Gesichte: Essays und andere Geschichten

By Else Lasker-Schüler

The Project Gutenberg EBook of Gesichte, by Else Lasker-Schüler

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Title: Gesichte
       Essays und andere Geschichten

Author: Else Lasker-Schüler

Release Date: October 9, 2016 [EBook #53239]

Language: German


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                                Gesichte


                     Essays und andere Geschichten
                                  von
                          Else Lasker-Schüler




                                  1914
                   Verlag der Weißen Bücher, Leipzig




                               2. Auflage




              Copyright 1913 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig

                Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig




                                 Inhalt


                                                      Seite
   Sterndeuterei                                          9
   Handschrift                                           18
   Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup                  24
   Künstler                                              27
   In der Morgenfrühe                                    30
   Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck     32
   Arme Kinder reicher Leute                             37
   Am Kurfürstendamm                                     40
   Die beiden weißen Bänke vom Kurfürstendamm            43
   Die Odenwaldschule                                    45
   Lasker-Schüler contra B. und Genossen                 48
   Coranna                                               55
   Die schwere Stunde                                    57
   Peter Hille                                           59
   Karl Kraus                                            66
   Loos                                                  69
   Oskar Kokoschka                                       72
   Peter Baum                                            74
   Franz Werfel                                          76
   S. Lublinski                                          77
   Paul Leppin                                           83
   Richard Dehmel                                        85
   Max Brod                                              86
   Alfred Kerr                                           87
   Bei Guy de Maupassant                                 89
   Albert Heine                                         100
   Karl Vogt                                            101
   Paul Lindau                                          102
   Bei Julius Lieban                                    104
   Friedrich von Schennis                               107
   Tilla Durieux                                        109
   Paul Zech                                            112
   Rudolf Blümner                                       113
   William Wauer                                        115
   Wauer-Walden via München und so weiter               117
   Emmy Destinn                                         122
   Franziska Schultz                                    126
   Kete Parsenow                                        127
   Ruth                                                 128
   Unser Café                                           130
   Marie Böhm                                           133
   Der Alpenkönig und der Menschenfeind                 135
   Egon Adler                                           138
   Ein Amen                                             141
   Wenn mein Herz gesund wär --                         143
   Der Eisenbahnräuber                                  150
   Im neopathetischen Kabarett                          152
   Kabarett Nachtlicht, Wien                            154
   Apollotheater                                        158
   Tigerin, Affe und Kuckuck                            161
   Im Zirkus                                            163
   Zirkuspferde                                         169
   Zirkus Busch                                         172




                        Dieses Buch schenke ich
                               Kurt Wolff




                             Sterndeuterei


                                    _St. Peter Hille_ in Ehrfurcht

Soll Ihr Leib noch länger mit seinen Sternen in der Hand Ihres Arztes
liegen, und wie lange überlassen Sie ihm noch Ihren Verstand? Fragen Sie
einmal so im Vorübergehen den Doktor, ob er von Ihrem Sternensystem eine
Ahnung hat. Oder wenden Sie sich an einen Irrenarzt, der am
gründlichsten Bescheid wissen müßte von der Astronomie des Menschen;
sitzt er doch an seinem Pol, wie ein falscher Gott am Scheidewege, wo
sich der Stern vom Chaos trennt. Es gibt gar keinen Irrsinn im Sinne der
Eisenbärte, aber wer wird mich nicht verspotten, wenn ich behaupte, es
gibt eine Veränderung im Chaos des Menschen. Darum sind Ihre Leiden aus
keinem anderen Grunde entstanden, als aus allzu wuchtigen
Sternenvorgängen. Senkte sich unerwartet Ihre Sonne in eins Ihrer Meere?
Jedwede Behandlung Ihres Arztes ohne genaue astronomische Kenntnis Ihres
Planeten ist ein Vergehen. Unbeschreiblich friedlich stimmt es, einen
Mond in sich zu fühlen, und wer ihn in sich trägt, steht im
verwandtschaftlichen Verhältnis mit dem Großgehenden da oben. Nach einem
Schwächezustand, den ich überwand, meine Tore standen noch unbefestigt,
fühlte ich den Durchgang des Vollmonds dicht an dem meinen vorbei, wie
ein leichtes Beben. Nicht dieser Vorgang war ein krankhafter, aber durch
die Kraft des Vorgangs erlitt ich Sternenschaden. Ich war noch lange
nach diesem Ereignis eingehüllt in schwermütigen Wolkengedanken. Glauben
Sie, die Erde leide etwa nicht noch durch die kürzlich erlittene,
erduldete Kometkraft? Denken Sie an Maria, durch die Gott schritt. Das
wird noch einmal geschehen, noch ewigkeitsmal, immer nach Gottesdrehung,
er wendet sich durch Maria. Sie leidet das höchste Fest durch das
Gottwillkommen, sieben Schwerter krankt ihr Herz. Wir sind das feinste
Werk aus Sonne, Mond und Sternen und aus Gott. Wir sind seine
Inspiration, seine Skizze zur großen Welt. Ich spreche nicht in
Symbolen, obschon Symbole die Schatten großer Wahrheiten sind,
Milderungsgründe: wenn etwas Ihren Horizont übersteigt. Sie setzen das
allzu klare Licht mit gewisser Überlegenheit gern ins Dunkle. Ich möchte
aber die Nacht von Ihnen nehmen, wachen Sie auf durch meine
Raketensterne! Ich bin ja keine Gelehrte. Aber wenn ich Menschen
medizinisch behandelte, würde ich sie »regnen« lassen, Luft in weiten
Kreisen »atmen« lassen. Mancher Menschplanet erstickt an Dürre. Ich
würde die verwandtschaftlichen Sterne ausfindig machen, die mit meinem
Planetpatienten in irgendeinem Zusammenhang stehen könnten; namentlich,
wenn es sich um eine epidemische Ursache handelte. Den kleinen Mars des
Menschen kann man nur mit dem gröberen, großen Mars der Welt impfen. Ich
kenne Leute, die unter dem Zusammenstoß ihrer Fixsterne leiden. Es sind
schlechte Pächter ihrer Welt. Jeder Schlaganfall ist ein Zerbersten
zweier vom Wege geirrter Sterne. Die Folge dieser Folge erst ist der
Tod. Ich bitte Sie nicht, an sich herauf und herunter zu suchen; Sie
sehen Ihre Sterne nicht, das was Sie betasten können, ist Chaos. Und
weil ich vom Unantastbaren des Menschen spreche, glauben Sie nicht an
meine Medizin und halten mich für eine Kurpfuscherin. Aber wer an meine
Dichtungen glaubt, die man auch nicht in die Hand nehmen kann, und doch
vorhanden sind, wird auch nicht zweifeln an den Sternen der Menschen,
wovon ich ihnen erzähle. Sind Sie nicht reicher, als Sie glauben? Ich
spreche von Ihrem Unsichtbarsten, von Ihrem Höchsten, das Sie nicht
greifen können, wie die Sterne über Ihnen. Sind Sie nicht reicher, als
Sie fassen können! Oder haben Sie schon einmal ein Stück Mond gegessen?
Sie würden immer nur sein Chaos greifen, wie der Arzt Ihr Fleisch,
daraus er keinen Stern formt. Der Doktor hat mich längst überführt,
indem er mit dem Messer diese Leiche sezierte: »Der Tote ist an
Schwindsucht gestorben, am Zerbersten der Lunge.« Ihr Doktor hat doch
keine blasse Ahnung von meiner Medizin. Allerdings ist dieser Tote an
Tuberkulose gestorben, an der Folge seiner und des Arztes Unkenntnis
seines Sternensystems. Und was ich von einer Epidemie halte? Die ist die
Folge der Sintflut im Massenmenschsternensystem, ein Bacchanal tausender
Sterne, daran alle Bruchteile, alle ungeordneten, unberufenen
Fleischchaosse zersplittern. Ich glaube darum an Wunder, an ungestaltete
Medizin. Wer aber kann sie mischen! Jesus von Nazareth tat Wunder, er
ergriff die keimenden Sterne und trennte sie von den faulen und erweckte
die Erblaßten an ihrer noch verglühenden Sternschnuppe. Der Nazarener
wandelte durch das Sternensystem des Menschen und erlebte die Welt so
tief und ging in Gott ein, und Gott in ihn, darum man ihn verwechselt
noch auf den heutigen Tag mit Gott. Moses der Prophetarzt erkannte den
Gott seines Volkes, heilte es und machte es stark. Eine Sage meiner
Bücher sagt von einem Derwisch, der sein Herz in die Hand nehmen konnte
und doch lebte durch die Kraft seiner Sterne. Wir sind das glühendste
Werk von Mond und Sternen, nach unserm Modell hat Gott die große Welt
erschaffen, in der wir: Ureigentum in unserer erweiterten Kopie leben
...

Ureigentum noch unverblaßt zu begegnen, erlebe ich überraschend oft.
Diese testamentarischen Sehenswürdigkeiten, Übertragungen, die an Wert
nicht einzuschätzen sind! Ich meine nicht die gemütlichen Hausväter aus
der alten, guten Zeit oder den Waldmenschen, oder den aus der nackten
Körperkultur oder den Zwiebelasketen. Merkwürdig, daß man gerade in den
Irrenanstalten Gesichte erblickt aus allererster Sternzeit; Bilder, alte
Meister, Menschen, die erstarrt sind in der Vision. Und kein Arzt weiß
sie aus dem Augenblick der Erscheinung zu führen, wie aus engem Rahmen.
Ich besuche diese scheintoten Galerien; mich lieben die unverstandenen,
verfangenen Gesichte. Etwa weil ich ihnen den richtigen Platz zu geben
vermag? O, ihre Angstgefühle! Die andern testamentarischen Gestalten
unterscheiden sich von den irrenden Denkmalbildern ihres ungestörten
Sternenlaufs wegen. Solchen Sterngeschöpfen geschehen Wunder. Wie St.
Peter Hille, er hatte noch mit Moses und Jesus von Nazareth gesprochen
und mit Buddha, und erzählte von ihnen, wie der Urenkel etwa von seinem
Großvater Goethe. Das war der unumstößliche Beweis von der ersten
Leuchtkraft Gottes in St. Peter Hille. Ich gehöre nicht zu den
Spiritisten; Spiritismus ist Epigonentum, Nachahmung, gewalttätige
Wunder. Um wirkliche Visionen zu erleben, muß man noch in der ersten
Leuchtkraft Gottes sein. So ein gotterhaltener Mensch ist fromm und
selbst Inspirationen fähig. Aus Isaaks weitem Munde seh' ich viel im
Traum Sterne aufsteigen, die er benennt nach Gottes Einverständnis.

Die hungrige Zeit fraß meine Leuchtkraft goldweise. Aber ich kann
erzählen von der Astronomie des Menschen, wenn ich auch in meinen ersten
zehn Jahren noch zwischen weichem Dunkel, zwischen ungeordneter Nacht,
im Chaos lag. Ich war wie ungeboren neben meiner Mutter, noch ganz
Chaos.

Das Kind ist nicht fromm, es ist dumpf. Dieser Irrtum! Fromm kann nur
der wissende Mensch sein, aber nicht jeder macht die sechs
Schöpfungstage in seiner Hülle durch und wird Stern, und wenige nur den
Sonntag. Wie viele Heilige gibt es und doch ist jeder Andächtige oder
Lauschende, jeder Staunende oder Liebende ein Heiliger. Wenn Jesus von
Nazareth die Kinder rief, so fühlte er Verantwortung mit ihnen, mit dem
Chaos, das sich entfalten werde. Er wußte, wie weit der Weg zum Sterne
war. Die Kinder sind wie die Lämmer so dumpf. Darum beleidigt mich das
irrige Wort: Jesus das »Lamm« Gottes. Solche Unschuld ist eine
Chaosunschuld, und der Nazarener war der Sonntag der Schöpfung. Der Jude
hat sich mit ihm der vollendetsten Welt entledigt. Sagte der
Sonntägliche doch zu einem der Mörder am Kreuztag: »Wahrlich, ich sage
dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.« Der Jude, der den
Himmlischen verstößt, beweist, daß er ein Bürger ist, um nichts weniger
der Mensch des Abendlandes, der den verlornen Gott der Juden aufnahm,
ihn sich erzog und erwog nach seinem lammblutenden Wort. Im Menschen
bereitet sich immer Fleischdumpfheit, Chaos, Fleischsehnsucht; Gott aber
ist umgestaltet, ungerahmt und breitet über alles sich. Wir reden immer
zu dem Chaos des Menschen, wollen wir ihn gewinnen, denn der Stern ist
böse, darum sind wir alle einmal krampfhaft enttäuscht in Gott. Wir
finden in ihm kein Chaos, keinen faßbaren Schlupfwinkel. Er sandte darum
seinen Sohn, das heißt, er kam in Menschgestalt zur Erde. Solcher
Umgestaltung Demut vom Stern zum Chaos ist nur ein Gott fähig. Nie war
solche Dunkelheit je auf Erden und am Himmel und im Menschen wie in der
Zeit des Gottbesuchs. Dem Priester und Pharisäer flößte seine
Betastbarkeit Mißtrauen ein, der Armselige umklammerte den vertriebenen
Götzen aus Fleisch und Blut wie einst am Fuß des Mosesberges das goldene
Kalb.

Sie wollen noch wissen, wie lange sich der Menschplanet erhält. Die
meisten Menschen werden nicht älter und nicht jünger als sechzig Jahre.
Jesus von Nazareth ist gottalt wie die Ewigkeit. Moses war zehntausend
Jahre, als die Tochter Pharaos ihn im Korbe fand. Und von dem Propheten
St. Peter Hille möchte ich sagen: Niemand wußte um seinen Geburtstag.
Meine Mutter war dreimal sechzehn Jahre alt, mein Vater erlebte sechsmal
seine tollsten Knabenstreiche. Wie schätzen Sie mich ein? Ich bin David
und tue Simsontaten, ich bin Jakob und deute die Träume der Kühe und
Ähren. (Oder zweifeln Sie daran, daß mich meine Brüder verkauft haben,
das Bürgermillion!) So verwirrt sich die Zeit der Vergangenheit im
Menschen. Heute bin ich eine Dichterin, und ich bitte Sie, mir zu
verzeihen, daß meine Dichtung keine Gehirnkarte geworden ist mit Farben,
lila, grün, rot gefärbt. Meine Bekenntnisse nehmen Sie als ein
Luxusgeschenk hin, denn ich bin verschwenderisch, das liegt in meinem
Sternsystem. Es kommt mir selbst nicht darauf an, einige Monde meines
Planeten fallen zu lassen. Auch mit meinem Chaos, ohne das Chaos kommt
kein Mensch davon, hat es eine besondere Bewandtnis. Darüber möchte ich
schweigen, aber eines kann ich Ihnen sagen, wir Künstler sind einmal bis
ins tiefste Mark und Bein Aristokraten. Wir sind die Lieblinge Gottes,
die Kinder der Marien aller Lande. Wir spielen mit seinen erhabensten
Schöpfungen und kramen in seinem bunten Morgen und goldenen Abend. Aber
der Bürger bleibt Gottes Stiefsohn, unser vernünftiger Bruder, der
Störenfried. Er kann nicht heimisch werden mit uns, er und seine
Schwester nicht. Verwechselt die lärmende Bürgerin oder die zur Hure
gewordene Magd nicht mit dem spielenden Sternenmädchen, die den Tanz aus
nackter Scham tanzt! -- --

Wohin mir doch heute alle meine Sterne geleuchtet haben! Immer muß ich
wiederholen, der Arzt sollte sich auf die Astronomie des Menschen
verstehen. Welcher von Ihren Hausärzten wäre imstande, eine
Sonnenfinsternis in Ihnen herbeizuführen, geschweige den Stillstand
Ihres Planeten?

Ich sehe Ihre Kanäle, Ihre Berge auf Ihren Sternen und Ihren Mond
aufgehen hinter Ihrer Stirn. Jeder Schmerz und jedes Freudegefühl,
Vernichtung oder Erhebung ist ein neues Bild Ihres Sternensystems. Sie
sterben eigentlich an zerborstenen Sternen oder Erkaltung Ihrer Sonne
oder an Finsternis. Wenn nur Ihr Leben den Höhepunkt erreicht hat vor
dem Zerfall Ihres Chaos: den Himmel. Aber wenn er Ihnen nicht auf den
Kopf paßte? Vom Blitzstrahl getroffen, das Chaos gespaltet, einzugehen
in die Allmacht ist Seligkeit. So lausche ich auf mich. Aber der Bürger
belauert sich, der Kranke in Arzthand betrauert sich, weil er keine
Achtung vor dem Schmerz hat. Ich bin müde -- wie ich mir entkomme, ein
Schatten aus Mond und Sternen, riesengroß fiel ich um Mittag und sinke
nun ein in meinen eigenen Planeten. Ich habe einen kritischen Tag hinter
mir, manche Menschen wichen mir furchtsam mit den Augen aus. Einem
kleinen Mädchen bohrte ich im Anblicken ein Loch in die Brust. Solche
Kraft macht traurig. Ich sehne mich nach Glück, nach ihm, nach
Hascha-Nid, dem goldhäutigen Sohn des Häuptlings. Der spielt mit sich,
treibt und lockt die Sterne über seine Grenzen, ein göttliches Spiel,
Wirbel und Wüstenwind. Ich liebe ihn, weil er so reich und rein an
Sternen ist, und ich staune vor solch verschwenderischen Launen ... Aber
das geht Sie nichts an. Gern hätte ich Ihnen noch vom Himmel erzählt.
Später, wenn ich ihn erreiche und Gott --

   Gott, wo bist du?
   Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,
   Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
   Wenn goldverklärt in deinem Reich
   Aus tausendseligem Licht
   Alle die frühen und die späten Brunnen rauschen.




                              Handschrift


                                  Dr. _Otto Jahnke_ mit dem seltenen
                                           Handschriftsbild

                              Für den Künstler der Handschrift ist der
                              Inhalt seines Schreibens nur ein Vorwand,
                              wie für den Maler das Motiv seines
                              Bildes.

Ich habe beobachtet, daß Kinder und Große so recht in Gedanken
versunken, mit der Feder, mit dem Bleistift an zu kritzeln fingen, dann
ganz unbewußt bemüht waren, schöne oder verschnörkelte Buchstaben und
Worte zu schreiben; sich dann später selbst über die Bedeutung des
Geschriebenen wunderten. Auf einmal steht auf dem weißen Rand der
Zeitung ein Name im Arabeskenschmuck oder blumenverziert. Dort ist ein
Zeitwort auf den Kopf gestellt, ich meine ein xbeliebiges Wort in
Spiegelschrift geschrieben. Ich habe dasselbe fesselnde Gefühl beim
Ansehen einer interessanten Handschrift wie bei einer guten
Federzeichnung oder einem Gemälde. Und doch möchte ich darum die
Handschrift nicht mit der Malzeichenkunst in einen Farbentopf oder in
ein Tintenfaß werfen. Aber der, welcher sich verzweifelt nach einem
Talent sehnt, möge es zunächst in seiner Handschrift suchen. Oft hat
schon der Lehrer sie im Keim erstickt. Den meisten bleibt die Schrift
nichts wie Inhalt -- die Nachricht erfreut ihn, ärgert ihn, namentlich
wenn sie noch dazu undeutlich geschrieben ist. Warum höre ich nie jemand
sagen: Erklären Sie mir diese oder jene Handschrift. Ich meine nicht des
sprachlichen Verständnisses wegen, auch nicht aus graphologischem
Grunde; rein künstlerisch! Wie ja so oft die Frage aufgeworfen wird vor
einem Bildnis. Es hat noch nie jemand von einer Handschrift den
alltäglichen Ausruf getan: »Die ist mir zu hoch!« Und doch gibt es
gerade Meister dieser Schulmeisterkunst. Diejenigen sind's, die sich im
Klassenzimmer Strafe holten ihrer Klaue wegen. Es geht ihnen wie dem
Genie, welches die Kunstschule ausspie. Handschrift ist erblich wie
jedes Talent. -- Für mich kommt kaum der Inhalt eines Briefes in
Betracht; ich kann mich für den Schreiber nur seiner Buchstaben wegen
interessieren. Und es geschah schon, daß ich ganz entzückt einen
unverschämten Brief beantwortete und umgekehrt. Die Schrift ist ein Bild
für sich und hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Jeder lernt schreiben,
eine Menge Menschen haben es in ihrer Handschrift zur Kunst gebracht.
Und darum auch gibt es in keiner Kunst so viele Epigonen, wie in der
Kunst der Buchstaben. Für diese Nachahmer ist jeder Buchstabe ein
Gestell, dem sie einen Mantel umhängen, den ein anderer gewebt hat, sie
verstehen eben ihre Blöße zu bemänteln. Die alltäglichsten Epigonen sind
reichgewordene Frauen, die sich bemühen, ihre so oft charakteristische
Ladenmädchenschrift zentimeterhoch heraufzuschrauben direkt zu
hochmütigen Gänsehälsen. Der Mann möchte Bedeutung in seine Schrift
legen und ahmt der Hand des ihm Geistigüberlegenen nach. Ungemein
sympathisch berührt mich die sogenannte Tatze, die Schrift der Knaben,
wenn sie den Aufsatz ins Diarium schreiben. Hier diese Zeilen hat ein
Mädchen vorsichtig und sanft geschrieben. Manchmal lachen auch Briefe
oder sind erbittert, die Schrift riecht fast nach Galle. Meines Freundes
Brief blinzelt, eine Faunlandschaft. Dein Onkel schreibt eine kleine,
rundliche, gleichmäßige Handschrift wie Taler. Geizhals ist er, aber ein
Handschriftenkünstler wie mein Freund der Faun. Interessant sind die
spitz auslaufenden Buchstaben auf dieser Seite, jedes Wort ein
Wolfsgebiß. Und doch kein Tiergemälde. Interessant wirkt auf mich die
Korrespondenz, die ich erbrach zugunsten der Kunst, zwischen Karl Kraus
und Herwarth Walden. Alte und neue Meisterstücke. Ich sprach schon
einmal in meinem Essay über die Kunst in Karl Kraus' Buchstaben. Seine
Handschrift ist ein Dürergemälde. Meine Handschrift hat als Hintergrund
den Stern des Orients. Oft sagten mir Theologen, ich schreibe deutsch
wie hebräisch oder arabisch. Ich denke an der späten Ägypter
Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf, der
Zwischenduft, der Handschrift mit Zeichenmalkunst verbindet. Mir fallen
noch die Schriften der Chinesen und Japaner ein. -- »Die Mitternacht zog
näher schon, in stummer Ruh' lag Babylon« -- die plötzliche
Geisterschrift an der Wand entsetzte die berauschten Gäste nicht des
Inhalts wegen, das furchtbare Schrift_bild_ war es. Sie _erblickten_ den
Inhalt des Fluches. Darum ist auch das Verständnis zur Kunst ein
Seltenes und Erhabenes -- es liegt uns im Gesicht und geht uns vom
Gesicht aus. -- Die Kaufmannshandschrift -- ich möchte noch vorher
fragen, hat schon einer der Leser einmal ein Lebenszeichen vom Dichter
Peter Baum bekommen? Nämlich gerade bringt mir der Postbote so ein
Sommerbildchen, Buchstaben: Mückenschwarm, der zerstreut in der Sonne
tanzt. Seine Karte blendet. Ich bin bei der Kaufmannshandschrift --
phantasielos, nüchtern, sie liegt bewegungslos auf dem Papier. Kühle
Tatsache. Der kaufmännische Reisende dreht seinen Buchstaben eitel den
Schnurrbart. Stutzig machen mich Briefe, die vom Geschäftsmann
geschrieben sind und von der Buchführung doppelt abweichen. In dem
Schreiber steckt sicherlich das Handschrifttalent. Es gibt auch Launen
der Schrift. Kinder, die erst morgen dem Christkind schreiben wollen, da
sie heute nicht schön schreiben können. Meiner Mutter Briefe waren
schwermütige Zypressenwälder, meines Vaters Schrift reizte zum Lachen,
humoristische Zeichnungen aus dem Struwelpeter. Kohlrabenpechschwarze
Mohren oder der böse Nikolas steckt die Jungens ins Tintenfaß.
Gelungene, amüsante Überschwemmungen von Tinte waren die Briefe meines
Vaters. -- Es gibt auch Schriftinspirationen, viele Menschen berauschen
sich an ihrer Schrift, und der Inhalt, den sie aufschreiben, ist nur
Vortäuschung. Ich schreibe oft, um mich durch meine Schrift zu erinnern,
mein Vater, um sich zu ergötzen. Meine Schwestern schreiben zweierlei:
die älteste: Reisebilder, die andere: Kinderbilder. Der einzige
Plastiker der Handschrift, den ich kannte, war St. Peter Hille, Petrus
-- er schrieb Rodins. Wie viel deutlicher gemalt ist das tiefsinnigste
Bildnis, als die ausgeschriebene Handschrift (rein künstlerisch
verstanden). Aber auch die kann dilettantisch sein, wenn sie ohne Tiefe
und Geist und nur aus Ausübung entstanden ist. Manche sogenannte schöne
Schrift allzu deutlich, Ölbilder nach Sichel. Lieber ist mir schon die
Pfote von Aujuste. Ihr Brief und die Antwort vom Schatz geben sich einen
Schmatz. Derbe Genrebilder. Vielerlei gibt's davon. Ähnlich wie die
Köchin schreibt das Dienstmädchen, die Kellnerin, das kleine Mädchen,
die kecke Hure. Aber loser geheftet, unordentlicher ihr Brief, ein
leicht schaukelndes Gerippe. Weit eher ist die Demimonde eine Epigonin.
Sie stiehlt lächelnd und liebkosend die Buchstaben der Originale oder
versteht wie die Sprache auch die Schrift ihres in Fesseln gelegten
Herrn zu kopieren und zu belecken. -- Habe ich schon gesagt, daß es auch
Stilleben in der Handschrift gibt, zehn Seiten lange Briefe, die
schlafen, aber deren Inhalt voll Leben sprudelt; Handschriftkünstler,
die schulakademisch erzogen und erwogen sind. -- Manche Buchstaben
gucken neugierig. Gewissenhafte Schriften: Wie die Buchstaben getrennt
auseinanderstehen. Er war sehr niedergeschlagen, als er diesen Brief
schrieb, seine Handschrift war dünn aufgelegt. Hochbeglückt, glänzen die
Vokale -- glückliche Handschrift. Ich habe ein kleines Laboratorium von
Schreibkaninchen, die ich anrege, mir Briefe zu schreiben. Sie können
sich also schon auf meine Erfahrung verlassen, lieber Sturmleser; es tut
mir unendlich leid, daß mein Manuskript dieses Aufsatzes nicht in Ihre
Hände gelangt. Trotzdem es mit schwarzer Tinte geschrieben ist, wirkt es
blau, tiefblau, liebesblau. Den wissenschaftlichen, langweiligen Inhalt
müssen Sie schon in Kauf nehmen -- seine Handschrift ist ein
Liebesbildnis. Ich dachte nämlich, indem ich über »Handschrift« schrieb,
an drei schöne Königssöhne. In Wirklichkeit schrieb ich drei Briefe; den
ersten an Zeuxis, den griechischen Maler, der nun in Berlin wohnt. Er
sei mein Ideal, aber ich ginge nicht an ihm zugrunde. Ich schrieb dem
süßen Prinzen von Afghanistan, daß er mein Typ sei und daß wir
ineinander verwachsen wären. Ich schrieb Wilhelm von Kevlaar, daß er
mein Symbol war, daß ich am Sterben läge, denn ich hätte an die große
Treue geglaubt, an seine Treue zu mir, und er habe sie gebrochen.

Das Manuskript liegt dem interessierten Leser zur Verfügung in der
Direktion.




                  Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup


                    Zur Kindertragödie in Kopenhagen

Ingeborg, seine kleine Königin ist tot -- Johann Hansen lebt noch; an
seinem Bettchen sitzt eine barmherzige Schwester und betet, daß der
arme, verirrte Knabe bald genesen möge. Der Stationsarzt hat ihm das Tor
des Todes verriegelt, sein Herz, das Ingeborgs Namen trägt, kann nicht
zu ihr ins Himmelreich. Nun wird das Kinderspiel erst eine
Kindertragödie. Die beiden wollten ja nur zum Tod, weil der einen Himmel
besitzt, in dem sie sich vor allen Engeln ohne Furcht vor Strafe herzen
könnten. Nicht diese Heimlichkeiten der Freude, ihre Gesichter schienen
durch die Spalte der Türen, durch das Eisen der Tore. Immer bauten sie
auf ihren Händen gläserne Schlösser, darin sie sich tausendbunt
spiegelten bis ans Ende der Welt, wo der Himmel anfängt. Dort wohnt der
Tod. Johann Hansen hob Ingeborg mit seinen Knabenarmen die Treppe zum
Einlaß des Todes empor. Der öffnete und ließ die kleine Königin ein,
Johann stolperte rücklings ins Leben zurück. Diese beiden feinen Kinder
ergreifen meine Seele. Das Leben ließ sie aus der Haft, der Tod
schmückte ihnen rosig sein Tor. Ich möchte, der Engel aus Andersens
Märchen käme und trüge den verwundeten Knaben zu Ingeborg ins
Himmelreich. Wie bösmütig sind die Menschen, die immer helfen wollen,
ins Leben zu befördern. Es ist Nacht, überall blüht ein Stern. An der
Decke im Krankensaal stehen viele Sterne, rotgoldene, süßgelbe, wie
Honig, und auch mattfunkelnde Immortellen. Alle pflückt der kleine,
heldenmütige Bräutigam für seine Braut, wenn er im Himmel mit ihr
Hochzeit feiert. Auf einmal schlägt er die Augen auf: »Ingeborg, ich
halte mein Wort!« Hast du es gehört, großer Engel aus Andersens Märchen?
Oder soll er aufwachen aus seinem Traum des Himmels -- und die Erde ist
wieder da, das Himmelreich verschwunden wie fortgezaubert, und Ingeborg
liegt im Grabe. Ein Keller wird dann die Welt sein, kahl, viel kahler
wie seines Hauses Keller. Alt ist er, wenn er aufwacht, jung, wenn seine
Augen sich schließen. Was bietet das Leben? Nicht das Kind braucht den
Eltern dankbar sein; wie können die Eltern aber das Nichtgeborensein dem
Kinde ersetzen!!? _Solch_ zwei Kindern vor allen Dingen, zwei Engel, die
nicht auf die wankelmütige Erde gehören. Flügel wuchsen ihnen; die
Pistole, die sich der Knabe vom Erlös seiner Geige kaufte, war
Vortäuschung. Denn es geschah hier ein Todeswunder. Nicht mehr wäre ich
überrascht gewesen, wenn dieselben Kinder anstatt für ewig zu
schlummern, auferstanden wären aus einem Grabe. Wie will der Christus,
der den Knaben auferweckt, ihm ein Himmelreich ersetzen? Es werden keine
Landeserholungsheime die »festgestellte« Neurose (Edelneurose)
fortkurieren. Aber ich denke an Selma Lagerlöf die herrliche Menschin,
an Karin Michaelis das liebe große Kind, sie könnten dem Knaben den
himmelblauen Verlust ersetzen. Sie tragen die Bilder des Himmels in
ihren Dichterinnenherzen -- halten sie zwischen ihren Händen. Ich bin
keineswegs sentimental, ich bin traurig. Man vergleiche nur nicht die
unaufgeblühte Liebe dieser Engel mit den Tändeleien koketter
Schulmädchen und greisenhafter Zwerge auf den Spazierwegen am
Sonntagmittage. Diese beiden Kinder ergreifen meine Seele, ihre Lippen
sind Himmelschlüsselchen.




                                Künstler


Herr von Kuckuck sitzt immer auf dem Fenstersims und schnappt mit seinem
zugespitzten Mund alle meine todtraurigen Worte auf, die sonst im Zimmer
liegen blieben, und ich würde schließlich in der Überschwemmung von
Todtrauer ertrinken. Auch sieht er so spaßig bei der Fütterung aus, ich
muß manchmal hell auflachen. Mein Mann kann von Kuckuck nicht ausstehen.
»Er ist eine Beleidigung neben dir.« Aber ich muß immer einen Hofnarr
haben, das ist so ein uraltes, erbübertragenes Gelüste. Er folgt mir
überall hin -- auf dem Salzfaß sitzt er in der Küche, wenn ich am Herd
stehe und mit dem Quirl dem Feuer behilflich bin -- ich meine wegen des
Weichwerdens der Erbsen -- -- ich trage goldene Pantoffel, aber in
meinen seidenen Strümpfen sind schon Löcher. Herr von Kuckuck wird
merkwürdig düster, immer wenn er auf dem Salzfaß sitzt und meinem Kochen
zusieht. Er erzählt von Prinzessinnen, die in Goldpantoffeln und
Seidenstrümpfen kochen und scheuern müssen und sich die Hände blutig
reiben und aber der Himmel ihnen alle Sterne schulde. Ich glaube, ich
bin im Anfang aus einem goldenen Stern, aus einem funkelnden
Riesenpalast auf die schäbige Erde gefallen -- meine leuchtenden
Blutstropfen können vor Durst nicht ausblühen, sie verkümmern immer vor
dem Tage der Pracht, und mein Mann erzählte mir dasselbe, und darum
haben wir uns geheiratet. »Wenn sich mein Budget besser gestaltet,« sagt
Herr von Kuckuck, »so braucht Prinzessin keine Erbsen mehr zu kochen.«
Er verspricht es feierlich, zwei große Tropfen fallen aus seinen Augen,
die sind lila, und die Feierlichkeit kleidet ihn so: eine Burleske, die
plötzlich auf geraden, rabenschwarzen Beinen steht. Ich rieche zu gern
Ananas -- ich glaube, wenn ich mir täglich eine Ananas kaufen könnte,
ich würde die hervorragendste Dichterin sein. Alles hängt von Kuckucks
Budget ab. Mein Mann der wünscht sich gar nichts mehr, er denkt morgens
schon heimlich an seine Zigarette, die er im Bett rauchen wird. Die
Lampe zuckt, es ist alles so dünn im Zimmer. »Herein!« Eine Erbse klopft
an meinen Magen. Kleine Beinchen bekommen die Erbsen und wackeln mit
ihren dicken Wasserköpfen -- eine plumpst den Berg herunter. »Bist du
aufgewacht?« Mein Mann fragt und hebt den Zigarrenbecher vom Boden auf
-- dann streichelt seine Ananashand mein Gesicht -- die Finger tragen
alle Notenköpfe -- sie singen -- und immer, wenn das hohe C kommt, sägt
mein Arm über seine Brust und seinen Leib -- ich nehme die Gedärme
hervor -- eine Schlangenbändigerin bin ich -- dudelsack Ladudel ludelli
liii!!!! Ich schiebe die Schlangen vorsichtig wieder in seinen Körper,
die kleinste hat sich fest um meinen Finger gesogen, aber sie ist die
hauptsächlichste Schlange, sonst kann er keine indischen Vogelnester
mehr essen. Ich gleite die Kissen herab, mein Kopf liegt in einem weißen
Bach, alle Fische tragen Ketten von Erbsen um den Hals und schwimmen
hinter mir über die flaue Matratze. Mein Mann wartet schon im Sessel. Im
Rahmen über dem Schrank hängt von Kuckuck und über ihm sein Onkel
Pankratius, einer der gestrengen drei Herren, und zählt -- Budget lauter
goldene Schnäbel. Es wird alles so grau -- ich habe solche Angst, ich
verkrieche mich in die Achselhöhle meines Mannes. Auf dem Sofa sitzt ein
Jüngling, er hat große, braune, spöttische Augen, die lächeln
schüchtern. »Wer bist du!« ruft mein Mann. »Ich bin der Schatten Ihrer
Frau und habe Theologie studiert.«




                           In der Morgenfrühe


                                 Meinem Freund, dem Bildhauer _Georg
                                                Koch_

Ich gehe an Mandelbäumen vorbei, aber die blühen in den Gärten fremder
Häuser, und die Fenster sind noch geschlossen hinter Spitzengeweben. Ich
bin unendlich müde, gewohnheitsmäßig bewegen sich meine Füße vorwärts,
Maschinen sind es, und sie müßten eigentlich unverhüllt in blauen
Sandalen gehen, denn sie sind von goldzagem Wandel, wie die Sonne, die
aufstieg. Ich kenne die Menschen nicht, die mir begegnen, ich weiche
ihrem Dünkel aus, und ich brauche nur meinen grauen Mantel abzulegen, um
König zu sein. Ich bin unendlich müde, ich glaube, ich bin im tiefsten
Leben erkrankt, aber die Vorübergehenden merken es nicht, sie heben auf,
was lärmend auf den Straßen liegt, aber sie hören nicht das schmerzliche
Murmeln, das tödliche Verrauschen einer Seele. Da liegt ein Nachtfalter
vor mir -- er stirbt -- wie dürftig seine Flügel sind, ein Lumpenhändler
war es, ein Vagabund, der sich nachts auf den Straßen herumtrieb und am
Feuerrausch der Lampen endete. Er stirbt -- ich trete ihn tot. Ich denke
an ihn -- wenn es für ihn doch einen Himmel, einen blauen Strand gäbe --
er würde dort ein schöner Schmetterling sein. Ich bin unendlich müde --
wenn ich nun auch eines Morgens so daliege, wie der graubraune Strolch
-- welcher Fuß würde mich zertreten. Es kommen Männer an mir vorbei in
weißen Sportschuhen und Frauen schreiten hastig über den Damm. Ich mag
diese Frauen nicht im Ornat, derbgewordene Philisterinnen sind sie --
was wissen sie von der Knabenzeit. Aber das kleine Mädchen mit der
Bubenbluse, es wird mich übermütig zertreten im Scherzwort, im
Frühlingslachen. Ich bin unendlich müde und es beginnt der
rücksichtslose Tag. Der Mann aus Glas mit der Vollstreckungsmappe unterm
Arm wartet vor der Haustür auf mich, heute klebt er die Siegel. Ich muß
ihn zart am Henkel fassen -- so ganz vorsichtig, liebevoll, daß er nur
keinen Sprung bekommt. Draußen an dem fremden Hause blühen die
Mandelbäume: der Falter ist tot, ich vergaß, ihn vom Weg in einen der
Gärten zu werfen.




           Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck


                                   _Paul Zech_, meinem Wupperfreund

»Lott es doot, Lott es doot, Liesken leegt om Sterwen, dat es god, dat
es god, gäwt et wat tu erwen!« Ich bin verliebt in meine buntgeschmückte
Jubiläumsstadt; das rosenblühende Willkomm gilt mir, denn ich bin ihr
Kind, die flatternden Fahnen auf den Dächern, aus den Fenstern winken
mir zu, lange Rotschwarzweiß-Arme, die mich umfangen wollen. Ich soll
überall hereinkommen. Ich bin in Elberfeld an der Wupper in der Stadt
der Schieferdächer. Hohe Ziegelschornsteine steigen, rote Schlangen
herrisch zur Höhe, ihr Hauch vergiftet die Luft. Den Atem mußten wir
einhalten, kamen wir an den chemischen Fabriken vorbei, allerlei scharfe
Arzeneien und Farbstoffe färben die Wasser, eine Sauce für den Teufel.
Aber nach Newiges zu, wo die Maschinen ruhen, wie frische Drillingsbäche
fließt die Wupper zwischen Wiesen und Waldalleen. Aber ich bin verliebt
in meine zahnbröckelnde Stadt, wo brüchige Treppen so hoch aufsteigen,
unvermutet in einen süßen Garten, oder geheimnisvoll in ein dunkleres
Viertel der Stadt. Ich mag die neuen Bauten nicht -- wer aber war die
Urpatrizierin des Rokokohauses aus der friderizianischen Zeit? Es lebt
noch einbalsamiert zwischen jüngst zur Welt gekommenen Fabrikanten- und
Doktorhäusern. Denn jeder etwas wohlhabende Bürger der Stadt besitzt ein
Wohnhaus, worüber er Herr ist. Portiersleute gibt es in Elberfeld nicht,
frech gewordene Sklaven, die nach Belieben ein- und herauslassen. Selbst
viele Arbeiter leben im Eigentum ihrer Mütter. Gequacksalbert hat die
Alte an der grünen Pumpe, noch heute heilt sie Krampfadern und
Beingeschwüre. Und das berühmte Geheimmittel gegen die Cholera hat der
sterbende Großvater Willig dem Vater ins Ohr gelallt, und der hat es
wieder dem Sohn anvertraut, und nun weiß es der Enkel, der
wahrscheinlich seiner gesprächigen Mutter wegen taubstumm zur Welt kam.
Und überhaupt so seltsame Dinge gingen in der Stadt vor; -- immer
träumte ich davon auf dem Schulweg über die Au. Manchmal lief ich durch
graue, lose Schleier, Nebel war überall; hinter mir kamen schauerliche
Männer mit einem Auge oder loser Nacktheit; auch an Ziethens Häuschen
mußte ich vorbei, der seine Frau erschlagen haben sollte, »ewwer en
doller Gesell wors gewäsen.« Oft ließ ich vor Angst die Bücher fallen
oder der Ranzen hing mir nur noch halb auf der Schulter. Nun grünt nicht
mehr die von Zäunen umgrenzte Au; Tore verschließen Häuser; kein
Schulkind kann mehr auf dem Wege zur Schule träumen, jedes Fenster zur
Rechten und zur Linken weckt es auf. Lebt der greise Direktor
Schornstein noch, der nicht wie die roten Schornsteine rauchte, aber vor
Zorn so oft fauchte? Ich bin verliebt in meine Stadt und bin stolz auf
seine Schwebebahn, ein Eisengewinde, ein stahlharter Drachen, wendet und
legt er sich mit vielen Bahnhofköpfen und sprühenden Augen über den
schwarzgefärbten Fluß. Immer fliegt mit Tausendgetöse das Bahnschiff
durch die Lüfte über das Wasser auf schweren Ringfüßen durch Elberfeld,
weiter über Barmen zurück nach Sonnborn-Rittershausen am Zoologischen
Garten vorbei. Mein Vater mußte an den Sonntagen mit mir dorthin gehen,
der bemerkte nicht den Sekundaner mit der bunten Mütze. Auf dem Hügel im
Tannenwäldchen am Bärenkäfig versprachen wir uns zu heiraten. -- Ich muß
an alles denken und stehe plötzlich wie hingehext vor meinem Elternhaus;
unser langer Turm hat mich gestern schon ankommen sehen; ich fall' ihm
um den Hals wahrhaftig. Leute am Fenster des Hauses bemerken, daß ich
weine -- sie laden mich ein auf meine Bitte, einzutreten. Schwermütig
erkenne ich die vielen Zimmer und Flure wieder. Auf einmal bin ich ja
das kleine Mädchen, das immer rote Kleider trägt. Fremd fühlte ich mich
in den hellen Kleidern unter den andern Kindern, aber ich liebte die
Stadt, weil ich sie vom Schoß meiner Mutter aus sah. Von jeder Höhe der
vielen Hügel schwebt noch ihr stolzer Blick wie ein Adler; und meines
Vaters lustige Streiche stürmen eben um die Ecke der Stadt. »Wat wollt
öhr van meck, eck sie jo sing Doochter.« Das rettet mich vor der schon
erhobenen Faust eines besoffenen Herumtreibers. Das verwilderte
Jahrmarktgesindel rings um mich schwenkt meine Kindheit immer wieder von
neuem wie in einer vielseitigen Luftschaukel auf und nieder. Das
Geklingel der Karussellmusik, begleitet von Flüchen rauher Mäuler und
Kreischen frivoler Weibsbilder ist zärtlich meinem Ohr. Denn ich bin
verliebt in die Stadt der Messen und Karussells. Mein Begleiter versucht
mich zu überreden, mit ihm den Riesenjahrmarktplatz zu verlassen. Aber
ich muß noch einige Male Karussell fahren. »Lott es doot, Lott es doot«,
ich fahr für mein Leben gern; gerade die altmodischen Holztiere sind am
fröhlichsten und drehlichsten. Mein Leopard springt auf Raub. Zwischen
Aujust und Aujuste die Bewußte, hinter Caal und Caaroline, Alma,
Luischen, Amanda. Gar nicht stolz bin ich -- sie beginnen mich zu
lieben. Ich bin verliebt in meine Stadt, manchmal schrei' ich ganz laut
auf, das überzeugt das rohe, arme Gesindel. Den Härrn Schüler haben
viele gekannt, er hat sie umsonst wohnen lassen in seinen Häusern. --
Wir gehen durch das Tor ins Elberfeld vor »dreihundert« Jahren. Mina
singt gerade im Tingeltangel ihre Liebeslieder. In rosanen
Atlaspantoffeln stecken ihre Klumpfüße, ein knappes Röckchen bedeckt
ihren Allerweltsleib. Diese Undame charakterisiert das Chantant einer
ganzen Zeit. Ich entgehe ihrem Spotte nicht, aber ich weiß ihr Achtung
einzuflößen. Ist ihr Hals etwa nicht wie Milch? Und zu guter Letzt
erkundige ich mich angelegentlich, wo man genau solche Pantoffeln
bekommt in der Stadt, wie die ihren sind. »Die sinn ut Engeland bei
Paris.« -- Nun hinein ins Kölner Hännesken! Gewaltsam zerre ich den
Dichter zwischen die Clowns ins Innere des Brettertheaters. »Sie werden
noch gestochen werden, wie Ihr Vater einmal.« Durch seine Uhr ging die
Spitze des Metzgermessers. Am anderen Morgen führten die jammernden
Eltern den heulenden Sohn vor das fieberknarrende Bett meines Vaters. Er
wußte, daß sie kommen würden, und drei Gläser und eine Flasche Rotwein
standen zum Empfang auf dem Nachttisch. Aber er ächzte vor Schmerz,
namentlich, als die fette Metzgersmutter begann, dat et där wackere Här
Schüler verzeehen mödd ... Ich bin verliebt in meine Stadt, aber schon
muß ich Abschied nehmen wie von einem alten, düsteren Bilderbuch mit
lauter Sagen. Niemand hat mich wiedererkannt, auch in Weidenhof der Wirt
nicht, der immer einen ganz kleinen Kellner für mich herbeischaffen
mußte am Festtag, wenn wir dort Forellen aßen. Und die Einkehr in meine
Heimat habe ich einem Dichter in Elberfeld zu verdanken, der kam dorthin
lange nach mir. Paul Zechs feine künstlerische Gedichte duften morsch
und grün nach der Seele des Wuppertals.




                       Arme Kinder reicher Leute


                                     Der kleinen _Hedwig Grieger_

Und wo die ganze Erde im grünen Lachen steht und ein großer Spielplatz
ist, fallen mir die vielen lieblichen Kindergesichtchen um so
schmerzlicher auf, die da weinen im Sonnenschein. Ihre Löckchen flattern
zwar lustig aus den feinen Spitzenhäubchen hervor, und viele von den
Kleinen stecken in seidenen Tanzkleidchen. Aber sie dürfen sich an der
Hand ihrer Begleiterinnen nicht recht freuen, und ihre runden Herzchen
möchten hüpfen. Baby hat ein Knöpfchen von seinem Schuh abgerissen, es
hat sich so gelangweilt -- aber Detta muß ihn am Abend wieder annähen,
dafür gibt's eine Saftige. Auf dieselbe Bank setzt sich ein sogenanntes
Fräulein, allerdings, sie trägt einen Federhut und hat die Allüren ihrer
Dame abgesehen ... Sie rückt, den Abstand zwischen ihrer Person und
ihren dienenden Kolleginnen zu wahren, vorsichtig an das äußerste Ende
der Bank. Wie schon angedeutet, ist sie nicht aus der Gattung der
gemeinen Kuhblume (s. Caltha), sie straft gebildeter. Mit einem Roman
von Emile Zola schlägt sie ihre kleine Schutzbefohlene auf den Mund, auf
die weißen Zuckerzähnchen. Und nur selten rügen Vorübergehende die
brutale Eigenmächtigkeit dieser Donnas.

Lottchen wird über die Straße geschleift, es ist so heiß, seine
zweijährigen Beinchen können nicht mehr ausschreiten. »Ick soll dir woll
tragen, olle Pute.« Keine der Mütter erbarmt sich seiner, und nur einige
Mädchen mit der Schulmappe am Arm oder dem Ranzen auf dem Rücken bleiben
entrüstet stehen und versuchen, die Kleine von der Hand ihrer Peinigerin
zu befreien, die aber schlägt kreischend um sich -- ein Volksauflauf
entsteht und nimmt sich der armen dienenden Person an -- ich und meine
kleinen Verbündeten sind das Gespötte der Straße.

Am Nachmittag begegnen mir die tapferen Schulmädchen wieder, sie führen
ihre kleinsten Geschwister spazieren und tummeln sich mit ihnen über die
Wiesen; wie zärtlich sie mit den langen Zöpfen ihrem Brüderchen die
Patschklatschhändchen und das bestaubte Gesichtchen säubert! Und welche
Wonne, durch den kühlen Wiesenbach zu waten! Viele von ihnen brauchen
nicht erst ihre Füße entblößen -- heirassassa wie das Wasser aufspritzt.
»Daß nur nicht die neuen Kleider naß werden!« erinnert die Älteste mit
den langen Zöpfen. Sie steht noch im Pflichtgefühl zur Puppe. Vierzehn
Jahre wird sie nächsten Monat; »ich komme«, erzählt sie mir, »in den
Dienst nach der Einsegnung.« Sie hat keine Erfahrungen gemacht, und was
sie von Hörensagen getrübt weiß, ist noch zu verwischen. Ich habe immer
solch eine Puppenmutter bei meinem Bengel, für seine sechs Jahre weiß er
genug Streiche, ich lache ob seiner Ausgelassenheit, die auch von seiner
Kameradin ungezüchtigt bleibt. Sie balgen sich und springen miteinander
über die Wege, mutwillige Ziegenböcke. Aber auch besonnen kann seine
junge Begleiterin sein. Auf jeden Fall befolgt sie noch schulgewohnt
meine Worte und streikt nicht heimlich wie manche ausgewachsene
Personen, die schon aus Oppositionslust das Gegenteil ausführen.

Ja, diese Allzufreien. Arm machen sie manchmal die Kinder der reichen
Leute mit ihren gehässigen Launen und niederen Liebeleien. Allerdings
gibt es auch noch musterhafte Pädagoginnen unter den Kindermädchen oder
»Fräuleins« -- ich meine nicht solche, die unter jeden Schritt des
Kindes ein Rechenexempel oder ein Abc legen, nein, ich meine jene, die
zu spielen verstehen, und die müßten doppelt besoldet werden -- welche
ungeheuren Summen werden für den Magen ausgegeben, warum nicht für die
Seele seines Kindes? Nichts fordert Technik in solch feinem Maße wie die
Kunst des Kindes, »das Spiel« -- die bunten Gedanken zu drehen im
Krausköpfchen, wie in einem Kaleidoskop. Ja, es gibt vortreffliche
»Bonnen«, besorgte und doch heitere Freundinnen der Kinder. Aber wäre es
nicht ratsam, weibliche Detektivs anzustellen, verheiratete Frauen, die
die Überschreitungen der -- minder Trefflichen draußen auf den Wegen
beurteilen könnten? Mütter und Väter, sucht einmal euer Kind draußen in
der sorglosen Natur statt nur im Spielzimmer auf, dort werdet ihr die
Hüterinnen eurer Kleinen ungeschminkt kennen lernen.




                           Am Kurfürstendamm


               Was mich im vorigen Winter traurig machte

                                    _Georg Fuchs_ in Freundschaft

Blumen werden bald blühen an beiden Seiten des Reitwegs am
Kurfürstendamm. Wenn die lieblichen Reiterinnen an all dem Duft
vorbeigaloppieren werden, dann ist es zu spät, ihnen zu sagen, daß die
buntlachende Allee gesprengt wurde mit Schweiß und Blut Peitschender und
Gepeitschter. Die Pferde vornehmer Landauer tanzen, ihre schwarzen Augen
zünden vor Leuchten. Ich beginne sie mit ihren geplagten, wiehernden
Brüdern zu beneiden. Die können nicht weiter durch den Hügel an Hügel
aufgeworfenen Erdboden; ihre Hufe mußten sich selbst den Schmerzensweg
bereiten. Da gibt es kein Pardon! Auch kein Mitleid der Spaziergänger,
niemand will was mit den Fuhrleuten zu schaffen haben; in den
neumodischen, wogenden Busen der Damen pocht kein Herz. Sie verhindern
sogar ihre Männer, sich in Straßenangelegenheiten zu mischen. Manchmal
stellen sich Kinder auf zur rechten und linken Seite des Dammes. Für sie
ist es eine Unterhaltung, ein wirklicher Kientopp. Heute besah sich ein
Schutzmann den unerhörten Vorgang. Aus einem Bäckerladen schickte eine
Käuferin für die Pferde alte Semmeln. Ich sah über dem Gesicht des
uniformierten Mannes eine kräftige Freude marschieren. Und ich bat ihn,
ob er nicht eingreifen wollte. Er erklärte mir, die Fuhrleute sind nicht
so schlimm wie ihre Brotgeber. Weigert sich einer der Angestellten,
wegen der nicht genügenden Anzahl Pferde an seinem Karren loszufahren,
verliert er seine zwanzig Mark per Woche. »Da lauern schon immer genug
Brotlose vor der Türe.« Für die zwanzig Mark. -- Sie leben, sie
peitschen, sie fluchen dafür. Ihre Roheit besteht das Examen. »Dämlich
Vieh, windelweich hau ick dir, faulet Luder!« Die Wut rinnt den
Unmenschen über die Backen, den entblößten Hals hinab. Die Rücken der
Tiere bluten vor Hieben. Wie sollen sie es anders machen? Verteidigt sie
der Schutzmann. Denn es dauern ihn die Treiber ebenso wie die Pferde.
Die Treiber, die nur zwanzig Mark verdienen pro Woche und sich so plagen
müssen mit dem Vieh. »Es ist doch mal Vieh, es ist doch zum Ziehen da!«
Ein paar Bürger stimmen ein in den bequemen Sang. Röhren sollen gelegt
werden zum Ablauf des Wassers. Die Blumen, die bald auf beiden Seiten
der Allee wachsen, müssen bewässert werden. Gibt es denn keine
Maschinen, die die Erde schließlich aufwälzen können? meint ein
sechsjähriger kleiner altkluger Ingenieur. Er hält auch eine Maschine im
kleinen aus einem Spielwarengeschäft in der Hand. Die Männer toben.
Wilde Australneger sind Engel dagegen mit ihrem Schlachtgeschrei. Ich
aber fühle ebenfalls die schwere Schuld, die die Besitzer dieser
Fuhrunternehmen trifft. Vorwurfsvoll schielen seine Knechte über die
gefräßigen Pferde auf uns: Sie hätten selbst Hunger. Endlich aber
entschließen sie sich, nach all den vergeblichen Peitschenhieben, die
Pferde umzuspannen. Zu sechsen geht es doch besser über die holprige
Strecke. »Ich hab das gleich gedacht,« gesteht der Schutzmann. »Aber
sagen Sie mal was zu den Leuten!« Wenn die lieblichen Reiterinnen im
Sommer auf ihren verwöhnten Schimmeln durch die Allee des
Kurfürstendamms reiten, wird der Geranium zu ihren Seiten rot wie die
vergossenen Blutstropfen der armen Pferde blühen. Sie hatten alle
traurige Augen und ließen die Köpfe hängen.




               Die beiden weißen Bänke vom Kurfürstendamm


                                Meinem lieben Freunde _Andreas Meyer_

Morgens standen sie plötzlich auf dem Kurfürstendamm wie vom Himmel
gefallen in Mondsichelfasson. Die eine weiße Bank winkte den Leuten, die
aus der Friedrich-Wilhelm-Gedächtniskirche kamen, freundlich zu, die
andere weiße Bank lud eine blonde Schöne ein in aschgrünem Samt. Ich bin
seitdem öfters an den weißen Bänken vorbeigegangen; gestern setzte ich
mich zum erstenmal auf die eine, den Damm weiter, auf die andere. Guckte
ich geradeaus, bot sich mir ein Kreuz- und Querbild. Man sieht es vielen
Vorbeieilenden an am Operngucker in ihrer Hand, wohin sie wollen -- zur
Hochbahn --, in einer halben Stunde fangen die Theater an. Andere kommen
aus der Stadt, biegen um die Joachimsthaler Straße und kehren ein in das
heimatliche Café des Westens. Kommen da zwei kleine, arme Mädchen; in
ihrer Mitte ihren lebendigen, rotbäckigen Hampelmann, der sprechen kann.
»Zwei Jahre ist er,« erzählen sie mir und streiten sich, wer ihn
aufwarten, das heißt, wer mir von ihnen seine Kunststücke zeigen wird.
»Wir sind keine Schwestern,« antworten die beiden gernegroßen Mütter,
sie lassen schon behäbig das Kinn hängen, fürsorglich sind sie um ihren
kleinen Kasperle. »Wir sind jede für uns allein.« Sie meinten damit, sie
sind nicht einmal verwandt. Lieschen ist in Pflege, ihr Pflegevater ist
Nachtwächter -- manchmal legt er sich vor Müdigkeit, wenn er morgens
nach Haus kommt, mit dem Bund Schlüsseln und der Laterne ins Bette. Das
andere Lieschen, sie heißen beide ganz gleich, erzählt: Sein Vater helfe
einem Zauberer. »Ein schwarzer Neger ist sein Papa!« Es ruft mich jemand
von der Haltestelle der Elektrischen, ein Dichter im Florentiner, er
will in die Kolonie fahren. »Reisen Sie alleine, Torquato Tasso, ich
will mich noch auf die weiße Schwesternbank setzen.« Ich sehe mich nach
ihr um, sie glänzt viel bräutlicher wie diese, von der ich mich erhebe;
und ich zögere, mich auf die myrtenweiße niederzusetzen. Aber die beiden
Verliebten da bemerken es nicht. Aus der Kirche treten schon die ersten
Sonntaglinge, die Sonne spielt Orgel um das Haus mit ihren schlanken
Strahlen. Ich verstecke mein Gesicht in dem großen Glockenturm -- sehe,
höre und denke nichts, und doch findet man sich auf den weißen Bänken
wieder, wenn man sich verloren hat.




                           Die Odenwaldschule


                                       _Edith Geheeb-Cassirer_

In den Bergen zwischen Laub und Wiesen stehen fünf bemalte
Waldschlößchen: jedes ist einem Dichter gewidmet, und drinnen lachen
Knaben und Mädchen mit ihren Lehrern und Lehrerinnen. Und unter ihnen
lebt der Rübezahl mit seinen gütigen nußbraunen Augen und dem langen
Weihnachtsbart. Paul Geheeb, der Schöpfer der Odenwaldschule, ist ein
Rübezahl, er zaubert Freude durch die Hallen und Säle seiner
Gnomenhäuser, und überall ist es hell, wohin seine sonnigen Augen
scheinen. Immer steigt sein Fuß, ob er auf die Gipfel will oder über die
Ebene schreitet. Von Rübezahl sprechen die Bauern im Tal, wenn sie den
Direktor oben meinen, den die Kinder alle so lieb haben. Jedem Mädchen
schenkt er ein tröstendes Wort, und den verirrten Wanderer beherbergt er
und seine Gnomen für die Nacht: die sitzen in bunten Spielreihen beim
Vesper und trinken Milch aus großen Kannen.

Heute macht die blonde Adi den Vorschlag, alle Jungen müssen einen
Stoffaffen und alle Mädchen einen Stoffbären mit zum Sonntagsmahl
bringen: die zwei vorhandenen hat die Schelmin dem lieben Rübezahl in
die Brusttaschen seines Rockes gesteckt, daß die beiden wulstigen
Tierköpfe zur Belustigung aller Kinder hervorgucken zur Rechten und zur
Linken.

Paul Geheeb versteht das junge Herz des Kindes wie einen Kaleidoskop zu
drehen, er weiß die bunten Bilder zu würdigen. Aber auch seine Lehrer
sind Künstler: sie haben alle noch Knabenherzen wie ihre Zöglinge und
führen mit ihnen manchen Indianerstreich aus. Die Knaben tragen alle
Sweater, und die Kleider der Mädchen sind durch Bänder über der Achsel
gehalten, echte Kindertracht: sie paßt zu roten Backen und leuchtenden
Augen. Und alle haben gesunde Lungen, die atmen wie die starken Bäume
das Leben ein und aus. In der Frühe müssen die Odenwaldkinder ins
Luftbad, sich viel, viel Luft holen, und es gibt keinen Südwind und
keinen Nordsturm, dem die Rübezahlbande nicht gewachsen wäre. Die
verzärteltsten Kleinen trotzen dort der Welt mit den allerhand
Erkältungen. Aber Vernunft liegt in jeder Anordnung Paul Geheebs: seine
ihm anvertrauten Lieblinge bewegen sich in wohlgewärmten Räumen in der
Winterzeit. Die Korridore, die Lesehallen, die Schlafgemächer sind
mollig temperiert.

Jedes Kind besitzt sein Heim, oder es müßte dicke Freundschaft
geschlossen haben und den Wunsch aussprechen, sein Eigentum mit
irgendeinem Spielgefährten zu teilen. Mein Paul und der Bruno Tillehsen;
was der Torquato Tasso dichtet, illustriert mein Junge. Auch das
Burgfräulein Irmgard und der kleine Landwirt Bubi, die Kinder von
Wilhelm von Scholz, sind Zöglinge der Odenwaldschule. Auch der Peter ist
oben beim Rübezahl, vom Bildhauer Gaul der kleine Sohn: der ißt so gern
Nüsse: überall kracht es nur so zwischen den Zähnen. --

Nachmittags ist immer frei: die saftigen Äpfel werden von den Ästen
geschüttelt, oder die kleinen Gnomen helfen den Bauern in den Scheunen,
in der Zeit, da die emsigen Gnominnen Blumen pflücken oder Himbeeren und
Brombeeren sammeln für den Tisch ihrer großen Freundinnen. Liebe,
erwachsene Schulmädchen sind die Lehrerinnen: in den Frühstunden
lauschen die Kinder mit offenem Munde ihren Lehrwundern. Jede Lehrerin
und jeder Lehrer verstehen es, auf spannende Art die jungen Zuhörer zu
fesseln. Die freuen sich auf jeden Morgen wie auf den Geburtstagstisch,
immer bietet der Unterricht neue, überraschende Gaben.

Plätschernde Bäche, goldene Gärten begleiten den Ankömmling die
Bergstraße hinauf von Heppenheim bis oben ins Gnomenstädtchen; holde
Landschaft, befreite Erde -- kommt man aus der Großstadt dorthin, wo
Rübezahl seine Odenwaldschule erbaut hat!




                 Lasker-Schüler contra B. und Genossen


                                 Dem lieben Rechtsanwalt _Hugo Caro_
                                             in Verehrung

Seitdem einige Tageszeitungen um mein lyrisches Gedicht: »Leise sagen«,
soviel Lärm geschlagen und mich für geisteskrank erklärt haben, hat sich
eine Partei um mich erhoben, die es sich zum Lebenszweck angedeihen
läßt, diese gefährliche Behauptung mit allen gerichtlichen Gegenbeweisen
aus der Welt zu schaffen. Das Resultat ist: Ich werde beobachtet, nicht
allein von einem Psychiater, auch von mir selbst -- (ich wollte, ich
könnte mir was dafür anrechnen --). Ich kann den ganzen Tag nicht auf
einen Namen kommen, auf den Namen meines Urgroßvaters, der Scheik in
Bagdad war. Dieser Zustand ist unsäglich unerträglich, als ob man gähnen
muß und kann nicht, als ob man in eine Posaune blasen muß und findet die
Öffnung nicht. Ich war heute schon überall, wo irgend etwas von Asien zu
spüren ist. Auch im orientalischen Seminar war ich beim Rektor, der
dachte freundlich über den Namen meines ehrwürdigen Urherrn nach, und
alle seine Schüler taten das, und Schülerschüler, Muselmänner, Chinesen,
Japaner, Studenten aus Vampur, Koreaner, Sudanesen; es dachten Siamesen,
Indier, Serben, Türken, Montenegriner, Talmudisten, Zionisten, auch die
beiden Söhne einer Kaffernfamilie dachten, und denken wahrscheinlich
jetzt noch nach. Ich habe kein Gedächtnis mehr, seitdem bei mir
Gehirnerweichung in Frage genommen ist. Rechts vom Gehirn steht mein
Heer -- links der Feind. Ich fühle seitdem auch nicht mehr richtig, ich
taste; die Sternwarte meines Herzens ist getrübt -- und mein Horizont
liegt hinter dem Rubikon -- und der Sturm -- verweht meinen Geist. Wie
soll ich mich beschäftigen? Ist mein Psychiater nicht bei mir, fahr' ich
zu ihm heraus und bringe ihm einen Kloß meines Gehirns. Ich muß immer
meckern, wenn ich bei ihm bin; er hat einen roten Ziegenbart. Ich konnte
mich schon als Kind nicht beschäftigen, meist habe ich mit Knöpfen
gespielt, aber ich habe alle verloren oder wo angenäht, und wenn der
Psychiater nicht eindringlicher mich beobachtet, werde ich es den
Redaktionen der Zeitungen mitteilen, die mich bei der Gehirnerweichung
ertappten; sie haben ihn doch für mich engagiert, und er muß seine
Pflicht tun.

Ich laufe jetzt so gern über Wiesen; Knaben gewähre ich mit Vorliebe
mein Gehirn, solange es noch einigermaßen hartköpfig ist, zur
Zielscheibe ihrer Gewehre. Das Sprechen wird mir schwer; wenn ich singen
könnte! Dann könnte ich viel besser alles sagen. Aber ich habe zu jung
gesungen, die frühe Blüte meines Kehlkopfs war noch nicht befestigt.
Sprechen lernte ich schon beim Milchtrinken, aber das Singen hätte ich
unterdrücken müssen, Talente sollte man mindestens fünfzehn Jahre im
Steckkissen herumtragen. Dabei wird man immer kleiner und schläfriger.
Ich bat heute den Psychiater, er solle mich ein bißchen in seinem
Kinderwagen herumfahren. Er hat nämlich einen im Nebenzimmer stehen,
darin seine Frau ihre Hoffnungen spazierenfährt, schon zwei Jahre, damit
er sie nicht verstößt. Von seinem zukünftigen Sohne lasse er sich die
Fesseln der Ehe gefallen, aber nicht von seiner Frau, die geht immer in
blau, weil sie den Himmel auf Erden vermißt. Er aber hat mir ein
Rasselchen geschenkt, ich hätte viel lieber die Gummipuppe gehabt, für
in den Mund zu nehmen. Ich habe einen Brief von mir selbst von früher
gefunden, an meine britische Busenfreundin, den lese ich dem Psychiater
vor. Seitdem ich diesen Brief geschrieben habe, ist mein Herz
graumeliert, und Dr. Ziegenbart sagt: »Lesen Sie!« Dear Mabel! Manchmal
hab ich so Sehnsucht, ich säß wieder nachmittags an einem großen, runden
Tisch neben meiner Mama und so zwischen meinen Schwestern und Brüdern,
und oben sitzt mein Papa, und wir trinken zusammen um vier Uhr Kaffee
aus der silbernen Kaffeemaschine durch Filtrierpapier -- und so ganz
zusammengerückt sitzen wir, wie eine Insel, aus einem Stück. Nichts
Fremdes mehr, aber wir fließen ineinander, trotzdem wir Geschwister alle
anders waren, und fürchten uns nicht vor dem Tode, weil einer den andern
ersetzt. Das ist lange her, ich weiß auch nicht, warum ich daran so oft
denke, zumal ich doch Robinson wurde, durchbrannte in die Welt, weil ich
dem Robinson auf dem Deckel seiner Geschichte so ähnlich sah. Und ich
liebte das Abenteuer, das hat nichts mit der Stube zu tun, und wenn es
auch eine herrliche ist. Aber dreimal im Leben hatte ich eine große
Sehnsucht, wieder in einer Stube neben Mama und Papa und Geschwistern zu
sitzen. Als ich mich zum ersten Male vermählte. Aber ich fiel ins Haus
und verletzte mir die Knie, die bluten seitdem. Und das zweitemal, das
war noch trauriger; da folgte ich meinem Verlobten in seine Heimatstube.
Ich saß neben seiner Schwester; mein Verlobter saß neben seiner Mama,
und oben am Tischanfang trank sein Papa den Nachmittagskaffee, und auf
einmal sah ich, daß die fremde Mama meinem Verlobten ein großes Stück
Kuchen auf den Teller legte, ein Stück Torte mit einer Frucht darauf;
und ich bekam ein schmales Stück Torte ohne eine rote Kirsche; da war
ich plötzlich ganz klein wie zu Haus und weinte. Und zum dritten Male
überkam mich die Sehnsucht, mit meinen Verehrern in ihr Haus zu gehen.
Das erinnerte mich am wirklichsten an zu Haus. So viel Geschwister, die
sprachen wie meine Schwestern und Brüder und waren schön, aber dann kam
ein großer Hund und schnüffelte um den Tisch herum, bis er mich fand;
denn einem von den drei Brüdern hatte ich das Herz gefressen. Ich sehne
mich nun nicht mehr nach einer Stube, wo eine Mama und ein Papa und
Geschwister um den Tisch sitzen und eine Insel sind. Mein Angebeteter
verspottet mich und meint, ich ziere mich wie ein Backfisch. Ich habe
kein Verlangen mehr nach der heiligen Nachmittagsstube, und ich bin
wirklich der Robinson auf dem Deckel seiner Abenteuer. Aber ich möchte
noch die ganze Nacht so traurig erzählen. Many greetings, dein Robinson.
-- Wer mich alles in die drei ersten Stuben geführt habe, meint der
Psychiater, sei für ihn nicht schwer zu enträtseln, aber den Angebeteten
möchte er kennen lernen, der eine Ausnahme bilde, da ich seiner Eltern
Stube nicht heimsuchte. Ich verstehe; des Doktors ironische Weise ist
mir sympathisch. Der Psychiater nickt mit dem Kopf; er ist
Schriftsteller nebenbei, und hat Momente der Psyche aufzuweisen, die bei
Doktoren ohne Drum und Dran nicht vorhanden sind. Sein Ton ist
mitleidig, wäre er eine Frau, spräche er wehleidig. Ich habe das Glück,
daß er keine Frau ist. Zwischen ihm und seiner Frau fällt ein schwarzer
Vorhang, aber über seinem Schreibtisch hängt unverschleiert, aber zahm
verblümt, ein deutscher Gelehrter mit einem Bart aus Eichenlaub; sein
früherer Universitätsprofessor; den muß er zum Aufreizen seiner Nerven
haben. Auch steht in seinem Sprechzimmer eine Lampe, deren Birne
streikt, weil sie kein Apfel ist. Der Waschtisch seiner medizinischen
Hände läuft nicht, er steht auf Plattfüßen. Mein Zimmer funktioniert
viel besser, es liegt am See, an der Waschschüssel. Und dabei spreche
ich immer vom Tigris, nicht wahr? Verhöhnt mich nur, liebwerte,
wahrhafte Leser; oh, diese Welt mit ihren Flüssen, Nebenflüssen und
Überflüssen! Es hat jemand dem Psychiater gesagt, ich sei abnorm
eifersüchtig. Das könnte allenfalls ein Symptom von Gehirnerweichung
sein. Aber was soll ich mit meinem Mann sprechen, wenn er in der Nacht
nach Haus kommt, als Eifersucht. Der Leser soll mir die Frage ganz
aufrichtig beantworten, bitte. Ich lehne an seinem Rücken wie vor einem
blinden Fenster. Übrigens ist meine Eifersucht nicht subjektiv, sie ist
eine Landeigenschaft, ein Kostüm, eine Nationaltracht der Seele. Meinem
Psychiater leuchtet die landläufige Logik wirklich ein; ich bin ein für
allemal von ihm als gesund entlassen, und brauche mich nicht mehr seinen
Beobachtungen zu unterziehen. Der Feind ist verurteilt vom hohen
Gerichtshof zu zehn Mark Schadenersatz; hätte er nicht schon Berufung
eingelegt, so hätte ich es ihm geraten, denn er soll in schlechten
Verhältnissen sein -- ich bin zu weich ...! Was soll ich nun tun, als
über den Namen meines Urgroßvaters nachdenken? Im Augenblick, wo ich
glaube, ich habe ihn, kugelt er noch schwerer als Blei in meinen Rachen
zurück. Wie ein einbalsamierter Leib. Dabei höre ich den Namen meines
Urgroßvaters auf meiner Zunge, eine Melodie, einen Psalm. Ich muß mich
zerstreuen, ich werde die Redaktionen, die so lange nun mit mir in
Konnex standen, um Verzeihung bitten; ich kann doch nicht dafür, daß ich
keine Gehirnerweichung habe! Der Psychiater glaubt doch nicht daran! Das
Leben ist was furchtbar Schmerzliches; alle meinen, daß es nur was
Enttäuschendes ist. Ich meine beides und gaukle mit Geschicken. Und wie
das Leben vom Milieu abhängt, wenigstens meins. Läge zum Beispiel das
Fenster meines Zimmers statt nach gegenüber, seitwärts mit dem Blick
nach dem Westhimmel, wo abends der Mars aufmarschiert, hätte ich Freude
am Leben gehabt und wüßte, warum ich lebe -- aber so! Ich kann mich
nicht mehr sehen, ich ertrage in den Spiegeln mein Gemälde nicht mehr,
wenn nun mein Angebeteter kommt und hat meine Augen? Und darum gerade,
wegen seiner hellen Lichter liebe ich ihn, gelbe Rosen, und wenn sie
traurig sind, fallen sie wie Goldregen. Er ist ein Sonntagskind, ich bin
ein Feiertagskind, das nicht gehalten wird; er findet keine Ruhe in mir.
Wir lieben uns, wie die verschiedenen Liebenden auf Erden und im Himmel.
Wie selige Engel mit der Pose des Flügels, wie die ersten Menschen, die
noch glühend waren, wie zwei große Blumen hinter der Hecke, die nichts
wiedersagt, wie zwei Rubinen im Reichsring eines Kaisers und manchmal
früh am Morgen wie zwei Schakale. Ich mache mir gar kein Gewissen
daraus; alle Romane der Ehe sind Unwahrheiten! In Wirklichkeit gibt es
kein Gewissen. Aber, daß ich den Namen meines Blutpächters, meines
Urgroßvaters, vergessen habe, darüber mache ich mir heftige
Gewissensbisse.




                                Coranna


             Eine Indianergeschichte gestaltet von Slevogt

                                 Dem hochverehrten, feinen Professor
                                            _Walther Otto_

Mein Junge trägt einen Indianerschmuck in den Haaren, grüne, gelbe,
blaue, lila und rote Federn, und um seine Lenden einen Gurt aus
Vogelbeeren und harten Muscheln. Aber er weiß nichts von den Menschen in
Wild-West. Ich kaufe ihm aus Furcht, er könne eines Tages nach drüben
durchbrennen, keine Indianergeschichten. Der kupferrote Gott ist der
Fanatismus der Knaben. Seine Legenden sind gefährlich, sie kommen über
einen, ihre Bilder machen Mut, stählern. Grüngelbblaulilarot! Meine
Brüder machten sich in nächtlicher Frühe mit ihren Freunden auf und
davon -- der Skalpgott rief sie aus dem Elternhaus. Sie hatten sich
schon Wochen vorher für ihr Sonntagsgeld Pfeifchen, Tabak, Zigarren und
dergleichen mehr für den Tausch am Lande besorgt. Manche von ihnen
stahlen ihren Schwestern Ohrringe, Broschen, Ketten für die
Häuptlingsfrauen und Indianermädchen. Aber die Reise ging nur bis
Bremen, die strafenden Väter ließen die Durchbrenner grausam wieder in
die Heimat transportieren. Mein Vater jedoch war im Grunde seines
Herzens stolz darauf; er ließ meinen Brüdern im Garten ein Indianerzelt
aufschlagen, kaufte Speere und andere Mordwaffen und Gürtel, deren
Skalpflachshaare fast bis zur Erde reichten ... Es ist schon lange,
lange her, ich habe seit Indianerjahren kein Indianerbuch mehr
aufgeschlagen. Nun liegt ein großes in den Farben der Kupferhaut auf
meinem Schoß. Slevogt hat gezaubert, als er die Gestalten des Werkes
erschuf nächtlich auf weißer Prärie; seine schwarze Feder zeichnete
kupferrotes Leben. Ich muß die wilden Wildwestmenschen festhalten, sie
laufen, galoppieren meinen Blick entlang, über meine Hände hinweg in die
Freiheit. Tänze, Kämpfe, Ritte führen sie auf, ich vernehme
Pferdegetrampel, höre Kriegsrufe, werde eingehüllt vom aufwirbelnden
Nebel flüchtender, feindlicher Stämme. Mich ergreift die Sehnsucht
meiner Brüder.




                           Die schwere Stunde


                                 Ich wollte ein Schmerzen rege sich
                                 Und stürze mich grausam nieder
                                 Und riß mich je an mich!
                                 Und es lege eine Schöpferlust
                                 Mich wieder in meine Heimat
                                 Unter der Mutterbrust.

Ein sorglos abgetanes Urteil las ich dieser Tage über die ungeheure
Schöpfung: Die schwere Stunde von Charlotte Berend. Die Wirkung des
Bildes auf den Kritiker hat mich zwar nicht überrascht; viele seiner
kritisierenden Vorfahren verwechselten schon die Erzkraft eines
Kunstwerks mit der entblößten Brutalität. Es gehört schon ein
Jahrtausendblick dazu, gerade den Wert dieses gottalten Bildes der
Charlotte Berend zu erkennen -- sein Allvatername heißt das Gesetz. Ich
hoffe nicht, daß die Künstlerin aus Bescheidenheit den königlichen Namen
fälschte. Sie hat ihre Schöpfung aus dem Mark aller Farben erschaffen.
Es nahte ihre selige, schwere Stunde selbst. Das Wunder der Inspiration
schlug sie zur Riesin.

Ich sehe zunächst kühl und sachlich eine Mutter, die ein Kind zur Welt
bringt. Die weise Frau am Fußende des Bettes wartet hilfebereit. »Herr,
gestehen Sie es, und auch Sie, Frau Ehegattin. Sie vermißten den
besorgten Hausvater zwischen dem Spalt der Türe vorsichtig lauschend.
Das wäre wenigstens noch gefühlvoll gewesen« ... gerade das
Nichtfamiliäre verleiht dem Bild das Unpersönliche, baut das Werk mit
kosmischen Knochen auf. -- Was soll das kleine Mädchen am Bett der
Mutter? »Es ist ja erst zwölf Jahre alt.« Es ist vielleicht noch jünger,
und es tat mir wirklich furchtbar leid, wenn beim Betrachten der kleinen
Gegenwart des unschuldigen Wesens, gefühlvollen Damen eine schmerzhafte
Entrüstung anging, aber ich sage: die Kleine gehört zu der ungeheuren
Landschaft des Leibes; auf dem Rand des Lebenskelches sitzt sie, das
schwebende Auge zurückgelehnt, voll Grauen und Wunder gelähmt. Ein
Seraph -- aber gleich wird er seine Lippen öffnen und die ernste Melodie
der Dichtung über den sich bäumenden, felsgeöffneten Leib der Mutter
singen. -- Und die Vorsehung, wie man die Wartende am Fußende des Lagers
nennen könnte, wendet die letzte Nüchternheit des Vorganges mit einem
Tuch, wie mit einer Wolke ab. -- Eine Heilige hätte nicht keuscher
gedichtet, das Problem des Odems gestaltet. Ich habe nie in Wirklichkeit
ein kindtragendes Weib mit solcher Ehrfurcht betrachtet, wie diese
Riesenmutter, von einer Riesin gemalt, auf ihrem Riesenbilde. Sie
hauchte nicht nur über den lebengeöffneten Vorgang die Scham, sie nahm
dem Prangen auch jede Fessel der Sklaverei, die mich anwidert beim
Anblick einer begnadeten Frau.

Charlotte Berend hat ein Historienbild des Naturgesetzes gemalt; es
müßte neben Michelangelos Moses im Tempel der Galerien hängen.




                              Peter Hille


                                  Meiner teuren Mutter in Liebe und
                                              Ehrfurcht

»Es dauert höchstens zwanzig Minuten, Peter!« Er nickte lächelnd -- aber
er vergaß auch sofort wieder, daß er den Kopf nicht hin- und
zurückbiegen durfte, von der Zeitung auf und nieder, und so kam 's, daß
ich entweder das rechte oder das linke Auge nicht an seinem Platz oder
die Nase zu lang im Verhältnis zur Stirn zeichnete. Und manchmal nahm er
noch seinen Bleistift und beschrieb andächtig den weißen Rand des
Zeitungsblattes.

»Du kannst gleich weiterzeichnen, schrecklicher Tyrann du!« sagte er und
las mühsam entziffernd sein eigenes Schreiben.

Es waren einige steinige Einfälle, die er seinem Myrdin und seiner
Viviane ferner vermachen wollte. Und er zog die große vergilbte
Papierrolle aus seiner Manteltasche und las von den beiden Menschen, die
älter waren als Adam und Eva, von seinem Menschenpaar Myrdin und
Viviane. Die sprachen eine Sprache, mit der am ersten Schöpfungstage
sich Himmel und Erde erzählten -- -- sie waren mit der Erde zugleich
erschaffen -- gewachsen mit der Erde -- aus der Erde; ja, das fand auch
Peter ...

»Da magst du recht haben!«

Und er saß, den Kopf herabgesenkt auf den großen Lehnstuhl nahe dem Ofen
in seinem olivenfarbigen Mantel, als ob er die Wärme mit sich nach Hause
nehmen wollte.

                   *       *       *       *       *

Eines Abends klingelte es um halber Mitternacht -- das sah Peter
ähnlich. Seine Augen lachten mutwillig wie Knabenaugen, die einen
Streich hinter sich hatten. »Der Verleger hat mir Vorschuß gegeben --
Tino, toller Kerl, komm mit! Wir sitzen alle in der Weinrebe.«

Und Peter sah aus wie ein Bacchus, seine Seele war aufgeblüht wie einer
der Weinberge in Alt-Athen. Und wir saßen um ihn im Kreise und sangen:
fahrende Schüler, wie die Jünger des Weins aus der bacchantischen Szene
seines Werkes »Des Platonikers Sohn«. Wir waren der Most, der Lenz des
Weines, das Leben, das wildsüße Auf- und Niederbrausen.

   »O Wein, du lieber, dummer Wein,
   Was willst du da im Kerker sein?
   Hervor du rieselnde Sonne,
   Und laß die alberne Tonne.

   Weißt du denn nicht, du dummer Wein,
   Bin Bruder Lustig, frisch vom Rhein,
   Ein Kenner erlesener Tropfen,
   So laß mich nicht harren und klopfen!«

Am Morgen in meinem Halbschlaf sah ich Peter; durch seinen langen Bart
guckten blaue und gelbe Weinaugen mutwilliger kleiner Dionysinnen mit
roten Pausbäckchen und kecker Faunbuben mit frechen Schwänzchen. Und die
neckten ihn und zupften ihn an seinen langen Kraushaaren, jauchzten und
sprangen um den großen Bacchus, und ein ganz kleines, ängstliches
Bacchüschen kroch in seine weite, weite Ohrmuschel. Und wir alle saßen
zu seinen Füßen, und er erzählte von seiner Frühjugend, von seinen
vielen Liebchen -- ja, ja, Bacchus mußte verliebt sein.

                   *       *       *       *       *

Einmal an einem Wintermorgen kam Hugo, der Landsknecht, wie ihn Peter
seines rauhen Organs und seiner kecken Launen wegen nannte. »Kommen Sie
mit, Prinzessin! Peter ist krank, wir wollen ihn besuchen!« »Und wissen
Sie auch, Hugo, daß heute sein Geburtstag ist?«

Davon wußte er nichts, der Ungläubige. Und wir zogen gen Norden, und als
wir durch das Tor seines Hauses traten, lagen vor uns Treppen, zu
besteigen wie künstliche Gebirge aus Brettern. »Na, det is man scheene,
dat Se sich bis her verstiegen han -- -- denken Se so wat, er is mir
jestern dot in de Arme jeblieben! ...« Und Peters gemütliche Wirtin
drückte mich an ihren Busen, aus dem der dicke Atem jammerte. Und sie
geleitete uns durch die Küche bis an Peters Kammertür, drückte diese
behutsam auf und blickte zunächst vorsichtig durch die Spalte. »Nu
kommen Se sachte rin!« -- -- Und da lag der Peter wirklich in seinem
Nest halb aufgerichtet: ein kranker grimmiger Geier. Der Kragen seines
Mantels hing wie ein dunkler Fittich über dem Bettgestell, und einer der
Füße, mit dem Stiefel angetan, scharrte ungeduldig an der senfgelben
tapezierten Wand. Als er uns sah, war es, als ob er uns nach und nach
erst erkannte, und er fuhr durch seinen Bart wie ein reißender
Herbststurm. »Setzt euch, wenn ihr Platz findet, ihr Einbrecher, ihr
Störenfriede, setzt euch!« Aber nicht allein der Boden, sondern auch das
tausendjährige Sofa waren begraben unter großen, gelben Papierflocken.
Wir setzten uns auf das kleine Fensterbrett und stellten unsere Füße
sündhaft auf die großen Säcke, die, wie wir später hörten, die
Manuskripte der Dramen Peters enthielten. »Du, Peter, ich will dir den
Doktor holen,« sagte der Landsknecht besorgt. Oh, und das klang so
lächerlich, und die dicke Wirtin hatte et ooch jewollt, »er will aber
nich.« »Der Doktor soll mir wohl Sonne oder Mairegen für meinen Katarrh
verschreiben?« Und Peter lächelte wieder wie Frühlingsanfang, und auf
einmal begann er laut zu reden: »Heute abend muß ich noch ins Theater.«
Da fiel seine alte dicke Wirtin vor Schreck auf das tausendjährige Sofa.
»Sie wollen im Thiater jehn, Sie?« »Na gewiß,« antwortete Peter und
machte die Bewegung, aus dem Nest zu fliegen. In der Küche seufzte die
Gute und meinte: »Na, so nötig hat er det Schreiben doch ooch nich, wo
er bei uns is!« Und sie brachte ihm zur Fürsorge die dampfende
Hafergrütze und zwei Schmalzstullen ins Zimmer. Und dann sich vor uns
entschuldigend, sagte sie: »Er ist so reene wie eene Jungfer, ick seh
schon, wie se ihm später in de Kirche uffbahren als Heiligen.«

                   *       *       *       *       *

Es war ein kalter Nachmittag; der Mond blähte sich auf zwischen seinen
Sternen wie ein goldener Bauch, ein wohlbeleibter Dukatenmillionär.
Peter und ich wanderten wohl schon stundenlang durch die Straßen
Berlins, durch die Bleiluftgegenden mit den kahlen, grauen Häusern, in
denen der Hunger mit seinen tausenden Kindern wohnt. Und über dieser
Gegend spazierte behaglich durch das weite Land der Wolken der fette
Mond, der satt an Gold getrunkene Mond. »Aber, Tino, ich wußte ja gar
nicht, daß du ein kleiner Bebel bist.« »Ja, ich denke an die armen,
blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an dich, Peter, an dich,
dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine
Stiefmutter ist.« »O du Fromme,« sagte Peter leise zu mir. Nach einer
Weile blieb er unter einer Laterne stehen, nahm ein kleines schwarzes
Heftchen aus der großen Manteltasche und schrieb.

Das tat er oft, und ich ging gemächlich des Weges weiter.

Wir kamen über einen großen Platz. Vielleicht gaben die schloßartigen
Bauten mit den gegossenen Toren, die eisernen Hüter der königlichen
Gärten, Peter den Anlaß, mir zu erzählen, daß sein Vater der Fürst S.
aus Westfalen sei und seine Mutter eine Leibeigene. Ich war gar nicht
verwundert darüber, als ich seine schlanken Hände betrachtete.

»Meine Mutter«, erzählte er weiter, »war eine stille, blasse Frau. Ich
kann mich kaum an den Ton ihrer Stimme erinnern; aber als ich meine
>Brautseele< dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen,
sanft und dann sehnsuchtswild, wie eine einsame Spätherbstblume.« Wir
schwiegen beide lange Zeit, über Erinnerungen wandelnd, bis es Abend
läutete und die Glocken uns erweckten.

Wir fragten einen Mann, der an uns vorübereilte: »Wie kommen wir aus dem
Tiergarten wieder auf die Straße?«

Und wir bogen und wendeten uns, bis wir glücklich den Weg wiederfanden.
»Sieh, Tino, hier tief im Dickicht habe ich Wochen zugebracht und
Dunkelheiten getrunken! Oh, das waren einzige Gottnächte!«

Aber ich sah schmerzlich auf seine eingefallenen Wangen.

                   *       *       *       *       *

Ich ging, meiner Ahnung vertrauend, voraus. Peter studierte indessen
noch die Hausnummern gegenüber dem großen Gebäude, in das ich eintrat.
Und wirklich, hier wohnte Gerhart Hauptmann. Er kam mir schon im
Treppenflur entgegen, ja, er war es. »Herr Hauptmann, ich bringe Ihnen
den Peter Hille lebendig hier; er hätte sicherlich wieder die
verabredete Stunde versäumt.« »Sah ihn schon von meinem Fenster aus,«
rief Gerhart Hauptmann, er war nämlich schon unten, den Peter selbst
heraufzuholen. Als die beiden kamen, sagte der Herrliche zu Hauptmann,
mir schelmisch zunickend, »Dies ist mein Kamerad, Tino nenne ich sie. Es
ist der Name ihres Blutes, die grünrote Ausstrahlung ihrer Seele.« Wir
setzten uns, nachdem Hauptmann zärtlich den Mantel von Peter Hilles
Schulter genommen hatte. Auf den Tischen lagen überall Journale, die
meines Propheten Dichtungen enthielten, auch des Platonikers Sohn fehlte
nicht, das wundergroße Schauspiel. Hauptmann schwang es triumphierend in
die Höhe. Und ich hörte lauter Melodien; der Dichter Worte wurden
Lieder. Und Hauptmanns stolzes Gesicht neigte sich seinem hohen Gaste
zu, die Quelle seines Herzens zu erreichen, denn wie aus Leben gehauen
saß Peter Hille in dem weiten, klaren Raum, sein Bart wallte ungeheuer.




                               Karl Kraus


Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im
goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen
Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine
Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum
auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet -- -- in meinen Heimatjahren,
beim Betrachten der kostbaren Zeilen unter Glas im goldenen Rahmen. Den
Brief hatte ein Bischof geschrieben an meiner Mutter Mutter, ein
Dichter. Blau und mild waren seine Augen, und sanftbewegt seine schmalen
Lippen und sein Stirnschatz wohlbewahrt, wie bei Karl Kraus; der trägt
frauenhaft das Haar über die Stirn gekämmt. Und immer empfangen seine
Augen wie des Priesterdichters Augen gastlich den Träumenden. Immer
schenken Karl Kraus' Augen Audienz. Ich sitze so gerne neben ihm, ich
denke dann an die Zeit, da ich den Schreiber des Briefes hinter Glas aus
seinem goldenen Rahmen beschwor. Heute spricht er mit mir. Ich bewundere
die goldgelbe Blume über seinem Herzen, die er mir mit feierlicher
Höflichkeit überreicht. Ich glaube, sie war bestimmt für eine blonde
Lady; als sie an unseren Tisch trat, begannen seine Lippen zu spielen.
Karl Kraus kennt die Frauen, er beschaut durch sie zum Denkvertreib die
Welt. Bunte Gläser, ob sie fein getönt oder vom einfachsten Farbenblut
sind, behutsam behütend, feiert er die Frau. Verkündet er auch ihre
Schäden dem Leser seiner Aphorismen -- wie der wahre Don Juan, der nicht
ohne Frauen leben kann, sie darum haßt -- im Grunde aber nur die Eine
sucht. Ich begegne Karl Kraus am liebsten unter »kriegsberatenen
Männern«. Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster
Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater,
gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht
die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über
den Raum -- Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von
den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde,
o, plastischer noch, denn alle seine Werke treten hervor, Reliefs in der
Haut des Vorgangs. Er bohrt Höhlen in den Samt des Vorhangs, der die
Schäden verschleiert schwer. Es ist geschmacklos, einen Papst zu hassen,
weil sein Raunen Flüsternde stört, weil sein Wetterleuchten
Kerzenflackernden heimleuchtet. Karl Kraus ist ein Papst. Von seiner
Gerechtigkeit bekommt der Salon Frost, die Gesellschaft Unlustseuche.

Ich liebe Karl Kraus, ich liebe diese Päpste, die aus dem Zusammenhang
getreten sind, auf ihrem Stuhl sitzen, ihre abgestreifte Schar, flucht
und sucht sie. -- Männer und Jünglinge schleichen um seinen Beichtstuhl
und beraten heimlich, wie sie den grandiosen Zynismusschädel zu Zucker
reiben können. O, diese Not, heute rot -- -- morgen tot! Unentwendbar
inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges,
überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die
Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt
lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von
neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit
dem die Welt zugenagelt ist.




                                  Loos


Von der Seite betrachtet, erinnert sein Kopf an den Totenschädel eines
Gorillas; wendet mir Loos langsam das Gesicht zu, prüfen mich scharf des
Gorillas runde, hellbraune Augen. Die sind gefährlich, greifen aus einem
andern Denken, aus einem fremden, geschwinden Grund. Die Blicke der
Gäste strafen mich für meinen Ausspruch, Loos selbst aber scheint nichts
gehört zu haben. Ist er schwerhörig? Auf mich wirkt sein Unvernehmen
geisterhaft, wundersam wund; für den unverstandenen Sprecher --
unverständlich. Senkt Loos den Kopf, neigen sich seinem Ohre die Lippen
zu; o, wie sanft er die Lider hängen läßt -- man hat ihn dann lieb, die
Lotosseele unter den Gorillen. Schielende, deren Züge etwas Rührendes
erhalten, und Hinkende, die im verlorenen Gleichgang süße
Interessantheit hinschaukeln -- zehnfach tönt Loos das Wort wieder, ruft
man es in ihn hinein. Dann wird er ein reißender Geist, den man im Echo
heraufbeschwor, ein affenböser Künstler, reißt er dem die Perücke vom
Kopf, setzt ihm den Skalp wieder an, daß er mit seiner Person vernarbe.
Ein handgreiflicher Philosoph ist er, dem die Verschnörkelung der
Architektur ein eitler Greuel, ein verwirrtes Knäuel ist, den er
rücksichtslos löst. Loos will Ordnung schaffen in den Welten hier unten,
in der Welt, die sich der von sich abstrebende Mensch erschaffen läßt
vom Architektenmenschen und nicht hineinpaßt. Wie viele sitzen und
schwitzen in fremden vier Häuten, denn die Wände unseres Gemaches sollen
unser passendstes Kleid sein, sie sollen die Schrift unseres Atems
tragen. Die Seuche der Einrichtung hat sich schon in die Schlösser der
Fürsten begeben, auf Altären liegen »stilvolle« Decken, und durch die
Tempel der Künstler flutet das elektrische Licht der Birnen aus
neuerfundenen Kelchen. Wollte man mir sogar auf den Rücken meines
Zigeunerkarrens, meines grünen Holzvogels, die sogenannte aufsteigende
Kurve (ich weiß gar nicht, was das ist) und langweilige kühle Linien
ziehen, die große Klassikerlinie Weimarer Spätgeburt van de Veldisch
architektiert. Man sehnt sich rein nach dem Buckel. Die Wände meiner
Rast sind auch die Wände meiner Last, sind mit mir verwachsen,
aufgewachsen. Meine Behausung gleicht mir auf ein Haar. Darum springe
ich gerne aus meiner Haut mal, am liebsten in das mir vermählte Zimmer.
Ist sein Bewohner auch meist nicht in seiner Hauptperson anwesend, sein
Heim aber spricht für ihn. Kühlritterblau empfängt mich das
Tapetengesicht; ich setze mich vor den Schreibtisch, vor Rhodopes
farbige Statuette, meines auserwählten Zimmers heimliche Liebe. Über den
Flügeldeckel kehren Lieder heim und legen sich auf die Tasten --
schlummern und träumen laut; hingezaubert sitzt ja ihr Schöpfer auf dem
runden Stuhl und spielt. Ich denke an meine Prinzessinnenzeit ... Wer
salbt meine toten Paläste, sie trugen alle die Kronen meiner Väter. --
Ich hasse die Tische, Stühle, Sessel und so weiter, die sich verkuppeln
ließen, mit ihrem Plebejerbesitzer; das sind Mesallianzen, Sessel, deren
Lehne sich beugte immer tiefer ihrem Sitz zu. Ich denke an einen wie ein
Melancholischer. -- Ich helfe dir räumen, Loos, aber wehe dir, wenn ich
nach Wien komme, und du sitzt nicht auf einem australischen Urwaldast
zurückgezogen hinter Gedanken tausendgitterig.




                            Oskar Kokoschka


Wir schreiten sofort durch den großen in den kleinen Zeichensaal, einen
Zwinger von Bärinnen, tappischtänzelnde Weibskörper aus einem
altgermanischen Festzuge; Met fließt unter ihren Fellhäuten. Mein
Begleiter flüchtet in den großen Saal zurück, er ist ein Troubadour; die
Herzogin von Montesqiou Rohan ist lauschender nach seinem Liede als das
Bärenweib auf plumpen Knollensohlen. Denn Treibhauswunder sind
Kokoschkas Prinzessinnen, man kann ihre feinen Staub- und Raubfäden
zählen. Blutsaugende Pflanzlichkeiten alle seine atmenden Schöpfungen;
ihre erschütternde Ähnlichkeitswahrheit verschleiert ein Duft, aus
Höflichkeit gewonnen. Warum denke ich plötzlich an Klimt? Er ist
Botaniker, Kokoschka Pflanzer. Wo Klimt pflückt, gräbt Kokoschka die
Wurzel aus -- wo Klimt den Menschen entfaltet, gedeiht eine Farm
Geschöpfe aus Kokoschkas Farben. Ich schaudere vor den rissig gewordenen
spitzen Fangzähnen dort im bläulichen Fleisch des Greisenmundes, aber
auf dem Bilde der lachende Italiener zerrt gierig am Genuß des
prangenden Lebens. Kokoschka wie Klimt oder Klimt wie Kokoschka sehen
und säen das Tier im Menschen und ernten es nach ihrer Farbe. Liebesmüde
läßt die Dame den schmeichelnden Leib aus grausamen Träumen zur Erde
gleiten, immer wird sie sanft auf ihren rosenweißen Krallen fallen. Das
Gerippe der männlichen Hand gegenüber dem Frauenbilde ist ein zeitloses
Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai-Lamas Haupt. Auch den
bekannten Wiener Architekten erkenne ich am Lauschen seiner bösen
Gorillenpupillen und seiner stummen Affengeschwindigkeit wieder, ein
Tanz ohne Musik. Mein Begleiter weist mit einer Troubadourgeste auf
meinen blonden Hamlet; in ironischer Kriegshaltung kämpft Herwarth
Walden gegen den kargen argen Geist. Auf allen Bildern Kokoschkas steht
ein Strahl. Aus der Schwermutfarbe des Bethlehemhimmels reichen zwei
Marienhände das Kind. Viele Wolken und Sonnen und Welten nahen, Blau
tritt aus Blau. Der Schnee brennt auf seiner Schneelandschaft. Sie ist
ehrwürdig wie eine Jubiläumsvergangenheit: Dürer, Grünewald.

Oskar Kokoschka ist eine junge Priestergestalt, himmelnd seine
blauerfüllten Augen und zögernd und hochmütig. Er berührt die Menschen
wie Dinge und stellt sie, barmherzige Figürchen, lächelnd auf seine
Hand. Immer sehe ich ihn wie durch eine Lupe, ich glaube, er ist ein
Riese. Breite Schultern ruhen auf seinem schlanken Stamm, seine doppelt
gewölbte Stirn denkt zweifach. Ein schweigender Hindu, erwählt und
geweiht -- seine Zunge ungelöst.




                               Peter Baum


Er versäumt den Tag, und die Dunkelheit erreicht er, wenn es zu spät
ist. Aber er träumt noch schnell unter dem verschwindenden Mond. Einmal
kam Peter Baum barhäuptig im Januar ins Theater gegangen, draußen waren
15 Grad Zerfahrenheit. Einmal steckte er seine brennende Zigarre in die
Hosentasche, später meinte Peter Baum -- daß es nicht die Kartoffeln auf
dem Feld gegenüber wären, aber daß seine Lende versenge. Und doch hat
St. Peter Hille einmal gesagt: Peter Baum sei der sensibelste Mensch,
den er je kennen gelernt habe. Peter Baum ist ganz blau. Das heißt
übersetzt: Er ist ein Dichter. Sternenpsalme hat er gedichtet für die
Harfe Davids, für das Herz Salomos, des Dichterkönigs von Juda. Und doch
ist Peter Baum der leibliche Sohn und Erbe des Evangeliums. Seine Väter
waren die Herren von Elberfeld im Wupper-Muckertale. Sie beteten zu
Luther und wachten auf in Sonntagsfrühe beim ersten Schrei des
Kirchenhahns. Manchmal erscheinen sie ihrem Urenkel im Schlafe, weniger
der jüdischen Psalme, aber seines abtrünnigen Romans »Spuk« wegen. Es
ist ein Roman im Kaleidoskop; die Bilder kommen buntartig und schwinden
blendend wie teuflische Spiegel. Ein flackerndes Fleckenspiel hinter
geschlossenen Augen. O, und seine wundervollen Novellen »Im alten
Schloß« brachte er mir eines Abends; seine große Tannengestalt erschien
mir noch eine Krone höher, so aufwärts wie der Graf seines Buches, ein
wetternder Weihnachtsbaum, der seinen Schmuck abgeschüttelt hat. Die
Wochenschrift »Sturm« wird Peter Baums neuestes Werk bringen, das spielt
zur Rokokozeit und ist in geblümter Seidensprache geschrieben. Wie tief
seine Dichtungen doch ihn erleben und er sich an ihnen verwandelt!




                              Franz Werfel


   Ein entzückender Schuljunge ist er.
   Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.

   Sein Name ist so mutwillig:
   Franz Werfel.

   Immer schreib' ich ihm glühende Liebesbriefe,
   Die unbeantwortet bleiben.

   Aber wir lieben ihn alle
   Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.

   Sein Herz hat Echo,
   Pocht verwundert.

   Und fromm werden seine Lippen
   Im Gedicht.

   Manches trägt einen staubigen Turban.
   Er ist der Enkel seiner eigenen Verse.

   Doch auf seiner Lippe
   Ist eine Nachtigall gemalt.

   Mein Garten singt,
   Wenn er ihn verläßt.

   Immerblau streut seine Stimme
   Über den Weg.




                              S. Lublinski


S. Lublinski ist von Geburt Ostpreuße. Er hat mir oft von seiner Heimat
erzählt: dort sind noch die Wälder so finster und verwachsen wie kleine
Urwälder. Zwischen knolligen Wurzeln und Stämmen ist sein Nest; knollig
ist auch er an Leib und Seele, ein Knollengewächs, aus dem jäh eine
leuchtende Blüte aufsteigt. Zusammengekauert in seinem Korbstuhl sitzt
er, wie in einem großen Pflanzenkübel, und grübelt, ob er den Entschluß,
den er zunächst erst in einiger Perspektive wohlwollend betrachtet,
wirklich fassen soll oder nicht ... Wir beide haben manchen Abend bei
schweigender Dunkelheit zusammen auf der Veranda des Kaffeehauses
gesessen. Die Gäste sehen nach der Richtung unsers Tisches und lachen
über das Holpern seiner Stimme; jedoch die Kellner, vom allerdicksten
bis zum blaßwangigen Groom, haben sich schon an die eigentümliche,
stoßende Hornsprache S. Lublinskis gewöhnt; sie harren aufmerksam seinem
Wink und entreißen raubtierartig den lesenden Gästen Journale und
Zeitschriften, die er verlangt. S. Lublinski schiebt seine Brille
vorsichtig höher auf den Nasenrücken -- der kleine Literat und der
phlegmatische Baccalaureus-Referendarius nähern sich unserm Tisch. Mit
außergewöhnlicher, liebenswürdiger Handgebärde fordert er die beiden
jugendlichen Opfer auf, sich an unsrer Seite niederzulassen. Ich weiß:
S. Lublinski ist in Kampfstimmung, er hat tagsüber Aufsätze schreiben
müssen, und ihn ärgert die Erde mit den vielen Tintenfässern; und ohne
jede Veranlassung, oder auf eine geringfügige Bemerkung hin, überfällt
er den Nachbar -- sein Herz jedoch schlägt Kobolz dazu. Mich
interessiert die Strategie seines Angriffs -- der arme Gegner, der an
den Zorn seiner rollenden Augen glaubt und ihn gutmütig besänftigen
will. Ihn reizt der bequeme Widerstand. Worte werden Kugeln, Bomben
explodieren, der Kampf wird ernst. S. Lublinski schlägt mit der Faust
dröhnend auf den Tisch; seine Augen bluten ... Gold hat sein Vater in
der Jugend aus Kanadas Gefilden gegraben ... und die Lust nach
Abenteuern hat sich in S. Lublinski vergeistigt. Aber der Freund kennt
ihn auch im Zelt; er hat seine träumende Stirn gesehen mit dem
poetischen Schneehauch. Und jauchzen möchte S. Lublinski! -- Selten
sehnte sich ein zweiter tiefer nach dem bübischen Lenztag, hinter dem
Horizont auf der blauen Wiese nach dem fröhlichen Ringelrangelspiel, wie
er. Aber der große Ungeschickte fürchtet, zu stolpern; und es ist ihm
nichts beschämender, als lächerlich zu wirken -- er würde eher mit einem
Gänsekiel Verse schreiben. Unschönheit ist S. Lublinskis Kinderkrankheit
... Wie auf gerosteten Geleisen bewegt er sich vorwärts; seine Arme
schleudern beim geringsten Außertaktkommen. So ist auch der Rhythmus
seiner Seele, seiner Novellen und Dramen. Ich würde jede andre Fassung
für unecht betrachten ... Aber da steht kein Tor, daran er nicht
rüttelt. »Ich habe Prinzessin mein neues Buch: >Gescheitert<
mitgebracht« ... S. Lublinski beobachtet mich mißtrauisch unter seiner
Brille -- er weiß, mich interessieren eigentlich nur meine eigenen
Dichtungen; aber ich bitte ihn auf seine stumme Voraussetzung, mir
selbst eine Novelle seines Buches vorzulesen. Er liest die Geschichte
des gehänselten Knaben -- er öffnet seine Seele. Schwerer als jedes
Kind, dessen Eigenart sich abhebt vom Durchschnitt, hat er gelitten --
aber aus der dumpfen, beklemmenden Nacht seiner Leiden recken sich
eiserne, kleine Fäuste, grauenhaft verzerrte Fratzen, aus denen klagende
Kinderaugen blicken. Endlich von seinen peinigenden Altersgenossen
befreit, den folgenden Schultag vergessend, führt er Kriegsspiele auf,
allein, hinter den Hecken seines Gartens. In Reih und Glied tausend
gehorchende Soldaten --: »Vorwärts marsch!« Und er an ihrer Spitze, als
Befehlshaber, als Feldherr! Aus kleinen Steinen besteht in Wirklichkeit
das tapfere Heer ...

Wieder angelehnt im Sofapolster, das Buch zugeklappt auf dem Tisch,
beginnt S. Lublinski in zynischster Weise seine Nachteulenähnlichkeit zu
verspotten. Selten sehnte sich ein Zweiter schmerzlicher und unerfüllter
nach Liebe wie der da ... Hannibal (eines seiner wuchtigen Dramen), der
schwermütige, schwerwütige Krieger, der erwachsene Feldherr seiner
Spiele hinter den Hecken seines Gartens. Peter Hille sagte einmal: »Den
Hannibal hat er aus gerostetem Eisen geschmiedet.« Aber nicht minder
hart ist der zweite Akt seines Königinnendramas: Elisabeth und Essex.
Ich habe oft S. Lublinski durch die durchsichtigen, großblumigen
Gardinen seiner Fenster dichten sehen und hören. Die Kissen fliegen von
den Sesseln, die Beine der Stühle und Tische knaxen, und ein Ertappter
sitzt er nun wieder vor seinem Schreibtisch, die reine Stirn in die Hand
gestützt. Leise fällt vom Himmel ein feiner Regen -- gesponnenes Weinen
--, mir ist, als ob auch seine Seele weine ... S. Lublinski aber gibt
sich nicht lange weichen Stimmungen hin -- er rafft sich auf: »Frau
Thormann, ich will noch fortjehen, ich habe ein wenig Kopfdruck.« »Aber
Herr Lublinski, bei dem Regen?« ... »Da ist mir nicht bange; aber ich
fürchte, der letzte Akt des Zaren ist mir was in die Breite jejangen«
... Frau Thormann, seine hübsche, muntere Wirtin, hat mir mal ganz
vertraulich gesagt: »Mucken haben sie ja alle; aber er sieht immer
wieder sein Unrecht ein, das muß man ihm lassen.« Und sie würde mich
wahrscheinlich für eine Verleumderin halten, wenn ich ihr erzählen
würde, daß ihr großer Pflegling gestern auf dem Rücken der Sphinx, am
Eingang des Cafés, gesessen hat und den Vorübergehenden, im jubelnden
und schwärzesten Pathos, den Schiller deklamierte: »Der See kann sich,
der Landvogt nicht erbarmen!« Aber in der Frühe brachte mir die Post
einen Brief von ihm: die gotischen, getürmten Buchstaben seiner Schrift
drohten über meine erschreckten Augen zu fallen: »Prinzessin, ich habe
von meinem Freund, nachdem wir uns von Ihnen gestern abend verabschiedet
hatten, erfahren, daß Sie noch immer mit dem Schwätzer nachmittags im
Café sitzen -- ich fordere Sie zum wiederholten Male auf, den Verkehr
abzubrechen, andernfalls ich meine Freundschaft zurückziehen werde.
Außerdem weiß ich, daß mein Freund unter Ihrer neuen Akquisition leidet.
S. Lublinski.« Noch am selben Tag begegnen wir uns. S. Lublinski will an
mir in zierlichem Bogen vorbeischlürfen -- wir lachen -- ich bemühe
mich, ihm die Schweigsamkeit des Kaukasiers zu beweisen: »Ich rieche zu
gerne Steppe, Herr Lublinski; aber Sie wissen doch, nichtsdestoweniger
liebe ich Ihren Freund, den prinzlichen Tondichter; -- und bringen Sie
ihm meine tiefblonde Verehrung.« -- S. Lublinski: »Scheusal!!« --

Alle Passanten haben es gehört -- bis nach Hause haben mich die
Straßenjungen begleitet. S. Lublinski muß sterben! ... Ich trage meinen
siebenläufigen, ungeladenen Revolver unter dem Mantel versteckt, und der
Mond am Himmel ist wie eine brennende Kanonenkugel. Die Mamsell hinter
dem Bufett ruft, als sie mich erblickt, Moloch, den Oberkellner, den
unersättlichen Götzen (seine Augen sind blanke Taler). »Wo ist S., der
Lublinski?!« »Herr Doktor sind soeben fortgegangen, haben aber für Sie
einen Brief hinterlassen.« Und seine Aussage noch bestätigend, weist er
auf den Tisch hin, an dem Herr Doktor zu sitzen pflegt: etliche
Zündhölzer schwimmen, zerbrochen im Wasserbad auf dem Silbertablett ...
»Sehr geehrte Frau, ich gebe zu, daß ich mich in der Erregung heute
morgen im Ausdruck hinreißen ließ, und ich sehe es gern ein und bitte
Sie um Entschuldigung; jedoch die Tatsache selbst bleibt trotzdem
unverändert bestehen. S. Lublinski.«

Zwei Jahre sind's nun her, als ich vor dem Riesenfenster des
Kaffeehauses saß und S. Lublinski in großen, feierlichen Buchstaben
antwortete:

»Sire, ich erkläre hiermit unsere freundschaftlichen sowie
diplomatischen Beziehungen für aufgehoben« ...




                              Paul Leppin


Ein großer kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins
Roman »Daniel Jesus« vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füßen,
und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine
Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen aus ihrem rauschenden Brunnen.
Hat Paul Leppin »Daniel Jesus« oder hat Daniel Jesus »Paul Leppin«
erschaffen? Die Vieraugen des großen kantigen Romans sind vom gleichen,
tiefen Wachen. Aber Paul Leppin ist gewachsen, ungekrümmt, eine Linde,
und sein Haar duftet nach dem sanften Blond ihrer Blüten, und Daniel
Jesus hat einen Buckel, und unersättlich ist sein fahler Durst. Auf
deine müde Hand, Daniel Jesus, tropft traumleise ein Goldtröpfchen;
Martha Bianca tritt barfuß aus dem Herzen durch die Paulpforte. Voll
Sonnenbangen ist Paul Leppin wie der Gipfel goldbedrängt, und er formt
schwermütig aus goldenen Träumen, die bis in die Wolken ragen, bleierne
Buckel. Mit gläubiger Gebärde aber schaufelt die Frau des Schusters das
Martyrium von Daniels Jesus Rücken ... »Prinzessin,« sagt Paul Leppin zu
mir, »wir wollen auf einen wilden Ball gehen«; wir finden nur
klingelbehangene Tanzböden. Paul Leppin sehnt sich nach der Orgie seines
Romans; die drehte sich hinter Sternenvorzeiten seiner Dichtung,
spöttisch hißte sie Satan auf Babelhöhe, Satan Daniel Jesus, Paul
Leppins Geschöpf, von dem er sich losträumte. Inmitten der Tanzenden
sitzt Daniel Jesus Paul zwischen nackten Eingeweiden, die sich
verwickeln, verknoten nach seinem Szepter. Rasende Weiber taumeln sich
im weichen, pochenden Raume und wachsen zu Lawinen über lüsterne Rücken.
Und auf dem brandigen Haupt der Schusterfrau steht eine Mauer auf, eine
leuchtende Krone, wie die des heiligen Landes -- in ihrem Riesenleib
tanzen alle die blutzerrissenen Leiber und ihre Teufel, wie in einer
weißen Hölle; denn Daniel Jesus hat sie erhoben zu seiner Rechten. Es
heißt im Buche: »Andächtig küßt sie seinen Buckel, wie ein Kruzifix.«
Paul Leppin, ich grüße dich.




                             Richard Dehmel


   Aderlaß und Transfusion zugleich;
   Blutgabe deinem Herzen geschenkt.

   Ein finsterer Pflanzer ist er,
   Dunkel fällt sein Korn und brüllt auf.

   Immer Zickzack durch sein Gesicht,
   Schwarzer Blitz.

   Über ihm steht der Mond doppelt vergrößert.




                                Max Brod


Das Volk wird nie nach ihm schreien; er sättigt nicht, er ist überhaupt
nicht zum essen, man kann höchstens eine seiner Hände streicheln oder
seinen Mund küssen -- er hat einen schüchternen Kindermund. Der erzählt
immer von sich, immer so hübsche Geschichten, die sich am Ende des
Pfades reimen und viele, viele Wege geht er mit den Mädchen in seinen
Gedichten. In Grimms Märchen ist er gemalt, wie er als Kind aussah, in
Hänsel und Gretel. Ich hatte Max Brod eine Nelke mitgebracht, die trug
er in der Hand, als er in den Saal kam, und ich bildete mir ein, er lese
mir ganz alleine vor inmitten der königlichen Gemälde; ringsum an den
Wänden: Van Gogh. Ich weiß den Namen seines Schauspiels nicht, aus dem
er erzählte. Aber immer war es die Liebe, die über seine Lippen kam --
mein Herz ging blau auf unter den vielen lauschenden Herzen. Max Brod
ist ein Liebesdichter. Auch der andere Aufzug seines Schauspiels war ein
Liebesgedicht, ein vielstimmiges, ein streitendes. Ich glaube, man kann
nur Liebesgedichte in »Prag« schreiben, wo so viele Bögen und Wälle
sind; und lauter graue Figuren treten aus den alten Häusern hervor --
die Steingespenster führen die Herzen bange zusammen. Ich habe manchmal
Sehnsucht nach Prag, schon um mit Max Brod durch die Gewölbe seiner
Heimat zu wandeln, wo die alten Häuser wie Mumien stehn, zur Rechten und
Linken.




                              Alfred Kerr


Silvester 1908 bin ich Alfred Kerr begegnet unter künstlichen
Balkansternen, zwischen schleierverhüllten Angesichten schöner
Haremsfrauen und fezbedeckter Häupter weißgekleideter Muselmänner.
»Wissen Sie, wer der Beduinenfürst war?« (Wir grüßten uns nach des
Bosporus Zeremoniell und Sitte.) »Reißen Sie mich nicht immer aus meinen
morgenländischen Illusionen,« antwortete ich meiner Begleiterin. Später
hörte ich, der Araber mit dem Seidenmantel sei Alfred Kerr gewesen. Am
besten gefallen mir seine Gedichte, sie sind humorsüß und fallen ihm in
die Hand. Aber seine allerschönste Dichtung war ein spanisches Essay;
jedes Wort trug eine Abendrotrose im Haar, jedes Wort war eine Senora,
erhob sich und tanzte.

Über den Kurfürstendamm sehe ich ihn manchmal nach der Kolonie heimwärts
gehen. Dort wohnt Alfred Kerr in einer Villa, die beneidet wird, sonst
pflegt man die meisten Kolonisten ihrer Villa wegen zu beneiden.
Heimlich birgt dieses nachtumheckte Schlößchen seinen Dichter. Spät muß
der Kritisierende die Kritik niederschreiben, die sind blaunervig wie er
selbst und duften nach melancholischer Ironie. Wir haben uns beide nur
immer das Schönste gesagt, wir kennen uns nur im Gruß. Mich dünkt, er
träumt von »Heinrich« wie ein einziger Sohn, der sich einen Bruder
wünscht. Er träumt immer von seinem Bruder Heinrich Heine. Bald gleicht
er ihm auf einen Nerv. Alfred Kerr müßte durch die Straßen von Paris
wandern wie der tote Bruder, mich stört des Lebenden chevaleresker
Mantel, sein abgestäubter Hut. Warum denke ich so? -- Morgen lese ich im
Tag seine gedichtete Kritik über Hauptmanns Premiere.




                         Bei Guy de Maupassant


                             Eine Phantasie

Dir allein will ich mein interessantestes Geheimnis anvertrauen, aber du
mußt dies als meine Beichte betrachten und bewahren wie ein
Amtsgeheimnis.

Paris!

Ich stehe an den Türpfeiler eines Magazins gelehnt und weine, als wollte
ich mich in Tränen auflösen. Am Himmel standen schwarze Gewitterwolken,
und der Boulevard war nicht allzu überfüllt von Spaziergängern; aber
auch unter den wenigen Menschen, die mich erstaunt betrachteten, litt
ich unsäglich. O, _petite_, o, was fehlt Ihnen, Mademoiselle? Sehen Sie
doch, Madame, wie blaß die Kleine aussieht, und die großen Augen.

Ich war damals ungefähr sechzehn Jahre alt, und noch in beständigem
Kontakt mit meinem Gotte. Ich bildete mir nämlich ein, daß, als
plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erdröhnte, der liebe Herrgott aus
besonderer Freundschaft zu mir es gewittern ließe, über den Menschen,
inmitten derer ich litt. Die auffällige Kritik über meine Person, die
sich in diesem lauten Bedauern aussprach, entfachte auch schließlich
meinen Zorn. So hielt ich dafür, daß die zwei Passanten, die plötzlich
vor mir haltmachten, kein anderes Motiv leitete, als die Lust zur
Neckerei. Namentlich erbitterte es mich, da der helläugige der beiden
seinem Begleiter zurief: »_Mon cher_, sehen Sie doch einmal den kleinen
Teufel!« Der große Herr runzelte die Stirn, dabei murmelte er ein paar
leichte Worte; ich verstand sie wohl, aber ich möchte sie im Interesse
meiner Person lieber verschweigen; wieder fielen große Regentropfen aus
meinen Augen, dann meinte der dunkle Herr in milderem Ton: »Es handelt
sich hier wieder um eine Bettelnovellette,« und reichte mir ein
Geldstück hin. Ich war sehr betroffen und konnte mich nicht enthalten zu
rufen: »O, Monsieur, ich bin keine Komödiantin und keine Bettlerin.« Er
schämte sich und versuchte durch allerhand Reden sich zu entschuldigen.
»Pardonnez, Mademoiselle, pardonnez, aber da Sie, wie ich aus Ihrer
Aussprache entnehme, keine Französin sind, werden Sie sich schwerlich
eine Vorstellung von der Schauspielkunst unsrer Nichtdamen machen
können. Und möchte ich Sie bitten, sich mir anzuvertrauen.« »Ich bin so
allein, Herr,« sagte ich; ich glaube, sonst erwiderte ich nichts mehr,
denn ich war ermattet bis zum Tode. Während wir noch beisammen standen,
trat ein dritter zu den beiden und klopfte dem dunklen auf die Schulter:
»Na, _mon ami_, schon wieder im Dienste der Frauen?« Der Helläugige, den
ich trotz meiner tragischen Stimmung heimlich seiner Schönheit halber
bewunderte, schob seinen Arm in den des hinzukommenden Herrn -- ich
glaube auf ein paar leise gesprochene Worte des Dunklen hin -- und zog
ihn, leise auf ihn einredend, mit sich fort. Dann wandte sich der
Bleibende mir zu, und es war eine eigentümliche Mischung von Erkühnen
und Güte in seinem dunklen Auge, das mich in Furcht jagte und
zu gleicher Zeit mir Mut machte. »Hier ist kein Platz für
Auseinandersetzungen, mein kleines Fräulein, und ich bitte Sie, mir zu
folgen.« Der energische Ton meines Beschützers wirkte suggerierend auf
mich, und ich folgte ihm. Er schwieg, bis wir die gegenüberliegende
Seite des Boulevards erreicht hatten; dann faßte er meine Hand und
sagte, jedes einzelne Wort betonend: »Mademoiselle, wenn Sie in mir
einen Freund gewinnen wollen, so fürchten Sie sich nicht und vertrauen
Sie mir Ihr Schicksal an.« Ich war sehr glücklich über seine lieben
Worte und atmete auf und wünschte mir nichts sehnlicher im Augenblick,
als seine Hand zu drücken. Wir nahmen Platz im Garten eines Restaurants;
der Fremde bestellte zunächst Bouillon und dann ein Hühnchen, welches er
mir wie einem Baby vorschnitt. Dabei flüsterte er mir zu: »Grade so ein
kleines Hühnchen wie Sie, Mademoiselle.« Dann mußte ich ihm meine
Lebensgeschichte erzählen, wie ich an der Hand Apollos aus meiner Heimat
durchgebrannt bin. »Und warum gerade nach Paris, kleiner Robinson?«
Zögernd und fast tonlos entgegnete ich: »Ich wollte in ein
Meisteratelier.« Dann fragte der Fremde: »Haben Sie schon an eines
angeklopft?« »Nein,« sagte ich verlegen, »ich habe mich mit meinem Gelde
verrechnet und wollte mir erst etwas verdienen, um wenigstens für einen
Monat die Kosten zu erschwingen.« »Und was dann?« fragte er
nachdrücklich. »Ja, dann, hoffe ich, Stipendien zu bekommen.« Hierbei
holte ich einen Zettel aus der Tasche, worauf die Adresse jenes
Kleidermagazins stand, in dem ich engagiert war. Mein Beschützer begann
zu lachen und meinte: »Eine Direktrice können Sie doch sicher mit Ihrem
schlanken Figürchen nicht abgeben.« »Aber eine Kostümzeichnerin.« »Ah,
Sie wollen mit Stilleben Ihre Karriere beginnen.« Wir lachten beide. --
Nach einer Weile fragte ich ihn, ich glaube sehr scheu:

»Herr, wer sind Sie?«

»Ich bin ebenfalls ein Kunstjünger.«

»Maler?« fragte ich.

»Nein, aber Schriftsteller.«

Ich atmete auf in der unklaren Empfindung, mich in verläßlichen Händen
zu befinden.

»Nun werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, kleiner Robinson, zumal ich
Sie nicht Ihrem Schicksal überlassen werde, bis Sie Ihre geschäftliche
Angelegenheit geordnet haben. Ich bringe Sie zu einer Freundin, die mir
lieb und teuer ist, zu einer Madame L. T., die wird Sie mit Vergnügen
aufnehmen.«

Wir erhoben uns.

»Allons, Mademoiselle!«

Beim Verlassen versuchte ich, meinem Begleiter seine Auslagen
zurückzuerstatten, obgleich dies meine letzte Barschaft war. Ich durfte
die Bitte gar nicht zu Ende sprechen, als er schon den Kopf schüttelte:
»Aber Mademoiselle, Sie sind mein Gast.« -- In der Rue de R. hielt das
Kabriolett vor einem villenartigen Hause. Ein zierliches Mädchen in Rosa
öffnete die Tür und sagte, ohne meinen Begleiter zu Worte kommen zu
lassen, fast vorwurfsvoll: »O, Monsieur, Madame hat bis vor einer halben
Stunde auf Sie gewartet, nun ist sie allein in den Bazar gefahren.«
Betreten murmelte mein Begleiter: »_Mon Dieu_, wie konnte ich das
vergessen!« Ich fühlte mich als die Schuldige, dieses mochte der Fremde
empfinden, da er beruhigend sagte: »Ich nehme die Schuld auf mich.« Ich
hörte ihn leise vor sich hinsagen: »Eine liebe Person ist Madame L. T.«
Dann wandte er sich wieder zu mir: »Nun, ich werde Sie gegen Abend
hinbringen, und Sie werden sie schätzen lernen, wie ich.« -- »Gefällt
Ihnen mein Heim?« fragte Guy de Maupassant, der mir unterwegs endlich
seinen Namen genannt hatte, von dessen Bedeutung ich damals noch keine
Ahnung hatte. »Jetzt wollen wir uns ruhig überlegen, was wir zu tun
gedenken. Kommen Sie doch aus Ihrem Winkel hervor und fürchten Sie sich
nicht vor mir! Haben Sie auch schon daran gedacht, falls Sie noch Eltern
haben, daß die in Besorgnis sein werden, und daß ich eigentlich
verpflichtet bin, ihnen Nachricht zukommen zu lassen?« Er mochte wohl
meinen Schreck bemerken, denn er fügte schnell hinzu: »Nun, wir sind ja
Kollegen, außerdem bin ich kein Moralprediger, und Ihr Unternehmen rüge
ich keineswegs, im Gegenteil, es imponiert mir, aber na, diesen Punkt
wollen wir gemeinsam mit Madame L. T. überlegen. Für den Augenblick bin
ich dafür, daß der kleine Robinson von den Strapazen seines Abenteuers
sich etwas ausruht. Ich werde unterdessen ein wenig ausgehen und
frühzeitig wieder erscheinen.« Er war fort, und ich allein,
mutterseelenallein im fremden Hause. Zunächst betrachtete ich die
Gegenstände des Zimmers. Auf dem Schreibtisch standen einige
Photographien, unter denen ich auch den helläugigen Herrn von heute
morgen fand. Zu meiner großen Freude, denn er gefiel mir schon wegen
seiner blonden Locken sehr gut. Dann aber spürte ich die so lange
zurückgehaltene Müdigkeit, legte mich auf eines der Kanapees und deckte
mich mit den Decken zu, die Maupassant für mich bereitgelegt hatte. Aus
traumlosem Schlaf, wahrscheinlich durch das Geräusch einer aufgehenden
Tür aufgewacht, mußte ich meine Gedanken erst mühsam sammeln. »Herr
Gott, wo war ich denn eigentlich?« Ich eilte ans Fenster, und mir schoß
plötzlich angesichts der fremdartigen Uniformen auf der Straße unten der
Gedanke durchs Hirn: »Wie kam's doch noch, daß ich in Paris bin.« Mich
überkam plötzlich die Angst eines Gefangenen, der keinen Ausweg weiß.
»Herr Gott, wenn nun der fremde, dunkle Mann ein Verbrecher wäre?« Mir
wurden plötzlich alle Sensationsgeschichten meines Lebens grauenvoll
lebendig. Um mich zu orientieren, um gleichsam die Waffen meines Feindes
kennen zu lernen, ging ich an den Schreibtisch.

»Was, Goethe!« Nun fühlte ich mich in Sicherheit. Und was mich am
meisten interessierte, da lag ja auch Petöfi. Der Dichter, der mir
gefiel in seiner ungarischen Studentenuniform. »Ach, Monsieur!« rief ich
erstaunt und erschreckt. Maupassant stand nämlich vor mir, ich mußte
sein Klopfen überhört haben. »Nun, mein kleiner Robinson, Sie sehen ja
so frisch aus, wie ein Dijonknöspchen; jetzt wollen wir weitere
Dispositionen treffen. Übrigens öffnen Sie einmal die beiden Schachteln,
mit deren Inhalt bald zwei kleine Buben spielen werden.« In der einen
Schachtel lagen schonungsvoll Bleisoldaten geschichtet, mit dunklen
Waffenröcken und roten Hosen. In der Mitte der Schachtel aber lag,
umgeben von seinen Getreuen, Napoleon III., hoch zu Roß. Aus der andern
Schachtel glotzten mich porzellanene Froschaugen an, Enten mit gelben
Schnäbeln, Reptilien aller Arten -- ein ganzes Aquarium. Ich richtete
die Soldaten parademäßig. Maupassant hatte währenddes eine Waschschüssel
herbeigeholt, und wir ließen nun die Ungeheuer auf den Fluten, die wir
zu künstlichen Stürmen erregten, nach Herzenslust austoben.

Wir, Maupassant und ich, waren auf einmal intim wie zwei Gespielen. Das
fand auch Maupassant. »Wir würden uns, glaube ich, sehr gut vertragen,«
sagte er plötzlich und klopfte mir auf die Backe. Dann aber begann er
ernstlich über meine Situation zu reden. »Ich habe eben Erkundigungen
eingezogen über das Magazin. Der Chef steht keineswegs in gutem Leumund.
Ich rate Ihnen davon ab, dort einzutreten aber vielleicht haben Sie noch
andere Fertigkeiten, die sich verwerten ließen?«

»Ach ja, Herr Maupassant, ich tanze sehr gut.«

»So, dann wäre ja der Zirkus oder das Ballett gar nicht übel!« meinte er
nicht ohne Ironie. »Und welcher Tanz wäre denn Ihre Spezialität?«

»_Danse de ventre._«

»So?« Maupassant lächelte erstaunt. »Da müssen Sie mir gleich eine Probe
Ihrer Fertigkeit ablegen.«

»_Eh bien!_« rufe ich in heller Begeisterung: »Sie werden der Pascha
sein, vor dem ich mich mit meinem Kostüm produziere.« »So hätten wir
auch das Lokalkolorit,« ergänzte er. Ich war indessen schon so
eingebürgert in der gastlichen Wohnung, daß ich die Türe öffnete und
Maupassant bat, so lange meine Toilette währte, zu verschwinden. Eine
golddurchwirkte Decke, die auf einem der Tischchen lag, nahm ich und
wand sie um meine Lenden bis zu den Füßen herab. Ich löste meine Haare
und entnahm einer Vase einige Nelken, die ich mir kreuzförmig um den
Kopf flocht. Ich muß ausgesehen haben wie eine Wilde.

»_Entrez, monsieur le Pascha, s'il vous plaît._«

Maupassant trat ein, auf dem ausdrucksvollen Kopfe einen Fez und um den
Hals eine reiche Münzenkette, mit majestätischem Ernst nahm er auf einem
zum Thron umdrapierten Sessel würdig und feierlich Platz, und die
Vorstellung begann.

»_Charmant, drôle, superbe!_« rief er ein über das andere Mal, und seine
Würde vergessend, begann er taktmäßig den Kopf hin- und herzuwiegen bei
jedem, Kastagnettenschlag markierenden, Schnippen meiner Finger. Die
Nelken aus den Haaren nehmend, kniete ich zum Schluß vor ihm nieder.
»Mein Fürst und Gebieter, hat deine Prinzessin Gnade vor deinen Augen
gefunden?«

»Was begehrst du?« rief der Pascha mit Pathos.

»Deine Freundschaft, Herr.« -- Wir fuhren am Abend noch, da Maupassant
sich dagegen sträubte, mich in das obskure und für mich gänzlich
ungeeignete Hotel »Maison Bohème« zu bringen, in dem ich bei meiner
Ankunft, da es mir wie ein Wahrzeichen erschien, abgestiegen war, zu
Madame L. T. -- Unterwegs bat er mich, ihn zu küssen, da er doch mein
Gespiele sei. Ich war im Begriff, meinen Kopf in die Höhe zu recken und
ihn zu küssen, da ich seinen Wunsch ganz natürlich fand -- doch nein, --
plötzlich senkte ich meinen Kopf wieder in die alte Lage zurück, denn in
diesem Augenblick fiel mir ein, was Maupassant mir gesagt: »Ich verachte
die Frauen, weil ich sie nötig habe.«

»Nun, plötzlich anders gewillt?« rief er erstaunt und gekränkt.

»Ah so,« meinte er lächelnd. -- -- --

Madame L. T. empfing mich liebenswürdig und küßte mich nach
französischer Sitte auf beide Wangen. »Hier bring' ich Ihnen einen
kleinen Robinson,« erklärte Maupassant. »Und vor allen Dingen _une belle
fille_,« sagte Madame L. T. weiter. »Das finde ich keineswegs,« warf
Maupassant ein, »apart -- ja -- ein Mädchen mit Knabenaugen.«

Mit gedämpfter Stimme unterhielten sich die beiden, wahrscheinlich über
meine Zukunft, hinter der Portiere, und dann empfahl sich mein
Beschützer, nicht ohne mich nochmals ausdrücklich zu beruhigen: »Mein
liebes Fräulein, seien Sie unbesorgt, Sie befinden sich in den besten
Händen!« Madame führte mich in ein kleines Boudoir, wo wir den Tee
einnahmen. Sie hörte nicht auf mit Liebkosungen; und noch mehr wie meine
Leidensgeschichte interessierte sie mein Renkontre mit Maupassant.

Meine Wangen glühten im Gespräch, und ich machte ihr das Geständnis, daß
Maupassant mir sehr gut gefiele, daß er mich habe küssen wollen, was ich
aber stolz abgelehnt. Als ich schwieg, begann die Dame, die während
meiner begeisterten Aussprache erblaßt war, mir klar zu machen in der
delikatesten Weise, daß man die Liebe eines Mannes wie Maupassant sich
am besten bewahre durch Zurückhaltung. Und dann verstand sie in
rührender Weise mich aufmerksam zu machen, wie besorgt meine Angehörigen
nun wohl um mich sein würden. Sie brachte mich zu Bette wie ein Kind,
und ich konnte nicht unterlassen, meine Arme um sie zu schlingen wie
instinktiv, um ihr Abbitte zu leisten dafür, daß ich ihr Schmerzen
bereitet hatte. Ich weinte bitterlich diese Nacht, nicht ohne das
wohltuende Gefühl einer gewissen Hochachtung vor mir selbst -- denn ich
faßte den Entschluß, eine heroische Tat zu vollbringen, Paris zu
verlassen -- Maupassant nie wiederzusehen.

Morgens früh klopfte ich an die Tür der Dame und teilte ihr meinen
Entschluß mit, daß, falls sie mir das Geld zur Rückreise borgen wolle,
ich Paris verlassen würde. Ich glaube, im Grunde plagte mich das
Heimweh, das durch das Wort Madame L. T., noch geschürt wurde.

»O, meine liebe Madame L. T., nicht wahr, Sie grüßen Monsieur Maupassant
von mir?«




                   Albert Heine -- Herodes V. Aufzug.


   Hinter deiner stolzen, ewigen Wimper gingen wir unter,
   Schwermütige Sterne brannten auf deinem Lide.
   Deine große Hand beugte das Meer
   Und brach ihm die Perlen vom Grund.

   Die Wüste war dein Schild
   In der Schlacht.

   An dich dürfen nur Dichter und Dichterinnen denken,
   Mit dir nur Könige und Königinnen trauern.

   Alle Leiber der Stadt ringeln sich
   Giftig um deinen Leib.

   Deine Schwester bespie den Traumstein deiner Liebe.
   Du, ein beraubter Palast,
   Judas schwankende Säule,
   Völker bedrohend.

   So arg mag nur ein Schöpfer lichtmitten
   Seiner Reiche zerbersten.




                               Karl Vogt


   Der ist aus Gold --
   Wenn er auf die Bühne tritt,
   Leuchtet sie.

   Seine Hand ist ein Szepter,
   Wenn sie Regie führt.

   Den Trauerspielen Strindbergs
   Setzt er Kronen auf,

   Aus den Dichtungen Ibsens
   Holt er die schwarzen Perlen all.

   Er kann nur selbst den König spielen
   Im Spiel.

   Morgen wird er König sein --
   Ich freu' mich.




                              Paul Lindau


Manchmal sitzt Paul Lindau abends im Café des Westens und freut sich
über die bunten Jünglinge und zwitschernden Mädchen. Er ist nicht
hochtrabend, er tut mit. Seines Herzens leuchtende Farbe ist nicht
eingetrocknet. Meine Eltern hatten Paul Lindau furchtbar lieb. Er war
Redakteur in der Elberfelder Stadt. Ich habe Paul Lindau eines Tages
gesagt, Herr Doktor, ich bin Else Schüler. Da meinte er, er habe meine
Eltern nicht vergessen. Und wenn wir uns nun begegnen, denken wir an ein
Haus am Wupperstrand, darin die Feste ein und aus tanzten. Paul Lindau
hat Temperament, er kann keine Maske anlegen, sie würde nicht lange
dauern vor seinem Herzen. Er ist ewig jung. Aber auf allen Tischen und
Vorsprüngen seiner Gemächer liegen antike Sammlungen, rissige Geschenke
aus allen Erdteilen. Ich muß Paul Lindau aus meinem Leben erzählen; er
versteht zuzuhören; diamantisch strahlt seine Liebenswürdigkeit. Mutter
und Großmütter, Vater und Urväter hängen eingerahmt in goldenen Rahmen
über seinem Schreibtisch; er selbst als Knabe blauäugig und
rosengelockt. Nicht viel älter war ich, als ich seinen wundervollen
Barmer-Roman las, von seinem alten Pfarroheim und den beiden süßen
Kusinen. No leckern Äppeln rukt sinne Liebesgeschechte on dat ganze Hus
von sing heelegen Onkel bis bowen op die Rompelkammer, wo die Äppels em
Wenter leegen. Ich erinnere ihn an die Sitte. Paul Lindau weiß alles
noch ganz genau. Diabolisch sind die schwarzen Täler der Schornsteine --
denkt seine ernste Stirne, aber die Sonne spielt dazu ganz bunt auf
seinen schlanken Händen.




                           Bei Julius Lieban


Ich bitte Herrn Lieban, mir einen Nachtigallenspaß aus seinem Leben zu
erzählen. Wir sitzen in seinem kleinen Gemach auf gemondeten und
gestreiften Diwans, Herr Lieban, sein Töchterchen Eva und ich. Herr
Lieban erzählt von Wanderzügen nach dem Süden. Wunderbar ahmt er die
Begeisterung des temperamentvollen Publikums nach; eine ganze Reihe
verschiedener Mienen huschen auf seinem Gesicht vorüber. Noch heute
spricht man in Florenz davon, wie er eines Tages angeflogen kam und
gesungen und es hinausgejubelt hat das feurige Lied an die Teure seiner
Heimat: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!!« Und wieder
zarter einsetzend: »Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben ...« Und
bei seiner Abreise haben sie auf dem Bahnsteig, auf dem Trittbrett und
im Waggon gestanden. Jedes trug ein leuchtendes Herz am Busen geheftet.
»Arivederla, Signor Giulio, arivederla!« Ein halbes Kind war er damals
noch, aber Herr Lieban ist noch heute neunzehnjährig mit seinen kurzen,
schwarzen Ringelrangelrosenlocken und den dunkeln Schalkaugen. --
Mutwillig, sturmwillig über die weichen Teppiche -- hin und her flattern
die Portieren. »Hab' im eigenen Hause keine Ruhe -- hören Sie, da
klingelt's wieder.« In diesem Salon unterschreibt Maestro ein
Engagement, in jenem erwarten ihn bittende Lippen. Einige Damen in
Pelz und Federhüten sehe ich durch den Perlenvorhang auf
niedlichen Rokokostühlen sitzen. Herr Lieban soll in einer
Wohltätigkeitsvorstellung singen, Herr Lieban kann nicht abschlagen, das
wissen alle schon. Mit zugehaltenen Ohren eilt er plötzlich wieder an
uns vorbei; aus dem Studierzimmer dringen schmerzliche Töne einer
harrenden Schülerin. »Sie stimmt ihre Kehliatur«, flüstert mir
schelmisch Eva ins Ohr. Und Herr Lieban weiß gar nicht, was er zuerst
erledigen soll. Klein-Eva und ich sind ganz alleine -- Klein-Eva hat
ebenfalls einen Kobold im Auge sitzen und Goldflatterhaare hat sie; sie
will nicht zur Bühne gehen -- der Vater hat ihr zu viel Schlimmes von
dort erzählt. Und als Herr Lieban sich uns wieder widmen kann, bitte ich
ihn, auf sein Töchterchen zeigend, mir auch etwas Schlimmes von dort zu
erzählen. Er nickt einige Male ernsthaft mit dem Kopf, er nickt seinem
Liebling zu; der scheint zu wissen, was seinen Vater so verwundert hat.
»Ja, ich kann's nicht verschmerzen,« sagt Herr Lieban, »genau
fünfundzwanzig Jahre sind's her, ich spielte den Mime in der Premiere
des »Siegfried« im Berliner Viktoriatheater. Wagner stand hinter der
Bühne, und es geschah, daß man mich nach dem zweiten Akte verlangte und
den Schöpfer vergaß. Wagner stürmte fort und ließ sich am Abend nicht
mehr sehen. Aber das, was ich nicht verschmerzen kann, ist: als wir am
andern Tag den Erfolg des Meisterwerks feierten und wir Mitwirkenden uns
am Eingang des Theatersaals aufgestellt hatten, Wagner unsere Ehrfurcht
in Form einer Gabe zu Füßen zu legen, daß er da jedem von uns lebhaft
die Hand drückte, an mir vorüberschritt, meinen Gruß nicht beachtete und
mir zurief: >Sie haben mir ja den gestrigen Abend umgeschmissen.< Sehen
Sie, das habe ich nie verschmerzen können, gerade weil er ein
Gottkünstler ist.« Eva sagt: »Vater hat's gedruckt im Buch stehen« --
sie springt aus der Türe und holt das vergilbte Buch vom Schreibtisch.
Herr Lieban muß lächeln. Aber seufzend mit der Puppe im Arm begleitet
mich Eva die Treppe hinunter. Durch die Villenallee nach Hause zu lese
ich im Vorübergehen an der Litvassäule Julius Liebans Namen. Er singt
heute abend den David, den finsterulkigen Schusterjungen. Den David kann
kein andrer singen. Seine Stimme sind Saiten einer Leier, die einmal an
einem Freudentage ein Gott erschaffen hat. Seine Lieblingslieder
rauschen durch Seidengärten, und mit Silberglocken behangen klingen
seine Schelmengesänge und tragen bunte Tracht. »Es ist zum Küssen ...«
einer sagt's dem andern unter den großen Lichtsternen entzückt ins Ohr.




                         Friedrich von Schennis


Der Baron ist eine Schöpfung aus Genie; er ist bereitet aus Himmel und
Satan, aus Fegefeuernuancen und gottblau. Mein Bruder nannte ihn den
Marquis; ich dachte immer, könnte ich den Marquis sehn. Eines Tages sah
ich den Marquis in gepuderter Perücke, in blauem Samtrock, die
Rokokohände zwischen feinen Spitzen, lustwandeln über die Wege von
Sanssouci auf seinem Bild in der Nationalgalerie. So überall im Rahmen
atmet er mit seinen Farben vermischt; zwischen ocker und bleu liegt er
auf seiner Palette. Und aus den Rosen des Parkes steigt sein Duft und
die Stirn des Schlosses bescheint seine Andacht. Friedrich von Schennis
ist ein Andächtiger. Noch zwischen losen Frauenlippen und seinem wilden
Zynismus lauscht er nach Gott. Sein Zynismus schluchzt. Der Baron ist
schön, sein Angesicht ist feierlich, immer liegt ein Schleier auf seiner
feinen Haut. Die fältet sich schmerzlich dann, wenn sein Auge die
Wirklichkeit erblickt, die Wirklichkeit ohne Zeremonie. Ich wundere mich
nicht, daß er den Philister haßt, den Sonntags- und Alltagsphilister,
noch eindringlicher aber empfinde ich seine Verachtung gegen den
freigewordenen Bürgersohn, den Studenten der Kunst. »Die Kunst kann man
nicht erlernen, nicht wahr, Herr Baron, Herr Marquis, König aller
Könige?« Ich sitze neben ihm und bin der Prinz von Theben. Und zu seiner
Linken versteht ein Arzt des Rausches die unbekümmerten Launen des
Barons zu beschwichtigen. Aber der Baron liebt das Gaukelspiel des
Herzens. Wir müssen mit ihm Champagner trinken, er will Begleiter zur
Vergessenheit haben. Aber ich weiß, der Baron kann nicht vergessen, er
kann wohl trunken, doch nicht betrunken werden. Ich vergieße den
schäumenden Luxus, der herrliche Mundschenk zersplittert, mich zu ehren,
meinen gläsernen Kelch. Das hätte Friedrich der Große auch in seiner
Flötenlaune getan; der Baron stammt aus der Zeit der Flötenkonzerte. Er
hat kein Alter, er ist wandelbar wie die Zeit, die einmal Lenz und
einmal Herbst zum Zeitvertreib ist. Trägt der Marquis nicht seine
Perücke wie auf der Schloßlandschaft in der Galerie, so ist sein Haar
aschblond, sein Auge ist aus Merveillieuxseide, und seine Hand bewegt
sich immer wie zum Holen einer Schönen zum Menuett. Seine Freude und
seine Schwermut sind Jünglinge, und darum haßt er den Tod und möchte ihn
vergessen im Wein. Sein Esprit erinnert an Voltaire, lauter Blitze, die
treffen und Brände werden. Wenn der Mond gegangen ist über den Garten,
dann werden wir auch nach Hause gehn, ich will noch über Friedrich von
Schennis einen Essay dichten. Seine Bilder sind adlig und blaublütig.
Liszt, der Musikpapst, Wagner und der Großherzog von Weimar sind seine
stolzesten Werke, und die vielen Liebeslandschaften hängen in Nischen
minniglicher Schlösser.




                             Tilla Durieux


Ich würde für sie auch im Privatleben das Eboligewand wählen, den
zackigen, weißen Kragen, der ihr Angesicht, ein Bukett von Lichtwende
und Herzschatten, wie mit einer Atlasmanschette umgibt. Frau Durieux
spielt im Theater Reinhardts die Eboli; die schlummernde Saitenspielerin
ist auferstanden aus ihrem Sarkophage. Es tut wohl, sie in
»prinzeßlicher« Wirklichkeit wiederzusehen, in ihrem eifersüchtigen
Herzen zu erleben den Kampf mit der Kabale. Den schnöden Verrat an die
Königin verabreicht sie dem lauernden Pater noch mit traumhaften
Fingerspitzen. Keineswegs hysterisch gehässig -- historisch wie ihr
Kleid wirkt das intrigante Frauenspiel in der Kapelle steinerner Nacht,
an der blutgenagelt Gottes Sohn hängt. Frau Durieux' verzweifelte
Gebärde, nachdem ihre Königin sie verstößt, erinnert an das Gemälde der
büßenden Magdalene. -- Als ich sie vor einiger Zeit in ihrem Gemach
erwartete, suchte ich unwillkürlich nach der Laute. Da kam mir entgegen
Rhodope, ihre Hände hingen herab wie Myrthen. Diese himmelweiße Syrierin
ist der Glorienschein ihrer Eingebung, das keusche Geschmeide ihrer
Begabung. Beweglich ist die Verwandlungskunst der Frau Durieux, denn wer
vermutet nach der bräutlichen, geduldigen Königin und der verwöhnten
Lautenspielerin, »Sie« in der bitteren Haut der eigensinnigen
Spielverderberin der ältlichen Schwester der Brüder im Friedensfest.
Krummrückig zum Fußaufstampfen, hartnäckig widersetzend, den Angehörigen
eine giftige Augenweide. -- In »Gott der Rache« von Schalom Asch spielte
Frau Durieux die junge Kupplerin des Bordells. Ich sehe sie noch keck in
der Mitte des Sofas sich hinflegeln mit der Frechheit einer
freigewordenen Sklavin, mit dem Machtbewußtsein, vernichten zu können je
nach Berechnung. Das scheußliche Verbrechen ihres früheren Bordellchefs
zappelt auf ihrem Knie, sie läßt es kichernd über ihrem Strumpfband
hängen, sie braucht nur den lockeren Vorhang aufzuheben. Tilla Durieux
spielte skandalös hervorragend. Hier nenne ich die Schauspielerin, die
Charakteristik ihres Zivils vergessend, kurzweg »Tilla« Durieux; aber
wer sie in ihrem Privatgemach je sah, umgeben vom Staat schützender Tore
und mächtiger Bequemlichkeiten, sie selbst zum Empfang der Gäste sich
liebenswürdig ermannend, wird mit mir empfinden, daß sie keineswegs eine
Bohèmin ist, zu treu dem Einen außerdem, auch daß ihr die seelische
Leichtigkeit der Umgebenheit fehlt, und ich nenne sie »Frau« Durieux
nicht etwa wie man die Spießerin zu nennen pflegt, aber weil sie die
Hofdame der Schauspielerinnen ist; jeder Tag muß ihr »d'or-jour« sein.
-- Auf dem Sezessionsfest im Februar teilte sich die Menge in zwei
Flittergitter, als sie den Saal betrat. Sie trug ein dunkles
Spitzenkleid und eine hängende Nelke im Haarknoten. Ich fragte den
Rektor in »Frühlingserwachen« an unserm Tisch, wer die schwarze
Leopardin mit dem Blutstropfen am Nacken sei. Prangende Schlichtheit,
geschmeidiger Charme, in ihrem Herzen blühen feine Nerven schmerzvoll
auf. Aber als es Mitternacht war, tanzte sie, auf einer Perle des Sekts
rollend, mit leuchtenden Augen im bunten Spiele der Masken. Dieses Jahr
gibt es wieder ein Fest; ich hoffe, daß Frau Durieux auf Erden weilt,
sie hält sich nämlich ab und zu mit Vorliebe oben in den Wolken
verborgen, in ihrem Luftballon, und was wird sich Prinz Karneval ärgern,
wenn sie ihm nur eine lange Nase machen wird. -- Die Maschen des Netzes,
das den Ballon umhüllt, lockerten sich schon einmal. »Ein Punkt in der
Ewigkeit« kommt man sich im Raume vor, erzählt Frau Durieux. Sie ist
ohne Furcht und Zaudern. Zwischen Leere und Leere, Vogel sein, nur Atem,
so folge ich in Gedanken den Schilderungen der Luftschifferin in die
Lüfte. Da nimmt ihr Terrierhund einen Anlauf aus salonansalongereihter
Ferne, springt mir auf die Schulter, ich falle vor Schreck aus allen
Himmeln.




                               Paul Zech


   Sing Groatvatter woar dat verwunschene Bäuerlein
   Aus Grimm sinne Märchens.

   Der Enkelsonn ist ein Dichter.
   Paul Zech schreibt mit der Axt seine Verse.

   Man kann sie in die Hand nehmen,
   So hart sind die.

   Sein Vers wird zum Geschick
   Und zum murrenden Volk.

   Er läßt Qualm durch sein Herz dringen:
   Ein düsterer Beter.

   Aber seine Kristallaugen blicken
   Unzählige Male den Morgen der Welt.




                             Rudolf Blümner


Den Mephisto spielt er jeden Abend, eine Privatvorstellung im
Freundeskreis. Ohne witzelnde Fußspitzenpose -- der Doktor hat Humor,
der im Kranichschritt mit dem Schwermutflügel einherschreitet. Wenn er
nicht kommt, sind wir alle belämmert; die gretchenblondesten
Mädchenköpfe freuen sich, wenn der Mephisto endlich doch kommt. Er
versteht Greisengesichtern lächelnde Jünglingsaugen einzusetzen, wenn er
bei Laune ist und sein Herz mit übersprudelndem Schalkwillen vorträgt.
Wehe aber, wenn er durch die Türe kommt, und sein Hut sitzt schief in
die Stirne gedrückt -- es regnete --, er konnte heute kein Luftbad
nehmen, ein paar Sätze von der Galle, mehr hören wir nicht. Aber seine
Galle ist kariert. Nie war ein Hut so mit seinem Kopf verwandt, wie
Doktor Blümners Hut. Der ist ein Mime, durchblutet mit den Eigenarten
seines Trägers. Unter Hunderten würde ich den Hut des Doktors
herausfinden, namentlich aber dann, wenn der Rand seines Panamas lacht;
er sitzt rund hinten im Genick. Etwas muß der Doktor heut' ausführen,
ich warte am liebsten mitten im Zimmer, wenn er Klavier spielt, ich kann
dann so mit seinen Späßen laufen -- er spielt eine eigenvertonte
Polonäse, er führt sie an. Seine Finger springen wie ungezogene Jungen
über die Tasten, schlagen Kobolz, zanken sich; plötzlich steht er
gravitätisch auf: »Der Schlaf erwartet mich!« Aber in Wirklichkeit steht
der Vollmond vor seinem Fenster, hinter dem Ohr einen Federkiel. Der
Doktor muß noch einen Essay schreiben. Seinen Lehrer im
Frühlingserwachen -- wer kann ihn je vergessen und die Grazie des Ricco
in Minna von Barnhelm. Er ist der Aristokrat des großen Schelmenspiels.
Aber auch sehr oft beliebt es dem Doktor, sein ernstes Wesen dem
Publikum zu schenken; es steht ihm am besten; kehrt es ein -- kommt es
hervor aus seinem tiefsten Herzensschatten. In diesem Monat hält der
Doktor wieder einen Vortrag, es sind die schönsten Abende, goldene
Atrappen mit überraschendem Inhalt. Als er die Geschichte der Schneider
von Keller vorlas, glaubte ich die drei bis zum Schluß verschwinden zu
sehn aus dem Saal. Er machte nämlich auch ein Gesicht, als ob sie ihm
weggelaufen wären. In seinem feinen Profil ist seine schöne Nase
tragisch geschnitten nach Gemmenart. Das Leben fällt gelassen vor ihm.




                             William Wauer


Als das Café Kutschera noch seinen adligen Namen »Sezession« trug, hielt
in dem oberen Raum des Cafés William Wauer einen Vortrag über
Theaterkunst. Ein junger Schauspieleleve nahm mich mit herauf; viele
Eleven und Elevinnen schritten vor mir in den Saal der grauen
Sammetsofas und Sessel; ich war die einzige unter den Zuhörern, die
Wauer noch nie gesehen und doch ihn sich genau so vorgestellt hatte mit
der eigenartig schmerzlichen Sicherheit in den Augen und in den
Gebärden. Ein großer Geiger, der nicht die göttliche Geige findet. Ein
großer Dirigent -- ist nicht sein Vortrag ein Zusammenspiel vielerhand
Instrumente gewesen. Lebendige Violinen, seine Schauspieler; er mag
nicht die erste Violine zwischen ihnen, die den Ton angibt, kein Genie,
das sich abtönt, hervortönt von den anderen Tönen. Das Zusammenspiel
seiner Leute, eine Genieleistung soll sie sich heben aus der Fertigkeit
seiner Hand. Als das künstlerische Theater aus Moskau in Berlin
gastierte, gedachte ich der Worte William Wauers. Der Zar bis zum Onkel
Wanja und die Frauen all, glichen seinen Idealgeschöpfen. Wandelnde
Töne, schreitende Melodien, unbezahlbare Instrumente mit tausendtiefem
Ton. Aus Spielläden und Kotillongeschäften liefert man William Wauer,
Spaßgeigen, Trompeten, Kriköhs: Dilettanten und Tantinnen. Sie essen
ihre Rolle, um sie ganz im Leib zu haben. Sie muß ihnen auf den Leib
passen. Aber der Schauspieler soll den Duft seiner Rolle einatmen. Über
solch trunkene Seele zu streichen mit seinem Bogen. -- Seine Regie steht
auf Füßen, das Milieu gleicht dem Bewohner des Schauspiels. Erster
Aufzug: Veranda, von Säulen umstanden. Zweiter Aufzug: Wohnzimmer der
gräflichen Familie. Man kann sich gar kein anderes Innere vorstellen
nach dem Wuchs der Villa. William Wauers Regie ist anatomisch. Sein Blut
möchte fließen durch die Adern seiner Schauspieler wie ein Strom durch
das Spiel. Das soll keimen und aufgehen aus seiner Gestalt in vielen
Gestalten. Kein Asiate ist er, dem die Tragödie nur eine einzige
Kriegsgebärde wird. Er meint, zu den Wilden gehöre ich, und mit der
eigenartig schmerzlichen Sicherheit im Auge betrachtet er mich wie ein
fremdes Instrument aus Bambus.




                 Wauer-Walden via München und so weiter


O, wie wohl ist mir im Herzen zwischen den vielen scherzenden Herzen;
alle sind bunt und brennen, aber mein Herz ist blau und glüht. Am Morgen
hänge ich es an einen sorglosen Blumenbaum und lasse es zwitschern. Wie
ich so dahinlebe, ich bin einer der fahrenden Schüler aus St. Peter
Hilles Platonikers Sohn. Im Tanzschritt ziehen wir durch das Grün der
Stadt hintereinander mitten im Mondpolka. Die Straßen und Plätze duften
noch nach Marienbalsam der Dome. Wir schweben, wir kennen die Sünde
nicht, an der Welt vorbei, mit München der Südstadt Deutschlands im
Arme. Ich muß München immer küssen, schon, weil ich Berlin hinter mir
habe; wie von einer langweiligen Kokotte geschieden fühle ich mich.
Meine Freunde spielen Harmonika, wir ziehen an Schaufenstern
pietätvoller Läden vorbei; Meisterbilder, frommer Schmuck, wilde Waffen
aus den Gräbern der Bibelfürsten und überall die blauen
König-Ludwig-Augen! Eine alte Riesenkommode ist München aus einem
bayrischen Alpenknochen gehauen. Man kann so andächtig kramen in München
und ausruhen auf gepolsterten Erinnerungen. Hier freut man sich seiner
selbst, man findet sich in seinem glücklichsten Augenblick oben auf dem
Berge der Stadt. Im Vorbeischreiten an den Gärten Obersendlings,
flüchtet vor mir das prahlerische Häuserregiment Berlins. Es steigt die
Erde, ich sitze auf ihrem Rücken in einem der Schlösser. Ich bleibe hier
für ewig! Man sagt das so leicht. Ein Paradies ist München, aus dem man
nicht vertrieben wird, aber Berlin ist ein Kassenschrank aus Asphalt;
der ihn zum Labsal benutzt, hängt sein Herz engherzig als Schloß davor.
Ich soll mich so ganz erholen in der bayerischen Hauptstadt. Gibt's auch
Cafés hier? Da winkt schon eins von ferne. Sei mir gegrüßt, oder wie der
Bayer sagt »Gott grüß dich, Café Bauer!« Von einem Altan herab ladet es
den Vorbeiwandelnden einzutreten, manchmal sogar holt der luftschöpfende
Ober den Gast in sein Kaffeehaus nach südlicher Sitte. Ich stelle eine
gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Café Bauer mit unserem Café des Westens
fest, unserer nächtlichen Heimat, (grinst nur verfluchte Somaliphilister
und Sudanproleten) unserer Oase, unserem Zigeunerwagen, unserem Zelt,
darin wir ausruhen nach dem alltäglichen schmerzvollen Kampf. Die Frau
Wirtin ist sanft, sie pflegt unsere Launen, die uns der Bürger schlug.
Vom Oberober bis zum Unterunter passen die sich dem Rhythmus der Gäste
an. Herr Rattke hat wieder ein neues Buch geschrieben in Trochäen über
Servieren, verrät mir Richard, der Zeitungsverweser, der
Journaltruchseß. Er liest mir mit Pathos mein Gedicht im Sturm vor über
München; ich beginne zu seufzen. Was fangen nun die spielenden Straßen
dort ohne mich an und die vielen gaukelnden Herzen? Daß die gesund
bleiben, dafür sorgen die Ärzte, namentlich der unvergleichliche Doktor
Arthur Ludwig. Alle seine Patienten kommen, weil er der
unvergleichlichste Mensch noch dazu ist, nie zur angeschlagenen Zeit in
die Sprechstunde, wegen der süßen Speisen und der Marmeladen, die zum
Mittag aufgetragen werden von seiner emsigen, lieben Haushälterin. Und
die bettlosen Patienten und Freunde nahen gewöhnlich mit dem Dietrich
und der Zahnbürste im Gewande, sie kommen vom Rande ihres Lebens und der
Doktor, ein heiliger Wirt, wie auf dem Bilde in seinem Sprechzimmer, zu
sehen ist: »Fräulein Haushälterin, besorge für den Fremdling nun eine
Lagerstatt.« Er ist direkt ein Engel. »Ein starkfühlender, intelligenter
Engel«, betont ein Kollege von ihm, Doktor Max Nassauer, der dichtende
Arzt in München.

Wir gehen alle in den Simplizissimus, in Kati Kobus' berühmte
Künstlerkneipe. Heute kommen die Kegler! Ich meine die Leute vom
Kegelabend. Ludwig Scharf trägt mit starkem Ton seine Verse vor, jedes
Wort ist an das andere geschmiedet. Sein Gesicht ist eine diabolische
Arabeske. Dazwischen tönt die fahrende Stimme des Gitarrespielers und
die liebenswürdigen, drolligen Bemerkungen Max Halbes; er gefällt mir
sehr. Und all die kleinen summenden Mädchen mit den braunen und
blonden Liedern. Und die Hauptsache bleibt die Kati Kobus, die
Simplizissimusherrscherin mit dem Kronmal auf der Stirn. Sie ist die
Herzogin des Rausches, sie ist eine Regierende. Wer so zu unterscheiden
vermag wie sie! Eine Juwelierin, wer so das Angesicht auf sein
Geistkarat zu werten vermag. Das Scheiden aus ihrem Nachtgarten, wo das
Lachen blüht zwischen Bilderhecken, tut mir besonders weh. »Frau
Helene,« sage ich mich ermannend eines Morgens zu meiner Wirtin, »es muß
geschieden sein!!!« Berlin! Vom Waggon aus steige ich sofort die Stufen
des Kleinen Theaters hinan zur Generalprobe der Vier Toten der Fiametta.
Morgen zur selbigen Stunde werde ich Jacobsohn wiedersehen -- ich werde
Jacobsohn wiedersehen!

Direktor Wauer fundiert noch seinen letzten Fußtapfen, er legt so das
Schreiten und die Gebärden der Spielenden fest. Fest und sicher bewegt
sich nun das ungeheure Pantomimendrama und ballt sich wieder zur
Einheit. So wohlgeformt und nicht ein Abweichen, nicht ein überflüssiges
Zureichen allerleigrauen führen des Schneiders (William Wauer) Klauen
die Schneidernadel unentwegt. Grandios ist die Bewegung seines Mundes,
die nicht ein stummes Reden, aber ein drohendes Auftun seines Gesichtes
bedeutet. In großen teuflischen Zeichen nicht minder, wie ihr Direktor,
spielt Rosa Valetti, die Schneidersfrau, und rotangefüllt, ein
Blutbezechter, ein wankender Bär, tappt der Lastträger (Guido Herzfeld)
auf den Ruf der verzweifelten Fiametta über die Stufen der Treppe, in
das Trauerspiel. Das Harlekintrio. Ein Gemälde, das im Anschaun mit dem
Körper des Bewunderers verwächst. Und die ungeheure Last Trauerspiel,
rollt sich auf einer Musik _aufwärts_ hochmütig über die Leiche
verdutzter höhnender Kritik. Herwarth Walden, ein Hodler der Musik, der
alles Süßliche zerreißt im Siegeskrampf und Kampf. Morgen ist die
Premiere der Vier Toten der Fiametta, ich werde Jacobsohn wiedersehen
--, ich werde den kleinen Jacobsohn wiedersehen! »Wer kommt noch mit ins
Café?«




                              Emmy Destinn


Ich schrieb ihr am Schluß meines Briefes: Semiramis, hinter den düsteren
Gängen deines Palastes vermute ich hängende Gärten. Worauf sie ans Ende
ihrer Zeilen setzte: Meine liebe Dichterin, meine Gärten sind diesen
Abend wilde, verschwiegene Schluchten, kommen Sie und hören Sie mich die
Carmen singen. --

Manchmal versteckte ich den Kopf in das Sammetgehang der Loge, den
dunklen Strom ihrer Stimme einsam über mich rauschen, tanzen zu hören
über üppige Pfade heißer Lippen liebentlang. --

Der Soldat Don José sitzt abseits der Ausgelassenen und schmiedet seine
zerrissene Säbelkette; versunken in Mutter, Heimat und Liebchen, dem
frischen blonden Blümchen der treuherzigen Provence. Aber da steht sie
hoch auf der Brücke, lauernd, hungrig -- o, du gewaltige Carmen-Katze!
Den Oberkörper weit nach vorwärts gestreckt, schleicht sie
bestienmajestätisch über die Treppe, die zu ihrem Opfer führt. Es
durchgreift den Soldaten eine peinigende Unruhe, er vertieft sich
gewaltsam in seine Arbeit, aber seine Finger zittern vor ängstlicher
Wollust. »Ei, du süßer Kettenschmied!« Und ein Strauß greller Rosen
fällt zu seinen Füßen nieder. Die lockende Schwere ihres Liedes ergreift
ihn, es berauscht ihn der singende Duft ihres Blutes. --

Und dann Carmens grausames Begegnen mit Don Josés Liebchen, Carmens zum
Sieg gerüstetes Entgegenziehn der fremden Rasse, aus der sie ihr Opfer
geraubt hat, das sie lieben und peinigen muß und zerstören wird. »Sieh,
ich nehme dich, ich verschlinge dich!« Und ihr Gesang und Spiel bekommen
Tatzen, die den Geliebten umkrallen, den Kampf seines Soldatenherzens
zerreißen und ihn ihr zu eigen machen. Bravissimo, Carmen -- Emmy
Destinn!

Und nun das Schwärzerwerden ihrer Stimme vor dem verstoßenen, verhöhnten
Geliebten, die trübe Todesangst, die sie betastet. Und leise klingt die
Hochzeitsmusik, beben die Zaubertöne, die den Soldaten gelockt haben in
die Netze ihrer furchtbaren Seele. Carmen! Todwund heben sich die Lider
ihrer bebenden Pupillen -- ihr Sprung mißglückt. Feierlich singt das
Cello und flehentlich die Geigen. Draußen wartet Escamillo. Carmen
zerreißt ihre Haut aus Hochzeitsseide und veratmet, noch ehe Don José
ihr treuloses Katzenherz durchsticht. Blaß werden die Klänge in der
Ferne.

   Die Lieb, die von Zigeunern stammt,
   Fragt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.
   Liebst du mich nicht, bin ich entflammt,
   Und lieb ich dich, nimm dich in acht!

Als ich am Tage nach der Vorstellung Emmy Destinn besuchte, saß sie auf
ihrer Bank von Gold aufrecht, den Kopf düster gesenkt, wie die Blüte
einer Pharaonenblume. Sie trug ein Kleid aus bunten Farben der Gewänder
assyrischer Königinnen. In ihren Ohren hingen Gehänge von
durchsichtigen, gelben Steinen. »Habe ich Ihnen gestern gefallen?«
fragte sie mich. Und ehe ich antworten konnte, pochte es leise an die
Tür -- mit einer Tasse süßen Duftes trat eine ältere Frau ins Gemach und
flüsterte ihrer Königin mit besorgtem Augenrollen und Kopfschütteln
einiges ins Ohr. Als sie draußen war, sagte Semiramis zu mir: »Sie war
meine Amme und ist noch immer um ihr herangewachsenes Baby in
Besorgnis.«

Wir setzten uns an ein kleines Rosenholztischchen. Vor dem Fenster
dämmert es schon, aber Emmy Destinn möchte vom Morgen trinken, immerzu
spielen; in ihrem Gesicht scheinen plötzlich ganz hell die beiden
großen, braunen Monde. »Komm, wir wollen um die Rosenholztische Fangen
spielen!«

An der Wand, mir gegenüber, hängen die verschiedenartigsten Instrumente,
wohl an zehn Geigen. »Und der Flügel dort, ist der Flügel Webers
gewesen,« erzählte sie lebhaft. »Und sehen Sie sich auch einmal diese
Bildergalerie dort an; ich habe eine mächtige Verehrung für Napoleon den
Ersten.« In jedem Lebensalter hängen Bildnisse des ehernen Kaisers von
Frankreich da, Briefe in zärtlichen Rahmen, Waffen, die er geschwungen
hat, umzäunt mit Lorbeeren. --

Katzen, Hunde, Hasen, Hähne, Puten von leuchtendem weißen Porzellan,
venetianische Vasen, vielarmige Leuchter stehen auf stolzen Säulen und
Elfenbeintischchen. Da seh' ich mich zu meinem Leidwesen drei, vier,
fünf, immer noch mehrere Male in großen Spiegelwänden. Die schöne
Königin hat, ohne daß ich es bemerkte, die Türen ihres weiten Paradieses
geöffnet: blühende Seltenheiten und Seide.

»Besuchen Sie mich bald wieder,« sagte sie; ein Lächeln in den
tausendjährigen Augen.




                           Franziska Schultz


In Berlin gibt es eine Fraue, die die Schmerzen Marias leidet, sieben
Schwerter im Herzen; und die doch gnadenreich herablächelt auf die Armen
und Kranken. Jeder Mensch, der sich ihr nähert, ist ihr Jesuskind. Einen
Tempel müsse man um diese Mutter bauen, einen Garten pflanzen, der ihr
blühender Mantel sei. Ich kann mich nicht der Fraue nahen, ohne ihr
meine Andacht zu bringen. Verirrte Magdalenen treten durch ihres Hauses
Pforte ein und rasten; ruhen aus und besinnen sich unter der Liebe ihres
Mutterdachs. Franziska Schultz ist die Mutter des Mutterschutzes. Man
könnte fast das gefallene Mädchen ihrer Patronin wegen beneiden. Mit
fürsorglicher Liebe lullt die höchste Fraue der Gnade die verstoßene
Mutter und ihr pochendes Spielzeug mit ihren beiden Armen zärtlich ein.
Kein Vorwurf trifft die Tragende, ihres Kindes wegen, das noch auf
seinem rechtmäßigen, heiligen Muttererbe blüht. Alle Mütter aber lieben
die Eine.

Eine Dame, die den Glanz irdischer Glänze ausdrehte und durch die dunkle
Straße schreitet, wo das Elend wuchert. Nun wohnen keine verwöhnten
Gäste mehr in ihrem Hause, aber solche, die ein Herz voll Liebe
beanspruchen. Tragende und Beladene treten durch ihres Herzens geöffnete
Pforte ein. Maria!




                             Kete Parsenow


Die Venus von Siam, ist die Kete Parsenow. Feingebogene Dolche sind ihre
Augen, wie die der Göttinnen in goldenen Tempeln.

Peter Altenberg gab vor einigen Jahren eine Zeitschrift heraus, auf
jeder Seite stand »sie« in blonden Farben. Die Kete Parsenow spielte
damals in Wien am Theater; nun wird sie hier spielen, und doch sollte
solche Schönheit verborgen bleiben, im heiligen Haus zwischen
geopferten, schweigenden Blumen. Im Sommer begeisterte sie hier als
Ophelia die Zuhörer. Blutschwarz sank Hamlets Kopf in den Schnee ihres
Schoßes. Immer wird sie die Jungfrau der Schauspielerinnen bleiben; sie
ist unbetastete Skulptur. Einmal legte sich vor ihr nieder eine weiße
Steppenhündin und wurde ihr ähnlich. Als sie vom Strauch eine Rose
pflückte, blühte die höher in ihrer Hand. Sie ist selbst ein Wunder. In
der Frau vom Meere erschrak sie vor dem Überschwang ihres Herzens. Und
Ibsen, was hätte er gesagt, wenn er der Kete Parsenow begegnet wäre,
seiner Generalstochter Hedda Gabler. Kete Parsenow ist sich ebenbürtig,
sie ist ebenso schön wie großherzig. Elfenbein ist ihre Haut; immer
singt ihr Gesicht. Einmal wurden die Sicheln der Venus zu Monden, als
sie böse war. Ich sah die Venus von Siam lächeln, ich sah die Venus von
Siam sterben.




                                  Ruth


Sie müßte eine Patronesse haben -- etwa die Kaiserin von Island oder
eine reiche Eskimotochter; vielleicht wird es eine Inger auf Östrot
sein. Ruth ist eine Tragödin. Schon seit zwei Jahren spielt sie mit
Vorliebe Partien aus Ibsens Werken. Ihre Dreijahrärmchen heben sich
zürnend zum Himmel: »Götter!« Ich habe Ruth nie lachen sehn und auch
weinen nicht, wie andere Kinder. Ruth lacht mit Vorsicht, plötzlich hält
ihr Gesichtchen wie eine kleine Sonne zu leuchten inne -- und weinen tut
Ruth, um wieder zu lachen. Und am Abend dauert es eine Weile bis sie
einschläft, gerne läßt sie einen schmalen Guckspalt offen für den
Morgen, ob auf der Heizung ein Schokoladenkakes liegt, von einem
verkleideten Onkel als Nikolas oder einer Zuckerhäuschentante gespendet.
Ruth gastierte zum erstenmal im Vorgarten des Cafés des Westens, sie war
damals zwei Jahre alt und trug ein weißes Kleid über glänzendem Stoff
von der Farbe ihres Mündchens, das auf einmal zum Mund wurde, wie
gehext, strenge Furchen zog; ich erschrak. Und noch dazu der finstere
Ibsenblick, der mich furchtbar einschüchterte. Immer tiefer sank Ruths
Lockenköpfchen auf die Strohröhre herab, die vor ihm im Glase steckte:
»So tinkt >Er< Limonade.« »Er« hängt im mächtigen Rahmen im Zimmer ihrer
Muttertragödin (Beß Brenk) und immer steht Ruth vor seinem Angesicht und
besieht es sich, ob es auch noch so macht wie »sie«. In Klein-Ruth
schlägt das große Ibsenherz, und als Ibsen sein Puppenheim schuf, pochte
sicher ein kleines Anhängsel an seinem schweren Schlag, ein
Goldherzchen, in dessen Mitte ein himmelblaues Perlchen rauschte. Ruth
springt vom Stuhl, tanzt in ihren niedlichen Goldkäferstiefelchen, die
Röcke nach unten geglättet -- nun hat sie ein langes Kleid an. Sie tanzt
einen herablassenden, zurückhaltenden Tanz; da, als ob ein Sausevogel
durch ihren Kopf fliegt -- fort will ihre kleine Seele -- ihre Beinchen
sind ganz nackt; über Stühle und Tische hinweg -- Ruth, Ruth! Ich
glaube, sie sitzt oben auf dem Ast des jungen Baumes vor dem Caféhaus.
Was soll man dazu sagen -- Genie? Fort mit dieser alten Denkmalhülle,
sie tut dem Kind weh, aber in ein Wunder wollen wir die wundervolle,
kleine Ruth kleiden; in einem goldenen Bettchen soll Ruth schlafen und
von einem goldenen Tellerchen und mit einem goldenen Löffelchen essen
und auf dem Becher, aus dem Ruth fürder trinken soll, steht in
Goldbuchstaben geschrieben: Ruth. Sie schüttelt den Kopf wie eine
Herrscherin, ich glaube, sie ist beleidigt, nicht um der vielen goldenen
Sachen wegen, der Ober hat ihr Zucker schenken wollen; sie gleitet
schwerfällig vom Stuhl, streckt den Leib wie eine Kugel vor, ihr
Engelsgesichtchen bekommt Runzeln -- »dicke Frau is satt«.




                               Unser Café


                   Ein offener Brief an _Paul Block_

Sire, Sie möchten etwas aus unserem Café wissen, aber unser Café ist
schon seit ungefähr Pfingsten nicht mehr unser Café. Gestern las ich in
einer Chicagoer Zeitung, die mir meine Schwester aus Amerika sandte,
schwarz auf weiß, warum unser Café nicht mehr unser Café ist, bitte
hören Sie, Sire. »Früher war das Stelldichein all dieser »Radikalen« das
Café Größenwahn. Aber eines Tages verbot der Besitzer der Dichterin Else
Lasker-Schüler, die zu diesem Kreise gehört, das Lokal, weil sie nicht
genug verzehre. Man denke! Ist denn eine Dichterin, die viel verzehrt,
überhaupt noch eine Dichterin? Sie empfand das mit Recht als eine
unerhörte Beleidigung, als schimpfliches Mißtrauen gegenüber ihrer
dichterhaften Echtheit. Ebenso dachten die anderen. Daher verließen sie
empört das Lokal.«

Ob das alles nun wortgetreu wiedergegeben ist, -- jedenfalls begab sich
die Schreckenstat an einem Sonntag, meine Seele wurde Werktag, bäumte
sich auf und sehnte sich nach Revolution. Kein Vers, keine Stimmung,
kein Pathos, nicht der schäumendste Überschwang hatte unsere
Gemeinschaftlichkeit so fädenverstrickt zusammengerollt, wie diese
unerhörte Begebenheit; Herr Café-des-Westens hatte mir, uns allen, das
Betreten seines Cafés ein für allemal untersagt. Ungeheuer! Allerdings,
wenn ich auch nichts verzehrt hätte. Aber dem war nicht so, ich war
gerade im Begriff, meine zweite Bestellung zu entrichten, Schokolade mit
Sieb (da ich die Haut nicht mag), als Herr Café-des-Westens aus einer
Ecke auf mich Lesende losstürmte und rief, es geht nicht, daß Sie hier
sitzen bleiben, ohne etwas zu verzehren!!! Neben mir saß mein
Reichskanzler Bisam O. Er ist feig, aber seine rosa Haare standen Hügel,
wurden brandrot und sprühten Feuer. Dann kamen hintereinander meine
verehrten Freunde, die Paschas, und die Schlacht begann.

Soll ich Ihnen nun noch über die früheren Ereignisse dieses Cafés
erzählen oder genügt es, wenn ich Ihnen sage, Sire, daß wir dort die
schönsten Abende, namentlich zu Zeiten Lublinskis, erlebten; den haben
wir alle kolossal verehrt, und er lachte selbst herzhaft, wenn ihn der
»Blümmner« nachahmte. Unser Zorn liegt nun über dem Café des Westens wie
über einem verlorenen Paradies, in dem wir nicht sündigten, aber das an
uns sündigte. Als wir auf der Straße standen, gedachten wir mit Wehmut
des Gründers unseres verlorenen Cafés. Herr Rocco hatte es sich als
besondere Freude angerechnet, daß wir Künstler in seinen Räumen
verkehrten; wir Künstler haben sozusagen das Café des Westens mit auf
die Welt gebracht, wir Künstler haben ihm das erste Feierkleid
geschenkt, wir Künstler haben es zur Königin aller Cafés erhoben! Einer
von uns hielt diese Rede in die Nacht hinaus, ich glaube, ich war's, und
den Chor gaben meine tiefergriffenen Kameraden und Kameradinnen.
Allerdings war Rocco kein Bär, noch nicht einmal ein Tanzbär,
keinesfalls ein Brummbär. -- -- --

Nur einmal in der Woche treffen wir uns nun im Café Josty am Zoo, wir
wollen keine Kaffern mehr sein. Auf einer Erhöhung sitzen wir an zwei
Tischen, und Sonnabend halten wir Geheimsitzung. (Unter Diskretion
bitte.) Wir wollen Herrn Café-des-Westens zwingen, sich zu entleiben,
ich schlage vor, mit dem Cafélöffel. Bitte, hochverehrter Sire, kommen
Sie doch unverhofft einmal, aber machen Sie sich keine Illusionen. Wir
sind ganz leise und flüstern, scheint's, nur so von Mund zu Mund, lauter
Spielereien. Wäre doch einmal nur einer größenwahnsinnig. Hysterisch
sind nur Dilettanten. Manchmal aber reißt einer unseres Stamms
schnaubend die Türe des Cafés Josty um Mitternacht auf, den Tubutsch im
Gewande. Doch unsere größte Überraschung bleibt, wenn unser Sänger
kommt, der Dresdener Hofopernsänger Franz Lindner. Aus der Liedertafel
holte ihn mein Heimatfreund Paul Zech. Noch sitzt überfließender Tenor
in seiner Kehle, er muß uns den Rest weich über den Tisch herüber
singen. Dann kommt eine innige Freude des Beisammenseins über uns, denn
wir Künstler sind Kinder.




                               Marie Böhm


Ecke Französische und Charlotten-Straße lachen aus einem der Glaskästen
schöne, weiße Zähne, zwischen frischen Lippen in Mädchengesichtern.
Manche von den jungen Schauspielerinnen offenbaren ihre ureigene
Begabung, denn ihre Perlmutterhecken sind gar nicht erschaffen, am Abend
hinter zuckenden Lippen versteckt zu schimmern. Über dem Atelier von
Marie Böhm scheint auch der Himmel zu heiter; die wundervolle
Photographin kann nicht genug Vorhänge über die Sonne ziehen, die macht
immerfort ein freundliches Gesicht. Marie Böhm ist die Eigentümerin des
kunstphotographischen Ateliers Becker und Maaß. Man kann sich ohne
Gefahr vor Entstellung vor ihren Apparat begeben. Marie Böhm weiß im
richtigen Augenblick den Blick vom Auge zu nehmen. »Der nichtssagendste,
ausdrucksloseste Mensch hat einen Augenblick, den muß man eben
festhalten.« Ihre lieben, blauen Augen strahlen, als sie das antwortet.
Ich verstecke mich unter einem Tisch hinter langen Laubgewächsen, um aus
meiner Froschperspektive einige Aufnahmen zu beobachten. Daß das nicht
angehe, meint Fräulein Böhm -- schon naht das Brautpaar, ich rufe ihr
aus meiner Lage zerstreut zu, sie soll sagen -- im Fall -- ich bin Arzt
und interessiere mich für neuartige Operationen. Diese Ideenverwirrung
stammt von meinem Vater her, er verwechselte immer das Zahnziehen mit
dem Photographierenlassen. Beides hat so was mit dem Herausholen zu tun
-- und -- »der eine Augenblick«. Marie Böhm aber hat keine Zange in der
Hand. Bräutigamundbrautumschlungen sitzen die beiden auf der Bank und
drehen ihr den Rücken zu; ihre Gesichter blicken sich auf einmal nach
etwas um. Ob sie mich quaken hören! -- »Danke!« Zweite Aufnahme. -- Für
die Photographien müßte es auch eine Welt geben aus gediegenem
Silberoxyd im Krinolin. Das Album ist aus der Mode gekommen, darin sich
das photographierte Onkeltantengeschlecht zum Aufblättern befand; es
stirbt nicht aus. In Schalen liegen all die Pietäten, Frauen, die sich
auch schon Löckchen drehten. Nun sind unsere Kleidersäcke zugebunden.
Auf den spätverwandten Bildern stehen die Röcke weit in Runden. Ihre
Augen aufgetan in Todesangst -- den Augenblick zu greifen, heute hascht
ihn die Photographie wie einen Schmetterling vom zwanglosen
Sichgehenlassen. Und gerade meine liebe Marie Böhm ist eine so große
Photographin -- sie photographiert auch ohne Apparat gerade mitten in
der Sonne mit geschlossenen Augen, wie der Maler malt ohne Pinsel im
Spazierengehen, im Anblick, im Nachsinnen. Wenn ich ihr gegenüber sitze,
wartet sie auf die Falte zwischen meinen Brauen.




                  Der Alpenkönig und der Menschenfeind


Wer den Kulissenmantel des Alpenkönigs trug, vernahm ich beim ersten Ton
der Rauschestimme. Albert Heine, der Herodes, ist zu viel für diese
Papiermaché-Rolle. Ich habe vergessen, mir einen Theaterzettel zu
kaufen, außerdem sitze ich vor einer Säule und vor dieser pflanzt sich
wild ein Herr auf mit einem Wasserkopf. Aber auch die übergroße
Vegetation, die mir den Blick zur Bühne hemmt, vermag keineswegs meine
Stimmung zu trüben, ich kam, um von dem romantisch-komischen Märchen
Honig aus goldgeblümter Heiterkeit zu naschen. An meine Nachbarin mit
dem künstlichen Busen wende ich mich mit behutsamer Frage, ich erfahre:
Hinter den ältlichen Stirnfalten des Menschenfeindes verbirgt sich der
Direktor selbst -- Carl Meinhard. Es ist fast nicht zu glauben, gestern
hörte ich ihn noch lachen im Café des Westens wie ein Achtzehnjähriger,
und vorigen Winter trug er eine Knabenpelzmütze, die stand ihm (es
gehört zwar nicht hierher) hervorragend. Nun steigt er aus dem
Altbrunnen, ein greiser, grotesker Wolf (Bastard) -- man erkennt ihn
nicht wieder; und doch ist es Carl Meinhard, der Fagottspieler unter den
Darstellern, er spielt heute abend die grimmige Polka seiner Rolle mit
Meisterfertigkeit. -- In der Reihenfolge den Inhalt des
romantisch-komischen Märchens zu erzählen, möchte ich dem Leser
vorenthalten; selbst hören und sehen! Selbst ins Berliner Theater gehen.
Ich hole nur die Hauptgestalten, die mir so sehr gefallen haben, hinter
dem Vorhang hervor und stelle sie auf meine Hand, eine Miniaturbühne,
ich, die Regisseurin aus Privatvergnügen. Rappelkopf, der reiche
Gutsbesitzer (Carl Meinhard), sein Bedienter Habakuk (Oskar Sabo) und
du, Josefine Dora, wo steckst du? Mögen die Leute denken, was sie
wollen. Du singst ja selbst: Aber er denkt ... Habakuk, der Bediente des
Herrn Rappelkopf, erinnert mich leise daran, daß er zwei Jahre in Paris
gewesen ist, nichtsdestoweniger verleugnet sein Radieschengesicht
»Läutemichels« berühmte Gemüsegärten. Er, ein dienernder Ungeschickter,
ein tragischer August im allerkünstlerischsten Unsinn. Zwei Jahre war er
in Paris gewesen. Das hebt ihn in den Augen des Personals vom Souterrain
bis in den Salon der Herrschaft. Dieser soll das bedeutungsvolle Motto
eine zarte Mahnung sein, für ihn selbst wird es zum Schild seines
untergebenen Joches. Er war zwei Jahre in Paris gewesen, das macht
Habakuk keck und überlegen und bringt wie eine Zauberformel einigen
Glanz über seinen Dieneralltag. Jäh wird ihm der Spruch vor der
dürftigen Kammer seines Herzens gestrichen, er darf nicht mehr seinen
Lippen hochmütig entschlüpfen, sein menschenfeindlicher Herr, zweiter
Teil, hat es ihm verboten. Der Alpenkönig nämlich hat sich, um den
Menschenfeind von seinem Wahn zu befreien, in dessen Gestalt und
Wutausbrüche verwandelt. Und heimlich vertraut sich der stumme Bediente
dem gemütlichen Onkel an, arglos dem wirklichen menschenfeindlichen
Rappelkopf, der in seinem eigenen Hause im verträglichen Wesen des
Onkels porträttreu zu Gast weilen muß. In keinem üblichen Brief, keiner
knisternden Zeitung, in keiner unerwarteten Depesche steht es
geschrieben, aber auf dem riesengroßen Taschentuch Habakuks,
ehrfurchtsvoll seiner Hosentasche entzogen. Wir lesen es alle: er war
zwei Jahre in Paris gewesen -- und der mitleidige Onkel gestattet es
ihm, herauszuschreien -- endlos -- endlich. Es kommt der erlösende
Augenblick: Ich war zwei Jahre in Paris gewesen! Das macht ihm niemand
nach, ich kann den Humor nicht schildern, es ist nicht nachzulachen.
Tröste dich Habakuk, beraubte Dienerseele, ich war auch gewesen, ich war
sechs Jahre in »Konstantinopel« gewesen -- ich möchte es jedem an den
glorreichen Kopf werfen, jedem in seine dicke Stirn schneiden -- wer's
glaubt wird selig. Um Himmels willen, Liesl (Josefine Dora) hörst du
denn nicht, dein Herr ruft nach dir. Rappelkopf hat sämtliche Möbel
zerschmettert. Das Liesl wagt sich mit Todesverachtung, wackelnd mit dem
allerwertesten Vollmond in des Menschenfeinds Gemach -- »aber er denkt«
-- Sie muß immer wieder das Lied singen mit dem Refrain: Bassab, »aber
er denkt« -- und immer bassiger und spaßiger: aber er denkt ...

Der Beifall will nicht enden. Ich stürme noch einmal in Mantel und Hut
auf meinen Platz zurück.




                               Egon Adler


                                       Seinem Vater zur Widmung

Meine Spelunke verwandelt sich zum türkischen Café, wenn er und ich
zusammen Zigaretten rauchen und wir von den Wänden für unsere Häupter
die beiden Fez herunterholen, die auf die Griffe meiner Dolche gestülpt
sind.

Einer der Söhne des gefangenen Abdul Hamid, der begabteste jedenfalls,
ist der Maler und zur Mokkastunde der Gast meiner Palastspelunke. Wir
sprechen (in der Zeit der Abendhimmel alle seine goldenen Bilder aufs
Dach stellt) von roten, blauen, grünen und lila Dingen. Ich rate Egon
Adler: »Sie müssen immer nur Ihr Selbstbildnis malen.«

Er ist so ganz Eigen, ganz Sich, und sein Herz in einem Rahmen. Aber in
seinem Herzen liegt sein jungverstorbener Bruder begraben, und innige
Gestalt schafft des Malers Hand, wenn der Engel seiner Erinnerung
aufersteht.

Zwischen den Farben liegt er dann plötzlich -- Stern zwischen Zinnober
und Marin auf der Palette für die großen Pinsel. Alle Bilder Egon Adlers
sind Spiele, sind süß, haben großgeöffnete Augen, sind ganz in Gottes
Vaterhand und rufen.

Sein Mariengemälde holte ich mir aus einer dunklen Ecke des
Ausstellungssaals ans Licht: »Träume, säume Marienmädchen, überall bläst
der Rosenwind die schwarzen Sterne aus; wiege im Arme dein Seelchen --
alle Kinder kommen auf Lämmern zottehotte geritten, Gottlingchen sehen
und die schönen Schimmerblumen und den großen Himmel da im kurzen
Blaukleide.«

                   *       *       *       *       *

Aber auch die drei Könige sind gekommen; einer sitzt auf des anderen
Schulter, der höchste trägt ein Krönchen, ist des Malers Bruder und will
Mariens heiliges Spielzeug haben.

Auf Egon Adlers unvergleichlichem Schöpfungsbilde steht sein Brüderchen
verzaubert als Mantelkranich mitten auf der Wiese und macht den frechen,
kleinen Vögeln bange. Als Reiter reitet er auf dem langausschreitenden
Reiterpferd durch den Wald über die Wege aus bunten Fahnenstreifen.

Immer muß Egon Adler die Geschichte des unvergeßlichen Bruders in Farben
erzählen, der ist der Memed seines Mohammedherzens.

Hinter den Paradiesbäumen, in den Schornstein seiner Stadtbilder,
überall hat sich der kleine Bruder versteckt; er ist es, der den
Glorienschein um die Heiligenlocken der Jüngergestalten seines älteren,
malenden Bruders anzündet.

Das sich wiegende Blatt der Palme, auf dem Treibhausgemälde ist der
Kleine, seine Seele leuchtet im Stein des Ringes am Finger des
japanischen Schauspielers.

Elfjährige Kinderaugen gucken unter der Stirn des Selbstbildnisses von
Egon Adler und erhöhen es zum Selbstantlitz. Und in den Wolken tummelt
er sich als Mond.

Ewig ist Egon Adlers Malerei, ein Engel lebt in seinem Herzen und hängt
seinen Schöpfungen Flügel an.




                                Ein Amen


Einmal, als ich sie besuchte, malte jemand ihre Hand -- eine schmale
Dolde am Ast, eine Seele, die blühte. Ellen Neustädter spielt nicht zur
Schau; ihr Spiel ist eine tiefe Dichtung. Die Bühne fängt die
Geschehnisse ihres Herzens auf und reicht sie dem Besucher, ein
vielköpfiges Ganzes. Sie gibt dem Gemach oder der Landschaft die Farbe,
und ihr Odem ist überall. Die Damen vom künstlerischen Theater in Moskau
könnten ihre Schwestern sein; die haben allerdings ihre Partner, ihre
Zugehörigkeit. Ellen Neustädter hat nur einen gleichwertigen Bruder in
Berlin: Oskar Sauer. Warum trennt man das rechtmäßige Spielerpaar? Klein
Eyolfs Eltern sind sie. Schwere, hehre Paradiesstimmung, düstere Ernte.
Eine Engeline: Ellen Neustädter; der Erzengel unter den Schauspielern
ist Oskar Sauer. Was ihre Lippen bringen, ist Kunst aus Segen gewölbt.
Sein Spiel straft, ihr Spiel belohnt; ist ihr Wesen aus Glas, sein Wort
aus Stahl. Immer erzwingt die Gabe der beiden Wunderkünstler
ehrfürchtige Anbetung. Es schneite draußen weiße Sterne. Oskar Sauer war
seinen Leiden erlegen in »Nora«. Stand noch lange nach Schluß der
Vorstellung am Theatertor -- ich bildete mir ein, er sei wirklich
gestorben. Auch heute wagte ich mich nicht stürmisch zu begeistern.
Ellen Neustädters Seele ist eine zagende Dolde. Durch die lange
Theaterabendstraße ging ich auf Zehen heimwärts, denn mein Herz träumte
noch. Genial ist das Unantastbare, Erzengel ist alles Genie, es erlöst
vom Täglichen, bringt Verlorenheit und Seligkeit zugleich.




                      Wenn mein Herz gesund wär --


                          Kinematographisches

                                   In Verehrung für _Ludwig Kainer_

Wenn mein Herz gesund wär, spräng ich zuerst aus dem Fenster; dann ging
ich in den Kientopp und käm nie wieder heraus. Es ist mir genau so, als
ob ich das große Los gewonnen hab' und noch nicht ausbezahlt bin, oder
auf einer Pferdelotterie einen Gaul gewonnen hab' und keinen Stall
»umsonst« auftreiben kann. Das Leben ist doch eigentlich ein
Wendeltreppendrama, immer so rund herauf und wieder hinunter, immer um
sich selbst wie bei den Sternen. Ich bin in freudiger Verzweiflung, in
verzweifelter Freudigkeit; am liebsten machte ich einen Todessprung oder
einen Jux. Meine Freundin Laurentia zecht wie ein Fuchs, sie studiert
die Sprache der alten Herren, ich meine Griechisch und Lateinisch und
macht gute Fortschritte. Aber was geht mich das alles an; ich will
nichts wissen, nichts. Wenn es nur nicht klopfen würde!

Das Gehirn wird rein aufgewühlt, es klopft nicht allein unten jeden
Freitag und Sonnabend, jedes Stäubchen wird aufgewirbelt, es klopft auch
an den anderen Wochentagen, denn ich wohne zwischen Haus und Haus und
muß die Brutalität aller Höfe ertragen. Ich sitze immer bei
geschlossenen Fenstern und werde gar nichts von dem Sommer haben;
ausgehen kann ich nicht, ich schreibe Geistergeschichten; ich habe
Schulden. Dabei zieht's, wenn ich die Türen rechts und links und hinter
mir auflasse. Ich trage seit dieser Wohnung ein Katzenfell; wenn ich
abends wo eingeladen bin, überkommt mich eine furchtbare Angst, ich
könnte anfangen zu miauen. Ich hab' gar keine Lust zum Leben mehr, wenn
noch die Menschen gerne meine Lyrik lesen wollten; wer sie gern liest,
der soll mir doch mal einen netten Brief schreiben. Ich muß nämlich
wegen meiner Krankheit in Kleesalz baden, damit man nicht über mich
ausrutscht. Ich habe dann immer so eine Langeweile in der Badewanne, und
lese gerne schmeichelhafte Briefe an mich. Was einen schlechte Kritiken
ärgern! Man hat doch sofort jemand gern, der einem schöne Worte
schreibt. Es gibt wirklich sympathische Geschöpfe auf der Welt. Ich kann
nur Weißgesichter nicht leiden, ich habe einen Argwohn gegen Licht.
Darum nehme ich mir auch nur schwarze Mägde und Diener. Ich habe zwei
Neger und zwei Indianerinnen; Tecofis Vaterhäuptling kommt manchmal nach
Berlin und tritt dort mit seiner Truppe im Chât noir auf. Tecofi fragt
mich, wenn sein Vater nach Berlin kommt, ob er bei mir auf dem Balkon
wohnen könne. Ich hab' nichts dagegen. Mein Somalineger ist
königlicherer Abstammung, sein Vater besitzt bei Teneriffa Hammelherden.
Manchmal schickt er mir ein paar abgezogene Hammel, die kommen als
Hautgoutragout hier an. Osmann, mein jüngerer Neger, sieht aus, wie ein
sinnender Gorilla im Pflanzenkübel. Böse Spezies, herrlich zu schauen,
aber man muß ihn in Ruhe lassen; seit kurzem pfeif' ich auch nicht mehr,
wenn er jemandem den Kopf abbeißen soll, er ist zu schade, zu wertvoll,
um zu gehorchen, selbst mir. Meine beiden Indianerinnen sind emsige
Mädchen, sie sind angestellt von mir, die Fäden meiner Logik zu suchen,
die Logik meiner Unterhaltung zu finden. Manchmal suchen sie die ganze
Nacht, ich fürchte, sie werden sich einmal in einem Augenblick an meinem
Leidfaden aufhängen. Das muß man in Kauf nehmen, dunkle Leute sind
schlechte Spürhunde, sie können nichts finden in der Nacht ihrer Haut.
Halloh, was tät' ich, wenn mein Herz gesund wär? Habe ich denn ein Herz
oder wenigstens sowas Ähnliches? Bei dieser Einlage im Programm muß ich
weinen -- gut, daß es Nußstangen gibt, die trösten, auch die Pfefferminz
in Holzschächtelchen. Ich glaube nicht, daß mein Herz aus Fleisch und
Blut ist, rissig sind seine Wände; es hat weniger Augenblickswert als
Ewigkeitswert, darum bin ich vollständig unbrauchbar für den
Vorbeipassierenden, ich bin nur interessant für den Forscher. Immer
klingelt es in den effektvollsten Stellen. »Hier 35, 24 wer dort?«
»Doktor Nikito Ambrosia, sind Sie Else Lasker-Schüler?« »Leider.«
»Frohlocken Sie nicht, verzweifeln Sie nicht, meine Dame, ich frage Sie
an, ganz ergebenst, würden Sie ein Engagement am Wintergarten annehmen,
monatlich mit einer Gage von 10000 Mark? das macht im Jahr rund 100000
Mark?« »Sie spaßen wohl, Herr, es ist doch nicht üblich, am Varieté
länger, als einen Monat die Artisten zu beschäftigen.« »Aber, uns liegt
daran, meine Gnädigste, Sie an unser Varieté zu fesseln.« »Es handelt
sich wohl um meine arabische Szene, Herr Dr. Ambrosius?« »Ganz recht! Da
Sie hoch zu Kamel über Theben sitzen.« »Herr, ich kenne Sie, so einen
ungeschminkten Baß gibt es nicht am Varieté. Sie sind Professor Gellert,
der letzte Hohenzollerndämmer.« Schluß! Mein Brief: Herzallerliebster in
Adrianopel! Er fragte mich nämlich an, ob ich ihn noch liebe, bittet
mich, ihn nicht zu belügen. Ich werde ihm doch keinen Stoff zur Lyrik
geben, (er ist Dichter), »ich liebe ihn also! Basta!« Könnte ich doch
auch ein bißchen nach der Türkei, zumal meine Vorfahren alle in Sänften
getragen wurden. Das Gehen wird mir darum schwer. Wo bei Euch die Sohlen
schon erkaltet sind, sind sie bei mir noch Glut. Wenn mein Herz gesund
wär, was tät' ich dann? Einen Augenblick bitte! Ich würde mich
pudelnackt ausziehen und mich in ein Süßwasser werfen, wo die sanften
Fische leben, aber Schuppen kann ich nicht leiden. Oder ich ging nach
dem Südpol und wärmte mich mal ganz tüchtig ein, oder ich ließ
jedenfalls in der Eiszone einen Anthrazitofen setzen. Was soll ich
_noch_ machen? Ich blieb gerade am Wendekreis stehen zum Trotz. Den
Sternbildern würde ich Schnurrbärte malen. Ist es nicht himmelschade,
daß mein Herz nicht gesund ist? Vom Mond kommen die Herzkrankheiten,
namentlich die Neurosen. Alle Krankheiten kommen von oben. Hier unten
ist es ganz nett. Darum stürzen auch so viele Aviatiker vom Himmel
herab; das Fahrzeug platzt ja gar nicht, die Fallsucht kriegen sie alle,
je höher sie die Bazillen der Gestirne einsaugen. Wie die Aviatiker
aussehn: Wie die Vögel, ihre Nasen sind Schnäbel, und die Köpfe strecken
sie in die Höhe. Ein neues Menschengeschlecht. Einmal aß mit mir ein
Luftsegler zu Mittag, der hackte wie ein Habicht am Fleisch herum, riß
am Schnitzel wie ein Aasgeier. Karl Vollmöllers herrliche Katharine von
Armignac ist die erste Aviatikerin der Welt. Im Uniontheater der
Luftschiffahrtausstellung am Zoo fliegen sie alle. Ich kann umsonst
zusehen, ich versprach über alles zu schreiben. Ich hab' kein Geld, aber
darum kann ich mich doch nicht von der Welt abschließen. Und soll sogar
die Regierung in Theben übernehmen, ich regiere sogar schon _pro forma_.
Die Leute in Berlin sagen, ich habe eine fixe Idee. Fixe Idee ist was
Natürliches: Natur, die das Gesetz zum Sklaven macht. Ich bin der Prinz
von Theben. Nur Kaiser Wilhelm kann mir in Deutschland nachfühlen, was
Regieren heißt. Ich habe dabei ein bunt' Volk. Nachts liege ich auf dem
Dach, und bei Tage sitze ich unter meiner Palme und regiere. Ich bin für
alles verantwortlich; mein Volk schielt noch vor Ungewißheit, es meint,
ich mache Ulk, aber auch der Ulk ist mir bitterer Ernst. Ich bevorzuge
nichts -- nur Menschen. Bin ungerecht, weil ich Geschmack habe,
künstlerischen Sinn habe; meine Rede ans Volk bedient sich nicht des
Punktes, weil ich mich nicht binden will. Ich bin am tolerantesten gegen
mich, ich bin gnädig gegen mich, ich bin einig mit mir, aus Diplomatie,
weil sich mein Volk an mich halten muß. Ich denke nur viel, sehr arg,
unmittelbar, ich lasse alle meine Gedanken ganz nah an mich herankommen,
damit sie das Fürchten verlernen. Wenn ich nur nicht schon in der Frühe
von so vielen muselmännischen Barbieren gestört würde, die mich
tätowieren wollen, von abendländischen Malern, die mich porträtieren
wollen. Nachts werde ich immer im Schlummer auf meinem Dach gestört von
meinen Paschas, die vor Begeisterung meines Regierungsantritts nicht
ruhen können. Sie haben immer in der Audienz, die ich ihnen erteilte,
eine Frage unaufgeworfen vergessen, die sie treibt. Seitdem ich als
regierender Prinz in Theben gewählt bin, bewegen sich viele Ehrgeizige
in derselben Tracht und Gebärde in den Straßen der Stadt, die mir zu
gleichen trachten. Meine Epigonen! Denn regieren ist auch eine Kunst,
eine Eigenschaft, wie die Malerei, die Dichtkunst und die Musik. Die
Epigonie aber ist eine Tätigkeit, darum bringt die Epigonie was ein, wie
die Arbeit. Ich arbeite nie, ich hasse den Schreibtisch -- zwar hab' ich
selbst einen -- aber er ist nie ganz gewesen. Heute Nacht, da meine
Neger schliefen, erbrachen die Paschas gewaltsam die Pforte, die zu
meinem Dache führt, wegen der Freimarken. Ich wurde in der Nacht noch im
Profil (Seite steht mir besser wie _en face_), im Turban und
Regierungsmantel photographiert in allen Farben; auf allen Posten meiner
Stadt verbreitet man Mich Allerhöchst.




                          Der Eisenbahnräuber


Vielleicht gehe ich selbst noch einmal in den Schwank, sein Humor hat
doppelte Lebenskraft, man kann sich zweimal totlachen. Es fällt mir gar
nicht ein, den Inhalt des kleinen Lustspiels zu verraten, nur möchte ich
seinen famosen Darstellern für den schönen Abend und vor allen Dingen
dem Autor Fritz Gräbert für den lustigen Streich danken. Arthur Winckler
spielte den ehemaligen Bäckermeister August Pickenbach mit Rosinen und
Korinthen und allen außergewöhnlichen Zutaten. Emmy Dittmar, allerdings
eine Schulreiterin, in die man sich verlieben kann. Frau Meyer (Rosa
Schäffel), man soll sich noch so eine gute Wirtin suchen! Es war ein
lachendes Zusammenspiel, ein Tanz, leichtfüßig, ein Walzer: An der
blauen Donau, wenn auch der erste Aufzug in Ostende an der Nordsee
spielt und der Herr Rentier Bäckermeister Pickenbach auf berlinisch mir
und mich der neuen Bekanntschaft beim Sekt sein Mehlherz ausschüttet.
Man kommt nicht aus dem Lachen heraus, der traurigen Jungfrau
Sentimentalität ist der Eintritt verboten, der Autor hat die banale
Tochter zu Hause gelassen, er ironisiert selbst den Kuß. Er mag nicht
eines Kusses wegen einen Augenblick Lachen einbüßen. »Skool!« ruft mein
Nachbar. Er ist Schwede. Ein Liebespaar, zwei Turteltauben, stehn doch
sonst immerwo im dritten Akt, gefüllt oder ungefüllt, am Nischenfenster
und girren im frischesten Lustspiel geheuchelte Sehnsucht. Meine Angst
war also hier vergebens. Und mich belustigt ungestört der ungeschlachte,
wollige Liebhaber Maler Hans Wegemann (Carl Wessel), es blieb ihm jedes
Wort im Hals stecken, bis er zum beißenden Hammel ausreifte unter der
Leitung seiner Backfischbraut Marie, der Tochter Pickenbachs (Grete
Kroll). Die vielen Hände, die einen Wirbel klatschten, waren nicht zu
übersehen.




                      Im neopathetischen Kabarett


Tausend und Einer. Ich habe mich nicht verzählt, las auch, während ich
die Köpfe zählte, Armin Wassermann Verse seiner Herzensdichter. Weich
und herb, reich und superbe ist seine Sprache; dazu sein
schwärmerisches, knabenhaftes Savoyardengesicht! -- Ich suche nach einem
Stuhl, der im Verborgenen blüht -- endlich finde ich so ein Veilchen
abseits am Tapetenrand; ich setze mich. Meine Tänzerin Zobeïde, die sehr
neugierig auf das Kabarett der Neopathetik ist, ruht schon lange müde
zwischen weißen, lilagelben, roten und himmelblauen Mädchen; ein Dichter
mit Honiglippen und zwei Augen, naschhafte Bienen, als einziger Tasso
neben ihr und ihren bräutlichen Schwestern. Es betritt jemand den Ölberg
des Saals und predigt über Kunst. Der Vortrag ist geistvoll, wenn man
sich auch durch Mimik und Brille in die Schule zurückversetzt glaubt.
Noch immer höre ich keine Gedichte von mir -- warum lud man mich ein,
zumal ich keineswegs objektiv bin? Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein
schwarzschillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults.
Jakob van Hoddis. Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend,
die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen. Vierreiher --
Inschriften; rund herum müßten sie auf Talern geschrieben stehn in einem
Sozialdichterstaat. Ich muß immer ans Geld denken; wie man so
runterkommt -- wenn Zobeïde, meine Tänzerin, ein Portemonnaie bei sich
hätte, würde ich zu der Menschenhitze ein Glas Limonade trinken. Ich
höre, wie ein Vortragender mit triumphierendem Gesicht Stefan Georges
Dichtungen als Ruhepunkt bezeichnet. Das muß ich widerlegen. Stefan
Georges Gedichte wandeln allerdings, ohne müde zu werden; nicht bunte
Karawanen über Sandwege; aus ihnen weht die Kühle endloser Prozessionen
zwischen frommen Schlössern und himmelhohen Domen. Die Orthographie der
Georgeverse erinnert in ihrer Gleichtönigkeit leicht an englische
Sonntagsruhe. War's das, lieber Vortragender? Gern hätte ich die Rede
von Kurt Hiller, dem Präsidenten des neopathetischen Kabaretts, gehört.

Zobeïde, meine Tänzerin, will noch nicht mit nach Hause kommen.




                      Kabarett Nachtlicht -- Wien


                                   Der lieben Malerin _Lene Kainer_

Die Straßen enden in Rundungen, tanzumschlingende Arme. Wir wandeln wie
in einem endlosen Saal durch Wien. Es ist Nacht -- die Mondkrone mit den
vielen tausend Sternenkerzen brennt lustig über der Stadt der Walzer.
Aber nur wenige Menschen begegnen uns, vom Vergnügen kehren die letzten
heim, und ihre Gedanken drehen sich noch mit den blauen Donauklängen
leichtfüßig über das spiegelblanke Leben. Aber die Wiener sind höflich
gegen ihre Fremdlinge (wir suchen nämlich das Kabarett Nachtlicht), noch
im Tanztaumel besinnen sie sich nach dem entferntesten Winkel, begleiten
sogar den Suchenden bis an Ort und Stelle. Da steht's ja: »Kabarett
Nachtlicht« -- Erich Mühsam trägt gerade seine »Amanda« vor. Er sieht
noch lebenslässiger aus, wie in Berlin. Zwar sitzt sein Rock heute ohne
Tadel, und seine Mähne, löwengelb, ist gepflegter wie an der Spree. Aber
er bangt sich nach Ruhe, und auch die Jungfern seiner Verse mit dem
nächtlichen unrechtlichen Geschick sind müde, sich hier weiter zu
produzieren. »Ein Kunststück, seien Sie mal Schlußnummer -- komme erst
um 5 Uhr morgens in die Klappe.« Nichtsdestoweniger will er uns noch ins
Kasino begleiten. Dort tanzt eine schwarze Blondine, »Spaniens Madonna«,
sagt Peter Altenberg im Vorübergehen. Er ist im Begriff, gestützt auf
seinen Knüppelstock, das Kabarett zu verlassen -- ihm folgt die kleine
Künstlergesellschaft.

Am anderen Abend sind wir zeitiger da. Es treten uns einige von den
Mitwirkenden entgegen: Jener mit dem Monokle im Auge kommt mir bekannt
vor. »Gewiß, Frau Lasker-Schüler, wir haben uns schon oft im Café
Kurfürstendamm in Berlin gesehen.« Er ist Roda Roda, der humoristische
Schriftsteller. In eine der kleinen Logen setzen wir uns, seine
scharmanten Humoresken zu hören. Das Publikum applaudiert, bevor er
beginnt; es weiß, nun gibt's was zu lachen. Im Kakaduton schäkert er mit
ihnen wie mit einer Schar hörlustiger Kinder. Junge und alte
Geschäftsleute, kleine Mädchen, Damen der Gesellschaft, Offiziere,
selbst die Erzherzöge kommen, das Nachtlicht morgens auszublasen. In
einer Rumpelkammer spinnwebgrau sitzen wir, unwillkürlich sucht man nach
allerlei altmodischem Gerümpel. Bestaubte Figuren und Porträts, näher
betrachtet von neuen Künstlern ausgeführt, hängen an den Wänden, und auf
der Konsole über dem blonden Kopf eines Leutnants steht die Statuette
von Madame Delvard, der Scharfrichterin. Sie ist die einzige, die den
elf Scharfrichtern in München zur Hand ging. »Ich werde extra einige
Chansons für Sie singen.« Sie spricht zu mir -- ich liebe ihre graziöse
Stimme, dunkler vergrößern sich ihre graublauen Augen zwischen
zitternden Lidern. Ihre Nervosität duftet. Sie ist eine erwachte
Klimtblume aus dem magischen Farbentraum des Meisters. Blasse Lichtchen
werfen einen Schleier auf ihre beringten Hände, die schlaff herabhängen
an ihrem überschlanken Samtstengelleib, wie weiße tauschimmernde
Blätter. Und Wedekinds rotäugige Straßenlieder singt sie mit der
Schüchternheit eines Kindes. So leicht kommt sie nicht von der Bühne
herunter: ein Lied und immer noch eins -- »Der Bauer wollt' fahren ins
Heu!« Unwiderruflich das letzte -- aber sie singt es mit frischer Kraft,
sie singt es bedeutend, stößt es von sich, wie aufschießende Saat. Da
steht keine ätherische Prinzessin mehr im Lichtschaum; Acker liegt unter
ihrer Zunge, Peter Altenberg nickt zustimmend und setzt sich neben mich
in die kleine Loge. Monsieur Henry, Madame Delvards Gatte, begleitet
ihre Lieder am Klavier, aber auch er ist ein Vortragsmeister. Ich werde
nie seine Ballade vom »Heiligen Nicolas« vergessen, seine rauschige
Schwermutsstimme. Monsieur Henry ist der gewandteste unter den blutigen
Elfen in München gewesen, und ein Kavalier ersten Ranges. Wir wollen uns
wieder vom Zuschauerraum an den Künstlertisch zurückziehen; doch Peter
Altenberg hält mich auf meinem Platz zurück. »Das Meißnerfigürchen
müssen Sie noch sehen und die drei Handwerksburschen.« Sie stehen schon
auf der Bühne in altfränkischen, goldknöpfigen Röcken, die Mützen
geschmückt mit Eichenlaub. Ihr Wanderlied beglückt mich ebenso immer
wieder wie meinen Nachbar. Er ist nächtlich Gast des Kabaretts; die
Umgebung dieser Künstlerkinder tut ihm wohl, der Aufenthalt auf der
kleinen Künstlerinsel unter dem guten grünlich flackernden
Miniaturstern. Ein kostbares Spitzengewebe ist seine Seele, jedes
holprige Wort bleibt in ihren Seidenmassen hängen. Aber wen der gute
Blick seines Schelmenauges trifft, der möchte ihn wohl ergreifen können
und in ein Enveloppe als Andenken legen. Und sollte er sich nicht ärgern
über die Breitheit der Menschen -- »nichtsdestoweniger zerstreut es
mich, nachmittags am Graben im Café zu sitzen und die bunte Bewegung
anzusehen«. Ich möchte manchmal zu ihm sagen, so ganz unmotiviert:
»Lieber Peter Altenberg.« -- -- -- Es ist gleich Morgen -- wir wollen
alle noch einmal Carmen tanzen sehen -- -- und dann lebt wohl, ihr
lieben Künstler, so ball kemma ma nöt wieda zsamm.




                             Apollotheater


Der Kohinoor meines Nachbars tanzt hin und her, macht Sprünge auf seinem
Zeichenblock wie die Clowns dort auf dem Rade. Jetzt nascht er von der
Chansonette im honiggelben Frack. Einige von den Umrissen leben auf dem
weißen Untergrund, neckisch, eckig hingeworfen, namentlich der eine von
der Clowniade ist _very fine_ getroffen. Ein Klatschwirbel holt _the
english artist_ auf die Bühne zurück. Was ist mit ihm geschehen! Seine
Stirn nach allen Richtungen hin zur Unförmigkeit aufgedunsen. Zweifellos
hat er die englische Krankheit mit herüber gebracht. Es gibt keinen
Spaß, den der nicht da gedacht hat, und ich muß ehrlich auch in diesem
Essay gestehen, es kommt nun noch dazu, daß ich die Brüder aus London
besonders mag, »ich hab' noch nie so gelacht wie heute!« Der Kohinoor
meines Nachbars lauscht zugespitzt; die zwei ehrwürdigen
Bordellmatronenwirtinnen vor mir erinnern sich gegenseitig ihres Amtes.
Geliebter und Geliebtin blicken sich zu in der Loge wie die schillernden
Demi-Monde auf dem Vorhang, der sich weltenseufzend spaltet und das
Gemach der Sultana enthüllt. Nackte Frauen steigen (obere, kleine Bühne)
aus ihrem Brunnenbade wie im wirklichen Harem eines Sultans. Am Fuß der
Treppe, die zum eigentlichen Gemach der Herrin führt, wacht der Wächter
armverschränkt. Endlich nahen die erfrischten Schönen, aber ihre Haare
duften nicht nach Pharaonenblüten, auch sind ihre Glieder keineswegs
ungelöste Geheimnisse. Und statt Sultana betritt Frau Betty das Gemach,
die Freundin des amüsanten Frauendoktors, ihres wohlsituierten Mannes
treue Tennispartnerin. Sie liest auch Romane -- -- schwüle mit
Betthimmelpointen und Daunenliederbordüren, und ich fürchte, daß die
Halbmonde der Dekoration vor Begierde rein zu Glotzmonden werden. Die
Freundinnen beginnen endlich, indes Sultana ihren Leib dem Divan und
dem Kissen gibt, mit ihren Tauchtänzen (kein Druckfehler),
Schleier-Eiertänzen, man vernimmt Arm- und Beingegackel. Der Wächter
tritt vor, er ist nicht »Asra«, er schreit nicht ia, furchtbar kracht
sein Wort, sein Antlitz bleich, sein Turban -- -- Blut. Die Tänzerinnen
vertanzen in den Keller. Jäh springt Sultana von ihrem Lager auf und
stößt auf Jargon von sich: »Was willst du von mir, Hund!« Der Sultan,
dein Gebieter hat es so befohlen. Betty du mußt sterben ... Und deine
Tändelei hört auf im Mondscheinvorhang. Leise nähert sich der Wächter
ihrem Ohre, aber Sultana wählt lieber den Tod, als daß sie sich, Sultana
bleibe stark, dem intriganten Schuften schenken mag. Diese
temperamentvolle Charakterfeste, warum gastiert sie nicht bei Gebrüder
Herrnfeld? Die zwei greisen Leopardinnen vor mir schnurren, der Kohinoor
meines Freundes fällt bleischwer zu Boden. Männer ergreifen auf die
Gebärde des Wächters erbarmungslos die Geprüfte. Arme schicke Betty,
tipptopp, peitschensiebenhiebenspaltig! Ob wir paar Geschworene im
Zuschauerraum auch von deiner Unschuld überzeugt sind -- -- es nützt
nichts. Markerschütternd verenden deine Hilferufe. Aber in weißen
Tennisschuhen und weißem Flanellhemd steht die Taube von Gatte am
Fußende des Ruhebetts. Statt der zunehmenden goldenen Viertel- und
Halbkugeln -- -- Tapetengeknospe. Wärter: »Sultana« ... und wieder ihr
Name leise verbettelnd: Ein Tropfen des Turbans klebt auf der
aufgeschlagenen Seite des Romans.

Wie eine Erlösung nun das Konzert auf dem Banjo der _lovely_, _sweet_
Miß, ihr Spiel verbreitet hellen, herben Zauber. Und nach ihr der
musikalische Clown mit der Entennase, er verabreicht kurzweg ein Konzert
auf den Messingknöpfen eines Schirmständers, ich habe mich in der Zeit
verliebt in ihn, -- -- -- mein Herz sprach immer schon für einen August,
über den man sich totlacht. Und Euch sparte ich mir bis zuletzt auf,
edle, blonde Senora Fornarina, ich möchte Euch etwas besonders Schönes
sagen, goldene Traube Spaniens.




                       Tigerin, Affe und Kuckuck


                               Tierfabel

Zirkus Busch ist in seinem Extrazug von Berlin abgereist. Ich bin zu
seinem Abschied auf die Bahn gekommen, früh am Morgen; der Komet stand
noch über der Sternwarte, aber die Zirkussterne, Schulreiterinnen,
Jongleure, Auguste, der Riese mit dem Zwerg, der große Bär, die
Elefantin, das Dromedar, der glitzernde Galawagen, alle waren sie im
Lauf und bald im vollsten Zuge. Noch lange hörte ich das Brüllen der
Tigerinnen, nie haßte ein Mann so wütend das Weib wie der Bändiger
dieser gestreiften Katzenleiber. Der Puls des Zirkus blieb stehn, trat
der unerschrockene Sultan in das Gittergemach seiner brüllenden
Sklavinnen. Er mißbraucht sie nicht zu Kunststücken, läßt er auch die
Kunstreiterin seiner Tigerinnen durch einen Papierreifen springen.
Wollust bereitet ihm, seine wutschäumenden Tigerweiber mit Stangen und
Schüssen bis zur Wutekstase zu reizen und sie zu bezwingen.
Schschschschschschsch -- sch -- die beiden eleganten Brüder Fillies und
ihre graziöse Schwester werfen noch einen kurzen Blick auf den Perron,
der Clown mit der genialen Ungeschicklichkeit verlangt auf idiotisch vom
Zeitungsträger den »Ulk« -- Sch .... Berlin hat sein größtes Kind eine
Weile verloren, den Zirkus; wo geht man nun hin, um zuzugucken? Wie ein
Mensch soll der Affe sich im Wintergarten benehmen. Herr Darwin, der
Enkel des großen Zoologen, wird mich ins Varieté begleiten. Es ergreift
ihn, so einen gebildeten Vorfahren seiner Baumzeit zu sehen. Ich bin
ebenfalls von dem fletschenden Erzurgroßvater entzückt. Ein Gourmet ist
der greise Herr, keineswegs lebt er von Luft und Erkenntnis. Der
verwandte Künstler da oben verzehrte ein Menu von Dressel und regalierte
sich an Heidsieck-Monopol. Mit Verbindlichkeit raucht er die Zigarette,
die ihm ein Bewunderer verehrte. »Es ist Zeit« noch prüft er die Zeiger
auf seiner Uhr. -- Ich möchte mich auch in ein solches Prachtbett legen
-- ich bin müde -- die Nacht vorher brachte ich, mich verirrend, in der
Kolonie Grunewald zu; im Rieselregen auf einer runden Sommerbühne,
worauf die Gärtner Kiesel legen. Nasse Nacht, kein Komet mehr. Ich war
trostlos. Plötzlich rief der Kuckuck -- ich bezog es zuerst persönlich,
aber so unhöflich sind nur die Kuckucksuhren. Dieser da zwischen jungem
Grün, zwischen April und Mai, ist ein vortragender Künstler, ein
wundervoller Komiker. Also gibt es wirklich Kuckucke? Ich dachte immer,
es sei eine Fabel.




                               Im Zirkus


                                  Meinem lieben blauen Reiter _Franz
                                   Marc_ und seiner blauen Reiterin

Die junge Reitkünstlerin Miß Ella kehrt in die Manege zurück und schlägt
die ausgelassensten Purzelbäume. Und dann kommen Paolo, Luigi und
Alberto, die drei Gigerl, und treiben aneinander Gymnastik mit der
markigen Beweglichkeit großer Leonahrder Hunde. Vier braune, ungarische
Pferdeprinzen, deren Haut unter dem Schein der vielen Kristallsterne wie
Gold glänzt, tanzen mit wilder Anmut und königlicher Grandezza. »Als ob
sie Musik in den schlanken Waden haben!« sagt mein Begleiter zu mir. Und
nun das Intermezzo der beiden Clowns. »Er ist mein Bruder,« kreischt
Aujust, der blöde Aujust, der amüsante Idiot. Wie ein Gänserich
watschelt er in seinen sackweiten Hosen quer durch die Manege. Fräulein
Marinka, die sanfte, graziöse Erzieherin auf einem ihrer zwei artigen
Pferde sitzend -- ringelrangelreihe singen die Geigen -- und ihre beiden
Zöglinge springen vor Vergnügen. Und wieder ertönt die Musik hoch oben
vom Zirkus, das sind heiße Carmentöne, walzerartig in rundem Klingen
geblasen. »Hier ist die Verunstaltung erträglich,« sagt mein Begleiter
zu mir, »es paßt zum Milieu.« Und immer bunter werden die Klänge ... in
schimmernde, mattfarbene Stoffe gehüllt kommen reizende Spanierinnen
geritten und feurige, spanische Kavaliere. Heißer und tollkühner wird
der tanzende Ritt; die bacchantischen Donnas sausen, wie Feuerstürme
über den Sand, auf dem Rücken ihrer Zauberrosse liegend -- indessen die
Senores mit liebenswürdiger Höflichkeit aufrecht zu Pferde, dem Winke
ihrer Damen harren.

Aujust! Aujust! Wo bist de, Aujust? Da steht er ja, versteckt hinter der
niedrigen Brüstung der Manege und heult in Trompetentönen, daß alle
Herzen Purzelbäume schlagen und immer höher wächst er, immer höher. »Det
hat keenen juten Anbejinn und een langet Uffwehen,« quitscht Aujusten
sein Bruder mit den wulstigen Mehlbacken und der Haardüte auf dem
spitzen Kopf, indessen Aujust die Manege in Melancholie, langsam wie ein
wandelnder Turm durchschreitet. »Det Luder ist maschuche jeworden, weil
der kleine Cohn sinn Vater is!«

Schon harren die drei blonden englischen Reiterinnen in blauer Seide;
_lovely Girls_, drei holde Mädchenenzianen. Hei, wie sie springen,
herauf und herunter von dem Rücken ihres wiehernden Vogels. Nun trägt er
sie alle drei über den Sand in tausende Märchen, weithin, in blaue
Gärten ... Ich entwand meinem Begleiter die weiße Rose, die über seinem
Herzen blühte. »_Miß here! catch it!_«

10 Minuten Pause!

»Wie gefällt es dir!« »Es ist wie ein blühendes Abenteuer. Es ist, als
ob ich brausenden, dunklen Wein trinke, und ich vergesse alles was grau
ist und hinkt. Ich sitze in einem bunten, jauchzenden Schoß, und um ihn
herum wachsen ragende Gefahren, die aber lustige Kleider tragen.« Wir
gehen durch die weiten Korridorhallen. Galawagen auf Goldrädern,
Riesendrachen aus Papiermaché, zusammengeklappte Bretterhäuser, Fässer,
allerlei Gerümpel, Kostüme mit Silberfransen, Steinen und Perlen liegen
in übermütiger Unordnung zwischen dem Mobiliar. Wir treten in die Ställe
ein: da stehen die herrlichen Schimmel mit der silberschimmernden Haut
und den Seidenschweifen, wie helle Rosen des Frühfrühlings. Und dort die
finsteren Rappen mit den großen Feueraugen. Eine kleine Treppe führt uns
abwärts in die Stallungen der Elefanten -- diese grauen, schweren
Gebäude aus Fleisch und Knochen mit den winzigen Guckaugenfensterchen.
Als wir wieder auf unseren Plätzen saßen, war die Manege mit eisernen
Gittern umzäunt. Zwei mächtige Löwen schreiten in den Käfig und hinter
ihnen die anderen Könige der Kraft. »Nero! Herkules! Agamemnon!
Odysseus! Hektor! Kambyses! Hierher! Dorthin! Willst du! _Vite, vite!
Ah, mon cher._« -- und dann wieder im gebrochenen Deutsch: »Aben Sie die
Güte, mein Freund.« Mademoiselle Claire, du grausamste Braut! Mit
erhobenem Arm, mit drohender Liebenswürdigkeit beugt sie den Willen
ihrer grimmigen Sklaven. Ihr weißer Hals lockt wie Süßigkeit, ihr
blendender Hals, das Ideal ihrer brüllenden Verehrer. »_Ah, messieurs!_
Hektor, Agamemnon, Kambyses, _dînez s'il vous plaît_.« Und sie tafelt
ihnen blutende Leckerbissen. Das gierige Brüllen und Knurren dröhnt
durch die weiten Räume des Zirkus in aufwachsender Wildheit. Hastig eilt
der Diener herein und wieder heraus aus dem Käfig, Gerätschaften bringt
er, Kugeln, Stangen, Fässer holend, Stühle und Tische -- aus Gauklern
besteht die gefährliche Truppe. »Genug, Madame Claire!« Nero muß sich
noch auf dem Seil produzieren. Gewandt, wie ein Seiltänzer dreht er
sich, in der Mitte des Seiles angelangt, um sich selbst. »Brav gemacht!«
Seine Brüder sind schon alle gefangen in der kleinen Nacht ihrer
Wagenherberge, und er allein liegt noch ausgestreckt, wie im Sande der
Wüste, und schlummert. »Nero, wache auf! Nero, ich muß bitten« -- aber
Nero rührt sich nicht, er öffnet zwar seine gelben Augen -- und ihn auf
den Schultern nach Hause tragend, wie ein müdes Baby, durchschreitet die
furchtbare Heilige, die heilige Kriegerin, eine Siegerin das Eisentor.

Als der Direktor seine zwei Perserhengste vorführte, sah ich zwischen
den Tönen der tanzenden Musik noch die grimmige Pranke Agamemnons, die
nach seiner Schönen ausholte und das schwärmerische Anschmiegen Neros.

Im Eingang der Manege stehen zwei Riesenelefanten, zwei Schulräte an
Ruhe und Würde. Etliche helle und dunkle Pferdchen springen, fleißige
Schulbuben hinter einigen größeren Apfelschimmeln, die ernst und
gravitätisch in der Mitte des Zirkus haltmachen. Aber in fauler
Gemütsruhe spazieren die kleinen Elefanten herbei, und dann ungeduldig
die mutwilligen Zebras mit den glänzenden Streifen auf der Haut. Und nun
laufen sie allesamt in verschiedenem Tempo, als ob sie kanonartig das
Abc singen.

Tatrata tönen die Trompeten und die Hörner, Reiter und Reiterinnen in
ziegelroten Tuchanzügen, galoppieren auf ihren schlanken Rennern über
Zäune und Hecken, dem Edelwild nach, den Hirschen und leichtfüßigen
Gazellen -- und da läuft ja auch der Aujust in rasender Angst durch den
weiten Manegeraum und hinter ihm ein Wild mit einer vielästigen
Geweihkrone. Die Puste jeht Aujusten aus. Er stöhnt, er schreit und
gestikuliert mit allen Vieren. »Herr Stallmeister, retten Sie mir!!!«
Und zum Schluß: Mr. Bob, _the little gentleman_, mit seiner kleinen
sechsjährigen Dame auf dem Pferde ...

Noch in Hut und Mantel stehen die Zuschauer vor ihren Plätzen. -- Es
kann doch eigentlich noch gar nicht aus sein -- tuuht, tuuht! Über die
Manege des Zirkus senkt sich schwer von der Decke des Zirkus eine
Riesenfeuerglocke. Aujust ist durchgebrannt!! Rotumhüllte Clowns, wie in
Glut gebadet, wandeln knurrend über den Sand, immer auf und ab; die
Anführer tragen Aujustens Herz aus kariertem Zucker auf einem roten
Kattunkissen. Aber da steht er ja oben auf dem Olymp: »Aujust, sollst
mal runter kommen!« schallen tausend Stimmen durcheinander -- aber
Aujust steht drohend aufgerichtet, seine Nase ist weiß und spitz wie
eine Nadel, seine Augen sind wutrot aus den Höhlen getreten. Düstere
Zettel fliegen auf das Publikum. Er streikt, er beansprucht im Namen der
Clowngesellschaft mit beschränkter Haft erhöhten Lohn -- er droht mit
juten Witzen. Und mit einem langen Purzelbaum setzt er über unzählige
Köpfe lachender Hörer hinweg durch eine der Ausgangstüren. -- Die vielen
Lichter werden trübe, wie müde Augen -- ich und mein Begleiter sind die
letzten der Aufbrechenden -- der große Zirkus ist ganz allein.




                              Zirkuspferde


                                  Der lieblichen Fürstin _Helle von
                                               Sontzo_

Der Tempel der Pferde ist der Zirkus, ich meine, jedes Pferd will
spielen, und das heißt auf die Sprache des Wieherns, beten; alle Tiere
wollen spielen, aber welche Tieraugen brennen vor Begeisterung so tief
wie die des Rappen; die Schimmel sind fromme Pilger oder Heilige.
Päpstinnen, wie Santa Anna, Leo ritt auf ihren unbefleckten, weißen
Rücken zwischen frommen Hecken seiner päpstlichen Gärten. Ich gehe jeden
Monat in den großen Zirkustempel Busch, zu jedem Feiertag der Pferde, zu
ihrem Galadienst. Am liebsten sind mir ihre Feiern ohne vielerlei
Äußerlichkeiten, wenn sie ungesattelt ohne Reiter oder Reiterinnen sich
tanzend im Kreise bewegen, ihr eigenes Blut feiern nach Herzenslust.
Gefallen lasse ich mir die drei Geschwister Fillis im Zirkus Busch, des
berühmten, französischen Reiters Reitlinge. Die stören den Rhythmus des
Pferdespiels nicht; ihre Gestalten sind selbst schlankgeweiht dem Ritt.
Mademoiselle Fillis, die Schwester der beiden jungen Chevaliers ist
verwachsen, wie ihre Brüder, mit dem Rücken ihres wiehernden Priesters.
-- Mein Vater und meine Mutter ritten durch die Akazienchausseen meiner
Heimat; meiner Mutter Edelstute wallfahrtet oft durch meine Erinnerung
und trägt mir dichterische Gedanken zu, und meines Vaters Hengst setzt
über mein Blut und läßt es aufschäumen. Ich liebe euch, ihr Pferde mit
den langen Seidenschweifen, Atlas ist eure Haut und feuerfarbener Samt
eure Augen. Solche Schönheit ist die Frömmigkeit der Pferde, gezüchtet,
spielfähig und buntgebenedeit. Ich wüßte keine andere Stätte, die den
Namen Tempel der Pferde verdiente, wie den Zirkus. Etwa der Rennstall?
Prostituiertes Pferdepriestertum. »Beten« heißt »Spielen« der Pferde und
gibt es einen lustigeren, weihevolleren Sandtempel, als den Zirkus. --
Hochmütig ihrer Zucht bewußt, schütteln die Herrenpferde ihre Mähnen,
kehren verächtlich dem Liebesäugeln einer dreisten Lastpferdin oder
einer brünstigen Dickschenkelin ihres Pferdevolkes den Rücken. Sie gehen
keine Mesalliance ein. Glücklich macht mich der Anblick eines Reiters,
paßt er sich dem Denken seines Trägers an. Wie denkt sein Pferd, sein
wohlgepflegtes Pferd? Trabweise, sprungweise, gallopierend, immer in
Gedanken, treu seiner Bewegung. Und das überträgt sich dem Kavalier und
seiner Dame, Halbpriester der da oben, Halbpriesterin, die auf des
Pferdes Rücken. Voll Spiellust sind die Füllen; jeden Morgen wartete
ungeduldig so ein Nimmermüdes auf mich und meine Schulkameradin. Über
den Zaun auf seine Wiese sprangen wir schulvergessend -- wer von uns
drei wohl am liebsten Zeck spielte! Darum empfinde ich schmerzlich jede
Mißhandlung der Karrenpferde. Bang wie Regen fließen die dunklen Lider
über ihre trüben Augen. Wie denkt so ein Pferd? Kummer bedrückt sein
Herz und beugt seinen verhärmten Kopf. Manchmal tröstet der Braune den
Schwarzen oder der Apfelschimmel die müde Apfelschimmelin. -- Wie
futterfreudig hingegen an ihren fetten Trog denken die markigen
Erntepferde; an den Seiten des Kopfes tragen sie den blanken
Messingschmuck. Zwei, vier Kinderhände, vom reichen Schulzen die Buben,
halten sich an den Strähnen der Mähne des schnaubenden vierbeinigen
Bauern fest, und einige Plumssäcke liegen auf dem Hinterviertel seines
stampfenden, drallen Pferdeweibs. Ich liebe euch alle, ihr Pferde, auch
die Zwergpferdchen aus Gullivers Zwerglande im Zirkus Busch.




                              Zirkus Busch


»Wann fängt es an?« Daß wir nur ganz pünktlich dort sind! Ich will
lieber den ersten Aufzug einer Theaterpremiere versäumen als die
Reiterin im Quastensattel. Es hieße eine Erinnerung schießen lassen.
Erstaunte, großaufgetane Augen bekommt man im Zirkus, und die Lippen
werden rot und runden sich. Und alle Menschen, die zugucken, sind
Kinder. Das ist es: Zugucken soll man.

Nach dem Steppenritt -- die liebenswürdige Schulreiterin im blauen
Tuchkleid; ihr folgen weißbegossene Pudel, zwei Clowns. Beim Müller
waren sie und wollen nun zum Bäcker in den Ofen. Hinter ihnen hilflos
der wirkliche August in spitzen, amerikanischen Lackschuhen,
gentlemanlike gekleidet. Auf einmal öffnet sich der Vorhang der oberen
kleinen Bühne. An stählernen Recken strecken sich schmiegsame
Menschenleiber, wie Katzen hin und her auf Samthänden und leisen Füßen.
Aber unten in der Manege stampfen schon die schwarzen Zigeunerpferde.
Ich liebe die Pferde. Es sind gestaltgewordene Sagen, Legenden, Märchen
aus Tausendundeiner Nacht. Wann setzen die wiehernden Paschas über den
Bankzaun, im Kreis den Sand aufwirbelnd zur Wolke! Ihre Nacken schmückt
der Halbmond mit dem Stern. Oben vom Gipfel des Zirkus braust ein
Marsch. Ich hörte ihn schon am Bosporus; Abdul Hamids Sohn hat ihn
vertont. -- -- --

Die Kristallkronen senken sich majestätisch, der bunte Riesenraum wird
zu einem Krönungssaal. Die Ringer warten schon vor der Halle. Schlanke
Königssöhne aus dem Norden, ihre Schultern sind dunkelvergoldet von der
Mitternachtssonne. Dichtungen werden Wahrheiten. Johannes Josefsson, ein
isländischer Achill, er führt den Heroentanz der Kraft auf. Ich muß an
den schönen Halbgott denken, noch zwischen den Indianern, Farmern und
Cowboys. Eine interessante Häuptlingspantomime. Man bekommt Lust,
mitzupantomimen. Ich halte die übliche verzuckerte Nußstange noch
unberührt in der Hand. -- --

Morgen Mittwoch acht Uhr, große Galavorstellung.




        Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)

                                Max Brod

                          Die Höhe des Gefühls

                       Szenen, Verse, Tröstungen

   25 Exemplare auf Bütten, vom Autor signiert in Ganzleder gebunden
                             je Mark 15.--

                 Geheftet Mark 3.-- Gebunden Mark 4.50

_Berliner Tageblatt_: Der Titel »Die Höhe des Gefühls« bezeichnet einen
Zustand außerordentlicher seelischer Steigerung, der ein Hinausgehen
über die sonstigen Grenzen der lyrischen Form zum szenischen Bilde
notwendig macht, indem der Träger des Gefühls sich selbst in den
leidenschaftlichen Beziehungen zur Umwelt darstellen muß. Durch eine ins
Großartige aufstrebende biblische Düsterkeit und Erlebniskraft erhebt
sich das Schlußstück »Die Arche Noah« zu einer Musik des Wortes und
Sinnes, die man als ein poetisches Oratorium ansprechen möchte.

_Neue Freie Presse, Wien_: Es dünkt mich das innigste, echteste und
zugleich kühnste, selbstbewußteste der Brodschen Bücher. Hier gab der
Dichter vielleicht sein Tiefstes: ein Paradigma der Menschheit, ihrer
Irrungen und Versuchungen, ihrer Verstrickungen und Erlösungen in Form
einer kurzen und gedrängten, phantasievoll vergegenwärtigten Szene.
Irgendein Unsagbares schwingt hierbei noch mit, das ich nur durch das
Wort »Musik« anzudeuten vermag.

_Die Zeit, Wien_: Etwas Weltabgewandtes, Abseitiges, nach innen
Gekehrtes, das mit unserem Gefühls- und Gedankenleben mehr zu tun hat,
als Krieg und Börse, zieht uns mit seltsamer Gewalt zu diesen Blättern
und dennoch spürt man verhalten den heißen Atem unserer Zeit darin. Über
die neue Gabe des jungen Prager Dichters wird man sich freuen: sie
gehört zu den in unserer Zeit so seltenen reifen und harmonischen
Büchern, die gleichweit von erdfernem Optimismus und kokett-ironischer
Weltschmerzlichkeit entfernt sind.

_Prager Tageblatt_: Brods Kunst erscheint hier wunderbar gesteigert,
losgelöst vom stofflichen Zwang, wie auf Flügeln die Welt durchmessend.
Der Verlag hat dem Werk übrigens ein ganz erlesenes Kleid gegeben.




        Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)

                                Max Brod

                  Über die Schönheit häßlicher Bilder

               Ein Vademecum für Romantiker unserer Tage

                 Geheftet Mark 3.50 Gebunden Mark 4.50

Ein ernstes und dabei bizarres Bekenntnisbuch Max Brods, das
eigensinnige, höchst individuelle Credo dieses Dichters. Man kann sagen,
daß sein Schaffen durch das vorliegende Buch, in dem der Dichter
fast ausschließlich von sich selbst und seinen äußersten
Gedankenverfaserungen spricht, in ganz neuem Lichte erscheint. Das Buch
ist zum tieferen Verständnis der vorhergehenden Werke Brods unerläßlich.
Wir sehn hier ein heftiges Temperament und seine Opposition gegen unser
mechanisiertes, amerikanisiertes, philiströs-kaufmännisches Zeitalter
äußern. Aber diese Opposition ist alles andere als griesgrämig. Sie
versteckt sich oft sogar hinter einem lustigen Lob des Verabscheuten, ja
sie baut eine ganze phantastische Theorie der »Schönheit des
Geschmacklosen« aus. Die Greuel kitschiger Bilder, Kino und Panorama,
Chansonetten und Ausstattungsstücke, häßliche Möbel und konventionelle
Schauspielkunst werden in unterhaltendster Paradoxie in den Himmel
erhoben. Hinter dem komplizierten Gewebe von Spott und ironischer
Verliebtheit schlägt aber immer wieder die Liebe zum Begeisternden, zu
den Sternen, zu Smetana und Berlioz, zum Meister Flaubert und zu dem
nach Ansicht des Dichters bedeutendsten Zeitgenossen Robert Walser
durch. So ist dieses Buch eigentlich nur ein eigenwilliger, aber doch
ein Weg zum Ideal und zur Befreiung des Menschen im Absoluten, im Reiche
des Erhabenen und Schönen. Unbeirrbar steht hinter jedem der
unberechenbaren Seitensprünge und humoristischen Exkursionen der große
Ernst dieses Dichters. Max Brod hat in seinem gleichzeitig erschienenen
(mit Dr. Felix Weltsch gemeinsam verfaßten) philosophischen Buch
»Anschauung und Begriff« die exakte Basis gegeben, auf der er sich so
kühne Scherze erlauben darf, die in anderem Zusammenhange vielleicht
frivol klängen, während sie hier nur von der unbefangenen, nietzschehaft
heiteren Luft um diesen sicheren Tänzer Kunde geben.




        Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)

                              Franz Werfel

                                Wir sind

                             Neue Gedichte

      In vorzüglicher Ausstattung / Druck der Offizin W. Drugulin

      Vorzugsausgabe: 15 numerierte vom Autor signierte Expl. auf
             schwerem Japanbütten in Ganzlederbd. M. 35.--

                 Geheftet Mark 3.-- Gebunden Mark 4.50

Ein neues Buch von Franz Werfel, dem jungen, rasch berühmt gewordenen
Lyriker. Was in Werfels ersten Versen bereits gestaltet war: die Fülle
der Erscheinungen im Geiste des zeitgenössischen Poeten, wird hier
gesteigert zu ungeheuerster Weltbeseelung. Aber nicht mehr im Irdischen
will seine Dichtung beharren, sie versucht dem Göttlichen im Gefühl
aller Menschheit näher zu kommen. So wird sein Singen prophetisch wie
die Psalmen des Alten Testaments; sein Werk hat die Stärke und
Verkündigung eines neuen Ethos.

                       Urteile über Franz Werfel:

_Wilhelm Herzog_: »... ein ganz junger, ganz großer Dichter. Wenn
irgendwo, so ist hier die neue Kunst.«

_Frankfurter Zeitung_: »... ein ganz großer Dichter, mit allem Ernste
sei das gesagt.«

_Neue Rundschau_: »... Withmans kosmische Liebe und Goethes
unersättliche Lust zu fühlen, hat sich Werfel durch das Recht der
Wiedergeburt zu eigen gemacht.«

_B. Viertel im »Strom«_: »Diesem jungen Dichter fügt sich das Leben,
indem es ihn entzückt, in leichte, zarte, schwebende Formen. Alles ist
neu, alles ist noch Ereignis, ist Ekstase.«




Anmerkungen zur Transkription


Die Schreibweise und Zeichensetzung des Originales wurden weitgehend
beibehalten. Nur offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 15]:
   ... nehmen sie als ein Luxusgeschenk hin, denn ich bin ...
   ... nehmen Sie als ein Luxusgeschenk hin, denn ich bin ...

   [S. 18]:
   ... blumenverziert. Dort ist ein Zeitwort auf dem Kopf ...
   ... blumenverziert. Dort ist ein Zeitwort auf den Kopf ...

   [S. 21]:
   ... sich an ihrer Schrift, und den Inhalt, den ...
   ... sich an ihrer Schrift, und der Inhalt, den ...

   [S. 22]:
   ... aber deren Inhalt voll Leben sprudeln; Handschriftkünstler, ...
   ... aber deren Inhalt voll Leben sprudelt; Handschriftkünstler, ...

   [S. 38]:
   ... wie das Wasser aufspritzt. »Das nur nicht die neuen ...
   ... wie das Wasser aufspritzt. »Daß nur nicht die neuen ...

   [S. 41]:
   ... Besitzer dieser Fuhrunternehmen treffen. Vorwurfsvoll ...
   ... Besitzer dieser Fuhrunternehmen trifft. Vorwurfsvoll ...

   [S. 78]:
   ... Kampfstimmung, er hat tagüber Aufsätze schreiben ...
   ... Kampfstimmung, er hat tagsüber Aufsätze schreiben ...

   [S. 87]:
   ... Sitte.) »Reisen Sie mich nicht immer aus meinen ...
   ... Sitte.) »Reißen Sie mich nicht immer aus meinen ...

   [S. 99]:
   ... teilte ihr meinen Entschluß, daß, falls sie mir das ...
   ... teilte ihr meinen Entschluß mit, daß, falls sie mir das ...

   [S. 111]:
   ... am Nacken sei. Prangende Schlichtheit, geschmeidige ...
   ... am Nacken sei. Prangende Schlichtheit, geschmeidiger ...

   [S. 135]:
   ... vor diesen pflanzt sich wild ein Herr auf mit einem ...
   ... vor dieser pflanzt sich wild ein Herr auf mit einem ...

   [S. 166]:
   ... dînez s'il vous plaït.« Und sie tafelt ihnen ...
   ... dînez s'il vous plaît.« Und sie tafelt ihnen ...

   [S. 169]:
   ... liebsten sind mir ihre Feier ohne vielerlei Äußerlichkeiten, ...
   ... liebsten sind mir ihre Feiern ohne vielerlei Äußerlichkeiten, ...






End of the Project Gutenberg EBook of Gesichte, by Else Lasker-Schüler

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with your written explanation. The person or entity that provided you
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or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
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damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
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1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
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providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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