum Kapitän, diesmal in eigener
Angelegenheit. Auch sie kehrt befriedigt zurück. Und es bleibt alles
beim alten. Der Kapitän hat seinen Platz in der Mitte nicht verlassen.

Selbst ein Herr Gregor hatte niemals Grund, sich über den anfangs
so gefürchteten Kapitän zu beklagen. Herr Gregor gehörte zur
Generaldirektion und der Kapitän zum Hafen, und so ging jeder seiner
Wege, bis die Verhaftung erfolgte und Herrn Gregors Posten frei wurde.

Warum sollte der junge +Dr.+ Felix Friemann nicht auf diesem Platz
seine guten Kenntnisse erproben? Hatte er sich nicht seit Monaten im
Hafen bewährt? Oder konnte jemand Klagen des Kapitäns nachweisen?

Die Frage war wichtig genug, um einen Besuch des Generaldirektors beim
Kapitän herbeizuführen.

Fräulein Spandau lauscht ängstlich auf die laute Stimme Joachim
Beckers.

»Können Sie mir auch nur ~einen~ praktischen Erfolg nachweisen?«
fragt er erregt.

»Er steht am Anfang«, sagt der Kapitän. »Wir müssen Nachsicht üben.«

»Nachsicht, Nachsicht! Ich brauche praktische Arbeiter. Ich muß
Positives leisten und kann mich nicht mit Theorien abgeben.«

»Seine Ideen sind nicht schlecht«, wendet der Kapitän ein. »Er macht
zuweilen Vorschläge, die bei ihm überraschen.«

»Haben Sie schon ~einen~ davon ausführen können?«

»Nein, das nicht, weil er noch nicht fähig war, über die Idee hinaus
einen Plan auszuarbeiten. Vielleicht lassen wir ihm Zeit dafür.«

»Bitte«, sagt der Generaldirektor kurz. »Dann beantragen Sie seine
Weiterarbeit mit der Begründung, daß er Ihnen unentbehrlich sei.«

So wurde auch diese Frage zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.

Der Kommerzienrat sucht selbst den Kapitän auf, um ihm zu gestehen, wie
sehr er sich über die Erfolge seines Sohnes freue.

Der Kapitän meint: »Ja, er wird sich mit dem Hafen entwickeln können.
Hier bei der praktischen Arbeit findet er am besten den Übergang aus
den Theorien.«

»So ist es«, sagt der Kommerzienrat nun vollkommen befriedigt, weil er
sieht, daß der Kapitän seinen Platz in der Mitte behauptet. »Wir haben
uns früher unsere Ansichten aus der Praxis gebildet, heute ist es wohl
so, daß man mit ihnen hineingeht und versucht, ob sie auch passen.«

Seine Kritik versagt selbst vor dem Sohne nicht, aber er ist geneigt,
den Zeitgeist für das negative Resultat verantwortlich zu machen.




                           Die Vergangenheit


Wenige Wochen nach seinem ersten Besuch ist der Kapitän genötigt, noch
einmal in der Mühle vorzusprechen.

Es handelt sich um eine große und wichtige Getreideladung, die während
unsachgemäßer Lagerung gelitten hat und gereinigt werden soll, ehe sie
weitergeht.

Herr Pohl hat zwar zurzeit wenig Raum. Aber er erklärt sich schließlich
bereit, seine Einrichtungen dafür zur Verfügung zu stellen, wenn der
Kapitän die Arbeit überwachen läßt.

Der Kapitän will selbst von Zeit zu Zeit das Getreide prüfen. So kommt
es, daß er nun oft jenseits des Kanals zu sehen ist.

Wenn er Irmgard Pohl begegnet, so grüßt er sie mit seinem eckigen
Hutschwenken wie einen alten Freund. Sie hat keine Zeit, sich in eine
Unterhaltung mit ihm einzulassen, wenn er im dienstlichen Eifer um
das Bureau der Mühle stapft. Er nimmt ein Lächeln von ihr mit in das
Gebrumm der Maschinen, und sie sagt bei Tisch zum Vater:

»Ich habe den Kapitän eben hier getroffen.«

»Ja«, erwidert er. »Der hat jetzt öfter bei uns zu tun.«

Frau Pohl erkundigt sich nach dem Mann, welche Stellung er im Hafen
bekleide, und -- nach kurzer Pause -- ob er verheiratet sei.

Vater und Tochter wechseln einen raschen Blick. Sie geben ihr Auskunft,
und sie mag daraus entnehmen, daß sie es mit dem ersten und wichtigsten
Mann im Hafen, nach dem Kommerzienrat, zu tun habe, denn Joachim Becker
wird in stillem Einvernehmen nicht erwähnt.

»Siehst du«, sagt Herr Pohl auf dem Weg ins Bureau zu seiner Tochter.
»Die Mutter hat einen Heiratskandidaten für dich.«

»Ja«, sagt Irmgard. »Sie beschäftigt sich jetzt damit. Neulich fragte
sie mich, wie alt ich sei. Sie war lange sehr nachdenklich, als ich es
ihr wahrheitsgemäß gesagt hatte. Es wird immer schwerer, ihre Fragen zu
beantworten.«

Herr Pohl nickt. »Sie möchte, daß du mehr unter junge Leute kommst, und
erklärte sich sogar bereit, Gäste zu bewirten.«

Sie sind vor dem Bureau angekommen. Irmgard macht keine Anstalten, zu
ihm hineinzugehen, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wendet sich halb
zu ihrer Tür, dann sagt sie, ehe sie im Hauptkontor verschwindet:

»Wenn ihr wollt, könnt ihr ja den Kapitän einladen!«

Michael Pohl sieht ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach und geht
mit unzufriedenem Gesicht zu seinem Schreibtisch.

Der Kapitän ist ihm nicht unsympathisch. Seinetwegen war er auch der
Hafengesellschaft entgegengekommen, denn er kann einem guten Menschen
schwer etwas abschlagen, während er sich die schlechten peinlich vom
Halse hält.

Und gern sieht er es nicht mit an, wie die Tochter im Bureau sitzt und
sich daheim überflüssig fühlt.

Der Kapitän wäre ihm als Gesellschafter bei einer guten Zigarre
gleichfalls recht. Aber nun kann er die Einladung verteufelt schwer
anbringen.

Er legt die Hand wuchtig auf den Tisch. Seine Stirn hat sich bedenklich
gerötet.

Zum Kuckuck, soll er seine Tochter jetzt vielleicht öffentlich
ausbieten? Nein, mit ~seiner~ Einladung kommt der Kapitän nicht in
sein Haus. Das ist seine Ansicht, klipp und klar.

Und er begegnet dem Hafendirektor, der ihm bisher wahrhaftig keinen
Anlaß zu Klagen gab, von nun an mit kühlen, fast finsteren Mienen.

Die Arbeiten sind auch beendet, die Abrechnungen erledigt. Der Kapitän
hatte sich mehr als nötig selbst darum bemüht. Nun dürfte er eine Weile
auf der anderen Seite des Kanals bleiben. Herr Pohl atmet erleichtert
auf.

Irmgard Pohl hat selbst eingesehen, daß ihr einige Abwechslung gut
täte. Sie will zunächst einmal in ein Konzert gehen. Der Vater kann
sich noch immer nicht entschließen, seine Frau an den Abenden allein
zu lassen, sonst hätte er sie vielleicht begleitet, wie er es früher
zuweilen tat, bis Joachim Becker ihr ein besserer Gesellschafter wurde.

Er hilft ihr in den Pelz und begleitet sie bis zum Tor. Ihr Gesicht
ist von innen erwärmt, und wie sie nun, hoch und schmal, mit behenden
Schritten von ihm fortgeht, sieht er ihr mit unverhülltem Vaterstolz
nach.

Der Konzertsaal ist nicht sehr weit entfernt. Irmgard nimmt den Weg
als willkommenen Spaziergang. Es ist unvermeidlich, daß sie wieder
Erinnerungen nachhängt, denn sie hatte am Anfang ihrer Bekanntschaft
mit Joachim Becker auch einige Male versucht, ihn für gute Musik zu
interessieren. Er verstand wenig davon, ließ sich aber willig führen,
und dann waren sie taumlig von den Tönen durch die Straßen gesegelt.
Im Frühjahr und im Sommer fanden sie später andere Verwendung für ihre
Abende. Irmgard hatte jedoch schon viele Pläne für den neuen Winter
geschmiedet, der dann so trostlos und einsam verlief.

Bei solchen Träumereien achtet man nicht auf die Umwelt. Der Kapitän,
der ihr entgegenkommt, kann ungesehen umkehren und eine ganze Weile
hinter ihr hergehen.

Vielleicht überlegt er, ob er sie noch ansprechen soll. Er zögert
sehr lange. Das mag an ihrem leichten und wiegenden Gang liegen. Sie
hat nicht sonderlich kleine, aber sehr schmale Füße, die sie in ihrer
Verträumtheit langsam über das bereifte Pflaster führt.

»Werden Ihnen in diesen dünnen Schuhen nicht die Füße erfrieren?«
sagt er schließlich dicht neben ihr, während er die Hand aus der
Manteltasche zieht, um sie nach dieser burschikosen Anrede zu begrüßen.

Er hat sie selbstverständlich sehr erschreckt. Aber sie geht rasch
auf seinen Ton ein und sagt: »Wie hätten Sie die schönen neuen Schuhe
bewundern können, wenn sie in solchen Ungetümen von Überschuhen
steckten?«

Sie mögen beide jetzt zu gleicher Zeit erkennen, daß das der geeignete
Verkehrston für sie ist. Menschen mit Enttäuschungen, die nicht
verbittern wollen, wählen gern den leichten Spott zum Verdecken ihrer
Grundstimmung.

Nun haben sie das richtige Fahrwasser gewonnen und langen in munterer
Unterhaltung vor dem Konzerthaus an. Der Kapitän macht keine Anstalten,
sich zu verabschieden.

Sie sieht ihn belustigt an: »Ja, wollen Sie denn auch hierher?«

»Nein, das heißt ja, jetzt will ich es auch. Sie haben mich auf eine
ausgezeichnete Idee gebracht.«

Sie ist einen Augenblick verlegen und bleibt stehen.

»Ich hoffe doch, Sie wissen, mit wem Sie hier hineingehen, und daß es
für Sie peinlich sein kann?« fragt sie und fühlt, wie ihr die Röte
langsam ins Gesicht steigt.

»Ich weiß, was ich tue«, sagt er fast ärgerlich. »Und ich wüßte mir
keine angenehmere Gesellschaft.« Seine Worte verlieren dabei den Sinn
eines Komplimentes.

»Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht verstimmen wollen. Zuweilen muß
man sich selbst daran erinnern, damit man nicht zu übermütig wird.
Natürlich werden Sie wissen, was Sie zu unternehmen haben, um keinen
Menschen zu kränken.«

»Wovon sprechen Sie, Fräulein Pohl?« fragt er plötzlich sehr streng.

»Wovon?« fragt sie verwirrt. »Von dem, was Sie ebenso wissen wie alle
anderen, die mich kennen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß die
Menschen über das Unangenehme schweigen. Nur das Angenehme behalten sie
für sich. Warum soll ich diskreter sein als die anderen, zumal es sich
hier um mich selbst handelt?«

»Nur mit dem Unterschied, daß Sie heute noch darüber sprechen, während
die anderen längst schweigen. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich
versuche, den Nachbarplatz zu bekommen.«

Sie folgt der Aufforderung wie ein gestraftes Schulmädchen. Als sie
von ihrer Tasche hochblickt und die strengen Falten in seinem Gesicht
bemerkt, muß sie lächeln. Sie weiß keine Erklärung dafür, daß sie sich
auf einmal unsäglich erleichtert fühlt.

Er geht stumm neben ihr her, während sie sich der Billettkasse nähern.
Sie ist ihm so dankbar und möchte ihm irgend etwas Gutes sagen.

Während sie ihn betrachtet, wie er zum Schalter herabgeneigt ist und in
seiner etwas umständlichen Art verhandelt, muß sie daran denken, daß
ihr die Achtung der Menschen doch nicht so gleichgültig ist, wie sie
es sich immer eingeredet hatte. Es ist sehr schön, zu wissen, daß man
trotzdem nicht von ihnen gerichtet wurde.

Der Kapitän kommt zurück. Er hat drei Karten in der Hand.

»Der Nachbarplatz war schon vergeben«, sagt er und blickt unschlüssig
auf die unverwendbare Karte.

»Geben Sie, bitte!« sagt sie. Er läßt sich die Karte aus der Hand
nehmen. Sie steckt sie in ihre Handtasche. »Die hebe ich mir auf zum
Andenken an einen guten Mann.«

»Sie sollten sie lieber einem armen Menschen schenken, der sich keine
Musik leisten kann«, erwidert er, auch jetzt nicht ohne Strenge.

»Mein Gott, Herr Schulmeister, nun könnten Sie wieder etwas
freundlicher sein. Natürlich haben Sie recht.« Sie sieht sich suchend
um.

Er lächelt. »Gehen wir wieder vor den Eingang! Hier haben die Leute
schon das Geld in der Hand.«

An der Tür begegnet ihnen ein junger Mensch mit rotgefrorenen Händen.
Ein armer Musikstudent vielleicht.

Irmgard geht schüchtern auf ihn zu und sagt leise: »Ach verzeihen Sie,
wollen Sie vielleicht ...«

Sie hält ihm die Karte hin. Aber ehe sie ausgesprochen hat, sagt er
barsch: »Danke«, und geht beschleunigt weiter.

Erschreckt zieht sie die Hand zurück und gesellt sich kleinlaut
zum Kapitän. Der hebt die Schultern hoch, wie jemand, der einen
Bubenstreich ausgeheckt hat und nun flüchtet. Er nimmt ihren Arm, und
sie schlüpfen vor die Tür.

»Aber das haben Sie ja ganz verkehrt angefangen«, sagt er draußen mit
seinem aufgeräumten trocknen Lachen. »Der Mann hat natürlich gedacht,
daß er Ihnen die Karte abkaufen soll, und er hat höchstens das Geld für
die Galerie. Soll ich es einmal versuchen?«

»Bitte, wenn Sie es besser verstehen!«

Sie beobachten nun beide die Passanten. Ein paarmal sieht der Kapitän
sie fragend an.

»Sie können doch nicht irgendeinem Mann, der vielleicht zu einem
Rendezvous gehen will, eine Konzertkarte aufschwatzen!« Jetzt lacht sie
ihn aus, weil er es auch nicht geschickter anzufangen weiß.

Zufällig fahren gerade viele Autos vor. Elegante, plaudernde Menschen
gehen in das Tor. Es ist inzwischen spät geworden. Sie müssen eilen, um
den Beginn nicht zu versäumen.

Er gibt es auf. »Ich habe mir das Verschenken wirklich leichter
gedacht«, sagt er resignierend.

Schließlich nimmt sie die Karte wieder an sich, und sie begeben sich
hinein.

»Ach ja, Beethoven kann man immer wieder hören«, sagt eine Frau
sehr laut neben ihnen, als wolle sie sich vor aller Öffentlichkeit
entschuldigen, daß sie noch zu so alter Musik geht.

Die beiden sehen sich belustigt an. Sie sind in der Laune, die alles
mit einem heitern Spott betrachtet.

Aber dann sitzen sie auf ihren Plätzen und werden schon bei den ersten
Tönen, die vom Stimmen der Instrumente in das schwatzende Publikum
fallen, sehr still.

In der Pause gehen sie lange schweigsam auf und ab. Nach diesem
gemeinsamen Erlebnis will ihr neuer Verkehrston doch nicht mehr passen.

Endlich beginnt er das Gespräch damit: »Ja, die Deutschen müssen sich
bei der Musik immer etwas denken. Sie machen sich zu jeder Symphonie
und selbst zu den Walzern einen Text.«

Irmgard, die von den Tönen sehr angeregt wird und noch im tiefen
Nachdenken ist, sagt:

»Sie sprechen von den Deutschen, als gehörten Sie nicht dazu.«

»Verzeihen Sie, ich habe mich nicht korrekt genug ausgedrückt, ich
hätte sagen müssen ›wir‹ Deutschen.«

»Ja, sehen Sie, das klingt schon mehr nach persönlichem Bekenntnis, und
darum vermeiden Sie es.« Sie kann es sich selbst nicht erklären, warum
sie ihm jetzt seine Schwäche vorhalten muß.

»Sie haben recht,« erwidert er, »man gewöhnt sich daran, seine Gefühle
vor den Menschen zu verbergen.«

Sie sehen einander einen Augenblick schweigend an. Da sagt sie
unvermittelt:

»Sie haben eine Geige, und ich würde gern wieder Klavier spielen, wenn
Sie manchmal zur Begleitung herüberkämen.«

Er wird nicht verlegen, wie es sonst seine Art ist, wenn man sein
Steckenpferd erwähnt.

»Ja,« sagt er, »das will ich gern tun. Bestimmen Sie die Stunde!«

Dann beginnt er, ehe sie geantwortet hat, sehr ausführlich davon
zu erzählen, wie andere Völker die Musik auffassen, die Südländer
etwa oder die Chinesen. Am wenigsten könne man als Europäer bei der
Negermusik etwas empfinden.

Sie hört ihm sehr unaufmerksam zu. Er hat einen gleichmäßigen,
einschläfernden Tonfall. Es wäre ihr viel lieber, wenn er jetzt
schwiege.

Sie muß daran denken, daß Joachim Becker sie niemals durch seine
Anwesenheit oder durch überflüssige Worte störte wie dieser gebildete
und rücksichtsvolle Mann, der von der Musik sehr erschüttert ist
und trotzdem so viele Worte macht. Aber sie ist gerecht genug, sich
einzugestehen, daß der ungeliebte Mensch eben nichts zur Zufriedenheit
machen kann, der geliebte aber selbst nach den schlechtesten Handlungen
noch in guter Erinnerung bleibt.

Die Musik läßt sie diese Betrachtungen wieder vergessen. Und am Schluß,
nach dem ernüchternden Handgemenge an der Garderobe, sind sie wieder in
ihrem Fahrwasser. Irmgard wird viel betrachtet, der Kapitän nimmt mit
ironischen Bemerkungen davon Notiz.

Sie hat unwillkürlich das Gefühl, daß sie noch etwas an ihm gutzumachen
habe. Es muß ihr immer erst einfallen, sie ist gewissermaßen mit dem
Verstande und nicht mit dem Herzen gut zu ihm.

»Sie sind sehr weit gereist und haben viele Menschen und Gebräuche
kennengelernt. Auch mein Vater wird sich auf eine Unterhaltung mit
Ihnen freuen. Kommen Sie morgen abend!« sagt sie freundlich.

»Danke, gern.«

»Gegen sieben, zu einem Imbiß?«

»Ja, wie Sie bestimmen. Noch weiß ich nicht, wo ich heute etwas zu
essen bekomme.«

»Mein Gott«, ruft sie erschreckt aus. »Haben Sie heute abend noch nicht
gegessen?«

»Ich wußte doch nicht, daß mir nur Musik vorgesetzt wird«, erwidert er
lächelnd.

»Aber für heute kann ich Sie nicht einladen.«

»Beileibe nicht. Doch wenn Sie mir noch bei einem Abendbrot
Gesellschaft leisten würden ...«

»Nein«, sagt sie entschlossen.

»Das ist sehr schroff. Die jungen Damen sind heute so selbständig, daß
ich nicht glaubte, gegen die guten Sitten zu verstoßen.«

»Gewiß nicht!« erwidert sie. »Frauen, die einen guten Ruf haben,
dürften es vielleicht annehmen, die mit einem schlechten noch eher.
Aber wer sich sein Ansehen zurückerobern muß --«

»Ja, kommen Sie nur, Sie Moralistin!« Er läßt sie den Satz nicht zu
Ende sprechen und begleitet sie unter vielen Erzählungen und Scherzen
nach Haus.

»Im übrigen haben Sie ja Tee zu Haus, und in der Kantine wird auch noch
etwas für Sie zu essen sein«, sagt sie einmal zwischendurch. Er stellt
fest, daß sie sich sehr besorgt mit seinem Hunger beschäftigt, und wird
immer lebhafter.

An der Föhrbrücke verabschieden sie sich. Sie fühlt seinen schmerzhaft
festen Händedruck noch, als sie in das erhellte Wohnzimmer tritt, wo
sie den Vater über der Zeitung antrifft.

Er geht ihr entgegen und hilft ihr beim Ablegen. Es fällt ihr auf, daß
er sehr ernst ist. Sie war auch von ihm mit vielen guten Wünschen und
unter Scherzen entlassen worden. Es scheint ihr, daß alle Menschen
heute gut und heiter waren.

Sie legt daher ihren Arm um seine Schulter und lehnt das heiße Gesicht
an seine Wange.

»Noch mein Kamerad?« fragt sie.

»Ja«, sagt er lächelnd. Er selbst hatte ihr vor kurzem nach einer
tüchtigen Arbeit im Bureau diesen Titel gegeben. Nun bekommt er ihn
zurück.

Er erkundigt sich, ob sie Hunger habe, und macht eine Bewegung zur Tür,
als wolle er sie selbst noch bewirten.

Sie lehnt ab und beginnt zu berichten. Sie habe den Kapitän getroffen.
Er sei auch im Konzert gewesen. Unwillkürlich sagt sie nicht, daß er
ihretwegen mitgekommen sei. Sie überlegt, wovon sie zuerst erzählen
solle, vom Eindruck der Musik, vom Publikum oder vom Kapitän. Sie ist
ungewöhnlich plauderlustig und in einem inneren Gleichgewicht, wie sie
es seit Joachim Beckers Zeit nicht mehr kannte.

Ein Geräusch, das vom Schlafzimmer herüberdringt, läßt sie aufhorchen.

Herr Pohl rückt verlegen auf seinem Sofa.

»Es ist der Junge«, sagt er zögernd. »Wir haben den Arzt schon kommen
lassen. Er hustet und hat leichtes Fieber.«

Irmgard starrt ihn fassungslos an. Hier sitzt sie in ihrem silbergrauen
leichten Kleid, so reizvoll wie seit Jahren nicht, und wird mit dieser
Nachricht empfangen.

Sie ist nicht traurig, sondern fast ärgerlich. Als habe man ihr
rücksichtslos ein Vergnügen verdorben.

»Es wird irgendeine gewöhnliche Kinderkrankheit sein«, meint Herr Pohl
beruhigend.

»Dann werde ich mich umziehen und die Mutter ablösen«, sagt sie still.

»Nein.« Er hält sie auf ihrem Stuhl zurück. »Ich wollte ohnehin in
diesen Tagen mit dir über die Mutter reden. Sie wird jetzt niemand zum
Knaben lassen. Du kennst ihren Eifer.«

Er schweigt und holt dann sehr weit aus: »Wie du weißt, stammt ihr
Vater aus einer Hugenottenfamilie, und dieser Fanatismus mag ihnen von
den Ahnen her im Blute liegen. Wir können nicht dagegen ankämpfen.
Denn durch Widerstand unterstützen wir ihren Wahn. Nun scheint sich
in letzter Zeit ihr Erinnerungsvermögen viel mehr gestärkt zu haben,
als wir ahnen. Ich habe zuweilen das Gefühl, daß sie der Wahrheit
schon sehr nahe ist, aber absichtlich nicht mehr fragt, weil sie sich
fürchtet.«

Irmgard, die immer eine so aufmerksame Zuhörerin war, schweift mit
ihren Gedanken ab und vermag der Rede des Vaters nicht mit Interesse
zu folgen. Die vielfältigen Klänge des Orchesters, sanfte Tonfolgen,
Beethovensche Akkorde mit ihren dunklen Untertönen liegen ihr in den
Ohren. Sie hat Mühe, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben. Es drängt sie,
einherzugehen, leicht, mit schwebendem Rhythmus im Gang.

Sie versteht nicht, warum der Vater gerade heute mit ihr darüber
sprechen muß. Merkt er nicht, daß sie in die »Welt« zurückgekehrt ist,
daß sie endlich, endlich mit der Vergangenheit abschließen will? Großer
Gott, daß sie einmal von Krankheit, Wahn und Kindersorge nichts hören
möchte?

Sie blickt, ein wenig verträumt und gleichzeitig trotzig, in eine Ecke
des Zimmers, am Vater vorbei und sagt, mit einer fremden kühlen Stimme:
»Was soll ich denn tun? Ich kann ja verreisen, wenn du willst. Ja --«

Sie springt auf und geht nun doch im Zimmer umher.

»Reisen! Ich werde mir die Welt ansehen. Du sagtest neulich, der Mensch
muß seine alte Umgebung verlassen, um neu anfangen zu können. Gut, ich
will mir die Welt ansehen!«

Sie hat die Arme auf dem Rücken ineinandergelegt und bleibt plötzlich
vor dem Vater stehen, während der weite silbrige Rock noch um ihre
schmalen Beine schwebt.

»Komm einmal hierher!« sagt Herr Pohl in gutmütig befehlendem Ton
und macht ihr den Sofaplatz an seiner Seite frei. Etwas an seiner
Tochter gefällt ihm nicht. Es ist ein Zuviel in den Bewegungen, eine
Übertreibung im Ton.

Er legt die Hand um ihre abfallenden Hüften und zuckt unwillkürlich vor
der weichen Seide zusammen, die seine Fingerspitzen so unendlich lange
nicht berührten. Wieviel Härte und Strenge, wieviel Entsagung ist doch
immer in seinem Hause gewesen, wo nur die Arbeit regiert. Er zieht die
Finger wieder fort und rückt ein wenig ab.

»Ja,« sagt er langsam, »du bist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und das
ganze Leben liegt noch vor dir. Wir beide, deine Mutter und ich, sind
nun so weit --« Er stockt.

»Nein, nicht erst jetzt«, setzt er mit leichter Bitterkeit fort. »Wir
waren immer so, daß wir nicht uns selbst, sondern den Pflichten lebten.
Man kann auch darin zu Egoisten werden. Man bildet sich ein, für die
anderen, für die Kinder etwa, zu leben, und hat sich rücksichtslos an
die Arbeit gehalten, um den Mangel an Lebensfreude nicht einzugestehen.
Siehst du, darin haben wir an dir gesündigt.«

»Das darfst du von dir nicht sagen, denn du bist immer gut gewesen. Und
mit dir konnte man auch manchmal lustig sein.«

»Manchmal!« wiederholt er. In seinem großen braunen Gesicht mit den
grauen, aufschimmernden Haaren, ist irgend etwas schief gezogen. Er
versucht krampfhaft, es fortzulächeln. »Was ich dir bisher in diesem
Arbeitshof geboten habe, war nicht die Freude.«

»Vater, fast ein Jahr lang bin ich sehr glücklich und jung gewesen. Und
wenn es dann anders kam, so war ich daran schuld.«

»Nein,« erwidert er, »jetzt weiß ich, daß wir schuld sind. Mußtest
du in jener Zeit nicht von zwanzig Jahren ohne Zärtlichkeit und
Lebensfreude erlöst werden und alles einholen, was in dir ungehoben
blieb? Wenn wir ein klares Glas aus kalter Luft in die Wärme tragen,
so wird es blind. Aber bleibt es nicht blank, wenn es das Klima nicht
wechselt? Die Kinder, die Wärme und Heiterkeit in reichem Maße bei den
Eltern haben, werden selten in Gefühlsüberschwang geraten, der die
Grenzen verliert.«

Irmgard lehnt den Kopf gegen das Polster und läßt ungehindert aus den
weitgeöffneten, lächelnden Augen Tränen tropfen.

»Und nun sehe ich mit an, wie du dich um den Knaben quälst. Du wärst
vielleicht so weit, ihn der Mutter allein zu überlassen, weil er ihr
einziger Lebensinhalt ist und du jung und gesund genug wärst, um noch
auf ein eigenes Leben zu hoffen. Erst wenn man von sich selbst nichts
mehr erwartet, versenkt man sich vollkommen in seine Kinder. Aber
da ist dir von uns dieses Pflichtbewußtsein eingeimpft. Du glaubst,
die Achtung vor dir verlieren zu müssen, wenn du dich mit deinen
Muttergefühlen von ihm befreist.«

Er spricht das alles vor sich hin, während sie still neben ihm sitzt.
Jetzt wendet er sich um und blickt offen in ihr tränenüberströmtes
heißes Gesicht.

»Glaubst du,« fragt sie, während sie die Augen langsam schließt, »daß
es nicht unnatürlich wäre, wenn ich, wenn ich --«

»Wenn du lebensfreudig genug wärst, um mit der Vergangenheit
abzuschließen?«

Er versucht, zu lächeln und in leicht scherzendem Ton zu sprechen. »Du
gibst uns das -- das Produkt unserer falschen Erziehung als Tribut
zurück und beginnst, dein junges Leben neu und richtig aufzubauen.
Jetzt wissen wir wohl, wie wir es machen müssen?«

»Ja«, sagt sie leise. »Alle Sorgen werden heute von mir fortgenommen.«

Sie denkt an den Kapitän, an die bewundernden Blicke der fremden
Menschen, an die Musik, die von ferne wieder aufklingt, an ihre eigenen
leichten wiegenden Schritte.

Sie springt auf und gleitet mit den Händen über die weiche Seide ihres
Kleides, während sie sich in der Mitte des Zimmers hinstellt und mit
glänzenden Augen in die Luft blickt.

»Jetzt --« sagt sie, als wäre sie voller Unternehmungslust, »jetzt muß
ich wohl schlafen gehen.«

Herr Pohl steht auch auf und will sie zur Tür begleiten. Da schlingt
sie ihren Arm noch einmal um ihn und eilt davon.

Er lauscht gedankenvoll ihren Schritten. Dann nimmt er langsam die Hand
von der Klinke.

›Wir wissen wohl, wie wir es jetzt machen müssen,‹ denkt er, ›aber wir
haben nicht selbst die Entscheidung --‹

Es ist fast Mitternacht. Aus dem Schlafzimmer dringen keine Geräusche
mehr herüber. Er faltet seine Zeitung zusammen und geht hinein. --




                               Der Sohn


Joachim Becker erscheint am nächsten Morgen im Verwaltungsgebäude, um
mit dem Hafendirektor einiges zu besprechen.

Der Kapitän muß von Fräulein Spandau erst gesucht werden. Der
Generaldirektor geht solange in sein Zimmer, setzt sich vor den
Schreibtisch und kann es sich nicht versagen, in die umherliegenden
Papiere einen Blick zu werfen.

Er ist so vertieft, daß er fast aufschreckt, als das Telephon neben ihm
rasselt. Er nimmt den Hörer ab und murmelt ärgerlich ein »Hallo« in den
Apparat.

»Herr Kapitän?« hört er eine fragende Stimme.

Er weiß nicht sofort, woher ihm dieser Tonfall bekannt ist, aber er ist
irgendwie davon betroffen und verliert so weit seine kühle Überlegung,
daß er möglichst tonlos in der Art des Kapitäns ein »Ja« murmelt.

»Hier Irmgard Pohl«, vernimmt er nun, und es fällt ihm ein, daß er noch
niemals mit ihr telephoniert hat. Ihre Stimme wirkt in der Verwandlung
durch den Draht sehr tief und voll.

Seine Herzschläge werden heftiger und rascher. Er ist ärgerlich
darüber, zumal ihm bewußt wird, daß er jetzt nicht länger hören darf,
was für ihn nicht bestimmt ist.

»Ich muß Sie leider bitten, Herr Kapitän, heute nicht zu kommen. Unser
Michael hat den Keuchhusten. Wir möchten doch vermeiden, daß Sie die
Krankheit etwa zu den Kindern der Schiffer im Hafen bringen --«

Er wirft den Hörer hin und rennt erregt im Zimmer umher.

›Ist es nötig,‹ denkt er, ›daß der Kapitän mehr als das Geschäftliche
drüben erledigt? Was hat er mit der Tochter zu tun? Und was sind das
für Kinderkrankheiten drüben? Wie kommen Kinder in die Mühle?‹

Er wird immer ärgerlicher, weil er hier vor etwas Fremdem steht, vor
einer Tatsache, die so unerwartet über ihn herfällt. Und weil er fühlt,
daß das Vergangene ihn doch nicht so unberührt läßt. Wäre er sonst
dermaßen erregt? Er ist unerklärlicherweise voller Zorn auf den
Kapitän.

Der kommt ahnungslos herein, begrüßt ihn mit dem stets freundlichen
Lächeln im braunen, hageren Gesicht und spricht gleich von den
geschäftlichen Dingen.

Joachim Becker hört unaufmerksam zu. Er ist sehr nervös und muß sich
zusammennehmen, um nicht ungerechte, ärgerliche Bemerkungen zu machen.
Außerdem fürchtet er das erneute Klingeln des Telephons.

Die Sache ist ihm verdammt peinlich. Er sieht ein, daß er nicht
schweigend darüber hinweggehen kann. Schließlich sagt er:

»Übrigens -- ich habe da vorhin eine telephonische Bestellung für Sie
entgegengenommen. Von der Mühle drüben hat jemand angerufen, Sie
möchten nicht hinkommen, es hätte jemand den Keuchhusten --«

Er ärgert sich über das doppelte »jemand«, das ihm zu betont
unpersönlich scheint. Dem Kapitän kann es nicht entgangen sein.

»Das ist ja sehr unangenehm,« meint der Kapitän, »sehr unangenehm.«

»Na, Sie werden sich doch nicht gleich den Keuchhusten holen«, sagt der
Generaldirektor laut, mit übertriebenem Gelächter.

Der Kapitän lächelt höflich. »Nicht für mich natürlich. Ja, das tut mir
sehr leid.«

Joachim Becker erhofft immer noch eine Erklärung. Er kann das Gefühl
nicht loswerden, daß der Kapitän sie ihm absichtlich vorenthält.

»Da drüben sind anscheinend Kinder? Ich dächte doch, daß Erwachsene
keinen Keuchhusten haben?« fragt er endlich.

»Allerdings nicht«, meint der Kapitän lächelnd. »Ja, ein Sohn ist da.
Ein Knabe, von etwa zwei Jahren glaube ich.«

»So --« Der Generaldirektor fühlt, daß seine Ohren brennen und wendet
sich halb ab. In seiner Verlegenheit zieht er die Uhr und sucht seine
Aktentasche, um in sein Stadtbureau zurückzukehren.

Obgleich das konziliante Lächeln im verschlossenen Gesicht des Kapitäns
ihn bis zum Äußersten reizt, gibt er ihm sehr liebenswürdig zum
Abschied die Hand.

»Ja, was mir eben einfällt«, sagt er an der Tür. »War die alte Frau
Pohl drüben nicht gelähmt?«

»Ich hörte auch einmal davon«, erwidert der Kapitän. »Soviel ich weiß,
ist sie jetzt gesund.«

»Soso, das ist ja sehr erfreulich.« Er geht mit langen Schritten, ohne
sich umzusehen, zu seinem Wagen.

Unterwegs rückt er auf den Polstern hin und her. Plötzlich lacht er
nervös auf.

Der Chauffeur macht eine kleine Bewegung, als fühle er sich angerufen,
fährt aber in steifer Haltung weiter.

›Zum Teufel!‹ denkt der Generaldirektor, ›was ist das für eine
verrückte Geschichte! Ich könnte doch wahrhaftig fast den Kerl da vorn
fragen, ob es möglich ist, daß ein altes Weib von beinahe fünfzig
Jahren, das lange Zeit gelähmt und wahnsinnig war, noch Kinder kriegen
kann.‹

Und dann rechnet er und überlegt, ob in seiner Umgebung nicht ein
einziger Mensch ist, der es ihm gesagt haben könnte, wenn dieser Junge
wirklich -- Er stellt fest, daß er ganz allein ist und daß alle, denen
es etwa bekannt war, gerade ihm gegenüber diskret schweigen mußten.

Auch der Kapitän ist mit dem Gespräch nicht zufrieden. Er kann nur
annehmen, daß Irmgard Pohl ihm selbst die Mitteilung machen wollte.
Und nun sollte sie mit dem gesprochen haben, den sie gerade jetzt zu
vergessen im Begriff ist?

Während er nervös umherläuft und überlegt, was er zu unternehmen habe,
vergißt er sogar, daß er nun um den Besuch gebracht wird. Er war hier
in heiterer Stimmung spazierengegangen und hatte sich darauf gefreut.

Da liegen seine Papiere und warten auf ihn. Er hat im Grunde keine
Zeit, sich während des Dienstes mit persönlichen Dingen abzugeben. Aber
er nimmt langsam den schief eingehängten Hörer ab und läßt sich mit
Irmgard Pohl verbinden.

Sie meldet sich von der Wohnung aus, und er glaubt zu entnehmen, daß
sie in Ungeduld sei.

»Hier v. Hollmann«, sagt er so laut, daß seine heisere Stimme mehr
Klang bekommt. Wenn er telephoniert, so ist es auch immer, als riefe er
gegen einen mächtigen Sturm, der ihm die Verständigung erschwert.

Irmgard Pohl scheint im ersten Augenblick nicht zu wissen, mit wem sie
es zu tun hat, denn sie kannte ihn immer nur als den »Kapitän«. Dann
begrüßt sie ihn sehr herzlich und bedauert, daß die Verbindung vorhin
gestört worden sei.

Ja, das bedaure er auch sehr lebhaft, noch mehr jedoch die Mitteilung
von der Erkrankung des Knaben.

So, nun ist er im Bilde. Er atmet erleichtert auf. Aber blitzschnell
fährt es ihm doch durch den Kopf, während er sich nach Fräulein Pohls
Befinden erkundigt, daß der Generaldirektor aus irgendwelchen Gründen
eine Täuschung beging.

Noch weiß er nicht, ob zu persönlichen oder geschäftlichen Zwecken.
Jedenfalls findet er, daß es nicht leicht ist, diesem Mann gegenüber
immer gerecht zu bleiben.

Irmgard nimmt alle guten Wünsche des Kapitäns entgegen und vertröstet
ihn mit ihrer Musikstunde auf spätere Wochen. --

Es ist nicht mehr viel von der gestrigen heiteren und leichten Stimmung
in ihr. Und wenn zuweilen noch einige Harmonien in ihr Ohr klingen, so
werden sie bald von dem furchtbaren Stickhusten des kleinen Kranken
zerstört.

Frau Pohl, die während der ganzen Nacht in ihrer Angst nicht schlafen
konnte, hat sich nun hinlegen müssen und der Tochter die Pflege des
Kindes nicht ohne Sorge überlassen.

Irmgard nimmt bei jedem Anfall den kleinen zuckenden Körper in ihre
Arme, und die Tränen schießen ihr in die Augen, wenn sie diese Qual
miterlebt.

Seine hellblonden geringelten Haare kleben naß auf dem Kopf, das
Gesicht ist rot und verquollen. Er hat nun das Alter erreicht, in
dem jedes Kind Freude bereitet. Fest und drollig trippelte er auf
seinen stämmigen Beinchen umher, seine Stimme war hell, die Aussprache
eigenwillig und ein steter Anlaß zu Belustigungen.

Noch nie ist so viel in der Familie Pohl gelacht worden wie in den
letzten Monaten, während sich sein Sprachtalent entwickelte.

Irmgard glaubt, daß sie diesen reizenden, munteren Burschen keineswegs
weniger lieben würde, wenn er ihr Bruder oder gar ein fremdes Kind
wäre. Daß er von offener und heiterer Art ist, kann ihm in diesem Alter
schon nachgesagt werden. Wer sollte wohl solch einen Knaben, der
außerdem schön und anschmiegsam ist, nicht in sein Herz schließen?

Man kann nicht übersehen, daß er nach Michael Pohl geraten ist. Nun,
da sein Kopf durch das Fieber breiter scheint und die Augen tiefer in
die Höhlen gesunken sind, tritt die Ähnlichkeit noch markanter hervor.
Irmgard denkt, wenn es wahr sei, daß die Gefühle der Mutter Einfluß auf
die Entwicklung der Kinder gewönnen, so wäre hier ein Beweis dafür,
denn sie hatte in jener Zeit fast mehr um den Vater als um Joachim
Becker gelitten.

Nur der schmale Mund, die Unduldsamkeit und der herrische Ton in der
hellen, lauten Stimme mochten von ihm herrühren. Noch lieben sie alle
diese Eigenschaften an ihm und freuen sich ihres kleinen Tyrannen.

Jetzt aber liegt er still in den Kissen, sein Atem geht pfeifend und
hastig, und wenn er hochgehoben wird, so schlingt er seine Arme fest um
Irmgards Hals und preßt das zerquälte heiße Gesicht gegen ihre Wange.

Irmgard ist zu gesund und vernünftig, um auf den Gedanken zu kommen,
daß der Knabe nun so leiden müsse, weil sie gestern im Begriff war, ihn
aufzugeben, oder weil es sie im letzten Jahr immer weniger schmerzte,
wenn die Mutter ihn allein für sich in Anspruch nahm.

Doch sie hat keine Sehnsucht mehr nach der »Welt«, sie nimmt es als
eine Mahnung hin, daß trotz allem in diesem Hause der Pflichterfüllung
ihr Platz sei. Sie weiß wieder, daß sie im Grunde eine ernste und
arbeitsame Natur ist, die nur zuweilen feiertäglich beschwingt und
gelöst sein will. In der Erinnerung an diesen Abend der Klänge und
der Heiterkeit erkennt sie gleichzeitig, daß sie solcher Stunden auch
bedarf, um nicht wie die Mutter über ihrem Tagewerk zu erkalten.

Sie beschließt, sobald der Knabe wieder gesund sei -- der Gedanke an
eine ernstliche Gefahr liegt ihr vollkommen fern --, den Kapitän zu
bitten, daß er sie wieder in ein Konzert oder Theater begleite. --

Als die Krankheit des Kindes sich steigerte und heftigere Formen
gewann, ließ Schwester Emmi es sich nicht nehmen, zu Herrn Pohl in
das Bureau hinüberzugehen, um dort einige Ratschläge aus ihrer Praxis
niederzulegen. In die Wohnung wollte sie sich »ihrer Kinder wegen«
nicht begeben, so gern sie persönlich geholfen hätte.

Herr Pohl drückt ihr immer wieder die Hand. Er läuft in diesen Tagen
unruhig und mit vielen Umwegen in seinem Betriebe umher und kann nicht
still in seinem Schreibtischsessel sitzen. Nun schreibt er alles
getreulich auf, was Schwester Emmi ihm diktiert, und sagt kaum ein
Wort.

Das wäre wohl das letzte, daß er diesen kleinen Kerl verlieren sollte,
den er allmählich ohne viel Aufhebens in sein altes, viel getäuschtes
Herz aufnahm.

Er begleitet Schwester Emmi bis vor die Tür und gibt beim Abschied ihre
kleine feste Hand langsam frei. Wie er durch den dunklen Korridor zu
seinem Zimmer zurückgeht, stützt er sich ein paarmal mit der Handfläche
schwer gegen die Wand. --

Vor der Kantine begegnet Schwester Emmi dem Generaldirektor. Sie
will ihm flink ausweichen, aber er tritt ihr entgegen und sagt sehr
ungehalten:

»Ich sehe, Sie verlassen hier Ihren Platz!«

Sie glaubt, daß er sah, woher sie kam, und greift rasch zu einer Lüge.

»Ich hatte nur in der Mühle für die Verwaltung etwas auszurichten«,
stammelt sie.

»So. Sie von der Fürsorge hätten am wenigsten Ursache, die ansteckende
Krankheit von drüben hierher zu verschleppen. Oder ist die Gefahr
vorüber?« fügt er etwas milder hinzu.

Es fällt ihr ein, daß es sich doch eigentlich um seinen eigenen Sohn
handele und daß die Besorgnis ihr vor dem Generaldirektor zur Ehre
gereichen müsse. Sie antwortet daher mit betrübtem Blick:

»Leider nein. Es steht sehr schlimm.«

Unwillkürlich sieht sie dabei verlegen zu Boden, und da sie in
Anwesenheit von Vorgesetzten immer ein wenig verwirrt ist, zieht ein
roter Schein über ihr kleines Gesicht.

Der Generaldirektor ist seit dem Telephongespräch in dieser
Angelegenheit mißtrauisch geworden. Er vermutet überall Mitwisser,
hämischen Klatsch. Im übrigen aber hofft er noch, daß seine
wahnwitzige Hypothese falsch sein könne. Er bringt sich selbst in
schiefe Situationen, um endlich aus der scheußlichen Ungewißheit
herauszukommen. Vielleicht hat er zage vermutet, bei diesem Gespräch,
das zu einer glatten Zurechtweisung der armen Fürsorgeschwester wurde,
etwas zu erfahren.

Ärgerlich wendet er sich ab und geht in das Verwaltungsgebäude.

Am Schluß der geschäftlichen Besprechung mit dem Kapitän sagt er:

»Ich sah vorhin die Fürsorgeschwester von der Mühle kommen. Was hat
gerade sie dort zu suchen, wo die ansteckende Krankheit ist? Hatten Sie
keinen anderen Boten?«

Es verstimmt ihn, daß er nicht sofort davon sprach, sondern nervös
während der geschäftlichen Auseinandersetzung die geschickteste
Formulierung suchte. Seine Worte klingen daher schroffer, als es in
seiner Absicht lag.

Der Kapitän ist nicht geneigt, sich von einem Vorwurf, zu dem keine
Veranlassung vorliegt, auf Kosten eines Angestellten zu befreien.
Außerdem weiß er nun, worauf Joachim Becker hinauswill.

»Ja,« meint er leichthin, während er mit den Händen auf dem Rücken in
die Mitte des Raumes stelzt, »sie ist drüben bekannt, die Schwester
Emmi. Sie hat seinerzeit Fräulein Pohl gepflegt. Übrigens haben Sie
wohl auch nicht gewußt, daß sie eigentlich gelernte Säuglingsschwester
ist?«

»Nein«, sagt der Generaldirektor verdutzt. Nun hat er seine Gewißheit.
Auf so viel Aufklärung war er nicht einmal gefaßt. »Sie macht doch
ihre Sache bei unserer Fürsorge ganz gut?« bringt er, immer noch sehr
barsch, hervor.

»Allerdings, ausgezeichnet«, erwidert der Kapitän, der nun seine
Stiefelspitzen beguckt. »Die Kenntnisse schaden durchaus nicht. Warum
sollen sie nicht auch hier im Hafen noch zu verwerten sein?«

Er lacht wie über einen Witz. Der Generaldirektor nimmt es als eine
geschmacklose Anspielung und verabschiedet sich zum erstenmal von
diesem korrekten Mitarbeiter, ohne ihm die Hand zu reichen. -- -- --

Eines Nachts, nachdem Frau Pohl in ununterbrochener Pflege um das Leben
des kleinen Kranken gekämpft hat, wird sie wieder von dieser Vision
erschreckt: ein Kind, noch unausgeprägt in seinen Formen, vielleicht
erst wenige Tage alt, liegt ohne Atem in ihrem Arm; sie lauscht, tastet
und kann die Starrheit des winzigen Körpers mit ihrer eigenen Wärme
nicht lösen.

Unmittelbar anschließend erscheint ihr dann diese beängstigende
Barriere, die undurchdringliche Wand vor dem Abgrund in ihrer
Erinnerung.

Sie weiß nichts mit diesem Bild zu beginnen, denn da liegt ihr Kind
mit den Zügen Michael Pohls, und es fehlt ihr jede Ordnung in ihrem
Gedächtnis.

Sie beugt sich zu dem Knaben herab und lauscht, dicht am fiebernden
Körper, seinem geschwächten Herzschlag. Periodisch wiederkehrende
Erstickungsanfälle, wohl vierzig an diesem Tag, haben den kleinen
Organismus vollkommen erschüttert.

Frau Pohl starrt mit ihren heißen, fanatischen Augen angespannt auf die
Uhr. Sie hat sich die Zeit für den nächsten Anfall ausgerechnet. Die
Sekunden schleichen. Aber der Zeiger rührt sich, rückt fürchterlich
vorwärts.

Das Brausen und Feilen des Blutes in ihrem Kopf, die gleichmäßigen
Atemzüge ihres Mannes, der -- hilfsbereit -- angekleidet auf seinem
Bett liegt, das Ticken der Uhr scheinen ihr lärmende Geräusche in der
nächtlichen Stille.

Der Knabe wirft sich herum. Frau Pohl umklammert das Gitter des Bettes,
vornübergebeugt, atemlos.

Den Körper gestrafft, jedes Gefühl, jeden Gedanken ausgeschaltet, alle
Kräfte im wartenden Blick, im Lauschen des Ohrs gesammelt, so verharrt
sie ohne Gefühl für Zeit und Raum.

Sie nimmt wahr, wie die Atemzüge allmählich reiner und gemäßigter
werden, wie der Körper sich beruhigt, wie die fiebernde Röte schwindet.

Unvermittelt entsinnt sie sich der Uhr. Überschreitet der Zeiger nun
die Zahl, ohne daß die Stille von jenem grauenhaften Bellen und Stöhnen
des Kindes gestört wird?

Sie wendet ihr Gesicht zum Zifferblatt. Es verschwimmt, grau, mit einem
tanzenden Zahlenkreis, vor ihrem Blick. Sie hebt die Hände über die
Augen und starrt fassungslos auf die Uhr. Zwei Stunden sind vergangen,
zwei Stunden war ihr eigenes Dasein ausgeschaltet, zwei Stunden bereits
beginnt der Knabe zu genesen.

Sie preßt die Zähne gegen ihren Handrücken, um nicht vor Freude zu
schreien. Sie weint lautlos, mit krampfhaft unterdrücktem Schluchzen,
während sie in der Mitte des Zimmers steht, hager, abgezehrt, mit ihrem
glühenden, eingefallenen Gesicht.

Dann setzt sie sich auf den Stuhl neben das Kinderbett und schläft
augenblicklich ein, die Hände im Schoß, den Kopf zur Seite geneigt, die
rissigen Lippen leicht geöffnet. --

Im Morgengrauen erwacht Michael Pohl. Die Kleider kleben an seinem
Körper. Die Glieder sind schwer, ohne Gefühl.

Ein schwaches, leise stöhnendes Husten läßt ihn erschreckt hochfahren.
Mit stechendem Schmerz fühlt er das Blut von der raschen Bewegung in
den Schläfen aufwallen und verebben.

Er geht zum Kinderbett hinüber. Auch Frau Pohl ist von dem Geräusch
schreckhaft erwacht. Sie beugt sich über den Knaben und hebt das
Gesicht zu ihrem Mann wieder auf.

»Er hat im Schlaf gehustet«, flüstert sie, mit einem weichen Lächeln im
ausgeruhten Gesicht.

Ihre Blicke haften ineinander, sekundenlang. Michael Pohl berührt
sachte ihre Schultern. Da fährt sie zusammen.

»Wieder habe ich es gesehen«, flüstert sie ängstlich. »Jetzt, in diesem
Augenblick, ganz deutlich.«

Er löscht das Licht und führt sie in das Nebenzimmer. Blaugraue
nebelverhüllte Morgenluft ist hinter den Fenstern.

Während Frau Pohl starr geradeaus blickt, beginnt er, sie vorsichtig
auszufragen.

Sie erzählt von der Vision.

»Ja,« sagt er, den Blick ruhig, zwingend auf ihre Augen gerichtet, »das
war dein Sohn! Und der Knabe nebenan, den du dir heute nacht ins Leben
zurückgerettet hast, ist Irmgards Sohn. Aber nun gehört er dir, als
wäre er dein eigener.«

Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Steif wendet sie ihn dem Fenster zu
und starrt wieder in ihre Erinnerung zurück.

»Wie lange war ich krank?« fragt sie mühselig, tonlos.

»Fünf Jahre.«

»Fünf Jahre ...« wiederholt sie langsam.

Michael Pohl nimmt ihre kalten, zuckenden Hände auf.

»Alles,« flüstert sie hastig, »alles mußt du mir erzählen!«

Und er berichtet langsam, was sie zunächst zu fassen vermag, bis
mählich ihre Augen ruhig werden und sie alle Zusammenhänge erkennt.

Sie äußert sich nicht. Sie lehnt stumm den Kopf an seine Schulter und
schließt die Augen.

Er streicht zärtlich über ihre stumpfen braunen Haare mit den grauen
Streifen und atmet leichter, befreit. Ob jetzt das Leben auch für sie
beide noch einmal beginnt? -- -- --

Nun weiß Joachim Becker, welche Bewandtnis es mit dem Knaben in der
Mühle hat, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Laufen nicht genug
Kinder in der Welt umher, die von ihren Vätern niemals gesehen wurden,
ja, von deren Existenz die Erzeuger keine Ahnung haben? Es wäre
wirklich keine Ursache, diese Angelegenheit allzu wichtig zu nehmen.

Aber daß er gerade jetzt auch von der Krankheit erfahren mußte,
kompliziert den Fall. Schließlich ist er ein fühlender Mensch, und
wenn jemand schwer darniederliegt, kann er ihm seine Teilnahme nicht
versagen. Er malt sich aus, was der Verlust für Irmgard Pohl bedeuten
müßte, denn an ein Kind von fast zwei Jahren hat man sich immerhin
gewöhnt. Schon aus diesem Grunde hätte er gern gewußt, wie es mit dem
Knaben steht.

Er findet eine geschäftliche Angelegenheit, die sofort mit dem
Kapitän besprochen werden kann. Also fährt er wieder in den Hafen
und sieht sich dort gelegentlich auch nach Schwester Emmi um. Man
könnte ihr heute ein freundliches Wort geben, obgleich ihm der Gedanke
nicht angenehm ist, daß sie recht viel von seinen rein privaten
Angelegenheiten weiß.

Schwester Emmi wird ihn wohl rechtzeitig erspäht haben. Sie läuft nicht
ein zweites Mal blind in Ungelegenheiten hinein. Aber der Kapitän ist
da, freundlich und höflich wie immer. Joachim Becker sieht ein, daß er
ihm neulich Unrecht getan hat.

Er drückt ihm kräftig die Hand und bietet ihm von seinen Zigaretten an,
während sie sich über die Fortschritte am Bau ihres Getreidespeichers
unterhalten.

»Nun werden wir es bald nicht mehr nötig haben, unser Getreide drüben
einzulagern.«

»Wie steht es übrigens jetzt mit der Ansteckungsgefahr? Es wäre mir
sehr peinlich, wenn einer der Schiffer, die hier im Winterlager sind,
dadurch mit seinen Kindern Sorgen bekäme«, meint der Generaldirektor
bei dieser Gelegenheit. Es gelingt ihm der beabsichtigte leichte Ton.

Vielleicht ist der Kapitän der Ansicht, daß die Sorge um die Kinder
der Schiffer erst an zweiter Stelle käme. Er rückt ein wenig an seinem
Stuhl und erwidert:

»Wie solche Krankheiten manchmal verschleppt werden können, ist
nicht abzusehen. Ich habe mich gestern telephonisch erkundigt und
die betrübliche Nachricht erhalten, daß der Junge in größter Gefahr
schwebt. Ob die Krisis jetzt überwunden ist, weiß ich nicht.«

Wenn er mehr Erbarmen mit Joachim Becker hätte, der so vortrefflich
seine Vatergefühle verbirgt, dann würde er vielleicht seiner Sekretärin
Auftrag gegeben haben, anzufragen, wie es jetzt »drüben« steht. Der
Generaldirektor hätte eine beruhigende Nachricht mitnehmen können, wenn
sie auch sonst ohne Wert für ihn wäre. Doch der Kapitän unternimmt
nicht mehr, als für einen neutralen Mann nötig ist.

Joachim Becker drückt sein Bedauern über den traurigen Fall aus und
wendet sich wieder den geschäftlichen Dingen zu.

Nachdem er sich verabschiedet hat, läßt der Kapitän sich sofort mit
Irmgard Pohl verbinden, um seinerseits Gewißheit zu gewinnen.

»So, das ist ja ausgezeichnet, ausgezeichnet!« antwortet er auf die
gute Auskunft hin. Er beugt sich in seinem Stuhl vor, den Arm mit dem
Hörer aufgestützt, als wolle er sich noch lange in dieser angenehmen
Weise unterhalten.

»Da gratuliere ich uns allen!« ruft er hinterher.

»Ja, mir auch«, antwortet er auf Irmgards Frage, »denn ich habe doch
die Einladung nicht vergessen.«

Er plaudert im gleichen angeregten Ton weiter: Gewiß, eine Woche würde
er sich gern gedulden, auch etwas länger, wenn es sein müßte.

Dann richtet er sich plötzlich auf. Seine Stimme wird noch lauter, weil
er den Ton sehr tief aus der Kehle holen muß.

Wie? Verreisen? Wie lange? Ein ganzes Jahr? In die Schweiz? Er habe
doch recht gehört: sie selbst? Ja, dann wünsche er alles Gute. Ach,
in ein paar Wochen erst? Gewiß, dann hätte er noch Gelegenheit, sich
persönlich zu verabschieden. Demnach also auf Wiedersehen! Und eine
Empfehlung an die Eltern!

Er legt den Hörer langsam hin. Sein schmales kantiges Gesicht mit den
vielen Falten in der braunen, trocknen Haut sieht nicht befreiter aus
als das Joachim Beckers, der vor wenigen Minuten diesen Raum verließ.

Aber auch diese Woche vergeht, und er begibt sich eines Abends gegen
sieben Uhr auf den kurzen Weg zum Nachbarn. Seine Geige ist natürlich
zu Hause geblieben, denn nun hat es ja keinen Zweck, damit zu beginnen.

Frau Pohl lernt er noch immer nicht kennen, weil sie der
Luftveränderung wegen mit dem Knaben verreist ist. Das sei ein gutes
Mittel gegen diese Krankheit, meinte Irmgard Pohl am Vormittag,
gelegentlich der telephonisch ausgesprochenen Einladung. Damit wäre
übrigens auch die Ansteckungsgefahr für »seine Kinder« beseitigt.

Er wird von Vater und Tochter sehr liebenswürdig empfangen. Sie
essen gemeinsam, und der Kapitän bestreitet hauptsächlich die Kosten
der Unterhaltung. Das kann nicht schwer für ihn sein, da er soviel
auf seinen weiten Reisen erlebte. Auch von der Schweiz erzählt er.
Vielleicht dürfe er ihr für die Reise einige Ratschläge geben.

»Ach, stellen Sie sich meine Reise nur nicht als eine wechselvolle
Vergnügungsfahrt vor, wie sie sich für einen Mann gestalten mag!« sagt
Irmgard Pohl lachend. »Wir haben an ein Institut geschrieben, wo ich
mich ein Jahr lang in praktischen Dingen und in Sprachen üben und mit
jungen Menschen etwas Sport treiben kann. Der Vater findet, daß ich
hier zu wenig Bewegung habe und daß er zu alt für mich sei.«

»Ja, das ist wahr,« meint Herr Pohl, »Jugend gehört zu Jugend. Wir
haben es uns reiflich überlegt. Und so wird es das Beste für alle
sein.«

»Da haben Sie recht«, bestätigt der Kapitän. »Da haben Sie vollkommen
recht.«

Dann wird er etwas einsilbig. Das Essen ist abgeräumt. Sie sitzen um
den runden Tisch, Herr Pohl in seiner Sofaecke, und Irmgard findet es
an der Zeit, mit Wein und Gebäck aufzuwarten.

Herr Pohl sagt: »Wir wollen auf das Wohl unserer beiden
Familienmitglieder anstoßen, die heute nicht bei uns sind.«

Er sieht fast unternehmungslustig aus und läßt es sich nicht nehmen,
von den »beiden« zu erzählen. Er habe sie gestern zu seinem jüngeren
Bruder, dem Arzt, aufs Land gebracht. Da hätten sie die nötige
Luftveränderung und ständige Pflege.

»Und Ihre Tochter wollen Sie auch noch fortschicken?« Der Kapitän
scheint mit so viel Veränderungen in der Familie wenig zufrieden zu
sein.

»Erst müssen die beiden zurückkommen«, meint Irmgard Pohl einlenkend.
»Das kann drei bis vier Wochen dauern. Ich werde wohl erst im April
fahren.«

»So, im April«, meint der Kapitän. »Das sind ja fast zwei Monate bis
dahin.«

Er wird wieder aufgeräumter. Zum Schluß ist es noch ein freundlicher
und angenehmer Abend.

Herr Pohl begleitet seinen Gast ziemlich spät bis zum Tor hinter der
Mühle und sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen festen
steifen Schritten zu seiner einsamen Wohnung im riesengroßen dunklen
Verwaltungsgebäude hinüberstapft.




                               Das Brot


Nun ist auch der Tag gekommen, an dem der fertige Getreidespeicher
seiner Bestimmung übergeben werden kann.

Das zweite Hafenbecken ist vollendet, und die gewaltigen Konturen des
Speichers zeichnen sich auf seinem neuen Wasserspiegel ab.

Der erste Kahn mit einer russischen Getreideladung wird hereingelassen,
und das ist ein großer und erhebender Augenblick.

Sogar Kommerzienrat Friemann erschien, um diesem Vorgang beizuwohnen,
der die ersprießliche Zusammenarbeit seiner Firma mit dem Hafen
einleitet. Auch der Generaldirektor nahm sich die Zeit, die er diesem
Entwicklungsstadium seines Hafens schuldig ist.

Er stellt sich zu den Ingenieuren, die nun ihre Arbeit zu übergeben
haben, und freut sich ihres Eifers.

Bodenmeister Ulrich steht neben dem Kapitän. Er hat die Augen fest
auf das Hebelbrett der Antriebsmotoren gerichtet, das er von nun an
bedienen wird. Heute übernehmen es noch die Ingenieure.

Die langen Schläuche der Saugförderanlage werden in den Kahn
hinabgelassen, die Maschinen beginnen zu rattern.

Auch Herr Karcher ist herbeigekommen, um ehrfürchtig das fertige Werk
der Technik zu bestaunen. Er stellt sich in der Nähe Schwester Emmis
auf, die von Felix Friemann in ein Gespräch gezogen wird. Es ist wieder
Frühling, und Schwester Emmi hat ein frischgewaschenes, hellblau
gestreiftes Kleid an, dazu eine blendend weiße Latzschürze, die sich
über dem Busen zierlich wölbt.

»Es fängt an«, ruft sie aus. Sie ist die erste, die in den Speicher
eilt. Da steht schon der Bäckermeister Reiche und betrachtet die
ankommenden Getreidekörner mit feuchten Augen. Sie fallen in schmaler
Reihe aus den Rohren auf den Boden des Speichers herab und bilden
niedrige Häufchen, von einer Staubwolke umwogt.

Aber seht, wie sie wachsen! Als der Kommerzienrat mit Joachim Becker
und dem Kapitän hinzutritt, sind es richtige Hügel geworden, die sich
in der Höhe und Breite vergrößern. Und wer Geduld hat zu warten,
kann es erleben, wie der Speicher sich füllt, wie es an den Wänden
hochklettert und die Räume überschwemmt. Nun sieht man keinen Fußboden
mehr, die Flut der kleinen prallen Körner wächst an den eisernen
Pfosten hoch, die den Raum wie Säulengänge teilen, sie steigt bis zu
den Fenstern hinauf, die dicht unter der Decke liegen, sie ist schwer
und reif wie ein fruchtbarer Segen im neuen Haus.

»Wir wollen uns auch das Becherwerk und die Bandförderung ansehen«,
sagt der Kommerzienrat. Er hat einst das Getreide kiloweise verhandelt,
und hier ist nun sein Getreidespeicher, der über 30000 Tonnen loses
Getreide faßt.

Sie gehen zu den blitzschnell eilenden Bändern, die das Getreide
davontragen und verteilen. Während die Motoren surren, eilen die Körner
in dünner Schicht unter einer fliehenden grauen Wolke von Staub dahin,
aber wenn man sie durch die Finger gleiten läßt, so sind sie wie Gold.

Felix Friemann, der den Gefühlen seines Vaters ferner steht, geht mit
Schwester Emmi wieder zu den Kähnen hinaus, um mit ihr zu plaudern.
Auch er hat seine Freude an ihrem Lachen und an ihren hellen flinken
Worten. Herr Karcher zieht sich langsam in sein Lagerkontor zurück.

»Nun habe ich mein Exposé über die Erweiterung und Organisation unserer
Fürsorgeeinrichtungen bei der Generaldirektion abgegeben«, sagt
+Dr.+ Friemann zu Schwester Emmi.

»Ach, schriftlich haben Sie das sogar gemacht! Mein Gott, was wird uns
das für Umwälzungen bringen! Muß man dann die Finger auf eine modernere
oder wissenschaftlichere Weise verbinden?«

Nein, sie nimmt die Wichtigtuerei dieses Kommerzienratssohnes durchaus
nicht ernst.

»Nun, das gerade nicht! Doch es werden Abteilungen und Untergruppen
eingerichtet, und Sie sind dann nicht mehr die allmächtige Schwester
Emmi, sondern einfach Schwester eins.«

»Herrjeh, wer wird dann Schwester dreizehn?« Sie will sich ausschütten
vor Lachen.

»So weit wollen wir noch nicht gehen. Wir könnten getrost noch eine
Schwester Anni oder Elli bekommen, die liebenswürdiger sind als Sie, --
die Anni oder Elli.«

Ihr Spott hat ihn etwas verwirrt, denn er fängt schon an, einzelne
Worte zu wiederholen.

»Viel Vergnügen!« ruft sie aus. Sie blickt mit ihren lustigen Augen zu
ihm hoch und hebt sich auf die Fußspitzen, um auch seine übertriebene
Länge zu verspotten. »Die können Sie wirklich gebrauchen, die Anni oder
Elli«, sagt sie noch lachend, während sie bereits enteilt.

Felix Friemann sieht ihr traurig nach. Er muß sich schon von einer
kleinen Fürsorgeschwester auslachen lassen, er will sich bessern, das
will er gewiß.

Der Kommerzienrat und Joachim Becker sehen sich auch sonst noch den
Hafen an, dann fahren sie gemeinsam in das Stadtbureau zurück. Felix
Friemann kann die beiden im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch mit
seinen langen Beinen einholen und seinen Schwager bitten, an Adelheid
und seine Tochter Grüße zu bestellen.

Als alle Besucher fortgegangen sind und auch die Ingenieure mit dem
Kapitän im Verwaltungsgebäude verschwanden, steht der Bäckermeister
Reiche immer noch vor den Getreidemassen des Speichers und ist in
tiefes Nachdenken versunken.

Er bückt sich und nimmt die Körner so voll in seine große helle Hand,
daß sie zwischen den Fingern herausdringen, dann läßt er sie fallen,
und wenn die Faust wieder leer ist, wird er von neuem traurig.

Schließlich muß er den Speicher verlassen. Bodenmeister Ulrich wird
ungeduldig, er will endlich unumschränkter Herrscher in seinem Reiche
sein. Die Befehle an die Arbeiter sind knapp und bestimmt, als spräche
Joachim Becker mit ihnen.

Herr Reiche geht langsam und schwerfällig bis an das Ende des
Hafenbeckens und um die Schmalseite herum zum Kanal, der den Hafen von
der Mühle trennt.

Da steht der Speicher des Müllers, er ist nicht weniger vollkommen,
nur etwas kleiner und älter. Daneben arbeitet die Mühle, die aus den
prallen goldenen Körnern das Mehl bereitet. Und in der Stadt sind die
vielen Meister, die ihr Brot davon backen. Sie holen es glühendheiß
aus den Öfen, aber sie nehmen es trotzdem für den Bruchteil einer
Sekunde zwischen die Hände und fühlen den elastischen goldbraunen Laib.
Der ehemalige Bäckermeister glaubt den frischen sauer-süßen Duft zu
verspüren, dann denkt er an die Selter- und Malzbierflaschen und an
die Milchgläser, die er täglich mit einer langen Bürste reinigt.

Er ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und findet keinen Weg aus
seiner Not.

Nun fällt sein Blick auf einen Wagen, der neben der Mühle mit Säcken
beladen wird. Er gehört einer großen Bäckerei, die sich ihr Mehl selbst
holt und dabei den Zwischenhändler und die Rollfuhrspesen spart.

Herr Reiche beginnt, krampfhaft zu überlegen. Wenn man nun hier, direkt
neben der Mühle -- zum Beispiel da, wo jetzt der Wagen steht -- eine
Bäckerei errichtete, dann fielen nicht nur die Zwischenhändler und die
Rollfuhrkosten, sondern auch das eigene Fuhrwerk fort.

Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine ganze Woche lang, Tag und Nacht.
Beim Gläserspülen greift er plötzlich nach irgendeinem Fetzen Papier
und rechnet. Und wenn er des Nachts erwacht, so hält ihn die Grübelei
stundenlang fest. Dabei sieht er nicht übernächtig aus, nein, im
Gegenteil: prall und frisch. Seine Ohren sind stets rot angeglüht,
seine Augen glänzen, nur in den Bewegungen scheint er sehr zerstreut.

Endlich faßt er einen Entschluß. Er zieht zum Erstaunen seiner Frau
mitten an einem Wochentage seine besten Kleider an und geht fort. Zur
Stunde des Arbeitsschlusses, als in der Kantine wieder viel zu tun ist,
geht er, ohne eine Erklärung abzugeben, davon.

Er hat keinen weiten Weg. An der Föhrbrücke biegt er links ab zum
Mühlengrundstück. Dort läßt er sich beim Mühlenbesitzer Pohl selbst
melden. Er wird in das Privatkontor geführt, und seine Ohren brennen
wie Feuer.

Michael Pohl fordert ihn -- was er bei jedem Besucher zu tun pflegt,
ob es nun der Kapitän oder der Kantinenwirt ist -- mit einer stummen
Handbewegung auf, im alten Sessel gegenüber seinem Schreibtisch
Platz zu nehmen. Dann wartet er geduldig den Anfang der Rede ab. Er
zeigt weder Neugierde noch Erstaunen, denn er ist schon an manchen
eigenartigen Besuch, besonders aus dem Hafen, gewöhnt.

»Herr Pohl,« beginnt der Bäckermeister, »wenn ich so die Mühle sehe und
die Getreidespeicher im Hafen und hier, da kommt mir so eine Idee --
der Herr Pohl wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist.
Hier ist das Getreide, sage ich mir, und das Mehl --«

Er bricht seine Rede ab, um die Hauptsache nachzutragen:

»Ich bin nämlich Bäckermeister von Beruf, aber nun verwalte ich die
Kantine im Hafen --«

Diese Worte, die ihm als geschickte Umschreibung des Wortes
»Kantinenwirt« gefallen, hatte er sich mit großer Mühe zurechtgelegt,
und nun sind sie wirklich richtig und glatt herausgekommen. Er ist
geradezu glücklich darüber, stellt sich noch regelrecht mit seinem
Namen vor und hat den Mut, weiterzusprechen.

»-- das Mehl, sage ich mir, und die Bäcker, die das Brot backen, müssen
es erst in die Stadt fahren oder sie bekommen es von anderwärts oder
vom Zwischenhändler -- der Herr Pohl werden mich schon verstehen?«

Der Mühlenbesitzer nickt.

»Nun sage ich mir, wie wäre es, wenn man das Mehl gleich hier verbacken
würde? An Ort und Stelle. Dicht neben der Mühle. Da ist ein freier
Platz, ich meine auf dem Grundstück vom Herrn Pohl, und wenn ich so
rechne und rechne, so denke ich, daß das Brot mindestens um fünf
Pfennig für das Stück billiger werden könnte als anderswo.«

Er sieht den Mühlenbesitzer erwartungsvoll an. In seinem Kopfe braust
es, als säße er im Maschinenraum des Getreidespeichers, direkt neben
den fünfzig Antriebsmotoren.

Mühlenbesitzer Pohl schweigt eine ganze Weile, dann sagt er langsam:

»Der Gedanke ist nicht schlecht. Wie hatten Sie sich das weiter
gedacht?«

Der Bäckermeister richtet sich in seinem Sessel auf und macht erst
einmal einen tiefen Atemzug. Jetzt fürchtet er sich nicht mehr. Die
Details sind ihm außerdem geläufiger als die einleitende Rede. Er
holt einen Zettel hervor, auf dem er die Resultate seiner Rechnereien
abgeschrieben hat, und erklärt.

»Wer sollte nun die Bäckerei errichten?« fragt Herr Pohl.

»Wenn der Herr Pohl sich beteiligen würden? Mit einer Kleinigkeit und
mit meiner Arbeitskraft könnte ich wohl mitmachen.«

»Und wer würde die Ersparnis von fünf Pfennig gewinnen, da die
Brotpreise einheitlich geregelt sind?«

»Der Herr Pohl dürfen nicht denken, daß es mir um den Profit zu tun
ist. Die Regelung will ich dem Herrn Pohl selber überlassen. Wenn
ich nur meine alte Arbeit wiederbekomme. Das Brotbacken war mir das
liebste, die Kinkerlitzchen überlasse ich den anderen.«

»Ja, Herr Reiche, das wollen wir uns mal beide durch den Kopf gehen
lassen. Haben Sie noch zu einem anderen Menschen davon gesprochen?«

»Keiner Seele habe ich ein Sterbenswörtchen gesagt.«

»Dann wollen wir zunächst auch weiter darüber schweigen. Und Sie kommen
morgen um die gleiche Zeit noch einmal her.«

Sie trennen sich mit einem kräftigen Händedruck.

Der Mühlenbesitzer steht am Fenster und sieht dem Manne nach, wie er
mit schweren wiegenden Schritten über den Mühlenplatz geht.

Es gab eine Zeit, da der Bäckermeister Reiche sich für seinen neuen,
von der Frau ersehnten Beruf die nötige Trinkfestigkeit holen mußte. Er
hatte keinen Geschmack am Alkohol, aber wenn man ihn ausschenken soll,
muß man ihn auch trinken können. So übte er sich eine ganze Weile
darin, und als er die alkoholfreie Kantine bekam, war ihm das Trinken
zur Gewohnheit geworden. Nun hat er wieder einen festen gleichmäßigen
Gang und sogar Ideen im Kopf.

»Der Mann weiß gar nicht, was er hier für einen Plan aufgerollt hat«,
sagt der Mühlenbesitzer vor sich hin. -- »Der Herr Pohl wollen es mir
nicht verübeln, wenn es nicht recht ist«, hört er im Geiste noch einmal
den Bäckermeister sagen. Michael Pohl schüttelt den Kopf und denkt nun
erst gründlich über die Sache nach.

Dann geht er in das große Kontor hinüber und ruft seine Tochter.

Noch ist sie hier in seinem Bureau, und er kann sie um ihren Rat
fragen. Aber in wenigen Tagen will sie ihre Reise antreten, und er weiß
noch nicht, wie er dann ohne seinen Kompagnon auskommen soll.

Sie setzt sich im Privatkontor auf ihren angestammten Platz im
Ledersofa und sieht ihren Vater interessiert an.

Michael Pohl erzählt ihr von der Idee des Bäckermeisters. Aus der
Bäckerei ist eine Brotfabrik geworden, die Brote zählen nicht nach
Hunderten, sondern nach vielen Tausenden, und die fünf Pfennig
Ersparnis für jedes Brot will er den Konsumenten überlassen, denn es
bleibt immer noch Verdienst genug.

»Hier ist das Getreide,« sagt der Mühlenbesitzer, »hier das Mehl und da
das Brot für die ganze Stadt.«

Irmgard ist aufgesprungen. Sie sieht ihren Vater mit leuchtenden Augen
an.

»Ja,« sagt sie, »Vater, das ist fast so groß wie damals das Projekt vom
Hafen.«

Michael Pohl lächelt. »Nun, ganz so hoch wollen wir uns nicht
versteigen. Und vorläufig sieht unser Plan noch genau so schwierig aus
wie die Idee vom Hafen vor drei Jahren.«

»Mein Gott,« sagt Irmgard, »was sollen dann die vielen Bäcker machen,
wenn wir das Brot allein backen wollen?«

»Sie können es mit dem gleichen Verdienst verkaufen, als wenn sie es
selbst gebacken hätten. Aber sie werden natürlich ihr Handwerk nicht
aufgeben wollen, um Händler zu werden. Du siehst, daß hier schon eine
Schwierigkeit ist.«

Wie flink denkt nun eine Frau!

»Warum sollten sie nicht ihre Semmeln und Kuchen backen wie bisher?
Wenn ich an unseren Bäcker denke, der ein ganz besonderes Brot
bereitet, mit einem Geschmack, den man sonst nirgends wiederfindet,
dann sage ich mir, es könnte doch jeder seine Spezialitäten
weiterführen. Man zahlt dann gern etwas mehr, wenn man es sich leisten
kann. Wir aber backen hier nur das billige Einheitsbrot, das tägliche
Brot des Volkes, kurz: ~das~ Brot.«

Michael Pohl sieht sie befriedigt an. »Nun bleibt nur die Frage, wer
der Unternehmer wird, und wie man es den Beteiligten klar macht. Ich
meine die Produzenten, die den Gewinn dem Volke überlassen sollen.«

»Ist das Projekt für einen einzelnen zu groß?«

»Das auch, obgleich ich außer meinem freien Grund und Boden reichlich
Kapital dazugeben könnte.«

»Könntest du das?«

»Gewiß, die Mühle entwickelt sich von Jahr zu Jahr und wirft größere
Gewinne ab, unsere Ansprüche bleiben die gleichen. Nun ersetzest du mir
sogar noch eine Arbeitskraft, und deine Mutter kennt nur ihre peinliche
Pflichterfüllung. Ich habe das Geld nicht im Hafen unterbringen können,
dazu war es zu wenig, jetzt muß ich es endlich für unseren Sohn
anlegen.«

»Aber --?« fragt Irmgard Pohl.

»Aber für eine Brotfabrik, die den Bedarf der ganzen Stadt decken soll,
brauchen wir die Unterstützung der Kommune oder der Allgemeinheit. Das
ist ein volkswirtschaftliches Unternehmen, für das wir uns keine Feinde
aufladen dürfen.«

»Wer sollte wohl feindlich gesinnt sein, wenn es sich darum handelt,
der Allgemeinheit das Brot zu verbilligen?«

Der Mühlenbesitzer lacht. »Wer? Die Konkurrenz, die Rechthaber, der
Neid, die Zwietracht. Es beständen viele Beweggründe.«

»Das Hafenprojekt hat sich auch verwirklichen lassen.«

»Da handelte es sich nur darum, Interessenten zu finden, die durch
den gleichen Gedanken geeint werden: Geld zu verdienen. Dieses Motiv
versöhnt die heftigsten Feinde. Nun aber sollen wir für einen ideellen
Zweck werben. Meinst du, daß die Inhaber der bereits bestehenden
Brotfabriken mit der Verbilligung einverstanden sind? Was geht sie das
Volk an, wenn sie von ihrem Verdienst einbüßen?«

»Ja, müssen wir darum den Mut verlieren?«

»Nein, gewiß nicht. Wir wollen es versuchen. Das wäre sicherlich ein
großer Erfolg, unter so viel Köpfen eine Einigung zu erzielen. Es gälte
fast mehr als die Verbilligung des Brotes.«

»Siehst du, da ist wieder der alte Schwärmer. Gott sei Dank! Ach, weißt
du, ich bin ganz stolz, daß wir nun auch so ein großartiges Projekt
haben.«

Michael Pohl nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und lacht.

»Man möchte es durchaus mit einem anderen aufnehmen!« Und mit
liebevoller Resignation fügt er hinzu: »Daran erkenne ich doch wieder
die Frau.«

Sie schreibt ihm seine Briefe und ist ihm ein guter Kamerad, aber sie
verfehlt doch dabei ihren besten Daseinszweck.

Als der Bäckermeister am nächsten Tage wiederkommt, kann der
Mühlenbesitzer ihn mit ~seinen~ Berechnungen empfangen. Er
zieht seine tüchtige Mitarbeiterin zu den Beratungen hinzu, und sie
beleuchten das Projekt von allen Seiten. Da wird nichts übersehen, und
ihr Fachmann, der schwerfällige Bäckermeister, kann immer wieder neue
Momente ins Treffen führen.

Zum Schluß sind sie dahin einig geworden, daß die beiden Männer
zunächst eine Orientierungsreise unternehmen, um ähnliche Anlagen in
anderen Städten zu besichtigen. Dann wollen sie sich an die zunächst
Interessierten, die Bäckermeister, wenden.

Frau Reiche hat die Augen gehörig geöffnet, als ihr Mann ihr kurz und
bündig erklärte, daß er eine Reise zu unternehmen gedenke. Es liegt
ihm fern, auf ihre Fragen etwa zu erwidern: »Ich habe dich auch nicht
gefragt, was du mit deinen Besuchen im Gefängnis bezweckst.« Nein, er
läßt sie nun ihres Weges gehen und macht seine Reise für sich.

Nur daß er auch Fräulein Spandau keine Auskunft darüber geben kann,
geht nicht ganz nach seinem Herzen. Sie sieht ihn mit ihren müden Augen
stumm fragend an, und er sagt: »Auf Wiedersehen, Fräulein Spandau, wenn
ich zurück bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes erzählen.«

Das befriedigt sie nicht weniger, als wenn er ihr ein prächtiges
Geschenk versprochen hätte.

Wem wäre nicht eine Veränderung am Kantinenwirt Reiche aufgefallen,
als er von seiner Reise wieder heimgelangte? Er hatte eine andere Art,
zu gehen und zu sprechen, und er stellte sich nicht mehr hinter den
Schanktisch, -- dieses Amt überließ er seiner Frau.

Aber das geschah beileibe nicht, weil er sich zu gut dafür dünkte,
sondern einzig und allein, weil er keine Zeit dafür fand. Wenn er nicht
seine geheimen Besprechungen mit dem Mühlenbesitzer hatte, so mußte
er mit dem Innungsmeister konferieren oder in den Versammlungen Reden
halten. Selbst vor dem Ersten Bürgermeister hat er eines Tages mit
Mühlenbesitzer Pohl und einigen Abgeordneten der Bäckerinnung gesessen.

Er ist plötzlich ein geachteter Mann, man hört geduldig und ernst auf
seine Worte. Und auch dem Mühlenbesitzer gegenüber hat er ein anderes
Auftreten. Er sagt zum Beispiel: »Richtig, Herr Pohl, da haben Sie
wieder recht.«

Wo ist der geduckte Kantinenwirt, der einmal sagte: »Der Herr Pohl
wollen es mir nicht verübeln, wenn es nicht recht ist?«

Doch hier kann man wieder sehen, was der Prophet in seinem Vaterlande
gilt. Hat Frau Reiche etwas von der Größe ihres Mannes verspürt? Nein,
sie sagt: »Wie lange soll dieses Faulenzerleben noch dauern? Wenn das
Konferenzen sind, mit denen du dich aufhältst, dann verwalte ich hier
ein Hotel.«

Als der Streit in der Bäckerinnung so lebhaft geworden war, daß die
Hilfe der Zeitungen angerufen wurde, da schreckte man nicht davor
zurück, dem Bäckermeister Reiche vorzuwerfen, daß er nichts weiter als
ein Kantinenwirt sei. Vom Mühlenbesitzer Pohl jedoch wußte man, daß
seine Beteiligung beim Hafen seinerzeit abgelehnt wurde; man ist nicht
geneigt, ihn nun an einer Brotfabrik profitieren zu lassen.

Wenn man keine sachlichen Bedenken finden kann, so gibt es der
persönlichen genug.

Aber nun ist auch der Trotz in Michael Pohl erwacht. Er sagt zu Herrn
Reiche: »Sie können solange in meiner Mühle arbeiten.« Und er bietet
ihm einen Posten an.

»Was,« sagt Frau Reiche, »du willst eine Brotfabrik gründen? Hätte ich
dir in deiner Bäckerei nicht die Brote verkauft, dann lägen sie heute
noch da.« Sie hat noch immer keine Achtung vor ihrem Mann und ist nicht
geneigt, ihren Platz in der Kantine zu verlassen.

Herr Reiche verabschiedet sich von Fräulein Spandau, nachdem er die
Vermittlung des Kapitäns in Anspruch genommen hat, und sagt:

»Ich lasse ihr alles hier, so wie es ist. Ich habe meine beiden Fäuste
zur Arbeit. Und wenn Sie einmal in der Mühle zu tun haben, so fragen
Sie nach Lagerverwalter Reiche. Dann wird es schon recht sein.«

Inzwischen beleuchten die Zeitungen das Problem und suchen die Parteien
zu orientieren.

»Wie lange wird die Verbilligung anhalten?« fragen die einen. »Wenn den
Meistern die Arbeit genommen ist, gehen die Preise wieder in die Höhe,
und die Großunternehmer allein stecken den Gewinn ein.«

»Man hat es auf zwei Berufe abgesehen«, klagen einige andere. »Der
Zwischenhandel und das Transportgewerbe sollen ausgeschaltet werden«,
und man rechnet den Interessenten vor, welche Schädigung das für sie
bedeutet.

»Nun soll auch das gute ehrliche Handwerk unterjocht und versklavt
werden.« -- »Das ist der Beginn der Vertrustung.« -- »Das Kapital reißt
nun auch die Macht über das tägliche Brot an sich.« -- So und ähnlich
lauten die Schlagworte, die auch von den Bäckermeistern aufgenommen
werden.

Nur eine zaghafte Stimme vertritt die Ansicht, daß es der Stadt
zur Ehre gereichen würde, wenn man in dieser Frage eine Einigung
ohne Gewalt erzielte. Aber sie verknüpft diese einfache praktische
Angelegenheit mit ihren Idealen und macht sich selbst lächerlich. Denn
was hat eine Brotfabrik mit dem ewigen Frieden zu schaffen?

Verliert der Mühlenbesitzer den Mut darüber? Nein, er verliert ihn
nicht; er war nicht ohne Vorbereitung in den Kampf eingetreten. Er
bietet sein Geld und eine gute Idee an, und wenn sie es ablehnen, so
wissen sie nicht, was sie tun. Er wäre nicht der erste, dem man seine
Gaben vor die Füße wirft.

Ein anderer beginnt allmählich, im Kampfe zu verzagen. Er ist auf einen
vorübergehenden Posten gestellt worden in Erwartung der großartigen
Gründung; die Wartezeit erstreckt sich auf zwei Monate, drei Monate, es
wird Herbst, und noch bezieht er mit bedrücktem Gewissen sein Gehalt
als Lagerverwalter in einer Mühle und nicht als Meister in einer
Brotfabrik. Was nutzt es ihm, daß er sich mit der modernen Technik
vertraut macht und im stillen eine neue Lehrzeit in den verzwickten
Büchern beginnt? Es ist nur gut, daß ein Fräulein Spandau eines Tages
den Lagerverwalter Reiche aufsucht und ihn fragt, ob man das Mehl in
der Mühle auch pfundweise kaufen könne.

Nein, damit kann er nicht dienen, doch wenn er sie nach Hause begleiten
dürfe und sie sich noch für die Sache eines Mannes interessiere, den
man so lächerlich finde, so wolle er ihr einiges erzählen.

Sie hat dagegen nichts einzuwenden und hört ihm auf dem weiten Wege mit
großem Interesse zu, obgleich er zuletzt sehr verbittert und mutlos
ist.

»Ach ja,« sagt sie zum Abschied, »wenn Sie es doch durchsetzen könnten!
Wir brauchen zu Hause täglich ein Brot, das sind fünf Pfennig pro
Tag und ein und eine halbe Mark im Monat. Sie glauben nicht, was das
bedeutet, da wir alle von meinem Gehalt leben müssen.«

Ihr blasses Gesicht mit der dünnen unklaren Haut ist so vertrauensvoll
zu ihm emporgewandt, daß es ihm wieder einen Ruck gibt, und er
verspricht, nichts unversucht zu lassen.

Das sollte doch mit dem Teufel zugehen, denkt er auf dem Heimwege, wenn
man denen nicht helfen dürfte, die es so dringend brauchen.

Er spricht noch einmal mit dem Mühlenbesitzer darüber, und sie fangen
die Sache von einer anderen Seite an. Michael Pohl, der doch genug
Lehrgeld gezahlt haben sollte, gibt wieder eine schriftliche Erklärung
ab.

Sie wirkt nicht gleich wie der wunderbare Stab vor dem Zauberberg, aber
dieser und jener läßt sich doch herbei, einen Blick auf das Dokument zu
werfen und ein wenig darüber nachzudenken. Da soll nun die Bäckerinnung
als Unternehmerin auftreten, und der Mühlenbesitzer will ihr die Mittel
vorstrecken. Jeder Meister in der Stadt ist Teilhaber der großen Fabrik
und hat schließlich auch eine Stimme ins Gewicht zu werfen.

»Wenn ich das gleiche verdiene und weniger Arbeit habe, so soll es mir
recht sein«, meint nun der Bequeme, während der Arbeitsame befriedigt
feststellt, daß man ihm trotzdem seine Tätigkeit läßt.

»Und wer sich das richtig überlegt, muß sich sagen, daß vom billigeren
Brot mehr gegessen wird«, wirft Lagerverwalter Reiche in einer
Versammlung ein. »Das Brot, das die eigene Familie ißt, fällt auch
nicht unter den Tisch, es muß ebenso gerechnet werden, als ob es
verkauft wird, und das sind fünf Pfennig für das Stück.«

In dieser Versammlung trägt er noch nicht den Sieg davon, aber als der
Winter den Hafen wieder im Bann hält und auf dem Kanal vor der Mühle
die Oberfläche glitzert und knackt, hat er endlich eine Abstimmung mit
Stimmenmehrheit erreicht.




                             Die Scheidung


Er eilt in seinem Überschwang zur Mühle, mit der Absicht, den
Mühlenbesitzer sogar aus dem Bett zu holen, um ihm die freudige
Botschaft zu überbringen. Sie besitzen zwar noch lange keine
Brotfabrik, aber sie haben die Einigkeit. Er weiß, wieviel das dem
Mühlenbesitzer Pohl gilt.

Nun hätte er auch Lust, dem schmalen Fräulein Spandau zu sagen, daß sie
in mindestens einem Jahr einundeinehalbe Mark monatlich sparen kann.
Doch diese Freude muß er sich bis zum nächsten Morgen aufheben.

So frei und kräftig hat er sich lange nicht gefühlt, wie auf dem
Heimweg von der Versammlung. Wenn er es recht überlegt, so hat ein
Druck auf ihm gelastet, seitdem er in den Hafen kam.

Kurz vor der Föhrbrücke bemerkt er eine Frau, die mit wiegenden Hüften
vor ihm hergeht und nicht viel Eile hat, vorwärtszukommen. Da sollte
doch --! Wenn das nicht seine Frau ist!

Er findet es nicht übel, daß er ihr an diesem Abend noch begegnet. Man
könnte der Madame gleich zeigen, was man für ein Kerl geworden ist,
damit sie endlich einmal die richtige Meinung erhält.

Er ist nicht nachtragend. Nein, das kann niemand behaupten. Sie hat
ihn nicht nur betrogen und obendrein verspottet, weil er nicht zu den
Männern gehört, die deswegen einen Mord begehen, sie hat ihn auch um
seinen Beruf gebracht und ihm den Rest seiner Selbstachtung genommen.

Aber nun sagt er »Guten Abend, Frau Reiche. Du hast anscheinend keine
Lust, nach Hause zu gehen.«

»Ach, du bist's«, sagt sie. »Ich habe gehört, du willst dich von mir
scheiden lassen.«

»Ich?« fragt er erstaunt. Auf diesen Gedanken war er bisher noch nicht
gekommen, nun scheint er ihm nicht schlecht, ja er findet ihn plötzlich
ausgezeichnet. Er muß unwillkürlich an Fräulein Spandau denken. Da
könnte er für einen Menschen einstehen und ihm Freude bereiten, denn da
wird alles dankbar angenommen. Ob sie wohl den Antrag eines Meisters in
der größten Brotfabrik der Stadt ausschlagen würde?

Er streicht in stolzer Freude den Schnurrbart hoch. Nun ist er wieder
ein Mann, der auf sich hält und auch bei den Frauen einen Stein im
Brett hat.

Es ist ihm fast, als sähe selbst seine Frau ihn wieder wohlgefällig an.

»Nun, ich habe so etwas gehört. Wenn es dir recht ist, könnten wir ja
darüber reden. Neulich ist ein Rechtsanwalt im Hafen gewesen, da habe
ich die Gelegenheit wahrgenommen und ihn gefragt, was zu tun wäre.«

»So --« meint er. »Dann wirst du ja besser Bescheid wissen und kannst
mir Unterricht erteilen.« Er nimmt die Sache von der lustigen Seite,
und das ist fast etwas kränkend für eine Frau.

»Wir könnten gleich darüber sprechen,« schlägt sie vor, »dann ist die
Sache abgemacht. Mein Bruder versieht die Wirtschaft, wie du gehört
haben wirst. Wir können also hinaufgehen und alles in Ordnung bringen,
wenn es dir recht ist.«

Wie zahm sie geworden ist, denkt Herr Reiche. Sollte sie etwa schon
von der Versammlung gehört haben? Nun will er sich erst einmal das
Vergnügen erlauben und ihr erzählen, was er für ein Mann ist.

»Ach, sieh einmal an«, sagt sie. »Was du nicht sagst. Wer hätte das
für möglich gehalten? Darauf müssen wir von meinem selbstgemachten
Kirschwasser trinken. Was meinst du dazu?«

»Hm, das wäre ja wie eine Feier. Aber da wir doch miteinander zu reden
haben --« Das hätte er sich wahrhaftig im Traume nicht einfallen
lassen, daß er noch einmal ein freier lediger Mann würde. Es gibt doch
wirklich ganz einfache Gedanken, auf die man erst gestoßen werden muß.
Was wird das für ein Spaß sein, wenn man zu Fräulein Spandau sagen
kann: »Es gibt gewisse Männer, die einmal verheiratet ~waren~.«

»Huh«, macht Frau Reiche fröstelnd. »Wie ist das schon wieder kalt!«
Und sie hakt sich mit ihrem molligen Arm bei ihm ein, um sich zu
erwärmen.

»Die Madame wird sich einen Schaden antun«, sagt er gutmütig spottend
über diese Äußerung einer ungewohnten Vertraulichkeit.

Sie stößt ihn mit dem Ellenbogen an. »Jetzt, da wir uns scheiden lassen
--« meint sie lachend.

Allmählich geraten sie in eine Stimmung hinein, in der sie alles
lächerlich finden. Sie setzen sich in ihrem alten Wohnzimmer über der
Kantine auf das Sofa, trinken von dem Kirschwasser und stoßen »auf eine
glückliche Scheidung« an.

»Eigentlich,« sagt sie mit glucksendem Lachen, »wenn ich's mir
überlege, warst du ein ganz guter Ehemann. Ja, man erkennt die Vorzüge
erst, wenn es zu spät ist. Was meinst du wohl, wie ich daran gedacht
habe, wenn ich hier so allein war?« Sie sieht ihn mit ihren feuchten
Augen ermutigend an und rückt etwas näher.

Der Bäckermeister hat wieder ganz rote Ohren, als wäre er in der
Backstube beim Ausholen der Brote.

»Es ist verteufelt heiß hier bei dir«, bringt er halberstickt hervor.

»Meinst du?« fragt sie, und sie sieht ihn dabei so komisch an, daß sie
wieder beide lachen müssen. Sie fährt ihm mit ihren Händen ins Gesicht
und sagt: »Fühl' nur, wie kalt sie sind.«

Er gibt keine Antwort darauf. Er hat vollkommen vergessen, daß er sich
vornahm, den Mühlenbesitzer aus dem Bett zu holen und einem blassen
schmalen Bureaufräulein zu roten Backen und einem glücklichen Lächeln
zu verhelfen, er schnappt plötzlich nach den kühlen Fingern vor seinem
Mund und lacht.

»Nein, Mann, bist du denn verrückt geworden?« fragt Frau Reiche. Aber
er gibt jetzt erst recht keine Antwort mehr. --

So ein Binnenhafen an einem dunklen Wintermorgen ist wie eine
verwunschene Stadt.

Der Wächter am Tore wird müde und wärmebedürftig. Er achtet darauf,
daß seine Scheiben klar bleiben, denn sonst muß er das kleine Fenster
öffnen oder vor die Tür seines winzigen Häuschens treten und die
dunstige Wärme herauslassen.

Aber gegen sieben Uhr morgens kommen noch nicht viele Menschen an ihm
vorbei. Im Getreidespeicher rattern zwar schon wieder die Maschinen,
und das Getreide beginnt seine unermüdliche Wanderung durch die
Stockwerke. Es darf nicht zur Ruhe kommen, damit es nicht feucht
oder muffig werde, und es bläst unterwegs seinen Staub in die Luft,
daß Bodenmeister Ulrich und seine Helfer wie graue Figuren durch die
Morgendämmerung wandern.

Das Verwaltungsgebäude ist von den Gerüsten entkleidet. In den
Seitenflügeln flammen die ersten Lichter auf, im Mittelteil jedoch,
dem stolzen Turmbau, warten die grauen Räume auf die Tätigkeit der
Maler.

Das war eine andere Zeit, als die Arbeiter in Scharen herbeiströmten,
auf die Gerüste kletterten und hinter Erdwällen verschwanden. Wie viele
Gebäude mußten fertiggestellt werden, und nun stehen sie alle da! Mit
verschneiten Dächern und vereinzelten Lichtern in den Fenstern.

Aber die Hafenbecken -- wo ist ihr Wasserspiegel? Er wird fast dicht
bedeckt von den großen Kähnen, die hier ihr Winterlager aufgeschlagen
haben, und darüber brauen die Nebel. Nur ein Becken ist wie ein langer
und breiter leerer Schlund: der Südhafen, aus dem man die harte Füllung
mit Dynamit sprengen mußte. Er hat noch keine Gebäude an den Seiten,
und auf dem Nachbargelände stehen ein paar verschneite halb verfallene
Holzschuppen. Ein Grundstücksmakler hat sein Schild danebengesetzt.

Wenn die Hafengesellschaft ihre Tätigkeit am Südbecken
einstellte, so hatte das andere Gründe als die Arbeitsruhe der
Verhüttungsgesellschaft, die eines Tages Konkurs anmeldete und die
Erze im Schoße der Mutter Erde ließ. Man kann einem großen Projekt
zustimmen, doch man darf sich Zeit mit der Ausführung lassen. Zwei
Hafenbecken sind im Anfang genug, und wenn das Konsortium seine Gelder
zurückhält, so ist damit nicht gesagt, daß sie etwa knapp geworden
wären. Aber sie verkünden dem Generaldirektor: Nun mußt du dir das
dritte Hafenbecken erst verdienen!

Das ist nicht leicht, zumal in den Wintermonaten, wenn die Schiffahrt
ruht. Als der ehemalige Kantinenwirt an diesem dunklen Morgen aus der
Tür der Hafenwirtschaft kommt, denkt er, daß hier immer noch Leben
genug sei. Da fahren die großen Lastwagen schon die während eines
langen Sommers aufgespeicherten Waren in die Stadt, die Lokomotiven
schnauben und kreischen auf den vereisten Schienen und bringen neues
Lagergut. Ja, diese treuen Eisenbahnstränge, sie sind doch etwas wert,
sie tragen ihre Lasten das ganze Jahr und verlangen keinen Winterurlaub
wie die anspruchsvollen Wasserstraßen.

Der Bäckermeister schleicht mit scheuen Blicken neben den Wagen aus
dem Tor; es ist ihm angenehm, daß er dabei vom Wächter übersehen wird.
Er gehörte einst mit gutem Recht hierher, und in der Hafenwirtschaft
ist immer noch seine Ehefrau; über eine Scheidung wollten sie zwar
sprechen, aber nun haben sie es beide vergessen. Wenn er trotzdem mit
schlechtem Gewissen seinen Weg zur Mühle fortsetzt, so sind seine
Privatgefühle daran schuld.

Er geht in sein Zimmer, das Michael Pohl ihm im Kontoranbau neben der
Mühle zur Verfügung gestellt hat und wartet auf das Frühstück. Es wird
ihm aus dem Wohnhaus gebracht. Man sorgt für ihn und nimmt sich seiner
an, er jedoch kommt nicht mit einer guten Nachricht schnurstracks zum
Müller, sondern läuft erst einmal einem Weiberrock nach.

Ein schlechter Patron bist du, sagt er vor sich hin, ein Schwächling,
ein Weiberknecht. Er kann nichts damit ungeschehen machen.

Um acht Uhr geht er ins Kontor hinunter, um sich beim Mühlenbesitzer zu
melden. Er läuft ihm nicht mit »Halloh« und »Gute Botschaft« entgegen.
Er meldet das Resultat der Abstimmung und hält seine Mütze in der Hand.

Da spürt er einen kräftigen Schlag auf der Schulter, und ein herzlicher
Händedruck rüttelt ihn wieder aus seiner Niedergeschlagenheit hoch.

Ja, nun sollen sie wirklich das Brot für die ganze Stadt backen.

»Aber das Schönste ist doch, daß sie einig geworden sind, -- daß sie
für einen guten Zweck und nicht für einen Profit einig geworden sind!«
sagt der Mühlenbesitzer. Er beginnt, der Menschheit wieder seinen
Kinderglauben zu schenken.

Nun gibt es zu tun! Donnerlot, was muß nun alles überlegt und
eingeleitet werden. Ein Winter ist kurz, wenn man eine so große Sache
bis zur Grundsteinlegung bringen will. Im Frühling schon soll mit dem
Bau begonnen werden. -- -- --

Frühling im Hafen! Das ist wie Gesang. Ein stummes Dank- und Jubellied
schwebt unter der blauen Kuppel des Himmels. Hier stehen zwar viele
Gebäude, ein Turmhaus sogar, und hohe Kräne recken ihre schwarzen Arme
auf, doch man kann sich an das Kopfende eines Hafenbeckens stellen und
Wasser, Himmel, Erde sehen, soweit das Auge reicht. Diese drei waren am
Anfang der Welt, und hier sind sie noch und beginnen ein neues Leben.

Steigst du aber bis in den zehnten Stock des Turms im
Verwaltungsgebäude, so siehst du außerdem noch eine ganze große Stadt.
Und dort drüben zieht sich ein silbernes Band. Das ist der Fluß dieser
Stadt, an dem sie sich einstmals anbaute, weil es praktisch ist, diese
Straße zu haben. Und da ist ein zweites Band. Das ist der alte Kanal.
Und hier ein drittes: der Verbindungskanal.

Nun sind sie aus ihrer Ruhe erwacht. Fleißige Schleppdampfer schicken
ihre schmalen Rauchsäulen zu den weißen Himmelswolken empor, und hinter
ihnen kommen sie in langer Reihe: die braven dunklen Kähne mit ihren
Schätzen im tiefen breiten Bauch.

Der Kapitän tritt aus der Tür und geht in einer ganz anderen Art über
den Platz. Er stößt die Beine mit einer Lust in den warmen Tag hinein,
daß man fast glaubt, die Gelenke knacken zu hören. Wie war er hier doch
geschlichen mit seinem grauen Tuch um den Hals, in den Winterpaletot
geduckt, und wenn er, von seinem Reißen geplagt, den Kopf drehen
wollte, so ging es nicht, er mußte den ganzen steifen Körper wenden.

Nun reibt er die Hände und sagt »Guten Morgen, guten Morgen«, immer
in einer anderen Tonart. Wenn die Natur ihre neuen lustigen Melodien
singt, dann zieht auch der Mensch vielfältige Register.

Schwester Emmi hat zum erstenmal ein helles Waschkleid an und läuft
auf ihren zierlichen Lackschuhen zu den eben angelangten Kähnen am
Zollspeicher. Felix Friemann verfolgt sie mit seinen langen Beinen aus
weiter Entfernung und ruft: »Schwester eins, Schwester eins!«

Aber sie hört ihn nicht. Sie stellt sich vor einem Kahn auf und ruft:
»Tom!« Da rennt ein Pudel bellend zur Bordwand, ein blonder Knabenkopf
stößt in die Höhe, und dann setzen sie beide, der Junge und der Hund,
mit einem Sprung auf die Kaimauer.

Schwester Emmi wird fast umgerannt, so stürmisch ist die Begrüßung des
kleinen Tom, und so heftig zerrt der Pudel an ihrem Rock. Sie sind
beide von ihrer ersten Ausfahrt zurückgekommen.

»Ich glaube, Junge,« ruft die Schwester aus, »du bist inzwischen wieder
größer geworden! Hast du dich heute auch schon gewaschen?«

Nein, gewaschen scheint er noch nicht zu sein, aber er hat blitzblanke,
saubere blaue Augen, und er ist seines Vaters Sohn!

Nun hat auch Felix Friemann endlich bei Schwester Emmi Anker geworfen.

»Schwester eins«, sagt er atemlos. »Warum laufen Sie mir denn davon?«

»Ach, Sie mit Ihrer eins. Wo ist denn die Schwester zwei?«

»Wenn Sie nicht bald etwas netter werden, beantrage ich sie bestimmt.«

»Ph -- ich warte nur darauf.«

»Aber ich habe Ihnen eine große Neuigkeit zu melden. Sie werden
staunen!«

»So? Ich staune schon gar nicht mehr. Sind Sie endlich zum Direktor der
Fürsorgestelle ernannt?« fragt sie spitz.

»Viel mehr! Ich schlage meine Sommerwohnung im Hafen auf!«

»Was machen Sie?«

»Ich ziehe in Herrn Gregors Zimmer.« Er sieht sie triumphierend an.

»Meinetwegen --«

»Freuen Sie sich denn gar nicht über den neuen Nachbarn?« fragt er
traurig, als sie sich von Tom und seinem Pudel verabschiedet hat und
weitergeht.

»Was geht das mich an?« sagt sie mit bösem Gesicht. Und mit einem
Würgen in der Kehle setzt sie hinzu: »Wenn ihr mich doch endlich in
Ruhe lassen wolltet!«

»Wen meinen Sie denn noch?«

»Ach -- ihr! Alle! Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen?« Sie
geht in das Kontor der Lagerhalle und schlägt die Tür vor +Dr.+
Friemanns Nase zu.

»Sie sehen ja so böse aus«, sagt Herr Karcher, der mit immer
gleichmäßiger Freundlichkeit ihre Morgenbesuche aufnimmt.

»Ja,« sagt sie, »am frühen Morgen wird man schon geärgert.«

»Aber!« meint er bedauernd. Er fragt nicht; darum beichtet sie ihm
auch alles, was ihr Herz bewegt. Er ist allmählich zu ihrem Vertrauten
geworden, besonders wenn es sich um Telephongespräche handelt.

»Was mache ich denn jetzt?« fragt sie. »Der Herr Gregor hat mir schon
wieder geschrieben. Er denkt, daß sein erster Brief unterschlagen sei,
weil ich ihm nicht antworte. Dabei schreibt er den Absender auf den
Umschlag, und ich will mich hängen lassen, wenn die Reiche das nicht
gesehen hat, denn die Schikanen gehen schon wieder an.«

»Ja, ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist. Aber für Sie will ich es
gern tun und zu ihm hingehn«, meint Herr Karcher zaghaft.

»Oder soll ich ihm lieber schriftlich mitteilen, daß ich nichts mit ihm
zu schaffen haben will?«

»Das könnten Sie auch.«

»Er schreibt, daß er sogar schon eine neue Stellung gefunden habe. Er
muß doch etwas taugen, wenn man ihn engagiert, obgleich er eben erst
aus dem Gefängnis gekommen ist.«

»Ja«, sagt Herr Karcher, während er sich wieder mit den Eintragungen in
seinen Büchern beschäftigt.

Schwester Emmi sieht ihm eine Weile zu.

»Als es ihm schlecht ging,« setzt sie ihren Gedankengang fort, »hat
er sich von Frau Reiche helfen lassen. Jetzt will er nichts mehr von
ihr wissen -- Also ich werde ihm schreiben, daß er mich in Ruhe lassen
soll.«

Felix Friemann hat den Wiegemeister der Lagerhalle +II+ in ein
längeres Gespräch gezogen. Nun schließt er sich für den Rückweg der
vorbeieilenden Schwester Emmi an.

Sie muß sich nach allen Seiten wehren.

Vor der Kantine begegnen sie Rechtsanwalt Bernhard, der direkt zur
Mühle hinübergeht.

Michael Pohl sieht diesem Beauftragten seines Prozeßgegners nicht mehr
finster abwartend entgegen. Er winkt ihn freundlich herbei und ist
ein wenig begierig, zu erfahren, was der Herr Generaldirektor nun im
Schilde führt.

»Heute komme ich nicht zu Ihnen«, sagt der Rechtsanwalt. Es ist ihm
doch eine Erleichterung, diesen Mann nicht amtlich begrüßen zu dürfen.
»Ich suche Herrn Reiche.«

»Dann gehen Sie nur da hinein und lassen Sie sich in das Baukontor der
neuen Brotfabrik führen.«

»Ja«, meint Rechtsanwalt Bernhard. »Hier gehen große Dinge vor.«

Der Mühlenbesitzer lächelt. »Na, na,« meint er, »Sie sind doch andere
Dimensionen gewöhnt. Sehen Sie, der Grund ist schon gelegt. Die
Unterkellerung ist das schwierigste.«

Sie bleiben eine Weile bei den Arbeiten stehen. Dann sucht der
Rechtsanwalt Herrn Reiche auf, der in einem hübschen kleinen Bureau
sitzt und seinen Besucher sogar ein wenig warten läßt, weil er mit dem
Baumeister und einem Ingenieur einiges zu besprechen hat. Aber er ist
noch nicht so verdorben, daß er deswegen ein Gespräch in die Länge
zieht und sich mit wichtigen Konferenzen entschuldigt, nein, er beeilt
sich und sieht es nicht gern, daß seinetwegen jemand warten muß.

»Ich wollte wegen Ihrer Scheidung mit Ihnen sprechen«, meint der
Rechtsanwalt. »Da ich gerade hier draußen zu tun hatte, glaubte ich, es
sei am besten, wir bringen es gleich in Ordnung.«

»Meinetwegen konnte es längst erledigt sein. Ich dachte, meine Frau
besorgt das schon.«

»Ja,« sagt der Rechtsanwalt lächelnd, »so einfach ist das nicht. Sie
müssen sich schon auch ein wenig bemühen. Zum Beispiel brauchen Sie
einen Rechtsbeistand.«

»Ich denke, Sie machen das?«

»Hm, ich bin der Rechtsvertreter Ihrer Frau, also Ihr Gegner, doch ich
kann Ihnen einen Kollegen empfehlen.«

»Wissen Sie -- dazu habe ich eigentlich keine Zeit. Aber es soll mir
recht sein, wenn das endlich ins reine kommt.«

»Na also. Sie wollen beide geschieden sein. Doch wir müssen erst einen
Grund finden.«

»Finden? Ist das vielleicht kein Grund, wenn meine Frau mit diesem
Herrn Gregor die Ehe gebrochen hat?«

»Tja, Ihre Frau behauptet, daß Sie in diesem Winter einmal bei ihr
gewesen wären und die Sache verziehen hätten. Seitdem kann man ihr
nichts nachweisen.«

Der Bäckermeister will an diesen Wintertag nicht gern erinnert werden,
er bekommt sogar rote Ohren bei der Erwähnung. Das ist doch wirklich
eine komische Manier, davon zu einem Rechtsanwalt zu sprechen. Darum
sagt er auch heftiger, als es sonst seine Art ist:

»Verziehen? Nein, verziehen habe ich ihr das nicht.«

»Nach dem Gesetz aber gilt es so, wenn Sie die Behauptung Ihrer Frau
nicht widerlegen können, daß an jenem Abend --«

»Herr Doktor,« sagt der Bäckermeister sehr aufgebracht, »wenn ich das
jetzt so höre, da möchte ich meinen, daß meine Frau das damals schon
gewußt hat.«

»Das würde nichts am Tatbestand ändern, mein lieber Herr Reiche. Aber
ich denke, daß wir uns einigen werden. Es ist ja auch nicht üblich, die
Frau als schuldigen Teil bloßzustellen. Darum macht man es gewöhnlich
so, daß der Mann die Schuld übernimmt, da es nach dem Gesetz nun mal
einer sein muß.«

»Ich habe doch aber meiner Frau nichts zuleide getan. Oder ist es nach
dem Gesetz anders zu nehmen?«

»Nein, durchaus nicht, Herr Reiche. Im Gegenteil, Ihre Frau hat sich
sehr lobend über Sie ausgesprochen. Das einfachste wird schon sein, wir
konstruieren einen Ehebruch auf Ihrer Seite.«

»Wer? Ich?« ruft Herr Reiche entrüstet aus. »Und wenn ich noch einmal
heiraten will, welche Frau soll mich denn da nehmen, wenn ich ihr sage,
weswegen meine erste Ehe geschieden ist? Nein, Herr Doktor, da muß sich
das Gesetz schon etwas anderes ausdenken.«

»Aber, lieber Reiche, das ist doch lediglich eine Formsache. Und
außerdem brauchen Sie doch als Mann nicht solche Bedenken --«

»Herr Doktor,« sagt Herr Reiche, während er sich erhebt, »wenn ich
schon solche modernen Sachen wie Scheidung und so mitmache, deswegen
bin ich noch kein schlechter Mann. Und wegen der anderen Sache, da muß
ich erst noch mit jemand sprechen, ob sie keinen Anstoß daran nimmt.«

»Wie meinten Sie?«

»Daß ich's mir erst überlegen muß, meine ich, das mit der feinen Sache,
die das Gesetz verlangt.«

»Selbstverständlich, Herr Reiche, es drängt Sie niemand. Ich meinte
nur, daß Sie selbst ein Interesse daran hätten, endlich geschieden zu
werden.«

Der Rechtsanwalt geht mit einem Schmunzeln im Mundwinkel davon. Er hat
ja nun schon mancherlei Scheidungsfälle in seiner jungen Praxis gehabt,
aber so ein kurioser Mann ist ihm noch nicht vorgekommen.




                              Der Streik


Weil Rechtsanwalt Bernhard nun schon gewissermaßen mit dem Hafen
beschäftigt ist, fährt er gleich zur Generaldirektion ins Stadtbureau,
um noch eine andere Angelegenheit ins reine zu bringen. Er läßt sich
bei Joachim Becker melden und geht sofort auf sein Ziel los.

»Nachdem nun mit Unterstützung der Stadt auf dem Pohlschen Grundstück
die Brotfabrik errichtet wird, kann die Hafengesellschaft, an der
die Stadt gleichfalls beteiligt ist, wohl nicht mehr gut den Prozeß
weiterführen«, meint er einleitend.

»Richtig«, ruft Joachim Becker aus. »Sie kommen gerade zurecht. Ich
habe mit dem Vorstand schon darüber gesprochen. Wir wollen den Prozeß
beenden. Es hat sich inzwischen gezeigt, daß wir auch ohne dieses Stück
arbeiten können. Wir dehnen uns nach Süden aus. Es wird da draußen ein
neuer Güterbahnhof geplant, dann läßt es sich mit dem Gleisanschluß
ganz gut machen.«

»Das ist ja sehr schön«, sagt der Rechtsanwalt erfreut. Wie gut es doch
geht, denkt er, wenn man sich erst an einen anderen Gedanken gewöhnt
hat. Man versäumt die Gelegenheit, eine unwürdige Feindschaft aus der
Welt zu schaffen, nur weil man sich etwas in den Kopf gesetzt hat, das
scheinbar nicht auszutreiben ist.

»Ja, wir wollen bis zum Herbst das dritte Hafenbecken fertigstellen.
Inzwischen wird wohl auch das Gelände der Verhüttungsgesellschaft
so weit im Preise gesunken sein, daß wir es zurückkaufen können. Im
nächsten Frühjahr soll der Hafen unseren Plänen entsprechend vollendet
sein. Dann wollen wir wieder ein Fest veranstalten.«

Joachim Becker lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht den
Rechtsanwalt mit strahlenden Augen an. Nun, da er seinem Ziel so viel
näher ist, sind seine Blicke steter, die Bewegungen ruhiger.

»Das wird wohl großartiger werden als die bescheidene Feier für den
ersten Spatenstich«, wirft Rechtsanwalt Bernhard ein.

»Das will ich meinen!« Der Generaldirektor erhebt sich noch immer
nicht, um seinem Besucher das Ende der Konferenz anzudeuten, nein, er
spielt mit seinem Brieföffner und malt sich anscheinend die Feier aus.

»Übrigens«, meint er liebenswürdig, »hat meine Frau kürzlich
festgestellt, daß Sie sich lange nicht bei uns sehen ließen. Wir wollen
in der nächsten Woche einige Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter der
Hafengesellschaft mit ihren Damen laden. Sie werden hoffentlich nicht
fehlen?«

Gewiß nicht. Rechtsanwalt Bernhard hat noch nie eine Gelegenheit
versäumt, um Frau Adelheid wiederzusehen.

Sie schütteln einander die Hände zum Abschied, da wird die Tür
stürmisch geöffnet, und +Dr.+ Felix Friemann stürzt in heftiger
Erregung herein.

»Die Arbeiter im Hafen wollen streiken,« bringt er unter großen
Wortverlusten hervor, »die Arbeiter im Hafen --«, fügt er dafür noch
einmal hinzu.

»Was sagst du da?« ruft Joachim Becker aus. »Sind die Kerle
verrückt geworden? Da müßte man doch gleich mit Maschinengewehren
dazwischenfahren!«

Rechtsanwalt Bernhard macht ein sehr verlegenes, bedauerndes Gesicht
und verschwindet lautlos.

Joachim Becker bestellt sofort seinen Wagen; er will von seinem
Schwager Näheres erfahren, denn die Nachricht trifft ihn ganz
unerwartet.

»Wir sind mitten in der besten Arbeit. Das ist ja geradezu eine
Gemeinheit, sich diesen Termin dafür auszusuchen«, sagt er, im höchsten
Grade erregt.

+Dr.+ Friemann kann ihm leider keine Erklärungen geben. Er ist
sofort hierher geeilt, um die Nachricht als erster zu bringen, und
brennt nun darauf, sie auch zu seinem Vater zu tragen. Solch eine
aufregende Angelegenheit ist ihm eine angenehme Abwechslung, obgleich
sie seine Sprache verwirrt.

Der Generaldirektor wendet sich verärgert ab. Er versucht immer wieder,
seinem Schwager mit Nachsicht zu begegnen, aber es will ihm nie
gelingen. Er fällt sogar in seine alte Unduldsamkeit zurück, wenn er
geschäftlich mit ihm zusammentrifft. Im Familienkreis dagegen findet er
einen liebenswürdig-ironischen Plauderton.

Er fährt in den Hafen und trifft eine Abordnung der Arbeiter im Zimmer
des Kapitäns.

Die Tätigkeit ist noch nicht eingestellt, doch man will sich dem
beabsichtigten Streik der Transportarbeiter anschließen.

»Was wollt ihr denn?« fragt der Generaldirektor. »Genügt euch die
Bezahlung nicht?«

»Uns wohl«, sagt Karle Töndern, der zum Sprachführer ernannt wurde.
»Wir sind mit allem sehr zufrieden. Aber unsere Arbeitskollegen in der
Stadt nicht.«

»Ja, was geht das uns an! Deswegen könnt ihr doch eure Arbeit leisten
und uns nicht in diese Verlegenheit bringen. Oder sind Sie nicht
imstande, zu übersehen,« fragt er mit einem scharfen Blick auf Karle
Töndern, »was ein Streik jetzt dem Hafen für einen Schaden bringt?«

»Das sehen wir wohl ein,« meint Karle Töndern ruhig und fast etwas
traurig, »es tut uns auch allen sehr leid, da wir zufrieden sind und
über Tarif bezahlt werden. Aber wir können unsere Kollegen nicht im
Stich lassen.«

»Ihr seid doch im Grunde keine Transportarbeiter!«

»Nein, das stimmt. Doch wir haben uns dem Verband angeschlossen, damit
wir allein nicht so schwach sind, und nun müssen wir zusammenhalten.«

Damit wir allein nicht so schwach sind! Mit diesen Worten ist Joachim
Becker geschlagen. Er hat es an sich selbst erfahren, wie es auf den
inneren Menschen wirkt, wenn er allein bleibt und sich an niemand
anschließt. Man verliert den Mut oder man wird hart. Vielleicht gibt es
noch eine dritte Möglichkeit, aber dazu muß man sehr stark sein. Diese
Männer hier, in deren Beruf der einzelne nichts auszurichten vermag,
sind nur stark in der Gesamtheit.

Joachim Becker bekommt plötzlich Respekt vor dieser Geschlossenheit.
›Das ist es, was uns fehlt, uns Neunmalklugen‹, denkt er. ›Wir haben
nicht ~ein~ Ziel, wir haben tausend Ziele, jeder ein anderes, und
dabei vergessen wir das Wesentliche und zersplittern uns. Hier ist
~ein~ einender Gedanke: sich gegenseitig stützen und treu bleiben.
Dafür bringen sie sogar persönliche Opfer.‹

Er hatte mit den alten Mitteln auffahren wollen: Entlassungen,
Einstellung von Streikbrechern. Nun sagt er zum Kapitän:

»Was können wir da unternehmen?«

»Mit dem Arbeitgeberverband sprechen?« meint der Kapitän fragend.

»Wir dachten uns, daß es vielleicht nicht lange dauert,« wendet Karle
Töndern ein, »denn was der Hafen bezahlen kann, dachten wir, warum
sollen das die anderen nicht auch können?«

›Was sagst du da in deiner Einfalt?‹ denkt Joachim Becker. ›Du machst
mir klar, daß ich der Ungetreueste bin, daß ich meinen Genossen in den
Rücken fiel. Weil ich eingesehen habe, daß die Löhne zu niedrig sind,
und mir mit unterernährten Arbeitern nicht gedient ist, habe ich für
~mein~ Teil gesorgt und die Löhne erhöht, anstatt zum Verband zu
gehen und zu sagen: wir müssen es ~alle~ so machen, oder warum
könnt ihr es nicht? Nun muß ich bei Gott noch von meinen geringsten
Arbeitern lernen und ihnen nacheifern.‹

Hat er nicht vor einer halben Stunde erst gesagt: »Da müßte man mit
Maschinengewehren dazwischenfahren?« Nun nimmt er demütig ihre Lehren
entgegen und hat das eigenartige Gefühl, daß er trotzdem wieder ein
Stück gewachsen sei.

Er reicht den Männern die Hand und sagt: »Wir wollen deswegen keine
Feinde sein, ich will versuchen, ob ich etwas ausrichten kann.«

Da ziehen sie befriedigt ab und fürchten sich nicht einmal vor
Lohnausfall und Sorgen.

Bis zum Abend hat Joachim Becker, der nicht eher ruht, bis er eine
Sache zu Ende durchgeführt hat, verschiedene Versuche unternommen.
Er langt erschöpft und entmutigt zu Hause an und muß sich noch
einem Gast widmen: Direktor Haarland, dem Amateurboxer und jüngsten
Aufsichtsratsmitglied der Hafengesellschaft.

Die zarte junge Frau Haarlands, die den größten Teil des Jahres in
Davos leben muß, hat sich an Frau Adelheid angeschlossen. Dann setzen
sich die beiden Männer in das Rauchzimmer und plaudern.

»Und wissen Sie, was man mir geantwortet hat?« sagt Joachim Becker zu
Direktor Haarland, der sich in seinem Sessel wie auf einem Liegestuhl
ausstreckt. »Als wäre das so ganz in der Ordnung, meinten sie:
›Selbstverständlich zahlen viele über Tarif. Das steht jedem frei,
aber wir wollen niemand dazu zwingen. Für die Allgemeinheit muß der
alte Tarif erhalten bleiben.‹ Sie gebrauchten sogar noch das Wort
Allgemeinheit!«

Direktor Haarland lacht. »Haben Sie sich schon mal zur Allgemeinheit
gezählt? Sehen Sie, das macht nämlich keiner. Für uns ist das bloß ein
Wort. Im übrigen ist jeder ein ›Ich‹, eine Besonderheit, auf die er so
recht stolz sein muß.«

»Natürlich will man die Individualität nicht ausgeschaltet wissen, aber
der Zusammenhalt, die Geschlossenheit!« ruft Joachim Becker aus.

»Da muß ich Sie wieder was fragen: wenn einer Konkurs anmeldet, haben
wir dann schon mal gesagt: Donnerwetter, eine betrübliche Lücke in
unserer Phalanx, wieder einer weniger? Nee, wir sagen: Gott sei Dank,
ein Konkurrent weg. Und wenn's nach uns ginge, so könnten 99 Prozent
fallieren, dann bleibt eben die Chose für einen ganz allein. Wissen
Sie, ich kann das nur wieder mit meinem Boxsport vergleichen: man will
dem Gegner nicht nur eine kleine Blessur beibringen wie etwa mit dem
Florett, um seine Kunst zu zeigen, nein, man möchte ihn am liebsten für
alle Zeiten kaputtschlagen. Dann ist man ihn los, den Kerl, und kann
sich feiern lassen. Darin liegt nämlich der Witz: wir betreiben eine
Sache nicht der Sache wegen, sondern um eines Endzwecks willen. Und der
ist immer nur: Geld, Ruhm und alles, was sich damit kaufen läßt. Wir
haben den Genuß am tätigen Leben verloren.«

»Den Genuß am tätigen Leben --«, wiederholt Joachim Becker langsam.
»Ja, das klingt geradezu paradox.« -- -- --

Nun hat der Hafen also auch seinen Streik.

Eine Explosionskatastrophe, der Konkurs eines Mitläufers,
vorübergehende Arbeitseinstellung, ein Streik -- das sind Beigaben,
die wie Kinderkrankheiten hingenommen werden müssen. Man kann
sie in vielfacher Weise erleben, sie schmieden das Werk wie die
Schicksalsschläge den Menschen: der eine wird mutlos, der andere hart,
der dritte aber trägt alles als einen Gewinn fort.

Und wenn das Leben ihm so recht nach Herzenslust mitgespielt hat und
wir begegnen ihm, so sagen wir: Siehe, ein Mensch!

Joachim Becker hat von diesem Streik gleichfalls manches gelernt.
Er mußte schon viele Wandlungen erleben. Er ist zum Beispiel einmal
mit einer Shagpfeife herumgelaufen und hat sich von den Engländern
imponieren lassen, er bewunderte auch die Amerikaner und ließ in
seinem Hafen ein Turmhaus bauen. Man kann nicht sagen, daß es
gleich die Wolken kratzt, doch es hat so viel Räume, daß selbst die
überorganisierteste Hafengesellschaft sie nicht auszufüllen vermöchte.

Aber ebenso wie man eine Shagpfeife wegwerfen darf, weil sie nicht
schmeckt, so kann man ein Verwaltungsgebäude vermieten, wenn man selbst
nur einen halben Seitenflügel braucht.

Joachim Becker hat es zwar einmal nicht erwarten können, ein Projekt
in seiner vollen Größe sofort verwirklicht zu sehen, er ist nicht für
langsame Entwicklungen, aber er findet letzten Endes doch noch einen
gesunden Weg.

Und das Schicksal straft ihn für seine Ungeduld, indem es ihn ein
langsames Wachstum seines inneren Menschen erleben läßt.

Hat er nicht seinen Arbeitern die Hände geschüttelt, obgleich sie ihm
den Streik verkündeten? Jetzt rennt er wütend in seinem Hafen umher und
möchte am liebsten jeden hinauswerfen oder verprügeln, der die Hände in
den Taschen hält und sich müßig die vollen Kähne beguckt.

Karle Töndern steht bei Schiffer Jensen und sagt:

»Da liegst du nun fest mit deiner Ladung.«

»Ja,« sagt Schiffer Jensen, »da ist mal nichts zu machen.«

Sie nehmen es beide wie eine Schicksalsfügung geduldig hin. Der Tod
holt sich eine blonde junge Frau und kümmert sich nicht darum, wie dem
Manne mit seinem kleinen Jungen nun zumute ist. Aber auch dann hadert
Schiffer Jensen noch nicht einmal mit seinem Gott.

Karle Töndern trottet zum Getreidespeicher hinüber. Da rattern die
Maschinen ohne Unterbrechung. Bodenmeister Ulrich hält auf seinem
Posten aus, er ist ungeheuer beschäftigt. Die Generaldirektion hat ihm
zwar einige Helfer geschickt: Grünschnäbel aus dem Bureau, die ihm
nur im Wege stehen, und ein paar Mechaniker, die vielleicht mit einer
Wasserleitung fertig werden ... Doch mit einem Getreidespeicher...?
Einen Getreidespeicher versteht nur er, Bodenmeister Ulrich.

Hier vermag also Karle Töndern mit seinen gebundenen Händen auch nichts
auszurichten, er macht einen großen Bogen um den Generaldirektor
und den Kapitän und schlängelt sich in die Hafenwirtschaft hinein.
Vielleicht kann er bei Frau Reiche ein wenig von seiner vielen Zeit
loswerden. Er hört ihr lautes Kreischen schon vor der Tür.

»Na, da kommt ja noch so ein Faulenzer!« ruft sie ihm entgegen. »Wenn
es heute hier Alkohol gäbe, dann wärt ihr jetzt schon alle besoffen!«

Sie machen ihre Witze und sind scheinbar ebenso guter Laune wie Frau
Reiche, die sich in ihrer Ausgelassenheit keinen Rat mehr weiß. Und
nun bringt sie wahrhaftig ihr Kirschwasser an und traktiert alle Gäste.

»Erstens ist das meine private Angelegenheit,« sagt sie zu ihrer
Rechtfertigung, »und zweitens kann es mir ja jetzt schon ganz egal
sein, da ich doch von hier weggehe.«

Was? Hat man recht gehört? Das ist doch wirklich eine Nachricht, nicht
weniger wichtig, als wenn der Generaldirektor selber demissionierte.

»Ja,« sagt sie mit stolzem, breitem Lachen, »ich werde jetzt geschieden
und tausche die Kantine gegen ein Zigarrengeschäft.«

Aha! Nun wissen sie Bescheid. Sie denken sich ihr Teil und sind nicht
so engherzig, es für sich zu behalten.

Ob sie wohl schon einen Geschäftsführer für den Zigarrenladen hätte?
Einen mit seidenen Strümpfen und feinen Krawatten? Haha, dann wäre ja
alles in Ordnung.

»Wem es nicht paßt,« sagt Frau Reiche drohend, »dem kann ich auch nicht
helfen!« Sie lachen, daß die Wände dröhnen. Ab und zu verschwindet
einer von den Gästen ohne viel Aufhebens, aber dann ist gleich wieder
ein anderer da, und die Unterhaltung bleibt weiter im Gange.

Karle Töndern schiebt sich zur Tür hinaus. Er bohrt die Hände fest in
die Taschen und macht das gleichmütigste Gesicht von der Welt.

›Das allerschlimmste ist,‹ denkt er, ›daß man nicht weiß, wie man seine
Zeit totschlagen soll.‹ Karle Töndern erlebt seinen ersten Streik.
Er ist seit zehn Jahren in der Stadt und hat immer seine Tätigkeit
gehabt. Manchmal dachte er, du möchtest doch auch einmal die Straßen
am Vormittag sehen; besonders im Winter, wenn er in der Dunkelheit zur
Arbeitsstelle ging und wiederum im Dunkel nach Hause kam. Da konnte man
sich die ganze Woche Frau und Kinder nicht im Tageslicht begucken.

Aufrührerische Ideen hatte Karle Töndern noch nie gehabt, aber zuweilen
meinte er doch: einen Werktag möchtest du mal für dich haben und dir
die Welt zu jeder Stunde betrachten, besonders zwischen sieben und
vier. Nun hat er diesen Tag.

Er könnte sich zum Beispiel auf jene Bank setzen, die zwischen ein paar
grünen Bäumen aufgestellt ist und den Großstädter zur Ruhe auffordert.
Da dürfte er die Natur genießen und vielleicht auch den spielenden
Kindern zuschauen. Aber was sieht er? Seine Frau, die daheim an den
Kochtöpfen hantiert und nicht wagt, ein Stück Fleisch hineinzulegen.

Sie glaubten gerade, eine schleppende Last, die durch Krankheiten der
Kinder entstanden war, bald abschütteln zu können, da bringt der Streik
neue Sorgen. Das zieht sich dann von Woche zu Woche hin, und wenn du
denkst: ›den nächsten Lohn kannst du endlich einmal glatt einteilen,
damit du für jeden Tag etwas hast,‹ da ist plötzlich der Winter
eingezogen, und du brauchst Kohlen und warmes Zeug für die Kinder.

Nein, auf dieser Bank ist doch kein schönes Verweilen. Da geht Karle
Töndern lieber zum Verbandslokal und hört, was die anderen sagen. Man
kann sie schon von weitem sehen, denn sie stehen auf der Straße umher,
reden über dieses und jenes und warten.

Von der Streiklage hat noch niemand Näheres gehört. Aber hier ist
einer, der könnte heute seinen 25. Streik feiern.

»Da kannst du mit mir noch gar nicht mit«, sagt ein anderer, und er
lacht, ohne das Gesicht zu verziehen.

Karle Töndern guckt einigen verstohlen auf die Beine und denkt: solche
geflickten Hosen hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gehabt.
Und dann unterhält er sich mit mehreren, die auch ihren ersten Streik
erleben.

Viele tragen dünne Rucksäcke auf dem Rücken, darin haben sie ihren
Proviant für den ganzen Tag. Wenn jetzt die Parole erteilt wird »Arbeit
aufnehmen«, dann können sie gleich hingehen, und für ihr Essen ist
gesorgt.

Manche haben sich schon etwas »Mut« geholt. Ihre Augen schwimmen, und
sie sagen auch mal was Lustiges, worüber keiner lacht.

Und da stehen sie alle und warten.




                             Die Begegnung


Der Streik ist nach wenigen Tagen beigelegt worden und hat dem Hafen
keinen nennenswerten Schaden gebracht.

Beide Hafenbecken liegen voller Schiffe, und es ist wieder ein
lebhaftes Getriebe an allen Kaimauern, in den Lagerhallen und auf den
freien Plätzen.

Irmgard Pohl muß, von ihrer Reise zurückgekehrt, feststellen, daß
der großartige erste Eindruck durchaus nicht hinter dem Bild ihrer
Erinnerung zurücksteht. Gewiß hat sich während ihrer Abwesenheit
manches im Hafen geändert. Es wurde immer weiter gebaut, sogar ein
drittes Hafenbecken kann bald in Betrieb genommen werden, und alles ist
noch mächtiger, als es war. Aber welche Wandlungen sind diesseits des
Kanals vor sich gegangen!

Daß sie von Frau Pohl herzlich, ja sogar mit gerührtem Überschwang
begrüßt wird, überrascht die Heimgekehrte ebenso wie die äußere
Veränderung an der Mutter.

Sie waren in diesem Jahr der ersten räumlichen Trennung in einen
angeregten Briefwechsel hineingeraten, der alle Gegensätze zu
überbrücken schien. Irmgard wußte jedoch, daß die Mutter zu jenen
Naturen gehört, die sich nur dem körperlich fernen, dem unsichtbaren
Menschen ganz erschließen können, und sie fürchtete sich vor der
Schranke, die sich bei der persönlichen Begegnung zwischen ihnen
aufrichten würde.

Und nun steht Frau Pohl neben ihr, den Arm ohne Scheu zärtlich um die
Schultern der Tochter gelegt, mit einem mütterlich-weichen Lächeln im
entspannten Gesicht, und aus den Augen ist endlich der starre Glanz
gewichen.

Sie eilt nicht gehetzt von einer Arbeit zur anderen, sondern sie läßt
sich hier und da nieder und sieht zu, wie die Zeit langsamer davongeht.

»Ja,« sagt sie fast entschuldigend, während sie sich wieder vom
pausbäckigen und sehr dreibastigen Sohn tyrannisieren läßt, »so
vertrödelt man seine Zeit«. Und dann kostet es sie einige Mühe, sich
vom Stuhl zu trennen, um in der Küche nach dem Rechten zu sehen.

Irmgard geht zum soundsovielten Male in den alten Räumen umher und
feiert Wiedersehen. Ihre Bewegungen sind ausholender geworden, sie
bewegt die Arme nach allen Seiten, und es scheint, als wären die Zimmer
nun zu eng für sie.

Zuweilen betrachtet sie den kleinen Michael, der bei der Begrüßung
kein gutes Gedächtnis verriet, sondern seiner »Schwester« sehr
eindringlich vorgestellt werden mußte. Sie sieht ihm von der Seite zu,
wie er seine Spielsachen umherwirft, und lauscht mit Vergnügen seinen
Selbstgesprächen, aber sie muß es sich gefallen lassen, daß er ihre
Beteiligung am Spiel zunächst noch ablehnt.

Herr Pohl kommt zur Mittagsstunde herein und setzt sich in den Sessel
am Fenster, mit einer gewohnten stillen Geste, als wäre es an der
Tagesordnung, daß er hier erst eine Weile auf sein Essen wartet.

Der Tisch ist noch nicht gedeckt, Irmgard sieht kopfschüttelnd auf die
Uhr.

»Sag' einmal, Vater,« fragt sie, mit übertriebenem Staunen, »verspätet
man sich hier mit dem Essen?«

Der Vater nimmt ihren Spott lächelnd hin. »Das kommt jetzt zuweilen
vor,« meint er milde, »doch es ist sehr schön, indessen hier zu sitzen
und ein wenig zu sich selbst zu kommen.«

»Ja, ja,« sagt seine Tochter, während sie sich hinter ihm aufstellt und
mit den Fingern über seine grauen Haare fährt, »es gehen große Dinge
vor in einem Jahr.«

Sie lacht übermütig und begibt sich wieder auf ihre unruhigen
Entdeckungswanderungen.

»Ich glaube, hier ist sogar etwas Staub liegengeblieben. Und wo sind
denn nur die scheußlichen Nippessachen, die überall herumstehen
mußten?« ruft sie aus einer Ecke des Zimmers zu ihm hinüber.

»Die hat der Junge so nach und nach entzweigeschlagen«, erwidert Herr
Pohl gutmütig lachend.

Irmgard kann es sich nicht versagen, den Knaben in ihrer Freude darüber
hochzuheben und mit einem Kuß zu belohnen. »Für die Rettung der Kunst«,
meint sie belustigt.

Aber der so jählings in seiner Beschäftigung Gestörte rächt sich dafür
durch einen tüchtigen Griff in ihre Haare. Irmgard setzt ihn, ärgerlich
über die Abwehr und den körperlichen Schmerz, barsch auf seinen Platz
zurück.

»Pfui, du bist ja ein ganz verzogener, brutaler Bengel geworden!«

Der dreijährige Michael kann eine derartige Beleidigung nur mit einem
fürchterlichen Gebrüll beantworten, das sein guter alter Kamerad, der
Vater, besänftigen muß.

Als er die letzten Seufzer auf seinem Knie verschluckt hat, meint
Michael Pohl entschuldigend zu seiner Tochter:

»Siehst du, so ist es: was wir dir an Strenge zuviel gaben, hat der
Junge nun zu wenig. Man ist in der Jugend zu hart und im Alter zu
milde. Wo ist das goldene Maß im Leben?«

Irmgard ist wieder besänftigt. Sie muß unwillkürlich an den Kapitän
denken und sagt nach einer Weile:

»Wie geht es unserem gerechten Mann, dem Kapitän? Ich habe ihm auch
zwei Karten geschickt.«

Herr Pohl findet, daß zwei Karten nicht viel sind, aber er gibt seine
Ansicht darüber nicht preis. Er wischt die Tränenspuren vom wieder
strahlenden Gesicht seines kleinen Adoptivsohnes und erwidert:

»Er hat oft am Abend hier bei uns gesessen. Ja, man kann wohl sagen,
daß er immer noch so ist, wie er war. Wir drei haben uns recht gut
verstanden. Die Mutter freute sich stets, wenn er kam, denn sonst ist
es sehr still bei uns gewesen. Übrigens wurde der Prozeß mit dem Hafen
jetzt aus der Welt geschafft. Da mag ebenfalls der Kapitän seine Hand
im Spiele gehabt haben.«

Irmgard ist zwar auch damit zufrieden, daß dieser unerquickliche Streit
beseitigt wurde, aber sie sieht nicht ein, warum man das nur dem
Kapitän anrechnen soll. Konnte nicht Joachim Becker inzwischen auch
einsichtiger geworden sein?

»Daß der Kapitän dich immer grüßen ließ, hat die Mutter dir wohl
geschrieben?« fragt Herr Pohl nebenbei. »Wir haben ihn zu morgen abend
eingeladen. Es ist dir doch recht?«

Gewiß freut sie sich auch darauf, ihn wiederzusehen.

»Ich habe mich doch sehr nach allem, was hier so rundherum ist,
gesehnt«, fügt sie hinzu.

Sie stellt sich ans Fenster und blickt in das lebhafte Getriebe am
Mühlenplatz, auf die erweiterten Gebäude und das Getümmel um die
Baugrube der neuen Brotfabrik. Sie denkt daran, wie sie damals nach
Michaels Geburt hier saß und sich in das neue Leben nicht hineinfinden
konnte. Und wie später ihre überreizten Nerven diesen Pulsschlag
einer großen Stadt nicht vertragen wollten. Nun erlebt sie alles
mit gesunden Sinnen und freut sich auf Arbeit und Kampf und auf die
Überraschungen, die das Leben ihr noch zu bieten hat.

Auch der Kapitän findet am nächsten Abend bei der Begrüßung, daß man
ihr die gesunden Nerven und die Unternehmungslust ansehe. Er kann es
nicht oft genug versichern.

»Ja, Reisen wandeln den Menschen. Man sollte sich immer wieder einmal
neue Luft um die Nase wehen lassen. Ich habe auch schon daran gedacht,
daß es noch andere Häfen in der Welt gibt.«

»Hier ist es doch sehr schön«, meint Irmgard Pohl. »Ich will jetzt zu
Hause bleiben und wieder Vaters Kompagnon werden. Was soll eine Frau
auch allein auf Reisen!«

Ja, da habe sie recht. Darin muß der Kapitän ihr vollkommen zustimmen,
eine Frau brauche einen Begleiter.

»Und sie denken doch kaum im Ernst daran, uns zu verlassen?« fragt Frau
Pohl nicht ohne Besorgnis.

»Nein, nein, im Ernst noch nicht.« Für später hätte er daran gedacht.
Aber es habe noch Zeit, noch bliebe er hier.

Und dann erzählt er wieder von seinen Reisen, von den vielfältigen
Wundern in der Welt. Er spricht sehr lange und ausführlich, in seiner
gleichmäßigen absatzlosen Art und mit Anstrengung in der Stimme.
Schließlich kommt er wieder zu dem Resultat, daß es gut sei, zu reisen.
Doch nicht allein. Das sei für keinen gut. Am wenigsten in der Fremde.

Es scheint schwer, zur rechten Zeit aufzuhören, wenn man in so gutem
Fahrwasser ist. Irmgard, die sich vom Institut her an zeitiges
Schlafengehen gewöhnt hat, wird sehr müde, als der Kapitän sich endlich
verabschiedet.

»Findest du nicht auch,« sagt sie zum Vater, der den Gast noch
begleitet hat, »daß der Kapitän im letzten Jahr sehr gealtert ist?«

»Nein,« erwidert Herr Pohl, »er blieb genau so, wie er war.«

»Aber jedenfalls ist er nicht mehr der jüngste«, meint Irmgard Pohl,
die jetzt einen anderen Maßstab anlegt. »Und seine arme Stimme hat er
sich auch bald ganz ausgeschrien.«

›So ist die Jugend!‹ denkt Herr Pohl resignierend und ein wenig bitter
über so viel gedankenlose Grausamkeit. --

Wer könnte dem Kapitän jetzt seine gute Laune verderben! Er rennt im
Hafen umher, als gäbe es keinen Schreibtisch mit einem Telephon, mit
Briefen und Verträgen, die auch bedacht sein wollen. Fräulein Spandau
muß ihn immer wieder in den Lagerhallen, auf den Kähnen oder ganz
hinten bei den Schrott- und Kohlenbergen suchen, weil er gleichzeitig
im Verwaltungsgebäude verlangt wird.

Um diesen Riesenbau macht er am liebsten einen recht großen Bogen. Er
ist nie ein Freund von Schreibtischarbeit gewesen, lieber noch würde
er beim Ausladen der Schiffe selbst mit anpacken. Am wohlsten aber
war ihm immer, wenn er Planken unter den Füßen fühlte, und wenn die
Welt begann, sich fortzubewegen, langsam gleitend, während er selbst
feststand und unangefochten in ihr Getümmel sah, bis er außer Sehweite
war und nur das Meer in seiner gewaltigen Einsamkeit ihn umgab.

Unangefochten? Der Kapitän reibt sich die Hände und rennt zum anderen
Hafenbecken hinüber.

Oh, nun, da der leidige Winter überwunden ist und die Frühlingssonne
ihm den Rücken wärmt, will er sich auch wieder rühren und ein wenig
mittummeln. Allzulange ist er Zuschauer gewesen. Auf seinem Posten in
der Mitte.

Nachdem er genügend seine Beine gerührt hat, geht er endlich zu seinem
Bureau zurück. Vor der Kantine trifft er die Fürsorgeschwester.

»Na, Schwester eins,« sagt er gutgelaunt, »nun denken Sie wohl schon
wieder an Ihre Ferienkinder?«

Sie lächelt. Der junge Friemann hat ihr einen schönen Spottnamen
verschafft. Aber vom Kapitän will sie den Scherz gern hinnehmen.

Ob sie auch wüßte, daß Herr Pohl mit seiner Tochter heute nachmittag
den Hafen besichtigen werde, fragt der Kapitän, nach kurzer
Unterhaltung über ihre Aufgaben und Sorgen.

Nein, das wußte sie nicht. »Aber ich habe Fräulein Pohl auch schon
begrüßt«, sagt sie. »Sie hat sich wirklich sehr verändert. Ach, es ist
wohl schön, wenn man sich ein ganzes Jahr erholen kann«, fügt sie mit
einem kleinen Seufzer hinzu.

Der Kapitän setzt seinen Weg fort. ›Ja, ja, der Neid der lieben
Mitmenschen‹, denkt er dabei abschließend über die Fürsorgeschwester.
--

Joachim Becker fährt an diesem Nachmittag im Hafen vor und will mit
gewohnter Eile in das Verwaltungsgebäude hineingehen, als er die Stimme
des Kapitäns aus unmittelbarer Nähe vernimmt.

Er wendet sich um und sieht ihn, wenige Schritte entfernt, im
angeregten Gespräch mit seinen Gästen stehen.

Es ist nicht schwer, den Mühlenbesitzer Pohl zu erkennen, zumal er
den Hut in der Hand hält und sein großer Graukopf unter den Strahlen
der rotglühenden Abendsonne silbrig aufleuchtet. Er dreht dem
Verwaltungsgebäude den Rücken und hat von dem Ankömmling nichts
gemerkt.

Dem Kapitän konnte das Einfahren des bekannten Autos nicht entgehen.
Er bleibt gleichfalls dem Hafenbecken zugewendet und spricht
geflissentlich weiter.

Nur Irmgard Pohl sieht sich, durch das Surren des Motors abgelenkt, in
weiblicher Neugierde unwillkürlich um.

Natürlich hat sie beim Betreten des Hafens daran gedacht, daß
sie Joachim Becker zufällig begegnen könnte. Sie war sich auch
über ihre stolze und abweisende Haltung, mit der sie ihm nun ihre
Gleichgültigkeit dokumentieren mußte, vollkommen im klaren.

Was aber sind alle Vorsätze? Sie fühlt in der plötzlichen Begegnung
mit seinem Blick, daß ihr Genick steif wird, daß sie jede Gewalt über
den Ausdruck ihrer Augen verliert. Ihr Blut schießt vom Herzen in
die entspannten Glieder, es klopft in den Schläfen, und sie hat nur
den beseligenden Gedanken, nicht allein zu sein in dieser gewaltigen
Rebellion. Denn auch Joachim Becker steht sekundenlang auf seinen Platz
geschmiedet und ist nicht imstande, den starren, ärgerlich-strengen
Blick von ihr zu lösen.

Erschreckend nah und mißtönig klingt plötzlich die Stimme des Kapitäns
in Irmgards Ohren.

»Sie fürchten doch nicht um Ihr helles Kleid, Fräulein Irmgard, wenn
ich Ihnen jetzt auch noch die Kohlenverladestelle zeige?« fragt er und
hat gar keinen Klang mehr in seiner gepreßten Stimme.

Er redet sie aus unerklärlichen Gründen mit ihrem Vornamen an.
Vielleicht weil er sich durch den Familienverkehr in seinen Gedanken
daran gewöhnt hat.

Sie wendet ihm ihr glühendes Gesicht zu, doch sie weiß keine Antwort zu
geben, denn sie hat nicht ein einziges Wort seiner Frage verstanden.

Der Kapitän beginnt, mit vielen fachwissenschaftlichen Ausdrücken von
der Verladeanlage, von der Schutthöhe der Kohlenlagerung, von der
Elektrohängebahn mit den Laufkatzen, von den Greifern und den fahrbaren
Brücken und anderen wichtigen Einrichtungen im Führerton zu berichten.

Er versucht, seine Erklärungen ab und zu durch einen Scherz zu würzen.
Doch wer sollte über so viel verzweifelten Humor lachen können?

Seht: Michael Pohl lacht, als hätte er noch nie so gute Witze gehört.

»Was bin ich weißer Müller gegen so viel schwarze Macht!« sagt er,
gleichfalls bemüht, die Stimmung zu retten.

Der Zustand des Kapitäns entgeht ihm ebensowenig wie das verwirrte
Gesicht seiner Tochter. Im Zusammenhang mit dem Einfahren des
Automobils kann er sich manches erklären.

Er denkt: ist dieser Mann, dem auf die Dauer keiner seine Sympathie
versagt, so lange einsam gewesen, so wird er auch noch einige Zeit
warten können. Geduld dürfte er in seinem unsteten Dasein genügend
gelernt haben.

Ja, Geduldsübung ist dem Kapitän ohne Zweifel vertrauter als Joachim
Becker, der im Zimmer des Hafendirektors wie ein gefangenes Tier
umherrennt und die Fäuste ballt.

Natürlich hat es keinen Sinn, hier zu warten, daß der Kapitän heute
noch für geschäftliche Zwecke Zeit findet. Er führt seinen Besuch
spazieren und kümmert sich nicht darum, daß man ihn zu sprechen
wünscht.

Trotzdem stellt sich der Generaldirektor ans Fenster, um zu verfolgen,
wie weit der Kapitän sich vom Verwaltungsgebäude zu entfernen gedenkt.

Die drei gehen an der Kaimauer entlang, gemächlich und scheinbar
in ständiger Unterhaltung. Der Kapitän weist zuweilen mit eckigen
Bewegungen zu den Kränen und Laderampen hinüber, während er, schräg zu
seinen Besuchern gewandt, die steifen Beine bewegt.

Es ist noch zu erkennen, wie Michael Pohl, der breit und wuchtig
neben ihm geht, beifällig mit dem Kopfe nickt. Diese stumme Geste der
Zustimmung ist dem Beobachter am Fenster nicht fremd. Wie oft hat er
zu seinen Plänen vom Hafen so genickt und ihn dabei mit den hellen,
teilnahmsvollen Augen ernst angeblickt. Auch als Joachim Becker ihn
damals, etwas verlegen über diese Situation, um seine Tochter bat,
hatte er zunächst nur mit einem Nicken zugestimmt, ehe er seine Ansicht
äußerte, daß es gut sei, noch zu warten, damit niemand sich bei einem
so schwerwiegenden Schritt übereile.

Das sind peinliche Gedankengänge, denen man sich lieber entzieht,
wenn man kein reines Gewissen hat. Der Generaldirektor rennt wieder
in die Tiefe des Zimmers. »Verfluchte Warterei«, murmelt er zwischen
den Zähnen, während er mit langen Schritten über den Teppich eilt, die
Hände fest in die Taschen gebohrt.

Dann steht er wieder am Fenster und sieht doch noch Irmgard Pohl nach,
ehe sie seinem Blickfeld entschwindet.

Sie geht mit kleinen Schritten, die Arme eng an den Körper gepreßt, als
fühle sie sich beobachtet und wisse nicht, wie sie sich bewegen soll.

Er stellt möglichst sachlich fest, daß sie in allem noch so wie damals
ist, in der Erscheinung wie im ruhigen Ausdruck des klaren Gesichts,
das er vorhin, für einen Augenblick, wie etwas Verlorenes in sich
aufnahm.

Man sieht ihr nicht an, was sie hinter sich hat, denkt er, zum Teil
seines Gewissens wegen beruhigt und gleichzeitig enttäuscht darüber, so
leicht vergessen zu sein. Ja, sie scheint besser daran als er. Sie hat
ihn überwunden, wenn sie auch noch bei seinem Anblick errötet.

War sie nicht damals schon von dieser ausgeglichenen fraulich-gütigen
Harmonie? Und blickten ihre klugen ernsten Augen nicht von jeher --
in diesen jungen Jahren bereits -- ruhig und milde, obgleich sie
gleichzeitig mädchenhaft ausgelassen sein konnte und ihn sogar zu
kindischen Spielen anregte? Sie stand daneben und lächelte, sie hatte
ihren Spaß daran, ihn zu einem Popanz zu verwandeln, zu »ihrem großen
Jungen«, wie sie mit mütterlicher Überlegenheit sagte.

Aber er hatte dieser Jugendeselei ein Ende gemacht. Er durfte bei
seinen großen Plänen keine Zeit mehr zu albernen Spielen haben. Eine
ernste und vernünftige Ehe entsprach eher seiner Position. Besitzt er
nicht eine gute Frau und eine hübsche kleine Tochter mit großen braunen
Augen, die jeder bewundert, weil sie so »reizend melancholisch« sind?
Nein, er hat wahrlich keine Ursache, unzufrieden zu sein.

Die Zeit renkt auch alles weise zurecht. Der unangenehme Prozeß ist
beendigt, nun geht sein Prozeßgegner sogar im einstmals feindlichen
Hafen spazieren. Und es sieht ganz danach aus, als wolle der zweite
Hafendirektor, der Kapitän, die Tochter des Gegners heiraten und
für alle Zeiten rehabilitieren. Obgleich sie diese Ehrenrettung
nicht einmal nötig hätte, da ihr kluger Vater durch eine freundliche
Vertuschung das Ansehen der Familie längst wieder aufgerichtet hat.

Teufel nochmal, das hätte er diesem geraden Manne nicht einmal
zugetraut! Aber man sieht: andere Leute unternehmen auch Winkelzüge im
Interesse ihrer Reputation.

Ja, er ist über die Vorgänge im Hause des Mühlenbesitzers unterrichtet.
Länger als ein Jahr. Seit er die gräßliche Ungewißheit nicht mehr
ertrug. Er mußte doch mindestens erfahren, ob sein Sohn noch am Leben
war oder nicht. Wozu gab es Auskunfteien, Leute, die dazu da sind,
Erkundigungen einzuziehen, damit man sich nicht durch unpassende Fragen
seine Autorität verscherzt?

Er bekommt seine laufenden Informationen und weiß nun, daß der
Mühlenbesitzer nicht einen Enkel, sondern einen Adoptivsohn besitzt.
Die Tochter wird auf ein Jahr fortgeschickt, und hier geht sie nun in
seinem Hafen spazieren. Schön und jung, mit einem ansehnlichen und
geduldigen Bewerber zur Seite.

Der Kapitän wäre wohl der Mann, über den Schatten in der Vergangenheit
einer Frau hinwegzusehen, dieser ewig Gerechte und Höfliche, den nichts
aus dem Gleichgewicht bringen kann.

Nun bekommt sie also noch ihren Hafendirektor und einen guten Namen
dazu. »v. Hollmann« hat einen anderen Klang! Was ist er, der Sohn
des kleinen Beamten, dagegen! Was half es ihm, daß er sich in den
Nächten das bißchen Bildung und Wissen einpaukte, um sich Geltung zu
verschaffen? Er war doch erst etwas geworden, nachdem er die verliebte
Tochter eines Getreidehändlers zur Frau bekam.

Und nimmt man ihn ernst? Lächelt man nicht im stillen über ihn und
stellt hämisch fest, daß man mit dem Geld eines reichen Schwiegervaters
ebensoviel erreichen könnte? Was nutzt ihm alle Arbeit, alle Energie?
Wer erkennt seine wahren Leistungen an? Hat man darum so lange
geschuftet, vom Morgen bis in die Nacht, ohne einzuhalten, ohne eine
Freude, ohne Befriedigung, um jetzt hier das Fazit zu ziehen, daß alles
vergebens war?

Er bleibt in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände auf dem Rücken
ineinandergelegt. Sein Mund ist hart, schmal und verkniffen, die
senkrechte Falte zwischen den Augen wirkt wie eine Narbe.

Sein Blick fällt auf den Schreibtisch des Kapitäns. Hier hat er
damals ihre Stimme gehört, diesen ruhigen, volltönigen Klang. Einen
Augenblick denkt er an den Duft der Linden. Er läßt sich in einen
Sessel fallen und schließt die Augen. Das leise Rauschen in den Wipfeln
der alten Bäume hängt ihm wieder in den Ohren, da er sich dieser Stimme
entsinnt. Es scheint ihm, als lägen die Erinnerungen ein Menschenalter
und nicht knapp vier Jahre zurück.

Der Kapitän! Joachim Becker kennt keinen Menschen, der soviel
allgemeine Achtung und Sympathie genießt wie dieser stille und
bescheidene Hafendirektor.

Aus welchem Grunde sollte er wohl seit anderthalb Jahren in der
Familie des Mühlenbesitzers verkehren und nun hier mit der Tochter
spazierengehen?

Selbstverständlich wird er nicht im Hafen bleiben, denn er wäre nicht
der Mensch, der seine junge Frau durch den gebotenen gesellschaftlichen
Verkehr in schiefe Situationen bringt. Die großen Reedereien, die
ihn als Vertrauensmann für den Hafen empfahlen, würden auch eine
angemessene andere Verwendung für ihn haben.

Er kann seiner Frau etwas bieten! Er würde ihr die Welt zeigen und
sie in seine angesehenen Kreise führen. Hatte er nicht die großen
Passagierdampfer befehligt und auf die Weltmeere geführt, so daß
weitgereiste Leute, die seinen Namen hören, respektvoll fragen: ›v.
Hollmann, ist das nicht der Kapitän, der damals das und das Schiff
fuhr?‹ Dieses Mannes entsinnt sich jeder gern.

Wer aber weiß Gutes von ~ihm~ zu sagen? Er besitzt keinen Freund,
keinen Menschen, der das Recht dazu hätte, ihn zu verteidigen. Obgleich
er stets nur das Beste wollte, seine Kräfte nicht vergeudete, immer nur
an sein Werk dachte und niemals an sich selbst.

Er preßt die Fäuste gegen die Augen und sitzt, die Ellenbogen auf die
Knie gestützt, lange im fremden Zimmer, ohne jede Haltung und Würde.
Wie er sich wieder aufrichtet, ist sein Gesicht blaß und verstört, mit
roten Flecken auf der Stirn vom schmerzhaft festen Druck seiner eigenen
Hände.

Nun muß er aufstehen und sich zu seinem Wagen begeben. Er wird nach
Hause fahren. Und alles ist noch so wie es war.

Scheu, mit schlechtem Gewissen hetzt er durch den Korridor und vom
großen Haupteingang des Verwaltungsgebäudes zu seinem Wagen.

Er vermag an diesem Tage nicht mehr in das Bureau und zur Arbeit
zurückzukehren. Er läßt sich in seine Wohnung fahren, um sich von
dem einzigen Menschen, der immer gut und milde zu ihm war, von Frau
Adelheid, aufrichten zu lassen.

Sie ist nicht allein. Ihr Bruder leistet ihr Gesellschaft. Wenn
Schwester Emmi im Hafen nicht für ihn zu sprechen ist und es also
keinen Zweck hat, an dieser Stätte emsiger Arbeit länger als nötig zu
verweilen, hält er sich gern bei seiner Schwester auf, die mit ihren
einsamen Abenden so wenig anzufangen weiß.

Sobald sie ihre Tochter zu Bett gebracht hat, überfällt sie ihre alte
Melancholie, die sie ihrem stillen Kinde schon vererbt hat. Darum
schließt sie sich gern den häufigen Theaterbesuchen ihrer Verwandten
an oder weilt bei den Eltern, während ihr Mann bis in die späten
Abendstunden über der Arbeit sitzt. Oft sehen sie einander tagelang nur
in Gesellschaft Fremder und sind abgespannt und einsilbig, wenn sie
heimkehren.

Man hat an diesem Abend beabsichtigt, ein Theater zu besuchen, eine
sehenswerte Neueinstudierung, also eine Premiere gewissermaßen, die
Felix Friemann sich nicht entgehen läßt. Seine Eltern folgen in
diesem Punkte gern seiner Führung. Selbstverständlich trifft man auch
Verwandte und Bekannte, und der Abend ist gut angewandt.

Joachim Becker hat Frau Adelheid nicht nur mit seiner frühen Heimkehr
überrascht und beglückt; er erklärt sich auch bereit, sie zu begleiten.

Vom ungewohnten glänzenden und lauten Leben im Zuschauerraum verwirrt,
sitzt er dann still in seiner Loge. Er fürchtet sich schon jetzt vor
der Pause, vor den vielen geputzten Menschen, denen er begegnen wird
und die mit höflichen und freundlichen Worten bedacht sein sollen.

›Ist es nicht eine Ungerechtigkeit!‹ sagt er sich an diesem Tage, an
dem eine Begegnung ihn so in seinem ganzen Wesen aufstören konnte, ›daß
du in deinem Innern nicht zur Ruhe kommen sollst! Du fällst in alte
Fehler zurück, wirst unzufrieden mit dir, und wenn du vorwärts blickst,
so türmen sich Berge auf, die für andere scheinbar nicht bestehen.

Aber was weißt du von deinen Mitmenschen und ihrem Tun? Einstmals
glaubtest du, mit ihrem Studium fertig zu sein, und jetzt meldet sich
der Drang, daß du einen nach dem anderen aufschließen möchtest und in
seiner Seele erkennen.

Warum ist es dir nicht gegeben, sie zu meistern wie der Kommerzienrat
oder sie zu übersehen wie dein Schwager?

Siehe, dieser +Dr.+ Friemann, er hat die schönen Künste so
vollständig in sich aufgenommen, daß er nun in jeder Gesellschaft
darüber reden kann, er hat das Praktische studiert, und nun wird ihm
durch eine kleine blonde Fürsorgeschwester ein angenehmer Kummer
geschenkt. Sie ist ihm ein Ziel, zu dem nur der Weg Freuden bereitet;
also seien wir nicht traurig, wenn es etwas länger währt. Ja, Felix
Friemann ist ein fertiger Mensch, der mit sich und den anderen
zufrieden ist.‹

Joachim Becker, der junge Generaldirektor jedoch, der vor den Frauen
und bei den Gesprächen über die schönen Künste errötet, weil er
die einen so wenig kennt wie die anderen, sitzt steif da und weiß
nicht, während er den Vorgängen lauscht, ob er in der Pause ein
bedeutungsvolles oder ein bedenkliches Gesicht zeigen soll.

Als sie schließlich in das Foyer gehen, hat er sich für seine alte
kühle Maske entschieden.

Felix Friemann gesellt sich zu ihnen.

»Dieser Ibsen hat seine Probleme wirklich manchmal sehr weit
hergeholt«, meint er überlegen. »Auf Wildenten haben wir übrigens
damals in Norwegen auch geschossen.«

Die Familie Friemann begrüßt ihre Bekannten. Sie zeigen einander
die berühmten Kritiker, und einige reden von dem »Stück«. Die
Kommerzienrätin hat es sich zum Prinzip gemacht, nicht eher über eine
Aufführung zu sprechen, als bis die Kritiken erschienen sind, und sie
erwähnt frühere heftige Eindrücke.

Auch Rechtsanwalt Bernhard ist da. Er will sich traurig zur Seite
stellen, da er Frau Adelheid zärtlich an den Arm ihres Mannes gelehnt
sieht, aber Joachim Becker geht ihm entgegen und begrüßt ihn mit
ungeheuchelter Freude.

›Das ist noch ein natürlicher Mensch,‹ denkt Joachim Becker, ›er hat
sogar ein Herz.‹ Und sie verbringen zu dritt plaudernd die Pause, wobei
jeder in einer anderen Art seine Rechnung findet.

Obgleich Joachim Becker sich nach Stille und Dunkelheit sehnt und
Ablenkung von allen quälenden Gedanken wohl gebrauchen könnte, fürchtet
er sich vor der Fortsetzung des Spiels.

Muß er denn an diesem Abend in seiner Unzufriedenheit so weit gehen,
daß er in jeder verzerrten Gestalt sich selbst sieht? Er ist wahrhaftig
am Ende mit seiner Nervenkraft und sehnt den nahen Sommer herbei. In
diesem Jahre will er zum erstenmal wirklich ausspannen und mit seiner
Frau helle Sommertage irgendwo in den Bergen oder an der See verleben,
damit er wieder zu Kräften und Selbstbewußtsein gelangt.

Es ist, weiß Gott, lächerlich, hier Parallelen zu ziehen und sich
mit diesem pathetischen Hjalmar Ekdal, diesem Photographen mit der
Flatterkrawatte, zu vergleichen. Warum sollen gerade ihn die Vorgänge
auf der Bühne etwas angehen, ihn so persönlich berühren, daß er der
Selbstzerfleischung nahe ist?

Ein hirnverbrannter Gedanke, heute in dieser Verfassung hierherzugehen!
Laufen denn nicht soundsoviel andere auch in Gottes weiter Welt umher,
die einen Schatten, einen dunklen Punkt in ihrem Leben haben, an den
man am besten nicht rührt?

Oh, er möchte wohl wissen, wie wenige es sind, die so einem
Wahrheitsfanatiker wie Gregers Wehrle begegnen dürften, ohne mit der
Wimper zu zucken oder gar ihr ganzes Lebensgebäude einstürzen zu sehen.

Und sieht man es nicht an diesem Beispiel, wie verkehrt es ist, ans
Tageslicht zu ziehen, was lieber verborgen bliebe? Man hat Fehler
begangen, man sieht sie ein und vermeidet sie in Zukunft. Man hat
einmal nicht anständig gehandelt. Aber kann man das aus der Welt
schaffen? Ist es nicht vernünftiger, Geschehenes zu vergessen, um
ungestört weiter zu kommen?

Er hat mit seiner Frau niemals über seine Vergangenheit, über die
Beziehungen zum Hause Pohl gesprochen. Vielleicht haben ähnliche
Wahrheitsfanatiker wie dieser Narr auf der Bühne sie aufgeklärt, so
daß sie unnützen Gedanken nachhängt und öfter traurig und verweint
ist als notwendig wäre. Denn das muß er sich eingestehen: schlecht
behandelt hat er sie in ihrer mehr als dreijährigen Ehe nie. Er ist
sehr beschäftigt, wälzt imposante Pläne, und es paßt nicht zu seiner
großen Stellung, zu seinem verantwortlichen Posten als Generaldirektor
eines Werkes von Weltbedeutung, daß er sich wie ein Täuberich benimmt.

Da rühren sich wieder seine Gedanken von heute nachmittag: er durfte
mit Irmgard Pohl nicht mehr jung und ausgelassen sein, weil es sich mit
seinen großen Ideen nicht vereinbarte. Und nun meint er auch, daß er
kein zärtlicher Ehemann sein darf, weil es zur strengen, energischen
Haltung eines Generaldirektors, der sich Respekt und Autorität
verschafft, nicht gehört. Ist es seine Pflicht, nur als Arbeitsmaschine
zu funktionieren und sich niemals wie ein gewöhnlicher Mensch zu
benehmen?

Immer haftete er an den festgelegten Gesten, die zu seinem Amte
gehören. Zwischendurch probierte er es einmal mit der Shagpfeife und
mit der nachlässigen Haltung des Engländers, der seine Hände in den
Hosentaschen hält. Aber er ließ es wieder und fand Gefallen am smarten
Amerikaner, der nicht zu verblüffen ist und mit kühler Jovialität
seinen Leuten begegnet. Eine Weile versuchte er es, in dieser Weise zum
Beispiel seinen Angestellten entgegenzukommen, um von ihnen nicht nur
gefürchtet, sondern auch geliebt zu werden. Aber er hatte den Eindruck,
daß man ihm den lässigeren Ton als Schwäche auslegen könnte. Und so
kehrte er zu seiner alten Maske zurück: streng, energisch, militärisch
korrekt. Um von vornherein jeden Widerspruch auszuschließen, um sich
nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, das ist es: er läuft mit einer
Maske umher. Nur in den Stunden der Zerknirschung, der Schwäche, der
Selbsterkenntnis fällt sie von ihm ab.

Hat er nicht doch Berechtigung, sich mit diesem Photographen zu
vergleichen, der sich auch eine männliche und selbstgefällige Pose
zurechtgelegt hat wie so manche, denen man im Leben begegnet? Der
Kommerzienrat zum Beispiel mit seiner betont soignierten Haltung im
Geschäftsleben, während er daheim in seiner Familie nicht mehr als ein
gutmütiger alter Trottel ist?

Oh, wie grausam betrachtet er nun sich selbst. Gewiß, auch der
Kommerzienrat hat seine Maske vor den Menschen, ebenso wie die vielen
anderen, die der klugen Ansicht sind, daß man ohne sie im Lebenskampf
nicht auskomme; daß man mißbraucht werde, wenn man der Allgemeinheit,
den Konkurrenten, den Neidern, den lauernden Feinden den wahren
Menschen zeige. Aber verwandeln sie sich nicht, ebenso wie der
Kommerzienrat, zeitweise in ihr eigenes Wesen zurück?

Wann jedoch ist er ein Mensch ohne jede falsche Geste? Wann und wo
zeigt er seine wahren, seine geheimsten Empfindungen, das Zarte, das
auch in ihm sich regt, und seine Sehnsucht nach Wärme und Liebe?

So wie dieser Hjalmar Ekdal soeben seine Haltung zu verlieren im
Begriff war, als man ihm sein Lügenhaus enthüllte, so hat er heute
nachmittag ohne jede Würde im Zimmer des Kapitäns gesessen und klar,
entsetzlich klar erkannt, daß sein Ansehen, seine Arbeit, sein ganzes
Leben in den letzten drei Jahren sich auf eine Lüge stützt.

Und er ging nicht mit offenen Worten zu Frau Adelheid, um der Lüge ein
Ende zu bereiten. Nein, wie dort auf der Bühne das Dokument wieder
zusammengeklebt wird, das die Fortsetzung des alten Lebens erfordert,
so war er zu seiner Frau zurückgegangen, als wäre nichts geschehen, als
hätte nicht die wahre Erkenntnis ihm eben die Augen geöffnet.

Das Licht flammt auf. Joachim Becker sieht in Adelheids
tränenüberströmtes Gesicht. Rasch zieht er sie fort, ehe sie noch von
der Familie mit Gesprächen und Abschiedsworten aufgehalten werden
können. Sie nehmen irgendeinen Wagen, der vor der Türe steht, und
fahren nach Hause. Unterwegs trocknet er ihre Tränen und küßt die
kalten blassen Hände. Wieviel hat er an ihr gutzumachen. Es ist keine
Pose, keine Lüge, wenn er ihr nun die Hände küßt und sie herzlicher
behandelt als sonst. Nein, er ist ihr so unendlich dankbar für ihre
Güte und Geduld. Gehört es nicht als erstes zu seinem neuen Leben, daß
er ihr die warme Regung seines aufgestörten Herzens verrät?

Nie war Frau Adelheid so schmerzhaft glücklich wie in dieser Stunde.

Sie sprechen kein Wort, und erst zu Haus fragt Adelheid
schüchtern-zart:

»Darf ich dich zu einer Tasse Tee in meinem Zimmer einladen?«

»Ja«, sagt er mit weicher Stimme, während er ihren treuen Augen dankbar
begegnet.

Er lehnt gegen den hohen Kamin und blickt in seine Vergangenheit,
während Frau Adelheid mit stillen Bewegungen den Teetisch bereitet.

Die freundlichen Bilder sind nicht mehr durch falsche Strenge oder
Spottlust verzerrt. Sie sind hell und sprechen wie Erkenntnisse.
Irmgard Pohl hält ihm die feste, kameradschaftlich treue Hand hin und
sagt: ›Wie könnte ich an dir zweifeln? Das darfst du niemals denken!‹
Und Michael Pohl ist in seiner Erinnerung wieder vertrauensvoll und
gut zu ihm. Er schlägt ihn auf die Schultern und spricht: ›Ja, dann
sage ich von heute an du zu dir!‹ In seinen hellen tiefliegenden Augen
schimmert dabei seine geheime Zärtlichkeit.

Joachim Becker sieht seine Fehler unerbittlich und klar. Sie sagen: Nun
weißt du wohl, wie wir auszugleichen sind? Ja, das weiß er. Es ist so
einfach: man ist fortan nur gut zu jedermann, man geht zu zwei Menschen
und sagt: »Verzeiht!«

Adelheid ruft ihn an und berührt ihn am Arm. Ihre Augen sind ängstlich
und traurig, denn sie weiß, daß er mit seinen Gedanken wieder nicht in
ihrer Nähe weilt.

Er blickt sie ganz verwirrt an. War nicht eben alles so einfach und
klar? Er lacht bitter auf.

Nein, nichts ist klar, denn das Geschehene ist nicht auszulöschen!
Und eine Schurkerei bleibt eine Schurkerei. -- Was sollte die
rücksichtslose Wahrheit daran ändern?




                               Der Kran


Als im dritten Hafenbecken nun auch ein Wasserspiegel glänzte und an
den Kais eine Tankanlage für zwei Millionen Liter Benzin errichtet war,
konnte man endlich sagen, daß hier ein fertiger Hafen sei.

Im Norden ragt der mächtige Getreidespeicher, und schon wird die Frage
aufgeworfen, ob er auch ausreichen werde. Es steht nur noch nicht fest,
ob der Mühlenbesitzer Pohl, die Genossenschaft der Brotfabrik oder die
Hafengesellschaft den neuen Speicher bauen. Diese drei muß man nun in
einem Atemzuge nennen, denn sie gehören zusammen. Der Kapitän geht zum
Beispiel zum Nachbarn hinüber und sagt:

»Nun komme ich, um Ihrer Brotfabrik ~unseren~ Speicher anzubieten.
Vor nicht zu langer Zeit haben Sie uns ausgeholfen.« Und der mächtige
Herr Pohl nimmt dankend an. Er ist nun ein Faktor, den niemand mehr
übersehen darf.

Aber bei ihm finden wir nur Getreide, Mehl und bald auch Brot -- was
ist jedoch im Hafen? An seinem Mittelbecken wird alles in Empfang
genommen, eingelagert und verzollt, was aus dem Lande und aus fernsten
Erdteilen nur herangeschafft werden kann. Da sind viele tausend
Oxhoft Weine aus Frankreich und Spanien, Talg aus Skandinavien,
Eier aus Holland, Tabak aus Bulgarien, Fleisch, Schmalz und Speck
aus Amerika, Därme aus China, da sind alle Lebensmittel, die eine
Riesenstadt braucht: Mehl, Kaffee, Kakao, Zucker, Butter, Öl, und ganze
Dampferladungen von Heringen werden bis an die Decke der Schuppen
gestapelt.

Im Süden legen die flachen schweren Tankschiffe an, die Kesselwagen
rollen hin und her, und wenn man einen Blick auf die große und
imposante Kohlenverladeanlage wirft, dann glaubt man, in einem der
berühmten Industriebezirke zu weilen und nicht im einfachen Binnenhafen
einer großen Stadt, die sich in kurzer Zeit zum Stapelplatz für den
ganzen Handel des Landes heraufgearbeitet hat.

Nun ist die Mauer zum Gelände der verschollenen Verhüttungsgesellschaft
gefallen, und die riesigen Freilagerplätze mit ihren Bergen von Kohle,
Koks, Eisen, Sandsteinen, Zement, Holz und vielem anderen mehr sind
dorthin verlegt.

Es sieht alles so mächtig und imponierend aus, daß endlich die große
Eröffnungsfeier veranstaltet werden könnte. Aber es scheint noch nicht
genug zu sein.

Man will jetzt den Riesenkran aufstellen, der alles in einem
Binnenhafen Dagewesene überbieten soll. Dann erst dürfen die Gäste
kommen. Wie man einen besonders schönen Blumenstrauß für den Ehrengast
auf den Tisch stellt, so wird der Kran für die erste öffentliche
Besichtigung in den Hafen gepflanzt.

Was weiß ein Laie von einem Kran? Wer aber zur Hafengesellschaft
gehört, ist von der Wichtigkeit des Ereignisses erfüllt, als das
Ungetüm nach mühevoller Arbeit endlich dasteht und seine Leistungen
vollbringt.

»Das ist ein Bulle, was?« sagt Karle Töndern bewundernd.

Bodenmeister Ulrich meint: »In den Seehäfen, bei den großen Werften,
gibt es noch andere Dinger. Die können einen ganzen großen Ozeandampfer
heben.« Er weiß zwar nicht genau, ob das stimmt, aber es macht einen
guten Eindruck.

»Na,« sagt Schiffer Jensen, »meinen Kahn nimmt der jedenfalls mit
Leichtigkeit hoch.« So wenig Respekt hat er vor seinem Kahn.

Wer hätte gedacht, welche unheilvolle Bedeutung dieser Riesenkran,
neben dem die anderen zahlreichen Kranarme wie Kinder wirken, noch
erlangen sollte?

Es war eine unglückliche Idee von Frau Adelheid, dem schwarzen Koloß,
den ihr Bruder nicht genug preisen konnte, einen Besuch abzustatten.
Als einen Wahnsinn jedoch bezeichnete man es später, daß sie auf
diesen Weg ihre kleine Tochter mitnahm, die gerade laufen konnte und
mit ihren runden Augen recht eigenartig in die Welt guckte. Wer diesen
traurigen Ausdruck, der das hübsche Kindergesichtchen so traumhaft
verschleierte, gekannt hatte, meinte später, dem Kinde Frau Adelheids
sei eine Ahnung seines fürchterlichen Geschicks schon von Geburt an
mitgegeben.

Kann man es aber der tapferen kleinen Frau Joachim Beckers verdenken,
daß sie ihrer Tochter einen Eindruck von dem gigantischen Werk ihres
Vaters vermitteln wollte? Sie verstand zwar noch nichts davon, sie
plauderte in einem reizenden Kauderwelsch und war so ahnungslos, wie
man es mit zwei Jahren noch ist. Doch sie könnte zuweilen fragen, ach,
Kinder fragen so oft, sie fragen zum Beispiel nach ihrem Vater. Dann
könnte sie also antworten:

»Der ist dort, wo wir neulich waren, im Hafen, wo das viele Wasser ist
und der große, große schwarze Zeiger!« Das würde sie verstehen. Darum
nahm sie ihre kleine Tochter mit, als der vom Hafen fiebrig erfüllte
+Dr.+ Friemann ihr keine Ruhe mehr ließ.

Felix Friemann ist mit allen seinen Gedanken und Gefühlen im Hafen.
Er könnte in einem prächtigen schloßartigen Hause bei seinen Eltern
wohnen, er hätte sogar das Geld, auf einer Jacht im Mittelmeer zu
kreuzen, aber er schlägt seine Sommerwohnung im Hafen auf und läuft
immer noch einer kleinen standhaften Fürsorgeschwester nach. So ist der
Mensch mit allen seinen Widersprüchen!

Schließlich muß er wohl selbst am besten wissen, was ihm gefällt. Es
macht ihm nun einmal Spaß, im Sommer eine Stunde früher aufzustehen und
vor der Hafenwirtschaft zu promenieren, damit er als erster der frisch
gewaschenen und geputzten Schwester Emmi mit den Lackschuhen begegnet.

Zuweilen fällt doch ein Lächeln und ein freundliches Wort für ihn ab,
denn an manchen Tagen funkelt die Sonne gar zu blank über dem Hafen mit
seinem Wasser und der herrlichen Weite, so daß eine Fürsorgeschwester
ihren Frohsinn siegen läßt.

Dann kann sie ein Liedchen summen oder die Arme recken, daß alle ihre
zierlichen Formen sich unter dem hellen Kleide abzeichnen, und in den
Frühlingstag hineinjubeln:

»Ach, es gibt nichts Schöneres als Sonne im Hafen!«

Das ist ihr zweiter Hafenfrühling, und drei Jahre ist es her, seitdem
an einer langen Tafel unter den Linden der erste Spatenstich gefeiert
wurde. Daran hatte Schwester Emmi noch nicht teilgenommen, aber für das
Fest der Einweihung erträumt sie sich schon ein Kleid, einen Hut und
Schuhe, die den Staat aller vornehmen Damen in den Schatten stellen
sollen. Die Frau des Generaldirektors mit eingerechnet, denn Schwester
Emmi hat gelegentlich festgestellt, daß Frau Adelheid ungeschickte Füße
habe.

Zuweilen kann Schwester Emmi zwar noch ihrem treuen Anbeter, dem
+Dr.+ Friemann, schnippische Antworten geben und ihn streng
ersuchen, sie in Ruhe zu lassen. Sie ist sogar so grausam, sich über
seinen Sprachfehler lustig zu machen.

»Ist der Kapitän schon da, der Kapitän --« fragt sie ihn zum Beispiel
mit spöttischem Augenblitzen.

Er aber blickt sie nur mit seinen Friemannschen Lichtern traurig an,
und sein gesenkter runder Kopf auf dem langen dünnen Körper ist dann
wahrhaftig so trostlos wie eine Gaslaterne, die am hellichten Tage
brennt.

Aber einmal sagte Schwester Emmi: »Bitte sehr, wenn Sie etwas von mir
wollen -- ich bin noch unverheiratet!«

So, das war geradeheraus gesagt! Es fiel ihr nicht ein, sich aus purer
Gutmütigkeit noch einmal zu opfern. Dafür waren ihre Erfahrungen zu
teuer erkauft.

Warum sollte sie nicht Frau +Dr.+ Friemann werden, wenn sie seiner
Liebe würdig war? Ist sie vielleicht geringer oder weniger klug als
diese lächerliche Bohnenstange? Oh, sie hat so wenig Achtung vor ihm,
wie man es von der Frau, die einen Mann seines Geldes wegen heiratet,
nur erwarten kann. Sie ist fest davon überzeugt, daß sie aus diesem
Manne noch etwas machen könnte, wenn es einmal soweit wäre. Sie würde
schon seine Schätze würdig repräsentieren. In solch einem Anzuge und
mit diesen Krawatten dürfte er dann auf keinen Fall mehr herumlaufen!
Was ihren Toilettenaufwand aber betraf -- Nun, das fällt in das Gebiet
ihrer heimlichsten Träume, die sie keinem offenbart.

Ob der +Dr.+ Friemann nicht eine gewisse Absicht damit verband,
wenn er Frau Adelheid durchaus in den Hafen lotsen wollte und noch dazu
mit dem Kinde? Es wäre eine so zwanglose Gelegenheit, sie mit Schwester
Emmi bekanntzumachen, um einen Bundesgenossen in der Familie zu haben,
denn wenn er sich Schwester Emmi neben seinen Eltern vorstellt, so wird
ihm doch himmelangst. Felix Friemann hat durchaus alles berechnet, er
denkt sogar daran, daß Schwester Emmi bei Kindern sehr beliebt ist; sie
würde sich also im Verkehr mit Frau Adelheids kleinem Mädchen besonders
vorteilhaft ausnehmen.

So kommt Frau Adelheid in den Hafen und zum großen unerbittlichen Kran.

Der Kapitän empfängt sie am Wagenschlag und hilft ihr beim Aussteigen.
Dann hebt er ihre kleine Tochter heraus. Er faßt sie behutsam um den
schmalen Körper und spürt ihren frischen Atem, den unvergleichlich
liebreizenden Duft gepflegter Kinderhaut.

Was mochte in diesem steifbeinigen Kapitän wohl vorgehen, als das zarte
Gesicht dabei seinen Kopf leise streifte? Ob er nicht auch zuweilen an
weiche Kinderhände gedacht hatte, als er im letzten Winter so einsam
und frierend hier hockte und so viel Hoffnungen auf den neuen Frühling
und das Ende einer langen Reise setzte?

Frau Adelheids Tochter in dem weißen duftigen Kleidchen begrüßt den
Onkel Kapitän mit einem Knicks, der ihre Beine bis zum kurzen Saum des
Spitzenröckchens verschwinden läßt. Sie kann fast von der Erde nicht
wieder hochkommen. Dabei sind ihre runden dunklen Augen so ängstlich in
die Höhe gerichtet, daß der Kapitän mit seinen spröden Händen zärtlich
über ihre seidenweichen Locken fährt. Dieser einsame und gesottene
Junggeselle.

Da kommt Felix Friemann gestikulierend an. Das ist eine vertraute
Gestalt für die Kleine. Sie tappt ihm entgegen, und er hockt nieder, um
sie mit seinen langen Armen aufzufangen.

So, nun hat er sie in seinem Reich. Er bittet sich die Erlaubnis aus,
die Nichte führen zu dürfen und trippelt mit ihr davon. Er muß sich
ein wenig bücken, damit sein Arm bis zu dem winzigen Geschöpfchen
herabreicht, und stolpert bei den zierlichen Schritten fast über seine
dünnen Beine.

Die Schiffer auf den Kähnen und die Hafenarbeiter stoßen einander an
und ziehen die Gesichter krampfartig zusammen. Felix Friemann nickt
ihnen zu und lacht. Da lachen sie auch. Und die kleine Tochter des
Generaldirektors jauchzt und findet kein Ende mit ihren Fragen.

Frau Adelheid und der Kapitän folgen langsam nach. Zuweilen bleiben sie
stehen, um einiges zu besichtigen.

Felix Friemann geht nun schon weit voraus. Er kann es nicht erwarten,
der Kleinen Schwester Emmi und den großen Kran zu zeigen.

»Ach,« sagt Frau Adelheid zum Kapitän, als er ihre Tochter lobt, »ich
wüßte wirklich nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich sie nicht
hätte.«

Sie bleiben stehen und plaudern noch über etwas, das Frau Adelheid
sehr bewegt. Sie hat sich im geselligen Verkehr, der sie oft mit dem
Kapitän zusammenführte, so vertrauensvoll an ihn angeschlossen, daß sie
ihm manches Geheimnis ihres tapferen Herzens preisgibt.

»In letzter Zeit«, sagt sie mit zärtlichem Lächeln, »zeigt er viel mehr
Interesse für sie. Er wird es wohl nie verschmerzen, daß er keinen Sohn
hat und daß sie so gar nicht nach ihm geartet ist, aber denken Sie: er
setzt sich mit ihr auf den Teppich und läßt sich an den Haaren zupfen
und die Puppen zeigen. Neulich hat er eine Eisenbahn und ein kleines
Schiff gekauft. Das hat er ihr dann alles erklärt, ach wissen Sie, so
ungeschickt für Kinder, sie hat gar nichts verstanden und machte bald
alles entzwei. Aber es war so schön, wie er da mit ihr saß und sprach
und sprach, daß ich -- ach, jetzt werden Sie mich sentimental finden.
Ich mußte rasch hinausgehen und weinen.«

Der Kapitän schweigt.

»Manchmal«, erzählt sie weiter, »ist er zu lebhaft für sie. Er macht
zu heftige Bewegungen oder er wird ungeduldig, weil sie ihn nicht
versteht, dann weint sie und will von ihm fort. Das trifft ihn immer so
hart, daß er schweigend in sein Zimmer geht und niemand sprechen mag.
Zuweilen kann er das tagelang nicht vergessen, und ich zerbreche mir
den Kopf, wie die Kleine ihn wieder versöhnen könnte.«

»Aber es ist doch noch ein unvernünftiges Kind,« meint der Kapitän
tröstend, »man darf ihm doch keinen Vorwurf machen.«

»Nein, das darf man nicht.«

»Ich glaube,« sagt der Kapitän langsam, während sein Blick Frau
Adelheids blasses Gesicht mitleidsvoll streift, »ich glaube, ihm fehlt
die Güte.«

»Nein!« protestiert Frau Adelheid lebhaft, »nein -- die Güte fehlt ihm
nicht!«

Der Kapitän sieht bestürzt zu Boden. Hat er nicht zum erstenmal seinen
Platz in der Mitte verlassen?

»Verzeihen Sie mir,« sagt er leise, »Sie müssen es wohl besser wissen
--«

Indessen erklärt Felix Friemann dem Kinde den großen Zeiger, der in
weitem Bogen seine Lasten herumführt und neben ihnen absetzt.

»Sieh, da oben ist der Mann, der ihn lenkt. Er drückt auf einen Hebel,
und da wandert das schwarze Ungeheuer wieder leer zum Schiff zurück.«

Aber seine Nichte hat kein Interesse dafür. Vielleicht fürchtet sie
sich auch vor dem Kran. Jedenfalls zieht sie das Gesicht weinerlich
herab. Nicht einmal Schwester Emmis Überredungskunst gelingt es,
ihr einen Begriff von der Großartigkeit der Hafeneinrichtungen
beizubringen. Sie muß sich etwas anderes ausdenken, bis Frau Adelheid
mit dem Kapitän nachkommen und ihre Tochter in Empfang nehmen wird.

»Ach --,« sagt sie sehr wichtig, »ich habe ja etwas ganz Reizendes für
dich. Das will ich dir sofort bringen --«

Die Kleine blickt ihr voll stummer Erwartung nach. Schwester Emmi kann
einen gar zu verheißungsvollen Ton anschlagen.

»Wohin, Schwester eins?« fragt +Dr.+ Friemann, während er
hinter ihr herrennt. Er hat sich so daran gewöhnt, Schwester Emmi
nachzulaufen, daß er nun sogar das Kind im Stich läßt, um zu erfahren,
wohin sie geht.

Das kleine Geschöpf trippelt, sich selbst überlassen, wie ein verirrter
Vogel umher und merkt nicht, was über ihm geschieht. Es sieht drüben
an der Kaimauer etwas Helles aufblitzen und eilt hin, es sich zu
holen. Die Sonne hat sich in ein paar Wasserpfützen gespiegelt, aber
nun sind ihre Strahlen verdeckt, denn der große Arm des Drehkrans ist
stehengeblieben und läßt langsam seine mächtige breite Ladung sinken.
Vielleicht glaubt die Kleine, daß eine große Wolke über den Himmel
ziehe. Sie setzt sich auf den sonnengewärmten Steinen des breiten Kais
nieder und hält nach geeigneten Spielen Umschau. Doch es wird immer
dunkler über ihr, und plötzlich, als ahne sie die Gefahr, beginnt sie
leise zu weinen.

Ein Arbeiter schreit mit rauher Stimme auf. Er stolpert über einen
Kameraden und reckt beide Arme, um das Kind zu packen, die breite
schwere Ladung anzuhalten oder was er sonst in seinem Wahnsinn zu
tun gedenkt. Da hören auch die anderen einen kläglichen verlorenen
Kinderschrei, und die Last hat sich herabgesenkt.

Heisere Kehlen rufen zu dem Manne im Portal hinauf, die Ketten beginnen
wieder zu arbeiten; Felix Friemann packt die Männer bei den Schultern,
schafft sich zu der verhängnisvollen Stelle Zutritt und erlebt als
erster den grauenvollen Anblick, als der ungeheure, von schwarzen
Ketten umschlungene Kasten langsam wieder hochgewunden wird.

Schwester Emmi stürzt mit bleichem Gesicht herbei, sie ahnt, daß Felix
Friemann eben in rasendem Lauf sie streifte, sehen konnte sie ihn
nicht. Sie hält sich am Arm eines Arbeiters fest und legt die Hand vor
die Augen.

Frau Adelheid hört die Rufe, sie sieht ihren Bruder wie einen
Besinnungslosen stumm vorbeieilen -- der Kapitän und sie laufen in
dumpfer Ahnung zu der Menschenansammlung. Niemand hätte diese Eile und
Kraft vermutet, die Frau Adelheid vorwärts stößt -- durch die Mauer der
Arbeiter zum fürchterlichen Platz unter der schwebenden Last des Krans.

Sie fällt steif gegen die hilflos blickenden Männer zurück. Man fängt
sie auf, und nun kann man einer Ohnmächtigen helfen, ihr Kind wagt
keine Hand mehr zu berühren.

Schwester Emmi wird gerufen. Sie lehnte mutlos gegen die Mauer der
Lagerhalle. Nun gibt sie Anordnung, Frau Adelheid zur Kantine zu
tragen, denn hier sind keine Belebungsmittel, und es ist gut, wenn Frau
Adelheid beim Erwachen den Kran nicht mehr sieht. Der Kapitän stimmt
ihr mit wortlosem Nicken zu. Die Fürsorgeschwester kann wieder einmal
zuerst klar denken und helfend eingreifen.

Felix Friemann fällt ihr auch wieder ein. Sie blickt sich um. Da sieht
sie ihn weit drüben an der anderen Seite des Hafenbeckens in das
Verwaltungsgebäude laufen.

Hat er so viel Besinnung behalten, daß er nach einem Arzt telephoniert?
Immer wieder blickt sie auf das Haus, während sie den Männern folgt,
die Adelheid tragen.

Plötzlich reißt sie die Arme hoch, schreit:

»Da -- da --«

Der Kapitän, die Männer schrecken auf, sie folgen Schwester Emmis Blick
bis oben zum Turm des Verwaltungsgebäudes. Dort, im zehnten Stockwerk,
auf der Balustrade steht eine hohe schmale Gestalt, jetzt hängt sie in
der Luft --, und sie schließen alle die Augen, um nichts mehr zu sehen.
-- -- --




                              Das Fieber


Adelheid vernimmt die besorgt fragende Stimme der Fürsorgeschwester.
Aus weiter Ferne treffen sie gedämpfte Laute: Wasserrauschen,
Stuhlrücken, die leisen Anordnungen des Kapitäns; Fragen, deren Sinn
sie nicht erfaßt.

Jemand sagt: »Aber sie hat doch die Augen geöffnet.« Da läßt sie die
Lider sinken, wie man im Halbschlaf zu neuer Ruhe sich bereitet, wenn
Stille und Finsternis der Nacht in das Unterbewußtsein drangen.

Das Surren eines Motors, Stimmengewirr, Wagenrollen wecken sie
wiederum, sie fühlt harte Polster unter ihrem Rücken und wird doch wie
auf Wellen sanft bewegt. Heftiges Knattern, das vertraute Läuten einer
Straßenbahn lassen sie aufschrecken. Sie schnellt hoch und findet sich
sitzend im Auto, gegenüber dem Kapitän, der sie mit ausgestreckten
Armen hält und auf die Polster zurücklegt. Schwester Emmis Stimme ist
ganz nahe an ihrem Ohr. Dann verschwindet wiederum alles in der Stille
der Ohnmacht.

Zum drittenmal erwacht sie. Verhaltenes Schluchzen, eine ganz ruhige
Stimme umgeben sie. Weiche Kissen fallen auf ihre Glieder, und
wohltuende Wärme steigt auf. Sie vernimmt die Stimme der Mutter und ihr
Weinen.

Sie will rufen, aber sie hat keinen Ton in der Kehle, sie will sich
aufrichten, aber sie ist gebannt wie in spukhaften Träumen, da
Verfolgung und Angst lähmend den Körper hemmen.

»Es ist eine einfache Operation, gnädige Frau«, hört sie wieder
erschreckend laut. Noch einmal versucht sie, sich zu stemmen, den
Schleier über ihrem Bewußtsein zu zerreißen. Aufzuspringen --

Stöhnen der Mutter und jetzt tonlos, leise der Vater: »Sie sind sicher,
daß der Schrecken es unterbrochen hat und daß eine Operation nötig
ist?«

Sie hat jedes Wort verstanden, sie erfaßt den Sinn und liegt dennoch
ausgestreckt, hilflos; hat keinen Ton, keine Bewegung. Sie wartet auf
die Fortsetzung des Gespräches. War nicht eine Frage gestellt? Doch es
folgt keine Antwort.

Dröhnend kehrt abermals kurzes Bewußtsein zurück.

»Noch heute. Ich habe den Krankenwagen schon bestellt.« Wieder der
ruhige laute Klang inmitten des Brausens in ihren Ohren.

»Sie hat die Augen geöffnet«, sagt eine vertraute Stimme.

»Mutter --« Sie sieht sekundenlang das schmerzverzerrte, besorgte
Gesicht der Mutter; groß, blaß, mit wirren Haaren Da fühlt sie ihren
Körper hart in die Kissen fallen, und alles ist ausgelöscht.

Dann rollen Räder, ein Motor singt, rhythmisch surrend.

»Ach Sonne und die grünen Blätter«, flüstert die Kranke erwachend.

»Ja, mein Kind, es ist Sommer!«

Sie blickt sich um und ist ganz wach. Weiße Wände umgeben sie, ein
Fenster leuchtet oben an der niedrigen Wand. Bäume, in lauten Straßen
gerade aufgerichtet, eilen vorbei.

»Wohin fahren wir?«

»In die Klinik, mein Kind.«

»Ist das ein Krankenwagen?«

»Ja.«

»Es ist schön mit der Sonne draußen und den Bäumen.«

»Erkennst du mich, Adelheid?«

»Ja, Mutter.«

»Wir sind da«, hört sie eine fremde Stimme. Krankenschwestern beugen
sich zu ihr herab. Sie fühlt sich hochgehoben, durch die warme Luft
einer hellen Straße getragen.

Ganz deutlich verfolgt sie nun den Weg durch die dämmrige Kühle des
Flurs. Türen werden geöffnet, ein Fahrstuhl bewegt sich aufwärts. Es
ist schön, still zu liegen, ohne Gefühl, ohne Gedanken. Nur die Augen
sehen, die Ohren hören.

»Wie kühl sind die Betten, Mutter«, sagt sie, behaglich ausgestreckt,
ohne Wunsch und Willen.

Der Arzt beklopft ihre Wangen mit väterlicher Geste.

»Na also«, vernimmt sie seine gesunde kräftige Stimme. »Wir wollen ihr
bis morgen früh Ruhe lassen. Merken Sie vor, Schwester, als erste.«

Dann versinkt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Sie erwacht von aufsteigender Kälte in ihren Gliedern. Nacht umgibt
sie: Finsternis und Stille. Sie schließt die Augen und versinkt von
neuem in Halbschlaf, indes das nervöse Frösteln sich unaufhaltsam
ausbreitet, bis im heftigen Schüttelfrost ihre Lippen zittern, die
Zähne aufeinanderschlagen.

Ihre Finger sind ohne Gefühl, wie vereist. Sie tastet zur Seite, als
suche sie Wärme, Beistand und stößt hart gegen die gestrichene Wand.

Plötzlich weiß sie, daß sie allein im kahlen Zimmer eines Krankenhauses
liegt. Sie entsinnt sich, daß ihre Tochter tot ist und daß man ihr
morgen früh das zweite Kind nehmen wird. Vielleicht ist es der von
ihnen beiden so sehnsüchtig erwartete Sohn. Nun ist er in ihr gestorben
und breitet die Eiseskälte in ihrem kranken Körper aus.

Sie schreit laut auf, ihre Stimme hallt von den kahlen Wänden wider und
kommt kläglich, leer zu ihr zurück.

Helles Licht blendet ihre weit aufgerissenen Augen. Eine Schwester
betastet sie, fühlt ihren Puls.

»Ich gebe Ihnen etwas Heißes zu trinken, gnädige Frau. Dann werden Sie
wieder warm.«

Die klare, gesunde Stimme, die körperliche Nähe eines aufrechtstehenden
und schreitenden Menschen, das harte Licht über Stuhl, Tisch und Wänden
schrecken den gräßlichen Nachtspuk zurück. Die Kranke sieht sich wieder
als sorgsam betreute Patientin. Der Arzt vom Nachtdienst erscheint und
blickt ihr in das tränenüberströmte Gesicht. Er stellt ohne Staunen
fest, daß leichtes Fieber eingesetzt habe.

»Sie sollen sehen, wie Ihnen der heiße Tee gut tun wird«, sagt er
leise, mit sonorem Klang. Sein Gesicht ist jung, von straffer Haut
überspannt. Die Brauen sind wie ein gerader Strich über schmalen
dunklen Augen. Sie erinnern Adelheid an ihren Mann.

So glatt war damals seine Stirn, als noch niemand ihre Liebe erriet, so
strahlend und dunkel blickten seine Augen, von den Lidern bis zu einem
Spalt verdeckt, wenn er sie lächelnd grüßte; sie, die Tochter seines
Chefs, die seine Nähe suchte.

Die Schwester stützt ihren Kopf, und sie schluckt gierig den heißen
Trank, den sie brennend durch den erkalteten Körper strömen fühlt.

Sie fällt in die Kissen zurück, der Arzt lächelt ihr abschiednehmend
zu, die Tür klappt leise. Sie blickt erschreckt auf. Gedämpftes Licht
ist im Raum, die Schwester sitzt still neben der verhüllten Lampe mit
einem Buch auf den Knien.

»Sie müssen versuchen, zu schlafen, gnädige Frau«, ruft die Schwester
aufmerksam herüber.

Ihr Kopf glüht; prickelnd beginnen ihre Glieder zu brennen, wie in
erster Wärme nach abtötendem Frost.

Eine Erinnerung steigt auf: sie liegt frierend im Hotelzimmer und
fühlt gleichfalls mählich leichtes Fieber im erstarrten Körper sich
ausbreiten ...

In Arosa war es, in jenem schneereichen Januar, da sie und Joachim
Becker ihre erste gemeinsame Reise unternahmen, ihre Hochzeitsreise.
Lachend, in munteren Gesprächen promenierten die sorglosen,
lebensfrohen Menschen vor den großen Hotels. Der Schnee knirschte unter
ihren Schritten, er leuchtete ringsum; über den Dächern im Tal und mit
blauem Schimmer von den Bergen. Die Sonnenstrahlen fielen wärmend durch
die klare Luft. Bobsleighs sausten lautlos in der Ferne zu Tal.

Junge Mädchen in bunten Jacken, ihre Begleiter mit rotbraunen
Gesichtern über weißen Sweatern zogen die Rodelschlitten hinter sich
her, hatten die Skier geschultert und eilten zu den Sportplätzen.
Kunstläufer schleiften ihre schwungvollen Bogen über das spiegelnde
Eis.

Hier hatte Adelheid Friemann einst mit ihren Eltern still beobachtend
gestanden und davon geträumt, wie sie mitleben, mitjagen würde auf den
weißen Bahnen, unter lauten jubelnden Schreien, wenn auch sie einen
Begleiter an der Seite hätte. Groß mußte er sein, schön, energisch.
Damals schon hatte sie an den Prokuristen ihres Vaters gedacht, den sie
nicht vergessen konnte, seitdem sie ihn einmal auf dem langen Korridor
im ernsten Geschäftshaus hatte vorbeieilen sehen.

Und dann stand sie an derselben Rodelbahn, Joachim Becker an ihrer
Seite. Ihr Mädchentraum, ihr sehnlicher Wunsch war erfüllt. Aber sie
waren wieder nur stille Beobachter. Keine überschäumende Lebensfreude
trieb sie an. Joachim Becker sah mit spöttischen Blicken in das
Getriebe und dachte an seine Arbeit.

»Wollen wir uns nicht auch einen Schlitten nehmen?« hatte sie
schüchtern, mit verhaltener mädchenhafter Freude am Spiel gefragt.

»Nein,« hatte er fast brüsk erwidert, »ich habe keine Neigung, mich mit
diesen Nichtstuern herumzutollen.«

Sie mußte zugeben, daß er zu ernst, zu bedeutsam für diese kindischen
Spiele war. Ihre Liebe stellte sich willig auf seine Gedankengänge ein,
und sie begann, die flirtende Jugend gleichfalls mit Überlegenheit zu
kritisieren. Aber sie fühlte sich einsam und nicht mehr jung.

Ihr Mann bekam seine Arbeit nachgesandt. Täglich war sein erster Gang
zum Postempfang. Er nahm die dicken Briefe mit den Plänen und den
Offerten für den Hafenbau und ging in sein Zimmer. Sie stellte sich
indessen ans Fenster und sah auf die sorglose fröhliche Jugend herab.

Die lauten Stimmen, die harten Schritte der Sportschuhe in den
Korridoren störten den jungen Direktor in seiner Arbeit. Er wurde
nervös und reizbar.

»Wollen wir uns nicht auch Skier geben lassen und Ausflüge machen,
um dem Lärm zu entgehen?« fragte sie wieder, als er über die Störung
ungehalten war.

»Du weißt anscheinend nicht, daß ich in meinem Leben noch keine Zeit
hatte, mich mit diesem Sport abzugeben. Das ist etwas für diejenigen,
die in jungen Jahren genießen und nicht arbeiten«, hatte er, nicht ohne
Bitterkeit, geantwortet.

»Aber du könntest es doch jetzt lernen«, warf sie ein.

Wie, hier sollte er sich vor diesem Volk produzieren und sich auslachen
lassen? Sie glaube wohl selbst nicht daran, daß er dazu fähig wäre.

Auch das sah sie schließlich vollkommen ein.

Doch eines Tages hatte sie die drückende Stille und Enge ihres Zimmers
nicht länger ertragen. Die hellen Stimmen vor den Fenstern lockten;
sie galten nicht ihr. Sie hatte immer wieder die Briefe ihrer Mutter
gelesen, die Mitteilungen lebenslustiger Freundinnen, sie hatte
versucht, sich in Bücher zu versenken, indes ihr Mann im Nebenraum
nervös arbeitete und es nicht erwarten konnte, wieder zu Hause zu
sein, in seinem Hafenterrain, wo man die Häuser bereits abriß und die
Mehrzahl der Bäume fällte, um seinem Werke Platz zu machen.

Sie vernahm seine ruhelosen Schritte, sie wußte, welches Opfer er ihr
brachte, indem er die für die Hochzeitsreise festgelegte Zeit hier in
Ungeduld verlor.

Da war sie trotzig zu ihm hineingegangen. Sie hatte ihn auffordern
wollen, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Heftige Vorwürfe
sollten ihn für den Fall der Ablehnung treffen. Doch als sie ihn
mit soviel Ernst und Eifer in seine Arbeit vertieft sah, sagte sie
bescheiden:

»Du kannst mich wohl jetzt nicht begleiten?«

Und um seinen Kampf zwischen Pflicht und Wunsch zu beenden, war sie
allein hinausgegangen, zu den jungen, in Gemeinsamkeit fröhlichen
Menschen.

Sie ließ sich Schneeschuhe geben und eilte scheu durch die belebten
Promenaden zu den Abhängen.

Aber die große Stille hatte ihr nicht die gewünschte Harmonie gegeben.
Bitterkeit überfiel sie.

Mußte sich in solchen Stunden nicht Mißtrauen einschleichen? Der
Gedanke lag nicht fern, daß er sie nur ihres Geldes wegen genommen
hatte, weil sie ihn so hingegeben liebte. Sie konnte ihre Gefühle von
jeher schlecht verbergen.

Die Eltern hatten sie wohl warnend darauf aufmerksam gemacht, daß
diese Möglichkeit gegeben wäre. Sie verschwiegen ihr auch nicht, daß
er Beziehungen zu einer anderen, gleichfalls vermögenden jungen Dame
unterhielt.

Nahm er denn ihren Reichtum in Anspruch? Nein, er ging in seinen alten
Kleidern umher, die er schon trug, als sie ihn kennenlernte. Gewiß,
sie waren nicht schlecht. Doch er hätte sich diesem internationalen
Publikum anpassen können, damit er nicht aus dem Rahmen fiel. Er blieb
bescheiden in seinen Ansprüchen. Er sehnte sich von diesem Platz der
Begüterten fort. Die Table d'hote störte ihn, der ganze Reichtum war
ihm offensichtlich lästig. Er war der Mann der Arbeit geblieben.

Es ließ ihn auch gleichgültig, daß die Frauen ihm oft und lange
nachsahen. Nur Adelheid haben diese Blicke stets in ungewöhnlichem Maße
bewegt, obgleich ihr Anteil an Joachim Becker dadurch weder größer noch
geringer wurde. Sie ließen ihre Liebe sehnsüchtiger und schmerzlicher
aufflammen.

So hatte sie sich in ihren Gedanken verloren, während sie die Anhöhen
erklomm und von den schrägen Flächen herabglitt. Die Sonne senkte sich
plötzlich. Die Berge in der Ferne verschwammen. Erste Lichter flammten
auf. Ihre Füße wurden müde und schwer. Kaum konnte sie noch die Höhe
erklettern, und dann glaubte sie, die Richtung zu verlieren.

Sie schnallte die Schneeschuhe ab, als sie endlich auf einen
ausgetretenen Weg gelangte, denn sie vermochte diese Last nicht mehr
zu heben. Den Versuch, sie auf der Schulter zu tragen, gab sie bald
auf. Sie warf sie in den Schnee. Ihre Beine waren nun befreit, aber wie
abgestorben. Sie begann zu frösteln, die Zähne schlugen aufeinander --
wie in dieser Nacht, da die Erinnerungen wieder lebendig werden.

Wie jetzt die Wärme in ihrem Körper sich brennend ausbreitet, das Blut
in die Schläfen drängt und ihre Mundhöhle ausdörrt, so hatte sie damals
im fremden Hotelzimmer gelegen, am Anfang ihrer Ehe, als die große
Einsamkeit begann.

Ihre Gedanken arbeiten unablässig weiter. Sie liegt mit geschlossenen
Augen da, die Glieder gerade ausgestreckt, die Arme eng an den Körper
gepreßt. Die Kissen lasten wie ungeheure luftgefüllte Volumen dennoch
schwer auf ihr, so daß sie sich nicht zu bewegen vermag. Sie sinkt
immer tiefer und schwerer hinab und glaubt, die Matratze müsse unter
ihrer Last brechen.

Sturzbachgleich fallen die Erinnerungen in ihr fieberndes Hirn. Alle
einsamen Stunden rotten sich zusammen, sie gewinnen phantastische
Formen, sie werden gleichsam körperlich und klagen den großen
Schuldigen an: den Hafen!

Der Hafen mit seinen bleckenden kalten Wasserspiegeln und mit dem
grausamen schwarzen Kran! Seine Eisenarme wachsen ins Unermeßliche, sie
recken sich ihr entgegen.

Sie haben ihr Joachim Becker genommen, sie haben ihr die Tochter
entrissen, sie verlangen nach dem zweiten Kinde, das sie tot in ihrem
kranken Körper birgt.

Sie schreit wiederum laut auf und fühlt, wie ihr eigener Ruf sie in
ihrer Glut fröstelnd erstarren läßt. Fahles Morgenlicht umgibt sie,
ihre Schultern werden sanft hochgehoben. Der Rand eines Glases ist vor
ihren Lippen. Sie schlürft eine bittere Flüssigkeit langsam herab und
blickt in das graue übernächtige Gesicht der Krankenschwester.

»Der Hafen«, flüstert sie entsetzt und liegt wieder ausgestreckt, allen
Schrecknissen neuer Fieberphantasien preisgegeben.

Aber mählich beruhigt sich ihr krankes Blut, und sekundenlang erhellt
vollkommene Klarheit ihren verwirrten Geist. Als eine große heilsame
Erkenntnis steht es vor ihr: »Der Hafen allein ist schuld!«

Damit dieser Riesenbottich der großen Stadt zum Leben erwache, nahm
Joachim Becker ihre Liebe an, stürzte er sie und sich selbst in
Einsamkeit und Qual.

Nun, da der Hafen mit allen seinen Schiffen und Kränen atmet und sich
rührt, hebt er seine Arme, seine unheimlichen schwarzen Kranarme, um
sie alle zu zermalmen.

Sie weiß, daß die Vision zerrinnt, wenn sie die Augen öffnet, doch sie
ist nicht mehr imstande, die Lider zu heben. Lähmendes Gift schleicht
durch ihren Körper und versenkt sie in einen kurzen betäubenden Schlaf.

Schmerzhaft grell, von Licht umstrahlt, fühlt sie sich, wieder
erwachend, hochgehoben und auf ein hartes Lager gebettet. Sie vernimmt
das elastische Rollen von Rädern, sieht lange weiße Korridore und
erkennt, daß sie nun in den Operationssaal gefahren wird. Sie kann sich
nicht wehren, das Gift hat ihre Glieder gelähmt. Sie ist hilflos und
ohne Willen.

Der Laut vielfacher Stimmen, das Klirren der Instrumente,
Wasserrauschen hallt hart von den kühlen Wänden zurück und dringt in
den Rhythmus ihres Blutes. Sie schmeckt das bittersüße und kühlende
Narkotikum und sinkt immer tiefer in ein dunkel brausendes Chaos
hinein.

»Zählen Sie!« vernimmt sie eine Stimme hart und nah.

Sie vermag den Mund nicht zu öffnen. Aber immer geräumiger wird
mit jedem tiefen Atemzuge die unwirkliche Welt. Da beginnt mit
leuchtenden Farben und leichten Melodien fernste Vergangenheit vor ihr
aufzuklaffen: sie selbst, Adelheid Friemann im duftigen Tüllkleid, ganz
jung und ohne Schwere, schwebt in fließenden Tänzen; Alfred Bernhard an
ihrer Seite, und Helene Uhl, die lachende Freundin, gleitet mit ihrem
Bruder Felix vorbei.

Von weit her, unendlich gezogen, als tropfen sie nur langsam in ihr
Bewußtsein, hört sie die Worte:

»Vorsichtig! Denken Sie an das schwache Herz der kleinen Frau -- Frau
-- Frau --«

Das Wort wird zum gedehnten Gesang, es nimmt kein Ende; die sphärischen
Melodien verströmen darin und brechen plötzlich klirrend ab. --

Adelheid Becker kehrt mählich, aus unsagbar süßem Schweben über
wehenden Luftwellen, in Bewußtheit und zu neuem Leben zurück.

Die Stimme der Mutter nimmt sie milde, heimatlich auf.

Sie öffnet die Augen.

Bleich, in Zartheit und Liebe verklärt, ist das Antlitz der Mutter vor
ihrem ersten Blick.

»Wir haben getanzt, Mutter. Helene Uhl war da, Alfred Bernhard und
Felix. Es war so schön.«

Sie spricht noch mühselig und langsam, ihre Stimme aber ist kindlich
hoch und hell.

Die Geräusche rücken immer näher zu ihr heran; sie fühlt die Lippen der
Mutter auf ihren Händen.

»Ist noch jemand hier?« fragt sie, als ahne sie die Nähe des Vaters und
ihres Mannes.

»Ja«, vernimmt sie Joachim Beckers Antwort.

Sie versucht sich aufzurichten, doch die Hände der Krankenschwester
drücken sie sanft in die Kissen zurück. Da erspäht sie aus halb
geöffneten Augen sein herabgeneigtes Gesicht. Prüfend, erstaunt gleitet
ihr Blick über die Falten auf seiner Stirn, zu der senkrechten Kerbe,
die wie eine Narbe tief zwischen die Brauen schneidet, und bleibt auf
den trüben, fast entzündeten Augen haften.

Ihre Lider fallen müde herab. Joachim Becker richtet sich schwankend
auf. Sie hat kein Wort für ihn.

Dann fühlt sie den Druck einer breiten weichen Hand auf ihrer Stirn.
Vertraute Wärme dringt in ihre Haut ein. Der Atem des Vaters streift
ihr Gesicht.

Sie öffnet die Augen und lächelt ihm zu.

Joachim Becker ist so vermessen oder so trostbedürftig, daß er sich in
dieser Stunde auch nach einem Lächeln Adelheids sehnt. Er stellt sich
noch einmal neben ihr Bett und küßt ihre Hand. Da schließt sie wieder
die Augen und flüstert, von Grauen erfaßt:

»Der Hafen! Nun weiß ich es: der Hafen ist schuld.«

Und weil sie immer wieder bei seinem Anblick erregt wird, muß man ihren
Mann bitten, ihr in der nächsten Zeit fernzubleiben, zumal noch die
Nachricht vom Tode Felix Friemanns ihr bevorsteht.

Zwei Wochen später kann sie bereits in die Wohnung ihrer Eltern
übergeführt werden. Notlügen von einer Reise des Bruders lassen sich
nicht länger fortsetzen, aber man braucht ihr auch die Wahrheit
nicht zu sagen, denn im Hause ihrer Eltern, in dieser Heimstätte
unversiegbarer Liebe und engsten Zusammenhalts, teilt sich die
Schrecknis vom Tode des einen wie in mystischer Verbundenheit dem Blute
des anderen mit.

Und Adelheid findet, in das leere Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt,
die ersten Tränen seit dem Tode ihrer Tochter.




                             Der Abschied


Joachim Becker irrt ruhelos in seinem verlassenen Haus umher. Adelheid
ist zu ihren Eltern heimgekehrt; man bat ihn, zu warten, bis sie nach
ihm verlange. Aber sie ruft ihn nicht.

Er bleibt auf dem Treppenabsatz im Vestibül stehen und denkt: hier
stand sie, mit ihrer schönen kleinen Tochter im Arm, deren traurige,
große Augen ihm fragend -- oder unbewußt anklagend? -- nachblickten.
Die winzigen Hände winkten, und Adelheids mütterlich-stilles Lächeln
leuchtete neben dem ernsten Kindergesicht.

Er stellt sich an den hohen Kamin in ihrem Zimmer und gedenkt des
Abends nach dem Theaterbesuch, da er alles so klar gesehen hatte und
dennoch schwieg.

Und wenn er zwischen zwei Konferenzen am Schreibtisch seines
Arbeitszimmers sitzt, deckt er zuweilen die Hand über die Augen. Scham
entbrennt in seinem zerquälten Gesicht, und alle falschen Gesten fallen
von ihm ab.

Drei Wochen sind vergangen, und Adelheid hat noch nicht nach ihm
verlangt. Seine Selbstvorwürfe werden mit jedem Tage heftiger,
Mutlosigkeit überfällt ihn. Dieser tüchtige junge Generaldirektor, der
so ausgezeichnete und grandiose Pläne zu entwerfen versteht, hat Plan
und Ziel für sein eigenes Leben verloren.

Eines Tages geht Kommerzienrat Friemann in das Arbeitszimmer seines
Schwiegersohnes und bleibt einen Augenblick in der Mitte des großen
Raumes stehen.

Joachim Becker denkt, daß er das gleiche energiegesammelte Gesicht habe
wie einst, als er einen für sie alle entscheidenden Schritt unternahm.
Damals sagte er ohne Einleitung mit festem Blick: »Ich habe gehört, daß
meine Tochter Sie liebt. Wie stellen Sie sich dazu?« Joachim Becker
stand auf und sagte entschlossen, ohne die Augen zu senken: »Ich bitte
um ihre Hand.«

Heute kann er dem Blick seines Schwiegervaters nicht offen begegnen.
Und der Kommerzienrat sagt, während seine tonlose Stimme leise
schwankt:

»Meine Tochter hält es für gut, daß die Scheidung eingeleitet wird.«

Joachim Becker ist aufgesprungen. Er steht ein wenig gebeugt da und
stützt eine Hand auf die Schreibtischplatte.

»Kann ich sie nicht selbst sprechen?« fragte er leise, ohne
hochzublicken.

»Sie will dich erst wiedersehen, wenn die Scheidung vollzogen ist.«

Darauf vermag er nichts zu erwidern. Unwillkürlich bleibt der Ton
dieser Worte noch in seinen Ohren hängen. Klang die vertrauliche Anrede
nicht zögernd?

»Ich habe bereits mit Rechtsanwalt Bernhard gesprochen. Er hat die
Vertretung abgelehnt.«

Er sieht erschreckt auf. Scheut man sich schon, für ihn tätig zu sein?
Sagen sich jetzt alle von ihm los?

»Er kann es weder für dich noch für Adelheid übernehmen und gibt vor,
daß er euch beiden menschlich zu nahe stehe. Er hat einen Kollegen
empfohlen, und du wirst dich wohl selbst nach einem Rechtsvertreter
umsehen? Ich nehme an, daß du gegen Adelheids Vorschlag nichts
einzuwenden hast und daß wir uns alle Erörterungen sparen können.«

Der Kommerzienrat wendet sich ohne ein versöhnendes Wort um. Er hat
nicht nur seinen Erben und das einzige Enkelkind verloren, nein: nun
gibt er auch den auf, der ihm allmählich ein zweiter Sohn werden
sollte. So wie er die Hoffnung nicht sinken ließ, daß ihm der Sohn auch
noch ein tüchtiger Mitarbeiter würde, so glaubte er bis jetzt, daß der
durch die Arbeit ihm Verbundene auch innerlich der Seine werden könnte.

Er geht nun leer davon, mit schwerfälligen Schritten, aber er ist nicht
so grausam, ohne einen letzten Blick zu scheiden. Sein unermüdlicher
Helfer der Arbeit steht noch halbgebeugt da. Das Kinn ist ihm auf die
Brust gesunken.

Da sagt der Kommerzienrat leise: »Adelheid hat mir ausdrücklich einen
Gruß für dich aufgetragen.«

Diese Botschaft hatte er verschweigen wollen! Er richtet sie im letzten
Augenblick mit großer Mühe aus.

Die Tür klappt. Joachim Becker hebt den Kopf. So hat er sich seine
Befreiung aus der erzwungenen Ehe kaum vorgestellt.

Er denkt an Adelheids Worte, die letzten, die er aus ihrem Munde
vernahm: »Der Hafen ist schuld!« Aber jetzt weiß er, wer der wahre
Schuldige ist. Er ist nicht mehr so feige, die Schuld auf sein Werk
abzuwälzen. Nun nimmt er alle Anklagen freimütig auf seine Schultern,
und er kennt keine Schonung mit sich selbst.

Doch auch das Schicksal hat nicht viel Erbarmen mit ihm, es erspart
ihm keine Demütigungen und keine Enttäuschungen. Denn noch ein anderer
kommt nach einigen Tagen in sein Arbeitszimmer, um ihm eine wichtige
Mitteilung zu machen: der Kapitän.

Nun müsse er um seinen Abschied bitten, sagt er ohne viele Umschweife.
Seine alte Reederei habe wieder Verwendung für ihn, und aus bestimmten
Gründen könne er nicht lange warten.

Der junge Generaldirektor lehnt stumm in seinem Sessel und nimmt die
Mitteilung als eine gerechte Strafe hin. Er glaubt die Gründe zu
kennen, die den Kapitän zu einem schnellen Abschied zwingen. Kann es
etwas anderes sein, als daß er mit Irmgard Pohl einig geworden ist und
sie so bald wie möglich von der Nähe des Hafens fortführen will, damit
sie keinen unliebsamen Begegnungen mehr ausgesetzt ist?

Es scheint, als habe Joachim Becker ganz im geheimen gehofft, er könne
sich noch wiedererringen, was er einst, von seinen Ideen besessen,
so leichtsinnig aufgab, denn sein Gesicht ist nun besonders grau und
verfallen.

Seine Stimme klingt brüchig, während er die bedauernden Worte über den
Abschied des Kapitäns ausspricht.

»Ich habe soeben mit Herrn Kommerzienrat Friemann gesprochen. Er will
sich noch heute mit Ihnen beraten und die Beschlüsse des Vorstandes
herbeiführen«, sagt der Kapitän und erhebt sich, um zunächst wieder in
seinen Hafen zurückzukehren.

Er hält sich nicht länger auf, als unbedingt nötig ist. Sein Händedruck
ist zwar kräftig wie immer, aber er vermeidet es, den Blicken Joachim
Beckers zu begegnen.

Nun steht dem Generaldirektor also noch eine geschäftliche Unterredung
mit seinem Schwiegervater bevor, der ihm bald wieder ein Fremder sein
wird. Er geht lange in seinem Zimmer auf und ab, und dann hat er seinen
Entschluß gefaßt.

Er begibt sich in das Bureau des Kommerzienrats und sagt:

»Da meine vorbereitenden Arbeiten in der Generaldirektion so gut wie
beendet sind, möchte ich um den Posten des Kapitäns bitten.«

Der Kommerzienrat ist nicht sehr erstaunt, aber er fragt:

»Und wer soll dieses alles hier übernehmen?«

Joachim Becker schweigt.

»Dann werde ich dem Aufsichtsrat vorschlagen, daß du die
Generaldirektion in den Hafen hinübernimmst, denn ich bin jetzt zu alt
für solche Aufgaben, und sonst ist niemand mehr da.«

So hatte er also gehofft, sein Sohn könne dereinst selbst dafür
befähigt sein. Er wendet sich zur Seite, und Joachim Becker kann ihm
nicht einmal zum Dank für die Erfüllung seines Wunsches die Hand
drücken. -- -- --

Wie rasch ist ein Mensch entbehrlich, besonders wenn er so bescheiden
seines Amtes waltet, wie der Kapitän!

Er kann nach wenigen Wochen schon seine Pflichten in die Hände des
Nachfolgers legen und Abschied nehmen.

Es ist wieder August. Genau zwei Jahre habe er am Steuer dieses
Riesenschiffes gestanden, sagte der Kapitän in seiner Abschiedsrede.

Daß er in Wahrheit kein Schiff gelenkt hatte, mußte er wohl erfahren.
Die Welt war nicht wie sonst an ihm vorbeigeglitten, während er
feststand und nach allen Seiten unbeteiligt Ausschau hielt. Er hatte
keine Planken unter den Füßen gehabt.

Nein, er war in seinem Hafen unruhig umhergelaufen, und dann hatte er
ihn sogar verlassen, um Besuche beim Nachbarn zu machen. Da war die
Welt wieder dicht an ihn herangerückt, sie nahm ihn auf und wirbelte
ihn wie die anderen herum, und er verlor wie sie den Stand in der
Mitte.

Nun macht er sich auf, um den ersten Abschiedsbesuch abzustatten. Die
Stunde des Arbeitsschlusses in der Mühle scheint ihm geeignet dazu.
Vielleicht könnte man auf der Bank im Garten sitzen und doch noch
Gelegenheit finden, einige Worte unter vier Augen zu sprechen.

Er trifft Herrn Pohl mit seiner Tochter noch im Bureau an. Herr Reiche
sitzt bei ihnen, und sie beraten zu dritt eine Angelegenheit der
Brotfabrik.

Der Kapitän bedauert es sehr, sie bei dieser wichtigen Arbeit zu
stören, er wolle sie nicht lange aufhalten, beim Abschied könne man
sich kurz fassen.

Herr Pohl steht auf und kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. Wie,
das wäre wohl noch schöner, wenn er sich auf diese Weise von ihm
verabschieden sollte! Er drückt dem Kapitän beide Hände und meint, daß
er ihn heute nicht so rasch freigeben würde.

»Ich denke, wir werden noch ein Glas Wein miteinander trinken, wie
seinerzeit, als Sie den ersten Besuch bei uns machten?« fügt er
herzlich hinzu.

Der Kapitän muß sich leider einen längeren Aufenthalt versagen. Er sei
für heute abend von Kommerzienrat Friemann eingeladen.

Er schenkt den letzten Abend nicht den Zufriedenen, sondern den
Einsamen, vom Schicksal Geschlagenen, denn der Kommerzienrat ist nun
allein in seinem großen Haus und dürfte etwas Gesellschaft gebrauchen.
Frau und Tochter sind im Bade, und nur stille Ablenkung kann ihn
zeitweise den Sohn vergessen lassen, der das Haus einst mit Lärm und
Fröhlichkeit erfüllte.

Herr Reiche will in der kurzen Zeit, die dem Kapitän hier noch
verbleibt, nicht mit seinen Arbeiten störend dazwischen sitzen. Er
verabschiedet sich vom Kapitän, der auch ihn immer zufriedengestellt
hatte.

Der Kapitän sieht ihm einen Augenblick nach, wie er mit seinen Papieren
geruhig und selbstbewußt abzieht.

Herr Pohl fängt den Blick auf und sagt: »Ja, der ist hier nun glücklich
und gut aufgehoben.« Aber er bereut seine Worte sofort, weil der
Kapitän so ertappt zusammenzuckt, als habe man ihm diesen Gedanken von
der Stirn gelesen und ihm, dem Mann in der Mitte, gar Neid zugetraut.

Irmgard hat bisher schweigend auf ihrem Platz im alten Ledersofa
gesessen. Plötzlich steht sie neben dem Kapitän. Sie nimmt ihn am Arm
und sagt:

»Nun dürfen wir aber keine Zeit mehr verlieren. Sie müssen gleich mit
hinüberkommen, damit wir noch etwas plaudern können.«

Der Kapitän lacht über das ganze Gesicht, so daß die trockene braune
Haut sich in unzählige kleine Falten legt. Einen so guten Empfang hat
er, weiß Gott, nicht erwartet.

Er fühlt Irmgards warmen runden Arm, der von keinem Stoff verhüllt ist.
Sie hat sich eingehakt, ihr Kleid berührt ihn in der Bewegung und
er spürt den Duft ihrer Haare ganz nahe an seinem Gesicht. Doch als
sie ihn bis zum Ausgang gezogen hat, läßt sie die Tür für den Vater
geöffnet, und dann hängt sie sich auf der anderen Seite in den Arm des
Vaters. So gehen sie zu dritt über den Hof und haben sechs Augen und
sechs Ohren.

Wie sollte da der Kapitän seine Rede anbringen, die er sich noch für
die letzte Stunde aufhob? Er verstand sich nie auf die Frauen. Zweimal
versuchte er es, ihnen sein Herz zu öffnen. Aber er hat es beide Male
nicht richtig angefangen. Nun gibt er den aussichtslosen Versuch auf.

›Spät bin ich alter Trottel dahinter gekommen, daß sie mir ausweicht.
Diese Geste des Mitleids erst mußte mir alles verraten‹, denkt er nun
bitter.

Er trinkt noch ein Glas Wein mit den dreien, von denen Frau Pohl
seinen Fortgang am offensichtlichsten und sehr wortreich bedauert.
Dann schüttelt er allen -- auch dem eigenwilligen kleinen Michael --
herzlich die Hände und winkt sogar von der Föhrbrücke aus noch einmal
zurück.

Es ist gut, daß die Stunde für den Abendbesuch sehr nahegerückt ist
und er in seiner einsamen Wohnung nicht lange zu verweilen braucht.
Sie hatte in letzter Zeit zu viel alte schmerzliche Erinnerungen
aufgestört. Denn sein Weg führte ihn immer über einen Platz, auf dem
ein junger Mensch sein Leben zerschmetterte. Er war fünfundzwanzig
Jahre alt, genau so alt wie eine Frau, die auch einer Schuld wegen ihr
Leben wegwerfen mußte.

Der Kapitän blickte fest auf die Hafenwirtschaft oder über die Kähne
hinweg, irgendwohin, wenn er diesen Fleck überschritt. Es war nichts
zu sehen als heller Asphalt wie überall, aber er zuckte zusammen, wenn
sein Fuß darübertrat, und das mußte die Nerven des kräftigsten Mannes
auf die Dauer zermürben.

Wollte er das Fenster schließen, um mit seiner Geige allein zu sein, so
irrte sein Blick unwillkürlich dorthin. Er ging vom Fenster zurück und
ließ die Geige im Kasten. So blieb er ohne Trost und ohne Ruhe.

Und nun macht er seinen letzten Abschiedsbesuch bei einem, der auch
ruhelos im großen schönen Haus nach einem Anker sucht.

Er wird vom Kommerzienrat mit stummer Herzlichkeit empfangen und
muß bei seinem Händedruck unwillkürlich an Herrn Pohl denken. In
Erscheinung und Wesensart grundverschieden, haben die beiden ein
Gemeinsames: sie lebten -- während der eine Geld aufhäufte und
der andere nur seine Pflicht erfüllte -- niemals für sich und
verschwendeten ihre einmalige scheue Zuneigung, ihr rückhaltloses
Vertrauen an ihren Gegensatz, an Joachim Becker, der noch nie etwas
anderes als sich selbst und sein Ziel sah. Nun wenden sie sich in der
gleichen Enttäuschung resignierend dem zu, der nicht beglückt und
nicht verletzt, der in seiner stets gleichbleibenden Bereitschaft
zu Teilnahme und Gerechtigkeit gern da gesehen wird, wo er weder
überschäumende Freude noch den ersten erbitterten Groll durch sein
Gleichmaß beschämen kann.

Der Kapitän ist sich seiner Rolle schmerzhaft bewußt, aber da sie ihm
nicht abgenommen wird, und man ihm seinen Eingang in den ungerechten
schwankenden Kampf der Gefühle verwehrt, waltet er weiter still seines
Amtes.

Er lobt die Küche des Kommerzienrats, seine gut gelagerten Weine
und erzählt von den lukullischen Genüssen anderer Völker, von
erfrischenden und berauschenden Getränken in aller Welt, von einem
kleinen Spezialgebiet seines vielfältigen Wissens, während er bemerkt,
daß der Kommerzienrat nur zeitweise seine langatmigen, ungewürzten
Schilderungen verfolgt. Er verstummt nicht, denn die ermüdenden Reden,
die keine Antwort und kein anhaltendes Interesse beanspruchen, ja
dem Zuhörer leichte Nebengedanken erlauben, tragen oft Lastendes und
Quälendes unmerklich fort und leiten in eine besinnliche Stille
hinüber.

Nach dem Essen stellt sich auch Rechtsanwalt Bernhard ein. Er bekommt,
mit einem gewissen Gewohnheitsrecht, einen kleinen Imbiß nachserviert,
und dann gehen die drei in das Rauchzimmer, wo selbst der junge Alfred
Bernhard, der getreue Tanzstundenfreund Frau Adelheids, sich dem
langsamen Genuß der kommerzienrätlichen Zigarren hinzugeben bemüht.

In seinem Bureau sitzt nun nicht mehr eine einzige Stenotypistin, die
mit Handarbeiten die Arbeitsstunden umzubringen versucht. Nein, er hat
einen eigenen Bureauvorsteher und einen Stab von Schreibfräuleins, die
den ganzen Tag gut ausgeklügelte und dennoch mit sicherem Geschmack
parierende Schriftsätze in Scheidungssachen schreiben. Er ist gewiß
nicht durch einen blinden Zufall, sondern durch eine offensichtliche
Begabung allmählich ein Spezialist in Ehescheidungen geworden. Seine
friedliebende Natur, die unermüdlich bestrebt ist, Ausgleich und
reibungslose Auseinandersetzung herbeizuführen, selbst wenn anscheinend
unüberbrückbare Hindernisse entgegenstehen, erwarb ihm den guten Ruf.
Man sucht ihn bereits und hält ihn in bester Erinnerung, weil er das
unerquickliche Ende ohne Schrecken zu finden weiß.

Er bewies seine diplomatischen Künste im Prozeß der Hafengesellschaft
gegen Michael Pohl, den er drei Jahre ohne unnötige Dissonanzen in
der Schwebe zu halten verstand, bis er an seinem eigenen Widerspruch
zerrann. Er wußte selbst einen Querkopf wie den Bäckermeister Reiche
davon zu überzeugen, daß man recht haben kann und dennoch sein Unrecht
zugeben muß. So führt er immer seine Parteien langsam und ohne
kleinliches Gezänk -- mit einer Geduld, die nervöse Kollegen fast
pathologisch nennen -- zum gewünschten Ziel. Wenn es auch zuweilen
in neuer Versöhnung besteht, so verdient er daran nicht geringere
Honorare, weil er es sich zum weisen Prinzip macht, diese Akten gut zu
verwahren. Er weiß, daß solcherart Klienten nicht ohne Anhänglichkeit
sind.

So hat er in seiner Praxis Gelegenheit zu manchen Beobachtungen
gefunden, die er auch im Privatleben anzuwenden weiß. Wie hätten
ihm also die Anzeichen für den Bruch einer ihn so besonders
interessierenden Ehe entgehen können? Zumal er die Tanzstundenfreundin,
die in seinen Gedanken die scheue Adelheid Friemann blieb, nicht aus
den Augen ließ.

Vielleicht sind viele seiner guten Erfolge in anderen Ehescheidungen
darauf zurückzuführen, daß er so intensiv immer nur an den einen Fall
dachte, den nun endlich ein Kollege bearbeitet. Man sagt ihm nach,
daß er mit besonderem Geschick stets die Schuld der männlichen Partei
übertrug, so daß er hauptsächlich die Unschuldigen vertrat. Aber die
Klientin, die er mit so unermüdlicher Geduld erwartete, schickte er
dennoch zur Konkurrenz. Nein, in dieser »Sache« hätte er keinen Finger
rühren können.

Es ist seine große Tragik, daß er in den eigenen Angelegenheiten von
den beruflichen Fertigkeiten verlassen ist. Wie redegewandt kann er vor
dem Richter oder in seinen Schriftsätzen für die Interessen anderer
eintreten, und wie stumm war er geblieben, als Adelheids Gefühle noch
nicht abgeirrt waren. Er könnte nun mit Recht hoffnungsvoller und
ruhiger in die Zukunft blicken, denn man kann annehmen, daß sie seine
Treue noch einmal anerkennen wird. Doch je näher der Termin ihrer
Freiheit heranrückt, um so nervöser wird Alfred Bernhard, der wieder
alle Qualen der Tanzstundenzeit erlebt. Er hat noch jeden Tag in der
Erinnerung, an dem er die Gelegenheit und das richtige Wort versäumte,
bis sie Joachim Becker kennenlernte und er einsah, daß es zu spät
geworden war.

Nun zieht er hier in scheinbarer Ruhe an der schweren Zigarre, lauscht
zerstreut den Gesprächen der beiden »alten Herren« und denkt mit banger
Freude an den Herbst, der Adelheid wieder hierherführen wird.

»Und doch sind solche Krankheiten oft heilsam,« hört er den Kapitän
sagen, »sie befreien den Menschen nicht nur körperlich, sie lassen ihn
nach einiger Zeit auch seelisch genesen. Wir müßten alle ab und zu nach
einer gründlichen Aufräumung der alten Stoffe wieder neu beginnen.«

»Ich glaube, daß Sie darin noch zu optimistisch sind, lieber Kapitän«,
erwidert der Kommerzienrat, während er den Blick in die Luft richtet.
»Bei jungen Leuten mag das zutreffen. Vielleicht sind Sie dafür auch
noch jung genug. Aber unsereins --«

Der Kommerzienrat schiebt seinen Körper zur anderen Seite des Sessels
und stützt den Arm mit der hochgehobenen Zigarre schwer auf die Lehne.

»Sehen Sie, ich habe auch gedacht: du wirst zunächst nur Geld
verdienen, und dann fängst du von neuem an. Es ist nicht mein
Jugendtraum gewesen, mit Getreide zu handeln, hochfliegende Pläne
habe ich allerdings auch nicht gehabt. Im Gegenteil, sie waren sehr
bescheiden und standen in einem gewissen Zusammenhang mit meinem
Gewerbe. Ich habe nämlich das Getreide geliebt. Aber nicht auf dem
Ladentisch und nicht an der Börse. In die Erde wollte ich es versenken.
Säen wollte ich es, sein Wachstum still verfolgen, von Gott und dem
Wetter abhängig sein und nicht von den Schwankungen, die uns die
Trusts und die Spekulanten diktieren. Ja, man hat es oft satt gehabt
und sich Geduld gepredigt, weil man glaubte, noch warten zu müssen.
Aber die gewohnte Haut wächst einem schließlich so fest an den Leib,
daß man sie nicht mehr herunterstreifen kann. Immer weiter schiebt man
den Zeitpunkt. Erst sollte es mindestens ein kleiner Bauernhof sein,
dann ein Rittergut, und schließlich wollte man das, was man sich hier
so mühsam in einem ganzen Leben erwarb, auch nicht aufgeben und den
Kindern vererben, ehe man sich zurückzieht. Und nun --«

Er wirft sich wieder auf die linke, dem Kapitän abgewandte Seite des
Sessels und läßt den Arm mit der kalten Zigarre sinken. Der Kapitän
sucht nach einigen wohlgefügten und geeigneten Worten, um über die
Situation hinwegzuhelfen. Der Kommerzienrat jedoch spricht mit neuem
Anlauf weiter:

»Je länger ich jetzt darüber nachdenke, um so mehr komme ich dahinter,
daß der Junge, der Felix, gar nicht hierher gepaßt hat. Das war zu
groß und zu unruhig für ihn. Er hat sich mit seinem lebhaften Geist für
alles interessiert. So kam es, daß er seine Kräfte zersplitterte und
daß er nichts zu Ende denken konnte. Und so durfte er auch sein Leben
nicht zu Ende leben.«

Er schweigt. Seine beiden Zuhörer finden keine Entgegnung. Der Kapitän
denkt: ›Wäre ich nicht auf dem Sprung, ihn für immer zu verlassen, so
würde er kaum das alles in meiner Gegenwart erzählen. Man gibt seine
geheimsten Erkenntnisse nicht dem preis, den man täglich wiedersehen
kann.‹

Oder sind die Worte an Rechtsanwalt Bernhard gerichtet, den der
Kommerzienrat schon fast zur Familie rechnet und der beizeiten erfahren
soll, welche Fehler er zu vermeiden hat?

»Er hätte in das einfache Leben gepaßt, das ich für mich reservieren
wollte«, fügt der Kommerzienrat mit gepreßter Stimme hinzu. Es scheint
doch, als spräche er nur, um sich von den Selbstvorwürfen laut zu
befreien.

»Sie haben, soweit ich beurteilen kann, immer das Beste für Ihre Kinder
gewollt und sie selbst wählen lassen«, sagt der Kapitän tröstend.

»Gewiß«, erwidert der Kommerzienrat. »Scheinbar haben sie selbst
gewählt. Aber ihr Wille gehörte ja nicht ihnen. Er war durch die
Erziehung und die Umgebung, die ich ihnen schuf, beeinflußt. Sie trafen
also eine Wahl, die ich ihnen indirekt aufzwang und die nicht einmal
meiner wahren Neigung entsprach. Ich selbst war mit meinem Herzen
immer bei der Scholle, die Kinder aber verpflanzte ich hierher, wo sie
ebensowenig Wurzeln fassen konnten wie ich. Und es hätte doch sehr
nahe gelegen, daß sie nach mir oder meiner Frau arteten, die in ihrer
Bescheidenheit überhaupt keine eigenen Wünsche mehr hat. Oder glauben
Sie, daß der Junge aus dem Leben gegangen wäre, wenn ihn etwas stark
genug gefesselt hätte?«

»Es war eine Gefühlswallung, die in der Erregtheit über den ersten
Unglücksfall leider niemand schnell genug hemmte«, erwidert der
Kapitän.

»Können Sie sich vorstellen, daß zum Beispiel mein Schwiegersohn
dasselbe getan hätte, wenn er sich die Schuld an einem großen Unglück
hätte zuschreiben müssen?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

Das ist eine schwere Frage an den Kapitän. Er findet keine neutrale
Antwort und schweigt.

»Dann will ich es Ihnen verraten,« sagt der Kommerzienrat, »weil ihn
die selbstgewählte Arbeit fesselt. Ich glaube, das ist die stärkste
Bindung an das Leben. Die Arbeit, der man sich mit Liebe hingibt, kann
niemals enttäuschen. Sie holt aus sich selbst die neue Kraft, während
die erzwungene Arbeit ständig ermüdet.«

»Und wenn sie vom Ehrgeiz angetrieben wird?« fragt der Kapitän zögernd.

»Es war nicht Ehrgeiz,« erwidert der Kommerzienrat, »seine Liebe zur
~Arbeit~ war echt. Über alles andere hat er uns und -- ich glaube
-- auch sich selbst getäuscht.«

Der Kapitän fühlt sich zum zweitenmal beschämt. Vater und Tochter, die
vielleicht mehr Grund gehabt hätten, Joachim Becker zu verurteilen,
müssen ihn Gerechtigkeit lehren.

»Verzeihen Sie«, sagt er leise. »Ich habe ihn als Menschen zu wenig
gekannt.«

Er sieht ein, daß es höchste Zeit für ihn ist, vom Schauplatz der
Gefühle endgültig abzutreten und seinen festen Stand in der Mitte nicht
mehr zu verlassen. --

Am nächsten Tage werden die alten Möbel zum Seiteneingang des
Verwaltungsgebäudes wieder hinausgetragen. Der kleine Herr mit dem
braunen Gesicht und dem gespreizten Gang, den Frau Reiche damals
durchaus nicht für den neuen Hafendirektor halten wollte, hält seine
Liste in der Hand und prüft wiederum, ob alles in Ordnung sei.

Dann geht er still für immer aus dem Hafentor hinaus ...

Frau Reiche kann ihn diesmal nicht beobachten, sie ist Inhaberin eines
Zigarrengeschäfts und hat mindestens für einige Zeit einen eleganten
jungen Geschäftsführer.

In der Kantine sind neue Leute, die nun für den Generaldirektor selbst
das Essen zu beschaffen haben. Fräulein Spandau muß sich neben einer
anderen Sekretärin an zweiter Stelle einfügen. Sie sah dem scheidenden
Kapitän mit großer Trauer nach, denn sie war immer mit ihm zufrieden.
Aber sie ist von der Art, die mit der Treue und Dankbarkeit eines guten
Hundes jedem Herrn dient.

Vielleicht ist Joachim Becker in dieser Wohnung noch einsamer als sein
Vorgänger, denn neben seinem Schreibtisch steht kein Geigenkasten, den
er in den Abendstunden öffnen kann. Dafür hat er sich einige Bücher
hingelegt, die ihm die Liebe der Menschen ersetzen sollen.

Seine »Stützpunkte« an der Küste und im Binnenlande sind errichtet;
er hat sich mit Hilfe seiner erweiterten Tankanlage das Benzinmonopol
für die Stadt erobert; man baut ihm einen großen Güterbahnhof zur
Unterstützung neben seine Freiladeplätze. Er braucht nicht mehr in den
Hafen zu fahren, um die geleistete Arbeit zu betrachten. Er kann sie
nun von seinen Fenstern aus fast überschauen. Doch wenn sein Blick auf
einen Kran fällt, beißt er die Zähne zusammen.

An einem der letzten warmen Herbsttage, als der Generaldirektor nach
Arbeitsschluß ein gerichtliches Dokument weggeschlossen hat und in
seinem Zimmer wieder ruhelose Wanderungen unternimmt, fährt ein Wagen
im Hafen vor, und Rechtsanwalt Bernhard springt heraus.

Er schließt nicht den Wagenschlag, sondern hebt eine Hand und hilft
Frau Adelheid Becker beim Aussteigen.

Da ist sie also noch einmal im Hafen. Sie blickt sich aufatmend um, sie
sieht auch einen Kran, aber sie zuckt nicht zusammen. Jetzt ist sie
so weit, daß sie der Welt wieder gerade ins Gesicht blicken kann. So
sind die Frauen! Die Männer beißen die Zähne zusammen und machen den
vergeblichen Versuch, etwas zu unterdrücken; die Frauen richten sich
auf und fangen von neuem an.

Frau Adelheid nickt Rechtsanwalt Bernhard zu und sagt:

»Erwarten Sie mich hier, ich will allein mit ihm sprechen.«

Rechtsanwalt Bernhard verneigt sich und hat seine Freude daran, ihr
nachzublicken, wie sie mit festen Schritten in das Verwaltungsgebäude
hineingeht.

Joachim Becker öffnet ihr selbst. Frau Adelheid muß das erste Wort
finden, denn dieser forsche und tatkräftige Generaldirektor steht ganz
ratlos da und schweigt.

»Du hast doch nicht gedacht, daß ich es schlecht mit dir meine, weil
ich solange nicht kam?« fragt sie, während sie ihm die Hand hinhält,
die er nicht ergreift.

»Hat dir mein Vater nicht bestellt --« beginnt sie noch einmal, nun
schon wieder etwas ängstlich.

Da faßt er nach beiden Händen und zieht sie in das Zimmer.

»Doch,« stammelt er, »doch! Das hat er bestellt. Es war der einzige
Trost, der mir blieb.«

»Gott sei Dank!« sagt sie, »ich habe es ihm doch auch so erklärt, daß
nur ich daran schuld war.«

»Woran sollst du schuld gewesen sein?« fragt er in höchstem Erstaunen.

Sie betrachtet ihre Handschuhe. »An unserer Ehe«, meint sie leise.

Dann sieht sie ihm wieder ins Gesicht und sagt:

»Ich wußte, daß du damals so gut wie verlobt warst. Trotzdem hatte ich
es mir in den Kopf gesetzt, dich für mich zu gewinnen. Wenn es mir
nicht gelang, so lag es daran, daß du zu aufrichtig warst. Du hast
niemals geheuchelt, so daß ich dich nur noch immer mehr lieben mußte.
Wenn du besonders gut zu mir warst, so hatte ich dich für kurze Zeit
mit meiner Liebe bezwungen, doch in deinem Herzen bist du einer anderen
treu geblieben.«

Sie ist sehr rot geworden und blickt starr gegen die Fensterscheiben.
Er schweigt.

»Ich hätte Achtung davor haben sollen, anstatt dich zu quälen«, spricht
sie weiter. »Aber da war unsere Tochter --«

Ihre Stimme beginnt nun doch zu schwanken. Joachim Becker ist so
hilflos, daß er ihr nicht einmal beisteht, sondern sie weiter nach
Worten suchen läßt.

Frau Adelheid sieht, wie es um ihn bestellt ist, und da findet sie
selbst die Kraft, beiden zu helfen.

»Das ist jetzt alles vorbei, und ich denke, daß wir nun, nachdem uns
nichts mehr äußerlich bindet, gute Freunde werden könnten.«

Sie reicht ihm ihre kleine Hand, von der sie noch rasch den Handschuh
abgezogen hat, damit er den warmen Druck ganz unmittelbar verspüren
kann.

Er neigt sich so heftig darüber, daß sie etwas atemlos sagen muß:

»Unten wartet Rechtsanwalt Bernhard, er wollte dich auch begrüßen.«

Sie gehen gemeinsam hinunter, und wieder freut sich Joachim Becker, dem
jungen Rechtsanwalt in die guten, etwas verträumten Augen zu blicken.

Er hilft Frau Adelheid in den Wagen, und wie er schon die Tür schließen
will, beugt er sich noch einmal vor und sieht ihr mit einem dankbaren
Lächeln ins Gesicht.

Dann rollt der Wagen davon. Der Wächter schließt das Tor, und Joachim
Becker ist wieder allein in seinem Hafen.

Er geht am Wasser entlang; grüßt die Schiffer, die mit ihren Pfeifen
neben der Kajüte stehen, und wandert zu den Lagerhallen.

Vor dem großen Kran bleibt er stehen. Er beißt nicht mehr die Zähne
zusammen.

Er sieht zu ihm auf und sagt:

»Einen grausameren und gewaltigeren Mahner konnte man mir nicht
hinstellen als dich!« --

Rechtsanwalt Bernhard sitzt immer noch stumm neben Frau Adelheid
im Wagen und sieht mit Schrecken, daß sie sich dem Villenviertel
bedenklich nähern. Sicherlich ist es für das richtige Wort noch viel zu
früh, aber an diesem entscheidenden Tage, an dem sie ihm so gewaltig
imponiert, müßte er ihr doch mindestens sagen, welche Verehrung er ihr
entgegenbringt. Er weiß aus seiner ganzen Praxis keine einzige Frau,
die soviel Seelengröße gezeigt hätte wie sie.

Sie starrt mit ihren schönen dunklen Augen ununterbrochen auf den
Rücken des Chauffeurs. Alfred Bernhard kann sich nicht denken, daß
ihr gerade dieser Anblick ein Vergnügen bereitet, er weiß jedoch kein
Mittel, um sie abzulenken.

Plötzlich platzt er damit heraus:

»Wissen Sie noch, Adelheid, wie wir damals nach der ersten Tanzstunde
zum ›Historischen Gasthof‹ fuhren?«

»Ja.« Sie zieht den starren Blick erschreckt ein und betrachtet die
herbstlich bunten Bäume in den Gärten, die sich nun jenseits der Straße
mit ihren prunkvollen Villen im Hintergrund ausdehnen.

»Es war auch so ein warmer Herbsttag wie heute«, setzt er fort, während
er bemerkt, daß sie an der nächsten Kurve in ihre Straße einbiegen.
»Helene Uhl war damals mit und -- und --«

»Ja, Felix war auch dabei. Ich entsinne mich noch genau«, sagt sie
tapfer, nachdem er stockte, diesen Namen auszusprechen. »Während meiner
Krankheit habe ich einmal geträumt, daß wir tanzten. Sie und ich und
Felix mit Helene Uhl. Es war sehr schön.« Sie spricht dieses »schön«
wieder so kindlich verzückt aus wie damals beim Erwachen aus der
Narkose, als sie im Halbbewußtsein der Mutter davon erzählte.

Das hohe Gitter der Friemannschen Villa ist bereits zu sehen, da
springt Alfred Bernhard plötzlich auf und sagt zum Chauffeur, während
sich seine Stimme fast überschlägt:

»Fahren Sie zum ›Historischen Gasthof‹!«

Adelheid sieht ihm erstaunt zu, aber als er sich neben ihr niederläßt,
sagt sie, wieder vollkommen gefaßt:

»Ach, das ist wirklich eine gute Idee.«

Dann sitzen sie eine Weile stumm da und beobachten den Chauffeur bei
seinen Bemühungen, den Wagen zu wenden. Alfred Bernhard fühlt, wie
die Hitze, die im entscheidenden Augenblick in ihm aufstieg, langsam
verebbt. Während sie wieder auf geraden Straßen dahingleiten, gelingt
es ihm sogar, anregende Gesprächsstoffe zu finden, die sie zuweilen
veranlassen, ihn anzusehen oder ihm ein Lächeln zu schenken.

Dann steigen sie vor dem Gasthof aus, der zwischen den alten Bäumen
hervorlugt und an diesem herbstlichen Wochentage anscheinend keine
anderen Besucher als sie beide angelockt hat. Adelheid bleibt vor dem
Eingang stehen und blickt zu der Inschrift mit den verschnörkelten
alten Buchstaben hoch.

»So haben Sie auch damals hier gestanden und die Tafel entziffert«,
sagt er erinnerungsselig.

»Ja, und dann haben Sie mir die Jahreszahl ›übersetzt‹, weil ich die
römischen Ziffern niemals lesen kann.« Sie sieht ihn dabei mit diesem
reizenden, sorglosen Lächeln an, nach dem er sich so lange gesehnt hat.

»Achtzehnhundertachtundvierzig ist das«, erwidert er, ohne den Blick
von ihrem Gesicht fortzunehmen, das nach seiner Ansicht noch genau so
jung aussieht wie damals vor sechs Jahren.

Sie errötet auch wieder, weil die anhaltende Betrachtung ihrer
bescheidenen Person sie immer verlegen macht. Dann gehen sie über die
alten Fliesen des Flurs zum Garten, der hinter dem Hause liegt. In
stummer Vereinbarung steuern sie sofort auf den gleichen Tisch zu, an
dem sie damals zu viert gesessen hatten. Felix Friemann, der zu jener
Zeit in die langgliedrige lustige Helene Uhl verliebt war, hatte den
Platz ausgesucht, der ganz im Hintergrund, zwischen der historischen
Eiche und einer hohen Hecke, versteckt ist. Er war immer findig im
Ausspüren solcher Gelegenheiten, und es liegt nahe, daß die beiden nun
wieder an ihn denken.

»Und wie mag es Helene Uhl wohl jetzt gehen?« fragt Adelheid
gedankenschwer.

»Sie ist verheiratet.«

»Ja, ich weiß, sie hat zwei Kinder. Man erzählte es einmal. Ich habe
sie kaum gesehen, seit Felix sich nicht mehr für sie interessierte.«

Ein Mädchen kommt aus dem Haus. Rechtsanwalt Bernhard bestellt Kaffee
und Kuchen.

»Sie ist neulich bei mir gewesen«, sagt er, nachdem das Mädchen
gegangen ist.

»Wer?«

»Helene Uhl.«

»Helene Uhl, bei Ihnen in der Praxis?« fragt Adelheid leise, fast im
Flüsterton.

Er nickt. »Sie will sich scheiden lassen.«

»Und die Kinder?«

»Ich habe ihr eben deswegen zugeredet, es doch noch weiter zu
versuchen. Aber sie sagte, dann müßte sie seelisch zugrunde gehen. Ihr
Mann ist ihr nicht treu.«

»Vielleicht hätte sie doch unseren Felix nehmen sollen. Dann wäre alles
anders gekommen.« Sie sitzt mit geschlossenen Augen da und mag sowohl
an Schwester Emmi wie an den furchtbaren Kran denken.

»Ja«, erwidert Alfred Bernhard und müht sich um irgendein passendes
Wort ab, das noch hinzugefügt werden müßte, damit sie wieder die Augen
öffnet und ihn ansieht. Und dann sagt er ganz leise, während die Stimme
bei einzelnen Silben den Ton versagt:

»Manchmal ist die erste Liebe die richtige, und man weiß es nicht.«

»Ja«, erwidert sie, ohne die Augen zu öffnen. Sie hat sich gegen das
rauhe Holz der breiten Bank zurückgelehnt und reicht ihm ihre Hand hin.
Er sitzt in einigem Abstand neben ihr, sie braucht nicht nach ihm zu
tasten, er greift sofort mit beiden Händen zu.

Als sie seine brennenden Lippen auf ihren kühlen Fingern spürt, öffnet
sie die Augen und blickt auf den herabgeneigten Kopf mit dem knabenhaft
schlanken Nacken. Sie hat sich hochgerichtet und sitzt einen Augenblick
mit steifem Rücken da, während sie ihm die Hand zart zu entziehen
sucht. Er gibt sie frei, aber sein Kopf sinkt auf ihre Knie herab, und
sie spürt den heißen Atem durch den Stoff ihres Kleides.

Da fährt sie mit kurzen, zarten Bewegungen über sein volles Haar,
und wie er das Gesicht zu ihr aufhebt, strahlt sie ihn mit ihrem
mütterlich-sanften Lächeln an, dem Joachim Becker schmerzlich nachsann,
als sie ihm verloren war.

Für Alfred Bernhard sind die sechs Jahre ausgelöscht, er ist wieder
so jung und stumm wie damals. Er weiß, daß es jetzt keiner Worte mehr
bedarf.




                            Die Einweihung


Im nächsten Frühjahr kann neben der Mühle von Michael Pohl die große
Brotfabrik eröffnet werden, die Spenderin des täglichen Brotes für die
ganze Stadt.

Man veranstaltet kein Fest und ladet auch keine Gäste. Die Teigmassen
wälzen sich aus den großen Knetmaschinen, sie rollen geformt aus einem
Räderwerke heraus und verschwinden gleichzeitig zu Hunderten in den
großen Öfen.

Da gleiten schon die braunen Laibe herab, und dort ziehen die nächsten
rohen Formen hinein.

Meister Reiche nimmt das erste heiße Brot in seine abgehärteten Hände
und legt es auf eine Schüssel. Dann geht er damit hinaus, über den
großen Platz, an Mühle und Speicher vorbei zum Wohnhaus des Müllers.

Michael Pohl sitzt mit seiner Familie am Mittagstisch, da tritt Meister
Reiche mit der Schüssel ein und sagt feierlich:

»Das erste Brot!«

Michael Pohl erhebt sich und mit ihm auch seine Frau und seine Tochter,
nur der jetzt vierjährige Michael bleibt auf seinem Stühlchen sitzen
und sieht der Szene mit großer Spannung zu.

Sie sind alle von der Feierlichkeit dieses Augenblicks durchdrungen.

Michael Pohl sagt:

»Wir wollen gemeinsam davon essen.«

Frau Pohl reicht ihm ein Messer, er schneidet vier Stücke von dem
heißen Laib und spricht einige kurze Worte mit seinem Herrgott. Sie
falten alle die Hände, und dann nehmen sie das Brot.

Sie verzehren es wie das heilige Abendmahl.

Meister Reiche reibt mit seinen großen Fäusten an den Augen, Frau Pohl
aber gibt ihren Tränen freien Lauf, sie reicht ihrem Manne die Hand und
läßt sich in seine Arme ziehen.

Dann sagt sie: »Ich will auch unserem Sohne von dem heiligen Brot
geben.«

Und sie steckt ihm einen Bissen in den Mund, obgleich sie weiß, daß er
sich daran den Magen verdirbt. --

Wenige Wochen später ist der Hafen zur offiziellen Feier der Einweihung
gerüstet. Aus dem ganzen Lande sind die Gäste geladen. Fahnen wehen
über allen Gebäuden, und auf den Gewässern liegen die Kähne und
Schleppdampfer in dichten Reihen.

Man hat die Schiffer lange darauf vorbereitet, daß es erwünscht wäre,
wenn am 1. Mai recht viele von ihnen hier anlegten und sich den
staunenden Gästen präsentierten.

Gegen elf Uhr fahren die Wagen vor. Sie müssen hinter dem Tore halten,
und bald ist die Straße bis zur Föhrbrücke gesperrt. Immer neue
Menschenmengen strömen herein. Sie kommen einzeln und in Gruppen: die
Herren von der Regierung und von den Kommunen, von Handel, Industrie
und Gewerbe, die Schaulustigen und die Damen.

Vor dem Verwaltungsgebäude ist eine geschmückte Rampe errichtet. Hier
soll der Hafen gewissermaßen aus der Taufe gehoben werden. Die Reden
sind vorbereitet, und die Schiffer auf dem Wasser hinter dem Rednerpult
setzen sich neben ihre bekränzten und bewimpelten Kajüten und denken,
daß sie diesmal auch etwas zu hören bekommen.

Die Gäste promenieren und sehen sich staunend um, bis sie an der Kanzel
versammelt werden, weil der erste Redner erscheint.

Es ist der Oberbürgermeister, der sie im Hafen begrüßt und dann
nicht minder erhebende Worte spricht als vor vier Jahren zum ersten
Spatenstich.

Dann folgt der Vertreter der Regierung, und das ist diesmal der
Handelsminister selbst.

Es reden die Exponenten von Industrie, Handel und Finanz, und die
Zuhörer werden schon etwas müde, als Joachim Becker, der junge
Generaldirektor und Anreger zu diesem Werk, die Schlußworte spricht.

Er faßt sich sehr kurz. Er sagt, daß er nicht viel Worte zu verlieren
brauche, denn heute sprechen die Erfolge selbst. Er ladet zu einer
Besichtigung der Hafenanlagen ein, dann werde jeder sehen, daß
dieser neue große Binnenhafen ein wichtiger Faktor im deutschen
Wirtschaftsleben sei, der seine Existenzberechtigung bewiesen habe.

Er spricht diesmal nicht von Kampf, Mut und Ausdauer, nicht vom
»Größten«, das alles andere übertrumpfen soll, oder von einer
Weltmacht. Er sagt »Urteilt selbst«, dankt für das Interesse und
verneigt sich.

Dreißig große, mit Nummern bemalte Schilder stehen da, die von den
Bureaudienern und Boten der Generaldirektion an hohen Stangen getragen
werden; ebenso viele Führer, die mit dem Hafen vertraut sind, haben die
Pflicht, für die Einteilung der Erschienenen in Gruppen zu sorgen und
ihnen die Anlagen zu erklären.

Da finden sich nun diejenigen zusammen, die im Rang zueinander
gehören, eine besondere Gruppe ist für die Presse gebildet, und die
Schaulustigen suchen sich die Gesellschaft, die ihnen gerade gefällt.

Meister Reiche zum Beispiel, den man auch geladen hat, ist zufällig
neben Fräulein Spandau gelandet. Sie lassen sich die technischen Wunder
erklären, obgleich sie ihnen nicht fremd sind. Aber sie bleiben oft ein
wenig zurück und halten eine Privatbesichtigung.

Im Getreidespeicher, da, wo Meister Reiche vor mehr als zwei Jahren
die ersten Körner fallen sah, hält er sich längere Zeit auf. Er spricht
in seiner schwerfälligen, etwas stockenden Art von den eigentümlichen
Gefühlen in jener Stunde, und Fräulein Spandau hört ihm andächtig zu.

»Und was würden Sie sagen,« fragt er zum Schluß, »wenn nun ein Mann vor
Ihnen steht, der über sich selber wieder Herr und Meister ist?«

Fräulein Spandau sieht ihn so erstaunt an, als wüßte sie nicht, worauf
er hinaus wolle, obgleich eine stille Ahnung wohl in ihr dämmern mag.

Die Teilnehmer ihrer Gruppe kommen unter lebhaftem Geplauder von der
Besichtigung der oberen Stockwerke schon wieder zurück. Die beiden
lassen sie vorbeiziehen, und Fräulein Spandau sagt:

»Nun, ein Meister waren Sie trotzdem immer geblieben.«

»So meinte ich es nicht. Ich wollte sagen, daß ich wieder ein freier
Mann bin und möchte gern wissen, ob Ihnen das gefällt.«

»Herr Reiche«, sagt Fräulein Spandau errötend.

»Und was hier auf dem Papier steht,« er klopft auf die Brusttasche,
»das von der unsauberen Sache in meiner Ehescheidung, würde Sie das
wohl stören?« fragt er, während er ihre Hand ergreift. Er mag wohl an
die Störung selbst nicht recht glauben, denn sonst würde er ihr nicht
so treuherzig und siegesgewiß in die Augen schauen.

Fräulein Spandau errötet noch tiefer. Sie blüht geradezu auf, so daß
sie hübsch und gesund aussieht.

»Herr Reiche«, flüstert sie noch einmal. Er nimmt es als eine passende
Antwort hin. --

Joachim Becker zeigt sich bei jeder Gruppe und spielt den
liebenswürdigen Gastgeber. Es ist für einen Boten, der ihm ein
Telegramm überbringen soll, nicht leicht, ihn zu finden, weil er sich
immer wieder an einer anderen Stelle aufhält.

Endlich ist die Sendung übergeben. Joachim Becker geht zur Seite, um
ungestört lesen zu können. Seine Augen werden immer heller und klarer,
während sie auf den nüchternen Buchstaben ruhn.

Dann eilt er mit seinen leichten schwingenden Schritten davon und sucht
den Kommerzienrat. Er winkt ihn beiseite und übergibt ihm das
Telegramm.

»Es ist aus Venedig«, sagt er, während er lächelnd auf die gesenkten
Augen seines ehemaligen Schwiegervaters sieht.

Der Kommerzienrat liest:

»Generaldirektor Joachim Becker. Gratulieren zur Einweihung des Hafens
und wünschen von Herzen Glück und Heil. Alfred Bernhard und Frau
Adelheid.«

Er faltet das Papier langsam und sorgfältig zusammen, so daß es
aussieht, als käme es eben von der Postanstalt. Dann reicht er es
Joachim Becker zurück, und weil seine Hand zittert, fällt es zur Erde.
Joachim Becker hebt es auf. Wie er sich wieder hochrichtet, das Gesicht
vom Bücken etwas gerötet, sagt der Kommerzienrat leise:

»Dann will ich dir auch noch dazu gratulieren, daß dir alles so gut
gelungen ist.«

Joachim Becker steckt das Telegramm in die Tasche und geht damit eine
Weile tatenlos umher. In seinem energischen schmalen Gesicht, auf der
klaren hohen Stirn ist ein ungewohntes stilles Leuchten. Er greift noch
einmal nach dem Papier, und er mag dabei denken, daß ~eine~ Schuld
nun ausgestrichen sei.

Wie er dem Justizrat Bernhard begegnet, wird er so kindisch in seiner
Freude, daß er ihm das Telegramm zeigt und einleitend sagt:

»Ihr Neffe hat mir aus Venedig telegraphiert. Sie glauben nicht, wie
ich mich darüber freue.«

»So, ist er jetzt in Venedig?« fragt der Justizrat. Dann gibt er ihm
das Papier zurück und meint: »Ja, er ist ein braver Bursche, der
Alfred. Ich glaube, daß er noch ein gesuchter Rechtsanwalt wird.«

Dann gehen sie, ein jeder seines Wegs. Der Justizrat ist zwar
diesmal befriedigt, weil er die Rede des Oberbürgermeisters vorher
durchgesehen hat, aber er denkt: ›Ganz richtig ist das nicht, daß der
Junge dem ersten Mann seiner Frau gratuliert. Nun wollen sie wohl
gar gesellschaftlich miteinander verkehren? Es wird doch immer noch
allerhand Vorsicht außer acht gelassen.‹ Und er schüttelt bedenklich
sein graues Haupt.

Redakteur Undlet und der ausländische Pressevertreter, mit dem er sich
damals, beim ersten Spatenstich, zusammenfand, ist auch wieder da. Sie
haben inzwischen beide die Blätter gewechselt, aber sonst sind sie die
gleichen geblieben.

»Was sagen Sie nun?« fragt Undlet interessiert.

»Hm. Sie haben ganz Tüchtiges geleistet. Etwas bescheidener sind sie
geworden.«

»Bescheidener? Ich denke doch, daß sie in kürzester Zeit ausgeführt
haben, was sie versprachen.«

»Ich meine nur, daß sie jetzt nicht mehr soviel Worte machen.«

»Ja, so ist das,« meint Redakteur Undlet, »wenn man erst gezeigt hat,
was man kann, darf man schweigen. Vorher werden einem die besten Worte
nicht geglaubt.«

Sie gehen zur langgestreckten, mit Girlanden geschmückten Lagerhalle,
wo die Tafeln für die Gäste gedeckt sind.

Man läßt sich nieder, ißt und hört sich noch einige Reden an.

Dann fahren die ersten Wagen vor, der Kommerzienrat und Joachim
Becker begleiten die prominenten Gäste bis zum Ausgang. Schließlich
verabschieden sie sich voneinander, und der Kommerzienrat fragt:

»Du kommst doch heute abend zum Festessen ins Hotel?«

»Wenn du es mir nicht übelnehmen würdest,« sagt Joachim Becker, »möchte
ich heute gern allein bleiben.«

»Nein, gewiß nicht. Ich werde dich bei den Herren entschuldigen.«

Auf dem Rückweg begegnet dem Generaldirektor Schwester Emmi.

Sie trägt heute nicht ihre einfache Tracht, nein, sie ist mit ihrer
Eleganz wahrhaftig mancher hochgestellten Dame überlegen, wenn auch an
ihrer Seite nur Herr Karcher geht.

Dieser Herr Karcher, er ist mit großer Freude ihrer Einladung, sie
beim Feste zu begleiten, gefolgt, und nun wandert er neben ihr her,
als wäre das selbstverständlich und gar nicht eine große und besondere
Vergünstigung. Zwar sind mit der Generaldirektion viele junge Männer
in den Hafen gekommen. Sie rufen Schwester Emmi zuweilen einige
Scherzworte zu, denen sie in der alten schlagfertigen Frische begegnet,
doch sie hat keinen gefunden, der ihr ständig auf den Fersen folgt wie
seinerzeit Herr Gregor und der +Dr.+ Felix Friemann.

Nun betrachtet Herr Karcher sie beinahe als einen festen Besitz, und
es ist merkwürdig: irgend etwas fehlt ihm dabei. Wenn sie mit Herrn
Gregor oder +Dr.+ Friemann tändelte, so hat sich sein Herz immer
so wehmütig zusammengezogen, aber es war ein unvergleichlich schöner,
süßer Schmerz, der ihn den ganzen Tag begleitete und seinem Leben eine
melancholische Melodie gab.

Dieser Schmerz ist heute, da er von ihr bevorzugt wird, wie
ausgelöscht, und dem leidgewohnten unvernünftigen Herzen fehlt ein
treuer Gast.

Wie nun Joachim Becker den beiden entgegenkommt, sieht Schwester Emmi
rasch prüfend an sich herab. Sie zieht die Handschuhe glatt und hebt
die Lackspitze eines Schuhs bis hoch oben zum Seidenstrumpf, um einen
winzigen Fleck fortzuputzen. Dann befeuchtet sie die Lippen und geht
dem Generaldirektor mit einem reizenden Lächeln entgegen.

Joachim Becker begrüßt sie sehr liebenswürdig und drückt ihr sogar die
Hand.

»Ja, Schwester Emmi,« sagt er, »nun, da die Einweihungsarbeiten vorüber
sind, werden wir beide uns einmal zusammensetzen und versuchen, wie wir
nach dem Entwurf von +Dr.+ Friemann die Fürsorgestelle erweitern
können.«

Dann plaudern sie noch ein wenig. Herr Karcher steht schweigsam
daneben, und siehe: da ist er wieder, der unvergleichlich schöne, süße
Schmerz. --

Das große Fest im Hafen kann auch dem Nachbarn nicht entgehen. Die
offiziellen Nachrichten dringen überall hin, und für die Verbreitung
der internen Mitteilungen in der Familie Pohl hat Schwester Emmi wieder
gesorgt, seitdem der Kapitän nicht mehr als gern gesehener Gast
empfangen werden kann.

Während Irmgard Pohl mit ihrem Vater zum Mittagessen über den
Platz geht, muß sie auch einen Blick zu den lustig wehenden Fahnen
hinüberwerfen.

Sie bleibt stehen und sagt: »Vater, wenn Joachim Becker einmal
wiederkehrte, um uns zur Versöhnung die Hand zu reichen, käme er dann
als Sieger oder als Besiegter?«

»Als Sieger!« sagt Michael Pohl so schnell, als wäre er auf die Antwort
vorbereitet gewesen.

»Und sein Sohn?« fragt Irmgard leise.

Der Mühlenbesitzer sieht sie eine Weile schweigend an. Dann sagt er:
»Auch der Sieger kehrt in sein Land mit Verlusten zurück. Wer sich in
den Kampf einläßt, muß ihn in jedem Falle mitbezahlen.« --

Als auch der letzte Gast verschwand, spaziert Joachim Becker noch ein
wenig in seinem Hafen umher. Die Arbeit ist noch in vollem Betrieb,
denn eines Festes wegen darf die Tätigkeit nicht ruhn. Die Angestellten
haben auch ihr Freibier bekommen, und nun führen sie ihren Arbeitstag
zu Ende.

Joachim Becker bleibt neben dem Verwaltungsgebäude stehen und denkt
an die alten Linden, die hier einstmals wuchsen. Über dem zweiten
Hafenbecken sieht er eine Kirche und ein Fräuleinstift.

Unter diesen Bäumen ist er damals auf- und abgegangen mit so
hochfliegenden Gedanken, daß er manchmal selbst davor erschrak. Oft war
er nicht allein gewesen, die Wärme und der Duft Irmgard Pohls hatten
ihn verwirrt, so daß seine Pläne in die Ferne gerückt und ihm noch
wahnwitziger erschienen waren. Er, der Prokurist einer Getreidefirma,
hatte vor die Gewaltigen der Stadt treten wollen, um ihnen zu sagen:
»Ich werde euch einen Hafen bauen!«

Wenn er so recht mutlos geworden war und gedacht hatte: »In deinem
ganzen Leben wirst du das nicht fertigbringen«, hatte er zuweilen
eine weiche Frauenhand gefühlt, und Irmgard Pohl mit ihrer festen
zuversichtlichen Stimme hatte gesagt:

»Ich glaube an deine Kraft, und ich weiß, daß du dich durchsetzen
wirst!«

Dann war der Plan wieder näher gerückt, und er hatte mit seinen
Gedanken weiter daran bauen können.

Noch nicht fünf Jahre später steht er nun hier und blickt auf seinen
fertigen Hafen.

Er geht zum Hafentor, als wolle er sein Werk auch von außen betrachten.

Aber ohne zurückzuschauen, lenkt er seine Schritte zielsicher zur Seite
und wandert über die Föhrbrücke und an der Brotfabrik, der Mühle und
dem Getreidespeicher entlang.

Das ist ein weiter Weg, und er will gar kein Ende nehmen.

Ob man wohl von den Fenstern des Wohnhauses sehen kann, wie er mit
seinen festen Schritten daherkommt?

Nun ist er am Gartentor. Er schreitet an Frau Pohls gepflegtem Rasen
vorbei, und wie er vor dem Hause endlich angelangt ist, öffnet sich die
Tür.

Michael Pohl steht auf der Schwelle. Er reicht ihm stumm die Hand und
führt ihn in das Haus.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HAFEN ***


    

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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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